Zum Dialog berufen - Missionszentrale der Franziskaner
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lohnt sich, einmal auf die großzügig gewährten<br />
Quoten für die Aufnahme in die<br />
Universitäten zu schauen. Verfolgt man<br />
da nicht eine Strategie des „Bleichens“<br />
(des Weiß-Machens) durch Wissensbestände,<br />
die für ihr Projekt nicht relevant<br />
sind, durch ein Wissen, das geradezu das<br />
Passwort für die Zufluchtsorte kaschieren<br />
soll, aber einen großen Teil <strong>der</strong> Begünstigten<br />
arbeitslos macht und – durch die<br />
Integration in das System – ethnisch-kulturell<br />
entwurzelt?<br />
Im Innern einer Gruppe heisst Identität<br />
haben: Erwachsen, glaubwürdig und<br />
verantwortlich zu sein. Außerhalb <strong>der</strong><br />
Gruppe bedeutet Identität haben, an<strong>der</strong>s<br />
zu sein. Die Bürgergesellschaft gründet<br />
darauf, dass Erwachsene gleiche Rechte<br />
und Pflichten haben und dass An<strong>der</strong>sartigkeit<br />
anerkannt wird. Auf die Frage, ob<br />
die Mittelklasse in Brasilien von Bürgern<br />
gebildet wird, antwortete Milton Santos<br />
mit „Nein,<br />
weil sie sich nicht um das Recht kümmert,<br />
son<strong>der</strong>n um ihre Privilegien. (…) Das<br />
Faktum, dass die Mittelklasse Privilegien<br />
genießt, aber keine Rechte in Anspruch<br />
nimmt, hin<strong>der</strong>t die an<strong>der</strong>en Brasilianer daran,<br />
Rechte zu besitzen. Darum gibt es in<br />
Brasilien fast keine Staatsbürger. Da sind<br />
jene, die keine Staatsbürger sein wollen,<br />
die Mittelklassen, und da sind jene, die keine<br />
Staatsbürger sein können, alle an<strong>der</strong>en,<br />
beginnend bei den Schwarzen, die keine<br />
Staatsbürger sind. Ich sage das aus eigener<br />
Erfahrung. Die Feste, die man hier und dort<br />
für mich veranstaltet, sind bedeutungslos,<br />
<strong>der</strong> Alltag zeigt mir, dass ich kein Bürger<br />
dieses Landes bin.“<br />
Zusammen mit vielen an<strong>der</strong>en fragen<br />
sich heute die indigenen und afrobrasilianischen<br />
Völker: „Wer sind wir in<br />
dieser globalisierten Welt? Wer sind wir<br />
auf diesem lateinamerikanisch-karibischen<br />
Kontinent, in dieser brasilianischen<br />
Nation? Wir haben eine tausendjährige<br />
Geschichte zu erzählen, die weit vor <strong>der</strong><br />
Eroberung Amerikas begann. Wir haben<br />
Religionen, die nur mit einem Bein im<br />
Katholizismus stehen. Und wir haben eine<br />
Vorstellung vom Leben an<strong>der</strong>s als <strong>der</strong><br />
Nationalstaat, <strong>der</strong> seine Unabhängigkeit<br />
von <strong>der</strong> Kolonisierung feierte, ohne<br />
uns von <strong>der</strong> Sklaverei zu befreien, und<br />
<strong>der</strong> seine Nationalität darauf gründete,<br />
dass er unsere Nationalitäten zerstörte<br />
und unsere Völker spaltete. Im besten<br />
Falle bot er uns an, uns unter die Armen<br />
zu mischen, uns in das Elend zu integrieren<br />
und dem farbigen Brasilien anzugehören.“<br />
Sich <strong>der</strong> ethnischen Identität zu<br />
vergewissern heißt also, sich gegen den<br />
Anpassungsdruck des Staates zur Wehr<br />
setzen.<br />
Die Identität einer gesellschaftlichen<br />
Gruppe wird dadurch gebildet, dass die<br />
größere gesellschaftlich-politische Gruppe,<br />
in unserem Fall die gesamte brasilianische<br />
Gesellschaft und <strong>der</strong> Staat, diese<br />
Identität in ihrer An<strong>der</strong>sartigkeit anerkennt.<br />
Im täglichen gesellschaftlichen<br />
Zusammenleben, durch die Nachbarn,<br />
im demokratischen Diskurs und durch<br />
das Gesetz anerkannt zu sein, ist Voraussetzung<br />
für die Staatsbürgerschaft. Die<br />
Anerkennung <strong>der</strong> Identität findet ihre<br />
politische Dimension, wenn die Staatsbürgerschaft<br />
anerkannt ist und praktiziert<br />
werden kann.<br />
2. Widrigkeit <strong>der</strong><br />
globalisierten Welt<br />
Wir leben heute in einer globalisierten<br />
Welt, die physisch durch Vertreibungen<br />
und Grenzüberschreitungen und<br />
gesellschaftlich von Ungerechtigkeit und<br />
Ausschluss gekennzeichnet ist, weil Kapital,<br />
Kommunikationsmedien und <strong>der</strong><br />
Landbesitzer sich organisiert die Latifundien<br />
wie<strong>der</strong> aneignen. Beide Phänomene,<br />
das <strong>der</strong> Vertreibung und die durch<br />
Klasseninteressen bestimmte Wie<strong>der</strong>in-<br />
Suess – Notizen zu Fragen <strong>der</strong> afro-brasilianischen und indigenen religiös-kulturellen Identitäten<br />
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