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Die Internationale I.A.A. V 0.2

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DIE<br />

INTERNATIONALE<br />

ORGAN DER INTERNATIONALEN ARBEITER-ASSOZIATION • BERLIN<br />

1. JAHRG. MÄRZ 1924 NR. 1


DIE INTERNATIONALE<br />

ORGAN DER INTERNATIONALEN ARBEITER-ASSOZIATION • BERLIN<br />

DEUTSCHE AUSGABE / HERAUSGEGEBEN VOM SEKRETARIAT DER I. A. A.<br />

1. JAHRG. MÄRZ 1924 NR. 1<br />

Fernand Pelloutier


Rückblick und Ausblick.<br />

Von A. Schapiro.<br />

Ein Jahr ist verflossen seit der Gründung der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-<br />

Assoziation, die eine Fortsetzung der föderalistischen und antistaatlichen Traditionen<br />

der I. <strong>Internationale</strong> ist, welche von den Ideengängen Bakunins beeinflußt war.<br />

Es ist deshalb angebracht, die Gründe ins Gedächtnis zurückzurufen, durch<br />

welche die revolutionären Syndikalisten aller Länder bewogen wurden, sich zu<br />

organisieren und die Arbeit im Sinne dieser neuen <strong>Internationale</strong> durchzuführen.<br />

Man hört es oft wiederholen, daß die IAA. zustande kam auf Grund der<br />

Politik der Roten Gewerkschafts-<strong>Internationale</strong>! Daß auf Grund von Moskau Berlin<br />

besteht! Gewiß liegt ein Teil Wahrh«it in dieser Paradoxie. Es braucht nicht<br />

erwähnt zu werden, daß die marxistische und diktatorische Hartköpfigkeit der<br />

R.G.I. von ihrem ersten konstituierenden Kongreß an eine Arbeitsgemeinschaft<br />

zwischen Syndikalisten und Kommunisten unmöglich machte, daß sie die ersteren<br />

dazu trieb, sich außerhalb der R.G.I. zu vereinigen, da diese hartnäckig daran festhielt,<br />

der Arbeiterbewegung aller Länder die Diktatur aufzudrücken. Es darf aber<br />

auch nicht vergessen werden, daß die Stellung der R.G.I. nur ein Faktor gewesen<br />

ist in dem organisatorischen Prozeß der I.A.A. Wenn Moskau nicht existiert hätte,<br />

dann hätten die revolutionären Syndikalisten trotzdem ihre revolutonärssyndikalistische<br />

<strong>Internationale</strong> gehabt, dessen Gebäude sie bereits am Vorabend des Weltkrieges<br />

Zu errichten begannen, und das sie unverzüglich nach dem Kriege wieder<br />

aufnahmen.<br />

Der Wirrwarr, der durch den Krieg innerhalb der Arbeiterbewegung geschaffen<br />

wurde, hat die Neuorganisierung der syndikalistischen Familie notwendig gemacht.<br />

Der zweite noch heillosere Wirrwarr, der durch die Wirkungen und Ergebnisse<br />

der russischen Revolution erzeugt worden ist, hat in die Arbeiterklasse eine solche<br />

Vielartigkeit der Tendenzen und inneren Kämpfe gebracht, daß es notwendig war,<br />

um jeden Preis den syndikalistischen Weg von dem bolschewistischen Schutt freizumachen.<br />

Es war also natürlich, daß die Syndikalisten, sobald der Krieg beendet war, das<br />

Werk der Zusammenfassung ihrer weit zerstreuten Kräfte des föderalistischen und<br />

antistaatlichen Syndikalismus wieder aufgenommen haben.<br />

<strong>Die</strong> Versuche, die unsere Kameraden von Deutschland und Holland unternommen<br />

hatten, hätten sicher schon vor 1922—23 ein Ergebnis gehabt, wenn die<br />

Kommunisten nicht eine solche Kontusion, mit allen Schlichen, deren sie fähig<br />

sind, im Schöße der Arbeiterorganisationen aller Länder geschaffen hätten durch<br />

die Bildung einer Roten Gewerkschafts-<strong>Internationale</strong> in Moskau, die von dem<br />

Tage ihrer Geburt sich als gehorsame Tochter der Kommunistischen Internationalbekannt<br />

hatte. Man kann deshalb mit Recht sagen, wenn nicht die R.G.I. bestanden<br />

hätte, dann wäre die <strong>Internationale</strong> Arbeiterassoziation der revolutionären Syndikalisten<br />

schon ein Jahr früher ins Leben getreten und hätte nicht solch peinvoll-<br />

Geburtswehen durchzumachen brauchen.<br />

2


<strong>Die</strong>se Neuorganisierung wäre sicherlich nicht notwendig gewesen nur allein<br />

für die revolutionären 'Syndikalisten selbst; es wurde immer dringlicher, daß die<br />

revolutionäre Arbeiterbewegung aller Landet Fühlung nahm und sich zu einer<br />

kompakten Masse vereinigte, die wie ein Mann gegen die steigenden Wogen der<br />

Weltreaktion sich auflehnt.<br />

Das war das Hauptziel, das ins Auge gefaßt "wurde; das war die unerläßliche<br />

Existenzbedingung der <strong>Internationale</strong>n Arbeiterassoziation.<br />

<strong>Die</strong> I.A.A. hatte aber auch ein zweites Ziel welches, obzwar im Vergleich mit<br />

ihrem Hauptziel von sekundärer Bedeutung, doch bedeutend genug war für die<br />

normale Entwicklung der syndikalistischen Organisation: dieses bestand darin,<br />

einen unübersteigbaren Wall aufzuwerfen zwischen den Diktatoren von Moskau<br />

und der Masse der revolutionären Syndikalisten aller Länder. Im Augenblick der<br />

Gründung der Kommunistischen <strong>Internationale</strong>, in der Zeit der Entstehung der<br />

R.G.I.. sah man in vielen Ländern die revolutionären Syndikalisten diesen <strong>Internationale</strong>n<br />

entgegeneilen, ihnen ihren Willkommensgruß entbieten, sie ihrer moralischen<br />

Hilfe versichern. Es erforderte nicht viel Zeit, um unsere begeisterten<br />

Kameraden zu überzeugen, daß sie einen falschen Weg eingeschlagen haben. Es<br />

war aber mehr als ein Jahr harter Arbeit erforderlich, um den Blindesten zu zeigen,<br />

daß die R.G.I. keineswegs der Organismus war, der berufen ist, den Staat zu zerstören<br />

und an der Errichtung der freien Gesellschaft teilzunehmen.<br />

Es muß auf das AktivsKonto der IA..A. geschrieben werden, daß sie diese<br />

Arbeit unternahm zu einer Zeit, als von ihr nur das provisorische Büro der revolutionären<br />

Syndikalisten existierte.<br />

Zurzeit kann die I.A.A. erklären, daß in allen Ländern der Welt, wo eine<br />

revolutionärssyndikalistische Bewegung besteht — mit der einzigen Ausnahme von<br />

Frankreich — der Bruch zwischen ihnen und den verschiedenen Abzweigungen und<br />

Filialen der beiden Moskauer <strong>Internationale</strong>n vollständig und tief ist. Trotz<br />

aller Versuche, unternommen von der R.G.I., sei es, um unsere Kameraden durch<br />

aller Art anarchistische Phrasen einzufangen, sei es, um in unsere Reihen das Gift<br />

der Spaltung der Uneinigkeit und des Mißtrauens zu säen, sind die revolutionären<br />

Syndikalisten unerschütterlich geblieben in ihrem Beschluß, nichts mit der R.G.I.<br />

zu tun zu haben, und diese zu verhindern, die revolutionäre Bewegung zu spalten.<br />

Während des ersten Jahres ihrer Existenz verstand die I.A.A., die svndikalistische<br />

Familie zu versammeln; es gelang ihr, von der <strong>Internationale</strong> ein Gebilde<br />

zu schaffen, das nicht nur auf dem Papier steht, sondern sie hat dieses internationale<br />

Band zu einer vollendeten Tatsache gemacht, sie konnte in der Praxis alle<br />

syndikalistischen Landeszentralen, außer Frankreich, vereinigen.<br />

Das war ein großes Werk — unmerklich an der Oberfläche — welches unsere<br />

I.A.A. im Laufe von 12 Monaten vollendet hat.<br />

Um aber dieses Werk der Vereinigung vollenden zu können, hat die I.A.A.<br />

zahlreiche unvermeidliche Schwierigkeiten zu überwinden, gerade wenn es sich<br />

darum handelt, die verschiedenartigen Temperamente und die oft sich widersprechenden<br />

Ueberlieferungen an einem Tische und zu einem gemeinsamen Ziele<br />

zu vereinen.<br />

So mußte die I.A.A. auf der einen Seite mit dem unverrückbaren Anarchismus<br />

der Syndikalisten Südamerikas und auf der anderen Seite mit dem nicht weniger<br />

unverrückbaren Syndikalismus der französischen Anarchisten rechnen. Keineswegs<br />

dazu ins Leben getreten, um ihre Anschauungen dem einen oder dem anderen zu<br />

diktieren, war es die Rolle der I.A.A. vielmehr den Schiedsrichter, den Friedensrichter<br />

zu spielen. Es war ihre Pflicht, das Gemeinsame, das alle beherrscht, zu<br />

finden, wodurch alle Richtungen des revolutionären Syndikalismus sich brüderlich<br />

vereinigten und gemeinsam kämpfen konnten im Sinne der antistaatlichen und<br />

föderalistischen Grundsätze und der Taktik der direkten Aktion. <strong>Die</strong>ses alle beherrschende<br />

Gemeinsame ist noch nicht vollständig ausgereift, wir sind aber<br />

rn<br />

3


auf dem besten Wege dahin, denn die Verschiedenartigkeiten der Nuancen haben<br />

alle revolutionären Syndikalisten nicht verhindert, sich in der I.A.A. zu vereinigen.<br />

<strong>Die</strong>se Schwierigkeit ist nicht die einzige, welche die schnelle Entwicklung der<br />

I.A.A. erschwert hatte.<br />

<strong>Die</strong> uns angeschlossenen Landesorganisationen haben sich noch nicht genügend<br />

daran gewöhnen können, jede ihrer Aktionen als ein Glied in dem internationalen<br />

Kampfe des Proletariats anzusehen. Trotz der Existenz politischer Grenzen<br />

hat die Arbeiterklasse aller Länder bereits verstanden, daß sie einzig und unteilbar<br />

ist, daß die Niederlage eines ihrer Bataillone sofort zurückwirkt auf den Rest der<br />

Armee; daß der Sieg mehr Begeisterung hier, mehr Zugkraft dort bedeutet. Es<br />

genügt aber nicht, es nur zu verstehen; man muß es verwirklichen können. Jede<br />

der I.A.A. angeschlossene Landesorganisation muß ihren Anschluß nicht als eine<br />

Handlung abstrakter internationaler Solidarität auffassen, sondern in ihr einen Akt<br />

von praktischer Bedeutung erblicken, durch welchen sie stets bereit ist, ohne erst<br />

die Befehle von irgendwo abzuwarten, durch ihre geistige und materielle Hilfe bei<br />

jedem Kampfe, bei jeder Handlung, bei jedem Proteste irgendeines Teiles der<br />

proletarischen Familie teilnehmen. Dadurch wird sie auch in einer Periode der<br />

Krise, in die sie selbst kommt, bei Kämpfen in ihren eigenen Reihen von den übrigen<br />

Teilen des organisierten Proletariats verteidigt werden.<br />

<strong>Die</strong> I.A.A. erteilt keine Befehle. Ihre Aufgabe besteht darin, die zerstreuten<br />

Aktivitäten einzuordnen, um die vereinzelten Kräfte zu verbünden, um den revolutionären<br />

Syndikalismus der ganzen Welt als schöpferische Kraft zusammenzuballen.<br />

Es muß deshalb größter Nachdruck gelegt werden darauf, daß die uns<br />

anhaftenden Differenzen nicht nur als nationale Einheiten betrachtet werden, sondern<br />

auch als aktive Teile der großen internationalen Familie.<br />

Wenn die Frage eines Boykotts aufgeworfen wird, der sich als notwendig erweist,<br />

um irgendeine Regierung zu zwingen, dann genügt es nicht, daß jede Landesorganisation<br />

in ihrem Organe den Appell der I.A.A. veröffentlicht, in dem zu<br />

irgendeiner Aktion aufgerufen wird. Es ist notwendig, daß die Landesorganisation<br />

sich praktisch damit beschäftigt. Es darf nicht vergessen werden, daß die I.A.A.<br />

nur dann eine internationale Bedeutung haben wird, wenn sie die Resultante der<br />

Tätigkeiten ihrer Sektionen in den einzelnen Ländern sein wird. Je größere Initiative<br />

die letzteren entfalten, je mächtiger sie sich zeigen, desto stärker und größei<br />

wird die <strong>Internationale</strong> werden.<br />

<strong>Die</strong> Schwäche der I.A.A. von heute kommt von dem Mangel an Zusammen<br />

gehörigkeit der einzelnen Sektionen. <strong>Die</strong> Landesorganisationen sollten von nun an<br />

einen größeren Anteil nehmen an dem Kampfe der Arbeiterklasse außerhalb der<br />

Grenzen ihres eigenen Landes; die I.A.A. wird auf dem richtigen Wege sein an<br />

dem Tage, wenn jeder Aufruf ihres Verwaltungsorganes sofort gehört und befolgt<br />

wird von ihrer Peripherie; oder wenn ein Appell der Peripherie sofort von der<br />

<strong>Internationale</strong> beantwortet wird.<br />

<strong>Die</strong>se organisatorische Schwäche des <strong>Internationale</strong>n Bandes zwischen den<br />

revolutionären Syndikalisten macht sich auch: fühlbar in kleinen Dingen — regelmäßige<br />

Bezahlung der Beiträge, periodische Einsendung von Berichten, sofortige<br />

Beantwortung von Briefen und Kundschreiben des Sekretariats usw. Kleine Bäche<br />

bilden den großen Fluß. <strong>Die</strong> Regelung der Kleinigkeiten wird die Arbeit der I.A.A.<br />

und ihrer Sektionen bedeutend erleichtern.<br />

Eine Periode innerer Organisation darf nicht allzu lange dauern. Das verflossene<br />

Jahr kann genannt werden das Jahr der Vorbereitung der I.A.A. <strong>Die</strong><br />

Landesorganisationen haben den Wert des Anschlusses an die I.A.A. reichlich<br />

uberlegt. <strong>Die</strong>se Ueberlegung schloß mit dem Anschlüsse. Gegenwärtig muß ein<br />

Maximum geleistet werden. Wir befinden uns am Eingang des zweiten Jahres,<br />

welches die Periode der Zusammenfassung sein soll. Wenn die Anschlüsse bisher<br />

mehr oder weniger platonischer Natur waren, so müssen sie nun einen Kampfes-<br />

4


Charakter annehmen, einen Charakter der Verteidigung und des Angriffes. In<br />

dieser Periode soll die I.A.A. das so seltene Talent des Gleichgewichts entwickeln.<br />

Das Hin und Her der Fraktionen innerhalb der I.A.A. sollte einer gegenseitigen<br />

Duldung Platz machen, trotz einiger bestehenden Meinungsverschiedenheiten. Trotz<br />

der verschiedenen Größen und ungleichen Machtpositionen sollten die Glieder, aus<br />

denen die I.A.A. sich zusammensetzt, das internationale Gleichgewicht des revolutionären<br />

Syndikalismus bewahren.<br />

<strong>Die</strong> I.A.A. sollte aber mehr tun. Sie müßte die Mittel finden, ihre moralische<br />

und oft materielle Hilfe unseren durch die grausame Reaktion geschwächten Landen<br />

organisationen zu bringen, wie z. B. in Italien, in Spanien. Sie sollte die I.W.W.<br />

Amerikas für sich gewinnen — in dieser Richtung wäre eine fruchtbare Arbeit zu<br />

verrichten, um so mehr, da die Sympathien auf unserer Seite sind. Sie sollte die<br />

Aufmerksamkeit nach dem Osten richten: nach Japan, wo die syndikalistische<br />

Bewegung an Boden gewinnt; nach China, wo die revolutionäre Propaganda stets<br />

von einem föderalistischen Geiste getragen war; nach Indien, wo die Arbeiterbewegung<br />

die tiefsten Wurzeln sehlägt. Auch die Balkanländer dürfen nicht aus<br />

dem Auge verloren Werden, da die I.A.A. dort noch gänzlich unbekannt ist.<br />

Mit einem Worte, die I.A.A. sollte nun auf der einen Seite die bereits angeschlossenen<br />

Organisationen enger zusammenführen, sie voll zu verstehen versuchen<br />

und sie auf ihre internationalen Verpflichtungen aufmerksam machen; auf<br />

der anderen Seite das Werk der Sammlung fortsetzen und keinen Teil der Erde<br />

von unserer Propaganda unberührt lassen.<br />

Wir müssen dahin kommen, daß der revolutionäre Syndikalismus in, der ganzen<br />

Welt eine solide und unzerstörbare Kette bildet, deren einzelne Glieder sich frei<br />

und automatisch bewegen, und in der I.A.A. ihren natürlichen Regulator und ihre<br />

Wegrichtung finden. <strong>Die</strong>se Periode der Verschmelzung wird länger dauern<br />

als die Periode der Vorbereitung. Sie ist um so schwieriger, da die Weltreaktion<br />

niemals so mächtig gewesen ist. Aber gerade weil die Reaktion nicht eine<br />

dauernde ist, erheischt die Pflicht, daß die I.A.A. sich jetzt vorbereitet und ihre<br />

Kräfte zusammenschweißt, damit sie auftreten kann an dem Tage, an dem<br />

diese Reaktion gebrochen sein wird. Dann wird die dritte Periode in der Existenz<br />

der I.A.A. einsetzen, die Periode der Aktion.<br />

Ein Rückblick auf die internationale Idee in der<br />

Arbeiterbewegung.<br />

Von Max Nettlau.<br />

Wenn der Syndikalismus die Zusammenfassung der Kräfte der Arbeiter bedeutet,<br />

um denselben unter dem sie erdrückenden heutigen System die besten erreichbaren<br />

Arbeits- und Lebensbedingungen zu erringen und sie zu dem kommenden<br />

großen Kampf gegen ihre Ausbeuter geistig, moralisch und physisch vorzubereiten<br />

und zu befähigen, so erfordert dies intensive Tätigkeit nach zwei Hauptrichtungen<br />

hin: lokale Propaganda und Organisation, die in jede Arbeiterschicht<br />

eindringt und nationale und internationale Föderation aller Gruppen auf die den<br />

gegebenen Situationen entsprechendste und zugleich für die Zukunft die erfolgreichste,<br />

also freieste und solidarischeste Betätigung ermöglichende Weise.<br />

Eine solche Einsicht hatten mehr oder weniger alle Organisationsbestrebungen<br />

der Arbeiter seit den ältesten Zeiten. Während die Besitzenden seßhaft waren,<br />

sich eng lokal und national entwickelten und mit ihrem Kapital oder ihren Handelsartikeln<br />

nach auswärts hin operierend nur Konkurrenten, also Feinde kannten oder<br />

selbst Eroberer von Märkten, Tyrannen auf ökonomischem Gebiet wurden und<br />

dadurch die staatlichen und nationalen Feindschaften, die heute die Welt zerrütten,<br />

rsi<br />

5


zu schüren halfen, waren die besitzlosen Arbeiter beweglich, kamen durcn die<br />

Wanderschaft überall hin und wurden so unwillkürlich Beförderer des Sich-Kennen-<br />

Lernens der Gegenden und Völker und ein moralisches Gegengewicht gegen die<br />

von der Konkurrenz der Besitzenden geschaffenen Feindschatten. Ebenso wurde<br />

den Arbeitern der internationale Charakter der Ausbeutung bewußt und fast jode<br />

ihrer ersten Bewegungen verbreitete sich über ihr ganzes Sprachgebiet und oft auch<br />

die benachbarten Länder.<br />

Daher konzentrierte sich zwar stets die Hauptanstrengung auf den Ausbau<br />

nationaler Organisationen, aber die Wichtigkeit internationaler Solidarität, die ja<br />

auch in allerlei andern internationalen Organisationen früherer Jahrhunderte Vorbilder<br />

fand, ebenso in dem durch die internationale Untrennbarkeit von Kunst und<br />

Wissenschaft allmählich entstehenden kosmopolitischen geistigen Milieu, — die<br />

Wichtigkeit internationaler Arbeitersolidarität wurde ebenfalls früh erkannt, wenn<br />

auch die Versuche, sie zu verwirklichen, längere Zeit brauchten, bis sie endlich eine<br />

tatkräftige Durchführung erlangten; dies geschah durch die <strong>Internationale</strong> Arbeiter-<br />

Assoziation (28. September 1864).<br />

Zur Zeit ihrer Gründung war es in der sozialistischen Welt eigentlich sehr still<br />

indem von den vielen seit mehr als vierzig Jahren rivalisierenden sozialistischen<br />

Richtungen keine allgemein durchgedrungen war und die meisten sich eigentlich in<br />

resigniertem halb schlummerndem Zustand nach so vielen Kämpfen befanden. <strong>Die</strong><br />

glänzende Idee der <strong>Internationale</strong> hatte zunächst freies Feld. Da aber ihre praktische<br />

Begründung in verschiedenen Ländern mit dem Wiedererwachen des Sozialismus<br />

zusammenfiel und die älteren Sozialisten aller Schulen und die ersten und<br />

einflußreichsten Internationalisten oft dieselben Personen waren, so wurde die<br />

<strong>Internationale</strong> immer mehr der unmittelbare Schauplatz theoretisch»sozialistischer<br />

Auseinandersetzungen und vielfacher Differenzen und die dem Syndikalismus vollentsprechende<br />

internationale Zusammenfassung großer organisierter und kämpffroher<br />

Arbeitermassen, die auch dem kriegerischen Ehrgeiz der Staaten ein<br />

donnerndes Halt geboten hätten, trat leider in den Hintergrund.<br />

Bakunin sprach oft die wahre Idee der <strong>Internationale</strong> in voller Klarheit aus.<br />

Einige seiner Worte sind:<br />

„Was ist notwendig, damit die Stunde der endgültigen Befreiung der Arbeit<br />

schlägt? Zwei Dinge, zwei untrennbare Voraussetzungen. <strong>Die</strong> erste ist die wirkliche<br />

und praktische Solidarität der Arbeiter aller Länder. Welche Macht der Welt<br />

könnte dieser furchtbaren Kraft widerstehen? Man muß sie also verwirklichen.<br />

Alle unterdrückten und ausgebeuteten Arbeiter der Erde, sich über die Grenzen<br />

der politischen Staaten die Hand reichend und dadurch selbst die Grenzen zerstörend,<br />

müssen sich zum gemeinsamen Werk in einem einzigen Gedanken der<br />

Gerechtigkeit und durch die Solidarität der Interessen vereinigen: Alle für einen<br />

und jeder für alle. Ein letztes Mal muß sich die Welt in zwei verschiedene Lager,<br />

zwei Parteien teilen: auf der einen Seite die Arbeit unter gleichen Bedingungen für<br />

alle, die Freiheit eines jeden durch die Gleichheit aller, die Gerechtigkeit, die<br />

siegende Menschlichkeit — die Revolution; auf der andern das Privileg, das Monopol,<br />

die Herrschaft, Bedrückung und ewige Ausbeutung. Sobald aber alle Arbeiter<br />

Europas und Amerikas vereinigt sein werden, wird der Kampf selbst unnütz sein:<br />

die feindliche Partei wird von selbst verschwinden . . . ." (<strong>Die</strong> andere Bedingung<br />

ist die Wissenschaft, nicht die offizielle, sondern die wahre menschliche .... Dezember<br />

1868)<br />

die Erwägungsgründe (der Statuten, 1864) fügen diese weitere Erklärung<br />

hinzu, die Emanzipation der Arbeiter sei nicht ein einfach lokales oder nationales.<br />

sie sei ein in eminentem Grade internationales Problem; woraus folgt, daß die ganze<br />

Politik der Assoziation nur eine internationale Politik sein kann, die absolut alle<br />

patriotischen und immer selbstsüchtigen Eitelkeiten der Bourgeois, alle exklusiv<br />

nationale Politik ausschließt. Das Vaterland des Arbeiters, der Mitglied der Inter-<br />

6


nationale ist, ist von jetzt ab die große Föderation der Arbeiter der ganzen Weit,<br />

die sich im Kampf gegen das Bourgeoiskapital befindet. Für den Arbeiter kann es<br />

von jetzt ab keine anderen Landsleute und Brüder geben als die Arbeiter, welches<br />

immer ihr Land sei, keine andern Fremden als die Bourgeois, es sei denn, daß diese<br />

Bourgeois, jede Solidarität mit der bürgerlichen Welt brechend, offen die Sache<br />

der Arbeit gegen das Kapital zur ihren machen wollen."<br />

„Das ist das Programm der internationalen Arbeiterassoziation. <strong>Die</strong> Gleichheit<br />

ist Ziel; die Organisation der Arbeiterkräfte, die Vereinigung des Proletariats<br />

auf der ganzen Erde, über die Grenzen der Staaten hinweg und auf den Ruinen aller<br />

patriotischen und nationalen Beengtheiten, dies ist seine Waffe, seine große, seine<br />

einzige Politik mit Ausschluß jeder andern" .... (Juli 1869).<br />

,<strong>Die</strong> Gründer der internationalen Arbeiterassoziation handelten mit<br />

um so größerer Weisheit, als sie vermieden, politische und philosophische<br />

Prinzipien dieser Assoziation zugrunde zu legen und ihr zunächst als<br />

einzige Grundlage nur den ausschließlich ökonomischen Kampf der Arbeit<br />

gegen das Kapital gaben, — da sie die Gewißheit hatten, daß, sobald<br />

ein Arbeiter dieses Terrain betritt, sobald er, auf sein Recht wie auf die<br />

numerische Stärke seiner Klasse vertrauend, sich mit seinen Arbeitsgenossen in<br />

einen solidarischen Kampf gegen die bürgerliche Ausbeutung einläßt, er notwendigerweise<br />

durch die Macht der Tatsachen selbst und durch die Entwicklung dieses<br />

Kampfes dahin geführt wird, bald alle politischen, sozialistischen und philosophischen<br />

Grundsätze der <strong>Internationale</strong> zu erkennen, welche Grundsätze tatsächlich<br />

nur die richtige Auseinandersetzung ihres Ausgangspunkts und ihres Ziels<br />

sind." .... (August 1869).<br />

„<strong>Die</strong> internationale Arbeiterassoziation hätte keinen Sinn, wenn<br />

sie nicht unwiderstehlich der Abschaffung des Staates zustrebte. Sie organisiert<br />

die Volksmassen nui in Hinsicht auf diese Zerstörung. Und wie organisiert<br />

sie dieselben? Nicht von oben nach unten, indem sie der von der Verschiedenheit<br />

der Arbeit unter den Massen hervorgebrachten sozialen Verschiedenheit<br />

oder dem natürlichen Leben der Massen eine künstliche Einheit oder Ordnung<br />

aufzwingt, wie dies die Staaten tun, sondern im Gegenteil von unten nach oben,<br />

zum Ausgangspunkt nehmend die soziale Existenz der Massen, ihre wirklichen<br />

Bestrebungen, und sie dazu aneifernd, sich zu gruppieren, Harmonie und Gleichgewicht<br />

unter sich herzustellen, entsprechend dieser natürlichen Verschiedenheit<br />

der Beschäftigungen und Lagen und ihnen dabei helfend. <strong>Die</strong>s ist das eigentliche<br />

Ziel der Organisation der Fachsektionen". . . . (Juli 1871).<br />

Leider entwickelte sich bekanntlich bei den intellektuellen Beherrschern des<br />

Generalrats der <strong>Internationale</strong>, Marx und Engels, immer mehr die Idee, die Gesellschaft<br />

sei ihre Privatdomäne zur Verwirklichung ihres persönlichen Programms,<br />

der sogenannten Eroberung der politischen Macht, in Wirklichkeit der Errichtung<br />

ihrer eigenen Diktatur über das Proletariat. <strong>Die</strong> Londoner Konferenz (1871), der<br />

Haager Kongreß (1872) provozierten daher den vollständigen Bruch. Selbst dann<br />

wurde von James Guillaume, Bakunin und ihren Genossen ein letzter Versuch gemacht,<br />

die Einheit des Proletariats zu retten, der in der Erklärung der Haager<br />

Minorität, in den Beschlüssen des allgemeinen Kongresses von Saint linier, des<br />

italienischen Kongresses von Bologna, des Genfer allgemeinen Kongresses (1872 bis<br />

1873) den klarsten Ausdruck fand: die Einheit und Solidarität im ökonomischen<br />

Kampf sollte alle übrigen Differenzen überbrücken.<br />

Bakunin sah, wie unabänderlich die freiheitliche und die autoritäre Richtung<br />

getrennt waren und im Oktober 1872 schrieb er in einem erst 1894 veröffentlichten<br />

Manuskript: „Tatsächlich ist zwischen den beiden erwähnten Tendenzen heute<br />

keine Versöhnung möglich." Er fügt aber hinzu: „Nur die Praxis der sozialen<br />

Revolution, große neue historische Erfahrungen können diese Tendenzen früher<br />

oder später zu einer gemeinsamen Lösung führen" Aber was soll man heute<br />

7


tun? Heute muß man, da die Lösung und Versöhnung auf dem politischen Terrain<br />

unmöglich ist, sich gegenseitig dulden, indem man jedem Land das unbestreitbare<br />

Recht läßt, den politischen Tendenzen zu folgen, die ihm besser gefallen oder ihm<br />

seiner eigenen Lage besser angemessen erscheinen. Man muß also unter Verwerfung<br />

aller politischen Fragen aus dem obligatorischen Programm der <strong>Internationale</strong> die<br />

Einheit dieser großen Assoziation einzig und allein auf dem Terrain der ökonomsichen<br />

Solidarität suchen" .... „Mögen sich also die deutschen, amerikanischen<br />

und englischen Arbeiter bemühen, die politische Macht zu erobern, da ihnen dies<br />

gefällt. Aber mögen sie den Arbeitern der andern Ländern erlauben, mit derselben<br />

Energie an die Zerstörung aller politischen Gewalten heranzugehen. Freiheit für<br />

alle und gegenseitige Achtung dieser Freiheit . . , sind die Grundbedingungen der<br />

internationalen Solidarität."<br />

<strong>Die</strong>se Ideen, die noch lange von den antiautoritäten Internationalisten offen<br />

vertreten wurden, begegneten tauben Ohren. <strong>Die</strong> sich überall bildenden sozialdemokratischen<br />

politischen und gewerkschaftlichen Organisationen waren kaum<br />

noch dem Namen nach international, wurden ausschließlich Vertreter, genauer<br />

Leiter und ßevormunder, der nationalen Arbeit jedes Landes, deren unmittelbares<br />

Interesse mit der Macht der Bourgeoisie und des Staates verbunden ist. Dadurch<br />

wurden sie unaufhaltsam in den Bannkreis der staatlichen Ausdehnungspolitik, des<br />

Imperialismus und des Nationalismus gezogen und kämpften auf Seiten der Bourgeoisie<br />

ihres Landes, für dieselbe also, im Weltkrieg. Der internationale Gedanke<br />

war eben zum Schatten herabgesunken. Bakunins Worte bewahrheiteten sich:<br />

„Wer Staat sagt, sagt also notwendigerweise mehrere Staaten — Unterdrücker und<br />

Ausbeuter im Innern, Eroberer oder wenigstens gegeneinander feindlich nach außen<br />

hin, — sagt Verneinung der „Menschheit" ....<br />

Nach meiner unmaßgeblichen Ansicht hat auch der in den Neunzigern sich<br />

so lebensfrisch wieder erhebende revolutionäre Syndikalismus dieser Frage des<br />

wirklichen Internationalismus nicht die richtige Aufmerksamkeit geschenkt; er<br />

nahm die vorhandenen Gegensätze als unvermeidliche Tatsachen hin und diese<br />

Gegensätze waren bereits die beiderseitigen Positionen im kommenden Weltkrieg,<br />

der — möchte ich sagen — schon durch die Spaltung der <strong>Internationale</strong> durch den<br />

Haager Kongreß, 1872, angebahnt und ermöglicht wurde. Denn hätten sich von<br />

damals an, wie bis 1869 wenigstens, die vorgeschrittenen und organisierten Arbeiter<br />

ernstlich um Ausdehnung und Vertiefung des wirklichen Internationalismus bekümmert,<br />

hätte die Bourgeoisie nicht immer freieres Spiel gehabt, bis sie leichten<br />

Herzens den Krieg wagte.<br />

Darin liegt nach meiner Ueberzeugung eine furchtbare Lehre, die aber so wenig<br />

beherzigt wird, daß wir nach dem Krieg bereits eine Dreiteilung statt einer einfachen<br />

Spaltung der Arbeitermassen haben: Reformisten, Kommunisten und freiheitliche<br />

Richtungen. Wenn der sich daraus ergebenden steigenden Ohnmacht der<br />

Arbeiter den Zielen ihrer Ausbeuter gegenüber entgegengewirkt werden soll, kann<br />

dies vor allem durch Verständnis, Ausbildung und Vertiefung des wirklichen Internationalismus<br />

geschehen: derselbe muß in höherem Grade auf die Massen eines<br />

jeden Landes anziehend wirken, als der heute und seit lange mit den tausendfachsten<br />

Mitteln genährte Nationalismus. Nur wenn diese größere Anziehungskraft<br />

wirkt, nur dann wird dem immer steigenden Unheil Einhalt getan werden.<br />

Von den drei Arbeitersinternationalen wird diejenige siegen, die imstande ist,<br />

den wirklichen Internationalismus neu zu beleben, so daß der nationalistische Trug<br />

neben ihm verblaßt. Eine Schwere Aufgabe, zu der es noch so ziemlich an allem<br />

fehlt; aber ohne sie zu lösen, ist an eine machtvolle, selbständige, freiheitbringende<br />

Aktion der Arbeiterklasse auch nicht zu denken.<br />

Möge die I.A.A. diesen Weg entschlossen betreten und all ihre übrigen Ziele<br />

werden sich der Verwirklichung nähern, wie sie es verdienen!<br />

8


Fernand Pelloutier, ein Vorläufer des Syndikalismus.<br />

Von Armando Borghi.<br />

Unsere Berliner <strong>Internationale</strong> Arbeiter*Assoziation wünscht für den 13. März<br />

dieses Jahres einen Aufsatz zur Erinnerung an Fernand Pelloutier, der in der<br />

Geschichte der revolutionären syndikalistischen Arbeiterschaft tiefe Spuren hinterlassen<br />

hat.<br />

<strong>Die</strong>ser Name hat in der internationalen Arbeiterbewegung einen guten Klang<br />

und obgleich die Welt oft gar zu schnell die Vorkämpfer ihrer eigenen unterdrückten<br />

Klasse vergißt, dürften doch gerade die Jüngsten in den proletarischen Kämpferreihen<br />

nicht in Unkenntnis darüber sein, welche bedeutende Rolle Pelloutier in<br />

der syndikalistischen Bewegung gegen das Politikantentum gespielt hat.<br />

Eine Reihe mir bekannter Schriftsteller erkannte das an. So findet George<br />

Sorel in seinem Buche „Betrachtungen über die Gewalt" Worte der Bewunderung<br />

für Pelloutier und betrachtet den Eintritt der Anarchisten in die französische<br />

syndikalistische Bewegung als eine Tatsache von großer Bedeutung. Giuseppe<br />

Prezzolini, ein sehr ernster italienischer Schriftsteller, der eine Zeitlang den französischen<br />

Syndikalismus studierte, spricht in seinem Buche von Pelloutier als einem<br />

Helden des Syndikalismus. Auch darf ich nicht versäumen, die herrlichen Worte<br />

Pietro Göns, des großen italienischen Redners und anarchistischen Dichters zu erwähnen,<br />

die er über unsern Vorkämpfer in dem Vorworte eines ins Italienische<br />

übersetzten Werkes Pelloutiers über den Syndikalismus schrieb.<br />

In Paris und in ganz Frankreich ist der Name Pelloutier unlöslich mit der Geschichte<br />

des Syndikalismus verbunden und im Gewerkschaftshaus, in der Rue<br />

Grange aux Beiles, gerade dort, wo die Revolverkugeln der Kommunisten unsere<br />

Genossen trafen, gibt es einen Saal, der dem Namen Pelloutier gewidmet wurde.<br />

Der Name unseres Vorkämpfers wurde also nicht vergessen, man kann sogar<br />

sagen, daß er heute noch eine größere Bedeutung gewonnen hat und zwar infolge<br />

der Wertschätzung, die unseren Ideen zuteil wurde und der Widerstände, die sie<br />

entfesselten, der Ideen, deren treuester und eifrigster Verkünder Pelloutier war.<br />

Es gibt unter uns so viel Finsternis in den neuaufblühenden und doch wurzellosen<br />

politischen Dogmen, es gibt so viel Verschlagenheit bei den Irreführenden und<br />

— gestehen wir es offen — es gibt so viel Naivität bei den Irregeführten, daß jene<br />

Männer, die der syndikalistischen Arbeiterbewegung treu geblieben sind, in der<br />

Erinnerung an unsere großen Toten, die zugleich Führer und Lehrer waren, nicht<br />

nur Trost, sondern Ansporn für den Kampf und für die Agitation unter den irregeführten<br />

Massen finden.<br />

Der Appell, den also die I.A.A. in ihren Sektionen ertönen läßt, sich ihrer Vorkämpfer<br />

zu erinnern, ist eine Notwendigkeit. <strong>Die</strong> Erinnerung an einen Namen<br />

wie Pelloutier trägt ein besonderes Merkmal, eine besonders klar ausgeprägte Ausdrucksform,<br />

die jede Möglichkeit der Konfusion zwischen der revolutionären syndikalistischen<br />

Arbeiterschaft und den Irreführungen der wirklichen und vermeintlichen<br />

Politikanten ausschließt.<br />

Denn auch unter uns gibt es Genossen, die sich verleiten lassen und glauben,<br />

daß die Idee allein, den Gewerkschaften anzugehören, an sich gut sei, ohne auf<br />

den Inhalt derselben Wert zu legen.<br />

O heilige Einfalt!<br />

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Glaubt ihr denn, wenn zum Beispiel die Polizei oder die Kerkermeister eine<br />

Gewerkschaft gründen, um vom Staate bessere Entlohnung für ihre infame Berufsbetätigung<br />

zu bekommen, daß diese Menschen Syndikalisten geworden sind? So<br />

haben auch die Politikanten und die Pfaffen vieler Länder Arbeiterorganisationen<br />

gegründet, um diese letzten Endes besser für die Interessen der herrschenden<br />

Klasse oder des Staates (ob jener nun gelb oder rot ist, ist einerlei — denn nicht<br />

alle Staaten sind rot von Arbeiterblut) mißbrauchen zu können. Deshalb<br />

haben diese nicht die geringste Geistesverwandtschaft mit dem Syndikalismus.<br />

Das Beispiel ein und derselben Flasche, die entweder Wein oder Wasser oder<br />

gar Petroleum enthält, ist hier einleuchtend!<br />

Wir haben es hier nicht mit einer etymologischen Frage zu tun, sondern<br />

lediglich mit der Klarheit der Ausdrücke, die dazu dienen, die Ideen begrifflich in<br />

leicht verständliche Form zu kleiden. Fragen von historischer Bedeutung, aus deren<br />

Beantwortung sich die Wurzel über den natürlichen Ursprung der Bewegung<br />

finden läßt.<br />

Ursprünglich bedeutete Syndikalismus Vertrag, im Gegensatz zu den philosophisch-politischen<br />

Theorien, die die neuen politischen Vereine in Italien ausüben.<br />

Ob es nun Syndikate der Partei oder selbst der Regierung, oder ob sie<br />

genossenschaftlicher Natur sind, immer sind es unechte, konservative oder gar<br />

reaktionäre Verbände. Genau wie jene, die sich Vereine oder Genossenschaften<br />

nennen, ohne eine klare Zielsteuerung erkennen zu lassen. Ihre Betätigungsmethoden<br />

kann man philantropisch, pazifistisch nennen, sie können sich der Werke<br />

der Nächstenliebe befleißigen oder Protektionswirtschaft betreiben, aber sie können<br />

niemals als syndikalistische Aktionen bezeichnet werden.<br />

Von Syndikalismus kann man nur reden, wenn die Ideen der sozialen Umgestaltung<br />

von der Aktion der proletarischen Angriffsfronten getragen werden<br />

und auf dem Boden des Klassenkampfes stehen.<br />

Für den Syndikalismus wirken heißt, wenn man dem Proletariat von der Vormundschaft<br />

der Parteien, der Protektion der Philantropen der Illusion des Parlaments,<br />

der Gaunerei der sozialen Reformen, der Sterilität der Gewerkschaften, der<br />

Gefahren des Zentralismus erzählt. Und wenn man so den Syndikalismus verständlich<br />

macht, dann erklären Pfaffen, Unternehmer, Reformisten, Parlamentarier,<br />

Sozialdemokraten und alle übrigen Streber zu den Staatskrippen, daß sie alle unbedingt<br />

antisyndikalistisch sind und den Syndikalismus für den schlechtesten, den<br />

abscheulichsten Betrug halten, der je gegen die heilige Ordnung der Gesellschaft<br />

verübt wurde.<br />

Weil aber der Name Pelloutier in Frankreich wie ein leitender Stern erglänzt,<br />

wollen wir ihn und seinen Werdegang der Arbeiterschaft in der <strong>Internationale</strong><br />

näherbringen.<br />

* * *<br />

Nach einer Jugend der Studien und der demokratischen Illusionen kam<br />

Pelloutier etwa im Jahre 1892 aus der Provinz nach Paris, wo er 25 Jahre früher,<br />

im Jahre 1867, geboren wurde. Hier entwickelten sich in ihm alle Energien seines<br />

rebellischen Temperaments und seines für alles Neue empfänglichen Geistes. Er<br />

trat den Sozialisten näher, aber kaum hatte er mit deren politischen Kreisen<br />

Fühlung genommen, regte sich schon sein Mißtrauen. Auf dem nationalen sozialistischen<br />

Kongreß von St. Nazaire bezeichnete man ihn bereits als einen Ketzer.<br />

Während alle Parteiführer nur an die Wahlen dachten und von anderen Nichtigkeiten<br />

redeten, schlug er eine Abstimmung vor für den Generalstreik. Eine Idee,<br />

die schon in den Reihen der <strong>Internationale</strong> erörtert wurde.<br />

<strong>Die</strong> 1880 entstandenen politischen Parteien taten aber alles, um die Verbreitung<br />

jener Idee zu verhindern. Pelloutier entwickelte sich sehr bald zum antistaatlichen<br />

Sozialisten, wurde Anarchist. Er führte den Kampf auf revolutionär-gewerkschaft-<br />

10


licher Grundlage, um die Bewegung zu erweitern und zu vertiefen, und er war es,<br />

der ihr zur Leitidee die direkte Aktion gab. Er propagierte unermüdlich den Gedanken<br />

des Generalstreiks. Er warnte die Arbeiterschaft vor den Illusionen der<br />

sozialen Gesetzgebung. Er betrieb die Ausschließung der kompromittierten Parlamentarier<br />

aus den Selbstverwaltungen der proletarischen Kampfverbände.<br />

Gleichzeitig versuchte er die Vorteile, die durch direkte Aktionen errungen<br />

wurden, zu befestigen. Zu alledem kam sein heißes Bemühen, in den Massen die<br />

Reife zur Uebernahme der Gesamtproduktion zu fördern und neue gesellschaftliche<br />

Gebilde unter Ausschluß der Staatsgewalt, der Diktaturpossen, der Autorität und<br />

der hemmenden Zentralisation aufzubauen. <strong>Die</strong> Idee der Arbeiterbörsen, die er<br />

schuf und in Wirklichkeit umsetzte, und die föderierten freien Kommunen nähern<br />

sich im Geiste der Sowjetidee mit dem Unterschiede, daß sein Gedankengang<br />

durchaus herrschaftslos kommunistisch, also im engsten Sinne des Wortes antistaatlich<br />

war. <strong>Die</strong> Lehre von Proudhon, die in Frankreich so reiche Spuren hinterließ,<br />

verband er mit dem Idealismus eines Bakunin. Das Proletariat hat die Gabe,<br />

aufrichtige Männer, die sich ihm mit Hingebung nähern, sehr schnell zu verstehen.<br />

Nun folgten für Pelloutier zehn Jahre des erbittertsten, fieberhaft erregten Klassenkampfes,<br />

in denen er die unfruchtbare Politik der Parlamentarier für die Arbeiterbewegung<br />

bloßlegte. Das und nichts anderes ist der revolutionäre Syndikalismus,<br />

der danach strebt, die unterdrückte Klasse zu einer selbständigen und befreienden<br />

Macht zu bringen, die nicht andere regieren will, aber auch nicht regiert werden<br />

will, sondern darauf hinsteuert, eine Gesellschaft von freien Produzenten unter<br />

Freiem Austausch der Produkte zu bilden.<br />

<strong>Die</strong> Föderation der Arbeiterbörsen in Frankreich war Pelloutiers Werk.<br />

Pelloutiers Leben war kurz, aber trotzdem nicht erfolglos.<br />

Schon in der Kindheit zog Pelloutier sich ein Lungenleiden in dem Seminar zu,<br />

wo er als Knabe im Internat aufgezogen werden sollte. <strong>Die</strong>se persönlichen Angaben<br />

verdanken wir Pelloutiers Bruder, der in einem seiner Bücher uns darüber berichtet.<br />

Pelloutiers fruchtbares Leben wurde nur allzu kurz bemessen. Sein unruhiges,<br />

arbeitsreges Temperament ging bis zum letzten Atemzuge von 1892 bis 1901 im<br />

erbittertsten Klassenkampf für die revolutionäre Bewegung auf.<br />

Pelloutier hinterließ uns eine Reihe wertvoller Bücher: „Das Leben der Arbeiter<br />

in Frankreich", „<strong>Die</strong> Geschichte der Arbeiterbörsen in Frankreich" und andere.<br />

Das letztgenannte Buch sollte ganz besonders von allen Genossen, insbesondere<br />

von den Kameraden der anderen Länder, gelesen werden. Auch die Kollektion<br />

der Zeitschrift „l'Ouvrier des Deux^Mondes", eine Zeitung für die Arbeiterschaft<br />

beider Hemisphären, gegründet und geleitet von Pelloutier, enthält interessante und<br />

wertvolle Arbeiten.<br />

Pelloutier wohnte dem internationalen Kongreß in London 1896 bei, wohin ihn<br />

sein entschlossener Kampfesmut gegen den Parlamentarismus zog. Hier wurde er<br />

in seinen Ideen von Malatesta, Luise Michel, Pietro Gori, Landauer, Domela,<br />

Nieuvenhuis und anderen Genossen aus dem antiparlamentarischen Lager unterstützt.<br />

Er kam als Delegierter der französischen Genossen. Der Kongreß endete<br />

mit einem gänzlichen Mißerfolg der Parlamentarier. Trotz der Gegenwart der<br />

bekanntesten Köpfe der Sozialdemokraten, unter ihnen der gegenwärtige Präsident<br />

der französischen Republik, Millerand, erklärte sich die Majorität der französischen<br />

Sektion gegen den von den Parlamentariern gewollten Ausschluß<br />

und gegen das politische Sektierertum. Es wäre interessant, aus den damaligen<br />

Zeitschriften die inhaltslosen Behauptungen und lächerlichen Einwände der Parlamentssozialisten<br />

gegen die revolutionäre Bewegung und ihre Kampfmethoden<br />

nachzudrucken.<br />

Es ist bis zu seinem Ende das Verdienst unseres Pelloutier gewesen, die Entwicklung<br />

des Syndikalismus mit allen Kräften zu fördern. Es kann sogar gesagt<br />

werden, daß die spätere Entwicklung des Syndikalismus in Frankreich in der Rich-<br />

11


tung des Zentralismus bei der Gründung der Konföderation der Arbeit nicht erfolgt<br />

wäre, wenn der Einfluß von Pelloutier durch dessen allzu frühen Tod nicht ausgeschaltet<br />

worden wäre.<br />

Mit der Gründung der Arbeiterföderationen auf zentralistischer Basis kam<br />

die ganze Arbeiterbewegung auf eine schiefe Ebene. Immer mehr entfernte sie<br />

sich von den internationalen Grundsätzen des Syndikalismus. Schon im Jahre 1913<br />

getrauten sich die Franzosen beim Londoner Kongreß nicht zu intervenieren, aus<br />

Furcht, es mit Legien, Sassenbach und anderen fragwürdigen Genossen zu verderben.<br />

Und stillschweigend verzichteten die Franzosen im Jahre 1914 darauf,<br />

das Banner des Syndikalismus rein zu halten, obwohl die Syndikalisten vieler<br />

anderer Länder auf ihren Posten blieben. Damals wurden Pelloutiers Ideen verraten<br />

und verkauft. Es war ein bedeutungsvoller Moment, als aus dem Chor der<br />

Kriegsbewunderer die Stimme George Yvetots ertönte. Ein Mann, der bis zu<br />

Pelloutiers Tode dessen treuer Kamerad und Fortsetzer seiner Lebensarbeit<br />

gewesen war.<br />

Der Name Pelloutier ist unlösbar mit dem revolutionären, internationalen<br />

Syndikalismus verknüpft und darf daher nicht in der Sammlung fehlen, die unsere<br />

I.A.A. zusammenstellt. Der Gedanke, diesem großen Genossen eine Erinnerungstafel<br />

zu weihen, war gut. Möge sein Andenken bahnbrechend sein und bleiben.<br />

Fünfzig Jahre Klassenkampf in Italien.<br />

Von Alibrando Giovannetti.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiterbewegung in Italien hat dem Wesen nach zu jeder Zeit einen revolutionären<br />

Charakter gehabt, auch dann, wenn dieser bestimmte Charakterzug sich<br />

nicht besonders äußerte und zeigte. Sogar das gewöhnliche Hilfskassenwesen hatte<br />

ursprünglich einen revolutionär*republikanisch*sozialen Charakter.<br />

<strong>Die</strong> ersten, entschieden revolutionären, von der I. Arbeiter-<strong>Internationale</strong><br />

inspirierten Klassenorganisationen gründeten sich in Italien nach der Pariser<br />

Kommune und nannten sich Arbeiterbünde, verdankten die Anregung radikalem<br />

Führern wie Bakunin, Cafiero, Malatesta, Costa und anderen Pionieren der I. <strong>Internationale</strong>.<br />

Gegen diese Arbeiterbünde, gegen die <strong>Internationale</strong>, raste mit brutalen<br />

Mitteln die Reaktion, die durch den Renegaten Giovanni Nicotera, den Exgaribaldianer<br />

und Exrepublikaner, der das Haupt der monarchistischen Regierung<br />

geworden war, geführt wurde.<br />

Aber wenn auch die Arbeiterbünde zerstört, wenn auch tausende von Internationalisten<br />

eingekerkert, einige unter ihnen zu schweren Strafen verurteilt<br />

wurden, konnten die Ideen und Lehren jener Vorkämpfer der internationalen<br />

Arbeiterbewegung in einer wirtschaftlich rückständigen Nation, die von einer<br />

reaktionären Regierung beherrscht war, nicht erstickt werden.<br />

Später bildeten sich hauptsächlich in den Zentren, in denen die Industrie sich<br />

entwickelt hatte, wieder die Bünde, welche sich nach syndikalistischen Grundsätzen<br />

organisierten und in der Periode, da die Bewegung Aufstände hatte, bald<br />

mehr, bald geringeren Einfluß gegen die Herrschenden gewann.<br />

Durch die Anstrengungen der Marxisten kam diese proletarische Bewegung<br />

in die politisch=parIamentarische Bahn und wurde eine politische Partei. Aber in<br />

dieser waren nur die Industriezentren Oberitaliens, hauptsächlich die der Lombardei.<br />

Auch diese Arbeiterorganisationen hatten ein kurzes Leben, wurden<br />

12


ekämpft durch die reaktionäre Regierung, wie auch von einer Demokratie, welche<br />

damals zudem in Italien noch als umstürzlerisch galt. Aber die fortwährende,<br />

wenn auch langsame, wirtschaftiche Evolution des Landes, die immerwährenden<br />

Aufstände der Gewerkschaften in den großen Zentren, die fortschreitende Entwicklung<br />

der Verkehrsmöglichkeiten begünstigten die syndikalistische Bewegung.<br />

Immer wieder wollte man dieser Bewegung einen mehr politischen Charakter geben,<br />

einen Charakter, in dem Uneinigkeit und Spaltung unvermeidlich waren.<br />

<strong>Die</strong> „Italienische Arbeiterpartei", die im Jahre 1891 gegründet wurde, war fast<br />

ganz aus beruflichen Organisationen und einigen politischen Zirkeln zusammengesetzt.<br />

Beim Kongreß von Genua im Jahre 1892, auf den man der Partei einen<br />

definitiven Charakter, ein Programm, eine bestimmte Richtung geben wollte, kam<br />

die erste Spaltung im proletarischen Lager zum Ausdruck mit der Entfernung<br />

der Liberalen einerseits und der Republikaner andererseits. Es blieben zurück<br />

Bauern und Sozialisten, welche diese Arbeiterbewegung zu einer legalen, parlamentarisch-soziaIistischen<br />

Partei umgestalteten.<br />

Es gelang ihnen jedoch nicht, die revolutionäre Arbeiterbewegung zu unterdrücken<br />

und sie ganz und gar ins Bett der Gesetzlichkeit zu führen. Hunderte von<br />

Arbeiterbünden aus Sizilien und Mittelitalien, die zu dieser Arbeiterpartei stießen,<br />

trugen ihr gerade den unversöhnlichen und rebellischen Geist jener Volksmassen<br />

zu. Dort in der vulkanischen Erde des Aetna trugen jene Bauern und Schwefelgrubenarbeiter<br />

in die Bünde den mächtigen Hebel, um die Privilegien der<br />

„Cappedi" (der Herren) durch Enteignung der Landjunker zu stürzen. Das<br />

war eine revolutionäre Bewegung, welche von wahrer Begeisterung der<br />

Arbeiter getragen war und von einem- Ende Italiens bis zum andern<br />

zündete. Der Bund verkörperte damals die zielbewußte proletarische<br />

Revolution. <strong>Die</strong> Bewegung der Sizilianer und der freien Luigianer (Marmorbrucharbeiter)<br />

erregte Schrecken und Bestürzung bei den herrschenden Klassen,<br />

welche nun die Macht einem weiteren Renegaten, dem Exgaribaldianer und Exrepublikaner<br />

Francesco Crispi übergaben, der im Jahre 1894 über Sizilien und die<br />

Provinz Luigiana den Belagerungszustand verhängte, die Führer der Arbeiterbünde<br />

vor die Kriegsgerichte brachte, die sie zu vielen Jahrzehnten Züchthaus verurteilten.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiterpartei, welche sich bereits in eine sozialistische Partei verwandelt<br />

hatte, wurde aufgelöst und dadurch alle Arbeitskammern und die bereits<br />

bestehenden italienischen syndikalistischen Organisationen, die republikanischen,<br />

anarchistischen und anderen Zirkel aufgehoben. Eine Unzahl Genossen kamen<br />

auf Inseln ins Zwangsquartier, das für die Infamie der Deportation geschaffen war.<br />

So wurde auch diese periodische Arbeiterbewegung erstickt und (nach der<br />

Einbildung eines Renegaten) vollends erdrosselt. Einige spontane Erhebungen ausgenommen,<br />

dauerte dieser Zustand mehrere Jahre. Inzwischen wurde das Proletariat<br />

zahlreicher und kampfbereiter und fing langsam wieder an, seine organisatorischen<br />

Fäden zu knüpfen.<br />

Da geschah es, daß sich die gewerkschaftlichen Organisationen von den<br />

politischen trennten, um sich vor den Schikanen, der Reaktion zu schützen. <strong>Die</strong><br />

Arbeiterbewegung wurde zum ersten Male unpolitisch, parteilos. So wurde es<br />

möglich, auf syndikalistischer Basis die Einigkeit der proletarischen Kräfte in den<br />

Arbeitskammern und in den Föderationen herzustellen. <strong>Die</strong>se letzteren aber<br />

zeigten wenig innere Geschlossenheit wegen dem nur lokalistischen Charakter der<br />

Arbeiterbewegung, jener Bedingungen, die auch der damaligen Industrie noch<br />

eigen waren.<br />

<strong>Die</strong> Aufstände der proletarischen Massen gegen den Kolonialkrieg stürzten die<br />

Regierung Crispi. <strong>Die</strong> Tore der Gefängnisse öffneten sich, man atmete in vollen<br />

Zügen den Geist der Freiheit. Im Jahre 1898 aber setzte erneut die Bewegung der<br />

hungernden Arbeiter gegen die Klasse der Besitzenden ein und diese rächte sich<br />

13


durch eine neue Reaktion, in deren Verlauf Kanonen gegen die Massen in den<br />

Straßen der Städte aufgefahren wurden, die die Proletarier in Massen niederstreckten.<br />

Der Belagerungszustand wurde wieder erklärt, den Kriegsgerichten<br />

wurden wieder die Hauptführer der Aufstände ausgeliefert, die Gefängnisse füllten<br />

sich wieder und verschlangen Männer aller Parteien und Richtungen, einschließlich<br />

Demokraten und Katholiken mit ihrem Führer Don Albertario.<br />

Das war ein neuer Kreuzesweg. Man kann die Opfer, die auf diesem Kalvarienberg<br />

Italiens in jedem Ort, in jeder Stünde fielen, nicht zählen, aber damit kam das<br />

Ende der Regierung Königs Humbert I. herbei. <strong>Die</strong> bewaffnete Hand des Webers<br />

von Prato zeichnete das Ende. <strong>Die</strong> Morgenröte der neuen Zeit schien im heitern<br />

und freundlichen Lichte zu strahlen. <strong>Die</strong> reaktionäre Mentalität der alten Regierung<br />

wollte sich aber nicht den neuen Notwendigkeiten des sozialen, modernen Lebens<br />

unterwerfen. Sie konnte die Umwälzung und den starken Einfluß der proletarischen<br />

syndikalistischen Arbeiterschaft nicht ertragen. Deshalb verfügte die<br />

Regierung von Saracco die Auflösung der Arbeitskammer von Genua, dem ersten<br />

Hafen Italiens, dem Herzen der Nation. Es ist leicht zu verstehen, daß das der<br />

Beginn einer neuen reaktionären Periode in der jungen Regierung wurde. Wenn<br />

jenem ersten Versuch nicht eine Empörung gefolgt wäre, wären andere Schritte<br />

gefolgt und dann wäre die Zerstörung der Gewerkschaftsbewegung in kurzer Zeit<br />

besiegelt gewesen.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiter von Genua erhoben sich wie ein Mann gegen das Dekret der<br />

Aufhebung der Arbeitskammer und erklärten den Generalstreik. Das Herz des<br />

italienischen Geschäftslebens schlug nicht mehr. Durch die Adern der Nation<br />

rollte nicht mehr das lebenspendende Blut der Staperwaren im Hafen von Genua.<br />

Der Kampf, den die Arbeiter von Genua mit zäher Energie ausfochten, bedeutete<br />

für die Parteisozialisten eine Niederlage, weshalb sie die Arbeiter zu bremsen<br />

versuchten, weil sie eine noch größere Reaktion von Seiten der Regierung befürchteten.<br />

Aber die freiheitlichen revolutionären Elemente hatten das Uebergewicht.<br />

Der erste klassenbewußte Generalstreik zugunsten der revolutionären Gewerkschaffen<br />

hatte einen glänzenden Erfolg und zwang die Regierung, das Dekret<br />

zurückzuziehen.<br />

Das Jahr 1900 war der Beginn einer neuen proletarischen Aera in Italien. Nicht<br />

etwa, daß der alte Kreuzesweg nun von Rosenhecken besäumt war, nein, immer<br />

noch schössen Dornenhecken empor und versuchten das neue Leben zu ersticken.<br />

<strong>Die</strong> Kugeln, die die bewaffnete Macht der Regierung auf die Arbeiter schleuderte,<br />

welche Brot und Arbeit forderten, die Schüsse, die in die Versammlungen der<br />

Erwerbslosen fielen, wurden zur täglichen Gewohnheit. Durch das vergossene<br />

Blut der Arbeiter sollte die Ruhe des Bürgertums erhalten werden.<br />

<strong>Die</strong>se Politik, mit Hilfe von Kugeln und Geschützen die Arbeiter zu unterdrücken,<br />

brachte die italienischen Arbeiter schier zur Verzweiflung. Immer wieder<br />

schwere Konflikte zwischen den Proletariern und der öffentlichen Gewalt. Nicht<br />

nur bei den Arbeitern machte sich diese verhaßt, sondern fast bei der gesamten<br />

Bevölkerung.<br />

<strong>Die</strong>se Sturm- und Drangperiode gebar den unvergeßlichen Generalstreik des<br />

italienischen Proletariats im September 1904, der das wirtschaftliche und gesellschaftliche<br />

Leben des Landes vollständig unterband.<br />

<strong>Die</strong>se grandiose Bewegung beschleunigte den Aufstieg des Proletariats. <strong>Die</strong><br />

gewerkschaftlichen Fäden verstärkten, verdoppelten sich. <strong>Die</strong> einige, proletarische<br />

Organisation, welche alle Kräfte des Landes in sich barg, „Das nationale Sekretariat<br />

des Widerstandes" mit revolutionärer Einstellung, faßte alle Kampfesenergien des<br />

Proletariats zusammen und betrat zuversichtlich die Siegesbahn.<br />

Gegen die unrechtmäßige Besitznahm- der großen Ländereien, die Jahrhunderte<br />

hindurch durch den Adel geschah, empörten sich die Bauernorganisationen, welche<br />

14


ihr ursprüngliches Recht zurückforderten. Durch die direkte Aktion der Bauern<br />

kam ein Ausgleich zustande, der die Besitznahme des Grund und Bodens mit Hilfe<br />

der Landwirtschaftsschule, die die Bauern vertrauensvoll gewählt hatten, gewährleistete.<br />

<strong>Die</strong> Gerichte und der Staat unterließen Interventionen, um die Rechtmäßigkeit<br />

der früheren Besitzer anzuerkennen. Das Jahrzehnt von 1891 bis 1901<br />

ist reich an Episoden, wo die Feldarbeiter zur direkten Aktion griffen.<br />

In den weiten Ebenen von Padua, wo der revolutionäre Syndikalismus zuerst<br />

Wurzel gefaßt hatte, entflammten bald hier bald dort Streiks der hungernden<br />

Arbeiter der Salzbergwerke, welche erhöhtes Recht zum Leben forderten, das ihnen<br />

bis jetzt verweigert worden war. <strong>Die</strong>se Streiks, unter Beteiligung von zehn,<br />

hundert oder auch tausend Arbeitern hatten alle revolutionären Charakter mit den<br />

gewaltsamsten Mitteln. <strong>Die</strong> Agrarier, diese reaktionärsten unter den Kapitalisten,<br />

kämpften aber auch nicht gegen die Arbeiter mit milden Mitteln. Sie setzten die<br />

bewaffnete Macht des Staates ein, so daß jeder Streik eine Reihe der schwersten<br />

Konflikte zur Folge hatte. Und nicht selten raste Kavallerie über die Körper der<br />

Arbeiter, der Frauen, der Kinder, die die Straßen bevölkerten und sich beim<br />

Herannahen der Kavallerie bäuchlings aufs Pflaster warfen. Das brüderliche<br />

Empfinden der Soldaten — sie waren ja Fleisch vom Fleische des Proletariats und<br />

Blut von demselben Blute — verhinderte oft das fürchterliche Blutbad, das die<br />

zynischen Agrarier sicher vorgezogen hätten, um nur ja nicht den gerechten Forder<br />

rungen der Landarbeiter nachgeben zu müssen.<br />

<strong>Die</strong> Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit waren in Italien fast durchweg auf<br />

den Klassenkampf eingestellt. <strong>Die</strong> Arbeiter wollten eben nicht nur momentane<br />

wirtschaftliche Besserung ihrer Lage erwirken — nein, in der Hauptsache atmeten<br />

die Streiks den Geist der Solidarität für die ganze Arbeiterschaft, für alle Landarbeiter<br />

und Industriearbeiter. Und diese Streiks hatten einen großen moralischen<br />

Erfolg wegen ihres durch und durch revolutionären Charakters. <strong>Die</strong> Streiks in<br />

Argenta, Terni, Piombino, in der Provinz Ferrara und Parma. Carrara und Puglien<br />

kämpfen alle für die Eroberung des Brotes, für die Herabsetzung der Arbeitszeit,<br />

für die Abschaffung der Jahrhunderte alten Privilegien der Arbeitgeber, für die Einführung<br />

neuer proletarischer Rechte. All diese Kämpfe sind mit hundert und aber<br />

hundert bald aufregenden, bald tragischen Episoden, verbunden und leben in der Geschichte<br />

fort. Das Unterbringen von Kindern, von tausenden von Kindern der Streikenden<br />

wurde systematisch durchgeführt. Sie wurden in andere Städte, und oft in entfernte<br />

Provinzen geschickt, wo sie von den proletarischen Familien festlich empfangen,<br />

gekleidet und ernährt wurden, bis die Eltern siegreich aus dem Kampfe mit<br />

dem Unternehmertum hervorgingen und ihre Kinder wieder zurücknehmen konnten.<br />

Tausende von beherzten Männern stellten sich längs der Eisenbahnstrecke auf mit<br />

dem tollkühnen Unterfangen, die Gleise zu sprengen, um die Eisenbahnzüge, die<br />

die Judasse des Proletariats mit sich führten, aufzuhalten. Eine kommunistische<br />

Garküche ermöglichte den Widerstand von Tausenden streikenden Familien. <strong>Die</strong><br />

Barrikaden, welche die Sreikenden gegen die bewaffnete Staatsmacht erbaut hatten,<br />

wurden mit heroischer Hartnäckigkeit verteidigt.<br />

So sahen die Kämpfe in Ialien aus zwischen Arbeit und Kapital in den<br />

Jahren 1901 bis 1910. Sie wurden jäh unterbrochen beim Ausbruch des unseligen<br />

europäischen Krieges.<br />

Jene Kämpfe in Italien waren mehr als Klassenkämpfe, es war ein Klassenkrieg.<br />

Nicht nur ein blutiges kleines Scharmützel, sondern ein Kampf, der alle Zeichen der<br />

Empörung und des permanenten Generalstreiks im ganzen Lande in sich trug.<br />

Der letzte Generalstreik vor dem Kriege war der im Juli 1914, der den Namen<br />

der „roten Woche" erhielt. Am Sonntag, den 7. Juli, veranstalteten die Arbeiter<br />

große Protestversammlungen in ganz Italien gegen die Schandtaten des Militaris-<br />

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mus. In Ancona tötete die Polizei zwei Demonstranten, die friedlich von der Ver-<br />

Sammlung nach Hause zurückkehrten. Das italienische Proletariat, innerlich<br />

empört durch diese abscheuliche Tat der Polizei, antwortete durch sofortige Niederlegung<br />

der Arbeit. Der Generalstreik nahm sehr schnell alle Merkmale der Revolution<br />

an. In verschiedenen Provinzen waren die Proletarier Herren der Lage, in<br />

anderen auf dem Wege, die Herrschaft zu erlangen. Schon bereiteten sie sich vor,<br />

die Beförderungsmittel und die Lagerräume in Besitz zu nehmen und versuchten<br />

alles, was der wachsenden proletarischen Bewegung nur nützlich sein konnte. Auch<br />

die Eisenbahner traten zahlreich der Bewegung bei. Wenn die reformistische<br />

„Arbeiterföderation", welche im Jahre 1906 sich aus einer bedauerlichen gewerkschaftlichen<br />

Spaltung gebildet hatte, die Bewegung nicht sabotiert hätte, hätte sie<br />

sich halten können und zu einem großen Sieg verhelfen, was durch den Mangel an<br />

Solidarität von seilen jener Föderation vereitelt wurde. Das war nun das letzte<br />

revolutionäre Blatt, das von der Arbeiterklasse Italiens vor dem Kriege aufgezeichnet<br />

werden konnte. Es ist ein glänzendes Blatt, nur beschmutzt durch den abscheulichen<br />

Verrat der Politiker, welche die traurige, perfide Aufgabe zu haben<br />

scheinen, die rassereinen Kämpfe des Proletariats zu unterbinden.<br />

Der Eintritt Italiens in den Weltkrieg hätte nie erfolgen können, wenn<br />

der Geist des Antimilitarismus in den Arbeitermassen nicht durch die<br />

reformistischen Gewerkschaften und die Parteipolitiker, die sich jeder antimilitaristischen<br />

Aktion widersetzten, lahmgelegt worden wäre. <strong>Die</strong> Partei-<br />

Führer arbeiteten nach dem bequemen Wahlspruch: „Weder für noch gegen<br />

den Krieg!" <strong>Die</strong> syndikalistische Union bildete seit dem Oktober 1914 eine antikriegerische,<br />

einzige Front und intervenierte, wo und wie sie konnte für das Ende<br />

des Krieges. <strong>Die</strong> öffentliche Meinung aber wurde betrunken gemacht mit künstlich<br />

glänzenden, zensurierten und nationalistisch verlogenen Kriegs- und Siegesnachrichten.<br />

Trotzalledem konnte man vor Ausbruch und während des Krieges große<br />

Demonstrationen und Generalstreiks in verschiedenen Arbeiterzentren, wie in<br />

Turin; Sestri Ponente, Modena und anderen Orten registrieren. Kämpfe, die sicher<br />

verschärft und des nationalen Charakters entkleidet worden wären, wenn die<br />

Sozialdemokraten sich nicht bemüht hätten, sie systematisch zu hintertreiben und<br />

zu verflachen.<br />

<strong>Die</strong> proletarischen Kämpfe nach dem Kriege sind eine unendliche Reihe von<br />

erbitterten Kämpfen zwischen Proletariat und Bürgertum. Großzügige Generals<br />

Streiks in der Landwirtschaft und Industrie brachen aus in ganzen Provinzen und<br />

Bezirken. Generalstreiks in der Industrie unter Beteiligung der Massen. Agitationen<br />

und lokale Kämpfe gegen die Teuerung, während denen es möglich gewesen wäre, die<br />

Herrschaft über die Güter zu erlangen, wie es übrigens verschiedentlich auch der Fall<br />

gewesen ist, wenn nicht immer wieder der Widerstand der Sozialreformisten und<br />

Sozialdemokraten alles hintertrieben hätte. Der Generalstreik der Eisenbahner gelang<br />

glänzend. Der bewaffnete Aufstand der Soldaten und des Volkes in Ancona gegen<br />

den albanischen Krieg war siegreich. <strong>Die</strong> Regierung mußte sofort nachgeben, um die<br />

Bewegung in anderen Gegenden aufzuhalten. Dann erfolgte die Besetzung von Grund<br />

und Boden und die der Fabriken. Letztere wäre der Epilog der revolutionären<br />

Expropiation gewesen, wenn die sozialdemokratischen Führer nicht unter sträflicher<br />

Mithilfe der Parteikommunisten diese herrliche Bewegung erstickt hätten.<br />

Sie kamen der Regierung und dem Bürgertum, zu Hilfe und erklärten unfähig zu<br />

sein, den weiteren Fortgang der Bewegung aufzuhalten. Sie zogen die eigene<br />

Niederlage vor, als dem Proletariat zum Siege zu verhelfen.<br />

Es wäre ein wirklicher und wahrer Klassenkampf gewesen. In den Straßen,<br />

auf den Plätzen, in den Werkstätten, auf dem Felde wären die Kämpfe leicht und<br />

16


siegreich gewesen. So aber fielen die Arbeiter und ihre Führer von den Kugeln der<br />

Geschütze der bewaffneten Macht, wie zum Beispiel in Persicato, oder unter den<br />

Kugeln der Flinten der Agrarier, wie in Piacentino.<br />

Aber nach den Jahren der Kämpfe für den proletarischen Sieg folgten jene<br />

traurigen, schmerzvollen Jahre der Offensive der Herrschenden, der fürchterlichsten<br />

Reaktion, dessen sich das Proletariat entsinnen kann, folgten die Jahre der<br />

Gefangenschaft, zu der so viele verurteilt wurden. — Das ist die Geschichte von<br />

gestern und von heute. Eine Geschichte, deren Einzelheiten wir alle kennen und<br />

die wir wohl nicht zu wiederholen brauchen.<br />

Alles in allem müssen wir zugeben, daß das italienische Proletariat in seiner<br />

Gesamtheit es nicht verstanden hat, die unvorhergesehene Reaktion aufzuhalten,<br />

die aber zum Sterben schwach gewesen wäre, wenn die Umsturzkräfte fessellos sich<br />

hätten ausdehnen können. Und dennoch! <strong>Die</strong>ses Proletariat hat gekämpft, hat<br />

Stück für Stück seine Stellung verteidigt mit allen Mitteln und zäher Widerstandskraft.<br />

Es ist hier nicht der Platz, alle jene tragischen Episoden aufzuzählen, in<br />

denen der Heldenmut der Arbeiter hervortrat. Von Puglien bis Piacentino, von<br />

Carraresi bis Sestri Ponente, von Valdorna bis Parma usw. gibt es unendliche<br />

Serien von heißen Kämpfen, in denen Tausende aus beiden Lagern fielen. <strong>Die</strong><br />

Macht ist zurzeit auf Seiten der Reaktion, welche für sich die feige Bourgeoisie hat,<br />

sowie auch zum Teil die enttäuschten Massen, welche eigenen Grund und Boden<br />

erwarteten. <strong>Die</strong> bewaffnete Macht des Staates hat gesiegt, ist stockreaktionär<br />

geworden. Das Proletariat ist geistig niedergedrückt, obwohl es sich den Sozialdemokraten<br />

nicht unterwerfen will und kann. Durch ausgedehnte Arbeitslosigkeit<br />

geknebelt, gemartert, befindet es sich gegenwärtig in einer Lage, in der es unmöglich<br />

ist, sich zu verteidigen.<br />

Es sind Jahre des Martyriums, die das italienische Proletariat nun erleidet.<br />

Und doch ist die rebellische Seele der Massen nicht erloschen, welche eine bessere,<br />

nicht allzu ferne Zukunft erwarten, trotz der Erbitterung über die Gewalttaten<br />

einer brutalen Reaktion. Fünfzig Jahre der Kämpfe der Arbeiterbünde der I. <strong>Internationale</strong>.<br />

Und heute ein vorübergehender Triumph des imperialistischen Fascismus.<br />

Ein halbes Jahrhundert der proletarischen Geschichte, eine Reihe mit Blut geschriebener<br />

Ereignisse, Versuche von Aufständen, von Kämpfen für die Verbesserung der<br />

wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Lage der Klassen. Kämpfe zur Besiegung<br />

des Hungers und der Reaktion, Kämpfe für die Eroberung der Erde, für die revolutionäre<br />

Expropiation.<br />

Geräuschvolle Siege und ruhmvolle Niederlagen! Schändlicher Verrat und<br />

herrliche Heldentaten. Schwachheiten erbärmlicher Führer und unverrückbarer<br />

Widerstand der Massen! Skepsis auf der einen, und begeisterter Glaube auf der<br />

anderen Seite an den endlichen Sieg der proletarischen Sache. Das ist das Resultat<br />

einer fünfzigjährigen Geschichte der revolutionären Arbeiterschaft in Italien.<br />

17


<strong>Die</strong> Lage in Spanien.<br />

Von E. Curbo.<br />

Von Land zu Land wird von der inner- und außerpolitischen Lage in Spanien<br />

gesprochen. Nur im eigenen Lande wird Stillschweigen geübt Und zwar, weil<br />

diejenigen Zeitungen, die die nackte Wahrheit sagen könnten, im Betätigungsfall<br />

mindestens gemaßregelt, wenn nicht gar dauernd unterdrückt würden. Im Ausland<br />

verkennt man deshalb die inneren Ursachen der gegenwärtigen Lage fast<br />

durchweg. <strong>Die</strong> letzten Ereignisse, der Ueberfall auf die organisierte Arbeiterschaft<br />

mit Hilfe des Militärs, sind die Folgen einer langen Periode wüstester<br />

Hetzen seitens der Reaktionäre aller Schattierungen.<br />

<strong>Die</strong>se Vorgänge müssen untersucht werden, auch wenn die Resultate dieser<br />

Untersuchungen dem Nichtspanier ungenügend erscheinen mögen. Würden diese<br />

Darlegungen versäumt, wäre gewiß mancher versucht, in der gegenwärtigen Lage<br />

ein Tohuwabohu zu sehen, aus dem sich die schrecklichsten Bilder gestalten.<br />

<strong>Die</strong> reaktionären Mächte Spaniens können sich heute noch auf die organisierte<br />

Gewalt stützen. Sie ahnen zwar, daß von Tag zu Tag die Grundfesten ihres<br />

Systems mehr und mehr unterhöhlt werden, erhoffen aber immer noch die Rettung<br />

des todwunden Kapitalismus durch die Machtmittel des Staates.<br />

Um Mißverständnisse zu vermeiden, werden wir unsere Darlegungen in gemeinverständliche<br />

Form kleiden und uns streng an die Wahrheit halten. Jener Ueberfall<br />

durch die militärische Macht zwingt uns zu einem Rückblick in die Vergangenheit<br />

dieses Landes. Mit der Zuverlässigkeit des Nachrichtendienstes im<br />

spanischen Zeitungswesen war es von jeher schlecht bestellt. <strong>Die</strong>se offenkundige<br />

Tatsache veranlaßt uns, den Einflüssen, denen das wirtschaftliche Leben in Spanien<br />

während des Weltkrieges unterworfen war, kritisch nachzugehen und dann festzustellen,<br />

wie sich die Ausbreitung der Arbeiterorganisationen gestaltete und<br />

welche Tätigkeit sie während des europäischen Weltkrieges im Interesse des<br />

revolutionären Proletariats entwickelten.<br />

Spaniens Volk und Erde siecht seit Jahrhunderten im tiefsten Elend dahin.<br />

Obwohl seine Intelligenz und sein Bodenreichtum es zum glücklichsten Land der<br />

Welt machen könnten. <strong>Die</strong> vorzügliche Beschaffenheit seines Bodens, die in verschiedenen<br />

Gegenden, wie in der Levante und in Andalusien, jährlich vier Ernten<br />

ermöglicht, bringt unzählige Arten von Saat» und Baumfrüchten wie Pflanzen zum<br />

Reifen.<br />

<strong>Die</strong> gesamte Landwirtschaft könnte hier bei rationeller Arbeit in kürzester Zeit<br />

aufblühen, ein Vorzug, der nicht vielen Ländern sonst beschieden ist. Und<br />

doch gibt es unbebaute Länderstriche, die ganze Provinzen umspannen. Es gibt<br />

Zonen, die, mangels künstlicher Bewässerung, infolge anhaltender Trockenheit<br />

wüst und unfruchtbar geworden sind. Der größte Teil von Uragin z. B. geht<br />

infolge jener Trockenheit fast zu Grunde. Trotzdem auch hier die Möglichkeit<br />

gegeben ist, diese Provinz fruchtbar zu gestalten. Mit weit weniger Aufwand<br />

an Kraft und Kosten, als sie das unpopuläre, unsinnige, blutige Abenteuer von<br />

Mannecos in drei Monaten benötigte. Ungemessene Wassermengen aus dem Ebro<br />

18


könnten Kanalisationen versorgen, ohne die Wasserkräfte im Bett des Ebro irgendwie<br />

zu beeinträchtigen. Dadurch würden sich jene wüsten Landstriche in blühende,<br />

lachende, prächtige und fruchtbare Gefilde verwandeln.<br />

Aber man will ja keine Bodenkultur fördern, man denkt gar nicht daran,<br />

man überläßt das vernachlässigte, verkümmerte Land trägen Grundbesitzern und<br />

Kapitalisten unter dem Schutze unfähigster Regierungsmänner.<br />

Alles in allem: Spanien könnte das ertragreichste, blühendste Land sein,<br />

dessen überreiche Ernten weit über die Lebensbedürfnisse seiner eigenen Bevölkerung<br />

hinausreichten. Wein, Oel, Futtermittel, Gemüse, Getreide, Holz, Kupferund<br />

Eisenerze und viele andere Erzeugnisse harren der rationellen Förderung.<br />

Aber man lebt lieber im Schlendrian knechtseligster Abhängigkeit unter dem<br />

Kapitalismus anderer Länder, als das schöne Spanien durch die fleißigen Hirne<br />

und Hände seiner organisierten Arbeitermassen zum fruchtbarsten Gemeinwesen<br />

im Kranz der Völker Europas werden zu lassen.<br />

<strong>Die</strong> Opfer dieser fluchwürdigen Zustände sind die spanischen Arbeiter!<br />

.lener natürliche Reichtum Spaniens wird noch vermehrt durch die fabelhaften<br />

Güter an Schiefer, Silber, Marmor, Blei, Quecksilber, die sich durch das<br />

Geäder der spanischen Erde ziehen.<br />

Ganze Provinzen, wie Cordoba, Huelva und andere, welche von einem Ende<br />

zum anderen und in einer Tiefe von hundert und aber hundert Metern einen<br />

einzigen Riesenblock köstlichster Schätze darstellen. Aber kaum fünf Prozent<br />

dieser unendlichen Reichtümer werden der .Menschheit nutzbar gemacht. Außerdem<br />

sichern die geschwungenen Linien der Flüsse eine gewaltige Staukraft zur<br />

Gewinnung elektrischer Energien.<br />

Alle Elemente vereinigen sich, um dem Lande einen ungeahnten, industriellen<br />

Aufstieg zu bereiten. Trotzdem ist es ein Land mit kläglichster Industrie. Seine<br />

mechanischen Produktionsmittel sind noch im primitivsten Anfangsstadium. Sie<br />

sind ein Hohn, im Vergleich zu der wachsenden Vollkommenheit im Arbeitsprozeß<br />

anderer Länder.<br />

Im Verkehrswesen liegen die Verhältnisse noch schlimmer: Auf einer Erdoberfläche<br />

von mehr als einer halben Million Quadratkilometern besitzt das Land<br />

ein Eisenbahnnetz von kaum 1500 Kilometern.<br />

Statt diesen Kreislauf der Verkehrsadern auszubauen, verüben die herrschenden<br />

Mächte Greuel über Greuel, um den unglücklichen Randbewohnern Afrikas mit<br />

ihrer durch und durch kapitalistisch verseuchten „Zivilisation" der Ausbeutung zu<br />

beglücken. Mit jener Unwissenheit und unglaublichen Rückständigkeit, die zugleich<br />

ihre Dummheit beweist, verkaufen unsere Kapitalisten zum Beispiel das Kupfer<br />

ihrer Bergwerke, das sie, verarbeitet, wieder von anderen Ländern kaufen müssen.<br />

Sic verkaufen die Eisenlager der Eisenerze dem Ausland und müssen es von<br />

dessen Walzwerken, verarbeitet, zur Herstellung von Werkzeugen und Maschinen<br />

für die Industrie wieder zurückkaufen. Nicht für Maschinen und Geräte für den<br />

Ackerbau, denn auf diesem Gebiete behilft man sich in Spanien noch mit den<br />

primitivsten Werkzeugen, wie zur Zeit der alten Römer.<br />

<strong>Die</strong>ses Bürgertum — einer seiner Repräsentanten führte einmal große<br />

Wehklage darüber, daß Spanien keine „Stahlbergwerke" (!!?) hat — dieses Bürgertum<br />

leidet bitteren Geldhunger, obwohl ihm die Mittel zur Stillung seiner geldgierigen<br />

Gefräßigkeit vor der Nase und unter den eigenen Schuhen liegen. Durch<br />

ewiges Brüten ihrer absoluten Herrschaftsgelüste blödsinnig geworden, ist sein<br />

ganzes Sehnen, Streben und Hoffen auf die Rückkehr des aristokratischen Feudalismus<br />

eingestellt. <strong>Die</strong> Niederwerfung der arbeitenden Menschen unter die Hetzpeitsche<br />

längst überwundener Zeiten ist sein einziges Ideal, dieses bescheidene<br />

Bürgertum, das in gottesfürchtiger Zufriedenheit gern wieder die ganze Last der<br />

19


Arbeit auf die Schultern seiner Sklaven legen möchte, um der ewig garantierten<br />

Privilegien seiner Drohnenklasse sicher zu sein. Aber, Gott sei's geklagt, die.<br />

Arbeitermassen wachsen und mit ihnen die Widerstandskräfte, aus denen die<br />

Fronten der Klassenkämpfe geboren werden.<br />

Unter solchen Zuständen, die wir hier nur flüchtig wiedergegeben haben,<br />

befand sich Industrie und Arbeiterschaft Spaniens, als der große Krieg ausbrach.<br />

In seinem Verlauf wurde Spanien, das bisher anderen Ländern volkswirtschaftlich<br />

tributpflichtig geworden war, fast im Handumdrehen in ein „Exportland" verwandelt.<br />

Mit diesem radikalen Umschwung im spanischen Produktionsleben setzte<br />

gleichzeitig eine hurtige Regsamkeit der Industrie ein. <strong>Die</strong> für gewöhnlich so<br />

geringschätzig bewerteten Arme der spanischen Arbeiterschaft wurden plötzlich<br />

heiß begehrt und umworben. Unternehmertum geriet, ob des wirkenden Gewinnrausches<br />

aus der Beteiligung an der Kriegsindustrie, in einen wahren Feuereifer.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiterklasse ihrerseits trat selbstverständlich gleichzeitig mit erhöhten Lohnforderungen<br />

und anderen Bedingungen auf den Plan. Bald löste ein mehr oder<br />

minder umfangreicher Kampf den anderen ab, wobei die Erfolge durchweg der<br />

Arbeiterschaft zufielen. Sowohl bei den Vorbereitungen wie in den Kämpfen<br />

selbst entwickelten Syndikalisten und Anarchisten eine bis dahin in Spanien noch<br />

nie erlebte Aktivität. Besonders in der Hochburg der spanischen Arbeiterbewegung,<br />

in Catalonien, schlug die syndikalistische Agitation hohe Wogen.<br />

Während einer einzigen Nacht fanden im kampfdurchzitterten Barcelona vierzig<br />

Propagandaversammlungen statt, die alle außergewöhnlich besucht waren. <strong>Die</strong><br />

Organisationen wuchsen ununterbrochen und mehrten sich in kurzer Zeit zu<br />

ungeahnter Zahl. Fast jeder Tag brachte eindrucksvolle revolutionäre Manifestationen.<br />

Mehr und mehr gewannen die Massen Klarheit über die Fülle ihrer Machtmittel.<br />

Ihr Angriffsmut wuchs. Redner, die täglich von vielen Tribünen zu ihnen<br />

sprachen, beschränkten sich nicht auf lohnpolitische Argumente, sondern<br />

steuerten mit erfreulicher Frische und Offenheit auf die Eroberung der ganzen<br />

wirtschaftlichen Macht des Proletariats los. <strong>Die</strong>se täglichen Propagandareden<br />

erzeugten in kaum zwei Jahren eine Stimmung, aus der man die Sturmvögel der<br />

nahenden Revolution schmettern zu hören glaubte.<br />

<strong>Die</strong> revolutionären Organisationen erkannten die Gunst der Stunde und<br />

suchten sie nach Kräften zu nützen. Sie vereinigten sich — diese Taktik schien<br />

notwendig — mit den Reformisten, die sich in jenen Tagen, aus Gründen, die<br />

wir hier nicht darlegen können, geneigt zeigten, mit der revolutionären Bewegung<br />

Hand in Hand zu gehen.<br />

Dann kam der Machteroberungsversuch von 1917, welcher fehlschlug,.dank der<br />

unerhörten Feigheit bestimmter Elemente. Als jener Vorstoß niedergeworfen wurde,<br />

begannen racheschnaubende Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Arbeiterorganisationen<br />

und deren Mitglieder. <strong>Die</strong>se Unterdrückung artete zu einem förmlichen<br />

Kreuzzug gegen den revolutionären Geist aus, der die Massen ergriffen hatte. Das<br />

war der Anfang einer planmäßig vorbereiteten Offensive, deren letzte Etappe der<br />

Staatsstreich vom 13. September 1923 bildete. Unter Aufgebot der skrupellosesten<br />

Mittel glaubte man die restlose Vernichtung der Arbeiterorganisationen erreichen<br />

zu können. <strong>Die</strong> unmittelbare Folge dieses wahnwitzigen Unterfangens war die<br />

Bildung der Geheimbünde, die sich schnell über das ganze Land verbreiteten.<br />

Außerhalb des bürgerlichen Rechts gestellt, flackerten aus den Arbeitermassen<br />

in rascher Aufeinanderfolge bald jene individuellen Vergeltungsakte auf, als untrüglicher<br />

Beweis, daß die unterirdischen Widerstände für die herrschende Macht<br />

weit gefährlicher wurden, wie die im Lichte der Oeffentlichkeit sich abspielenden<br />

Klassenkämpfe der organisierten Massen. <strong>Die</strong> kopflosen Maßnahmen der Regie-<br />

20


ungsmänner, ihre plumpe Gewaltpolitik und grausamen Verfolgungsmethoden<br />

zeitigten lediglich kacheempfindungen und Racheakte, die bis dahin nur ganz<br />

selten und vereinzelt in Erscheinung getreten waren. <strong>Die</strong> Folgen dieses Aufeinanderprallens,<br />

das monatelang die Bevölkerung in Atem hielt, waren voraus;<br />

zusehen: Der Druck von oben verdoppelte den Gegendruck von unten. Hatten<br />

die revolutionären Ideen zur Zeit gesetzlicher Gleichberechtigung im Volke nur<br />

langsam Eingang gefunden, so reiften diese Ideen unter dem Drucke brutaler<br />

Gewalt bald in den Köpfen der Massen zu heiligen Glaubenssätzen und wurden<br />

Gemeingut aller produktiv tätigen Menschen. In der Zeit seit jenem revolutionären<br />

Vorstoß im Jahre 1917 bjs September 1923 stand Spanien unter der diktatorisch<br />

herrschenden Macht des Militarismus.<br />

Im Kreislauf eines relativ ruhig verflossenen Jahres haben die revolutionären<br />

Organisationen unter gesetzlichen Verhältnissen ihre Reihen wieder vervollständigt.<br />

Es setzten wieder die kleinen Kämpfe ein, die Konflikte im kleinen Format und<br />

unter den Augen des bürgerlichen Rechts.<br />

Das bornierte Bürgertum, blind, wie es immer war, ist und bleibt, sieht und<br />

hört nicht, daß Klassenbewußtsein und Menschenwürde der Arbeitermassen schon<br />

wieder ihre Vorbereitungen für neue Vorstöße treffen, deren Wucht stärker ausfallen<br />

dürfte, wie ihre bisherigen Vorläufer.<br />

Schon wurde in Barcelona ein Kampf durchgefochten: „Der Konflikt der<br />

Kanadier". <strong>Die</strong>ser Kampf bildete ein ehrenvolles Blatt in der Geschichte des<br />

Proletariats. Ein Aufstand, in dem wir Arbeiter als Opfer fielen, gab den Anlaß.<br />

Das war kein sorgsam vorbereiteter Generalstreik, sondern eine von starkem<br />

Willen getragene spontane Erhebung. Am nächsten Morgen stellte die Organisation<br />

den Behörden das Ultimatum: „Wenn binnen achtundvierzig Stunden die<br />

Forderungen der Arbeiter nicht anerkannt sind, wird das gesamte Wirtschaftsleben<br />

Barcelonas restlos stillgelegt." — Nach Ablauf dieser Frist war Barcelona<br />

die Zufuhr und Belieferung aller und jeder Lebensmittel abgeschnitten. Kein<br />

Verkehrsmittel, keine Post funktionierte. <strong>Die</strong> im Hafen ankommenden Waren<br />

stauten sich zu Bergen an.<br />

<strong>Die</strong> militärische Macht sollte dieser beunruhigenden Lage ein Ende machen;<br />

sollte Ruhe und Ordnung wiederherstellen und ein warnendes Exempel statuieren.<br />

Zur Aufhebung des verfassungsmäßigen Rechts wurde Belagerungszustand verhängt.<br />

Das Syndikat des graphischen Gewerbes stellte sofort ein Flugblatt her,<br />

aber der Generalgouverneur verbot der Presse, den alarmierenden Aufruf zu veröffentlichen.<br />

Darauf wurden alle Zeitungen der Stadt ohne Ausnahme vom Syndicat<br />

des graphischen Gewerbes unter Zensur gestellt, wonach die Veröffentlichung<br />

aller Anordnungen der militärischen Autorität verboten wurde. Und es blieb<br />

ganz fruchtlos, als man die Diktatoren der Zeitungen mit den härtesten Strafen<br />

bedrohte. Sie zogen vor, lieber nichts zu veröffentlichen, als sich gegen die<br />

Verordnungen der Arbeiterorganisationen aufzulehnen. <strong>Die</strong> Lage wurde immer<br />

kritischer. Kein Wasser, kein Licht, keine Triebkraft, keine Straßenbahn. Dann<br />

wurden die Arbeiter des öffentlichen Verkehrs militarisiert. Alles vergebens!<br />

Nach sechsunddreißig Stunden weigerten sich alle militarisierten Arbeiter, weiter<br />

<strong>Die</strong>nst zu tun. Mehr als achtzehnhundert dieser Wackeren wurden in die Festung<br />

geführt, eine schmähliche und niederdrückende Erinnerung.<br />

In der Erwartung geräuschvoller Ereignisse des Belagerungszustandes, da die<br />

Soldaten weder <strong>Die</strong>nst verrichten, noch sich entfernen konnten, wegen Mangels<br />

an Disziplin in den Gefängnissen, und da niemand sich fürchtete, entschloß sich<br />

die Regierung, mit der Canadiense zu beginnen.<br />

21


Der Konflikt verschärfte sich von Stunde zu Stunde. In ihrer Ohnmacht versuchte<br />

die Staatsgewalt, mit den Syndikaten ein Kompromiß zu schließen. Doch<br />

die Syndikate lehnten jede Unterhandlung ab, bis der Belagerungszustand aufgehoben<br />

würde.<br />

Und die Regierung gab nach.<br />

Es blieb nichts anderes übrig, als den Ministerpräsidenten vor vollendete<br />

Tatsachen zu stellen, die Inhaftierten zu entlassen und die von dem Militär übernommene<br />

öffentliche Gewalt den Arbeiterorganisationen zu Füßen zu legen.<br />

<strong>Die</strong> Furcht vor einem allgemeinen Aufstand beherrschte alles und alle. <strong>Die</strong><br />

Regierung wußte, daß die Arbeiterorganisationen noch Reserven einsetzen könnten,<br />

um die Widerstände der gesetzlichen Gewalt zu brechen. Sie wußte, daß auch die<br />

Beamten der Banken, der Börse und des Verkehrs die Arbeit niederlegen würden,<br />

sobald sie dazu aufgefordert würden. Es wurde sogar stark befürchtet, daß die<br />

Aerzte, die Krankenpfleger, die Geburtshelfer, die Hausangestellten dasselbe tun<br />

würden, wenn man sie dazu aufforderte<br />

Eine der Bedingungen zur Beendigung des zweimonatlichen Kampfes war die<br />

absolute Straflosigkeit aller Inhaftierten. <strong>Die</strong>ser denkwürdige Kampf endete am<br />

19. März jenes Jahres. Als die hinterhältigen Militärs Miene machten, eine Anzahl<br />

Kämpfer in Haft zu behalten und sie den Richtern in die Hände zu spielen, versammelten<br />

sich auf dem Platz der Stierkampfarena in der Nacht des 19. März<br />

etwa 25 000 Arbeiter und drohten, sofort in den Generalstreik zu treten, wenn die<br />

Verhafteten nicht sofort bis auf den letzten Mann in Freiheit gesetzt würden.<br />

Und wirklich, am 24. März loderte der Generalstreik aufs neue auf. Wieder<br />

wurde von der Reaktion der Belagerungszustand zu Hilfe genommen. <strong>Die</strong> Arbeiterklasse<br />

griff die Herausforderung der Militärmacht ohne Zögern auf. <strong>Die</strong>ser vierzehntägige<br />

Streik war zwar von Erfolg gekrönt, kostete den Arbeitern aber viel<br />

Opfer, Tränen und Blut.<br />

Eine neue, kurze, verhältnismäßig ruhige Periode folgte, in deren Verlauf die<br />

Staatsgewalt sich wenig fühlbar machte.<br />

Aber die Instinkte des spanischen, besonders des katalonischen Bürgertums<br />

sind despotisch und blutgierig. Das Bürgertum unterhielt ein „Syndikat der<br />

Hundertschaften", mit deren Hilfe es den Kampf gegen die Arbeiterschaft bis zum<br />

Weißbluten zu führen gedachte. Und dieses Bürgertum ließ es wahrlich nicht an<br />

Brutalität fehlen, wo sie ohne Gefahr für das eigene Fell verübt werden konnte.<br />

Da man sich notgedrungen der Einsicht nicht verschließen konnte, daß während<br />

der letzten Kämpfe die Macht der Arbeiterschaft gestiegen und gestärkt war,<br />

wurden andere Angriffsmethoden ausgeklügelt. Da die Geschütze keinen Erfolg<br />

erzielt hatten, sollte der Hunger als Verbündeter Wunder wirken.<br />

Ende 1919 wurde die Aussperrungspraxis organisiert, die vierzehn Wochen<br />

dauerte. Das dumme Bürgertum glaubte, die Hälfte dieser Spanne Zeit würde<br />

genügen, die Arbeiter bedingungslos zur Unterwerfung zu zwingen. Niemand hatte<br />

eben eine Ahnung von der im Willen geübten Stärke des Widerstandes, den<br />

etwa hundertfünfzigtausend aufs Korn genommene Lohnsklaven zu entwickeln vermochten,<br />

die von erbittertem Zorn gegen ihre Unterdrücker erfüllt waren, die<br />

ihre Frauen und Kinder dem Hunger auszuliefern trachteten. Als der Erfolg<br />

ausblieb, als die Massen die Aufnahme der Arbeit unerschütterlich verweigerten,<br />

legte die Regierung in einem Aufruf den Arbeitern nahe, an einem bestimmten<br />

Tage die Arbeit aufzunehmen, ansonst sie Gefahr liefen, ihre Stellen zu verlieren.<br />

Aber unter den hundertfünfzigtausend Arbeitern erlag auch nicht ein einziger<br />

Kamerad dem Sirenengesang der Regierungsherrschaften. <strong>Die</strong>ser verfehlte Schlag,<br />

auf den das Bürgertum große Hoffnung gesetzt hatte, zeigte den Hausknechten<br />

22


des Bürgertums und ihren Helfershelfern, daß selbst gegen hungernde Massen<br />

nichts auszurichten ist, wenn sie vom Geiste unverbrüchlicher Solidarität durchdrungen,<br />

mit anderen Worten, wenn sie vom lebendigen Geist des anarchistischen<br />

Syndikalismus erfüllt sind. Und diesem Geist war es zuzuschreiben, daß während<br />

der Aussperrung zurückbehaltene Löhne jetzt zum größten Teil nachbezahlt werden<br />

mußten.<br />

Einige Wochen später eröffnete die nationale Arbeiter-Konföderation C.N.T.<br />

den Kongreß in Madrid.<br />

<strong>Die</strong> Wut und Ueberraschung des Bürgertums war groß, als zutage trat, daß<br />

die Organisationen, statt besiegt und niedergeworfen zu sein, ziffernmäßig an<br />

Mitgliedern gewachsen waren. Nun konnte man eine Million und mehrere tausend<br />

Mitglieder zählen.<br />

<strong>Die</strong>ser Kongreß bewies, daß der anarcho-syndikalistische Geist der Arbeiterschaft<br />

stärker und entschlossener geworden war, er bewies ferner, daß die revolutionäre<br />

Taktik der syndikalistischen Gewerkschaft die richtige war, und daß das<br />

Endziel der proletarischen Kämpfe, der herrschaftslose Kommunismus, nur durch<br />

die Mittel der direkten Aktion gefördert und erreicht werden kann.<br />

<strong>Die</strong>ser Erkenntnis entsprechend, legten die Arbeiter auch weniger Wert auf<br />

kleine lohnpolitische Kämpfe und Scharmützel, sondern nutzten Zeit und Energien<br />

aus, um unter den Massen den Gedanken eines Generalsturms zur Beseitigung<br />

des ganzen kapitalistischen Wirtschaftssystems zu hegen und zu pflegen.<br />

<strong>Die</strong> Regierung, als treuer Kämpe des Kapitalismus, blieb bei ihrer Nadelstichpolitik,<br />

wodurch die Unzufriedenheit unter den Arbeitern nur noch gesteigert<br />

wurde. <strong>Die</strong> Geschlossenheit des Proletariats wuchs. <strong>Die</strong> Organisationen arbeiteten<br />

unermüdlich, um planmäßig den Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung vorzubereiten.<br />

<strong>Die</strong> Produktionsbedingungen in Industrie und Landwirtschaft wurden Gegenstand<br />

eingehender Studien und statistischer Berechnung.<br />

Fachmännisch vorgebildete Genossen beschäftigten sich mit dem Austausch<br />

und dem Transport überseeischer Erzeugnisse, während die Belegschaften aller<br />

einheimischen Betriebe sich eifrig mit dem Studium der Plan» und Bedarfswirtschaft<br />

befaßten. Alle diese Betätigungen waren geeignet, Sympathien unter der<br />

Bevölkerung zu gewinnen. In den Kreisen der Intellektuellen und Techniker regte<br />

sich das Verständnis, wodurch die Arbeiter der Fabriken, der Werkstätten, der<br />

Land- und Bergarbeiter in engen Beziehungen zu Akademikern aller Gebiete gebracht<br />

wurden.<br />

Man etablierte ein öffentliches Laboratorium für Analysen, das jedem unentgeltlich<br />

zum Besuch offen stand. Was wollte man mit diesem Institut erreichen?<br />

Man wollte die gewissenlose Geschäftswelt hindern, weiterhin das Publikum zu<br />

betrügen — man wollte den Händlern das Handwerk legen, Wasser und Kleie als<br />

gute Kuhmilch zu verkaufen — man rückte den Herstellern von Konserven aus<br />

verfaultem Fleisch auf den Leib, beseitigte den Unfug, in Teigwaren aller Art statt<br />

Eier chemische Substanzen und in der Käsebereitung Kartoffeln zu verwenden.<br />

<strong>Die</strong> fundamentalen Unterschiede zwischen den — man kann sagen grundsätzlich<br />

— bettelhaft zahmen Kampfmethoden sozialdemokratischer Gewerkschaften<br />

und denen der Syndikalisten ersieht der Leser auch aus folgenden Aktionen: Eines<br />

Tages erfuhr die Bevölkerung Barcelonas die Proklamierung eines Streiks der Bäcker.<br />

Eine wahrhaft unangenehme Ueberraschung, schon am frühen Morgen auf Betreiben<br />

der verfluchten Syndikalisten um sein frisches Frühstücksgebäck betrogen zu<br />

werden. <strong>Die</strong> bürgerlichen Pressemameluken zeterten laut und vernehmlich. Doch<br />

die Stimmung schlug sofort zugunsten der Syndikalisten um, als dieselben Marnelocken<br />

in der nächsten Nummer ihrer Zeitungen die wahren Ursachen des Bäcker-<br />

f2.11 23


Streiks bekanntgeben mußten: Nicht wegen schäbiger Löhne wurde gestreikt,<br />

sondern um die Gesamtbevölkerung vor weiteren Betrügereien der Unternehmer<br />

zu schützn. <strong>Die</strong>se Herrschaften hatten statt gutes Mehl ein Gemisch verbacken,<br />

das nach der einwandsfreien Untersuchung in dem von der Gewerkschaft gegründeten<br />

Laboratorium nachstehendes Resultat ergab: 10 Proz. Leim, 35 Proz. Mais.<br />

30 Proz. andere minderwertige Bestandteile und nur 25 Proz. wirklich gutes Mehl.<br />

<strong>Die</strong>selbe Entschiedenheit und Folgerichtigkeit bekundete der syndikalistische<br />

Geist in allen Aktionen des Tageskampfes, alarmierte damit auch die Mitglieder<br />

der reformstischen Gewerkschaften und entfaltete somit eine äußerst erfolgreiche<br />

Werbekraft für die Kampfmethoden wie für die direkte Zielsteuerung der Anarcho-<br />

Syndikalisten zum herrschaftslosen Kommunismus.<br />

<strong>Die</strong>se ungeahnten Erfolge brachten natürlich ungeheure Erregung in die Reihen<br />

des Bürgertums, das ebenso dumpf und stumpfsinnig wie papageienhaft nach einer<br />

neuen Bartholomäusnacht schrie. Noch andere stockreaktionäre Absichten beseelte<br />

das durch und durch rückständige Unternehmertum. Um ihren Gewinn in<br />

gleiche Höhe mit dem der Unternehmer in anderen Ländern zu bringen, kamen<br />

die Unternehmer auf die an sich sehr gute Idee, technische Hilfsmittel, wie<br />

Maschinen usw., in die Produktion einzustellen. Das war nach ihrer Naseweisheit<br />

aber nur möglich, wenn in der Gesamtproduktion die Löhne niedergedrückt<br />

würden. Und diese edle Absicht sollte durch Zerstörung der radikalen Gewerkschaften<br />

und ihrer Führer erreicht werden. Zu diesem Zwecke setzten bald wieder<br />

jene grausamen Verfolgungen ein, die in Spanien an der Tagesordnung sind. <strong>Die</strong><br />

verübten Greuel hielten die gesittete Welt monatelang in Atem.<br />

Aus dieser Periode muß auch die feige, verräterische Haltung der „Union<br />

General der Trabajadores" (Allgemeine ArbeitersUnion) gebrandmarkt werden. Da<br />

die Regierung diese Führerkastraten der Union mit der Deportation nach Fernando Po<br />

einschüchterte, zogen sie nach Madrid und schlössen mit der Regierung einen verräterischen<br />

Kompromiß, um der drohenden Verbannung zu entgehen. Und trotz<br />

dieses ehrlosen Gebahrens glauben jene Kastraten noch, die Arbeiter der großen<br />

Zentren, wie Barcelona, Valencia, Saragoza, Sevilla, über kurz oder lang in die<br />

sozialdemokratisch-reformistischen Sümpfe zerren zu können. Immer und immer<br />

wieder wird das Volk mit dem entnervenden Opium Reform, eingeschläfert, vom<br />

unerbittlichen Klassenkampf abgeleitet und von eitlen, feigen Politikanten schmählich<br />

hintergangen. Jener Kompromiß mit den Sozialdemokraten rettete der Regierung<br />

das Leben. Sie hatte gefürchtet, daß die Arbeiter in geschlossener Einheit<br />

zum Siege schreiten würden, und nun rettete der Kompromiß mit den Sozialdemokraten<br />

die ganze Situation. Und zum Dank erklärte die Regierung die Deportation<br />

für aufgehoben. — Aber General Martinez widerstand dieser „Milde" der Regierung<br />

mit aller Energie. So kam es dann, daß plötzlich, obwohl niemand solche<br />

Schmach für möglich hielt, 35 unserer besten Genossen nach der Festung Isabell II<br />

de Mahon und auf die Balearischen Inseln verbannt wurden. Ein Generalstreik<br />

hätte sie vor diesem Schicksal bewahrt. Als aber die syndikalistischen Arbeiter<br />

für dieses rettende Kampfmittel eintraten, da verweigerten die Madrider Kompromißkastraten<br />

die solidarische Hilfe und bahnten mit diesem neuen Verrat dem<br />

racheschnaubenden Bürgertum zu seinem Verfolgungsfeldzug die Wege. <strong>Die</strong>ser<br />

Rachezug setzte mit rücksichtslosester Wucht ein. während die sozialdemokratische<br />

Arbeiterunion samt ihren Madrider Kompromißführern stillschweigend der Vergewaltigung<br />

ihrer eigenen Klassengenossen zusahen. <strong>Die</strong> Stimmen unserer besten<br />

Agitatoren wurden erstickt. Sie erstarben in den Zuchthäusern. Mord reihte sich<br />

an Justizmord und Meuchelmord. Wer noch lebte, hatte stets den Tod zu erwarten.<br />

Unsere Presse wurde erdrückt, unsere Versammlungen verboten. Unsere Syndikate<br />

begannen wieder ungesetzlich zu arbeiten, unser bisher vorherrschender Einfluß<br />

wurde geschwächt. Nur die verratbesudelten Reformisten durften sich öffentlich<br />

betätigen. Dadurch erschienen diese Judasse der Arbeiterbewegung als direkte<br />

24


Helfer der Reaktion. Unsere revolutionären Organisationen waren die Opfer ihres<br />

dreifachen Verrats. Tausende und Abertausende unserer opferwilligsten Genossen<br />

wurden verhaftet.<br />

<strong>Die</strong>se blutige Episode hinterließ fürchterliche Spuren. Mit Schaudern und<br />

Empörung erinnern wir uns dieser jüngsten Vergangenheit.<br />

* * *<br />

<strong>Die</strong> Feinde des arbeitenden Volkes triumphierten: „<strong>Die</strong> revolutionären Föderal<br />

Honen sind vernichtet!" „Sie wurden zur Mythe, zum Phantom, zum Traum!" „Nur<br />

mehr ein wesenloser Schatten ihrer Wirksamkeit ist im Gedankengang des Volkes<br />

zurückgeblieben!" . Jene verkörperte Bestialität, die während jener Jahre<br />

im Blute gewatet und von diesen schrecklichen Ereignissen dauernde Erfolge erwartet<br />

hatte, bildete sich allen Ernstes ein, daß ein Aufleben der revolutionären<br />

Syndikate nunmehr ein Ding der Unmöglichkeit sei. Wir Herrschenden werden<br />

jetzt dauernd die Sieger bleiben. Der Zwang der Arbeiter in die alte Fron erscheint<br />

für absehbare Zeit gesichert.<br />

Indeß, wie schon so oft, die Reaktion irrte sich gründlich. Nur wenige Monate<br />

später begann die Arbeit von neuem. <strong>Die</strong> Arbeiter schöpften wieder Mut. Sie<br />

sammelten sich und verscheuchten die dunklen Schatten der trüben Erinnerungen.<br />

Gewiß, der Vergleich zwischen der stolzen Vergangenheit und den Trümmern der<br />

Gegenwart erschien trostlos. Doch das ewig heiße Blut des Romanen begann<br />

wieder zu sieden, die Nerven erzitterten. Aus glühenden Herzen und trotzigen<br />

Hirnen erwuchsen wieder organisatorische Taten. So konnte die revolutionäre<br />

Kulturarbeit in Spanien nur eine kurze Unterbrechung erleiden. Denn diese Kulturarbeit<br />

ist ewig, sie ist es so ewig wie die Zeit, wie das Leben selbst. Despoten<br />

aller Grade können sie nicht aufhalten, viel weniger verhindern!<br />

Mit der Wiederherstellung der revolutionären Gewerkschaften ging die Wiedereroberung<br />

der im Kampfe entrissenen Positionen fast Hand in Hand. <strong>Die</strong> unsterbliche<br />

Propaganda für unsere Ideen hat wieder begonnen. Neue tägliche Kämpfe<br />

sind die Folge. Barcelona ist wieder die alte Stadt der Unversöhnlichkeit, die<br />

Schule der Revolution und sich stets erneuernder Agitation. Noch mit der Pflege<br />

ihrer Verwundeten beschäftigt, denkt diese Stadt schon wieder an neue proletarische<br />

Kämpfe. <strong>Die</strong> Energiequellen sind hier unversiegbar. Und Barcelona ist die<br />

Seele Spaniens, ist das Herz der Bewegung, ist die Nährstätte der Revolution bis<br />

zum endgültigen Siege.<br />

Voll Entsetzen beobachtet das Bürgertum diese neue unerwartete Auferstehung<br />

der revolutionären Bewegung. Der groß angelegte Streik der Transportarbeiter<br />

gab ein leuchtendes Beispiel von der Solidarität und dem Kampfeswillen der<br />

Arbeiter.<br />

Daraus können wir ersehen, daß die Sterne des Fortschrittes wieder leuchten<br />

in Spanien. Das ewig junge spanische Proletariat ist von neuer Zuversicht ergriffen<br />

und das heißt: Spaniens Revolutionäre holen bald wieder zu neuem Vorstoß<br />

aus.<br />

* * *<br />

Da das Bürgertum nicht verstehen kann, daß alle Versuche, die Arbeiterbewegung<br />

zu unterdrücken, nutzlos waren, werden schon wieder neue reaktionäre<br />

Giftkräutlein gebraut. Sie sollen alles bisher Geschehene an zynischer Brutalität noch<br />

übertreffen, damit nicht die kleinste Regung menschlichen Empfindens hemmend<br />

wirke. Und diese angstbebenden Gedanken resultieren aus dem Staatsstreich vom<br />

13. September 1923. Wie wir gesehen haben, folgte den Siegen der Revolutionäre<br />

25


stets gesteigerte Rohheit der Reaktion. <strong>Die</strong>se Tatsache ist ebenso logisch wie<br />

lehrreich. <strong>Die</strong> Föderationen sind eine immerwährende Drohung. <strong>Die</strong> unaufhörlich<br />

revolutionäre Agitation unter den Arbeitermassen bildet eine ständige Gefahr.<br />

Deshalb wird das Militär mobil gemacht. Aber die kurzsichtigen Berater dieser<br />

neuen Verfolgungspläne mußten bald zur Einsicht kommen, daß dieses beliebte<br />

Unterdrückungsmittel von einem Tage zum andern unzuverlässiger wird. In dem<br />

Maße, in dem die Unzuverlässigkeit zunimmt, drohen die letzten Schutzsäulen der<br />

Reaktion zusammenzubrechen. Nicht wahr, ihr Herren? Wißt ihr es noch nicht?<br />

Das Heer ist seit dem Konflikt der Canadiense im Jahre 1919 und seit der Revolte<br />

in Saragoza nicht mehr so zuverlässig, wie es früher war, und wie ihr es gern in<br />

Ewigkeit erhalten möchtet.<br />

<strong>Die</strong>, Diktatur in Spanien gleicht einem schwachen Männchen, das auf noch<br />

schwächeren Beinen steht. Wo aber die Intelligenz versagt, da spielt sehr oft im<br />

Leben des Einzelnen wie im Leben einer Gruppe der Instinkt der Erhaltung der<br />

Art eine Rolle. Der Fall von Mateu und Nicolau beweist uns das sehr klar. Gegenüber<br />

der Aufhebung dieses Bluturteils kann man nicht von einer großmütigen<br />

Handlung sprechen. Ein Mann mit der Intelligenz und den moralischen Eigenschaften<br />

eines Rivera hat seine besonderen Gründe, jenes Todesurteil aufzuheben.<br />

Hier bestimmte das instinktive Gefühl die Handlung.<br />

Gewiß hat die Diktatur der Arbeiterschaft schwere Opfer gekostet. Dafür aber<br />

hat das Proletariat sich die Sympathien weiter Volkskreise erobert. Auch die<br />

Soldaten sind mehr und mehr auf seifen der Arbeiter. Gegen die Monarchie<br />

richtet sich bitterer Haß. Besonders der König selbst wird vom ganzen Volke<br />

gehaßt. <strong>Die</strong> Diktatur hat unstreitig das eine Gute gehabt, daß die Republikaner<br />

die Arbeiterbestrebungen kennenlernten und beide Kreise einander näherkamen.<br />

Sie hat dem Blindesten die Unhaltbarkeit der gegenwärtigen Zustände gezeigt. <strong>Die</strong><br />

Revolutionäre sehen reichen Ernten entgegen. Mag Propaganda in Wort und Schrift<br />

die revolutionären Notwendigkeiten in immer weitere Kreise tragen. <strong>Die</strong> Revolutionäre<br />

werden bald die größere Minorität in Spanien bilden. Der Abscheu, den<br />

die Deportationen bei allen Intellektuellen Spaniens ausgelöst haben, wird sich zu<br />

revolutionären Energien auswachsen, und damit ist die Uhr der finstersten Reaktion<br />

abgelaufen. Dem Ausland haben die letzten Jahre gezeigt, wie das gegenwärtige<br />

Spanien aussieht und welche unermeßlichen Greuel unter dem Deckmantel der<br />

Monarchie an den elementarsten Regeln der Menschlichkeit verübt werden konnten.<br />

Man darf fest überzeugt sein, daß Spanien bald wieder von revolutionären Erschütterungen<br />

widerhallen wird. Ungeahnt sind die Möglichkeiten, die im Schoße<br />

der Zeit verborgen sind. Den spanischen Soldaten ist die sklavische Disziplin in<br />

den Tod verhaßt. Sie werden bei dem nächsten wirksamen Ruck zur Freiheit zum<br />

größten Teil Schulter an Schulter mit den Arbeitern stehen.<br />

* * *<br />

Auf der einen Seite konzentrieren die Träger der kapitalistischen Wirtschaftsordnunff<br />

alle Kräfte geschlossen gegen das parteipolitisch zerklüftete und gewerkschaftlich<br />

irregeleitete Proletariat. Auf der andern Seite stehen die für herrschaftslosen<br />

Kommunismus kämpfenden Wirtschaftsrevolutionäre, verkörpert in der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter-Assoziation — hart auf hart.<br />

Sobald die letztere die größere Minorität der internationalen Gesamtarbeiterschaft<br />

in sich vereinigt, sind Parteihader und reformistische Gewerkschaftsgebilde<br />

überwunden und dann — ist das Ende der kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung<br />

besiegelt.<br />

26


<strong>Die</strong> gewerkschaftliche Lage in Frankreich.<br />

Von Pierre Beßnard.<br />

<strong>Die</strong> mehr und mehr sich verwirrende Lage der französischen revolutionären<br />

Gewerkschaftsbewegung wird jeden Tag gefahrvoller. Es ist gar keine leichte Sache,<br />

sie darzustellen. Versuchen wir's indes! Sehen wir zu, wie und warum die Majorität<br />

ihr Vorhaben hat verwirklichen können. Prüfen wir auch vor allem die taktischen<br />

Irrtümer, die Seelenverfassung der Minorität, deren Mangel an praktischem Verständnis<br />

eine wesentliche Ursache des gegenwärtigen Zerfalls ist.<br />

Hauptsächlich verantwortlich für den gegenwärtigen Zustand des Syndikalismus<br />

in Frankreich und für die schreckliche Krisis, die ihn zerschneidet,<br />

ist ein Teil der Minorität — der revolutionärssyndikalistischen Gruppen (G.S.K.) —,<br />

weil er nach dem Kongreß von St. Etienne an die der Kommunistischen Partei dienlichen<br />

Absichten nicht geglaubt hat, weil er den Männern, die seit längerem die<br />

treuen Willensvollstrecker der Parteibefehle in den Syndikaten waren, immer noch<br />

Vertrauen schenkte und weil er mit der Majorität in den Tagen nach St. Etienne<br />

noch ins gleiche Horn blies.<br />

In der Zeit von St. Etienne bis Bourges verstärkte sich die Beherrschungstätigkeit<br />

(der Kommunisten in den Gewerkschaften) noch, trotz eines späten Er-<br />

Wachsens eines Teiles des Exekutivkomitees und zweier Mitglieder des konföderalen<br />

Büros.<br />

<strong>Die</strong>se Opposition war aus dem Schoße des Zentral-Organismus hervorgegangen<br />

infolge der Verletzung des Mandats, das durch den Kongreß von St. Etienne der<br />

Delegation der C.G.T.U. beim Kongreß der R.G.I. (der Roten Gewerkschaftssinternationale)<br />

anvertraut wurde. Sie verstärkte sich wegen der zuerst angesichts der Ruhrbesetzung<br />

und sodann angesichts der vom konföderalen Organismus angenommenen<br />

Bluffpolitik über die „deutsche Revolution", die sich weiterhin in Frankfurt a. M.,<br />

wo man das Programm des Syndikalismus zugunsten der Kommunistischen Partei<br />

Frankreichs und der Kommunistischen <strong>Internationale</strong> fahren ließ, festlegte. Der<br />

Mangel an Verbindung verpflichtete die Opposition, sich im Innern zu kristallisieren.<br />

Aber sie verleugnete mit Beharrlichkeit das „Komitee zur Verteidigung des<br />

Syndikalismus" (C.D.S.), dem sie es nicht verzieh, .,den Syndikalismus in Gefahr"<br />

erklärt zu haben, als sie selbst noch nicht an Gefahr glaubte.<br />

Anstatt ehrlich ihren Irrtum einzusehen, das Komitee zur Verteidigung des<br />

Syndikalismus (C.D.S.) einzubeziehen, sich mit ihm zu einer Aktion der gesamten<br />

Minorität zu verbinden, zog die Minorität des Exekutivkomitees und des Bureau<br />

konföderal es vor, den G.S.R. (den revolutionär syndikalistischen Gruppen) den<br />

Tag anzugeben, wo sie eine Teilaktion führten, die sich aber häufig gegen die wahre,<br />

dem Kongreß von St. Etienne entstammte und im Komitee zur Verteidigung des<br />

Syndikalismus gruppierte Minorität wandte.<br />

Das letztere, welches die ganze Gefahr einer ebenso zerstreuten wie widerspruchsvollen<br />

Aktion fühlte, beschloß bald, nachdem die Landeskonferenz im<br />

September unter dem Druck der revolutionären Elemente der Minderheit<br />

entschieden hatte, einen außergewöhnlichen Kongreß abzuhalten, der den Auftrag<br />

hatte, die absolut unerträgliche Lage auszugleichen, in offizielle Beziehungen zu<br />

den revolutionären syndikalistischen Gruppen zu treten. Es hielt dies für eine<br />

ernste Pflicht, um die Kräfte der Minorität zu einigen.<br />

<strong>Die</strong> erste und einzige Zusammenkunft, die zwischen den beiden Fraktionen<br />

stattfand, bewies die Unmöglichkeit, eine Plattform für gemeinsame Aktionen<br />

zu finden.<br />

27


Der einzige Punkt, über den sich die Anhänger der I.A.A., die Komitees zur<br />

Verteidigung des Syndikalismus und die Gruppen der revolutionären Syndikalisten<br />

einig waren, war der folgende: <strong>Die</strong> Achtung und Verteidigung der Unabhängigkeit<br />

und Selbständigkeit des Syndikalismus in der französischen Gewerkschaftsbewegung.<br />

Das war offenbar doch zu ungenügend, um es den Kräften der beiden Minoritäten<br />

zu gestatten, sich zu verbinden, und um sie beide zusammen zu leiten bis<br />

zu dem, was sie hätten gemeinsam haben sollen. <strong>Die</strong> Hochschätzung vor der R.G.l.<br />

und den nationalen und internationalen Aktionskomitees bildet verschleiert, aber<br />

dennoch gewiß die Unterordnung der Syndikate unter die Kommunistische Partei.<br />

In diesem Chaos, dieser äußersten Verwirrung war es also, wo die beiden Minoritäten<br />

am 12. November den außerordentlichen Kongreß von Bourges beschickten.<br />

Was war dieser Kongreß? Was mußte er sein? <strong>Die</strong> offizielle Betonung der<br />

Vorherrschaft der Partei über die Gewerkschaften und die Rechtfertigung der Zersplitterung<br />

der revolutionär-syndikalistischen Kräfte.<br />

Alles wurde gesagt, alles wurde gelöst: <strong>Die</strong> Verletzung der Beschlüsse von<br />

St. Etienne durch die Delegierten in Moskau, das beharrliche, andauernde Abweichen<br />

vom Programm des Syndikalismus zugunsten der Kommunistischen Partei, der Bluff<br />

über die Ereignisse in Deutschland usw. usw. Wir hatten uns gegenüber keine<br />

syndikalistischen Delegierten, die unsern Gründen, unsern Beweisen zugänglich<br />

waren, sondern lediglich Vertreter der Partei, die abstimmten, sprachen, sich ausschwiegen,<br />

Beifall spendeten oder pfiffen, die auf Befehl in den Kongreß eingereiht<br />

waren zur größeren Ehre der Kommunistischen Partei, die die inneren und äußeren<br />

Arbeiten unter der strengen Aufsicht des Moskauer Vertreters und des „Comité<br />

des Forges" leitete, was paradox erscheinen mag, aber dennoch scharf und genau ist.<br />

Das Resultat? 973 Delegierte der Kommunisten gegen 369 Syndikalisten<br />

(147 C.D.S. und 122 G.S.R.) billigten die Haltung der Konföderations-Leitung und<br />

betonten außerdem noch durch Zustimmung zu einem Vorschlag Semard die Unter-<br />

Stellung der Syndikate unter die Kommunistische Partei. — Seitdem waren alle Unternehmungen<br />

dieser letzteren, sogar die anrüchigsten, davor gesichert, durch die<br />

Leitung der Konföderation und deren Komitees, die ausschließlich aus Kommunisten<br />

oder solchen, die mit ihnen sympathisierten, was auf das nämliche herauskommt,<br />

zusammengesetzt waren, entmutigt zu werden.<br />

So hat sich seit Bourges die Lage nur verschlechtert. Statt daß sich die<br />

Minorität die erlittene Niederlage hätte als Beispiel dienen lassen — was eine<br />

mächtige Lehre für sie hätte sein müssen — löste dies keinerlei ernsthafte Gegenmaßnahme<br />

aus.<br />

Es ist schlimm, daß diese Minderheit auf der Suche nach einer unmöglichen<br />

doktrinären Einigkeit beinahe jene Kämpfer von sich abstieß, die fortgesetzt seit<br />

drei Jahren allein die kommunistische Gefahr bekämpft haben.<br />

Quinton, Totti, ich und andere noch, die noch ein Wort bei allen denen zu<br />

sagen hatten, welche mit offenem Visier kämpften, wurden von den Arbeitern<br />

der „elften Stunde" als „Verbrauchte" erklärt, obwohl sie dennoch von diesen den<br />

endgültigen Bankerott abgehalten hatten.<br />

Immer treu bleibend der R.G.L (wie lange noch?), machten die Gruppen des<br />

revolutionären Syndikalismus, die es dank der Verbindung und Gleichmütigkeit der<br />

Kameraden vom gewesenen Komitee zur Verteidigung des Syndikalismus verstanden<br />

hatten, sich alle Stellen bei der in Bourges gebildeten Bastardgruppe anzueignen, eine<br />

so unbeständige Propaganda, ohne Kraft, ohne Leben, ohne genauere Angaben, ohne<br />

Anzeichen eines bestimmten Zieles, daß sie die Minorität auf dem Unions-Kongreß<br />

der Gewerkschaften von der Seine Ende Dezember 1923 zu einem neuen Unglück<br />

führten.<br />

28


Trotz der abscheulichsten moralischen und finanziellen Amtsführung, trotz<br />

seiner begangenen Irrtümer und Fehler erhielt das Bureau dieser Syndikats-Union<br />

eine geradezu niederschmetternde Majorität und triumphierte über eine Minorität,<br />

die ihre Unbewußtheit und Naivität so weit trieb, eine Resolution über die Einigkeit<br />

vorzulegen, deren Text mit Begeisterung von der Majorität angenommen<br />

wurde.<br />

Und dann kamen die tragischen Ereignisse vom 11. Januar im Saale „le petit<br />

Vergeat" (in jenem Saal, der die Namen der ersten zwei französischen Opfer trägt,<br />

die für immer im Eismeer von Murmansk verschwunden sind), wo Werkleute,<br />

Arbeiter auf Befehl der Führer der französischen Kommunistischen Partei zwei<br />

andere Arbeiter töteten und mehr als zwanzig verwundeten. <strong>Die</strong> Henker von<br />

Kronstadt hatten Schule gemacht. Der rote Fascismus feierte seine Geburt.<br />

Noch niemals, selbst nicht in Lille, sind solche abscheulichen Akte kalten<br />

Blutes von herrschenden Gewalten kommandiert und von Fanatikern, von Narren<br />

ausgeführt worden. Nie wurden unsere Versammlungen auf solche Weise entehrt,<br />

nie sind unsere Debatten mit einer solchen mörderischen Brutalität abgeschlossen<br />

worden.<br />

* * *<br />

Das ist die Lage. Sie ist nicht schön. Seitdem trennt ein Abgrund von Groll<br />

und Haß, ein Graben voll Blut die Syndikalisten von den Kommunisten: Weil sie<br />

an die ungeheure Gefahr nicht geglaubt haben, weil sie jede Vorsicht unterließen<br />

und angesichts des roten Fascismus, vor dem ich seit Januar 1923 warnte, sind<br />

die Syndikalisten Frankreichs nach denen von Italien, Spanien, Deutschland, Bulgarien<br />

doppelt besiegt worden und zwar nicht nur durch den Kapitalismus, sondern<br />

durch einen andern Gegner, der sich als „Arbeiterbewegung" ausgibt, nämlich durch<br />

die Kommunistische Partei, die gewußt hat, sich für ihre Zwecke zu organisieren,<br />

um zu siegen und die vor dem Mord nicht zurückschreckt, gleichwie die Regierung,<br />

die sich anmaßt, zu ersetzen und deren würdige Nachfolgerin sie ist.<br />

Was soll nun nach all diesem werden? Es ist schwierig zu sagen.<br />

Wohl waren die französischen Arbeiter durch das tragische Schauspiel, das<br />

mit so vollkommenem Zynismus verübt wurde, erschüttert, doch faßten sie sich<br />

rasch genug wieder, als ihre Gegner einen Augenblick schwach wurden.<br />

Man hätte glauben sollen, daß die Syndikalisten allerorts mit den Mördern<br />

und ihren Komplizen in der C.G.T.U. brechen würden.<br />

Aber ach, das war nur eine impulsive Regung des Zornes, doch nicht ein wohlbedachter<br />

und festgehaltener Akt der Erkenntnis, dessen vordringlichste Konsequenz<br />

eine klare und scharfe Scheidung hätte sein müssen.<br />

In der Tat vereinigten sich bei der Gelegenheit, wo sie dem Begräbnis der<br />

beiden Opfer beiwohnten, die Delegationen der Provinz mit denen von Paris, um<br />

diese Lage, die ohne Beispiel und Vorbild ist, zu prüfen.<br />

Was konnte dabei herauskommen? Nichts von Belang. Nur die Zusammenhanglosigkeit<br />

der Minorität in gewissen Dingen wurde dabei offenbar. So als die<br />

Bauarbeiter der Seine und die Syndikate der Fleischer dafür waren, eine nationale,<br />

selbständige, von den beiden C.G.T. unabhängige Bewegung zu schaffen, so als<br />

andere dafür eintraten, die Dinge im alten Zustand zu lassen und in der C.G.T.U.<br />

zu verbleiben. Andere wollten unmittelbar zur C.G.T. gehen. Eine letzte Strömung,<br />

und zwar diejenige, die am Ende der Abrechnung die Minderheit mit fortriß,<br />

weil sie die geringe Kraft und die Zusammenhanglosigkeit zeigte, bekannte sich<br />

im Gegensatz zu den Autonomisten zum Standpunkt der C.G.T.U. über die<br />

Einheit. Höher gings nicht mehr.<br />

Also: <strong>Die</strong>selben Leute, die zusammengekommen waren, um sich von ihren<br />

Gegnern in der C.G.T.U., den Helfershelfern der Mörder ihrer Brüder, zu trennen,<br />

gelangten zum Schlüsse dahin, folgende Lösung zu finden: Wir schlagen den beiden<br />

29


C.G.T. („Confédération Générale du Traveil" und „Confédération Général du<br />

Traveil Unitaire") die Einigkeit vor, alle sollen darin verschmolzen bleiben. <strong>Die</strong>jenigen,<br />

die sie verlassen wollten, würden damit den sofortigen Bankerott der<br />

Gewerkschaften proklamieren.<br />

Ich verstehe sehr wohl, daß unsere Kameraden in den andern Ländern, die<br />

nicht die ganze Sachlage kennen, nur wenig Sinn in allen diesen Kundgebungen,<br />

unzusammenhängenden Dingen, in all diesen widersprechenden Haltungen, lächerlichen<br />

Manövern und dieser unbegreiflichen Unentschlossenheit finden werden. —<br />

Welchen Schluß können wir aus dem Vorgefallenen ziehen?<br />

* * *<br />

Das ist gewiß nicht leicht zu sagen. Der Augenblick ist Voraussagungen nicht<br />

günstig. Es ist noch unmöglich, mit allen Unwägbarkeiten, die mitspielen, zu<br />

rechnen, unmöglich, schon jetzt alles aufzuzeigen und den Wert davon festzustellen,<br />

unmöglich, schon heute das Ende einer Situation zu beschreiben, die sich Tag für<br />

Tag, Stunde für Stunde ändert.<br />

Wer wird den endlichen Erfolg davontragen? <strong>Die</strong> Autonomisten, wie z. B.<br />

die Kameraden vom Bauhandwerk, die am 20. Januar tatsächlich definitiv die<br />

C.G.T.U. verließen, indem sie verlangten, daß der Bruch auf die ganze Bauarbeiterföderation<br />

ausgedehnt wird? Oder werden die den Erfolg haben, die trotz des<br />

Verbrechens die Einigkeit wollen? Oder werden diejenigen den Sieg davontragen,<br />

welche die Einigkeit aller Kräfte der Arbeiter erstreben mit Ausnahme jener, die<br />

den Syndikaiismus und seine Kämpfer mordeten?<br />

Ohne gerade mit Genauigkeit eine bessere Zukunft ankündigen zu wollen, läßt<br />

sich mit einiger Bestimmtheit sagen, daß es die letzteren sind, welche die meiste<br />

Aussicht auf den Sieg haben.<br />

In diesem Falle würde die Einheit gefördert und wäre ein Weg zu ihrer Verwirklichung<br />

gefunden. Der Zusammenschluß der syndikalistischen Kräfte der<br />

C.G.T.U. mit denen, die im Augenblick außenstehen, und mit den beiden C.G.T.<br />

würde dem französischen Syndikalismus nicht nur erlauben, seinen Lauf wie vor<br />

dem Krieg aufzunehmen, sondern auch in einer bestimmen Weise der Kommunistischen<br />

Partei Herr zu werden.<br />

Das würde ohne Zweifel das beste Mittel sein, sich mit der Zeit einer buchstäblichen<br />

Diktatur zu entwinden, unserer Bewegung ihren ursprünglichen und traditionellen<br />

Charakter wiederzugeben und auch — dies ist nicht das unwichtigste —, um<br />

ihr die Möglichkeit zu geben, mit vereinten Kräften sich den gegen sie gerichteten<br />

Regierern und Kapitalisten zu widersetzen.<br />

Wie wird das internationale Band in diesem Falle sein, das die also vereinigten<br />

Gruppen wählen werden? Mit Sicherheit läßt es sich nicht sagen, aber es wird<br />

den einen wie den andern zugehören, um auf dem Einigungskongreß ihren Standpunkt<br />

mit Hartnäckigkeit zu verteidigen. Was mich betrifft, so würde ich das<br />

Unmögliche tun, damit der Gesichtspunkt der I.A.A. (C.D.S., Komitee zur Verteidigung<br />

des Syndikalismus), der allein wahren revolutionären syndikalistischen Inten<br />

nationale triumphieren würde.<br />

In einem weiteren Artikel werde ich versuchen, mit etwas mehr Gewißheit die<br />

Ereignisse zu schildern, um ein klares Bild von einer Situation auszulösen, die trotz<br />

allem in Kürze ihren Abschluß finden muß.<br />

Wie es auch sei und was uns auch morgen bevorsteht, man kann gewiß sein,<br />

daß der französische Syndikalismus wiedergeboren wird und daß er eines schönen<br />

Tages wieder fähig sein wird, den Kampf gegen alle seine Unterdrücker in Verbindung<br />

mit den Kameraden der anderen Länder wieder aufs neue aufzunehmen.<br />

30


<strong>Die</strong> syndikalistische Bewegung in Norwegen.<br />

Von O.Tangen-Kristiania.<br />

Trotz eines gemeinschaftlichen internationalen Grundzuges befolgt der Syndikalismus<br />

in einzelnen Ländern oft Wege, die von denen der übrigen Länder abweichen.<br />

<strong>Die</strong>se Unterschiede können auf die Eigenartigkeit des Volkscharakters,<br />

sowie auf jene der bereits bestehenden älteren Arbeiterbewegung zurückgeführt<br />

werden.<br />

<strong>Die</strong> Geschichte sowohl der syndikalistischen als der reformistischen Arbeiterbewegung<br />

in Norwegen ist verhältnismäßig jünger als in den meisten europäischen<br />

Ländern. Dennoch kann letztere auf eine, wenn auch nicht zusammenhängende,<br />

Vergangenheit zurückblicken. Als erste Aufstandsbewegung in Norwegen<br />

dürfte die sogenannte Lofthus-Bewegung — in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts<br />

— betrachtet werden. <strong>Die</strong>s war ein Bauernaufstand gegen das damals<br />

blühende Feudalwesen, das mit einem unheimlich blutigen Plünderungsterror die<br />

Bauern bedrückt hatte. <strong>Die</strong>ser Aufruhr endete damit, daß der Anführer Christian<br />

Lofthus im Jahre 1786 verhaftet, fünf lange Fahre hindurch in der Festung Akershus<br />

an einen Steinblock gekettet auf seine Aburteilung gewartet hatte, die im Jahre<br />

1792 auch erfolgte. Er selbst wurde zu lebenslänglichem Kerker, in Eisen geschlagen,<br />

verurteilt, seine Anhänger zu Kerkerstrafen von ein bis drei Jahren.<br />

<strong>Die</strong> Bauernbewegung hat damit ihr Ende gefunden, doch mußte die Obrigkeit<br />

einen Teil Unrechte gegen die Bauern aufheben. Hierauf folgte eine tote Zeit. In<br />

den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts kam es zum ersten Streik, und zwar<br />

unter den Mauern Kristianias; dieser Streik wurde von der Polizei sofort niedergeschlagen.<br />

Erst im Revolutionsjahre 1848 trat die erste organisierte Arbeiterbewegung<br />

in Norwegen auf. Sie hieß nach deren schaffenden Geist — Marcus<br />

Thrane — die Thraniterbewegung. In zwei Jahren wuchs die Anhängerschaft dieser<br />

Bewegung auf 21000. <strong>Die</strong> Bewegung hatte in erster Linie einen politischen Charakter,<br />

deren Hauptziel das allgemeine Wahlrecht war. Trotzdem lieferte sie so manche<br />

Kämpfe im Zeichen der primitiven Form der direkten Aktion. Im August des<br />

Jahres 1851 wurde der erste Kongreß abgehalten, wo man die Forderung nach dem<br />

allgemeinen Wahlrecht gestellt hat. Der Kongreß drohte im Falle der Ablehnung<br />

seiner Forderung mit Aufruhr, worauf die Behörden etwa 1148 Personen verhafteten<br />

und nach einer Untersuchungshaft von vier Jahren zu Strafen bis zu 9 Jahren Gefängnis<br />

verurteilten. Ein Jahr nach diesem Prozeß starb die Thraniterbewegung ab,<br />

ihre Ideen konnten sich in den Massen nicht festwurzeln.<br />

Erst zwanzig Jahre später begann in Kristiania eine Agitation für den Anschluß<br />

an die erste <strong>Internationale</strong>. Ein norwegischer Student, sowie ein dänischer und ein<br />

schwedischer Arbeiter waren in der Kampflinie die ersten. Auch diese Bewegung<br />

mißglückte sowohl wegen der Verfolgung und des Widerstandes durch die Behörden<br />

als auch wegen des Mißverständnisses bei der Allgemeinheit. In den 80er Jahren<br />

begannen einige Berufsvereine ihre Tätigkeit. Zuerst wurde eine Gewerkschaft der<br />

Buchdrucker und eine weitere der Holzarbeiter gegründet. Fast zu gleicher Zeit<br />

entstand eine sozialdemokratische Bewegung im Lande, die alsbald auch die Leitung<br />

der Gewerkschaften übernahm. Im ersten Jahre schritt die Entwicklung der Bewegung<br />

recht langsam vorwärts, doch schon im Jahre 1899 wurde die gewerkschaftliche<br />

Landesorganisation mit 12 Gewerkschaften und zusammen 9000 Mitgliedern<br />

gebildet. <strong>Die</strong> junge Gewerkschaftsbewegung unterschied sich schon durch ihre<br />

organisatorische Einrichtung von den gleichen Bewegungen der übrigen Länder,<br />

indem sie eine Unterabteilung der politischen Partei wurde, in welcher Eigenschaft<br />

sie bis auf unsere Tage verblieb, wo die Sozialdemokratie und die Kommunistische<br />

Partei um die Gewerkschaften buhlen. Im übrigen hat sich die<br />

31


Bewegung im Schritt mit der Arbeiterbewegung in den übrigen skandinavischen<br />

Ländern rasch emporgerungen. Doch schon im Jahre 1906 begann eine bestimmte<br />

Opposition innerhalb der Gewerkschaftsbewegung. Sie entsprang aus der<br />

damaligen Jugendbewegung, die sich wohl sozialdemokratisch nannte, jedoch einen<br />

anarchistischen Einschlag hatte. Einige schwedische Jungsozialisten, die an dieser<br />

Bewegung teilnahmen, hatten es durch ihre energische Arbeit soweit gebracht, daß<br />

ein Kongreß das Generalstreikprinzip anerkannte. <strong>Die</strong> Opposition entfaltete auch<br />

eine kräftige antimilitaristische Agitation und eine spezifisch syndikalistische Aufklärungsarbeit<br />

in den Gewerkschaften.<br />

<strong>Die</strong> Opposition gewann Eingang in weiteren Kreisen der Gewerkschaftsmitglieder<br />

und im Herbst 1911 forderte eine große Versammlung in Drontheim die<br />

Umorganisierung der Gewerkschaften in dem Sinne, daß die Gewerkschaftsverbände<br />

aufhören und daß die Landesorganisation sich von neuem auf autonomen<br />

örtlichen Organisationen aufbauen solle, die alle Berufe umfassen. Außer diesen<br />

grundlegenden Aenderungen verfolgte die Opposition weitergehende Ziele, so zum<br />

Beispiel die Aufhebung der Kollektivtarife, des Versicherungswesens und sie vertrat<br />

hauptsächlich auch die Forderung, daß man neue wirksame Kampfarten in die<br />

Bewegung einführt, wie den Boykott, die Sabotage, die Obstruktion, den Sympathiestreik<br />

usw. <strong>Die</strong>s war, was Form und Taktik betrifft, ein syndikalistisches<br />

Programm.<br />

<strong>Die</strong> Opposition berührte aber die Stellung der Gewerkschaftsbewegung weder<br />

zu den politischen Parteien noch zum Endziel. 1912 gründete sie sich als eine<br />

Sonderorganisation und erhielt von den Gewerkschaften des Landes lebhaften<br />

Zuzug. Anfangs waren einige Syndikalisten an der Spitze dieser Bewegung, doch<br />

bald gelang es den Sozialdemokraten, die Leitung der Opposition an sich zu reißen<br />

und sie im <strong>Die</strong>nste ihrer Parteipolitik auszunützen. Eine Gewerkschaft nach der<br />

anderen wurde von der Opposition durch zufällig günstige Abstimmungen erobert<br />

und im Jahre 1916 zählte sie beinahe 30 000 Mitglieder. Nach und nach wurden<br />

aber die Oppositionsführer in leitende Stellungen in den Gewerkschaften gewählt<br />

und dadurch hörte die Opposition in Norwegen auf.<br />

<strong>Die</strong> schwedischen Genossen haben im Jahre 1910 die syndikalistische Landesorganisation<br />

S.A.C. gegründet. <strong>Die</strong> erste große Anhängerschaft erhielt die neue<br />

Bewegung aus den Reihen der Steinarbeiter von Bohuslän, an der norwegischen<br />

Grenze. Hier arbeitet man in der Steinindustrie und die Ab- und Zuwanderung<br />

von Norwegen resp. Schweden ist lebhaft. Durch diese Wechselwirkung lernten<br />

norwegische Steinarbeiter den Syndikalismus kennen, und als die norwegischen<br />

Steinarbeiter im Jahre 1912 von Führern des norwegischen Steinarbeiterverbandes<br />

in einem Konflikt schändlich verraten wurden, traten sie aus der reformistischen<br />

Gewerkschaft aus und gründeten syndikalistische Gruppen, die sie an die<br />

schwedische Organisation angliederten. <strong>Die</strong> neue syndikalistische Organisation<br />

stieß auf den heftigsten Widerstand der Arbeitgeber und der reformistischen Gewerkschaften.<br />

Der Kriegsbeginn verursachte einen Niedergang in der Steinindustrie und die<br />

Arbeiter waren genötigt, in anderen Berufen — hauptsächlich im Baugewerbe und<br />

bei Erdarbeiten unterzukommen. Zu dieser Zeit kamen zu den. im Bau begriffenen<br />

norwegischen Wasserkraftanlagen häufig schwedische Arbeiter, die bereits syndikalistisch<br />

organisiert waren, nach Norwegen. Sie begannen im Jahre 1916 Örtliche<br />

Organisationen auf den Kraftwerken und in den Städten zu gründen, die an die<br />

schwedische Organisation angegliedert wurden.<br />

<strong>Die</strong> Aufrollung der syndikalistischen Frage führte zu gewaltigen Kämpfen<br />

zwischen unseren Genossen und den Führern der norwegischen Gewerkschaften,<br />

sowie hauptsächlich mit einem Teil der im norwegischen Verband der ungelernten<br />

Arbeiter organisierten Mitglieder.<br />

32


Zu Weihnachten des Jahres 1916 wurde zur Austragung der Streitigkeiten eine<br />

Konferenz des Norwegischen Verbandes der ungelernten Arbeiter, der Gewerkschaftsopposition<br />

und der syndikalistischen Gesamtorganisation einberufen. Auf<br />

dieser Konferenz wurde den Syndikalisten eine ultimative Forderung von den<br />

Reformisten gestellt, indem sie aufgefordert wurden, einfach in die reformistische<br />

Organisation überzugehen. Natürlich lehnten die Syndikalisten diesen Vorschlag<br />

ab. Da auch mit der Gewerkschaftsopposition zu arbeiten sich als unmöglich<br />

erwies, beschlossen die norwegischen und schwedischen Syndikalisten in Norwegen<br />

— auch mit Rücksicht auf den außerordentlich entwickelten Lokalpatriotismus der<br />

norwegischen Arbeiter — eine syndikalistische Landesorganisation für Norwegen<br />

zu gründen. So entstand die „Norsk Syndikalistisk Föderation", die Norwegische<br />

Syndikalistische Föderation, die zusammen mit der Schwedischen Organisation eine<br />

„Skandinavische Zentralorganisation der Arbeiter" bildete.<br />

Nun folgte eine kampfreiche Periode für die Syndikalisten in Norwegen. Auf<br />

den Wasserkraftanlagen brach ein Kampf nach dem andern aus und es wurde die<br />

traurige Erfahrung gemacht, daß die reformistische Organisation sich als direkte<br />

Streikbrecherin betätigte. <strong>Die</strong> neue unabhängige Kampforganisation brachte die<br />

Arbeitgeber gegen sich in Harnisch und einzelne der reformistischen „Arbeiterführer"<br />

versäumten nicht, ihren kapitalistischen Gönnern in die Ohren zu flüstern,<br />

daß die meisten Syndikalisten Ausländer waren, worauf die Arbeitgeber und die<br />

Regierung Hand in Hand eine Aktion gegen die syndikalistische Organisation<br />

einleiteten. Einer nach dem andern der ausländischen Genossen wurde über die<br />

Grenze geschafft, erst diejenigen, die an Streiks teilgenommen haben, später auch<br />

solche, die bloß einer syndikalistischen Organisation angehörten. Nicht weniger<br />

als 1100 Genossen wurden unter dieser Syndikalistenjagd ausgewiesen. Das<br />

schlimmste war, daß die Bewegung ohne Presse und ohne Agitatoren war, denn die<br />

wenigen norwegischen Genossen, die der Agitationsarbeit fähig waren, sind nach<br />

und nach der Reaktion zum Opfer gefallen und ins Gefängnis geworfen worden.<br />

Während dieser Zeit, wo die norwegische Reaktion im wahren Sinne des Wortes<br />

getobt hatte, fand die damalige sozialdemokratische und jetzige bolschewistische<br />

Presse kein Wort des Protestes. Im Gegenteil, sie stand im Kampfe gegen die<br />

Syndikalisten ganz auf der Seite der Bourgeoisie. <strong>Die</strong> bürgerliche Presse nährte die<br />

Deportationslust der Regierung mit täglichen Hetzartikeln gegen „die Ausländer",<br />

die ins Land kamen und den eigenen Landsleuten das karge Brot wegaßen.<br />

<strong>Die</strong> Verfolgung der ausländischen Kameraden verhalf jedoch dazu, daß viele<br />

unter ihnen ihre Agitation illegal weiterführten. Somit hat die Absicht der<br />

Regierung, die syndikalistische Bewegung zu sprengen, Schiffbruch gelitten; doch<br />

wurde die Bewegung beträchtlich geschwächt. Auch ist der „radikalen" Arbeiterpresse<br />

die Verhüllung des reaktionären. Treibens gegen die Syndikalisten — so sehr<br />

sie auch dafür Sorge trug — nicht vollständig geglückt. <strong>Die</strong>se Verfolgungen brachten<br />

den überlegenden Teil der norwegischen Arbeiter zum Denken, und man konnte<br />

sich der Tatsache nicht verschließen, daß eine Bewegung, die so auf Leben und Tod<br />

vom Kapitalismus verfolgt wird, doch etwas für die Arbeiterklasse bedeuten muß.<br />

Langsam bekam unsere Bewegung einen kleinen aber ständigen Zuzug aus den<br />

Reihen der Arbeiterschaft, aber wegen Mangel an Presse und Agitatoren konnten<br />

wir die Vorteile der Situation nicht ausnützen.<br />

Im Frühjahr 1919 glückte es uns, eine Wochenschrift „Alarm" herauszugeben,<br />

die seit dieser Zeit besteht und sich langsam aber sicher ausbaut. Der Ausweisungsterror<br />

der Regierung erreichte im Herbst 1919 seinen Höhepunkt und später ließ er<br />

allmählich nach. Da griffen die Kommunisten und mit ihnen die Bourgeoisie zu<br />

einer neuen Taktik. Sie verstanden, daß man den Syndikalismus nicht vernichten<br />

kann und begannen ihn totzuschweigen. Zu gleicher Zeit versuchte man insgeheim,<br />

die syndikalistischen Organisationen auf den Arbeitsplätzen zu untergraben. Sobald<br />

33


ein Syndikalist in Arbeit eingestellt war, versuchten sie ihn in die reformistische<br />

Gewerkschaft zu zwingen, mißglückte das, so wurde er dem Arbeitgeber überlassen,<br />

der den syndikalistischen Arbeiter auf die Straße warf. <strong>Die</strong> Kommunisten<br />

und Gewerkschaftler hetzen jetzt zur Fortsetzung dieses Kampfes, der nun einen<br />

mehr öffentlichen Charakter annahm.<br />

In der letzten Zeit schließen sich unserer Organisation immer mehr und mehr<br />

Eisenbahnbauarbeiter an, und die Stellung der Gewerkschaftsführer beginnt ein<br />

wenig zu schwanken. Eine weitere bedenkliche Entwicklung soll also unbedingt<br />

verhindert werden, wozu ein Kampf mit allen möglichen schmutzigen Mitteln,<br />

Lügen und Verleumdungen entfaltet wurde. In dieser Kampagne gehen die Kommunisten<br />

voran; gegenüber 17 kommunistischen und sozialdemokratischen Tagesblättern<br />

und einer Menge von Wochenschriften verfügen wir bloß über zwei<br />

kleine Wochenblätter, so daß es uns nicht immer möglich ist, alle Angriffe gebührlich<br />

zurückzuweisen.<br />

Neben unserem Blatte „Alarm" wurde im Bereiche der Rynkanwasserkräfte<br />

von unserer dortigen Organisation eine zweite Wochenschrift, betitelt „Maane",<br />

herausgegeben, doch ist die Verbreitung der Zeitschriften eine geringe und unser<br />

Buchverlag hat auch noch nicht die rechte Bedeutung. Trotz alledem haben wir<br />

das Recht, mit Hoffnung in die Zukunft zu sehen.<br />

<strong>Die</strong> unter bolschewistischer Herrschaft leidende Gewerkschaftsbewegung hat<br />

in den letzten Zeiten eine derart traurige Rolle gespielt, daß die Arbeiter, sobald<br />

sich hierzu eine annehmbare Gelegenheit bietet, massenweise die Stätte bolschewistischer<br />

Gewerkschaftspolitik mit etwas umtauschen würden, das ihnen mehr<br />

Halt und Stütze bietet; und da bleibt nichts anderes übrig als der Syndikalismus.<br />

<strong>Die</strong> Gewerkschaftsführer, zusammen mit den Bolschewisten, haben Hand in<br />

Hand mit der Regierung ein Schiedsgerichtsgesetz zustande gebracht, wodurch die<br />

Gewerkschaften unter eine staatliche Ueberwachung gestellt werden. Das neue<br />

Schiedsgerichtsgesetz brachte den Arbeitern solch gewaltige Lohnherabsetzungen<br />

ein, daß der Glaube an die revolutionären Führer stark zu schwinden beginnt. Nun<br />

wagen die Kommunisten das neue Gesetz nicht mehr offen zu verteidigen, trotzdem<br />

der Führer der gewerkschaftlichen Landesorganisation, Ole O. Lian, als Belohnung<br />

für seine Tätigkeit von der Regierung zur Genua-Konferenz gesandt wurde, während<br />

einem anderen kommunistischen Führer, Olaf Scheflö, für dieselbe „revolutionäre"<br />

Leistung die Direktorstelle im staatlichen Weinbetrieb mit 12 000 Kronen Jahresgehalt<br />

(viermal soviel als das staatliche Schiedsgericht den Arbeitern zuerkennt)<br />

zugedacht wurde. Jetzt müssen die Bolschewisten — unter dem Druck der Stimmung<br />

unter der Arbeiterschaft — erklären, daß es ein Fehler war, mit der bürgerlich-liberalen<br />

Regierung zusammenzugehen, und um die Gemüter der Arbeiter vom<br />

gefährlichen Thema abzulenken, propagieren sie jetzt die Teilnahme an den<br />

Gemeindewahlen.<br />

Es ist nur eine Frage kurzer Zeit, bis die Arbeiter Norwegens die infamen<br />

Betrügereien ihrer Führer durchblicken und verstehen werden, daß Rettung bloß<br />

die eigene revolutionäre Aktion bringen kann, und dann werden die Organisationen<br />

des revolutionären Syndikalismus in Norwegen in der Richtung der wirtschaftlichen<br />

Freiheit und des sozialen Friedens durchdringen.<br />

34


<strong>Die</strong> Spaltung der revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />

in Holland.<br />

Von B. Lansink jr.<br />

Wie in den anderen Ländern Europas haben auch in der revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />

Hollands die moskowitischen Treibereien und Machinationen<br />

ihren Einfluß nicht verfehlt. Bis Juni 1923 fanden die revolutionären Gewerkschatten<br />

in dem alten „Nationalen Arbeidssecretariaat", welches schon im Jahre 1893<br />

gegründet wurde, ihren Sammelpunkt.<br />

Infolge seiner vollständigen Selbständigkeit und seiner klaren revolutionären<br />

antimilitaristischen und freiheitlichen Prinzipien hatte das N.A.S. während des<br />

Weltkrieges und nach demselben einen sehr großen Einfluß auf die holländischen<br />

Arbeitermassen erhalten. Im Jahre 1920 war die Mitgliederzahl auf 51 000 gestiegen.<br />

<strong>Die</strong> Wochenzeitung „De Arbeid" hatte zurzeit eine Auflage von 13 000 Exemplaren.<br />

<strong>Die</strong> Solidaritätsbeiträge stiegen im Jahre 1920 und 1921 auf rund 600 000 Gulden.<br />

<strong>Die</strong> Mitgliederanzahl der angeschlossenen Föderationen waren beachtenswert. <strong>Die</strong><br />

Föderation der Hafens und Transportarbeiter hatte 18 000 Mitglieder. <strong>Die</strong> Föderation<br />

der Bauarbeiter 13 000, die der Metallarbeiter etwa 7000, die der Textilarbeiter<br />

etwa 5000. Es war für uns revolutionäre Gewerkschaftier eine Lust zu<br />

ieben! An fast 500 Orten war das N.A.S. durch einen oder mehrere Vereine vertreten.<br />

<strong>Die</strong> Anzahl der Arbeiterbörsen war gestiegen auf etwa 40 über das<br />

ganze Land.<br />

Was diese Ziffern zu bedeuten haben, kann man sich denken, wenn man weiß,<br />

daß nicht weniger als vier reformistische, katholische, evangelische und neutrale<br />

Gewerkschaftszentralen dem N.A.S. gegenüberstanden.<br />

In ideologischer Hinsicht vertrat das N.A.S. schon seit Jahren den Standpunkt,<br />

daß die Gewerkschaftsbewegung nicht nur eine Bewegung sein solle, welche für<br />

einige Pfennige mehr Lohn pro Stunde oder eine Viertelstunde kürzerer Arbeitszeit<br />

kämpfe, sondern das N.A.S. wies schon seit Jahrzehnten die holländische<br />

Arbeiterschaft darauf hin, daß der Freiheit und Brot bringende Sozialismus das<br />

endgültige Ziel der Gewerkschaftsbewegung sein muß. Immer wieder wurden die<br />

Arbeitermassen darauf hingewiesen, daß niemals der Kampf für die praktischen<br />

tagtäglichen Lebensverhältnisse die Befreiung der Arbeiterschaft zur Folge haben<br />

wird. <strong>Die</strong> sozialistische Aufklärung der Massen in ideologischer, technischer,<br />

organisatorischer und moralischer Hinsicht zur Vorbereitung und Ausbildung der<br />

Arbeiterschaft für ihre große welthistorische Aufgabe, welche sie zu erfüllen hatte,<br />

wurde fortwährend im Auge behalten.<br />

Der Kampf gegen den Militarismus war nebenher eines der wichtigsten Agitationsgebiete,<br />

und dieser Kampf wurde von einem ausgesprochen prinzipiellen Standpunkt<br />

geführt.<br />

Das N.A.S. propagierte zielbewußt die Ideen, daß nur die direkte Aktion<br />

sowohl auf ökonomischem wie auf politischem Gebiete die endgültige Befreiung<br />

bringen könnte. In der revolutionärsökonomischen Machtentwicklung liegt auch<br />

die politische Macht des Proletariats.<br />

Jetzt schon müssen die Arbeitermassen ihre Institutionen bilden, welche sie<br />

am Tage nach der sozialen Revolution für den Aufbau der freiheitlichen Gesellschaft<br />

brauchen.<br />

Das N.A.S. legte immer den Schwerpunkt der revolutionären Arbeiterbewegung<br />

in die individuelle Entwicklung der Mitglieder; in selbständiges Denken, selb-<br />

35


ständiges Urteilen und Handeln, sowie in die Initiative, damit kräftige, selbstbewußte<br />

Individuen erzogen werden das war immer die kulturelle Aktion<br />

des NA.S.<br />

Das NA.S. hatte ein eigenes Ziel, eine eigene Taktik und einen ganz selbständigen<br />

Charakter. Es war vollständig frei und unabhängig von irgendeiner<br />

politischen Partei oder religiösen Sekte. Mehr als dreißig Jahre vertrat das N.A.S.<br />

diesen revolutionären und freiheitlich=wirtschaf1Iichen Standpunkt.<br />

Im Jahre 1921 begann die Moskau»Affaire. <strong>Die</strong> Anhänger der Dritten <strong>Internationale</strong>,<br />

die Mitglieder der Kommunistischen Partei Hollands (K.P.H.) richteten<br />

ihre ganze Energie und Aktion auf die Eroberung des N.A.S. Im Paragraphen 10<br />

von den berühmten 21 Punkten der Dritten <strong>Internationale</strong> fanden sie ihre Aufgabe<br />

für ihre Tätigkeit in der Gewerkschaftsbewegung. Systematisch begannen<br />

sie mit ihren Fraktionsarbeiten. Eine Gewerkschaftskommission wurde von der<br />

K.P.H. gegründet, deren Aufgabe es war, mit geheimen Mitteln die führenden<br />

Posten im N.A.S. zu erobern und zu besetzen. Lügen, Verleumdung, Haß, Mißtrauen<br />

und Feindschaft brachten diese Gegner der alten Prinzipien des N.A.S.<br />

in die Glieder unserer alten und sich so hoffnungsvoll entwickelnden revolutionären<br />

Organisation. Bald gab es scharfe und vernichtende Diskussionen in jedem<br />

Ortsvereine, in jeder Mitgliederversammlung, in Bürositzungen, auf Kongressen<br />

usw.<br />

Es standen sich gegenüber diejenigen, welche die alten Grundsätze aufrechterhalten<br />

wollten und anderseits diejenigen, welche das N.A.S. reorganisieren<br />

wollten in Uebereinstimmung mit dem Moskauer Muster und den Moskauer<br />

Instruktionen.<br />

<strong>Die</strong> K.P.H. hielt mit ihren Anhängern, welche eine führende Rolle in den<br />

Föderationen, Arbeiterbörsen und Ortsvereinen spielten, geheime Konferenzen ab.<br />

<strong>Die</strong> Gewerkschaftskommission des K.P.H., welche nach den von der K.P.H.<br />

festgestellten Thesen arbeitete, gab den Kommunisten, welche in einer dem N.A.S.<br />

angeschlossenen Föderation Mitglieder waren, Instruktionen, wie diese Moskaujünger<br />

in der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung ihre unterirdische Wühlarbeit<br />

machen müßte, damit die Moskauer Ziele schneller zum Siege kommen.<br />

In geheimen Konferenzen wurden Beschlüsse gefaßt zur Auflösung von sonstigen<br />

Föderationen, deren Mitglieder sich dem „Nederlandsch Verbond van Vakvereenigingen"<br />

— welcher der Amsterdamer <strong>Internationale</strong> angehört — anschließen<br />

sollten. Sc wurde beschlossen, daß die Föderationen der Bergarbeiter, der Eisenbahner,<br />

der Angestellten und die Föderation der Arbeiter in den landwirtschaftlichen<br />

Betrieben aufgelöst werden müßten. <strong>Die</strong> Mitglieder sollten dann der<br />

Amsterdamer <strong>Internationale</strong> beitreten.<br />

Der Sekretär dieser Gewerkschaftskommission fuhr im ganzen Lande herum<br />

und forderte die kleinen Ortsvereine auf. sie sollten sich den Zentralverbänden anschließen.<br />

Es war den Anhängern von Moskau gelungen, durch viele Machinationen die<br />

Majorität im N.A.S.-Vorstand zu erobern. So war auch der Vorsitzende von der<br />

Gewerkschaftskommission der K.P.H. Mitglied im N.A.S.»Vorstand geworden.<br />

Im N.A.S.-Vorstand hatte er die Aufgabe, an dem Aufbau unserer Zentralkörperschaft<br />

mitzuarbeiten und als Vorsitzender der Gewerkschaftskommission<br />

hatte er die kommunistische Aufgabe zu erfüllen, dem N.A.S., seinen Charakter,<br />

sein Ziel und seine Grundsätze zu zerstören. Als unsere Genossen im N.A.S.-<br />

Vorstand den Vorschlag machten, diesen kommunistischen Parteijünger und öffendlichen<br />

Feind des N.A.S. als Vorstandsmitglied zu entsetzen, wurde dieser Vorschlag<br />

von der Moskauer Majorität abgelehnt. An dieser Ablehnung beteiligten<br />

Sich sogar auch „Anarchisten und Syndikalisten"!!<br />

36


So wurde etwa zwei und ein halbes Jahr schwer gekämpft innerhalb des N.A.S.<br />

Der Erfolg war beklagenswert. <strong>Die</strong> vordem blühende und sich sehr schön entwickelnde<br />

Organisation wurde von Tag zu Tag mehr zugrunde gerichtet. Viele<br />

sehr ernste und immer an erster Stelle kämpfende Kameraden, von denen verschiedene<br />

schon an der Wiege des N.A.S. gestanden hatten, wurden ganz<br />

apathisch und kehrten der Organisation den Rücken.<br />

<strong>Die</strong> Mitgliederzahl schmolz immer mehr zusammen, so daß das N.A.S. anfangs<br />

1923 nur noch etwa 22 000 Mitglieder zählte.<br />

Auch die Solidaritätsbeiträge wurden immer spärlicher.<br />

In kurzen Worten: es trat anstelle der vorherigen lebhaften und kraftigen<br />

Arbeit zur Erstarkung des N.A.S. eine erschreckende Gleichgültigkeit ein, Feindschaff<br />

und Mißtrauen herrschte unter den Mitgliedern. Von ernster Arbeit zur<br />

Ausdehnung der Organisation, von Propaganda für unsere alten Prinzipien, für<br />

die geistige Aufklärung der Arbeitermassen war keine Rede mehr. <strong>Die</strong> Moskauanhänger<br />

erklärten fast alle Kameraden, welche den Standpunkt der alten freiheitlichen<br />

und syndikalistischen Prinzipien vertraten, als Verräter, Bourgeoisknechte.<br />

Konterrevolutionäre usw.<br />

Zwei und ein halbes Jahr hat dieser höllische Zustand gedauert. Unsere<br />

Kameraden blieben noch immer auf ihren Posten. Zuletzt siegten die Moskauer.<br />

Infolge einer verleumderischen Agitation und mit Hilfe vieler Machinationen<br />

gelang es, bei der Urabstimmung die Majorität zu bekommen für den Anschluß an<br />

Moskau. Das alte N.A.S. war besiegt von der bolschewistischen Staatsgewalt.<br />

Was 1906 den reformistischen Sozialdemokraten nicht gelungen war — damals<br />

wurde auch in dem N.A.S. ein schwerer Kampf um seinen Charakter und seine<br />

Prinzipien ausgefochten — das hatte Moskau mit seinem Betrug und seiner Demagogie<br />

erreicht.<br />

Lange Zeit haben unsere Genossen versucht, das N.A.S. zu behalten, wir haben<br />

es leider verloren. Man kann sagen, daß wir viel zu lange versucht haben, die<br />

Einheit im N.A.S. zu bewahren, und viel zu lange yersäumt haben, das zu tun, was<br />

die Pflicht dringend gebot, nämlich die Stellung zu nehmen: Wir oder die Moskauer<br />

Zerstörer müssen aus der Organisation heraus.<br />

Das traurige Schicksal des N.A.S. hat uns gelehrt, daß es vollständig unmöglich<br />

ist, zwei grundsätzlich so scharf einander gegenüberstehende Auffassungen,<br />

wie den autoritären bolschewistischen Staatssozialismus und unseren freiheitlichen<br />

Kommunismus in einer einzigen Organisation zusammenzuhalten. Das kann<br />

nur durch Preisgabe der eigenen Grundsätze geschehen. Der Sieg der Einen<br />

bedeutet den Untergang der Anderen. Wir haben es zwei lange Jahre versucht<br />

und das Ende war: Mißtrauen, Feindschaft, Betrug, Verrätergeschrei und eine ganz<br />

zertrümmerte Organisation, welche von innen aus durch das sengende Feuer der<br />

Zwietracht lahmgelegt und vernichtet wurde.<br />

Wenn wir Kenntnis nehmen von den Tatsachen, welche sich in der C.G.T.U.<br />

in den Reihen unserer französischen Kameraden abspielen, dann werden wir, die<br />

wir uns von dem alten, von dem Bolschewismus eroberten N.A.S. losgerissen<br />

haben, in unserer Auffassung nur gestärkt.<br />

Im Juni 1923 wurde der Nederlandsch Syndicalistisch Vakverbond (N.S.V.)<br />

gegründet und damit fing für uns wieder eine ganz neue Periode von ehrlichem,<br />

kameradschaftlichem Wirken und freudiger Propaganda an, zum neuen Aufbau<br />

unserer alten, revolutionären, freiheitlich-kommunistischen Gewerkschaftsbewegung.<br />

Obwohl anfangs viele holländische (und vielleicht auch mehr oder weniger ausländische)<br />

Genossen unsere Tat nicht richtig einschätzten, so haben wir jetzt die<br />

Anorkennung von vielen Arbeitern gefunden, daß wir sehr richtig handelten, als<br />

37


wir zur Rettung unserer alten reinen Fahne den N.S.V. gründeten. Jetzt haben<br />

wir in unseren Organisationen wieder Harmonie, Kameradschaft, und können<br />

freundschaftlich zusammen arbeiten, wie wir es die letzten Jahre im N.A.S. nicht<br />

mehr konnten.<br />

Zielbewußt können wir jetzt arbeiten für die Verbreitung unserer Prinzipien<br />

und an dem geistigen, technischen und organisatorischen Aufbau auf der Grundlage,<br />

auf welcher die neue freiheitliche Gesellschaft sich erheben wird.<br />

Es lebe der freiheitliche Kommunismus!<br />

Es lebe der revolutionäre Syndikalismus!<br />

Anarchismus, Syndikalismus und Antimilitarismus<br />

in Oesterreich.<br />

Von Pierre Ramus.<br />

Schon seit jeher ist die österreichische sozialistische Bewegung den Wegspuren<br />

der reichsdeutschen gefolgt. Das will besagen, daß nach einer kurzen, flüchtigen<br />

Periode der radikalen sozialdemokratischen Bewegung in den 80 er Jahren diese<br />

— nicht zuletzt unter dem Einfluß reichsdeutscher Persönlichkeiten, wie Kautsky<br />

und anderer — in das Fahrwasser der gemäßigten sozialdemokratischen Richtung<br />

des Marxismus übergegangen ist. Angesichts der äußerst dürftigen und bescheidenen<br />

historischen Entwicklungstendenzen sozialistischer Art, die es in Oesterreich<br />

überhaupt gegeben hat, und angesichts der abschreckenden Einwirkung, die die verschiedenen<br />

Attentate und Gewaltbetätigungen der radikalen Bewegung seinerzeit<br />

ausgeübt hatten, war es nur selbstverständlich, daß die Arbeiterbewegung in das<br />

Becken der Sozialdemokratie und deren zentralistischer Gewerkschaftsbewegung<br />

einmündete. Der Anarchismus, auch diejenigen, die sich irrtümlich diesen Namen<br />

beilegten, wie auch wirklich wertvolle Ansätze desselben, verschwanden mit der<br />

Zeit, bis 1907 in Wien der „Wohlstand für Alle" gegründet wurde. Allein, obwohl<br />

es eine große Genugtuung für die damals kleine Bewegung des kommunistischen<br />

Anarchismus und des revolutionären Syndikalismus, letzterer organisiert unter dem<br />

Titel „Allgemeine Gewerkschaftsföderation Oesterreichs", bedeutete, daß die Bewegung<br />

sich und ihr eigenes Organ mit einer Zirkulation von etwa 1500—2000 Exemplaren<br />

zu erhalten vermochte (in dem damals territorial großen Oesterreich-Ungarn),<br />

so war es ihr dennoch unmöglich, die Macht der Sozialdemokratie zu beeinträchtigen,<br />

die unumschränkt das österreichische Proletariat führte und insbesondere<br />

durch das 1905 gewährte allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht nun rapid zu<br />

einer großen parlamentarischen Korrumpierungspartei des Sozialismus ward.<br />

Von allen Verheißungen und Versprechungen, die die Sozialdemokratie zu<br />

jener Zeit dem Proletariat machte, hat sich nichts realisiert, sondern das Endergebnis<br />

war der ganz der reichsdeutschen Schwesterbewegung ähnliche Verrat<br />

des Proletariats an die Dynastie, für die Kriegszwecke derselben, im Jahre 1914.<br />

Vielleicht muß man den Verrat der österreichischen Sozialdemokratie noch als<br />

schmachvoller werten, denn den der deutschen Sozialdemokratie, weil erstere durch<br />

die absolutistische und despotische Vertagung des Parlaments die Möglichkeit<br />

gehabt hätte, von vornherein sich gegen den Krieg als eine bewußte Verfälschung<br />

des Volkswillens zu kehren.<br />

Jedoch die österreichische Bewegung handelte so, wie es im Laufe des Juli 1914<br />

ihr damaliger Führer Dr. Viktor Adler im „<strong>Internationale</strong>n sozialistischen Büro" zu<br />

Brüssel — laut Angabe seines Sohnes Friedrich vor Gericht — erklärt hatte: <strong>Die</strong><br />

österreichische Sozialdemokratie würde gegen die Durchführung der Mobilisierung<br />

und die einmal vollzogene Proklamation eines Krieges nichts tun! Es ist dies<br />

historisch um so belangvoller, als schon im Jahre 1909, anläßlich seines Aufenthaltes<br />

38


in Zürich, der Schreiber dieser Zeilen im Laute eines antimilitaristischen Vortrages<br />

dort selbst vorausgesagt hatte, daß die österreichische Sozialdemokratie im Ernstfalle<br />

so handeln würde. Damals bestritt Friedrich Adler, der in dieser Versammlung<br />

anwesend war, die Möglichkeit eines solchen Standpunktes seiner Partei. <strong>Die</strong><br />

Erfahrung hat gelehrt, wer recht behalten hat.<br />

Unter der Oberherrschaft der Sozialdemokratie und des Marxismus in der österreichischen<br />

Arbeiterbewegung konnte es natürlich auch nur in kleinen Gruppierungen<br />

eine unabhängige, selbständige, revolutionärssozialistische Bewegung des<br />

Syndikalismus in Oesterreich vor dem Kriege geben. <strong>Die</strong>se Bewegung ging sozusagen<br />

völlig auf in der des kommunistischen Anarchismus, von der man behaupten<br />

darf, daß sie vor dem Kriege durchaus identisch mit dem gesamten revolutionären<br />

Syndikalismus war, den es hier gab. <strong>Die</strong> Propaganda und Agitation war eine vornehmlich<br />

gewerkschaftlich revolutionierende, die den Syndikalismus insbesondere<br />

als Organisation des Generalstreiks, sowohl für die Gegenwartsinteressen des Proletariats,<br />

wie als einen Faktor der Kriegsdienstverweigerung auf wirtschaftlichproduktivem<br />

Gebiet gegenüber einer Kriegsenventualität vertrat. Welche Folgen<br />

die Bekämpfung dieser Bewegung seitens der Sozialdemokratie für das österreichische<br />

Proletariat gehabt hat, weiß heute jeder objektiv urteilende Mensch. <strong>Die</strong><br />

Geschichte selbst hat ihr Urteil über die Sozialdemokratie Oesterreichs gefällt, und<br />

das Proletariat hat dafür furchtbar büßen müssen, daß es durch den Marxismus behindert<br />

ward, den Anarchismus und revolutionären Syndikalismus intellektuell und<br />

praktisch zu erfassen.<br />

Leider hat auch die Kriegserfahrung in ihrer ganzen entsetzlichen Gräßlichkeit<br />

das österreichische Proletariat noch keineswegs belehrt, die Sozialdemokratie zu<br />

durchschauen und gedanklich zu überwinden. Ganz besonders sind es zwei Faktoren,<br />

die dabei mitgewirkt haben, daß die österreichischen Arbeiter auch gegenwärtig<br />

noch unendlich weit entfernt sind, eine des Namens einer revolutionären<br />

Arbeiterbewegung würdige Aktionskörperschaft der sozialen Befreiung zu sein.<br />

In schlauer Anpassung an die Gedankenlosigkeit und Trägheit der durchschnittlichen<br />

menschlichen Natur unterließ die Sozialdemokratie es stets, die große Idee<br />

des Sozialismus in auch nur nennenswertem Maße im Proletariat zu propagieren;<br />

nicht einmal vom sozialdemokratischen Standpunkt aus wurde dies getan. <strong>Die</strong><br />

Masse wurde immer mit den kleinlichsten und selbsttäuschendsten Augenblicksund<br />

Tagesinteressen abgespeist, wodurch ihr Geistesleben unentwickelt blieb<br />

und nicht heranwuchs zu den Aufgaben des Sozialismus und der sozialen Revolutien.<br />

<strong>Die</strong> Gewerkschaften bestanden und bestehen zum Zwecke der Beilegung<br />

ökonomischer Konflikte zwischen Kapital und Arbeit, keineswegs um jene zu einem<br />

revolutionären Austrag gelangen zu lassen. Alles übrige wird verseucht vom Parlamentarismus<br />

und der Wahlpolitik der Sozialdemokratie, keinen Raum übrig lassend<br />

für irgendeine andere Tätigkeit. Selbst wo diese scheinbar andere, wirtschaftliche<br />

Wege schreitet, wie zum Beispiel jüngst in der Gründung einer sogenannten Arbeiterbank,<br />

so vermeine man nur nicht, daß es sich dabei um eine posthume Verwirklichung<br />

proudhonistischer Bestrebungen handelt. In der Tat ist die Arbeiterbank<br />

diesen wohl entlehnt und, wie auch in vielen anderen Fällen, so auch in diesem,<br />

rückt die österreichische Sozialdemokratie von einer praktischen Anwendung des<br />

Marxismus ab, doch nur, um eine proudhonistische Idee mißbräuchlich, das heißt,<br />

vollkommen verbürgerlicht in Anwendung zu bringen.<br />

Ein weiterer Faktor, der die Bewegung des österreichischen Proletariats weit<br />

zurückgeworfen hat, ist der Bolschewismus, respektive der Pseudokommunismus.<br />

Als die Massen der erbitterten, hungernden und verzweifelten Soldaten aus den<br />

Schützengräben zurückströmten und im Gefolge der durch einen dynastischen<br />

Kabinettsirrtum selbst herbeigeführten Auflösung des alten österreichischen staatlichen<br />

Nationalitätenverbandes der gesamte Zusammenbruch der gewesenen<br />

Monarchie erfolgte, da hungerten und dürsteten diese Massen nicht nur nach leib-<br />

r OQI 39


lichem Brot, sondern auch nach geistiger Nahrung und Neuorientierung. Unzweifelhaft<br />

wollten sie damals etwas tun im Sinne wahrer Befreiung. Hilfesuchend blickten<br />

sie zu ihren Führern empor und besaßen zugleich nicht nur die materielle, sondern<br />

auch die militärische Macht in ihren Händen, denn diese waren bewaffnet.<br />

Allein diese Führer boten den Massen keinen Sozialismus dar keinen Gedanken,<br />

wie diesen konkret zu verwirklichen. Es erfolgte keine Expropriation des<br />

massenhaft brachliegenden Grundes und Bodens, es erfolgte keine Besitznahme<br />

der in ungeheurer Fülle vorhandenen und vielfach unbenutzt dastehenden Produktionsmittel,<br />

es erfolgte keine Neugruppierung der zu vielen Zehntausenden ratlos<br />

dastehenden Arbeitslosen und eine Verwirklichung sozialistisch-kommunistischer<br />

Ideen mittels dieser. Statt dessen erfolgte ein schändlicher Volksbetrug; eine<br />

Reihe von scheinreformativen Gesetzen wurde erlassen, offenkundig zur Betörung<br />

und Lahmlegung der Wirtschaftlichen Kräfte des Proletariats und zugleich entspann<br />

sich ein Kampf zwischen den sozialdemokratischen Führern selbst um den Besitz<br />

der Macht. <strong>Die</strong> einen besaßen die Macht und verkündeten in ihrem Namen die<br />

„Demokratie"; die andern erstrebten die Macht (die „Kommunisten") und verkündeten<br />

im Namen dieses Strebens eine „Diktatur des Proletariats", welche die<br />

ersteren — die Sozialdemokraten — praktisch ohnedies ausübten und darum keineswegs<br />

das russische Vorbild der ausschließlichen Machtergreifung nachahmen<br />

wollten, weil sie den Bankerott des russischen Beispiels bereits 1919 klar erkannten.<br />

Zwischen diesen brudermörderischen Kämpfen der Marxisten auf beiden Seiten<br />

stand das Proletariat und verlor in diesem Rivalitätskampfe alles, was es der Bourgeosie<br />

hätte gefährlich machen können: vornehmlich ein klares Wollen und eine<br />

wirtschaftlich orientierte, direkte Aktion der Verwirklichungstat.<br />

Anarchismus und Syndikalismus waren größtenteils ohnmächtig gegenüber<br />

diesen Ereignissen. Zumal nur eine ganz kleine Zahl von Kameraden aus der Zeit<br />

vor dem Kriege ihren Prinzipien treu blieb. Der überwiegend größte Teil lief leider<br />

zum Bolschewismus über und bekämpfte nun direkt wie indirekt, im Auftrage und<br />

Interesse der „kommunistischen" Partei Oesterreichs, die anarcho-syndika!istische<br />

Bewegung. Unter den größten Schwierigkeiten wurde der Bund herrschaftsloser<br />

Sozialisten im Dezember 1918 ins Leben gerufen und es mußte mit einer Sammlung<br />

von Kräften geradezu von vorn begonnen werden. Angesichts der horrenden<br />

Arbeitslosigkeit, die nach dem Zusammenbruch einsetzte, vermochte eine syndikalistische<br />

Propaganda keineswegs zu interessieren und war innerhalb einer Revolution,<br />

von der man noch nicht wissen konnte, was sie bringen würde, die entschiedene<br />

Stellungnahme im Sinne des Endziels Pflicht und Gebot aller Kameraden.<br />

Ihr wurde auch entsprochen, und mit der Zeit vollzog sich eine reinliche Scheidung,<br />

in der ein Teil von früheren Kameraden wieder den Weg zu uns fand, ein weitere.<br />

Teil aber völlig aufging in der „kommunistischen" Partei, in den von ihr ins Leben<br />

gerufenen gewerkschaftlichen Keimzellen — hier „revolutionäre Blocks" genannt —<br />

innerhalb der Zentralverbände; ein restlicher Teil von sogenannten Kameraden<br />

entschwand überhaupt aus dem Gesichtsbereich jeder propagandistischen Tätigkeit.<br />

Gegenwärtig ist die Situation diese, daß die einzige aktive und bestehende<br />

Organisation in Oesterreich, die eine erklärt anarchistische und innerhalb der Arbeiterschaft<br />

anarcho»syndikalistischc Tätigkeit entfaltet, die des Bundes herrschaftsloser<br />

Sozialisten ist. Trotz der heutigen Kleinheit des Landes hat sich die<br />

Bewegung mehr als verdreifacht in ihrem Umfang und findet das wöchentliche<br />

Organ unseres Bundes: „Erkenntnis und Befreiung" seinen Weg in alle größeren<br />

Städte und Ortschaften Oesterreichs. Eine ausschließlich syndikalistische Propaganda<br />

zu entfalten, ist für Oesterreich aus mehrfachen Gründen eine praktische<br />

Unmöglichkeit, vorerst, weil diejenigen Elemente, die imstande wären, die Arbeiterschaft<br />

zum Austritt aus den bestehenden Zentralverbänden zu veranlassen<br />

und die vornehmlich aus früheren Genossen des österreichischen Syndikalismus<br />

40


estehen, sich innerhalb der „kommunistischen" Partei befinden und in ihrer gewerkschaftlichen<br />

Aktivität durch die oben angeführten „revolutionären Blocks"<br />

nichts anderes mehr anstreben, als an die Stelle der heutigen Führer der sozialdemokratischen<br />

Organisation zu gelangen. Eben deshalb unterlassen sie es auch völlig,<br />

deren zentralistischen Charakter zu bekämpfen, sondern wollen eigentlich nur die<br />

Uebernahme dieses ganzen, das Proletariat knechtenden Apparates. Würden nun<br />

wir herrschaftslosen Sozialisten den Austritt aus den bestehenden Gewerkschaften<br />

propagieren, so würden beide Teile — Sozialdemokraten wie „Kommunisten" —<br />

sich gegen die herrschaftslosen Sozialisten kehren und diese in sämtlichen Betrieben<br />

des kleinen Oesterreichs spielend leicht unmöglich machen. Letzteres geschieht<br />

vielfach den „Kommunisten" seitens der Sozialdemokraten, was aber bei den „kommunistischen"<br />

Elementen nicht allzu zermalmend wirkt, da sie ihren Rückhalt in<br />

der von Moskau subventionierten, „kommunistischen" Partei haben und finden. So<br />

erachten wir es denn als zweckmäßiger, die im Bunde herrschaftsloser Sozialistsr.<br />

befindlichen Arbeiter fortgesetzt in anarcho-syndikalistischem Sinne aufzuklären<br />

und eine Herausschälung der syndikalistischen, selbständigen Organisation der<br />

Zeitentwicklung zu überlassen.<br />

<strong>Die</strong>se wirkt mächtig für uns, obwohl wir insbesondere gehemmt werden durch<br />

die „kommunistische" Irreführung, deren materielle Mittel zur Gewinnung von<br />

Massen naturgemäß größer sind, als die unsrigen. Nichtsdestoweniger ist es schon<br />

heute absehbar, daß aus den Enttäuschungen, die der Masse auch in der pseudokommunistischen<br />

Partei harren, unsere Saat erblühen wird. Umsomehr als die<br />

„Kommunisten" genötigt sind, Schlagworte in die Masse zu werfen, die einerseits<br />

verwirrend, andererseits förmlich mit Gewalt zur Durchschauung ihrer Demagogie<br />

geleiten.<br />

So zum Beispiel haben die „Kommunisten" heute schon einen vollständigem<br />

Bankerott mit ihrer Phrase von der Mächteroberung durch die Arbeiterräte. Heute<br />

ist es so, daß die „Kommunisten" sitfh aus dem Arbeiterrat selbst ausgeschlossen<br />

haben, weil sie dessen reaktionäre Möglichkeit der Zusammensetzung nicht hintenanzuhalten<br />

vermochten. Das Proletariat sieht und empfindet somit, welch eine<br />

Illusion dieses kommunistische Schiboleth ist. Aehnliches hat sich auf dem Gebiete<br />

der Betriebsräte herausgebildet. Wie der Marxist Otto Bauer in seinem<br />

neuesten Werk, betitelt „<strong>Die</strong> österreichische Revolution" feststellt, waren die Betriebsräte<br />

für die Sozialdemokraten nie anders gedacht, denn als Werkzeug, um sowohl<br />

für den Staat wie für das Unternehmertum die „Arbeitsdisziplin" im Betriebe<br />

zu wahren, die für den „Wiederaufbau" des Kapitalismus unerläßlich war. So sind<br />

Betriebsräte in Oesterreich größtenteils ein Handlangertum der Feinde des Proletariats<br />

geworden, während ein Hauptschlagwort der „Kommunisten" heute ist,<br />

die „Einberufung eines Betriebsrätekongresses" des ganzen Landes zu verlangen,<br />

um, wie sie behaupten, eine Neuorientierung der Arbeiterbewegung herbeizuführen,<br />

welche Erwartung — durch die Betriebsräte zu erfüllen — natürlich hohlste Phrase<br />

ist. Zur Selben Kategorie offenkundiger Ablenkung der Arbeiterschaft von ihren<br />

revolutionären Aufgaben gehört auch die neuerlich an die Stelle der „Diktatur des<br />

Proletariats" getretene Forderung nach einer „Arbeiten und Bauernregierung" ohne<br />

Rücksicht darauf, daß eben der Großteil der Arbeiter und Bauern — besonders der<br />

letzteren — in Oesterreich rückständig, konservativ und keineswegs revolutionärsozialistisch<br />

ist. Alle diese gehaltlosen, sinnverwirrenden Redensarten der „Kommunisten"<br />

finden ihre, besonders durch ihren Gewaltstandpunkt prononzierteD<br />

Neuauflagen und Karikaturen in den dadurch aufgelebter», ausgesprochen reaktionären<br />

Verbänden der Hakenkreuzler, deren gelben Arbeitervereinigungen, der<br />

wiederbewaffneten Banden der Frontkämpfer und bäuerlichen Heimwehren.<br />

Aber auch die Sozialdemokratie wankt in ihren Fundamenten, soweit diese<br />

proletarischer Art sind. Noch hat sich außer einer kleinen Schuhmachergewerk-<br />

41


schaft, in der sich Anarchisten und Kommunisten vereinigt befinden, kein wirklicher<br />

Bruch zwischen ihr und der Gewerkschaftsbewegung vollzogen. <strong>Die</strong> kommunistischen<br />

Bemühungen in dieser Richtung sind in Oesterreich völlig vergeblich,<br />

da die Masse der sozialdemokratischen Arbeiter sehr wohl durchschaut, daß der<br />

Unterschied zwischen ihrer eigenen Partei und der der „Kommunisten" nur ein<br />

Rivalitätskampf der Führer ist. Was aber die Sozialdemokratie bis in ihre Fundamente<br />

erschüttert, ist ihre „proletarische Macht", die sie besonders in Wien, im<br />

Gemeinderat, besitzt.<br />

Wie wir Anarcho - Syndikalisten es stets betont haben, bedeutet die Praxis<br />

der „Eroberung der politischen Macht" nichts weiter als die Fortführung<br />

und Wahrnehmung der kapitalistisch - staatlichen Interessen durch die zur<br />

polirischen Macht gelangenden Parteiführer. In dieser Beziehung ist die Sozialdemokratie<br />

als Vertreterin des Unternehmerinteresses im Gemeinderat Wiens und<br />

den diversen Kommunalbetrieben mit den in diesen beschäftigten Arbeiterkategorien<br />

schon des öfteren in die grimmigsten Konflikte geraten. Da die meisten<br />

Gewerkschaftsführer der Zentralverbände zugleich Politiker — Nationalräte, Gemeinderäte,<br />

Stadträte,— sind, vertreten sie als solche das Interesse des bürgerlichen<br />

Staates und der Kapitalisten, was naturgemäß den wirtschaftlichen Klasseninteressen<br />

des Proletariats zuwiderläuft. Da diese Führer als Gewerkschaftler nun<br />

beflissen sind, die Mitglieder derselben in ihren Kampfforderungen möglichst niederzuhalten,<br />

kommt es häufig zu Reibungen. Eine solche hat auch zu einem um<br />

überbrückbaren Bruch in der sozialdemokratischen Straßenbahnerorganisation<br />

Wiens geführt, in der sich eine ziemlich starke Minorität (die sogenannte Babinecgruppe;<br />

Babinec war langjährig organisierter Sozialdemokrat) loslöste und eine<br />

selbständige Organisation — bezeichnenderweise nannte sie sie: eine unpolitische —<br />

gründete.<br />

Der Kampf, den der Zentralverband gegen diese selbständige Organisation<br />

führte, ist ein jedweder Solidarität hohnsprechender. Afs im Sommer 1923 diese<br />

selbständige Organisation zur Erzielung höherer Löhne bei der sozialdemokratischen<br />

Gemeinde Wiens, als ihrer Unternehmerin, die passive Resistenz gegen<br />

diese eröffnete, weil sie mit ihr nicht verhandeln wollte, wurde diese rein wirtschaftliche<br />

Aktion der frondierenden Straßenbahner durch Gewalt, Streikbruch<br />

und dessen Androhung aufs brutalste — wiewohl „demokratisch" verkleidet —<br />

niedergeschlagen, seitens derselben Politiker, gegen die der Kampf sich eigentlich<br />

kehrte! Immerhin sind solche Symptome leuchtende Anzeichen dafür, daß die<br />

Sozialdemokratie gerade im Vollbesitze ihrer Macht naturnotwendig eine als<br />

Arbeiterbewegung sich abwirtschaftende Sache ist. —<br />

Außer dem Bund herrschaftsloser Sozialisten besteht in Oesterreich noch<br />

der von diesem ins Leben gerufene Bund der Kriegsdienstgegner, der eine<br />

ausgesprochen antimilitaristische Propaganda im Sinne des radikalsten Pazifismus<br />

betreibt. Der Bund der Kriegsdienstgegner beruft auch alljährlich die Niewieder-Krieg-Volkskundgebung<br />

am 29. Juli ein. Um ein Bild seines Einflusses zu<br />

bieten, genügt es, darauf hinzuweisen, daß an der durch den Bund der Kriegsdienstgegner<br />

zusammen mit dem Bunde herrschaftsloser Sozialisten initiierten, antikriegerischcn<br />

Demonstration des Jahres 1923 die folgenden Vereinigungen sich beteiligten:<br />

Monistenbund, Tolstoibund, Frauenklub, Gesellschaft für Friedenserziehung, Freidenker,<br />

Verein ehemaliger Kriegsteilnehmer (Gäste), Landesverband Wien der<br />

Kriegsinvaliden und Kriegshinterbliebenen, „Allgemeine Nährpflicht", Innenkolonisationsverein<br />

„Zurück zur Scholle", Arbeiterinnengruppe der Frauenliga für Frieden<br />

und Freiheit.<br />

Aus obigem geht hervor, daß die Grundlage der gesamten antimarxistischen<br />

und selbständig vorgehenden Bewegungen des österreichischen Proletariats im<br />

Bunde herrschaftsloser Sozialisten beruht, dessen Zusammensetzung eine überwie-<br />

42 (421


gend durchaus proletarische ist, sämtliche Berufe und Industrien der Produktion<br />

umfassend. Heute schon ist vorauszusehen, daß die Irreführung des Proletariats<br />

durch Sozialdemokratie und Pseudokommunismus nicht mehr endlos währen kann.<br />

Damit die nächste Stufe der Entwicklung des österreichischen Proletariates eine<br />

herrschaftslos-sozialistische, eine anarcho-syndikalistische sei, auf diesen Zeitpunkt<br />

bereitet der Bund herrschaftsloser Sozialisten das Proletariat Oesterreichs vor, nach<br />

Kräften bemüht, diesen Wendepunkt der Erneuerung und neuen Zielsetzung der<br />

Arbeiterbewegung zu beschleunigen.<br />

<strong>Die</strong> Lage in Mexiko.<br />

Von I. C. Valades.<br />

Sonderbericht der I.A.A.<br />

Vorbemerkung.<br />

In dem Wahlkampf von 1923—1924 figurierten drei Parteien: die Arbeiter-<br />

Partei, die sich aus den Elementen der C.R.O.M. (Regionale mexikanische Arbeiter-<br />

Conföderation) zusammensetzt; die sogenannte Cooperatistische Partei, welche die<br />

staatsbürokratischen Elemente umfaßt, und die Demokratische Partei, in welcher<br />

sich die Grundbesitzer und Kapitalisten zusammenfinden.<br />

Es sei hier angeführt, daß der Präsident Obregon der Arbeiterpartei seine<br />

moralische und materielle Hilfe angedeihen ließ. <strong>Die</strong> Cooperatistische Partei, an<br />

deren Spitze Adolfo de la Huerta steht, hat ihr Zentralbüro nach der Hafenstadt<br />

Veracruz verlegt und steht im stillschweigenden Einverständnis mit dem General<br />

Guadelupe Sanchez, der sich im Aufstand gegen die Präsidentschaft Obregons<br />

befindet. Zwei oder drei Tage später wurde die Bewegung der Aufständigen von<br />

verschiedenen Generalen unterstützt, die unmittelbar die Landstriche am Stillen<br />

und Atlantischen Ozean unter ihrer Kontrolle hatten.<br />

<strong>Die</strong> Tätigkeit der Regionalen Mexikanischen Arbeiter-Conföderation.<br />

Kaum hatte die Bewegung von Veracruz ihren Anfang genommen, als die<br />

Zentrale der C.R.O.M. — ebenso wie die Kommunistische Partei Mexikos — ein<br />

Manifest herausgab, in dem sie die Arbeiter aufforderte, die Waffen zu ergreiten,<br />

um die Regierung Obregons zu verteidigen. Man ernannte einen sogenannten Revolutionsausschuß,<br />

der sich damit beschäftigte, Arbeiter» und Bauernbataillone zu<br />

formieren. Herr Celestino Gasca, General und gewesener Statthalter der Föderativrepublik,<br />

der in derselben Zeit ein prominentes Mitglied der Arbeiterpartei<br />

ist, kam nach Puebla, dem bedeutendsten Zentrum der mexikanischen Textilindustrie,<br />

welches 35 Fabriken mit 28 000 Arbeitern, die der C.R.O.M. angeschlossen<br />

sind, umfaßt, und forderte die Arbeiter auf, die „sozialistische" Regierung Obregons<br />

zu verteidigen. Allein, als die Arbeiter seiner Aufforderung kein Gehör schenkten,<br />

brachte man sie im Handumdrehen dazu, indem man mit der Hilfe des Gouverneurs<br />

sämtliche Fabriken schloß. Infolge dieser Tat ließen sich ungefähr 900 Arbeiter<br />

anmustern, die man alle von der Stadt Puebla entfernte. Am dritten Sitzungstage<br />

unseres jüngst stattgehaben Kongresses erschienen zehn der Arbeiter, die man von<br />

Puebla hinweggeführt hatte, als Delegation einer großen Zahl ihrer Kameraden.<br />

In der Gegenwart des ganzen Kongresses führten sie aus, daß der größte Teil ihrer<br />

Genossen einem betrügerischen Manöver zum Opfer gefallen sei, und erbaten die<br />

Hilfe der C.G.T. (Allgemeine Föderation der Arbeit); ebenso drückten sie den<br />

Wunsch aus, nach Puebla zurückkehren zu können. <strong>Die</strong> Rüstungsarbeiter, welche<br />

der C.R.O.M. angeschlossen sind, wurden von derselben Organisation verpflichtet,<br />

sich mobilisieren zu lassen, und nur durch die Drohung eines Streiks mußte sie<br />

später von ihrem Vorhaben Abstand nehmen.<br />

43


Um die Arbeiter der Waffenfabriken einzuschüchtern, gab die C.R.O.M. ein<br />

Manifest heraus, in dem sie ihren Anhängern jeden Streik streng untersagte und<br />

jeden Versuch dieser Art als konterrevolutionär bezeichnete. In derselben Zeit<br />

untersagte sie der Vereinigung der Typographen, keinen Satz herzustellen, „durch<br />

welchen die Stabilität der Regierung gefährdet werden könnte". Und da dis<br />

Arbeiter der beiden Tageszeitungen „La Mañana" und „El Boletin" keiner Organisation<br />

angehörten, griff man die Druckereien der beiden Oppositionsblätter an und<br />

zerstörte sie.<br />

<strong>Die</strong> Tätigkeit der Bauern.<br />

<strong>Die</strong> Organisation der Bauern hat in Mexiko einen ganz besonderen Charakter.<br />

<strong>Die</strong> Syndikate wurden nicht durch die Peones (Feldarbeiter) gegründet; sie entstanden<br />

vielmehr in kleinen Regionen, wo die meisten Haciendas und Latifundien in<br />

Stücke geschlagen wurden. Auf diese Weise wurden die Syndikate von den Bauern<br />

ins Leben gerufen, welche Land erhielten, und die sich nun zusammenschlössen, um<br />

ihre neue Position zu verteidigen. <strong>Die</strong> Syndikate, welche der C.G.T. angeschlossen<br />

sind, haben die Ländereien, welche den Grundbesitzern direkt entrissen wurden,<br />

mit der Absicht übernommen, dieselben nachher gemeinschaftlich zu bearbeiten.<br />

<strong>Die</strong>se Taktik führte zu zahllosen bewaffneten Kämpfen der Bauern gegen die bewaffneten<br />

Kräfte der Grundbesitzer, die durch die Macht des Staates unterstützt<br />

wurden. <strong>Die</strong> stärksten Zentren der Bauern, welche der C.G.T. angehören, befinden<br />

sich in den Provinzen von Nayarit, Veracruz, Mejico und Puebla, vorzüglich in<br />

Puebla, und fanden ihren organisatorischen Ausdruck in der Gründung einer<br />

Föderation der Bauern, der 67 Syndikate angeschlossen sind. Während der großen<br />

Streikbewegung, welche die C.G.T. in Veracruz und in der Hauptstadt anführte,<br />

haben die Bauernsyndikate die streikenden Genossen wirksam unterstützt, indem<br />

sie ihnen große Mengen von Getreide zuführten.<br />

Zur Verteidigung der den Grundbesitzern entrissenen Ländereien unterhalten<br />

die Bauern kleine Scharen freiwilliger bewaffneter Streitkräfte.<br />

Da der Arbeiterpartei die Position der Bauernföderation von Puebla gut<br />

bekannt war, versuchte sie durch ihre Agenten dieselbe zu veranlassen, sich ihrer<br />

Partei anzuschließen, wobei sie hauptsächlich von dem Wunsche geleitet wurde,<br />

die bewaffneten Streitkräfte der Föderation für die Verteidigung der „sozialistischen<br />

Sache" Obregons verwenden zu können. Allein unsere Genossen von der Bauern-<br />

Föderation, welche von einem starken antistaatlichen Geiste durchdrungen sind —<br />

eine Erscheinung, die auch bei dem nicht organisierten Volke überall zu finden<br />

ist — konnten sich nicht dazu verstehen, ihre Kräfte anders als zur Verteidigung<br />

des von ihnen eroberten Landes verwenden zu wollen.<br />

Aber sogar die wenigen Bauern, auf welche die C.R.O.M. rechnete, wiesen den<br />

Vorschlag, der ihnen hier gemacht wurde, entschieden zurück und weigerten sich,<br />

sich einer politischen Partei anzuschließen oder an- den sogenannten Wahlkämpfen<br />

Anteil zu nehmen.<br />

An den letzten politischen und bewaffneten Bewegungen haben die Bauern<br />

einen starken und entscheidenden Anteil genommen, aber sie taten dies nicht unter<br />

dem Einfluß irgendeiner politischen Partei, sondern unter dem Einfluß ihrer alten<br />

Losung: „Land und Freiheit", die, wie der Genosse Souchy in einer Broschüre,<br />

welche im Verlag von „La Protesta" erschienen ist, mit Recht sagt, noch stets die<br />

Parole aller vom anarchistischen Geiste getragenen Volksbewegungen gewesen ist.<br />

Aber auch angesichts der Ereignisse von Veracruz, die wir bereits früher<br />

erwähnt haben, mobilisierten die Bauernorganisationen, die unabhängig geblieben<br />

sind, — und das ist gerade die große Mehrheit, die bereits eine Million organisierte<br />

Mitglieder umfassen — ihre Kräfte nicht wie bei früheren Gelegenheiten. Zur<br />

Illustration mag der folgende Brief dienen, welcher dem Sekretariat der C.G.T.<br />

zuging, und der folgenden Wortlaut hatte:<br />

44


„Regionale Rote Garden. Puebla, den 5. Januar 1924.<br />

Genosse Generalsekretär der „Allgemeinen Arbeiter-Föderation".<br />

San Juan de Letrán 34 Mexico, D. F.<br />

Kameraden der Conföderation! Durch die Tagespresse haben wir erfahren,<br />

daß in dieser Stadt ein Arbeiterkongreß tagt, an dem wir leider nicht teilnehmen<br />

können, da wir unter den Waffen stehen, um unsere Ländereien zu verteidigen.<br />

Kameraden der Confoderation! Wir teilen Euch gleichzeitig mit, daß wir regionale<br />

rote Garden gebildet haben, um uns gegen die Grundbesitzer verteidigen zu<br />

können, vornehmlich gegen die von De la Huerta, die von unseren Feinden bewaffnet<br />

wurden, uns zu bekämpfen. Denkt nicht, daß wir aus diesem Grunde<br />

Wegelagerer geworden sind, wir sind nichts anderes als überzeugte Anhänger des<br />

freiheitlichen Kommunismus. Wir teilen Euch auch mit, daß diejenigen, welche<br />

Euch übel gesinnt sind (dies bezieht sich auf die C.R.O.M.) uns zu wissen getan<br />

haben, daß Ihr mit Huerta in Beratungen eingetreten seid. Nehmt Euch in acht,<br />

Kameraden von der Conföderation, mischt Euch auf keinen Fall in die Politik, denn<br />

dieses wäre das schlimmste Mittel zur Verteidigung des anarchistischen Kommunismus.<br />

Auch fordern wir von Euch nochmals die Bekanntmachung des Aus-<br />

Schlusses der Politiker Salazar und Escobedo, da man noch immer nicht aufgehört<br />

hat, auf diese Sache anzuspielen. Wenn die Conföderation es wünscht, stellen wir<br />

ihr unsere bewaffneten Streitkräfte von 15 Syndikaten zur Verfügung, aber — wie<br />

schon gesagt — nur zur Verteidigung des freiheitlichen Kommunismüs. Wir<br />

wiederholen zum Schluß noch einmal, daß wir keine Gemeinschaft mit Politikern<br />

haben und wir schreiben dies, um dem Geiste unserer Kameraden aufs neue Ausdruck<br />

zu geben. — Gruß Euch und freiheitlicher Kommunismus.<br />

Der Generalsekretär: Pablo Rueda."<br />

Wie aus diesem Schreiben klar hervorgeht, waren es die Grundbesitzer, die<br />

indirekt von Huerta beschützt und unterstützt wurden, welche die Bauern-Syndikate<br />

angegriffen haben.<br />

Am 6. Dezember — demselben Tag, an dem sich Huerta in Aufstand setzte —<br />

griffen die Grundbesitzer die Bauern-Syndikate im Staate Veracruz an. <strong>Die</strong><br />

meisten Syndikate der Bauern in Veracruz sind der C.G.T. angeschlossen. Am<br />

6. bei Tagesanbruch überfielen die Grundbesitzer, von den Truppen Huertas unterstützt,<br />

die Geschäftsräume des Syndikats in Soledad Doblado; ebenso das Geschäftslokal<br />

der Bäckergewerkschaft, zerschlugen die Einrichtungen und demolierten<br />

alles.<br />

Damit nicht genug, stürmte man auch die Wohnungen unserer besten Genossen<br />

und ermordete in einer bestialischen Weise unsere Kameraden Manuel Cadena und<br />

Antonio Ballezo; dem letzteren schnitt man in grausamer Weise den Kopf ab. In<br />

der Ortschaft El Zapote attackierte man die Mitglieder der C.G.T., welche der<br />

Föderation der Hafenarbeiter von Veracruz angehörten, und die in dieser Ortschaft<br />

eine lebhafte Propaganda entwickelten. Bei dieser Gelegenheit wurde unser<br />

braver Genosse Jose Fernandez Oca, einer der aktivsten Anarchisten, auf eine<br />

schändliche Art umgebracht.<br />

<strong>Die</strong> Organisation der Bauern in Veracruz wurde fast gänzlich zertrümmert.<br />

Nur in jenen Ortschaften, wo sich eine größere Anzahl bewaffneter Genossen<br />

befand, die sich verteidigen konnten, war man imstande, die Syndikate vor dem<br />

Untergang zu bewahren.<br />

<strong>Die</strong> Genossen von Nayarit haben der C.G.T. durch einen Delegierten mit»<br />

teilen lassen, daß sie einstimmig beschlossen haben, eine bewaffnete Bewegung ins<br />

Leben zu rufen, die einen ausgesprochenen freiheitlichen Charakter hat.<br />

Bleibt uns nur noch übrig zu erwähnen, daß ein kleiner Kreis der Bauern von<br />

Zacatecas, welcher der C.R.O.M. angeschlossen ist, ein Bataillon zur Verteidigung<br />

der „glorreichen revolutionären Regierung von Obregon" formiert und ein Manifest<br />

45


veröffentlicht hat, in welchem die C.G.T. für ihre „befremdliche Neutralität" und<br />

ihrer angeblichen „verbrecherischen Sabotierung der Revolution" angegriffen<br />

wurde.<br />

<strong>Die</strong> Tätigkeit der Arbeiter.<br />

Von der Tätigkeit der Anhänger der C.R.O.M. haben wir bereits gesprochen,<br />

ebenso von ihren Bemühungen, die Bauern in die politische Bewegung hineinzuziehen,<br />

die aber von den Anhängern der C.G.T. mit vollständiger Gleichmütigkeit<br />

aufgenommen wurden und zwar aus sehr guten Gründen.<br />

Es bleibt mir bloß noch übrig, die Aktion der lokalen Föderation der Hafenarbeiter<br />

von Veracruz zu erwähnen, die nach dem Bekanntwerden der Ereignisse<br />

in Soledad Doblado und El Zapote einsetzte.<br />

Sobald die Föderation von Veracruz die Nachricht von den Vorkommnissen in<br />

diesen beiden Orten erhielt, beschloß man sofort, in einen allgemeinen Proteststreik<br />

zu treten. Aber unmittelbar nach diesem Beschluß besetzte die „Provisorische<br />

Regierung" Huertas, die in der Hafenstadt Veracruz ihr Lager aufgeschlagen<br />

hatte, die Lokale der Arbeitersyndikate mit bewaffneten Banden. In derselben<br />

Zeit veröffentlichte die Regierung ein Manifest, in welchem erklärt wurde, daß sie<br />

bereit sei, alle Errungenschaften der Arbeiter anzuerkennen, aber erst „nach dem<br />

Triumph der Revolution". An demselben Tage stellte sich im Lokal der Tabak»<br />

arbeiter, die gerade ihre Sitzung abhielten, eine Gruppe von bewaffneten Individuen<br />

ein und verbot kurzerhand jede Versammlung, weil eine solche eine „Störung der<br />

öffentlichen Ordnung" bedeute und unter den obwaltenden Verhältnissen als<br />

konterrevolutionärer Akt" betrachtet werden müsse.<br />

Während sich diese Dinge in Veracruz abspielten, wurde in dem Textildistrikt<br />

von San Angel das Lokal der Mitglieder des Betriebskomitees der Fabrik Santa<br />

Teresa von bewaffneten Banden angegriffen unter dem Vorwand, daß das Komitee<br />

gegen die „Sicherheit des Staates" sich verschworen hätte. Sobald die Arbeiter der<br />

Fabrik davon Kenntnis erhielten, vereinigten sie sich sofort, um den Angriff<br />

zurückzuweisen.<br />

In dem Kampfe gegen die bewaffnete Macht der Republik wurde der Genosse<br />

Jose V. Chávez getötet, der Sekretär der betreffenden Fabrik; zwei Kameraden<br />

wurden verwundet. Auf der Seite der Soldaten wurde der Chef der Angreifer<br />

getötet und ein Soldat verwundet. Außerdem haben unsere Genossen verschiedene<br />

Soldaten entwaffnet.<br />

Am anderen Tage ging kein einziger Arbeiter des Distriktes von San Angel zur<br />

Arbeit. Es war eine wahrhaft große und erhebende Aktion des Protestes.<br />

Anhang.<br />

Neue Anschlüsse an die I.A.A.<br />

Mexiko. Auf seinem 3. Kongreß, den 15. Dezember 1923, in der Hauptstadt<br />

Mexiko beschloß der Kongreß der Confederaci o n General de T r ab ajadores<br />

(Allgemeiner Gewerkschaftsbund Mexikos) einstimmig den Anschluß an<br />

die <strong>Internationale</strong> Arbeiter?Assoziation (Berlin). Das Sekretariat hat auf seiner<br />

Sitzung vom 21. Januar 1924 den Anschluß anerkannt. Der Allgemeine Gewerkschaftsbund<br />

Mexikos zählt 100 000 Mitglieder.<br />

Frankreich. Der Allgemeine Arbeiter-Verband Ober-<br />

Elsaß beschloß am 27. Januar 1924 den Austritt aus der C.G.T.U. und den Anschluß<br />

an die l.A.A. Das Sekretariat hat auf seiner Sitzung am 5. Februar 1924 den<br />

Anschluß anerkannt.<br />

46


Das Sekretariat begrüßt die Kameraden aus Mexiko und vom Ober-Elsaß in<br />

den Reihen der revolutionären Syndikalisten aller Länder.<br />

Seit der Konferenz zu Innsbruck hat das Sekretariat sich mit folgenden Kundgebungen<br />

an die Organisationen der I.A.A und an die Arbeiterschaft aller Länder<br />

gewandt:<br />

Berlin, den 10. Januar 1924.<br />

An die revolutionären Syndikalisten!<br />

An das revolutionäre Proletariat aller Länder!<br />

Helft den Kindern des revolutionären Proletariats in Deutschland!<br />

Kameraden! In Ausführung der Beschlüsse der Vollversammlung des Büros der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter»Assoz.ation wendet sich das Sekretariat an die Kameraden in der ganzen<br />

Welt mit folgendem Aufruf:<br />

In einer Zeit furchtbarster Not und schwerer wirtschaftlicher Zusammenbrüche, welche<br />

die gesamte deutsche Arbeiterklasse schon seit langem in einen Abgrund von namenlosem<br />

Elend und bitterster Verzweillung gestürzt haben, wenden wir uns an Euch um Hilfe. <strong>Die</strong><br />

Exekutiven der verschiedenen sozialistischen Parteien Deutschlands, wie auch die gewerkschaftlichen<br />

Zentralverbände haben bereits vor geraumer Zeit ihren Notschrei an die<br />

befreundeten Richtungen im Auslande ergehen lassen, um ihren Mitgliedern wenigstens eine<br />

kleine Erleichterung ihrer traurigen Lage zu bringen. Es ist daher an der Zeit, daß auch<br />

das <strong>Internationale</strong> Büro der I.A.A. mit einem Appell an die Kameraden der valutastarken<br />

Länder herantritt im Interesse unserer schwer bedrängten, notleidenden deutschen Genossen.<br />

Tausende unseier besten Kameraden in Deutschland sind ohne Arbeit, ohne Brot,<br />

ohne genügende Kleidung, die Opfer des blassen Elends, das seit langen Monaten unheilverkündend<br />

durch die deutschen btädte- zieht. Hunger und namenlose Sorge um die<br />

dringendsten Bedürfnisse des nackten Lebens haben überall ihren Einzug gehalten. Alle<br />

furchtbaren Auswirkungen des großen Völkermordens sind über das deutsche Proletariat<br />

gekommen, welches restlos die fürchterlichen Konsequenzen einer verruchten kapitalistischen<br />

Interessenpolitik zu tragen hat. Außer der grausigen Hungertragödie, welche über das<br />

russische Volk dahingegangen ist, gibt es kein Beispiel in der modernen Geschichte, wo die<br />

produktiven Klassen eines ganzen Volkes in einen solchen Wirbel des blutigsten Elends<br />

hineingerissen wurden, wie das heute in Deutschland der Fall ist. <strong>Die</strong> Tatsache, daß 69 Prozent<br />

aller Kinder in Berlin mit dem Keime der Tuberkulose behaftet sind und an Unterernährung<br />

langsam zugrunde gehen, ist ein furchtbares Mahnzeichen an das Gewissen unserer Zeit.<br />

Und ähnlich ist der Zustand in allen größeren Städten und in den Mittelpunkten der<br />

Industrie. Es ist hauptsächlich die furchtbare Not der Kleinen in Deutschland, welche<br />

uns veranlaßt, an die Kameraden der verschiedenen Länder heranzutreten und an ihre<br />

Solidarität zu appellieren.<br />

Unsere deutschen Genossen haben bisher alle Verpflichtungen der I.A.A. gegenüber<br />

treulich und pünktlich erfüllt, und wenn aus irgendeinem Lande der Ruf bedrängter Kameraden<br />

an ihr Ohr gedrungen ist, so waren sie stets die Ersten, welche den von der Reaktion<br />

Bedrängten zu Hilfe eilten und brüderlich Solidarität übten. Unsere Kameraden in Rußland,<br />

Italien und Spanien werden dies jederzeit und freudig bezeugen. Es ist daher nur<br />

billig, daß man jetzt den deutschen Genossen in ihrer schwersten Stunde zu Hilfe kommt,<br />

um ihnen die Möglichkeit zu geben, diese furchtbare Periode zu überstehen.<br />

Das Sekretariat schlägt als Hilfeleistung vor:<br />

1. <strong>Die</strong> Unterbringung von Kindern in den Familien der Kameraden des Auslandes<br />

(hierfür kommen hauptsächlich Länder in Frage, die nicht allzuweit ab von Deutschland<br />

liegen).<br />

2. <strong>Die</strong> Sendung von Lebensmittelpaketen nach Deutschland.<br />

3. <strong>Die</strong> Sammlung und Sendung von Geldern für den Ankauf von Lebensmitteln in<br />

Deutschland.<br />

Man sende alle Anfragen, Pakete und Gelder an die Adresse: Fritz Kater, Berlin O 34,<br />

Kopernikusstraße 25 (Kinderhilfe der I.A.A.).<br />

Das Sekretariat der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation.<br />

47


An das Westeuropäische Proletariat!<br />

Genossen! Nachdem der revolutionäre Vormarsch der Arbeiterschaft zum Stillstand<br />

gekommen ist, setzt die Reaktion in allen Ländern aufs schärfste ein. In Italien siegte der<br />

Fascismus. in Spanien kam die Militärdiktatur zur Herrschaft, in Deutschland wurden die<br />

verfassungsmäßigen Garantien aufgehoben und eine systematische Unterdrückung der revolutionären<br />

Arbeiterbewegung eingeleitet.<br />

In Deutschland wurden nicht nur die Kommunistische Partei, auch die revolutionärsyndikalistischen<br />

Organisationen aufgelöst. <strong>Die</strong> Kapitalisten Deutschlands glaubten durch<br />

einen Generalangriff die einzig gebliebene Errungenschaft aus den Tagen der Revolution:<br />

den Achtstundentag, beseitigen zu können. Sic schlössen zunächst die Betriebe und sperrten<br />

die Arbeiter aus. Durch Hunger und Entbehrungen sollten sie widerstandslos' gemacht<br />

werden, um dann willenlos die Verlängerung der Arbeitszeit auf 10 und 12 Stunden über<br />

sich ergehen zu lassen. <strong>Die</strong> christlichen und reformistischen Gewerkschaften taten nichts,<br />

um diesem Anschlug entgegenzuwirken. Wenn die Mitglieder dieser Organisationen sich<br />

an einzelnen Orten für einen Kampf erklärten und die Proklamierung des Generalstreiks<br />

forderten, so lehnten die Zentralinstanzen der Gewerkschaften jeden Abwehrkampf mit<br />

revolutionären Mitteln entschieden ab und sabotierten dadurch die Verteidigung des Achtstundentages.<br />

All dies konnte aber den Kampleswillen der Arbeiter nicht brechen. Der Kampf<br />

um den Achtstundentag ist in Deutschland aufs heftigste entbrannt, am schärfsten wird<br />

er geführt in Rheinland»WestfaIen und dem besetzten Gebiete. Dort müssen die revolutionären<br />

Arbeiter gegen drei Fronten kämpfen: gegen die Unternehmer, gegen die reformistischen<br />

Gewerkschaften und gegen die Besatzungsmächte.<br />

Arbeiter Belgiens und Frankreichs! Der Militarismus Eurer Länder, der das deutsche<br />

Industriegebiet besetzt hat, nimmt offen Partei für die deutschen Kapitalisten gegen die<br />

deutsche Arbeiterschaft, die für ihre fundamentalsten Rechte kämpft. <strong>Die</strong> Manifestationen<br />

der Streikenden werden verhindert von den Besatzungsmächten, die Betriebe für lebenswichtig<br />

erklärt und Streiks verboten. Der internationale Kapitalismus hat sich verbunden,<br />

um mittels des Militarismus sein System aufrechtzuerhalten. Während die Völker gegeneinander<br />

gehetzt werden, verbrüdert sich der deutsch-französisch-belgische Kapitalismus,<br />

um die Arbeiterschaft in Untertänigkeit und Sklaverei niederzuhalten.<br />

Kameraden in Belgien und Frankreich! Der Kampf um den Achtstundentag, den<br />

das deutsche Proletariat im besetzten Gebiete unter so verzweifelten Verhältnissen zu<br />

führen hat, ist nicht nur eine Angelegenheit der deutschen Arbeiterschaft, sondern eine<br />

solche von internationaler Bedeutung. Schon hat der französische Ministerpräsident Poincaré<br />

in der Kammer darauf hingewiesen, daß die Verlängerung der Arbeitszeit in Deutschland<br />

zu ähnlichen Resultaten auch in Frankreich führen werde. Gelingt es dem vereinigten<br />

Kapitalismus und Militarismus im besetzten Gebiete, vor allem im Ruhrbecken, den Acht«<br />

stundentag zu beseitigen, dann ist dieser auch in Eurem eigenen Lande in Gefahr. An»<br />

zeichen hierzu machen sich schon überall bemerkbar. In Belgien, in Holland und in der<br />

Schweiz sucht man auf verschiedenen Wegen dasselbe Ziel zu erreichen: Beseitigung des<br />

Achtstundentages.<br />

Proletarier aller Länder! Der Kampf des deutschen Proletariats um den Achtstundentag<br />

kann nur von Erfolg gekrönt sein, wenn ihr der Solidarität, die der Besatzungsmilitarismus<br />

für die deutschen Kapitalisten zeigt, die Solidarität des klassenbewußten internationalen<br />

Proletariats entgegenstellt!<br />

Und ihr, Arbeiter in Frankreich und Belgien! Uebt einen Druck aus auf eure Regierung,<br />

daß die Einmischung des Besatzungsmilitarismus in diesem Kampfe zugunsten der<br />

deutschen Kapitalisten unterbleibt! Damit darf eure Aktion sich aber nicht erschöpfen.<br />

<strong>Die</strong> rechte Antwort auf die Herausforderungen der deutschen Kapitalisten und auf das<br />

Verhalten der Besatzungsmächte wäre der Generalstreik der gesamten Arbeiterschaft Deutschlands,<br />

Frankreichs und Belgiens zur Verteidigung des Achtstundentages!<br />

Wenn aber die Vorbedingungen in euren Ländern für einen Generalstreik nicht gegeben<br />

sind, dann beweist dem kämpfenden Proletariat in Deutschland eure Solidarität auf andere<br />

Weise. Unterstützt die streikenden Arbeiter auf jede Weise moralisch und materiell.<br />

Boykottiert und sabotiert den Militarismus! Verweigert die Herstellung von Munition<br />

und den Transport von Kriegsgerät und Soldaten nach dem besetzten Gebiete!<br />

Kameraden! Der Kampf der deutschen Arbeiter um den Achtstundentag ist euer<br />

Kampf, ihre Niederlage ist eure Niederlage, ihr Sieg euer Sieg!<br />

Es lebe die internationale Solidarität des klassenbewußten Proletariats!<br />

48<br />

Das Verwaltungsbüro der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation.


DIE<br />

INTERNATIONALE<br />

ORGAN DER INTERNATIONALEN ARBEITER-ASSOZIATION • BERLIN<br />

1. JAHRG. JUNI 1924 NR. 2


DIE INTERNATIONALE<br />

ORGAN DER INTERNATIONALEN ARBEITER - ASSOZIATION • BERLIN<br />

DEUTSCHE AUSGABE / HERAUSGEGEBEN VOM SEKRETARIAT DER I.A.A.<br />

1. JAHRG. JUNI 1924 NR. 2<br />

Der II. Kongreß der I.A.A.<br />

Der II. Kongreß der I.A.A. ist in Uebereinstimmung mit dem Beschluß<br />

von Innsbruck vom Sekretariat für den 20. September 1924 nach Amsterdam<br />

einberufen. Zu diesem Kongreß wurden eingeladen: 1. alle der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter-Assoziation angeschlossenen Organisationen, 2. alle revolutionären<br />

Gewerkschaftsorganisationen, die der I.A.A. nahestehen oder die auf dem<br />

I. Kongreß angenommene Prinzipienerklärung anerkennen.<br />

Zur Tagesordnung bringt das Sekretariat folgende Punkte in Vorschlag:<br />

1. Wahlen der Vorsitzenden, der Mandatsprüfungskommission, der Resolutionskommission<br />

und der Finanzprüfungskommission;<br />

2. Bericht des Sekretariats und des Kassierers;<br />

3. Bericht der Ländervertreter.<br />

<strong>Die</strong>se Berichte müssen schriftlich spätestens einen Monat vorher an<br />

das Sekretariat gesandt werden.<br />

4. Kampf gegen die internationale Reaktion.<br />

<strong>Internationale</strong> Solidaritätskämpfe durch Boykotts, Protestaktionen,<br />

Demonstrationen, Propagierung internationaler Streiks usw.<br />

5. <strong>Internationale</strong> Unterstützungen, finanzielle Hilfe.<br />

Vorschläge zu einer organisatorischen Regelung der Unterstützungen.<br />

6. Stellung der I.A.A. zu den verschiedenen Richtungen innerhalb der Arbeiterbewegung.<br />

Rudolf Rocker.<br />

7. Stellung der I.A.A. zu den Betriebsräten.<br />

8. <strong>Die</strong> I.A.A. und die Syndikalistische Jugend.<br />

9. Propagandatätigkeit der I.A.A.<br />

10. Statutenveränderung; Amandements nach Paragraphen müssen schritt:<br />

lieh vorgelegt werden.<br />

11. Presse der I.A.A., Bericht, neue Anträge.<br />

12. Neuwahl des Sekretariats, Neuwahl des Sitzes desselben.<br />

13. Ort und Zeit des nächsten Kongresses.<br />

Das Sekretariat bittet alle angeschlossenen Landesorganisationen, zu den<br />

vorgeschlagenen Punkten Stellung zu nehmen. <strong>Die</strong> Landesorganisationen der<br />

romanischen und südamerikanischen Länder werden ersucht, sich mit der<br />

Frage der Finanzierung zu beschäftigen. Erweiterungen der Tagesordnung<br />

müssen dem Sekretariat bis spätestens 1. August mitgeteilt werden.<br />

Alle Zuschriften richte man an die Adresse Fritz Kater, I.A.A.,<br />

Berlin O 34, Kopernikusstr. 25. Telegrammadresse: „Syndikalist Berlin".<br />

Mit Brudergruß<br />

Das Verwaltungsbüro der I.A.A.


2<br />

An unsere Leser.<br />

An unsere Leser.<br />

<strong>Die</strong> zweite Nummer der „<strong>Internationale</strong>" sollte einen Monat nach<br />

dem Erscheinen der ersten Nummer herauskommen. Viele Umstände<br />

trugen dazu bei, die Nr. 2 mit einiger Verzögerung erscheinen zu lassen.<br />

Wir hoffen, daß von nun an das Erscheinen regelmäßig jeden Monat<br />

erfolgen kann. Dazu ist allerdings die Unterstützung und fleißige<br />

Werbearbeit unserer Kameraden notwendig. Wenn der Vertrieb sich<br />

diesmal geregelter gestaltet, wenn unsere Kameraden ihr Möglichstes<br />

tun, um für schnelle und ausgiebige Verbreitung Sorge zu tragen, dann<br />

wird auch seitens der Redaktion nichts unterbleiben, um den Anforderungen<br />

und Wünschen aller Kameraden entgegenzukommen.<br />

Während die erste Nummer der „<strong>Internationale</strong>" einen mehr informatorischen<br />

Charakter trug, glauben wir mit der zweiten Nummer<br />

einen Schritt weiter gehen zu können. Unsere Aufgabe muß sein,<br />

neben guten und zuverlässigen Berichten über die Arbeiterbewegung<br />

aller Länder, neben der Darstellung über den Kampf, der von dem<br />

revolutionären Proletariat in allen Ländern gegen das Ausbeutertum<br />

ausgefochten wird, auch Stellung zu nehmen zu den großen Fragen der<br />

internationalen Arbeiterbewegung, die immer dringlicher eine Lösung<br />

fordern. <strong>Die</strong> revolutionären Ergebnisse haben so manche Veränderung<br />

gebracht und neue Probleme aufgeworfen, die noch lange nicht<br />

in zureichender Weise erörtert und geklärt sind. Zwar können wir<br />

revolutionären Syndikalisten mit Befriedigung feststellen, daß gerade<br />

unsere Grundsätze durch die großen Ereignisse unserer Tage keinerlei<br />

Erschütterung erfahren haben, wie das mit der internationalen Sozialdemokratie,<br />

mit den reformistischen Gewerkschaften und nicht zuletzt<br />

auch mit dem Staatskommunismus geschah, der in seinem Beginn<br />

mit großen Pretentionen auftrat, bald aber von den ehernen Tatsachen<br />

des praktischen Lebens zur „NEP" (Neue ökonomische Politik), d. h.<br />

zur Wiederherstellung des Kapitalismus, getrieben wurde. Und all<br />

dies geschah einzig und allein deshalb, weil falsche Wege eingeschlagen<br />

wurden und weil man von falschen Voraussetzungen und Grundsätzen<br />

ausgegangen ist. Es hat sich im Gegenteil gezeigt, daß im Verlauf<br />

der revolutionären Ereignisse die Arbeiterschaft und selbst die syndikalistenfeindlichen<br />

Strömungen innerhalb der Arbeiterbewegung immer<br />

und immer wieder zu den von den Syndikalisten propagierten Kampfmitteln<br />

der direkten Aktion gegriffen haben, wenn die abgetakelten<br />

und verbrauchten politischen Mittelchen versagten. Aber gerade dadurch<br />

entstand die Gefahr einer Korrumpierung dieser Kampfmittel.<br />

Schon beschäftigen sich heute die reformistischen Gewerkschaften<br />

mit der Idee, die Betriebsräte für Aufgaben der Produktionskontrolle<br />

im Sinne einer wirtschaftlichen Demokratie heranzuziehen; aber diese


An unsere Leser. 3<br />

Tätigkeit soll nur innerhalb der Gesetze des bürgerlichen Staates vollzogen<br />

werden; auch trägt man sich mit dem Gedanken einer Umlegung<br />

der Berufsverbände in Industrieverbände, aber auch diese Maßnahme<br />

braucht an sich noch gar keinen Fortschritt zur Freiheit der<br />

Arbeiterbewegung zu sein und zur Selbständigkeit der Gewerkschaften<br />

von den politischen Parteien zu führen, sondern es kann auch bei Anwesenheit<br />

von Industrieverbänden ihre Unterwerfung unter die Parteien<br />

oder den Staat erfolgen, wie es uns die russischen Zentralverbände<br />

zeigen, die auf dem Grundsatz der Industrieverbände aufgebaut sind,<br />

aber vollständig unter der Vormundschaft von Partei und Regierung<br />

stehen.<br />

<strong>Die</strong>se schwachen Andeutungen geben uns schon ein Bild davon,<br />

wie notwendig eine gründliche, theoretische Klarstellung der Probleme<br />

ist, die sich dem internationalen Syndikalismus stellen. Darüber hinaus<br />

gilt es aber, die Organisierung der sozialen Revolution vorzubereiten.<br />

<strong>Die</strong> schnelle und sprunghafte Veränderung im gesellschaftlichen<br />

Leben hat Fragen, die früher einen rein zukünftigen<br />

Charakter trugen, in den Bereich der Wirklichkeit gerückt. Hierzu<br />

gehört in erster Linie der Aufbau der neuen Gesellschaft in antistaatlicher,<br />

antiautoritärer Richtung. Je klarer unsere Anschauungen<br />

durch Gedankenaustausch der Kameraden der verschiedenen Länder<br />

über diesen Punkt werden, je vollkommener unsere Vorbereitungen<br />

sich gestalten, desto größere Aussichten werden vorhanden sein, revolutionäre<br />

Ereignisse in freiheitliche syndikalistische Bahnen zu<br />

lenken.<br />

Ueber diese Zukunftsarbeit dürfen jedoch die Fragen des Tages<br />

nicht vergessen werden. Der Kampf gegen die internationale Reaktion<br />

erfordert ein internationales Auftreten der revolutionären Arbeiterschaft.<br />

<strong>Die</strong> Fragen, wie diese internationale Zusammenarbeit am<br />

besten geregelt werden könne, was für Kräfte gelöst und was für<br />

Mittel angewandt werden müssen, bedürfen auch noch einer gründlichen<br />

Besprechung. Da sind z. B. die Verhängung des internationalen<br />

Boykotts, Einleitung gemeinsamer Protestaktionen gegen die<br />

Verfolgung revolutionärer Kameraden in allen Ländern, ja sogar internationale<br />

Solidaritätsstreiks ins Auge zu fassen; es sind die Möglichkeiten<br />

zur Erkämpfung eines einheitlichen Reallohnes, einer gleichen<br />

Arbeitszeit und dgl. für alle Länder zu untersuchen, denn solange<br />

die Unterschiede der Arbeits- und Lebensbedingungen in den einzelnen<br />

Ländern voneinander zu stark abweichen, werden die wirtschaftlichen<br />

Aktionen der Arbeiterschaft immer einen national begrenzten<br />

Charakter tragen. Wie der Einheitslohn für die Arbeiterschaft<br />

eines Landes für alle Industrien die materiellen Interessen<br />

aller Arbeiter zusammenschweißen würde, so würden auch der Einheitslohn<br />

und eine gleiche Arbeitszeit der Bergarbeiter, der Metallarbeiter,<br />

der Bauarbeiter aller Länder die internationale Interessengemeinschaft<br />

des Weltproletariats in ein ganz anderes neues Licht<br />

stellen. Es würden sich Perspektiven für den internationalen Klassenkampf<br />

auftun, von denen wir uns heute noch keine Vorstellung machen<br />

können.


4 An unsere Leser.<br />

Und last but not least müssen die Kämpfe gegen jeden Krieg in<br />

solcher Weise auf internationaler Basis vorbereitet werden, daß jeder<br />

zukünftige Krieg wirklich unmöglich gemacht wird durch die international<br />

verbundene revolutionäre Arbeiterschaft. <strong>Die</strong> Schritte, die<br />

bisher von den reformistischen Gewerkschaften in dieser Richtung<br />

unternommen wurden, sind durchaus ungenügend. Der Kopenhagener<br />

Beschluß des internationalen Metallarbeiterbundes wird von den reformistischen<br />

Verbänden in fast jedem Lande, noch mehr aber von<br />

den reformistischen Landeszentralen viel zu wenig beachtet, in einigen<br />

Fällen direkt sabotiert, wie uns das Beispiel des Deutschen Metallarbeiterverbandes<br />

zeigt. Es ist daher die Aufgabe der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter-Assoziation, in ihrer Propaganda, in ihren Organen, vor allem<br />

auch in dieser Revue, diese Angelegenheit vor den Augen der internationalen<br />

Arbeiterschaft aufzurollen. Da von den reformistischen<br />

Gewerkschaften kein revolutionärer Windhauch ausgeht, müssen wir<br />

Syndikalisten die Vorhut bilden in dem Kampfe gegen Militarismus<br />

und Krieg. Es muß die Verweigerung jeder Arbeit zu Kriegszwecken<br />

bis ins einzelne durchsprochen und in die Wege geleitet<br />

werden.<br />

<strong>Die</strong> Verweigerung der Herstellung von Kriegsmaterialien führt zu<br />

dem Gedanken der Produktionskontrolle durch die international organisierte<br />

Arbeiterschaft. In der kapitalistischen Produktionsweise<br />

ist nicht der Bedarf des Volkes, sondern der Profit für die Unternehmer<br />

das Ziel der Gütererzeugung. <strong>Die</strong>ser Umstand bringt die<br />

Herstellung von Schundwaren, eine vollständige Planlosigkeit der gesamten<br />

Produktion sowie die Ausbeutung der Arbeiterschaft als<br />

Konsumenten mit sich. Im weiteren Gefolge entsteht dann die Unterkonsumtion<br />

der Arbeitermassen, die von Karl Marx als Ueberproduktion<br />

bezeichnet wurde. <strong>Die</strong> Arbeitslosigkeit geht damit Hand in<br />

Hand. Das ist ein Feld, das von den reformistischen Arbeiterorganisationen<br />

noch so gut wie gar nicht beackert wurde, und auch wir Svndikalisten<br />

müssen dieser Frage eine größere Aufmerksamkeit widmen.<br />

Wir werden gerade diesem Probleme einen Platz in den Spalten der<br />

Revue einräumen müssen. <strong>Die</strong> Kontrolle der Produktion darf nicht<br />

in dem naiven Sinne der Reformisten aufgefaßt werden, wo sie in der<br />

Forderung nach „Gleichberechtigung zwischen Kapital und Arbeit" verflacht,<br />

sie muß im Gegenteil ausmünden in dem Streben nach Beseitigung<br />

der kapitalistischen Profitwirtschaft und Einführung einer<br />

sozialistischen Bedarfswirtschaft.<br />

Ueber all diesen Problemen muß der Geist der internationalen<br />

Solidarität schweben. Wir müssen uns näher kennenlernen, so daß<br />

von Land zu Land, von Zunge zu Zunge, von Herz zu Herz nur ein einziger<br />

Gedankengang die Massen erfaßt und in Bewegung bringt. Und<br />

dieser Gedankengang ist die uns alle verbindende Weltanschauung<br />

des revolutionären Syndikalismus, die in der direkten Aktion aller<br />

unterdrückten Proletarier ihren glänzendsten Ausdruck findet. <strong>Die</strong>sem<br />

Werk sei die Herausgabe und Weiterführung der Revue gewidmet.<br />

<strong>Die</strong> Redaktion.


Betrachtungen über die Wahlen in Deutschland. 5<br />

Betrachtungen über die Wahlen in Deutschland.<br />

Von R. Rocker.<br />

<strong>Die</strong> große Wahlschlacht ist geschlagen. Von den dreiundzwanzig<br />

Parteien und Parteichen, die sich in heißem Wettbewerb um die Gunst<br />

der Wähler bemüht haben, blieb fast die Hälfte auf der Strecke. Da sie<br />

nicht imstande waren, die gesetzlich vorgeschriebene Zahl von Stimmen<br />

in einem Wahlkreis zu erhalten, bleibt es ihren Trägern vorläufig versagt,<br />

das große Ziel ihrer Sehnsucht von innen beschauen zu können.<br />

Es ist ein charakteristisches Zeichen, daß dieselben Erscheinungen<br />

— Inflation, ungerechte Besteuerung, Arbeitslosigkeit, Niedergang der<br />

sozialen Lebensbedingungen —, die eben in Frankreich den Sozialisten<br />

und anderen Gegnern Poincarés einen glänzenden Wahlsieg beschert<br />

und den sogenannten Nationalen Block zertrümmert haben, in Deutschland<br />

den bürgerlichen Parteien der Mitte und vor allem der Sozialdemokratie<br />

große Verluste eintrugen und breite Wählermassen nach<br />

rechts abschwenken ließen. Nur waren die Rollen vertauscht. Während<br />

in Frankreich der Nationale Block alle Sünden der Regierung<br />

während der letzten fünf Jahre auf sich geladen und die Sozialisten<br />

sich in der günstigen Lage einer Oppositionspartei gefallen durften,<br />

hatten sich in Deutschland die Parteien der bürgerlichen Mitte und die<br />

Sozialdemokratie während ihrer Regierungszeit bis auf die Knochen<br />

kompromittiert und sich das Wohlwollen der Wähler wenigstens für<br />

diesmal gründlich verscherzt.<br />

In dieser Erscheinung liegt eigentlich für das Volk die Tragik des<br />

ganzen parlamentarischen Systems. Der moderne Bürger fühlt sich<br />

lediglich als Bestandteil des Staatsapparats, dessen Bewegungsgesetze<br />

er durch die Abgabe seiner Stimme regulieren zu können sich einbildet.<br />

Er erwartet sein Heil stets von irgendeiner Regierung und nie<br />

von seiner eigenen Kraft und Initiative. Immer wieder sucht er die<br />

Fehler, die gemacht wurden, in den leitenden Männern und Parteien, die<br />

sich jeweilig an der Regierung befinden, und es kommt ihm nie der<br />

Gedanke, daß dieselben im System selbst begründet sind. Anstatt sich<br />

von unten auf durch seine wirtschaftlichen und sozialen Verbindungen<br />

Organe seines Willens und seiner Initiative zu schaffen, die ihn in den<br />

Stand setzen könnten, zu allen Anforderungen des gesellschaftlichen<br />

Lebens selbst Stellung zu nehmen und durch seine eigenen schöpferischen<br />

Kräfte entsprechende Lösungen anzubahnen und herbeizuführen,<br />

setzt er sein ganzes Vertrauen auf die höhere Macht, die über<br />

ihm thront und erwartet alles Heil von den Gesetzen und der Regierung.<br />

Und wenn die Regierung versagt, so zieht er nicht etwa die<br />

Konsequenzen und schreitet zur Selbsthilfe, sondern er setzt seine Karte<br />

einfach auf ein anderes Pferd im politischen Rennstall und glaubt auf<br />

diese Weise der Erfüllung seiner Wünsche näher zu kommen. So


6<br />

Betrachtungen über die Wahlen in Deutschland.<br />

taumelt er von einer Enttäuschung zur anderen und bewegt sich stets<br />

in demselben verhexten Kreise, der ihm als die gerade Linie des Fort-<br />

Schritts erscheint. Er pendelt von links nach rechts und von rechts<br />

nach links immer in dem Glauben, daß die richtige Nummer doch einmal<br />

aus der Urne herauskommen müsse. Wie der Gläubige vergangener<br />

Jahrhunderte alles Heil von der Kirche und von der Vermittlung der<br />

Priester erwartete, so erwartet der moderne Staatsgläubige heute alles<br />

Heil von den gesetzgebenden Körperschaften und ihren Vertretern. <strong>Die</strong><br />

Form des Glaubens hat gewechselt, der Glaube selbst ist derselbe geblieben.<br />

Und doch hätte gerade der deutsche Wähler aus der Geschichte<br />

der letzten fünf Jahre die große Lehre ziehen können, daß die Geschicke<br />

Deutschlands nicht im Reichstag, sondern in den Geschäftsstellen der<br />

Schwerindustriellen, der Großgrundbesitzer und der Börsenkönige letzten<br />

Endes entschieden werden. Das trifft ohne Zweifel auch für alle<br />

anderen Länder, die dem kapitalistischen Regime unterworfen sind, zu,<br />

aber es offenbarte sich nirgends anders und nie vorher in einer so offenkundigen<br />

Brutalität und unverhüllten Frechheit wie in der glorreichen<br />

Aera der deutschen Republik. <strong>Die</strong> Geschichte der letzten fünf Jahre<br />

wurde fast ausschließlich ausgefüllt mit dem erfolgreichen Kampfe der<br />

Monopolisten gegen die verschiedenen Regierungen, die einander folgten.<br />

Alle innen- und außenpolitischen Beziehungen standen mehr oder<br />

weniger unter dem Wirtschaftsdiktat der deutschen Schwerindustrie<br />

und ihrer Verbündeten. Stinnes war in dieser Hinsicht ein Symbol.<br />

Er, der aus den Schrecken des Weltkrieges und aus dem grenzenlosen<br />

Elend des Volkes in der nachfolgenden Periode unermeßliche Reichtümer<br />

prägte, deren fabelhafte Größe allen Glanz der Multimilliardäre<br />

Amerikas in den Schatten stellt und deren Totalität vielleicht erst den<br />

kommenden Generationen gänzlich offenbar wird; er, der seine<br />

Polypenanne über ganz Deutschland, die ganze Welt ausstreckte, deren<br />

Saugnäpfe ebenso im Lande der „Diktatur des Proletariats" wie in den<br />

fernen Breiten Perus und Chiles unablässig an der Arbeit sind; er,<br />

Stinnes, führte nach dem Kriege einen fortgesetzten schonungslosen<br />

Kampf gegen alle deutschen Regierungen und stellte ihrer Politik das<br />

Machtgebot der großen Wirtschaftskonzerne gegenüber, das sich bisher<br />

stets als mächtiger erwies als die papiernen Beschlüsse des Reichstags.<br />

Es waren Stinnes und sein Kreis, die mit kaltblütiger Berechnung jeden<br />

Versuch, die Mark zu stabilisieren, untergruben und die grauenhafte<br />

Periode der Inflation eingeleitet haben, die Millionen deutscher Männer,<br />

Frauen und Kinder an den Rand des Verderbens und der Verzweiflung<br />

brachte. Und gerade während dieser furchtbaren Zeit gelang es Stinnes,<br />

seinen Konzern erst recht auszubauen und aus der Not seines Volkes<br />

Riemen zu schneiden.<br />

Stinnes und sein Anhang waren es, welche die Besetzung des<br />

Ruhrgebiets durch die Franzosen direkt provoziert hatten, und denen<br />

das Abenteuer, das Deutschland astronomische Summen kostete und<br />

durch welches das Volk erst recht in den Abgrund des bitteren Elends<br />

hineingestoßen wurde, wiederum zum Heile ausschlug. Kein Versailler<br />

Friedensvertrag hat Deutschland solche furchtbaren Wunden ge-


Betrachtungen über die Wahlen in Deutschland. 7<br />

schlagen als die gewissenlose Profitpolitik seiner Schwerindustriellen<br />

und Großagrarier, die es nicht bloß verstanden haben, dem Staate die<br />

Steuern erfolgreich zu entziehen, sondern die außerdem noch bei der<br />

Reichsbank fabelhafte Anleihen machten, als die Mark noch zehn<br />

Pfennige wert war, und die ihre Schuld prompt zurückzahlten, als,<br />

dank ihrer krummen Transaktionen, der Wert der Mark auf einen<br />

zehntel Pfennig gesunken war.<br />

In keinem anderen Lande der Welt wären solche Dinge möglich<br />

gewesen, weil in keinem anderen Lande der soziale Sinn und das<br />

natürliche Zusammengehörigkeitsgefühl eines Volkes so total verlottert<br />

ist wie gerade bei uns. Es ist wahr, daß der Kapitalist schließlich<br />

überall von der Ausbeutung der Arbeit lebt, aber es besteht<br />

trotzdem ein Unterschied zwischen den Trägern des Systems, der sich<br />

nicht verkennen läßt, und der letzten Endes ebenso gewertet werden<br />

muß wie der Unterschied zwischen den verschiedenen Formen des<br />

Staates, auch dann, wenn man der Ansicht ist, daß der Staat als<br />

solcher nie etwas anders gewesen ist, noch sein wird, als der politische<br />

Sachverwalter der besitzenden Klassen.<br />

In England haben die Träger des kapitalistischen Systems während<br />

des Krieges tief in die eigene Tasche gefaßt, und zwar aus dem<br />

einfachen Grunde, weil bei dem englischen Volke der Instinkt innerer<br />

Zusammengehörigkeit und das Gefühl sozialer Gerechtigkeit in<br />

solchen Dingen viel tiefer ausgeprägt ist wie bei uns, so daß fortgesetzte<br />

und zynische Beleidigungen des primitivsten Rechtsempfindens<br />

im Volke, wie sie in Deutschland zu den Alltäglichkeiten<br />

gehören, dort einen Sturm der Entrüstung entfesseln würden, dem<br />

keine Regierung widerstehen könnte. Einen Mann wie der gewesene Premierminister<br />

der konservativen Regierung Englands, Baldwin, der während<br />

des Krieges dem Staate freiwillig den viertenTeil seines Vermögens<br />

abtrat, würde man in Deutschland vergebens suchen. Andererseits<br />

wäre ein Helfferich, der sich während des Krieges prinzipiell weigerte,<br />

das Kapital mit entsprechenden Steuern zu belasten und den Standpunkt<br />

vertrat, daß der Besiegte eben zahlen müsse, in jedem anderen<br />

Lande undenkbar. Nur in Deutschland konnte ein Mann wie Helfferich<br />

sein Wesen treiben, weil bei uns der unsachlich kleinliche und geradezu<br />

verbrecherische Egoismus des kapitalistischen Bürgertums einen<br />

Grad erreicht hat, den man sich in anderen Ländern schlechterdings<br />

nicht vorstellen kann.<br />

Jede Regierung ist letzten Endes nichts anderes als der politische<br />

Machtapparat der besitzenden Klassen eines Landes, aber nie vorher<br />

hat man einem Volke die vollständige Abhängigkeit alles Regierungswesens<br />

von der gewissenlosesten Profitpolitik einer Oligarchie von<br />

Riesen-Raffkes in so zynischer und offenkundiger Weise vordemonstriert,<br />

wie es bei uns während der letzten fünf Jahre geschehen ist.<br />

Allein die breite Masse der Wähler und besonders der Wähler aus<br />

den arbeitenden Schichten des Landes blieb allen Lehren gegenüber<br />

blind und taub und hat nur das eine bewiesen, daß sie trotz der<br />

furchtbaren Erfahrungen der letzten zehn Jahre nichts gelernt und<br />

nichts vergessen hat. Man nimmt es ruhig hin, wenn der Stinnesmann


8<br />

Betrachtungen über die Wahlen in Deutschland.<br />

Dr. Quaatz den Abbau der Erwerbslosenunterstützung beantragt und<br />

dabei mit einer Gefühlsroheit sondergleichen erklärt, daß bei einem<br />

weiteren Niedergang der Wirtschaft eben nicht verhindert werden<br />

könne, daß Millionen Menschen Hungers sterben. Man regt sich nicht<br />

sonderlich auf, wenn das Sprechorgan der Großagrarier, Graf Westarp,<br />

mit vollendetem Zynismus im Reichstag erklärt, daß man sich bei<br />

dem heutigen Stand der Dinge nicht wundern dürfe, wenn das Volk<br />

bei vollen Scheunen verhungere. Und das geschah in einer Zeit, wo<br />

sowohl der Grundbesitz wie auch die Schwerindustrie Gewinne einsackten,<br />

von denen man vor dem Kriege sogar nicht zu träumen wagte,<br />

während das deutsche Arbeitervolk tatsächlich bei vollen Scheunen<br />

verhungerte und in den Großstädten nahezu 70% aller Kinder vom<br />

Keime der Schwindsucht ergriffen waren.<br />

Das wichtigste Merkmal der letzten Wahlen ist der unverkennbare<br />

Zug nach rechts. <strong>Die</strong> Sozialdemokratie, die mit ihren<br />

5 991 547 Stimmen sich numerisch zwar immer noch als die stärkste<br />

Partei behauptet hat, verlor von ihren 170 Mandaten, die sie im letzten<br />

Reichstag inne hatte, ganze 70. Ihre schweren Verluste sind hauptsächlich<br />

der Kommunistischen Partei zugute gekommen, doch läßt es<br />

sich nicht verkennen, daß ein beträchtlicher Teil ihrer Wähler diesmal<br />

nach rechts abgewandert ist. Es gibt wohl kaum ein Beispiel in<br />

der Geschichte moderner Politik, daß eine Partei sich so hoffnungslos<br />

kompromittiert hat, wie die deutsche Sozialdemokratie. Sie hat die<br />

verhängnisvolle Rolle, die sie während der ganzen Kriegsjahre gespielt<br />

hatte, auch nach dem Kriege getreulich fortgesetzt. Es war ihre große<br />

unverzeihliche Schuld, daß sie bald nach dem Ausbruch der sogenannten<br />

Novemberrevolution sich fortgesetzt allen wirtschaftlichen<br />

Neuerungen mit allen Kräften entgegenstemmte und so eine weitere<br />

Entwicklung der Revolution im Keime erstickte. Ihre Schuld war es,<br />

daß unter der blutigen Diktatur von Noske die Grundlage für die<br />

faschistischen Verbände, die heute ganz Deutschland wie mit einem<br />

Netz überziehen, gelegt wurde. Noske bewaffnete die modernen<br />

Wallensteiner und die sozialdemokratische Presse — voran der<br />

„Vorwärts" — wetteiferte mit den bürgerlichen Blättern durch seitengroße<br />

Inserate für die Werbung der militärischen Freiwilligen-Formationen.<br />

So wurde die Sozialdemokratie dem deutschen Bürgertum zu<br />

einem Schutzwall in der gefährlichsten und kritischsten Periode seines<br />

Daseins. Und diese Rolle hat sie die ganze Zeit weitergespielt. In<br />

jedem kritischen Moment eilte sie dem bedrohten Bürgertum zu Hilfe<br />

und schützte es durch die Macht ihres Einflusses. Unter ihrem Einfluß<br />

haben die Gewerkschaften, sogar als ihnen die beste Gelegenheit dazu<br />

geboten war, keinen Versuch gemacht, die furchtbare materielle Lage<br />

der deutschen Arbeiterschaft einigermaßen erträglich zu gestalten.<br />

Man redete den Arbeitern einfach vor, daß an eine Verbesserung der<br />

sozialen Lebensbedingungen nicht gedacht werden könne, solange<br />

Deutschland die große Krise nicht überwunden habe. Und dies<br />

geschah in einer Zeit, als die Unternehmer märchenhafte Profite einheimsten,<br />

die Besteuerung systematisch boykottierten, während man<br />

den Arbeitern das letzte von ihren Hungerlöhnen herunternahm.


Betrachtungen über die Wahlen in Deutschland. 9<br />

Nur der Sozialdemokratie ist es zu verdanken, daß das Ruhrabenteuer,<br />

das Stinnes und der Kreis der Schwerindustriellen dem<br />

deutschen Volke eingebrockt haben, überhaupt stattfinden konnte,<br />

denn ihre Führer ließen sich auch diesmal wieder von der künstlich<br />

emporgearbeiteten nationalen Welle mitreißen, wie sie es bei Ausbruch<br />

des Krieges getan hatten. Sie scheute sich nicht, zusammen<br />

mit der Deutschen Volkspartei in eine Koalitionsregierung einzutreten,<br />

stimmte für die sogenannten Ermächtigungsgesetze und gab<br />

ihre Zustimumng, daß man zur Zeit des Hitlerputsches Deutschland<br />

der Herrschaft der Generäle auslieferte, trotz aller furchtbaren Erfahrungen<br />

der Vergangenheit. Als sie endlich das Bürgertum abermals<br />

aus einer der heikelsten Situationen gerettet hatte, schiffte sie<br />

der mit allen Wassern gewaschene Stresemann wieder aus der Regierungskarre<br />

aus. Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan, der Mohr<br />

konnte gehen, bis man ihn wieder brauchen würde. <strong>Die</strong> Sozialdemokratie<br />

wiederholte sogar dieses perverse Spiel eines politischen<br />

Masochismus zweimal hinter einander und opferte damit den letzten<br />

Rest von politischem Selbstrespekt. Dafür quittierten ihr später<br />

Stresemann und seine Anhänger mit unverkennbarem Hohn für die<br />

geleisteten <strong>Die</strong>nste. In einem Flugblatt, das die Deutsche Volkspartei<br />

bei den letzten Wahlen zur Verbreitung brachte, machte man sich<br />

direkt über die angebliche Düpierung der Sozialdemokratie lustig, und<br />

als Müller, den sein Freund Schultze für die Volkspartei zu ködern<br />

sucht, einige Einwendungen macht, antwortet ihm dieser schlagfertig:<br />

„Wat denn mit die Sozi? Erst hat Stresemann mit die Sozi anjefangen<br />

den schematischen Achtstundentag abzubauen, und mit die<br />

Sozi den Kronprinzen nach Deutschland rinjelassen, und mit die Sozi<br />

die Reichswehr nach Sachsen jeschickt, um dort Ordnung zu schaffen,<br />

und als die Sozi dann Angst kriegten vor ihrer eigenen Courage, hat<br />

er se loofen lassen und seine Politik ohne sie weiter gemacht — wat<br />

hülste noch?"<br />

Und doch wäre es grundfalsch, in allen diesen Handlungen lediglich<br />

den Verrat der sozialdemokratischen Führer an der deutschen<br />

Arbeiterklasse erblicken zu wollen. Nein, die Sache liegt tiefer. Hier<br />

landelt es sich um die Auswirkung einer geistigen Einstellung, deren<br />

Keime bereits bei der Entstehung der sozialdemokratischen Bewegung<br />

gegeben waren. Deutschland hat das zweifelhafte Verdienst, das<br />

egoistischste, feigste, geistig trägste und am wenigsten soziale Bürgerum<br />

hervorgebrcaht zu haben. Aus diesem Grunde konnte sich hier<br />

niemals ein Liberalismus wie in England oder eine bürgerliche<br />

Demokratie wie in Frankreich entwickeln. So wurde die Soziallemokratie<br />

allmählich zum Sammelbecken aller politisch unzufriedenen<br />

Elemente vor dem Krieg, die vielfach für sozialistische Probleme<br />

licht das geringste Verständnis hatten und lediglich dazu beitrugen,<br />

die Sozialdemokratische Partei bürgerlich zu verspießern. Auf diese<br />

Weise entwickelte sich die Sozialdemokratie und die unter ihrem<br />

geistigen Einfluß stehende Gewerkschaftsbewegung Deutschlands<br />

immer mehr als ein notwendiger Bestandteil des nationalen Staates.<br />

Der Sozialismus verlor für ihre geistigen Führer immer mehr den


10<br />

Betrachtungen über die Wahlen in Deutschland.<br />

Charakter eines neuen Kulturideales, das die kapitalistische Zivilisation<br />

ablösen sollte, und das infolgedessen an den Grenzen der einzelnen<br />

nationalen Staaten nicht halt machte. Aus diesem Grunde<br />

vermengten sich ihnen die Interessen des nationalen Staates immermehr<br />

mit den Interessen der Partei, deren Führer sich allmählich daran<br />

gewöhnten, alle Fragen durch die Brille der sogenannten nationalen<br />

Interessen zu betrachten. So konnte es nicht ausbleiben, daß die Partei<br />

sich allmählich als notwendiger Bestandteil in das nationale Staatsgefüge<br />

eingliederte, wie jede andere Institution, die zur Erhaltung<br />

desselben beiträgt.<br />

Aus diesem Grunde wäre es auch töricht, aus der jetzigen Niederläge<br />

der Sozialdemokratie ihren nahe bevorstehenden Untergang voraussagen<br />

zu wollen, wie es die Kommunisten tun. Unserer Ansicht<br />

nach wird die Sozialdemokratie innerhalb des heutigen Systems überhaupt<br />

nicht verschwinden, da sie, wie gesagt, ein Bestandteil desselben<br />

ist — eine Art Blitzableiter für die besitzenden Klassen, es sei denn,<br />

daß ihre Aufgabe von einer anderen Partei — möglicherweise von den<br />

Kommunisten — als Erbschaft übernommen würde.<br />

<strong>Die</strong> Kommunistische Partei, der es mit ihren 3 728 089 Stimmen<br />

gelang, sich zur viertstärksten Partei Deutschlands emporzuschwingen,<br />

verdankt ihren Erfolg lediglich den schweren politischen Fehlern der<br />

Sozialdemokratie. Ihre Anhängerschaft rekrutiert sich hauptsächlich<br />

aus Arbeitern, die an der Sozialdemokratie verzweifelt sind und die, ge?<br />

trieben durch die furchtbare Not und Verzweiflung der letzten Jahre<br />

für revolutionäre Schlagworte und eine radikale Phraseologie sehr<br />

empfänglich sind. Dabei darf man allerdings nicht übersehen, daß<br />

außer den extremen Rechtsparteien, die über große Geldmittel ver?<br />

fügten, keine andere Partei einen ähnlichen Aufwand an finanziellen<br />

Mitteln für die Wahlen entfalten konnte, als gerade die Kommunisten,<br />

die natürlich von Rußland in der ausgiebigsten Weise versorgt wurden.<br />

Und doch wäre es verkehrt, in dem sogenannten Wahlsieg der KPD.<br />

mehr wie einen vorübergehenden Erfolg erblicken zu wollen. Eine<br />

Partei, die fortgesetzt den schwersten inneren Krisen ausgesetzt ist<br />

und die nur durch eine sogenannte „Parteidisziplin" notdürftig zusammengehalten<br />

wird, welche den Kadavergehorsam des alten preußischen<br />

Militarismus weit in den Schatten stellt, eine Partei, die man<br />

lediglich als Organ der auswärtigen Regierungspolitik der russischen<br />

Sowjetrepublik auffassen muß, kann auf die Dauer keine größeren<br />

Massen an ihre Fahne fesseln. Schon die Erklärung, welche die Kandidaten<br />

der Partei unterschreiben mußten, ist eine direkte Abdankung<br />

der Vernunft. Unter anderem heißt es dort: „Ausgehend von diesen<br />

Grundsätzen erklärt der Unterzeichnete, daß er als Kandidat und Abgeordneter<br />

für das Parlament lediglich Beauftragter der Kommunistischen<br />

Partei Deutschlands ist und nicht ein sognannter ,Freier Erwählter<br />

des Volkes, der nur seinem Gewissen verantwortlich sei'. Der<br />

Unterzeichnete erklärt sich bereit, daß er alle Beschlüsse der Parteizentrale<br />

der KPD. ausführt und sich in allen Handlungen und seiner<br />

Betätigung diesen Beschlüssen unterordnet."


Betrachtungen über die Wahlen in Deutschland. 11<br />

Weiter kann das Prinzip eines übergeschnappten Zentralismus<br />

wohl nicht getrieben werden. Es ist das Papsttum der Kirche in verschärftem<br />

Maße auf die Politik einer Partei übertragen. <strong>Die</strong>sen ganzen<br />

Aufwand hält man für nötig, um die innere Einheit der Partei zu<br />

sichern, die trotzdem in keiner anderen Partei so brüchig ist wie gerade<br />

bei den Kommunisten. Auch die fortgesetzten „Säuberungsaktionen"<br />

der Zentrale haben bisher das Uebel bloß noch verschlimmert und die<br />

letzten Reste des gesunden Menschenverstandes vollends begraben.<br />

Von allen Parteien — die Völkischen ausgenommen — hat gerade<br />

die Kommunistische Partei mit einem Aufwand demagogischer Mittel<br />

gearbeitet, die jeder Beschreibung spottet. Als die von der Schwerindustrie<br />

bezahlte Presse die öffentliche Meinung für das Ruhrabenteuer<br />

aufpeitschte und die Sozialdemokratie auch dieses Mal auf den<br />

Leim ging, entdeckte die KPD. urplötzlich ihr nationales Herz, um nicht<br />

ins Hintertreffen zu geraten. Radek, der Berater der alten Zentrale,<br />

verherrlichte Schlageter, den Märtyrer der deutschen Faschisten, und<br />

einer der ausgesprochensten Reaktionäre Deutschlands, Graf Reventlow,<br />

schrieb seinen berüchtigten Artikel in der „Roten Fahne", in dem<br />

er einem zeitweiligen Zusammengehen der deutschen Faschisten mit<br />

den Kommunisten eifrig das Wort redete. Man vergaß ganz, daß es<br />

dieselben Kreise gewesen, die Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg<br />

in grauenhafter Weise ermordet hatten. Bekannte kommunistische<br />

Politiker, wie Remmele traten in völkischen Versammlungen als Redner<br />

auf und wurden von den Faschisten mit stürmischen Beifall begrüßt.<br />

Und um der Judenfresserei dieser teutschen Helden Reverenz<br />

zu erweisen, erklärte die bekannte Ruth Fischer, die heute mit in der<br />

neuen kommunistischen Zentrale sitzt, in einer Versammlung völkischer<br />

Studenten: „Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die<br />

Laterne, zertrampelt sie." — Der gerissenste Konjunkturpolitiker<br />

konnte die verschiedenen Situationen nicht besser ausnutzen, wie es<br />

die Wortführer der KPD. getan haben. Wie die KPD. seit ihrer Entstehung<br />

ihre Grundsätze fortgesetzt wechselte, je nachdem man von<br />

Moskau aus kommandierte, so ist sie auch von ihrem ehemaligen Antiparlamentarismus<br />

ziemlich schnell zum sogenannten „revolutionären<br />

Parlamentarismus" gekommen. Sie wird bei dieser Wandlung nicht<br />

stehen bleiben, und der „revolutionäre Parlamentarismus" wird eines<br />

Tages der positiven Mitarbeit Platz machen.<br />

Was die ausgesprochenen „Hakenkreuzler", die Mannen der<br />

Deutschvölkischen Freiheitspartei und die Deutschsozialen anbetrifft,<br />

so haben sie trotz ihrer 36 Mandate doch nicht den Zulauf erhalten,<br />

den sie sich versprochen hatten. <strong>Die</strong>se Richtungen und noch ein halbes<br />

Dutzend anderer Konkurrenten sind kranke Gewächse einer kranken<br />

Zeit. Sie wurden mit dem Gelde der Schwerindustriellen und der<br />

Großagrarier künstlich aufgepäppelt, um diesen als Sturmbock gegen<br />

die Arbeiterbewegung zu dienen. Ihre blöde antisemitische Agitation<br />

ist den großen Kapitalisten deshalb erwünscht, weil durch sie die<br />

Unzufriedenheit der Massen in andere Kanäle geleitet wird, wo die<br />

Polizei leicht mit ihr fertig werden kann. <strong>Die</strong>se Parteien benutzen<br />

bei ihrer Propaganda eine Menge sozialistische Schlagworte,


12<br />

Betrachtungen über die Wahlen in Deutschland.<br />

und es gelang ihnen, damit eine ganze Anzahl Arbeiter, welche den<br />

Zusammenhang der Dinge nicht durchschauen, für sich zu ködern.<br />

<strong>Die</strong>se „rassenreinen deutschen Männer" sind sich aber durchaus nicht<br />

untereinander einig, sondern zerfallen in nahezu ein Dutzend verschiedener<br />

Richtungen, die sich gegenseitig auf das grimmigste befehden.<br />

Schuld daran ist die große Anzahl der „Generäle", die sich<br />

über die Verteilung der Posten nach dem Siege nicht einigen können.<br />

Dabei passieren die drolligsten Dinge. Will so ein echter deutscher<br />

Mann einen verhaßten Konkurrenten aus dem Felde schlagen, so<br />

braucht er nur auf irgend eine Art nachzuweisen, daß derselbe<br />

jüdisches Blut in den Adern hat. Worauf es passieren kann, daß der<br />

also Angegriffene in der Presse einen öffentlichen Aufruf erläßt, in<br />

dem er demjenigen Hunderttausend Goldmark offeriert, der den Nachweis<br />

erbringt, daß wirklich jüdisches Blut in seinen Adern rollt. Auf<br />

diese Weise kam man schon zu den merkwürdigsten Entdeckungen:<br />

So behauptet man, daß der große Antisemitenhäuptling Wulle eine<br />

jüdische Großmutter gehabt habe. Ja, sogar der große Ludendorff, das<br />

Idol aller Völkischen in Deutschland, muß sich gefallen lassen, daß<br />

man ihn in den „ganz rassenreinen Kreisen" etwas über die Schulter<br />

ansieht, seit die „Familiengeschichtlichen Blätter" in Leipzig berichtet<br />

haben, daß einer seiner Vorfahren, der Kaufmann Karl Otto Ludendorff<br />

in Stettin, die Tochter des jüdischen Seifenhändlers Abraham<br />

Weilandt zur Frau genommen habe. Wenn man das tolle Spiel dieser<br />

Harlekine in der Presse verfolgt, so faßt einem der Menschheit ganzer<br />

Jammer an, daß so etwas im 20. Jahrhundert noch möglich ist und<br />

dazu noch ausgerechnet bei dem „Volk der Dichter und der Denker"<br />

Immerhin sind diese völkischen Hanswürste der Deutschnationalen<br />

Partei, die mithalf, sie großzuziehen, und die heute infolge ihres<br />

großen Wahlsieges mit allen Augen nach der Regierungsfutterkrippe<br />

schielt, sehr unbequem. Für eine rein „Nationale Regierung" langt<br />

es noch nicht. Folglich müßte man sich mit dem großen Bürgerblock<br />

bescheiden, von den Deutschnationalen bis zu den Demokraten. <strong>Die</strong><br />

alten Regierungsparteien haben sich geschlossen auf den Boden der<br />

Anerkennung des Gutachtens der Sachverständigen gestellt, während<br />

die Deutschnationale Partei bei den Wahlen für rücksichtslose Ablehnung<br />

eingetreten ist. Was ist da zu tun? Herr Hergt, der Führer<br />

der Deutschnationalen, hat zwar schon ziemlich deutlich zu verstehen<br />

gegeben, daß er für die Anerkennung zu haben ist. Und da das Reparationsproblem<br />

das erste ist, welches die neue Regierung zu lösen<br />

haben wird, so klingt auch bereits durch die deutschnationale Presse<br />

ein anderer Ton. Dort, wo man vor den Wahlen entschieden<br />

„schwarz" sagte, sagt man heute schon „grau"; morgen wird man<br />

schon „weiß" sagen. Aber die Völkischen schreien Verrat und behaupten<br />

bereits schon, daß die Juden hinter der Sache stecken. Das<br />

ist unbequem. Unter diesen Umständen ist es schwer zu sagen, ob<br />

dem neuen Reichstag ein langes Leben beschieden sein wird.


Betriebsräte und Syndikalismus. 13<br />

Betriebsräte und Syndikalismus.<br />

Von Augustin Souchy.<br />

Durch die Revolution in Rußland und Mitteleuropa zum Durchbruch<br />

gekommen, verbreitete sich die Räteidee wie ein Lauffeuer,<br />

später jedoch wurde sie immer mehr zurückgedrängt, und heute ist<br />

nur noch die Erinnerung an die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte<br />

zurückgeblieben. <strong>Die</strong> alten Autoritäten setzten sich mit Hilfe der<br />

Sozialdemokraten wieder fest, die Massen glaubten an die neuen Männer,<br />

ließen sich betören und von der Idee ablenken, durch eigene Kraft<br />

und eigene Organe die neue soziale Ordnung ganz ohne den bürgerlichen<br />

Staat aufzubauen. In Rußland, wo die Sowjet- oder Räterepublik<br />

sich durchsetzte, verloren die Räte durch die spatere Alleinherrschaft<br />

der kommunistischen Partei an Bedeutung und Einfluß, und heute<br />

besteht das Räterußland nur noch dem Namen nach, die Arbeiter und<br />

Bauern haben trotz ihrer schattenhaften Reste von Räten so wenig zu<br />

sagen wie in jedem anderen Lande. Selbst die Betriebsräte sind in<br />

Rußland vollständig in der Hand der kommunistischen Zelle eines<br />

Betriebes.<br />

In Deutschland war die Idee der Arbeiterräte so populär geworden,<br />

daß die Regierung sich gezwungen fühlte, ein Gesetz anzunehmen,<br />

durch welches die Betriebsräte als feststehende Einrichtung anerkannt<br />

wurden und Funktionen übernahmen, wodurch die Rechte der Unternehmer<br />

beschnitten und den Arbeitern Mitbestimmungsrecht im Produktionsprozeß<br />

eingeräumt werden sollte.<br />

<strong>Die</strong>se sogenannte „gesetzliche Verankerung" der Räteidee durch<br />

das Betriebsrätegesetz ist ein Bastard der Räteidee, ein Knochen, der<br />

von der herrschenden Klasse den Arbeitern hingeworfen wurde, um<br />

sie beruhigen. In diesem Zusammenhange ist es am Platze, auf die<br />

Wertlosigkeit der Arbeitergesetzgebung hinzuweisen, deren Mutterland<br />

Deutschland ist. Eine fünfzigjährige Erfahrung hat das revolutionäre<br />

Proletariat gelehrt, daß die soziale Gesetzgebung den Weg zur sozialen<br />

Befreiung nicht ebnet, sondern ihn verbaut. Das Proletariat wird dadurch<br />

in die Illusion gewiegt, daß es vom Staate etwas erwarten könne,<br />

die sozialdemokratische Auffassung vom „freien Volksstaate" bekommt<br />

neue Nahrung. Auf der anderen Seite wird der Glaube und<br />

das Vertrauen an die eigene Kraft in demselben Maße geschwächt,<br />

wie die Hoffnung auf die Macht des Staates sowie der Glaube an dessen<br />

Sorge für seine Untertanen gestärkt wird. Und gerade dieses Vertrauen,<br />

das in letzter Instanz im Glauben an übernatürliche Mächte,<br />

an die theokratische Grundlage der sozialen Ordnung wurzelt, ist der<br />

größte Hemmschuh für die Entwicklung der freiheitlichen Gesellschaft.<br />

Da gerade bei uns in Deutschland die Ideen des Staatssozialismus<br />

am meisten kultiviert worden sind, so haben auch wir Syndikalisten


14<br />

Betriebsräte und Syndikalismus.<br />

die Gefahren und Auswüchse dieser Doktrin am besten kennengelernt.<br />

So hat die F.A.U.D. auf ihrem 14. Kongreß zu Erfurt in einer Resolution<br />

zu den gesetzlichen Betriebsräten im ablehnenden Sinne Stellung<br />

genommen, es jedoch ihren einzelnen Mitgliedern überlassen, sich<br />

daran zu beteiligen. Eine offizielle Beteiligung der F.A.U.D. an den<br />

Betriebsräten wurde abgelehnt. <strong>Die</strong>se Ablehnung stützt sich nicht nur<br />

auf einige besonders krasse Paragraphen des Betriebsrätegesetzes, wonach<br />

Betriebsräte bei Uebertretung ihrer Befugnisse zu Gefängnisstrafen<br />

verurteilt werden können, obgleich auch das ein Grund zur<br />

Ablehnung wäre. <strong>Die</strong> revolutionäre Arbeiterschaft hat aber mehr als<br />

einmal erfahren müssen, daß die gesetzlichen Betriebsräte zu Werkzeugen<br />

des Unternehmertums geworden sind, anstatt die Interessen<br />

ihrer Klassengenossen zu vertreten. Anzeichen hierfür haben sich<br />

schon bei den ersten Betriebsräten gezeigt, die ins Leben traten, noch<br />

ehe das Betriebsrätegesetz geschaffen war. <strong>Die</strong> Unternehmer suchten<br />

die Betriebsräte durch höfliches Entgegenkommen und durch Bevorzugung<br />

ihrer Wünsche zu bestechen. Wenn die Belegschaften nicht<br />

wachsam über ihre gewählten Betriebsräte sind und jedes Abweichen<br />

vom revolutionären Wege durch geeignetere Kameraden ersetzen, dann<br />

wird auch der Betriebsrat vor Korruption nicht bewahrt bleiben. <strong>Die</strong>ser<br />

intime Kontakt und die Identifizierung des Betriebsrates mit der Belegschaft<br />

wird durch die gesetzlichen Betriebsräte nicht gewährleistet,<br />

da diese staatlich zugelassene Funktionäre sind, die im Rahmen der<br />

gesetzlichen Bestimmungen sich selbst als eine Art Beamten fühlen<br />

und gerade durch ihre Gesetzlichkeit von dem Nimbus der staatlichen<br />

Autorität umgeben werden.<br />

Gewiß wird ein wahrhaft revolutionärrer Arbeiter durch seine<br />

Funktion als Betriebsrat niemals zu einem Unternehmerknecht werden,<br />

noch wird ihn die Gesetzlichkeit bestechen können. Unsere Genossen<br />

in den Betrieben können aber so manches Lied davon singen,<br />

wieviel Betriebsräte sich als gesetzlich patentierte Beamten dünken,<br />

und bei dem Obrigkeitsfimmel und der Autoritätsgläubigkeit des<br />

Deutschen ist die Einführung gesetzlicher Funktionen in die<br />

Arbeiterbewegung mit besonderer Vorsicht aufzunehmen.<br />

<strong>Die</strong> Ablehnung an der Teilnahme der gesetzlichen Betriebsräte<br />

bedeutet aber nicht die Verwerfung der Betriebsräte überhaupt. Der<br />

Gedanke, daß durch die Räte, durch die Betriebsräte in erster Linie,<br />

in weiterer Ausdehnung durch Bezirks- und Landesarbeiterräte die Arbeiterschaft<br />

sich größeren Einfluß verschaffen und sich schließlich dadurch<br />

in den Stand setzen könne, die Alleinherrschaft der Kapitalisten<br />

zu verdrängen, die Demokratie, die heute nur in der Politik besteht, in<br />

die Wirtschaft überzuführen, hat bei breiten Arbeitermassen festen<br />

Fuß gefaßt. In dieser Form werden die Betriebsräte auch von den reformistischen<br />

Gewerkschaften und von der Sozialdemokratie vertreten.<br />

<strong>Die</strong> Verbände der Roten Gewerkschaftsinternationale sehen<br />

in den Betriebsräten Zellen der kommunistischen Partei, deren<br />

Aufgabe darin besteht, die Arbeiterschaft der Betriebe für die Ziele<br />

der Partei zu gewinnen. Ueber diesen Rahmen hinaus ließt den kom-


Betriebsräte und Syndikalismus. 15<br />

munistischen Betriebsräten höchstens noch ob, nach Besitzergreifung<br />

der Staatsmacht durch die Partei oder das Direktorium der Partei die<br />

erteilten Befehle auszuführen, wie es ja auch schon heute ist.<br />

Wer aber wirklich revolutionäre Betriebsräte erstrebt, die brauchbare<br />

Werkzeuge im Klassenkampf sein und vorbereitende Arbeit für<br />

die soziale Revolution machen sollen, der wird von den bürgerlichen<br />

Gesetzen unabhängige Betriebsräte erstreben. Gerade wir Syndikalisten,<br />

die wir nichts vom Staate erwarten, sondern der Meinung<br />

sind, daß die soziale Revolution in allen Adern des wirtschaftlichen<br />

Lebens, in der Peripherie wie im Zentrum zu gleicher Zeit von den<br />

schaffenden Kräften des werktätigen Volkes durchgeführt werden muß,<br />

können uns eine Lösung der Frage der Verwaltung in den Betrieben<br />

nur durch die Arbeiter des Betriebes selbst vorstellen, da die Arbeiter<br />

am besten wissen, wer unter ihnen am fähigsten und geeignetsten<br />

ist. <strong>Die</strong> Idee der Betriebsräte bekommt für uns Syndikalisten einen<br />

ganz anderen Sinn als bei den Sozialdemokraten und Kommunisten.<br />

Wir stecken die Ziele der Betriebsräte weit höher. Während bei Reformisten<br />

und Kommunisten den Räten keine selbständige Aufgabe<br />

zufällt, sondern sie nur auszuführen haben, was ihnen Partei und Gewerkschaft<br />

auferlegen, sehen wir Syndikalisten in den Betriebsräten<br />

nicht nur die ausführenden Organe einer höheren Macht, sondern mit<br />

Initiative versehene und selbständig wirkende Kräfte der revolutionären<br />

Arbeiterbewegung, die neben dem direkten Kampf auf dem Arbeitsplatze<br />

gegen den Unternehmer sich auch für die Uebernahme der Produktion<br />

vorbereiten müssen, die sie in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung<br />

zu leiten haben.<br />

Es hat uns der Verlauf der Revolutionen gezeigt, daß sich<br />

am Tage ihres Ausbruches neue Organe bilden, die unter verschiedenen<br />

Namen auftreten, im Wesen aber dasselbe sind. Ohne auf die Revolutionen<br />

der Vergangenheit einzugehen, sei erinnert, daß sich im Laufe<br />

der revolutionären Ereignisse in Deutschland, zuerst beim Ausbruch<br />

der Novemberrevolution, revolutionäre Räte und Obleute bildeten, die<br />

noch bis zum Sommer 1919 hinein bestanden haben, daß auch noch<br />

später bei anderen revolutionären Ereignissen, wie z. B. beim Kapp-<br />

Putsch, also zu einer Zeit, als schon die gesetzlichen Betriebsräte bestanden<br />

haben, sich neue revolutionäre Arbeiterräte bildeten, die aus<br />

den Massen selbst erstanden. <strong>Die</strong>se revolutionären Obleute aus den<br />

Betrieben sind spontane Organe der Revolution, und sie werden die<br />

ersten Träger jeder zukünftigen Revolution sein, die noch während des<br />

Zusammenbruches der alten Weltordnung die Elemente der neuen in<br />

ihren ersten Anfängen aufbauen.<br />

Sollen wir Syndikalisten in Erwartung der kommenden Revolution<br />

und im Vertrauen auf die durch eine Revolution spontan zur Entfaltung<br />

kommenden Kräfte die Bildung von revolutionären Betriebsräten heute<br />

vollständig ablehnen? Mit nichten. Der Syndikalismus begnügt sich<br />

sonst nicht damit, in Erwartung der sozialen Revolution die Hände in<br />

den Schoß zu legen, er will auch heute die Solidarität in der Arbeiterschaft<br />

wecken und den Kampf für die Hebung der Lage des Proletariats<br />

führen. Dazu sind neben den gewerkschaftlichen Organisation


16<br />

Betriebsräte und Syndikalismus.<br />

nen Vertrauensleute in den Betrieben notwendig. <strong>Die</strong>se Vertrauensleute<br />

sind aber nichts anderes als die Betriebsräte.<br />

Nun gibt es freilich in der Arbeiterbewegung Strömungen, die<br />

einen Unterschied machen zwischen den Vertrauensleuten der Gewerkschaften<br />

in den Betrieben und den Betriebsräten. <strong>Die</strong> Bewegung<br />

der Shop-Stewards-Councils in England, die heute freilich nicht mehr<br />

besteht, und die Betriebsorganisation in Deutschland, die einen sehr<br />

geringen Wirkungskreis hat, und, obzwar ein Kind der Revolution,<br />

heute schon wieder sichtbar im Rückgang ist, — diese beiden Bewegungen<br />

sind organisatorisch von allem Anfang an nur auf Betriebsräte<br />

aufgebaut. <strong>Die</strong>se Bewegungen entstanden in den Betrieben und<br />

wuchsen erst von da aus zu lokalen, dann zu bezirksweisen Zusammenschließungen<br />

heran.<br />

Sie sehen in den Vertrauensleuten der Gewerkschaften etwas ganz<br />

anderes als selbständige Betriebsräte. Wenn man die reformistischen<br />

Amsterdamer oder zentralistischen Moskauer Gewerkschaften hierbei<br />

im Auge hat, dann sind die Kameraden der reinen Betriebsrätebewegung<br />

wohl im Rechte. Das ändert sich aber in dem Augenblick,<br />

wo es sich um revolutionärssyndikalistische Gewerkschaften handelt,<br />

die als wichtigsten Grundsatz die Selbstbestimmung aufstellen und<br />

ihren Mitgliedern volles Selbstbestimmungsrecht gewährleisten. Dagegen<br />

würde eine Betriebsräte- oder Shop-Stewards-Councilbewegung.<br />

die sich zentralistisch aufbaut, den Betriebsräten der einzelnen Betriebe<br />

weniger Selbständigkeit gewähren wie die föderalistischen Gewerkschaften<br />

der Syndikalisten, und in diesem Falle würden sich diese<br />

zentralistischen Betriebsräteorganisationen den zentralistischen<br />

Amsterdamern oder Moskauern wohl mehr nähern und das Ideal der<br />

selbständigen Betriebsräte dadurch verloren gehen.<br />

Wenn also die Syndikalisten die Betriebsräte grundsätzlich anerkennen,<br />

dann dürfen sie die Schaffung derselben nicht der kommenden<br />

Revolution überlassen. Mag diese Revolution sich neue Organe<br />

schaffen, die heutige Zeit erfordert Vertrauensleute oder Betriebsräte<br />

in den Betrieben. Und wenn diese Betriebsräte ernsthaft die<br />

Interessen der Arbeiterschaft wahrnehmen, dann werden sie eine bedeutende<br />

Mission in Gegenwart und Zukunft erfüllen. <strong>Die</strong> Arbeiter<br />

werden aber auch bei Ausbruch einer Revolution sich an die<br />

Organe erinnern, die in Vergangenheit und Gegenwart das Befreiungswerk<br />

des Proletariats vorbereiten halfen.<br />

<strong>Die</strong> Kommunisten haben ebenfalls die Bedeutung der Betriebsräte<br />

für den revolutionären Tageskampf sowie für den endgültigen Entscheidungskampf<br />

der Arbeiterschaft eingesehen. Da sie aber den<br />

Staat anerkennen und eine parlamentarische Partei sind, so nehmen<br />

sie natürlich auch Anteil an den gesetzlichen Betriebsräten. <strong>Die</strong>se<br />

wollen sie zu gefügigen Werkzeugen ihrer Parteipolitik machen. Hierin<br />

liegt eine Gefahr für die revolutionäre Arbeiterschaft, und deshalb muß<br />

der kommunistischen Propaganda die des revolutionären Syndikalismus<br />

entgegengesetzt werden.<br />

Das kann am erfolgreichsten geschehen, wenn wir freie Betriebsräte<br />

schaffen, die von den gesetzlichen vollständig unabhängig sind.


Betriebsräte und Syndikalismus. 17<br />

<strong>Die</strong> Aufgaben dieser freien Betriebsräte müssen mannigfaltig sein.<br />

Sie müssen in den Betrieben, bei Betriebsversammlungen und bei<br />

sonstigen Gelegenheiten die Ideen des revolutionären Syndikalismus<br />

vertreten, dem Wirken der Parteipolitikanten und deren Anhängern<br />

entgegentreten und sich selbst für die Uebernahme und<br />

echnische Leitung der Betriebe vorbereiten sowie die Arbeiterschaft<br />

mmer und immer wieder auf dieses große Endziel der Arbeiterbewegung<br />

aufmerksam machen.<br />

Wenn es uns gelingt, in diesem Sinne an dem Aufbau und Ausbau<br />

der revolutionären Betriebsräte zu arbeiten, dann werden wir die Gewißheit<br />

haben, daß bei einer Besetzung der Betriebe, wie sie beispielsweise<br />

in Italien erfolgte, die Arbeiterschaft im Vertrauen auf ihre<br />

eigene Macht und Stärke den Kampf erfolgreich bestehen kann.<br />

Das schwierigste Werk der sozialen Revolution ist nicht die<br />

Eroberung oder Besetzung der Betriebe, jener wirtschaftlichen Zellen,<br />

auf denen sich die gesamte soziale Ordnung unseres industriellen Zeitalters<br />

aufbaut, sondern die Verwaltung derselben.<br />

<strong>Die</strong> soziale Revolution, die wir Syndikalisten erstreben und durchführen<br />

wollen, ist eine wirtschaftliche Revolution. Sie setzt nicht ein<br />

bei der Eroberung der Staatsmacht, der Besetzung der Ministerposten<br />

und hohen Staatsämter, das überlassen wir den politischen Parteien.<br />

Wir erblicken vielmehr in den landwirtschaftlichen, industriellen und<br />

gewerblichen Betrieben die Zellen, auf denen sich die gesamte soziale<br />

Ordnung unseres Zeitalters aufbaut. <strong>Die</strong> Eroberung und Verwaltung<br />

dieser Zellen, der Betriebe, ist die wichtigste Aufgabe der Revolution.<br />

Während die Eroberung die Sache eines Handstreichs sein kann, liegt<br />

gerade in der sofortigen geregelten Verwaltung, in der ununterbrochenen<br />

Fortsetzung der Produktion, in der Heranschaffung der<br />

Rohmaterialien, in der Aufrechterhaltung der Verkehrsmittel, in der<br />

raschen Weiterbeförderung und Verteilung der erzeugten Güter der<br />

Angelpunkt der sozialen Revolution. <strong>Die</strong>se kann als gelungen bezeichnet<br />

werden und die Konterrevolution wird die geringsten Aussichten<br />

haben, wenn die wirtschaftliche Seite der Revolution sofort in<br />

die Augen springende Erfolge, sichtbar für die gesamte Bevölkerung,<br />

aufzuweisen hat. Dann wird eine solche Revolution bei weitem nicht<br />

den Aufwand auf die Verteidigung gegen die Konterrevolution nötig<br />

haben, wie eine Revolution, die den von den Staatskommunisten gezeichneten<br />

Weg durch Eroberung der Staatsmacht geht.<br />

Wenn ein solcher Verlauf der Revolution ermöglicht werden soll,<br />

wie wir Syndikalisten ihn erstreben, dann müssen wir in den Betrieben<br />

der landwirtschaftlichen, industriellen und gewerblichen Unternehmungen<br />

syndikalistische Betriebsräte organisieren, die sich für ihre<br />

gewaltigen Aufgaben vorbereiten und heute schon durch tatkräftiges<br />

Eintreten im Klassenkampfe sich die Sympathien der Arbeiterschaft<br />

zu gewinnen suchen.


18<br />

<strong>Die</strong> soziale Gesetzgebung.<br />

<strong>Die</strong> soziale Gesetzgebung.<br />

Von D. A. de S a n t i 11 a n.<br />

Als Saverio Merlino auf dem so übel beleumundeten sozialistischen<br />

Kongresse in Paris 1889 frank und frei der Meinung Ausdruck<br />

gab, daß die Tatsache, daß auf der Tagesordnung „<strong>Die</strong> Arbeitergesetzgebung"<br />

als Thema figuriere, ein Zeichen dafür sei, daß<br />

der Kongreß kein sozialistischer sei, waren es die Magnaten der internationalen<br />

Sozialdemokratie, die Bebel, Lafargue, Vaillant,<br />

Iglerias, Mesa, Adler, Anseele, die zum Himmel aufschrien<br />

und bei den niederträchtigsten Beleidigungen gegen unsern Kameraden<br />

anlangten. Aber seine Behauptungen bleiben bestehen und<br />

überall dort, wo wirklich revolutionäres Leben sich zeigt, ist die<br />

soziale Gesetzgebung verdammt als Antisozialismus. Auf diesem<br />

selben Kongreß, der im Zeichen des Triumphes der Sozialdemokratie<br />

stand, eines Triumphes, der 1896 in London mit endgültigem Ausschluß<br />

der Anarchisten von den Kongressen des gesetzlichen und<br />

parlamentarischen Sozialismus gekrönt wurde, führte William Morris<br />

den Delegierten das Beispiel der englischen Bourgeoisie vor Augen,<br />

die es versuchte, der anschwellenden revolutionären Gefahr durch<br />

das sichere Werk à la Bismarck und einer neuen Form von Produktionsgenossenschaften<br />

zu begegnen, die die ersten entschieden revolutionären<br />

Genossenschaften ersetzen sollten. Dennoch: der Kampf für<br />

die Arbeitergesetzgebung wurde auf diesem Kongresse angenommen,<br />

auf dem unter andern auch die Stimme eines Domela Nieuwenhuis<br />

gegen die Lügen des Parlamentarismus und die Illusion des Reformismus<br />

sich hören ließ.<br />

Eine Tat, wie die soziale Gesetzgebung, die einen Bismarck zum<br />

Vater hatte, eine Tat, die die Bourgeoisie aller Länder gegen die Arbeiterklasse<br />

anwendete und in der die Regierungen im allgemeinen<br />

wetteiferten, um vermittels ihrer gesetzlichen Mittel das Glück der<br />

Arbeiterschaft zu errichten, eine derartige Tat hätte den Reformisten,<br />

die vorgaben, im Namen des Sozialismus zu sprechen die Augen öffnen<br />

sollen. Das war aber nicht so. <strong>Die</strong> Stimme der Antiautoritären ist<br />

durch die Wahlerfolge der Sozialdemokratie und durch die Regierungsreaktion<br />

für einige Zeit unterdrückt worden. Und wenn es auch wahr<br />

ist, daß sie in keinem Lande ganz verstummte, so ist es ebenso wahr,<br />

daß ein großer Teil der Arbeiterschaft sich von Abenteuern parlamentarischer<br />

Kämpfe und jenem unglücklichen Glauben an ein Glück ins<br />

Schlepptau nehmen ließen, das von Staatswegen her diktiert werden<br />

sollte. <strong>Die</strong> sozialdemokratische Taktik und Ideologie hat zur Einschläferung<br />

und Passivität der arbeitenden Massen mehr beigetragen<br />

als alle ausdenkbaren Unterdrückungsmittel der Reaktion. Wieviel


<strong>Die</strong> soziale Gesetzgebung. 19<br />

bittere Erfahrungen hätten vermieden werden können, wenn man im<br />

Jahre 1889 auf die kategorische Forderung Merlinos gehört hätte!<br />

Man könnte annehmen, daß die Arbeiter aus vierzig Jahren Parlamentarismus<br />

der Arbeiterschaft etwas gelernt hätten und nun endlich<br />

diesem falschen Weg den Rücken kehren würden. Aber wir sehen<br />

im Gegenteil, daß in allen Ländern Sozialdemokraten und reformistische<br />

Führer in höchste Regierungsstellen hineingelangen und in<br />

ihren Händen das Steuer des kapitalistischen Staates halten, trotzdem<br />

aber nicht das Vertrauen der Arbeiterschaft verlieren. <strong>Die</strong> Geschichte<br />

selbst bietet der Welt zahlreiche Beispiele dafür, wie berechtigt unsere<br />

Befürchtungen gewesen sind. Wir und unsere Vorkämpfer haben von<br />

jeher die Reaktion in der Autorität gekennzeichnet, gleichgültig in<br />

welcher Form oder unter welchem Namen sie auftritt; wir haben auf<br />

die Gefahr des autoritären Sozialismus hingewiesen und haben gezeigt,<br />

daß er sich kaum von den bestehenden Systemen der Reaktion und des<br />

Konservativismus unterscheidet; die Reformen und Schutzgesetze für<br />

die Arbeiterschaft haben wir entlarvt als das, was sie sind: Ausdruck<br />

der Sklaverei des Staates und der Habsucht der bürgerlichen Klasse.<br />

Ueberau sehen wir dasselbe Beispiel; in Rußland, Deutschland,<br />

Dänemark, England usw. haben Regierungsmänner im Namen des<br />

Sozialismus und der Arbeiterschaft in schändlicherer Weise gewirkt,<br />

das Elend des Proletariats wie seine Sklaverei aufrecht zu erhalten und<br />

die Privilegien der herrschenden und besitzenden Klasse zu restaurieren<br />

und zu festigen als selbst die Staatsmänner des alten Regimes.<br />

Man sollte meinen, daß das Proletariat doch nun endlich verstünde,<br />

wo die Gefahr liegt, denn es ist offenbar, daß die Reaktion dieselbe,<br />

daß die Ursache des Uebels dieselbe und die gleiche ist unter<br />

jeder Regierungsform: diese Ursache ist die Autorität, diese Ursache<br />

ist der Staat Dennoch: das hat man noch immer nicht verstanden. So<br />

wie die Völker, die während des Weltkrieges einander niedermachten<br />

im Interesse ihrer industriellen und politischen Cliquen, ihre tragischen<br />

Erfahrungen vergessen haben und wenn man sie aufrufen<br />

würde, morgen in ein neues Morden hineinrasten, in derselben Weise<br />

schließen sie die Augen gegenüber den Lektionen einer so bezeichnenden<br />

Realität und horchen mit großer Aufmerksamkeit auf alle Lügen,<br />

die nur den Zweck haben, alle Dinge und Ereignisse zu verschleiern.<br />

<strong>Die</strong> russischen Diktatoren waren einmal die Unschuldigen während<br />

der Blockade und dieses Schlagwort wurde in geradezu religiöser Weise<br />

von dem unterdrückten Volke hingenommen; wem die Kommunisten<br />

heute die Schuld an dem Elend und der Knechtschaft der russischen<br />

Arbeiter zuschieben, wissen wir nicht. <strong>Die</strong> deutschen Sozialdemokrat<br />

ten schoben die Schuld an der elenden Lage des Landes auf Poincaré<br />

und das Volk hoffte geduldig auf die von den Nachfolgern der Hohenzollern<br />

verheißene Zeit — und folgte den Befehlen seiner Gewerk-<br />

Schaftsführer und Parlamentarier. Und so kann man sagen, je mehr<br />

die Staatsgewalt sich in den Händen autoritärer Sozialisten befindet,<br />

um so mehr enthüllt sich eine alte Wahrheit, die ausschließlich von<br />

Anarchisten und Syndikalisten proklamiert wurde: Es ist kein wesentlicher<br />

Unterschied zwischen einem Staat der Linken oder einem Staat


20<br />

<strong>Die</strong> soziale Gesetzgebung.<br />

der Rechten. Autorität bleibt immer Autorität und ruft hervor<br />

Sklaverei und Elend, Privilegierte und Enterbte, und die Enterbten sind<br />

immer die Arbeiter.<br />

Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit das zum ersten Male<br />

ausgesprochen wurde, und zwar nicht ohne tiefe Kenntnis der Tatsachen.<br />

Was fehlte, war die brutale Realisation, die dem Kriege<br />

nachfolgte. Trotz allem: große Massen der Opfer schleppten passiveroder<br />

atkiverweise, stillschweigend oder nachdrücklichst den Triumpfwagen<br />

der Despoten und erhofften Jahrhunderte hindurch, daß Freiheit<br />

und Wohlstand ihnen vom Himmel des Staates in den Schoß<br />

fallen sollten wie seinerzeit das biblische Manna.<br />

Es wird immer ersichtlicher, daß im gesellschaftlichen und historischen<br />

Leben zwei entgegengesetzte Pole existieren, die je nach den Umständen<br />

eine größere oder geringere Anzahl menschlicher Wesen anziehen:<br />

<strong>Die</strong> Autorität und die Freiheit. Einen Mittelweg suchen zu<br />

wollen oder danach trachten, etwas zu erreichen, das weder dem einen<br />

noch dem andern Pole zugehört, bedeutet die Quadratur des<br />

Zirkels suchen. Auch ist es gewiß, daß die Revolution nur vermittels<br />

der Freiheit möglich ist und Autorität die Revolution immer erdrücken<br />

und strangulieren muß. Mit diesem historischen Fatalismus rechnen<br />

wir, auch der größte aller Optimisten würde ihn nicht außer acht lassen<br />

können. Seit langem schon gibt es Anhänger der Freiheit und Anhänger<br />

der Autorität; die ersteren sind Revolutionäre, die anderen sind<br />

es nicht, auch wenn sie guten Willens sind. Und hier wäre ein Propagandawerk<br />

ersten Ranges: Klärung der Lügen und Sophismen der<br />

autoritären revolutionären Gebärde. Viele, sehr sehr viele Arbeiter<br />

sind von einem Geist des Kampfes und von revolutionären Wünschen<br />

beseelt, aber sie ahnen nicht, daß sie auf dem Wege der Autorität nur<br />

dahin gelangen, die Sklavenketten immer aufs neue zu schmieden!<br />

Wenn es unserer Propaganda gelingt, sie zu überzeugen, daß Staat,<br />

Freiheit und Wohlstand der Arbeiterschaft so wenig zusammen passen,<br />

wie Wasser und Feuer, daß d„er Sozialismus, den man als autoritär<br />

bezeichnet, kein Sozialismus ist, sondern Reaktion, dann können wir<br />

den Endkampf gegen die alte Gesellschaftsordnung für gewonnen betrachten.<br />

Wir sprechen von Reaktion in demselben Sinne wie Bakunin, als<br />

er die Gefahr für die Zukunft im Bismarckismus und Marxismus aufdeckte,<br />

denn für uns bedeutet Reaktion nichts anderes als eine Stärkung<br />

jener Ideen, die die Ausbeutung der Menschen durch den Menschen<br />

stärken und erhalten. Und in diesem Sinne betrachten wir die<br />

soziale Gesetzgebung, die in Ländern wie Deutschland und die<br />

Schweiz so fest begründet und in der Sowjetrepublik so geschätzt ist,<br />

gleicherweise reaktionär und antisozialistisch wie den faschistischen<br />

Terror, oder für reaktionärer, denn der faschistische Terror stützt sich<br />

auf Furcht, die soziale Gesetzgebung aber ist nur mit Hilfe der Arbeitermassen<br />

durchzuführen und pflegt von denselben betrachtet zu<br />

werden als ein direkter Vorteil, ja als in gewisser Weise revolutionär.<br />

Hieraus erklärt sich, warum die autoritären Sozialisten noch immer<br />

Millionen Anhänger haben, die so den Reformismus unterstützen; sie


<strong>Die</strong> soziale Gesetzgebung. 21<br />

glauben, daß Reformismus der Reaktion entgegengesetzt sei und arg<br />

wohnen gar nicht, daß die Bourgeoisie und die Regierungen aller<br />

Länder nichts anderes zu tun wünschen, als Reformen und soziale<br />

Gesetzgebungen ä la Bismarck zu erlassen, um so die Revolution hin<br />

zuhalten.<br />

Eine ernsthafte Studie über die reaktionäre Bedeutung der sozialen<br />

Gesetzgebung bringt uns ganz von selbst dazu, zu wiederholen<br />

was seit Bismarck bis zum heutigen Tage schon soundsoviele Male<br />

ausgeführt wurde über Parlamentarismus, über die Illusion der Demokratie<br />

und die Lüge einer Regierung aus dem Volke für das Volk<br />

<strong>Die</strong>ses Thema erforderte viel Platz und könnte in einem Artikel dennoch<br />

nicht erschöpft werden; begnügen wir uns mit einem praktischer<br />

Beispiel, von unserm Gesichtspunkte aus gesehen.<br />

In Argentinien, einem Lande, in dem die Allheilmittel marxistischer<br />

Ideologen niemals großen Anklang gefunden hatten, erhob sich<br />

vor einigen Monaten eine gewaltige Bewegung gegen das Projekt einer<br />

Arbeiter-Altersversicherungsgesetzgebung. In Buenos Aires erklärten<br />

verschiedene Zweige der Industrie den Streik, 20 000 Arbeiter protestierten<br />

gegen jenes Gesetz. <strong>Die</strong> Regierung, die die Ausbreitung des<br />

in der Hauptstadt ausgebrochenen Streikes vermeiden wollte, vertagte<br />

das Gesetz um 70 Tage mit der Vorgabe, verschiedene Aenderungen<br />

aufzunehmen, wie zum Beispiel die Berechtigung für Ausländer, das<br />

in die Altersversicherung eingezahlte Geld bei der Rückkehr in ihre<br />

Heimat wieder ausgezahlt zu bekommen. Aber die Arbeiterklasse<br />

Argentiniens, inspiriert von einem traditionellen freiheitlichen Geist,<br />

wandte sich gegen die Anerkennug besagten Gesetzes wie sie sich<br />

dagegen wendete, freien Menschen neue Ketten anzulegen. Beinahe<br />

spontan brach in allen Teilen des Landes der Generalstreik aus. <strong>Die</strong><br />

Arbeiter lehnten die soziale Gesetzgebung ab und die Regierung bestand<br />

darauf, sie einzuführen. Das Resultat dieses gegenwärtigen<br />

Kampfes mag ausfallen, wie immer es sei. Eines ist gewiß, das Gesetz<br />

der Arbeiteraltersversicherung wie jede andere versklavende Reform<br />

wird immer den lebendigsten Widerstand im Proletariat dieses Landes<br />

finden. Hier sehen wir eine geistige Einstellung, die sich sehr<br />

unterscheidet von dem, was die Propaganda des autoritären<br />

Sozialismus in den meisten Ländern Europas hervorrief. Während<br />

in Deutschland und Rußland beispielsweise derartige Gesetze<br />

von breiten Massen als Vorteil betrachtet werden und<br />

Sozialdemokraten und Kommunisten sie als ein Ideal hinstellen,<br />

lehnen die Arbeiter Argentiniens sie ab, bekämpfen dieselben<br />

mit allen Waffen der direkten Aktion und bringen alle Mittel<br />

in Anwendung, die Regierung zu veranlassen, solche Gesetze<br />

zurückzunehmen, genau mit derselben Entschlossenheit und demselben<br />

revolutionären Geiste, mit dem sie im Jahre 1910 den Erlaß von Ausnahmegesetzen<br />

gegen anarchistische Propaganda bekämpften. Alle,<br />

die ihre Augen nicht verschließen wollen, können in dem Beispiel<br />

Argentiniens wie auch an dem vielleicht schon vergessenen Beispiele<br />

Bismarcks eine Enthüllung des Wesens der sozialen Gesetzgebung erblicken:<br />

die Arbeiter lehnen sie ab und bekämpfen sie. <strong>Die</strong> Regierung


22<br />

<strong>Die</strong> soziale Gesetzgebung.<br />

bemüht sich, sie einzuführen. Ist es möglich, zu glauben, daß dann,<br />

wenn die soziale Gesetzgebung nicht vorteilhaft für die bestehende Gesellschaftsordnung<br />

wäre, die argentinische Regierung ein Interesse<br />

daran hätte, dieselbe gewaltsam mit allen polizeilichen Unterdrückungsmaßnahmen<br />

einzuführen? Ist es möglich, sich auszudenken, daß die<br />

Regierung für das Wohlergehen der Arbeiterschaft sich einsetzen<br />

würde und Gewalt anwendete, um diesen ihren humanen Zweck zu<br />

erreichen? — Nein! <strong>Die</strong> argentinische Regierung, die sich unter dem<br />

Druck ihrer internationalen Gläubiger in einer kritischen finanziellen<br />

Lage befindet, sucht in dem Gesetz der Arbeiteraltersversicherung<br />

eine Einnahmequelle, die viele dringende Schwierigkeiten zu lösen<br />

imstande ist. Daher kommt ihr Interesse, ein solches Gesetz einzuführen.<br />

<strong>Die</strong> soziale Gesetzgebung à la Bismarck hatte ebenfalls dem<br />

deutschen Staate eine laufende Rente verschafft. Vielleicht war es<br />

dieses Beispiel, an das die argentinischen Gesetzgeber dachten, um so<br />

der Gefahr des drohenden Bankerottes begegnen zu können.<br />

Sind wir gegen praktische sofortige Verbesserungen? Durchaus<br />

nicht! Wir dürfen sagen, daß wir, trotzdem wir gegen den gesetzgeberischen<br />

Schwindel und die Sophismen sozialer Gesetzgebung sind,<br />

die einzigen sind, die neben dem Kampf für das Wesentliche der Revolution<br />

für sofortige Verbesserungen eintreten. Frisch im Gedächtnis<br />

ist der Verlust des Achtstundentages, dieses immer vorgeschobenen<br />

Ruhmes der Sozialdemokratie, dessen Verlust nun von derselben Sozialdemokratie<br />

sanktioniert wurde. <strong>Die</strong> IAA. hat von Zeit zu Zeit<br />

ihren Alarmruf für die Verteidigung des Achtstundentages hören<br />

lassen, weder Amsterdam noch Moskau gaben Antwort. Und in jenen<br />

Ländern, in denen die autoritären Sozialisten Millionen von Anhängern<br />

zählen, in denen das Staatssteuer sich in ihren Händen befindet,<br />

wurde der Achtstundentag dem Ehrgeiz der großen Kapitalisten<br />

als Brandopfer gebracht. Und Kämpfe, die in verschiedenen Orten<br />

Deutschlands von unsern Kameraden für den Achtstundentag eingeleitet<br />

wurden, wurden von Arbeiterorganisationen sabotiert, die gehorsam<br />

auf die Stimme jener Führer horchten, die immer die Eroberung<br />

praktischer Vorteile gepredigt und uns als Utopisten,<br />

Träumer und Romantiker einer fernen Zukunft hingestellt hatten. Ja,<br />

wir erstreben eine Zukunft (sei sie weit oder nah) der Freiheit und<br />

Gleichheit, aber wir leben und kämpfen in der alltäglichen Wirklichkeit.<br />

Würden wir auf eine Wage legen können, was das Proletariat an<br />

praktischen Tageserfolgen den autoritären Sozialisten verdankt, die<br />

sich damit beschäftigten, Gesetze zu erlassen oder Gesetzesprojekte auszudenken<br />

und auf der anderen Seite das, was unseren Aktionen zu verdanken<br />

ist, so müßten wir konstatieren, daß nicht in den Parlamenten,<br />

sondern in den revolutionären Kämpfen die kleinen Vorteile errungen<br />

wurden, die das Proletariat dem Mittelalter gegenüber besitzt. Ja, auch<br />

wir kämpfen für sofortige Verbesserungen, aber wir schätzen jene<br />

Mittel nicht, die bezeichnend sind durch Aufgabe der Initiative der<br />

arbeitenden Massen selbst, die Aufgabe der eigenen Aktion und die<br />

Aufgabe der Zukunft für bloße Reformen, die wesentlich nichts an der<br />

Lage der Produzenten ändern. <strong>Die</strong> soziale Gesetzgebung ist ein


Nationalismus und Internationalismus. 23<br />

wunderbares Mittel, die Arbeiter in ständiger Lethargie zu halten und<br />

die Arbeiter Argentiniens haben recht, daß sie sich genau wie damals<br />

gegen das Ausnahmegesetz gegen revolutionäre Propaganda, mit aller<br />

Macht gegen die Einführung einer derartigen Gesetzgebung stemmen.<br />

Der Tag wird kommen, an dem auch die deutsche Arbeiterschaft einsehen<br />

wird, daß aus demselben Grunde, aus dem sie 1920 Kapp und<br />

Lüttwitz durch den Generalstreik bezwang, eine bismarckianische<br />

und marxistische Gesetzgebung, die sich soziale und Arbeitergesetzgebung<br />

nennt, niederzuringen ist. Und dieser Kampf bedeutet gleichzeitig<br />

Kampf gegen die Verteidiger solcher Gesetzgebung, welche<br />

immer die Regierungsmänner sind, die einen Wall gegen die Revolution<br />

aufbauen wollen: es bedeutet den Endkampf gegen den Staat an<br />

sich, gegen das Prinzip der Autorität.<br />

Nationalismus und Internationalismus.<br />

Von M. Nettau, Wien.<br />

Nationalismus und Internationalismus standen sich an der Wiege<br />

der alten <strong>Internationale</strong>, 1864, gegenüber. Orsinis Bombe, Januar 1858,<br />

hatte den Nationalismus in sein gefährlichstes Stadium gebracht, dasjenige,<br />

in welchem er sich zum blinden Werkzeug der Politik der Groß-<br />

Staaten hergibt, um nur seine Machtträume zu verwirklichen. Der<br />

italienische, deutsche, polnische Nationalismus flammte lichterloh auf,<br />

und die Pläne Napoleons III., Bismarcks und wahrscheinlich auch Englands<br />

gegen Rußland begannen zu reifen. Speziell Napoleon III. erwartete<br />

durch nationale Kriege und territoriale Expansion (Nizza und<br />

Savoyen) seine Usurpation, 1851, vergessen zu machen und sein Kaiser-<br />

tum endlich auf wirtschaftlicher Popularität *<br />

[ *<br />

Prosperität] fest zu begründen. Daher<br />

ließ er auch den Arbeitern die Zügel etwas locker und begünstigte<br />

deren freundlichen Kontakt mit englischen Arbeitern (Weltausstellung<br />

in London, 1862). Sie begegneten Engländern, die ganz unter dem<br />

Einfluß Mazzinis und der polnischen Propaganda standen, d. h. auf<br />

jener Stufe, auf der Internationalismus und Nationalismus sich scheinbar<br />

berühren, indem das Eintreten für die nationalen Ziele eines fremden<br />

Volks bereits für Internationalismus gehalten wird, während es<br />

doch nur einen indirekten, durch Parteinahme den Zwiespalt verschärfenden<br />

Nationalismus darstellt.<br />

Es ist das unendliche Verdienst einiger wirklicher Londoner Sozialisten<br />

verschiedener Länder und Pariser Republikaner (Henri Lefort),<br />

die Gefahr des Arbeiternationalismus zugunsten der Pläne Napoleon<br />

III. und Mazzinis abgewendet zu haben; der Haß gegen Napoleon<br />

III. wir in erster Linie das treibende Motiv. Sie mußten aber<br />

mit den vorhandenen Kräften rechnen und wurden überdies durch den<br />

erst bei der unmittelbaren Gründung der Organisation hinzugezogenen<br />

Karl Marx bald in die Opposition gedrängt und dann ganz eliminiert.<br />

Marx' internationales Ideal war eine internationale Entente gegen Rußland;<br />

zu diesem Zweck förderte er die Verständigung zwischen den anderen<br />

Völkern, also die Beseitigung des italienischen, französischen und


24 Nationalismus und Internationalismus.<br />

deutschen Nationalismus vor allem; er hoffte, daß England durch Irland<br />

in Schach gehalten werde. Da er aber die Kampfbereitschaft und der<br />

Kampf gegen Rußland wünschte, konnte er eine Schwächung der Macht<br />

der vorhandenen west- und mitteleuropäischen Staaten nicht zugeben<br />

Er war eben von seinem eigenen Axiom, dem der ungeheuren Macht<br />

Rußlands und dessen akuter Bedrohung Europas, hypnotisiert und<br />

konnte sich eine Rußland einschließende europäische oder Weltsolidarität<br />

nicht vorstellen.<br />

Bakunin ging seit jeher von der vollständigen Gleichwertigkeit der<br />

Russen und aller übrigen Slaven mit den Völkern Mittel- und West<br />

europas aus und stand stets auf dem Boden einer totalen Neuordnung<br />

der Gruppierung der Völker nach ihrem eigenen gegenwärtigen Willen<br />

ohne Rücksicht auf historisch entwickelte Verhältnisse, mit Zusammenschluß<br />

zu einer europäischen oder die Erde umfassenden Föderation,<br />

deren einzelne Bestandteile das Recht der Sezession besitzerwürden,<br />

d. h. sie würden sich jederzeit nach ihrem eigenen Willen um<br />

gruppieren können, wodurch Unterdrückung und Eroberung, also auch<br />

Kriege, ausgeschlossen wären und jeder Versuch dazu von der Gesamtheit<br />

verhindert würde.<br />

Für Bakunin waren also Internationalismus und Anarchismus untrennbar<br />

verbunden, weil nur eine die Staatsgrenzen brechende, sich<br />

frei gruppierende Menschheit in friedlichen gegenseitigen Beziehungen<br />

leben kann, also das Minimum von Internationalismus, mutual good<br />

will (gegenseitiges Wohlwollen) ohne Hintergedanken verwirklicher<br />

kann. Jeder unabhängige Staat ist sich allein Selbstzweck und sieht die<br />

übrige Welt nur als Feind an, über die er Vorteile erringen will oder<br />

denen er sich als Schwächerer momentan grollend fügt. <strong>Die</strong> Größe<br />

der Staaten ändert hieran gar nichts; wird der große Staat durch seine<br />

Allmacht brutal, so wird der kleine Staat durch seine Ohnmacht erst<br />

recht verbissen und tückisch und gibt ohnedies seine Unabhängigkeil<br />

preis, indem er sich stets in den Schatten einer größeren Mächtekombination<br />

begibt und Brocken von deren reichem Tisch aufliest,<br />

seiner notgedrungenen Knechtschaft fluchend und nach Rachegelegenheiten<br />

ausspähend.<br />

Durch die industrielle Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts<br />

und die alle Länder, wie nie zuvor, verbindenden, sie aber desto intensiver<br />

als Konkurrenten trennenden und neue Monopole begründenden<br />

modernen Verkehrsverhältnisse zu Land und zu Wasser wurden die<br />

besitzenden Klassen aller Länder an dem beständigen Kampf der Staaten<br />

untereinander auf das äußerste materiell interessiert und um die<br />

Machtmittel jedes Landes voll ausnützen zu können, mußte die Mentalität<br />

der arbeitenden und der landbebauenden Bevölkerung ganz und<br />

gar auf Staatlichkeit und Nationalität eingestellt werden, was durch<br />

Erziehung, Presse und die nie ruhende Hetz- und Haßpolitik vom<br />

Wiegenlied bis zur Grabrede pünktlich in allen Ländern vor sich geht.<br />

Wie verhalten sich nun die Arbeiter hierzu, soweit sie politisch<br />

denken und organisiert sind? <strong>Die</strong> meisten Arbeiter wünschen stets<br />

zweierlei: sie hoffen auf eine künftige sozialistische Gesellschaft und<br />

sie wünschen in der gegenwärtigen Gesellschaft möglichst menschen-


Nationalismus und Internationalismus.<br />

würdig zu leben. So unendlich berechtigt der letztere Wunsch ist und<br />

so sehr seine relative Befriedigung dazu beiträgt und dazu notwendig<br />

ist, die Arbeiter kampffähig und kampffreudig zu machen und zu erhalten,<br />

so ist doch damit unauflöslich verbunden, daß die Interesser<br />

der Arbeiter mit den Interessen der Borgeoisie, des Staates, der Nation<br />

zusammenfallen, der sie gerade angehören, wodurch also die Arbeiter:<br />

bewegungen nach der einen Seite hin fest im Staat wurzeln und sich<br />

mit dem Wohlergehen des Staates und dem der nationalen Bourgeoisie<br />

verwachsen fühlen. Hieran ändert der politische Kampf, der Klassenkampf<br />

und der Idealismus einzelner gar nichts; der Sozialpatriotismus<br />

ist darin fest begründet, daß nach der allgemeinen Auffassung ein siegreiches<br />

Land auch bessere Arbeitsbedingungen bietet, weil es den Besiegten<br />

nicht nur seinen politischen, sondern auch seinen ökonomischer<br />

Willen aufzwingen kann und dies natürlich nie zu tun unterläßt.<br />

Was bleibt hier noch von Internationalismus übrig? Nicht der<br />

leiseste Rest außer dem irreführenden Namen, den sich mit gleichem<br />

Recht eine internationale Schuhfabrik zulegt, weil sie in mehrerer<br />

Ländern Niederlagen hat, und internationale Arbeiterorganisationen<br />

weil sie sich aus lokalen nationalen Patrioten verschiedener Länder<br />

zusammensetzen. Der den Staat, also viele Staaten anerkennnde<br />

autoritäre Sozialismus führt, wie Bakunin einmal schrieb (1872)<br />

„direkt zur Errichtung neuer großer Nationalstaaten, die, getrennt und<br />

notwendigerweise rivalisierend und einander feindlich sind, zur Negation<br />

der Internationalst der Menschheit" ... Es gibt da absolut keinen<br />

Ausweg; denn auch innerhalb einer Föderation der jetzt bestehenden<br />

Staaten würde die Kräfteungleichheit die alten Hegemonien nur fortsetzen.<br />

Nur das vollständige Zertrümmern der alten Staatsapparate<br />

und die gleichzeitige Beseitigung der sich auf die zufällige lokale Lage<br />

von Naturschätzen, Rohstoffen usw. stützenden ökonomischen Monopole<br />

und Privilegien kann den Zustand des einfachsten friedlichen<br />

Nebeneinanderlebens der Menschen anbahnen, der allein Internationalismus<br />

genannt werden kann. Wer aber will dies außer den Anarchisten,<br />

d. h. auch nur solchen Anarchisten, die hierüber nachgedacht<br />

haben und sich vom Bann der lokalen Unabhängigkeitsfiktionen, die<br />

immer zum Staatstum zurückführen, befreit haben?<br />

Daher sind staatlicher Sozialismus, Nationalismus und Krieg so<br />

eng verbunden und sich gegenseitig bedingend, wie anarchistischer Sozialismus,<br />

Internationalismus und Friede. <strong>Die</strong>se Tatsache unbeachtet<br />

zu lassen, bedeutet nicht, sie zu beseitigen, sondern nur ein hoffnungsloses<br />

Herumirren und Sichabquälen mit dem Unmöglichen.<br />

Ebensowenig kann, meiner Ansicht nach, der Syndikalismus dieser<br />

Wahl entgehen; betrachtet er sich lokal gebunden, die Interessen einer<br />

territorialen Arbeiterbevölkerung vertretend, dann haftet er am Staat<br />

und verewigt den Krieg. Nur wenn er auf viele, derart über Schwächere<br />

im Ausland leicht zu erringende Siege verzichtend, wirklich den Genossen<br />

der schwächeren Länder Opfer bringt, um hierdurch bewußt die<br />

Staatsgrenzen niederzubrechen und die freie menschliche Solidarität<br />

der Stärkeren und Schwächeren den gemeinsamen Feinden, Kapital<br />

und Staat, gegenüber herzustellen, — nur dann wird er den ersten Bau-<br />

25


26<br />

Nationalismus und Internationalismus.<br />

stein zur freien Gesellschaft gelegt haben. Er muß lernen, gerecht<br />

und edel zu sein und es verschmähen, die durch kapitalistische Konkurrrenz,<br />

Staatspolitik und Kriege geschaffene Hierarchie der Staaten<br />

dadurch anzuerkennen und mitzugenießen, daß er diese Zerklüftung<br />

der Menschheit als gegebene Tatsache hinnimmt. Sonst bleibt er eben<br />

Mitschuldiger und Mitprofiteur der menschheitszerreißenden Staaten<br />

und verewigt seine eigene Ohnmacht, Haß, Elend und Krieg.<br />

Es mag praktisch noch so schwer sein, neben dem gewiß absolut<br />

notwendigen Gegenwartskampf des Syndikalismus um lokal Erreichbares<br />

und zur Verteidigung des bereits Gewonnenen diesen bewußt<br />

gegen das die Bourgeoisie, die Staaten und sehr viele Arbeiter befriedigende<br />

System der Konkurrenz, der Unterdrückung der Schwächeren,<br />

der Kriege und der fortschreitenden Verelendung und Verrrohung<br />

der Menschheit gerichteten, viel größeren Kampf aufzunehmen, —<br />

aber es muß eben geschehen oder es bleibt alles beim alten, genauer<br />

gesagt, es wird alles immer schlechter. Oder erwartet man eine Lösung<br />

in dem Sinn, daß durch die immer steigende Verelendung der wirtschaftlich<br />

schwächeren Nationen diese schließlich eliminiert werden<br />

und eine einheitliche siegende Rasse schließlich durch ihr Alleinvorhandensein<br />

das Problem der Internationalität aus der Welt schafft,<br />

etwa so, wie die Ureinwohner Amerikas ausstarben, in der Wildnis<br />

blieben oder in Reservationen interniert wurden? <strong>Die</strong>s wünscht gewiß<br />

kein fühlender Mensch und Arbeiter, auch der stärksten Länder, und<br />

doch läßt man der darauf hinauslaufenden kapitalistischen und Staatlichen<br />

Vernichtungspolitik gegen die Schwächeren freien Lauf.<br />

Einer Tätigkeit in dem von mir entworfenen Sinn des wirklichen<br />

Internationalismus steht entgegen die von der jetzigen Gesellschaft geschaffene<br />

Mentalität der Arbeiterbevölkerungen aller Länder, die nur<br />

vom möglichsten Wohlergehen ihrer Länder etwas für sich erwarten,<br />

und die leicht ersichtliche Tatsache, daß eine solidarische Ausgleichung<br />

der zwischen den Arbeitern verschiedener Staaten entstandenen immer<br />

größeren Unterschiede, eben den prosperierenden, Opfer auflegen<br />

würde, während sie den Verelendeten Vorteile brächte.<br />

Zieht man statt dessen vor, daß die prosperierenden noch mehr<br />

prosperieren und daß die Verelendeten noch elender werden, dann<br />

rühre man keinen Finger, lasse das Kapital und die Staaten walten, und<br />

deren Wille geschehen; nur sollte man dann auf das Wort international<br />

ganz verzichten und offen den Kriegszustand zwischen den Menschen<br />

in Permanenz erklären.<br />

Denn beides kann man nicht haben — die Vorteile der menschentrennenden<br />

Staatenpolitik und die Anbahnung der menschenvereinigenden<br />

freien Gesellschaft. Der politische Sozialismus hat sich längst<br />

der heutigen Gesellschaft eingeordnet; der in allen praktischen Fragen<br />

nur lokal und territorial handelnde Syndikalismus tut tatsächlich dasselbe.<br />

<strong>Die</strong> ersten Schritte zur Freiheit und Menschenvereinigung sind<br />

also noch zu machen.<br />

Wie kann man hoffen, dieses Ziel während revolutionärer Krisen<br />

in großem Umfang zu erreichen, wenn, wie bisher, noch praktische<br />

Versuche, theoretische Anerkennung und der feste Wille selbst fehlen?


<strong>Die</strong> Organisation der Landarbeiter und das Landproblem.<br />

Das Ziel maß zu weit gesteckt, die Opfer mögen zu groß erscheinen.<br />

Aber wer kann erwarten, daß sich die wirtschaftliche Befreiung der<br />

Menschen ohne unendliche Mühe und Opfer vollzieht? Der staatliche<br />

Sozialismus scheute längst diese Opfer und warf sich dem Parlamentarismus<br />

in die Arme; der zu Bakunins Zeit als wirklich den Internationalismus<br />

verkörpernd gedachte Syndikalismus, der Rahmen der<br />

künftigen freien Gesellschaft, wurde durch seine territoriale Spezialisierung<br />

gleichfalls mit dem Schicksal der heutigen Staaten verkettet:<br />

welche internationalen Aktionskräfte bleiben also übrig? Kein freiheitlich<br />

Denkender würde solche Kräfte im Kommunismus suchen; sie sind<br />

nur in einzelnen Anarchisten und anderen freien Menschen zerstreut<br />

und isoliert vorhanden. Soll dies alles sein? Wird die freiheitliche<br />

Richtung des Syndikalismus auf die Anbahnung solcher Tätigkeit als<br />

unpraktisch oder utopisch verzichten?<br />

Mir persönlich scheint diese Frage als die Lebensfrage der ganzen<br />

Arbeiterbewegungen. Mit dem „Hineinwachsen in den Zukunftsstaat"<br />

begann es; heute ist man längst fest am Gegenwartsstaat angewachsen.<br />

Jede sozialistische Aktion ist heute intensiv lokal, d. h. staatlich und<br />

national. <strong>Internationale</strong> Aktionen sind kraftlos und nur nominell.<br />

Es bleibt noch alles zu tun übrig. Selbst die internationale Information,<br />

so reichlich sie in Bewegungsangelegenheiten erfolgt, fehlt so gut wie<br />

ganz in allgemeinen politischen und ökonomischen Angelegenheiten<br />

oder ist eine der lokalen Propaganda angepaßte, deren wirkliches Verständnis<br />

den Lesern anderer Länder entgehen muß.<br />

Ich würde gewiß lieber Fortschritte im Sinn des wahren Internationalismus<br />

freudig begrüßen, als ihre Abwesenheit, so viel ich sehen kann,<br />

hervorzuheben. Aber der Staat ist eben der Feind der Menschheit und<br />

nichts im Rahmen des Staates Geschehende kann etwas anderes als<br />

der Menshheit feindlich sein; daher ist dies auch der staatliche Sozialismus<br />

und der territoriale Syndikalismus. Menschheit, Freiheit<br />

(Anarchie), staatenzerstörender Internationalismus und Friede sind untrennbare<br />

Ziele, die zu sehr aus den Augen verloren wurden und denen<br />

jedes Opfer gebracht werden muß oder Menschenhaß, Staat, Krieg und<br />

Elend pflanzen sich ewig fort. M. Nettlau<br />

Anmerkung der Redaktion: <strong>Die</strong> Ansicht, die Genosse Nettlau<br />

über den internationalen Syndikalismus vertritt, bedarf einer Diskussion,<br />

in die in der nächsten Nummer eingetreten werden kann.<br />

<strong>Die</strong> Organisation der Landarbeiter und das Landproblem.<br />

Von Eusebio C. Carbo, Spanien.<br />

In Spanien gibt es keine feindlichen Gegensätze zwischen Landarbeitern<br />

und Industriearbeitern, wie das unglücklicherweise in vielen<br />

andern Ländern der Fall ist. Ganz im Gegenteil ist die Einigkeit<br />

zwischen diesen beiden Arbeitergruppen vollkommen.<br />

27


28 <strong>Die</strong> Organisation der Landarbeiter und das Landproblem.<br />

<strong>Die</strong> Landarbeiter wissen, daß sie ohne Hilfe der Industriearbeiter<br />

nichts unternehmen können und diese hinwiederum wissen, daß eine<br />

Revolution ohne Anteilnahme der Landbevölkerung von vornherein<br />

zum Zusammenbruch verurteilt wäre.<br />

<strong>Die</strong> ländlichen Organisationen der bedeutendsten Provinzen, wie<br />

Andalusien, Valencia, Aragonien, Rioja und ein Teil Kataloniens sind<br />

der „Confederacion Nacional de Trabajadores" angeschlossen und sind<br />

infolgedessen gewohnt, von den Arbeitern der Stadt solidarische Hilfe<br />

zu bekommen und ebenfalls umgekehrterweise Hilfe zu gewähren.<br />

In positiver Weise beeinflußt von der freiheitlichen Propaganda,<br />

und dem Anarchismus eine große Aufmerksamkeit schenkend, erträumen<br />

sie eine Form des Zusammenwirkens von Menschen, zu der<br />

man nur gelangen kann durch Vergesellschaftlichung des gesamten<br />

natürlichen Reichtums und aller Schätze, die durch die Arbeit von<br />

Generationen geschaffen wurden.<br />

Sie denken an die Errichtung eines gesellschaftlichen Systems,<br />

unter welchem der Austausch von Produkten sich vollzieht — ohne<br />

eine weitere Begrenzung wie die von der Knappheit von Transportmitteln<br />

vorgeschriebenen — nach Maßgabe unserer Voraussicht.<br />

Dasselbe bezieht sich auf das, was die Kultivierung des Bodens<br />

anbelangt. Man ist der Meinung, daß, um ein Maximum an Produkten<br />

bei einem Minimum von Anstrengungen zu ermöglichen, zur gemeinschaftlichen<br />

Bewirtschaftung des Landes zu greifen ist. Ohne zu<br />

dieser Methode zu greifen, käme sowohl die intensive wie extensive<br />

Landwirtschaft, die letzte Errungenschaft von Wissenschaft und<br />

Bodenbearbeitung, nicht in Frage, um die notwendige Vermehrung von<br />

Produkten zu erreichen, die erforderlich ist, um die Bedürfnisse der<br />

Arbeiter und der gesamten Produktion zu befriedigen.<br />

Es erhebt sich die Frage: sind denn die Landarbeiter in den erwähnten<br />

Gebieten alle Anarchisten? Absurd wäre es, das zu behaupten.<br />

Dennoch kann gesagt werden, daß in einigen Provinzen, wie<br />

beispielsweise in einem großen und wichtigsten Teil Andalusiens, die<br />

große Mehrheit der Landarbeiter aus Verstandes- und Gefühlsgründen<br />

Anarchisten sind. Ereignisse, die dort so aktive, tüchtige und gebildete<br />

Kämpfer hervorgebracht haben, wie Fermin Solvochea und Ernesto<br />

Alvarez, sind unauslöschlich.<br />

<strong>Die</strong> große Menge der Arbeiter in jenen Gebieten glaubt an keine<br />

anderen Lösungen wie an die der freiheitlichen Weltanschauung.<br />

- - -<br />

Liberale Regierungsmänner, die sahen, mit welcher Schnelligkeit<br />

die anarchistische Propaganda sich verallgemeinerte, ein revolutionärer<br />

Geist sich unter den Sklaven der Felder erhob und von ihnen die<br />

Losungen der Stadt übernommen wurden —, liberale Staatsmänner<br />

verbreiteten angesichts dieser Beispiele bewußten Aufstandes die<br />

Ideen der Aufhebung der großen Latifundien und Einteilung dieser<br />

zum Teil halb aufgegebenen Ländereien, die jede Millionen von<br />

Hektaren zählen, in kleine Parzellen, die unter gewissen Bedingungen<br />

an Arbeiter abgegeben wurden und so in jeder Gegend eine Anzahl<br />

von ihnen in kleine Besitzer verwandelte. <strong>Die</strong>se vom konservativen


<strong>Die</strong> Organisation der Landarbeiter und das Landproblem. 29<br />

Instinkt diktierte Methode tendiert, wie es nur natürlich ist, nach der<br />

Richtung, die Einheit der Landarbeiter zu zerstören, ihren Egoismus<br />

und die Hoffnung in ihnen wachzurufen, doch auch einmal Landbesitzer<br />

sein zu können, wie sie es an dem Beispiel von einigen wenigen<br />

gesehen haben. Aber unglücklicherweise: die Bedingung ist, sich in<br />

einen Anhänger der bestehenden Ordnung zu verwandeln, um nichts<br />

sich bekümmern, sich lossagen vom Syndikat und niemals den<br />

absurden Vorschlägen der Feinde des Vaterlands, der Familie, des<br />

Eigentums usw. zu folgen.<br />

Sie erwarteten, daß diese Methode sich als unfehlbar erweisen<br />

würde und sie wußten wohl, daß der ärgste Feind der Revolution die<br />

Reform ist. Sie waren überzeugt, daß die Arbeiter im Staat ihren<br />

rettenden Engel sahen und auf die Stimme der Elemente des Umsturzes<br />

nicht mehr hören würden. Damit wäre ihr Ziel erreicht gewesen:<br />

Isolierung der revolutionären Anwandlungen der Industriearbeiter<br />

und Fruchtlosigkeit all ihrer Erwartungen und Rebellionen.<br />

Aber die Aussichten dieses radikalen Mittels begeisterten niemand.<br />

<strong>Die</strong> Landarbeiter erkannten seinen ganzen Zweck.<br />

Sie erkannten, daß ein Vorhaben, durch welches die Revolution<br />

negiert und in weite Ferne gerückt wurde, unfähig war, die gegenwärtige<br />

Ordnung zu verändern.<br />

- -<br />

Trotz allem ist dieses eine Frage, an der wir nicht eilends vorbeigehen<br />

dürfen. Ehe man hier ein Urteil fällt, das als Grundlage für<br />

eine bestimmte Propaganda oder Stellungnahme dienen und die Landarbeiter<br />

nach dieser oder jener Richtung beeinflussen kann, gilt es<br />

zunächst, das Für und Wider dieser Frage mit Ernsthaftigkeit, Aufrichtigkeit<br />

und Entschiedenheit zu prüfen.<br />

Wenn wir uns nur auf die gegenwärtige Situation konzentrieren,<br />

wenn wir glauben, daß wir alle Probleme der Vorrevolution mit Leichtigkeit<br />

lösen können, wenn wir uns nicht Rechenschaft darüber<br />

ablegen, daß die Interessen der industriellen und landwirtschaftlichen<br />

Bourgeoisie und des Kapitalismus in gewisser Weise — wenn man das<br />

auch als Ketzerei ansprechen wird — übereinstimmen mit den unseren,<br />

mit den Interessen des Volkes, mit denen der Revolution und wenn<br />

wir erkennen würden, daß dieses imstande ist, die Revolution um<br />

Jahrhunderte zu verzögern, wir würden mit weniger Schwierigkeit<br />

vorwärtsschreiten.<br />

Aber so ist es nicht. Genau so wie die Probleme der Gegenwart<br />

beschäftigen uns die einer nahen Zukunft. Wir wissen, daß die<br />

Schwierigkeiten aller Arten, mit denen wir es zu tun haben, um die<br />

Errungenschaften der Revolution zu konsolidieren und zu festigen,<br />

um so ernsthafter sind, je mehr die Wirtschaft des Landes, in dem die<br />

Revolution triumphiert, sich in Verfall befindet.<br />

In diesem Sinne haben wir das größte Interesse daran, daß sowohl<br />

die Landwirtschaft wie auch die Industrie den größtmöglichen Grad<br />

der Entwicklung erreichen und daß die durch die Bourgeoisie errichteten<br />

Transport- und Produktionsmittel so vollkommen wie möglich<br />

sind, so daß beim Uebergehen dieser notwendigen wirtschaftlichen


30<br />

<strong>Die</strong> Organisation der Landarbeiter und das Landproblem.<br />

Faktoren in unsere Hände, diese für kürzere oder längere Zeit der<br />

Revolution genügen. Und das ist die Uebereinstimmung zwischen<br />

den Interessen der Wirtschaft und denen der Revolution, auf die wir<br />

uns vorher bezogen haben.<br />

Das Parzellieren des Landes, von welcher Tatsache wir vorher<br />

geschrieben haben, bedeutet nichts anderes, als Konservative und<br />

Egoisten aus der Arbeiterschaft herauszusuchen, die der Staat in<br />

Eigentümer verwandelt oder die solches später für sich erhoffen; mit<br />

anderen Worten: es bedeutet das Schaffen einer konterrevolutionären<br />

Macht aus dem Lager der Arbeiterschaft heraus.<br />

Betrachten wir ein Beispiel, das uns die Produktion und der<br />

Konsum des Weizens in Spanien während der angeführten Jahre<br />

bietet:<br />

1905—1914<br />

1915—1919<br />

1920<br />

1921<br />

Geringste Ernte 25<br />

Größte Ernte 40,4<br />

Mittlere Ernte 33,3<br />

Geringster jährlicher Import . 0,7<br />

Größter „ „ . 8,6<br />

Mittelmäßiger „ „ 2,3<br />

Geringste Ernte 35,1<br />

Größte Ernte 41,4<br />

Mittlere Ernte 38<br />

Geringster jährlicher Import . . 0,5<br />

Größter „ „ . . 3,7<br />

Mittelmäßiger „ . . 2,4<br />

Ernte .<br />

Import<br />

39,5<br />

4,8<br />

Millionen Zentner<br />

Ernte 39,5<br />

Import 4,6 „<br />

Es ist natürlich, daß die Erhöhung des Importes trotz immer<br />

reicher werdender Ernten eine jener Ungeheuerlichkeiten darstellt,<br />

welche das kapitalistische System charakterisieren und die nicht vorkommen<br />

könnten, wenn die Produktion von jenen reguliert würde,<br />

die gleichzeitig Produzenten und Konsumenten sind; die Produktion<br />

würde hier durch den Bedarf bestimmt werden.<br />

Aber es ist nicht das, was uns im Moment beschäftigt. Es ist eine<br />

andere Sache. Spanien ist nach den Zahlen, die wir soeben angeführt<br />

haben, angewiesen auf die Weizeneinfuhr aus anderen Ländern; durch<br />

die Parzellierung aber kann es nicht nur sein Defizit decken, sondern<br />

erübrigt noch etwas für den Export.<br />

In der Provinz Sagovia wurden vor einiger Zeit 600 Hektar Land<br />

unter 40 Ackerbauern parzelliert. In seinem Höchstertrag erreichte<br />

dieses Gebiet geradezu erstaunliche Proportionen.


<strong>Die</strong> Organisation der Landarbeiter und das Landproblem. 31<br />

In einer Stadt der Provinz Toledo werden 10 000 Hektar Land von<br />

500 Ackerbauern bestellt. 2000 Hektar werden von 490 Ackerbauern<br />

kultiviert; die übrigen 8000 Hektar gehören 10 Großgrundbesitzern.<br />

Und nun die Tatsache: jene, die die 2000 Hektar selbst bearbeiten,<br />

produzieren ein Fünftel dessen, was die 8000 Hektar produzieren, die<br />

sich in den Händen der Großgrundbesitzer befinden.<br />

So gesehen, hat das Parzellieren des Landes eine konservative und<br />

eine revolutionäre Seite. Revolutionär in dem Sinne, daß hier eine<br />

Form der Produktion gegeben ist, die durch ihre größere Intensivität<br />

in der Uebergangszeit die Fähigkeiten und Erneuerungsmöglichkeiten<br />

erhöht: sie erlaubt, daß das Gebiet der Revolution sich selbst für<br />

längere Zeit genügt.<br />

Wenn man ein Prinzip anerkennt, ist es selbstverständlich, daß<br />

man auch seine natürlichen Folgen hinnehmen muß. <strong>Die</strong> Staatsmänner,<br />

welche die Vorzüge des Parzellierens besingen, anerkennen hiermit,<br />

ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, die Grundlagen des freiheitlichen<br />

Kommunismus. Wenn die Erhöhung der Produktion in derselben<br />

Proportion wie die Erhöhung der Anzahl direkter Arbeiter, die<br />

an derselben positiv interessiert sind, vor sich geht, wenn der Landbesitz<br />

eine allgemeine Möglichkeit wird und das Land durch die Allgemeinheit<br />

bewirtschaftet wird, müßten verschiedene Antagonismen<br />

aus der Welt geschafft werden. Das Interesse eines jeden und<br />

Annäherung an das Interesse von allen müßte erhöht und die wahrhafte<br />

Einheit der Interessen, durch welche das Individuum mit der Allgemeinheit<br />

verbunden ist, müßte auf eine innige vollkommene und<br />

unlösliche Weise auf eine feste Basis gestellt werden. Dann würde<br />

die Produktion sich in erfreulichem Maße erhöhen und die notwendigen<br />

Anstrengungen würden sich parallelerweise vermindern.<br />

Das Parzellieren, auch wenn es verallgemeinert würde, aber muß<br />

die egoistische Sonderheit und die Ausschließlichkeit des persönlichen<br />

oder Gruppeninteresses bestehen lassen; es würde keine Gleichheit<br />

realisieren und müßte sogar die Ursache von beklagenswerten Konflikten<br />

und Kämpfen sein.<br />

Nein, das Parzellieren hat nichts mit unserem System zu schaffen.<br />

Und in diesem Sinne machen unsere Landarbeiter nicht die Revolution.<br />

<strong>Die</strong> spanischen Landarbeiter, ganz besonders in Andalusien,<br />

Valencia, Aragonien, Rioja, Navana und in einem Teil Kataloniens,<br />

deren anarchistische Tendenzen allgemein bekannt sind, wissen, an<br />

was sie sich zu halten haben.<br />

Wenn die Regierungsmänner glaubten, daß sie die Parzellierung<br />

als Mittel der Möglichkeit einer Vendée -) in Anwendung bringen<br />

könnten, haben wir das Recht zu glauben, daß sie irren.<br />

<strong>Die</strong> wenigen, die auf der andern Seite stehen, weil unsere Stimme<br />

sie nicht erreichte, befinden sich in Kastilien, Leon usw. Eine zentripetale<br />

gut organisierte Bewegung würde sie bald bestimmen, das Notwendige<br />

zu tun; sie vermögen nichts oder doch nur sehr wenig gegen<br />

eine revolutionäre Bewegung.<br />

-) Vendée: Provinz in Westfrankreich, Sitz der Konterrevolution zur Zeit der<br />

Großen Revolution.


32<br />

Mitteilungen des Sekretariats der 1. A. A.<br />

Den Landarbeitern der erwähnten Regionen hat man überdies<br />

gesagt, daß die Revolution ihnen erlauben würde, das Land zu verteilen.<br />

Ueberdies hat man ihnen gesagt, daß sie fortfahren sollen in den<br />

Anstrengungen, ihre Parzelle zu erobern.. Dazu hat man ihnen gesagt,<br />

daß das Land denen gehört, die es bestellen.<br />

Man hat ihnen immer gesagt, daß das Land sowohl wie die Transport-<br />

und Arbeitsmittel das gemeinsame Erbe von allen Menschen zu<br />

sein haben wie die Luft und das Licht.<br />

Und nichts anderes ist das, was sie erstreben.<br />

Mitteilungen des Sekretariats der I. A. A.<br />

<strong>Internationale</strong> Kinderhilfe.<br />

Der Aufruf des Sekretariats der I.A.A.<br />

zugunsten der unterernährten Kinder des<br />

revolutionären Proletariats in Deutschland<br />

hat in vielen Ländern Widerhall geweckt.<br />

Naturgemäß haben sich an diesem<br />

Hilfswerk in erster Linie die Kameraden<br />

beteiligt, die in den Deutschland angrenzenden<br />

Ländern wohnen.<br />

Holland. Unsere Kameraden des<br />

Nederlandsch Syndicalistisch Vakvorbond<br />

haben sich bereit erklärt, Kinder unserer<br />

Kameraden aus dem Ruhrgebiet zu sich<br />

zu nehmen. Es werden einige Hundert<br />

Kinder in Holland bei unseren Kameraden<br />

untergebracht.<br />

Norwegen. Unsere Kameraden der<br />

Norsk Syndikalistisk Federation haben<br />

auf zwiefache Weise unsern Solidaritätsappell<br />

beantwortet; 1. durch Geldsammlungen,<br />

die zum Teil schon an uns gesandt<br />

worden sind; 2. durch Uebernahme von<br />

Kindern unserer Kameraden. Der erste<br />

Transport von 14 Kindern von Berliner<br />

Proletariern ist bereits nach Norwegen<br />

abgegangen, die Kinder befinden sich in<br />

guten Händen.<br />

Portugal. <strong>Die</strong> Allgemeine Arbeiter-Konföderation<br />

hat in ihrem Organ<br />

„A Batalha" einen Aufruf zu Sammlungen<br />

erlassen. Es kamen Kleidungsstücke<br />

und Gelder ein, die bis jetzt noch<br />

nicht angelangt sind.<br />

Schweden. <strong>Die</strong> Zentralorganisation<br />

der schwedischen Arbeiter (S.A.C.)<br />

Sektion der I. A.A., hat eine großartige<br />

Sammlung veranstaltet. Um die unnötigen<br />

Reisekosten zu sparen, haben die schwer<br />

dischen Kameraden beschlossen, Gelder<br />

zur Gründung eines Ferienheimes in<br />

Deutschland für die unterernährten Kinder<br />

unserer Kameraden zu sammeln. Bis<br />

jetzt sind für diesen Zweck 7000 schwedische<br />

Kronen an die I.A.A. abgegangen,<br />

es ist mit weiteren 3000 Kronen zu rechnen,<br />

so daß die Summe von 10 000 Kronen<br />

zusammenkommt.<br />

Brasilien. Auch hier haben unsere<br />

Kameraden dem Aufruf der I.A.A. Folge<br />

geleistet. Besonders hat das Organ deutscher<br />

Sprache „Der freie Arbeiter" zu<br />

Sammlungen aufgefordert. Der weiten<br />

Entfernung halber ist bis jetzt noch keine<br />

Nachricht über das Resultat dieser Sammlung<br />

eingetroffen.<br />

Nachrichten aus andern Ländern<br />

stehen noch aus.<br />

Aufruf der I.A.A.<br />

für die gefangenen Revolutionäre in<br />

Rußland.<br />

Das Sekretariat der I.A.A. wandte sich<br />

Ende März an das Proletariat aller Läns<br />

der mit folgendem Aufruf:<br />

Helft den gefangenen Revolutionären<br />

in Rußland.<br />

Kameraden!<br />

Wir rufen euch heute auf zu einer<br />

einheitlichen und weit angelegten internationalen<br />

Kampagne gegen die unerhörten<br />

Verfolgungen der Sozialisten und<br />

Revolutionäre in Rußland; zu einer allgemeinen<br />

und energischen Aktion für die<br />

Befreiung der Anarchisten, Syndikalisten,<br />

Sozialisten und aller parteilosen Revolutionäre,<br />

die in den zahlreichen Gefängnissen<br />

und Konzentrationslagern Schmachten<br />

oder durch die Sowjetregierung in die<br />

Verbannung geschickt wurden.<br />

Es ist uns nicht unbekannt, daß zurzeit<br />

die wildeste Reaktion in fast allen<br />

Ländern herrscht, daß die furchtbaren<br />

Verfolgungen, denen unsere Kameraden


überall ausgesetzt sind, ohne Zweifel<br />

ebenfalls eine Aktion zu ihren Gunsten<br />

erforderlich machen würden. Wir wissen<br />

auch, daß die revolutionäre Bewegung<br />

jedes Landes ihre eigenen Opfer und<br />

Märtyrer aufzuweisen hat, deren Schicksal<br />

ein dringendes Eingreifen nötig machen<br />

würde. <strong>Die</strong> Lage in Rußland ist aber in<br />

jeder Beziehung außergewöhnlich und unvergleichlich.<br />

<strong>Die</strong> Verfolgungen der Revolutionäre<br />

in den kapitalistischen und bürgerlichen<br />

Staaten gehören zur Natur der Dinge. Der<br />

Kampf für ihre Befreiung ist etwas selbstverständliches.<br />

<strong>Die</strong> russische Regierung<br />

aber gibt vor, eine „Arbeiter"-Regierung<br />

und „sozialistische" Regierung zu sein. Sie<br />

ist bekannt als die Vertreterin der „Diktatur<br />

des Proletariats". <strong>Die</strong> Verfolgung<br />

ihrer Gegner, die Vernichtung der Revolutionäre<br />

nur wegen deren Gesinnung, die<br />

nicht mit der ihrigen übereinstimmt, stellt<br />

die russische „Revolutionsregierung"<br />

heuchlerisch als Bekämpfung des Banditismus<br />

und der Konterrevolution hin.<br />

Große Teile des Proletariats in allen Ländern<br />

lassen sich durch diese Heuchelei,<br />

durch diesen Bluff einer durchaus reaktionären<br />

und skrupellosen Regierung irres<br />

fähren. Dadurch ist der Kampf gegen<br />

diese Regierung außerordentlich erschwert.<br />

<strong>Die</strong>s ist um so mehr der Fall, als der entsetzliche<br />

Terror, der von den Bolschewisten<br />

in Rußland ausgeübt wird, jeden<br />

Kampf dagegen unmöglich macht. So<br />

haben die verfolgten Sozialisten und Revolutionäre<br />

in Rußland keine Möglichkeit,<br />

sich zu verteidigen. <strong>Die</strong> verabscheuungswürdigen<br />

und verbrecherischen Frevel der<br />

russischen Regierung sind der werktätigen<br />

Bevölkerung aller Länder im allgemeinen<br />

noch unbekannt.<br />

Es ist daher an der Zeit, diese Frevels<br />

taten zu enthüllen und die an der Macht<br />

befindlichen Verbrecher zu entlarven. <strong>Die</strong><br />

Pflicht erheischt es nun, die zahllosen Tatsachen<br />

offen an den Tag zu legen und sie<br />

dem Proletariat aller Länder zur Kenntnis<br />

EU bringen. Es muß endlich einmal ganz<br />

entschieden gebrochen werden mit dem<br />

gefährlichen Märchen von dem revolutionären<br />

Charakter und Idealismus der russischen<br />

Regierung und ihr wahrhaft reaktionärer<br />

und bürgerlicher Charakter aufgezeigt<br />

werden.<br />

<strong>Die</strong> Verfolgungen übersteigen gegenwärtig<br />

in Rußland die Grenzen jeder Einbildung.<br />

Es hat den Anschein, als wolle<br />

man sich durch radikale Vernichtung aller<br />

sozialistischen, anarchistischen und revolutionären<br />

Elemente des Landes ent-<br />

Mitteilungen des Sekretariats der I. A. A. 33<br />

ledigen. Täglich kommen zahlreiche der<br />

besten Kameraden um. Jeder Tag bringt<br />

uns Nachrichten über neue Fälle dieser<br />

Art. <strong>Die</strong> Verhältnisse der Gefangenschaft<br />

und Verbannung im hohen Norden sind<br />

entsetzlich. Tötungen und Erschießungen<br />

für die geringsten Proteste gegen die unerträglichen<br />

Gefängnisordnungen werden<br />

zur Gewohnheit. <strong>Die</strong> besten Kameraden<br />

sterben hin als Folgen dieses Regimes.<br />

Selbstmorde kommen immer häufiger<br />

vor. . . Tausende von Revolutionären<br />

leiden unter diesem furchtbaren Lose, sie<br />

sind ständig der Todesgefahr ausgesetzt,<br />

ohne den geringsten Schatten einer Anklage,<br />

nur durch die Willkür und das Gutdünken<br />

einer Regierung.<br />

Es ist deshalb hohe Zeit, sich energisch<br />

dafür einzusetzen, aus den Krallen<br />

der Henker die uns teueren Leben, die<br />

besten Kräfte der Revolution, die unschuldigen<br />

Opfer der roten Reaktion zu entreißen.<br />

1. <strong>Die</strong> Landeszentralen der revolutionär-syndikalistischen<br />

Organisationen<br />

werden aufgefordert, ein Aktionskomitee<br />

zu bilden. Zur Mitarbeit in dieses Komitee<br />

können auch die antiautoritären,<br />

anarchistischen Gruppierungen innerhalb<br />

der Arbeiterbewegung jedes Landes herbeigezogen<br />

werden, wo solche vorhanden<br />

sind.<br />

2. <strong>Die</strong>ses Aktionskomitee setzt sich<br />

mit sämtlichen örtlichen Organisationen<br />

des Landes in Verbindung, um über das<br />

ganze Land eine Kampagne vorzubereiten.<br />

In allen größeren Städten können<br />

sich ähnliche Komitees bilden.<br />

3. <strong>Die</strong> erste Aufgabe dieser Komitees<br />

wird sein, das Material zu sammeln und<br />

die Arbeiterpresse damit zu versehen.<br />

4. <strong>Die</strong> Presse der I.A.A. und der<br />

freiheitlichen Arbeiterbewegung sollte<br />

von Stunde an die öffentliche Meinung<br />

aufklären durch Veröffentlichung der<br />

Tatsachen und des gesamten Materials<br />

und durch entsprechende Kommentare<br />

in zahlreichen Artikeln und eventuellen<br />

Sonderausgaben ihren Protest und ihre<br />

Entrüstung zu erkennen geben.<br />

5. <strong>Die</strong> allgemeine Kampagne sollte<br />

überall gleichzeitig den 20. April einsetzen<br />

und von da bis zum 1. Mai unaufhaltsam<br />

geführt werden. <strong>Die</strong> Fort<br />

derung soll sein: Proteste gegen die Verfolgungen<br />

der Revolutionäre durch die<br />

russische- Regierung und die Forderung<br />

der Freigabe der Anarchisten, Sozialisten,<br />

Syndikalisten und parteilosen Revolutionäre<br />

zum 1. Mai 1924.


34 Mitteilungen des Sekretariats der I. A. A.<br />

6. Es sollten überall öffentliche Protestversammlungen<br />

veranstaltet werden,<br />

in denen man die Tatsachen vorlegt und<br />

Protestresolutionen zur Annahme bringt<br />

gegen die Greueltaten der russischen Regierung.<br />

Darin sollte auch für den 1. Mai<br />

1924 die Freigabe aller gefangenen und<br />

verschickten Revolutionäre sowie für die<br />

Ausgewiesenen das Recht der Rückkehr<br />

gefordert werden. Auch in Betriebs-<br />

Versammlungen und dergleichen sollten<br />

dieselben Resolutionen vorgelegt und abgestimmt<br />

sowie das Resultat derselben in<br />

der Presse veröffentlicht werden. <strong>Die</strong><br />

Resolutionen und das Material sollten so<br />

weit als möglich der gesamten Presse des<br />

Landes zur Veröffentlichung zugestellt<br />

werden.<br />

7. Sämtliche angenommenen Resolutionen<br />

sollten den russischen Konsulaten<br />

oder Gesandtschaften zur Weiterbeförderung<br />

an die Sowjetregierung und eine<br />

Abschrift davon dem Sekretariat der<br />

I.A.A. zugestellt werden. Als ein noch<br />

wirksameres Mittel sollten Demonstrationen<br />

der Arbeiterschaft vor den Sowjetrussischen<br />

Botschaften und Konsulaten<br />

mit Uebergabe von Protestresolutionen<br />

veranstaltet werden.<br />

Genossen! Wir erwarten von euch<br />

die Einsetzung aller eurer Kräfte, damit<br />

die Kampagne ein gutes Ergebnis zeitigt<br />

und dazu beitragen wird, die Befreiung<br />

unserer leidenden Kameraden in Rußland<br />

zu beschleunigen.<br />

Das Sekretariat<br />

der <strong>Internationale</strong>n ArbeitersAssoziation.<br />

* * *<br />

<strong>Die</strong>ser Aufruf wurde von unsern Kameraden<br />

in vielen Ländern beantwortet.<br />

Er gelangte zum Abdruck in fast allen<br />

Organen der uns angeschlossenen Organisationen.<br />

In fast allen Ländern hat ein<br />

großer Teil des revolutionären Proletariats<br />

dazu Stellung genommen und<br />

große Protestaktionen in die Wege geleitet.<br />

In Frankreich und Deutschland<br />

wurden mächtige Versammlungen zum<br />

Protest gegen die inhaftierten Revolutionäre<br />

in Sowjetrußland abgehalten. <strong>Die</strong><br />

Kameraden in Holland haben an die<br />

russische Regierung eine Resolution gesandt,<br />

in welcher sie im Namen der rus-<br />

6ischen Revolution die Befreiung der<br />

Revolutionäre zum Weltfeiertag des revolutionären<br />

Proletariats forderten. Noch<br />

hat die russische Regierung den Warnungsruf<br />

unserer Kameraden nicht beachtet,<br />

die Protestbewegung steigt jedoch<br />

immer stärker und ihre Wogen werden<br />

bald so hoch gehen, daß die Machthaber<br />

in Rußland sich nicht länger der Forderung<br />

verschließen können und gezwungen<br />

sein werden, die Vorkämpfer der<br />

russischen Revolution freizugeben. Unsere<br />

Kameraden werden aufgefordert, ihren<br />

begonnenen Kampf fortzusetzen.<br />

Zum Kampf der Bergarbeiter.<br />

Anläßlich des Kampfes der Bergarbeiter<br />

Deutschlands wandte sich das<br />

Sekretariat der I.A.A. mit folgendem Aufruf<br />

an die Arbeiterschaft aller Länder:<br />

Aufruf der I.A.A.<br />

Helft den kämpfenden Bergarbeitern<br />

Deutschlands!<br />

<strong>Die</strong> Bergarbeiter Deutschlands befinden<br />

sich seit dem 7. Mai in einem<br />

Kampfe gegen die Verlängerung der Ars<br />

beitszeit und für die Erlangung auskömmlicher<br />

Löhne.<br />

<strong>Die</strong>ser Kampf wurde den Bergarbeitersklaven<br />

von den Berggewaltigen aufgezwungen,<br />

nachdem die Bergarbeiter des<br />

Ruhrgebiets die Aufforderung der Grubens<br />

besitzer, die Arbeitszeit unter Tage eine<br />

Stunde zu verlängern, nicht befolgt haben,<br />

sondern nach siebenstündiger Arbeitszeit<br />

unter Tage die Gruben verließen. <strong>Die</strong>se<br />

Aktion der Bergarbeiter ist direkt auf den<br />

Einfluß der syndikalistischen Propaganda<br />

zurückzuführen. Selbst die reformistischen<br />

Bergarbeiterverbände konnten<br />

sich der Idee, nach siebenstündiger Arbeitszeit<br />

die Grube zu verlassen, nicht<br />

verschließen.<br />

Das Unternehmertum beantwortete<br />

diese Aktion der Bergarbeiter mit einer<br />

allgemeinen Aussperrung. Zurzeit befinden<br />

sich im Ruhrgebiet gegen 600 000<br />

Bergarbeiter im Kampfe. <strong>Die</strong> Zahl der<br />

Arbeiter anderer Industrien, die durch<br />

diesen Kampf in Mitleidenschaft gezogen<br />

sind, ist fast ebenso hoch. Der Kampf<br />

beschränkt sich jedoch nicht auf das<br />

Ruhrgebiet, sondern dehnt sich aus auf<br />

den gesamten deutschen Kohlenbergbau.<br />

Als Vorwand zur Beseitigung des<br />

Achtstundentages über Tage und des<br />

Siebenstundentages unter Tage dient den<br />

deutschen Unternehmern der Vertrag der<br />

Micum. Sie wollen alle Lasten desselben<br />

auf die Arbeiterschaft abwälzen und benutzen<br />

diese Gelegenheit, um die Notwendigkeit<br />

darzutun, daß in Deutschland<br />

infolge des Vertrages von Versailles der<br />

Achtstundentag nicht möglich sei. Während<br />

auf der einen Seite die französische


Aus der <strong>Internationale</strong> des Syndikalismus; Norwegen. 35<br />

Bourgeoisie die schwere wirtschaftliche<br />

Lage des französischen werktätigen<br />

Volkes der Nichterfüllung des Versailler<br />

Vertrages durch Deutschland in die<br />

Schuhe schiebt, wird auf der anderen<br />

Seite gerade die Ausführung dieser Bestimmungen<br />

von den deutschen Kapitalisten<br />

dazu benutzt, um die Beseitigung<br />

des Achtstundentages zu rechtfertigen.<br />

<strong>Die</strong> Sozialdemokraten hüben wie<br />

drüben unterstützen diese Thesen des<br />

internationalen Kapitalismus. <strong>Die</strong> französischen<br />

Sozialisten erklären, sie müßten<br />

auf der Ausführung des Sachverständigen-<br />

Gutachtens bestehen, und die deutschen<br />

Sozialdemokraten und reformistischen Gewerkschaften<br />

der Amsterdamer <strong>Internationale</strong><br />

haben sich mit einem Schiedsspruch<br />

einverstanden erklärt, der die Verlängerung<br />

der Arbeitszeit anerkennt auf<br />

8 Stunden unter Tage für Bergarbeiter<br />

und auf 9—10 und noch mehr Stunden<br />

über Tage für fast die gesamte Arbeiterschaft,<br />

bis zum Juni 1925. So haben die<br />

Reformisten die Unterdrückung der Arbeiterschaft<br />

besiegeln helfen.<br />

<strong>Die</strong> Bergarbeiterschaft hat sich aber<br />

diesem Schiedsspruch nicht gebeugt, sondern<br />

es entrüstet von sich gewiesen, die<br />

Sklavenverträge anzuerkennen. So geht<br />

der Kampf weiter.<br />

Kameraden) Proletarier aller Länder!<br />

Fast eine Million Arbeiter steht im offenen<br />

Kampfe gegen einen doppelten Feind:<br />

den internationalen Kapitalismus und Reformismus.<br />

War das deutsche Prole-<br />

tariat schon vorher ein Spielball der Willkür<br />

eines raubgierigen Kapitalismus, so<br />

machen sich in diesem Kampfe die Folgen<br />

der Aushungerung und Unterernährung<br />

in erschreckendem Maße geltend.<br />

Das Elend wächst von Stunde zu Stunde,<br />

der Hunger greift um sich. Aber noch<br />

steht fast eine Million Bergsklaven unerschüttert<br />

und entschlossen, ihren Kampf<br />

für menschliche Arbeits; und Lebensbedingungen<br />

bis zum siegreichen Ende<br />

durchzuführen.<br />

Ein Erfolg kann den kämpfenden<br />

Bergsklaven jedoch nur dann beschieden<br />

sein, wenn ihre proletarischen Brüder in<br />

allen Ländern in größtem Maße Solidarität<br />

üben.<br />

Das Sekretariat der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiterassoziation ruft die ihm angeschlossenen<br />

Landesorganisationen, ruft<br />

das gesamte Proletariat aller Länder auf,<br />

die kämpfenden Bergarbeiter moralisch<br />

und materiell zu unterstützen.<br />

Genossen! Laßt es nicht zu, daß<br />

Kohle aus anderen Ländern nach Deutschland<br />

geht, boykottiert die deutschen<br />

Waren auf die Dauer des Streiks. Sammelt<br />

Gelder, um die Familien der ausgesperrten<br />

Bergarbeiter zu unterstützen.<br />

Nieder mit dem internationalen Ausbeutertum!<br />

Es lebe die Solidarität des Weltproletariats!<br />

Das Sekretariat<br />

der <strong>Internationale</strong>n Arbeiterassoziation.<br />

Aus der <strong>Internationale</strong> des Syndikalismus.<br />

Arbeiterkämpfe in Norwegen.<br />

Von Carl O. Tangen - Kristiania.<br />

In den Jahren 1907 bis 1913 führte die<br />

gewerkschaftliche Landesorganisation Norwegens<br />

(reformistisch) eine Reihe Streiks<br />

in verschiedenen Gewerben und Industrien.<br />

<strong>Die</strong>se Streiks brachen aus, nachdem vorher<br />

monatelang verhandelt wurde, und sie<br />

endeten nach 3—4 Monaten mit einem<br />

mageren Kompromiß oder auch mit einer<br />

glatten Niederlage für die Arbeiterschaft<br />

Es waren Kämpfe mit typisch reformistischem<br />

Charakter, bei welchen in der<br />

Regel die Arbeiter des einen Gewerbes<br />

oder einer Industrie als organisierte Streikbrecher<br />

gegen eine andere Industrie auftraten.<br />

<strong>Die</strong>se Verhältnisse führten dahin, daß<br />

auf der einen Seite die Arbeiter sich<br />

NORWEGEN.<br />

nach neuen Kampfesmethoden umsahen,<br />

auf der anderen Seite die bürgerlich<br />

liberale Regierung sich dazu vorbereitete,<br />

offiziell einzugreifen in die Zwistigkeiten<br />

zwischen Kapitalismus und Arbeiterschaft.<br />

Das frühzeitig in Australien durchgeführte<br />

Gesetz des Schlichtungsverfahrens und<br />

Schiedsgerichtes war für die Regierung<br />

Norwegens das erstrebte Ziel. <strong>Die</strong> Arbeiterschaft<br />

wollte selbstversändlich nichts<br />

wissen von einem solchen Eingriff seitens<br />

des Staates und die Führerschaft mußte<br />

sich darein Finden, auch ihrerseits Abstand<br />

von einem solchen Gesetze zu nehmen.<br />

Als der Gesetzesvorschlag zum ersten<br />

Male im Jahre 1914 im Störung (Reichstag)<br />

zur Behandlung kam, drohte die gewerkschaftliche<br />

Landesorganisation mit<br />

dem Generalstreik. Angesichts dieser


36<br />

Drohung kapitulierte die Regierung, indem<br />

sie die Behandlung dieser Vorlage<br />

auf unbestimmte Zeit vertagte. Als dieselbe<br />

später erneut zur Behandlung kam,<br />

war die Regierung besser gerüstet. Wohl<br />

hat die Landesorganisation den Generalstreik<br />

proklamiert gegen die Annahme<br />

dieses Gesetzes, nach einigen Tagen aber<br />

schon ließ sie den Streik abblasen und<br />

beugte sich vor dem Gesetze. Jetzt<br />

folgte für die Gewerkschaftsführer eine<br />

goldene Zeit. Sie konnten in ihren Verbandskassen<br />

Gelder sparen und bekamen<br />

persönlich extra gute Honorare als offizielle<br />

Schlichter. Nach und nach eroberten<br />

die Männer der Opposition die leitenden<br />

Stellen in mehreren Gewerkschaftsverbänden<br />

und nun war alles schön und<br />

gut. Der Kampf der Arbeiterorganisationen<br />

wurde nun vom Betriebe und der<br />

Arbeitsstelle in die Schlichtungsämter verlegt<br />

und das Interesse der Arbeiter für<br />

die praktischen Aufgaben in ihren Gewerkschaften<br />

wurden immer geringer.<br />

Das Gesetz für ein staatliches Schlichtungsverfahren<br />

sollte nur während der<br />

Zeit der Krise gelten. Bei der ersten<br />

Behandlung im Storthing stimmte nur die<br />

Linkspartei für das Gesetz. <strong>Die</strong> Rechtspartei<br />

und die Sozialdemokratie stimmten<br />

dagegen, was ihnen sehr leicht fiel, da<br />

sie in der Minderheit waren. Nach den<br />

Storthingwahlen im Jahre 1921 kam die<br />

Linkspartei in die Minderheit und die<br />

Kommunisten erhielten 28 Sitze im neuen<br />

Storthing. Jetzt wäre die Sache für die<br />

Linkspartei verloren gewesen, wenn die<br />

Vertreter der Arbeiterschaft und des Unternehmertums<br />

denselben Standpunkt vertreten<br />

hätten wie früher. Als jedoch die<br />

Frage über die Verlängerung des Gesetzes<br />

im Jahre 1921 zur Behandlung kam, gab es<br />

eine Ueberraschung durch die Kommunisten:<br />

sie hatten eine vollständige Frontänderung<br />

vollzogen und stimmten für<br />

die Verlängerung des Gesetzes<br />

für ein staatliches Schlichtungsverfahren<br />

mit juridischer<br />

Zwangswirkung für die<br />

Arbeiterschaft. So führten die<br />

Kommunisten den Kampf gegen die<br />

Arbeiterklasse und halfen mit,<br />

die Gewerkschaftsorganisation an den<br />

Staat zu verkuppeln.<br />

In der Zeit wirtschaftlichen Aufstiegs<br />

erreichten die Arbeiter durch dieses Gesetz<br />

einige Lohnerhöhungen und so ließen<br />

sie die Sache gehen. Sie gewöhnten sich<br />

schließlich daran, daß der Staat sich in<br />

die Regelung ihrer wirtschaftlichen Fragen<br />

direkt einmischte. Das Unglück<br />

Norwegen.<br />

wollte es aber, daß Schlichtungswesen<br />

und Schiedsgerichtsverfahren, nachdem die<br />

Kommunisten es anerkant hatten, sich<br />

gegen die Arbeiterschaft richtete. Nun<br />

brach der Unwille gegen das Schlichtungs-<br />

und Schiedsgerichtswesen los und<br />

wurde in der gesamten Arbeiterschaft<br />

immer stärker. Nun wurde es den Arbeitern<br />

klar, daß sie wieder auf ihre eigene<br />

Kraft bauen müssen, wenn sie im Kampfe<br />

gegen ihre Widersacher siegreich bleiben<br />

wollen.<br />

Bei dem Abkommen der Metallarbeiter<br />

fürs Jahr 1923 war eine gleitende Lohnskala<br />

eingeflochten, nach welcher die<br />

Löhne um 5 Oere per Stunde herabgesetzt<br />

werden sollten, falls bis September<br />

die Preissenkung eine Indexziffer von 232<br />

erreichte. Im August vorigen Jahres<br />

stand die Indexziffer auf 239 und die<br />

Preise stiegen täglich. <strong>Die</strong> Metallarbeiter<br />

waren sicher, daß im Oktober keinerlei<br />

Lohnreduzierung vorgenommen werden<br />

könnte. Mitte Oktober wurde plötzlich<br />

in den Betrieben offiziell bekanntgegeben,<br />

daß die Indexziffer der Preise auf<br />

230 herabgesunken sei und daß die Löhne<br />

ab 1. Oktober mit rückwirkender Kraft<br />

herabgesetzt werden sollten. <strong>Die</strong> Arbeiterschaft<br />

stand da wie vom Blitze<br />

getroffen. Wie hatte das statistische Zentralamt<br />

eine Senkung der Indexziffer hervorzaubern<br />

können, während alle Lebensnotwendigkeiten<br />

im Preise stiegen? <strong>Die</strong><br />

Arbeiterschaft konnte sich mit einer<br />

solchen Diktatur der Unternehmerverbände<br />

nicht zufrieden geben und legte<br />

spontan die Arbeit in den meisten Betrieben<br />

Kristianias und Fredrikstads nieder.<br />

5000 Metallarbeiter traten in den Kampf<br />

ohne ihre Führer zu befragen. Das war<br />

bei der geduldigen und gesetzesgläubigen<br />

Arbeiterschaft Norwegens einzigartig.<br />

<strong>Die</strong> reformistische Landesorganisation,<br />

der Eisen- und Metallarbeiterverband, sowie<br />

alle übrigen Gewerkschaftsverbände,<br />

die in diesen Konflikt hineingezogen<br />

waren, wurden vor das von den Kommunisten<br />

anerkannte Gerichtsverfahren zitiert.<br />

Das Gericht verurteilte den Streik<br />

als gesetzeswidrig und verpflichtete die<br />

Verbände, die Arbeiter öffentlich aufzufordern,<br />

die Arbeit wieder aufzunehmen.<br />

<strong>Die</strong>se Aufforderung wurde in der Presse<br />

der reformistischen Gewerkschaften mit<br />

Unterschrift der Verbandsleiter veröffentlicht.<br />

Bezeichnend dabei war, daß der<br />

Gerichtshof, welcher die Arbeiter zur<br />

Wiederaufnahme der Arbeit aufforderte,<br />

unter anderen aus einem Sozialdemokraten<br />

und einem Kommu-


nisten! bestand. <strong>Die</strong> Metallarbeiter<br />

folgten nicht der Aufforderung, sondern<br />

setzten den Streik fort. Sic fanden überall<br />

weitgehendes Verständnis für ihren<br />

Kampf und wurden allerseits von der<br />

Arbeiterschaft Skandinaviens finanziell<br />

unterstützt.<br />

Wegen Nichtbefolgung des gerichtlichen<br />

Urteils wurde der Aktionsausschuß<br />

der Streikenden unter Anklage<br />

gestellt und zu Geldstrafe verurteilt. <strong>Die</strong><br />

Antwort des Ausschusses darauf war jedoch<br />

eine Aufforderung an die Arbeiterschaft,<br />

den Streik fortzusetzen und zu<br />

unterstützen. Das syndikalistische Organ<br />

„Alarm" und einige andere Zeitungen,<br />

die diesen Aufruf veröffentlichten,<br />

wurden deshalb gerichtlicher Verfolgung<br />

ausgesetzt.<br />

Der Streik der Metallarbeiter dauerte<br />

jedoch fort und erstreckt sich jetzt schon<br />

auf 7 Monate!<br />

Mitte Januar traten die Hafen- und<br />

Transportarbeiter in den Streik. Sic<br />

standen vorher 9 Monate lang in Unterhandlungen<br />

wegen Abschluß eines neuen<br />

Lohntarifes. <strong>Die</strong> Arbeiter forderten Lohnerhöhung,<br />

die Unternehmer wollten jedoch<br />

die bestehenden Löhne noch herabsetzen.<br />

Als nun den Arbeitern die<br />

Geduld riß und sie in den Ausstand traten,<br />

versorgten die Unternehmer sich<br />

mit Streikbrechern. Auch die reformistischen<br />

Organisationen traten als Streikbrecher<br />

auf. <strong>Die</strong> organisierten Elektriker<br />

lieferten den Streikbrechern elektrische<br />

Kraft, die Seeleute hielten die Schiffahrt<br />

in Gang und die Polizei sperrte das<br />

Hafengebiet mit bewaffneten Wachen ab.<br />

<strong>Die</strong>ser Streik wurde also auf ausgesprochen<br />

reformistische Weise geführt.<br />

All diesem zum Trotz konnte die<br />

Arbeit in den Häfen von den Streikbrechern<br />

nicht geschafft werden. Dazu<br />

kam der „ungesetzliche" Streik der Metallarbeiter,<br />

den die Unternehmer gern<br />

gebrochen haben wollten. Um dies zu<br />

erreichen, sperrten die Unternehmer<br />

mehrere Arbeitergruppen aus. Den<br />

1. März dieses Jahres befanden sich<br />

70000 Arbeiter in Streik oder Aus-<br />

Sperrung. <strong>Die</strong>ser Kampf dauerte 4 Monate.<br />

<strong>Die</strong> Führer der reformistischen<br />

Zentralverbände fielen vor den Unternehmerverbänden<br />

auf die Knie und baten<br />

um neue Verhandlungen über die Tarifvertrage,<br />

um eine Regelung herbeizuführen.<br />

Als dies die Unternehmer gewahr<br />

wurden, wie schwach die Führer<br />

der Arbeiterschaft waren, wurden sie<br />

noch weit anmaßender.<br />

Norwegen. 37<br />

<strong>Die</strong> Arbeiter stellten von verschiedenen<br />

Seiten die Forderung eines Generalstreiks<br />

auf, um zu einer Lösung zu kommen.<br />

<strong>Die</strong> Führer aber wollten davon<br />

nichts wissen. Dagegen wandten sie sich<br />

an den staatlichen Schlichter, damit<br />

dieser eingreifen möge. <strong>Die</strong>ser machte<br />

einen Vermittlungsvorschlag, der sowohl<br />

von den Unternehmerverbänden wie von<br />

der reformistischen Landesorganisation<br />

anerkannt, von der Arbeiterschaft jedoch<br />

verworfen wurde. Dann hat der Sozialminister<br />

einen neuen Vorschlag gemacht,<br />

den die reformistische Landesorganisation<br />

auch angenommen und ihren Mitgliedern<br />

zur Annahme empfohlen hat. Auch die<br />

Kapitalisten sind mit diesem Vorschlage<br />

einverstanden, die Metallarbeiter, die nun<br />

schon 7 Monate im Kampfe stehen, sollen<br />

durch diesen Vorschlag vollständig preisgegehen<br />

werden. An der Abstimmung<br />

beteiligten sich von etwa 50 000 Streikenden<br />

nur 18 919 Arbeiter. Davon stimmten<br />

10 672 für den Vorschlag, also für<br />

Beendigung des Streiks und 8247 dagegen.<br />

Daß die Beteiligung so schwach war ist<br />

zurückzuführen im wesentlichen auf den<br />

Umstand, daß aus den Gegenden, die von<br />

Kristiania zu weit entfernt Hegen, das<br />

Resultat noch nicht einlaufen konnte.<br />

<strong>Die</strong> Metallarbeiter haben ihren Willen<br />

kundgegeben, den Kampf nicht zu beenden.<br />

Der Streikbruch wird jetzt von den<br />

reformistischen Organisationen den Arbeitern<br />

befohlen und der heroische<br />

Widerstand der 5000 Metallarbeiter wird<br />

durch schnöden Verrat dennoch gebrochen<br />

werden.<br />

<strong>Die</strong> Kommunistische Partei wollte<br />

beim Streik der Metallarbeiter ihr Schäfchen<br />

scheren. <strong>Die</strong>se Herren, die selbst das<br />

Gesetz eines obligatorischen Schiedsgerichtes<br />

sanktioniert haben, preisen jetzt<br />

in hohen Tönen die Arbeiter, die gegen<br />

dieses Gesetz verstoßen. Um ihre Schwindelpolitik<br />

noch mehr zu verdecken,<br />

haben sie sogar den Beschluß gefaßt,<br />

diejenigen Gewerkschaftssekretäre, die<br />

den Schiedsspruch befürworten, aus der<br />

Partei auszuschließen, insoweit dieselben<br />

Parteimitglieder sind. Auf Grund dieses<br />

Beschlusses wurde der Vorsitzende des<br />

Metallarbeiterverbandes, Ha1vard Olsen,<br />

aufgefordert, seine Funktion innerhalb<br />

der Partei niederzulegen. Alles dies<br />

wird aber den den kommunistischen<br />

Herren nichts helfen; die Arbeiterschaft<br />

wird einsehen, daß diese Partei nur die<br />

Stimmen der Arbeiterschaft fischen will,<br />

um sie ihren Herrschergelüsten dienstbar<br />

zu machen.


38 Norwegen.<br />

Das Sekretariat der l.A.A. hat an<br />

die streikenden Metallarbeiter Norwegens<br />

folgenden Brief gerichtet:<br />

An die kämpfenden Metallarbeiter<br />

Norwegens.<br />

Genossen!<br />

Das Sekretariat der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter-Assoziation hat mit großem<br />

Interesse und mit Gefühlen der Sympathie<br />

den Kampf verfolgt, den die norwegischen<br />

Metallarbeiter gegen ihre Ausbeuter, den<br />

Kapitalismus ihres Landes führen. Wir<br />

stehen auch heute mit unserm Herzen<br />

und mit Begeisterung auf Eurer Seite.<br />

Das Sekretariat der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation<br />

sendet Euch im Namen<br />

der ihm angeschlossenen Arbeiterorganis<br />

sationen der ganzen Welt die brüderlich:<br />

sten Grüße.<br />

Wir haben mit Bedauern Kenntnis<br />

genommen, daß Ihr in Euerm Kampfe<br />

Euch richten müßt nicht nur gegen die<br />

Unternehmer, sondern auch gegen ein<br />

System des Schlichtungswesens, das von<br />

der reformistischen Strömung innerhalb<br />

der Arbeiterbewegung aller Länder als<br />

Ausweg aus den Streitigkeiten und zur<br />

Beilegung der Kämpfe zwischen Kapitalismus<br />

und Arbeiterschaft angesehen wird,<br />

das aber in Wirklichkeit dazu beigetragen<br />

hat, den Kampf der Arbeiterschaft zu erschweren<br />

und die bürgerlichen Gerichte<br />

zum Richter über die Arbeitskonflikte zu<br />

setzen. Es ist klar, daß diese Gerichte<br />

die Klasse und die Weltordnung verteidigen,<br />

von der sie unterhalten werden.<br />

Daraus folgt aber, daß die Strömung<br />

innerhalb der Arbeiterbewegung, die in<br />

dem Schlichtungswesen einen Weg zur<br />

Verständigung der Klassen suchte, die<br />

Interessen der Arbeiterschaft der Einfügung<br />

in die kapitalistische Weltordnung<br />

unterordnete und die soziale Befreiung der<br />

Arbeiterschaft, die nur durch Beseitigung<br />

von Kapitalismus und Staat möglich ist,<br />

hintansetzte. <strong>Die</strong>se Beobachtung hat nicht<br />

nur die Arbeiterschaft Norwegens, sondern<br />

auch das Proletariat Dänemarks<br />

durch das berüchtigte „Septemberförliget",<br />

das deutsche Proletariat durch die Arbeitsgemeinschaft<br />

und das Schlichtungswesen,<br />

gemacht, an dessen Spitze ein aus<br />

dem reformistischen Allgemeinen Deutsehen<br />

Gewerkschaftsbunde hervorgegangenes<br />

Mitglied Wisseil steht. Und gerade<br />

durch diese Taktik des Schlichtungswesens<br />

ist die deutsche Arbeiterschaft<br />

dem raubgierigen Kapitalismus bis aufs<br />

Messer ausgeliefert.<br />

Kameraden! Nehmen wir dies zum<br />

warnenden Beispiel und lernen wir daraus,<br />

daß die Arbeiterschaft andere Wege<br />

einschlagen muß, wenn sie den Kampf<br />

gegen den übermütigen Kapitalismus, der<br />

gerade in unserer reaktionären Zeit das<br />

Proletariat tiefer und tiefer ins Elend<br />

stürzen will, mit Erfolg führen will. <strong>Die</strong>se<br />

anderen Mittel sind enthalten in der alten<br />

und ewig jungen Kampfesform der d i -<br />

rekten Aktion. Wir konstatieren<br />

mit Befriedigung, daß die Arbeiter in<br />

allen Ländern immer mehr zur Erkenntnis<br />

kommen, daß die von den Syndikalisten<br />

gepredigte direkte Aktion in ihren manigfachen<br />

Anwendungsformen das einzige<br />

Mittel ist, dem Unternehmertum die<br />

Stirn zu bieten.<br />

Soll diese direkte Aktion aber wirksam<br />

nachhalten, dann muß sie von jenem<br />

Geiste getragen werden, der die Arbeiters<br />

schaft aller Länder und aller Zungen über<br />

alle Grenzen hinweg verbündet mit den<br />

Gefühlen der Brüderlichkeit und Hilfsbereitschaft.<br />

<strong>Die</strong>ser Geist ist die Solidarität!<br />

Genossen! Wir haben den Aufruf des<br />

Aktionsausschusses der streikenden Metallarbeiter<br />

im „Alarm", dem Blatt unserer<br />

norwegischen Sektion gelesen und sind<br />

davon tief ergriffen worden. Wir wissen,<br />

daß die norwegischen Arbeiter die Solidarität<br />

ihren Klassengenossen auch jenseits<br />

der Grenzen der Nationen hinweg<br />

stets bewiesen haben, und wir haben noch<br />

kürzlich ein rührendes Beispiel von Solidarität<br />

unserer Kameraden vom N.S.F. erlebt,<br />

als diese Kameraden, die ebenfalls<br />

von Streiks und Kämpfen in Mitleidenschaft<br />

gezogen sind, Kinder von deutschen<br />

Proletariern zu sich genommen<br />

haben, um die dem kapitalistischen Raubbausystem<br />

zum Opfer gefallenen, unterernährten<br />

und früh dem Siechtum verfallenen<br />

Proletarierkinder durch kräftige<br />

Kost zu gesunden Kindern zu machen, die<br />

durch intime Verbindung mit Proletariern<br />

anderer Länder schon in ihrer Jugend<br />

den Geist der internationalen Verbrüderung<br />

verspüren werden!<br />

Kameraden! Wie gerne möchten wir<br />

Eure Bitte um ökonomische Unterstützung<br />

erfüllen, wir sind jedoch angesichts der<br />

schweren Kämpfe die unsere Kameraden<br />

in Deutschland durch die Bergarbeiteraussperrung,<br />

in Spanien durch die Militärdiktatur,<br />

in Italien durch den Faschismus<br />

auszufechten haben, derart in Anspruch<br />

genommen, daß wir momentan keine<br />

Mittel zur Verfügung haben. Wir werden<br />

jedoch nicht unterlassen, die Arbeiter-


schaft aller Länder auf Euern Kampf aufmerksam<br />

zu machen, um sie zur weitestgehenden<br />

moralischen Hilfeleistung aufzufordern.<br />

Wir bitten Euch, versichert<br />

zu sein, daß wir von dem besten Willen<br />

beseelt sind, Euch zu verhelfen, den<br />

Kampf zu einem siegreichen Ende zu<br />

führen. Wenn heute schon die internationale<br />

Arbeiterbewegung den Fangarmen<br />

des Reformismus sich entwunden<br />

Offensive der reformistischen Gewerkschaften<br />

Schwedens gegen die<br />

Syndikalisten.<br />

Von Edvin Lindstam, Stockholm.<br />

<strong>Die</strong> reformistische Gewerkschaftsbewegung<br />

Schwedens hat einen Anlauf genommen,<br />

nicht aber etwa gegen den Kapitalist<br />

mus, sondern gegen den Syndikalismus. Anlaß<br />

dazu gab ein Beschluß des Kongresses<br />

der reformistischen Landesorganisation<br />

von vorigem Jahre, nach welchem die<br />

gegenwärtigen Berufsorganisationen in Industrieverbände<br />

umgewandelt werden<br />

sollen. <strong>Die</strong>se Umlegung soll bis zum<br />

Ausgang 1925 erfolgt sein. Hierin finden<br />

die reformistischen Verbände einen vorzüglichen<br />

Vorwand, um den verhaßten<br />

Syndikalisten zu Leibe zu rücken. In<br />

einigen Industrien, z. B. in der Metallindustrie,<br />

der Lebensmittelindustrie und<br />

der Celluloid- und Papierindustrie haben<br />

die Reformisten nicht nur an die Arbeiter<br />

in den reformistischen Berufsorganisationen,<br />

sondern auch an die Syndikalisten<br />

die Forderung gestellt, ihre Orgatisation<br />

aufzulösen und den neuzubildenden<br />

Industrieverbänden beizutreten.<br />

Dabei ist aber zu bemerken, daß die<br />

syndikalistische Gewerkschaftsbewegung<br />

Schwedens S.A.C. auf dem Prinzip der<br />

Industrieverbände aufgebaut ist, sodaß<br />

keinerlei Anlaß zu einer solchen Forderung<br />

seitens der Reformisten vorliegt.<br />

Der wahre Grund ist auch ganz wo anders<br />

zu finden. S.A.C. hat nämlich in<br />

Fast allen Industrien Eingang gefunden,<br />

und in einigen der bedeutendsten Industrien<br />

sind die syndikalistischen Verpände<br />

die stärkeren. Das ist der Fall<br />

im Baugewerbe, sowie bei der in Schweden<br />

nicht unbeträchtlichen Waldarbeiterschaft.<br />

Das Merkwürdigste dabei ist, daß die<br />

Kommunisten, die fast alle in den reformistischen<br />

Gewerkschaften organisiert<br />

Schweden. 39<br />

SCHWEDEN.<br />

hätte, dann hätte Euer Kampf schon lange<br />

ein erfolgreiches Ende gefunden.<br />

Nieder mit der Klassengemeinschaft<br />

zwischen Ausbeutern und Arbeitern!<br />

Es lebe die <strong>Internationale</strong> Solidarität des<br />

revolutionären Weltproletariats!<br />

Das Verwaltungsbüro der<br />

<strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation.<br />

sind, die sie selbst als „gelbe" Organisation<br />

betrachten, in dem Kampfe gegen<br />

die Syndikalisten an erster Stelle stehen.<br />

An der Spitze dieses Kampfes gegen den<br />

Syndikalismus steht der Metallarbeiterverband.<br />

<strong>Die</strong> Leitung dieses Verbandes<br />

ist in hohem Maße in den Händen der<br />

Kommunisten. <strong>Die</strong>se Kommunisten benutzen<br />

die reformistischen Gewerkschaften<br />

zur Errichtung der „Einheitsfront".<br />

Andererseits hat der Vorstand<br />

der reformistischen Landesorganisation<br />

seinen angeschlossenen Organisationen<br />

empfohlen, mit den syndikalistischen Organisationen<br />

nicht zusammenarbeiten.<br />

Und die Kommunisten, die Vertreter der<br />

..Einheitsfront", brechen gerade die Einheitsfront<br />

mit den revolutionären Arbeitern<br />

den reformistischen Gewerkschaften<br />

zuliebe!<br />

Es ist selbstverständlich, daß die<br />

Syndikalisten sich diesen anmaßenden<br />

Versuchen der Reformisten widersetzen.<br />

Es ist nämlich völlig unrichtig, daß die<br />

reformistischen Gewerkschaften nach<br />

der Umlegung in Industrieverbände wirklich<br />

geeignetere Klassenkampforganisationen<br />

werden. Sic werden trotz der<br />

Umlegung Berufsverbände bleiben, nur in<br />

größerem Umfange, aber dadurch haben<br />

sie keineswegs bessere Aussichten, einen<br />

wirksameren Kampf gegen den Kapitalismus<br />

zu führen und die Interessen der<br />

Arbeiterschaft besser wahrzunehmen.<br />

<strong>Die</strong> Syndikalisten verteidigen selbstverständlich<br />

ihr Recht, eine selbständige<br />

Organisation zu bilden. Gegen die Anklagen<br />

der Reformisten, sie seien Splitterer,<br />

heben die Syndikalisten hervor, daß<br />

der Beweis nicht erbracht werden kann,<br />

daß sie unsolidarisch aufgetreten sind,<br />

daß sie im Gegenteil stets bereit waren<br />

und bereit sind, gegen die Unternehmer<br />

und den Kapitalismus mit allen Arbeitern<br />

gemeinsame Sache zu machen. So<br />

sind auch die Reformisten nicht imstande.


40 Schweden. Frankreich.<br />

auch nur einen einzigen Fall anzuführen,<br />

wo die syndikalistischen Organisationen<br />

in irgend einer Industrie ein Hindernis im<br />

Kampfe gegen das Unternehmertum gewesen<br />

sind, dagegen haben die Syndikalisten<br />

eine Menge Beispiele anzuführen,<br />

daß sie bei allen Kämpfen, selbst wenn<br />

dieselben von den Reformisten begonnen<br />

wurden, die größte Aktivität entfaltet<br />

und durch ihre Tätigkeit dazu beigetragen<br />

haben, daß die Kämpfe für die<br />

Arbeiterschaft ein günstiges Ergebnis<br />

zeitigten.<br />

<strong>Die</strong> reformistischen Gewerkschaften<br />

fürchten also ohne Zweifel, daß die syndikalistischen<br />

Organisationen immer<br />

größer anwachsen und durch ihre Ideen<br />

weitere Kreise der Arbeiterschaft erfassen<br />

können, und das bedeutet selbstverständlich<br />

einen Mitgliederschwund der<br />

reformistischen Organisationen. Das ist<br />

der Grund, weshalb sie unter dem Vorwand,<br />

eine Umlegung ihrer Organisationsform<br />

durchzuführen, diese Kampagne in<br />

Gang gesetzt haben, deren Ziel darin besteht,<br />

die syndikalistische Bewegung niederzuschlagen.<br />

Es ist aber vollständig ausgeschlossen,<br />

daß es den Reformisten glücken wird,<br />

ihren Plan durchzuführen. <strong>Die</strong> syndikalistischen<br />

Organisationen sind bereit, diesen<br />

infamen Anschlag abzuwehren. Sie<br />

rüsten sich allerorts, um die gegen sie<br />

geführten Angriffe abschlagen zu<br />

können, und es kann mit Sicherheit gesagt<br />

werden, daß diese reformistische<br />

Offensive gegen den Syndikalismus zu<br />

einer Niederlage verurteilt ist.<br />

Gerade jetzt, während die reformistischen<br />

Führer den Syndikalismus ver-<br />

<strong>Die</strong> neue Taktik der C.G.T.U. und der<br />

Kommunistischen Partei.<br />

Von Pierre Bcsnard, Paris.<br />

<strong>Die</strong> Streikbewegungen von Saint Etienne<br />

und Roanne haben uns in die Lage<br />

versetzt, die neue Taktik der Kommunistischen<br />

Partei Frankreichs und ihres Compagnons,<br />

der C.G.T.U. (Vereinigten Gewerkschaftsbundes)<br />

bloßzustellen.<br />

Es blieb hier niemandem verborgen, daß<br />

es die Kommunistische Partei darauf anlegte,<br />

die Wahlparole mit einer Kampfesatmosphäre,<br />

mit wirtschaftlichen Kämpfen<br />

zu umgeben. Um in diesem Sinne aus der<br />

äußerst schwierigen Situation, die von Tag<br />

FRANKREICH.<br />

nichten wollen, wächst unsere S.A.C.<br />

von Tag zu Tag. Es bilden sich neue<br />

Organisationen, unsere Industrieverbände<br />

breiten sich aus und unsere Presse und<br />

Propaganda entfalten sich immer erfreulicher.<br />

Obzwar wir mit unsern 35 000<br />

Mitgliedern im Vergleich zu den reformistischen<br />

Organisationen klein sind an<br />

Anzahl, ist unser Einfluß in der schwedischen<br />

Arbeiterbewegung sehr groß. In<br />

den reformistischen Organisationen macht<br />

sich auch vielerorts eine starke Unzufriedenheit<br />

bemerkbar mit der bisher geführten<br />

Politik und mit der ganzen<br />

Geisteseinstellung. <strong>Die</strong>ser Eindruck wird<br />

noch verstärkt durch das Beispiel, welches<br />

die syndikalistischen Organisationen<br />

in propagandistischen und organisatorisehen<br />

Fragen geben, vor allem aber durch<br />

ihre Kampfestätigkeit und ihre moralische<br />

und geistige Lebensfähigkeit, die<br />

in den reformistischen Arbeitermassen<br />

eine nicht zu unterschätzende Spur hinterlassen.<br />

Alle Anzeichen deuten darauf<br />

hin, daß der Syndikalismus in Schweden<br />

die Arbeiterschaft gewinnen wird. Sicher<br />

ist, daß weder das Unternehmertum noch<br />

die reformistischen Gewerkschaftsführer<br />

den Syndikalismus in der Arbeiterschaft<br />

ertöten können. Dazu ist die syndikalistische<br />

Bewegung jetzt schon zu stark<br />

und selbstbewußt. In der Zeit der Exi-<br />

Stenz unserer S.A.C. haben die Kapitalisten<br />

und alle Klassenfeinde kein Mittel<br />

unversucht gelassen, um den Syndikalismus<br />

zu vernichten. Alle diese Versuche<br />

sind elendiglich gescheitert, und dieselbe<br />

traurige Erfahrung werden auch die reformistischen<br />

Syndikalistenfresser in<br />

ihrem Kampfe machen müssen, den sie<br />

gegen uns in Szene gesetzt haben.<br />

zu Tag komplizierter wurde, Nutzen zu<br />

ziehen, wünschten die beiden Soziusse die<br />

Arbeiterklasse zu einer Massenaktion zu<br />

führen, die in einem Generalstreik ausmünden<br />

sollte, wobei es jedoch nicht möglich<br />

gewesen wäre, den Charakter und den<br />

Träger dieser letzten Manifestation näher<br />

zu bestimmen, deren Nutznießerin die<br />

Partei am 11. Mai bei den Parlamentswahlen<br />

hätte werden sollen.<br />

Es muß allerdings zugegeben werden,<br />

daß die außerordentlich peinliche Situation<br />

der Arbeiterklasse infolge der Entwertung<br />

des Franken, der täglichen Zuspitzung<br />

durch die Teuerung diese Kampfestaktik<br />

rechtfertigte. Alle Bedingungen für einen


solchen Kampf waren gegeben, außer der<br />

einen und wesentlichsten: die Kräfte der<br />

Arbeiterklasse.<br />

<strong>Die</strong> vollständige Abwesenheit dieses<br />

Faktors: die Kräfte der Arbeiterklasse,<br />

veranlaßte die Minderheit der revolutionären<br />

Syndikalisten, eine abwartende Haltung<br />

einzunehmen. Sich in den Kampf zu begeben,<br />

wie die C.G.T.U. und die Kommunistische<br />

Partei es wollten, war gleichbedeutend<br />

damit, die Arbeiterklasse zu einer<br />

sicheren und unvermeidlichen Niederlage<br />

zu führen, da wir gegenwärtig nicht in der<br />

Lage sind, einen ernsthaften Kampf gegen<br />

das Unternehmertum zu führen. Und das<br />

wird auch weiter so verbleiben, solange wir<br />

nicht unsere Kräfte reorganisiert haben.<br />

<strong>Die</strong> einzige empfehlenswerte Taktik,<br />

die sich aus der Lage der Dinge von selbst<br />

ergab, war, dort gegen das Unternehmers<br />

tum anzukämpfen, wo dasselbe Verhältnismäßig<br />

schwach war, wobei die Kräfte der<br />

Arbeiterschaft sich möglichst direkt gegen<br />

die Unternehmerkartelle, die in Frage,<br />

kommen, richten sollten.<br />

Das rasche Steigen des Franken, der<br />

durch die amerikanische und englische finanzielle<br />

Hilfe seinen Wert in wenigen<br />

Tagen fast verdoppelte, brachte uns in<br />

eine äußerst prekäre Lage. <strong>Die</strong> Beschlüsse,<br />

die vom Nationalkomitee der C.G.T.U. am<br />

16. März gefaßt worden waren und die<br />

jede Teilaktion formell verwarfen, taten<br />

ein übriges. So scheiterte der Streik von<br />

Citroen, der nach den Leitern der C.G.T.U.<br />

die Betriebe der Pariser Region in die Bewegung<br />

ziehen sollte, in beklagenswerter<br />

Weise, da die Verallgemeinerung nicht<br />

möglich war.<br />

<strong>Die</strong> Streikbewegungen von St. Etienne<br />

und die in der Textilindustrie von Roanne,<br />

die im gegebenen Augenblick zu einer<br />

großen Bewegung anwachsen konnten,<br />

wenn sie durch Solidaritätsstreiks in anderen<br />

Gegenden unterstützt worden<br />

wären, wurden ihrem Schicksal überlassen<br />

und führten zu jener Niederlage, die, wie<br />

es scheint, von der C.G.T.U. weder zu<br />

verhindern noch zu verkleinern versucht<br />

wurde.<br />

Es scheint im Gegenteil, daß die<br />

C.G.T.U. ihrer neuen Streiktheorie die<br />

Weihe geben wollte. Man wollte die Tat-<br />

Sachen selbst der Lehre, der Taktik unterordnen,<br />

man weigerte sich systematisch<br />

anzuerkennen, daß die Lehre auf festzustellenden<br />

Tatsachen beruhen muß.<br />

Das ganze Geheimnis dieser Niederlage,<br />

die schwer zu verhindern war aber<br />

lange nicht so schwer zu werden brauchte,<br />

liegt darin: man wollte absolut und sofort<br />

Frankreich. 41<br />

den Teilstreik von außen her verurteilen.<br />

<strong>Die</strong> C.G.T.U. faßt nur den Generalstreik<br />

in einer oder in allen Industrien ins Auge.<br />

Das ist die Taktik, auf welche sie sich festlegte,<br />

im Einverständnis mit der Kommunistischen<br />

Partei, die, wohl verstanden, die<br />

Stunde und den Charakter, welchen die<br />

Bewegung annehmen sowie das Ziel, das<br />

gesteckt werden soll, zu bestimmen für<br />

sich in Anspruch nimmt. <strong>Die</strong>se Taktik<br />

hat zum Ziele, jede Aktion des Syndikalismus<br />

in einem Orte oder Landesteile zur<br />

Besserung der Lage der Arbeiterklasse unmöglich<br />

zu machen, wenn die in Frage<br />

kommende Bewegung für die Ziele der<br />

Partei nicht ausgenutzt werden kann. Um<br />

diese spontanen Aktionen zu verwerfen,<br />

die man für gefährlich hält, will man die<br />

Niederlagen vermehren, die Schläge gegen<br />

die Arbeiterklasse aufhäufen, damit eines<br />

Tages die Taktik der Zentrale der<br />

C.G.T.U. als die einzig mögliche erscheint.<br />

Man begnügt sich aber nicht<br />

damit. In demselben Maße, wie man es<br />

für wichtig hält, die Wertlosigkeit der<br />

Teilstreiks aufzuweisen, welche ein tägliches<br />

Kampfesmittel des Syndikalismus<br />

sind, will man auch den Beweis liefern,<br />

daß der Generalstreik, wie die Syndikalisten<br />

ihn auffassen, wertlos ist. Das ist<br />

das Werk, welches man für die kommende<br />

Zeit ins Auge faßt.<br />

Wenn die Umstände es gestatten,<br />

dann werden wir sehen, ob nicht nur die<br />

Teilstreiks, sondern auch der erste Generaistreik,<br />

der ausbrechen wird, zu einer<br />

Niederlage führen werden.<br />

Da man durch die Erfahrungen der<br />

Vergangenheit die Kampfesmittel des<br />

Syndikalismus nicht verurteilen kann, versucht<br />

man dies zu erreichen durch<br />

Aktionen, die unter schwierigen Verhältnissen<br />

von vornherein eine Niederlage im<br />

Schoße tragen.<br />

Wenn man nun auf diese Weise seine<br />

Demonstration gemacht haben wird, dann<br />

wird man erklären, daß die Kampfesmittel<br />

des Syndikalismus nicht mehr dem Gebote<br />

der Stunde entsprechen, und nun<br />

wird man die gesamten Kräfte der Arbeiterschaft<br />

der Kommunistischen Partei<br />

entgegenführen wollen, die als einzige<br />

Retterin des Proletariats erscheinen wird.<br />

<strong>Die</strong> Partei weiß jedoch, daß sie ihre<br />

eigene Armee haben muß, um diese Ziele<br />

zu erreichen. Sie sucht diese zu bilden<br />

durch Schaffung von Werkstatt- und Betriebsräten<br />

außerhalb der Gewerkschaftsbewegung,<br />

da diese Räte der Kontrolle<br />

der Gewerkschaften entzogen sind.


42 Frankreich. Elsaß-Lothringen.<br />

Innerhalb der Gewerkschaften sind<br />

die Betriebsräte Kräfte des Proletariats,<br />

die dem Unternehmertum auf den Hals<br />

rücken können, sie sind wachsame Posten<br />

des Syndikalismus, dazu berufen, mächtige<br />

Aktionsmittel von nicht zu unterschätzender<br />

Rolle zu sein. Sie sind, mit einem<br />

V/orte, die wahren Stoßtrupps des Angriffs<br />

und des Kampfes auf dem Orte<br />

des Produktionsprozesses selbst.<br />

Wenn im gegenteiligen Falle die Betriebsräte<br />

von den Zellen der Kommunistischen<br />

Partei geleitet werden, wenn<br />

diese Organe der Kontrolle der C.G.T.U.,<br />

der Föderationen und der Gewerkschaften<br />

entzogen werden, wenn die Betriebsräte<br />

aus organisierten und unorganisierten Arbeitern<br />

bestehen, die nicht zur Verantwortlichkeit<br />

gezogen werden können, sondem<br />

sich außerhalb der Gewerkschaftsbewegung<br />

befinden, dagegen die Aktionsorgane<br />

der Kommunistischen Partei in<br />

den Gewerkschaften sind, dann bedeutet<br />

dies die sichere Zerstörung des Syndikalismus,<br />

der dann als Klassenbewegung abtreten<br />

würde.<br />

Ein Rückblick auf die Arbeiterbewegung<br />

in EIsaß-Lothringen.<br />

Von Ernest Altenbac h-Mülhausen.<br />

<strong>Die</strong> elsaß-lothringische Arbeiterbewegung<br />

kannte nach Schluß des Waffen-<br />

Stillstandes nur die von den deutschen<br />

Zentralgewerkschaften gepredigten und<br />

angewandten Zentralisationsmethoden, die<br />

dem freien — antiautoritären Prinzip des<br />

revolutionären Syndikalismus direkt widersprechen.<br />

In den Jahren 1919 und 1920 strömten<br />

die Arbeiter massenhaft in die neu entstandenen<br />

oder neu gegründeten Gewerkschatten<br />

hinein. Mit Hilfe der bekannten<br />

Methoden brachte man die widerspenstigsten<br />

Leute in die Organisationen hinein,<br />

so daß, wie z. B. in Mülhausen, Betriebe<br />

von 5000 Arbeitern alle bis auf den Nachtwächter<br />

und Portier restlos organisiert<br />

waren. <strong>Die</strong> Sache war zu schön, um<br />

ständig fortdauern zu können, und beim<br />

ersten Ansturm der Reaktion brach die<br />

auf Zwang und Drohung aufgebaute Organisation<br />

der Metallarbeiter kläglich zusammen.<br />

Mit der Zeit setzte die Mitgliederflucht<br />

auch bei den anderen Organisationen<br />

ein. <strong>Die</strong> Parolen der 3. <strong>Internationale</strong><br />

spalteten die Arbeiter politisch<br />

in zwei Lager und führten auch eine<br />

ELSASS-LOTHRINGEN.<br />

Das sind kurz dargelegt die Ziele, die<br />

von der C.G.T.U. verfolgt werden, die<br />

getreu die Befehle des Kremls ausführt. Es<br />

erübrigt sich wohl zu sagen, daß wir alles<br />

tun, was in unserer Macht steht, um die<br />

Verwirklichung dieses Planes zu verhindern.<br />

Es ist, zusammengefaßt, eine Wiederholung<br />

der Verhältnisse, wie sie sich in<br />

Deutschland schon abspielten. Man will<br />

hier die famosen Betriebsräte verallgemeinern,<br />

deren Auftreten in Rheinland-<br />

Westfalen all den Bluff möglich machte,<br />

den wir zur Genüge kennen lernten; man<br />

will nun mit dem französischen Proletariat<br />

dieselben Experimente machen, wie<br />

ein Bela Kun und ein Radek sie in<br />

Deutschland gemacht haben.<br />

Trotz der großen Mittel der Kommunistischen<br />

<strong>Internationale</strong> zweifle ich<br />

stark, daß dies möglich sein wird, wir<br />

sind vielleicht nicht weit von dem<br />

Gipfelpunkt dieser einzigartigen Krise.<br />

Dann wird die Hoffnung auf Wieder-<br />

^eburt des Syndikalismus in der ganzen<br />

Welt wieder aufblühen. Möge dieser Tag<br />

nicht ferne sein.<br />

Trennung der Geister bei den Resttruppen<br />

der der Gewerkschaft noch treugebliebenen<br />

Stammannschaft herbei, die auch im<br />

Elsaß schließlich nach längerem Kompromisseln<br />

zur organisatorischen Trennung<br />

führen mußten. <strong>Die</strong> Geheimzellentaktik,<br />

die in der C.G.T.U. zurzeit einige<br />

Augenblickserfolge für die K.P. ergab, versagte<br />

aber in den der alten C.G.T. noch<br />

treugebliebenen Gewerkschaften vollständig.<br />

Nachdem die „Eroberung" der<br />

Gewerkschaften nicht zu dem erwarteten<br />

Resultat geführt hatte, predigten nun<br />

einige plötzlich deren Zerstörung — natürlich<br />

aber nur die der Reformisten.<br />

Zu dieser Zeit setzten die von syndikalistischem<br />

Geist getragenen Kanonaden<br />

mit der Propaganda zur Gründung des<br />

Allgemeinen Arbeiterverbandes für den<br />

Oberrhein ein. In einer Sitzung der Union<br />

Localc von Mülhausen wurde die Gründung<br />

des Allg. Arbeiterverbandes unter<br />

Ausschluß des Ober-Elsässischen Bergarbeiterverbandes<br />

und der Eisenbahner,<br />

die bereits geschlossen der C.G.T. Unitaire<br />

beigetreten waren, beschlossen und<br />

die Statuten gutgeheißen. <strong>Die</strong> Pseudokommunisten,<br />

wie der jetzt überall ausgeschiffte<br />

Charles Kuhn, hielten damals<br />

eine Brandrede gegen dieses neu entstehende<br />

"anarchistische" vorzeitliche Or-


ganisationsgebilde, wie man bereits vorher<br />

gegen die „anarchistische" Leitung<br />

der C.G.T.U. in Paris gewettert hatte.<br />

<strong>Die</strong> ganz „Reinen" der K.P. merkten<br />

erst später, daß die Tendenz des Allg.<br />

Arbeiter-Verbandes mit der von Moskau<br />

anbefohlenen nicht im Einklang stehe, als<br />

die Mülhauser Parteisektion der K.P.<br />

unter Führung Altenbachs die Beschlüsse<br />

des 4. Weltkongresses in der Gewerkschaftsfrage<br />

mit Mehrheit verwarf, was<br />

den Ausschluß (resp. Austritt) der Anarcho-Syndikalisten<br />

aus der K.P. durch<br />

Kongreßbeschluß herbeiführte.<br />

Auch in der Jugendorganisation<br />

wurde nun reiner Tisch gemacht. Nachdem<br />

auch hier, mit allen gegen drei<br />

Stimmen, die Beschlüsse des 4. Weltkons<br />

gresses verworfen wurden, legte die Jugendorganisation<br />

den alten Titel ab, wie<br />

sie seinerzeit den Titel Lok. Jugendorganisation<br />

abgelegt hatte, und nannte sich<br />

von nun ab „Syndikalistische<br />

Jugend".<br />

So bestand fast auf einen Schlag im<br />

Ober-Elsaß, speziell aber in Mülhausen,<br />

die Kommunistische Partei und ihre Jugendorganisation<br />

nur noch dem Namen<br />

nach. <strong>Die</strong> ganze Wut der K.P.-Leute<br />

entlud sich nun gegen den Allg. Arbeiter-<br />

Verband. In den Sektionen Gebweiler,<br />

Sennheim, Markirch, Rixheim, St. Louis<br />

legten die Kommunisten ihre Spaltungshebel<br />

an. In M. suchte man neben un-<br />

Der Syndikalismus in Portugal.<br />

Von H. Silvas Campos, Lissabon.<br />

Portugal ist das Land im Süden Europas,<br />

in dem der Syndikalismus noch<br />

neu ist. Das Vereinigungswesen allerdings<br />

ist alt, im Jahre 1850 schon war eine<br />

Epoche, in der man Assoziationen zum<br />

Zwecke der Gegenseitigkeit und Kooperation<br />

begründete. <strong>Die</strong>se Organisation<br />

kam nach der I. <strong>Internationale</strong> auf und<br />

bestand bis zu den Kämpfen zwischen<br />

den Kollektivisten und Kommunisten.<br />

Sie war der sozialistischen Allianz angeschlossen,<br />

deren Seele Bakunin gewesen<br />

ist. Nach seinem Weggang war es Lafargue<br />

als Delegierter der Sektion des<br />

Generalrates, unter dem sehr bald die<br />

Anzahl der Bünde der Allianz zusammenschmolz.<br />

<strong>Die</strong> Krisis der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiterassoziation hatte in Portugal<br />

einen viel kritischeren Einfluß als in<br />

dem Zentrum der Assoziation selbst. Und<br />

Elsaß-Lothringen. Portugal.<br />

PORTUGAL.<br />

43<br />

seren Organisationen rein kommunistische<br />

Verbände zu gründen. Am Niederrhein<br />

und an der Mosel kannte man von einer<br />

anarchistisch - syndikalistischen Gefahr<br />

nichts und dienstbereit eilte man der bedrohten<br />

Oberrhein-Föderation zu Hilfe.<br />

Doch ihre Hilfe fruchtete nicht viel,<br />

denn bei Beginn des Wahlkampfes marschierten<br />

die revolutionären Syndikalisten<br />

in allen Wahlversammlungen mit<br />

einer Reihe von Agitatoren auf und aus<br />

den Wahlversammlungen wurden Propagandaversammlungen<br />

der Syndikalisten.<br />

In Straßburg hat Kamerad Schmitt<br />

von der P.T.T. einen härteren Stand, da<br />

er allein auf seine Organisation angewiesen<br />

ist.<br />

Durch die Teuerungswelle, die durch<br />

das Land geht, regen sich die Arbeiter<br />

wieder ein wenig. <strong>Die</strong> Organisationsleitungen<br />

aller Richtungen schlagen Alarm<br />

und rühren die Werbetrommel für die<br />

Organisation.<br />

Der Allg. Arbeiter-Verband hat die<br />

Initiative ergriffen, um eine einheitliche Aktion<br />

in den kommenden Kämpfen herbeizuführen.<br />

<strong>Die</strong> Syndikalisten wollen nur<br />

das Beste für die Arbeiterklasse. Sie<br />

wollen die Arbeiter aus der Vormundschaft<br />

der politischen Parteien und ihrer<br />

Berufspolitiker befreien, um sie in geschlossener<br />

Front im sozialen Kampf<br />

zum Endziel zu führen. Der Same ist<br />

gesät — möge er aufgehen.<br />

als im Jahre 1895 der Syndikalismus in<br />

Frankreich dem Proletariat neue Wege<br />

für seine Emanzipation erschloß, blieb<br />

das portugiesische Proletariat unberührt.<br />

Es besaß keine Organisation, die imstande<br />

gewesen wäre, den Geist der Klasse soweit<br />

zu erheben, daß es imstande gewesen<br />

wäre, seine Interessen zu vertreten.<br />

Einige der damals existierenden Assoziationen<br />

standen unter dem Einfluß der<br />

Staatssozialisten, die das Proletariat zu<br />

einer Arbeitsgemeinschaft der Klassen<br />

veranlaßten.<br />

Im Jahre 1905 war es erst, als ein<br />

Geist sich zu bilden begann, der gegen<br />

die Arbeitsgemeinschaft gerichtet war;<br />

dieser Geist beeinflußte die Organisierung<br />

der Arbeiterschaft entscheidend im<br />

Jahre 1909, in welcher Zeit der erste<br />

syndikalistische<br />

wurde.<br />

Kongreß abgehalten


44 Portugal. Italien.<br />

Seit dieser Zeit blieb der vom Syndikalismus<br />

betonte Klassenkampf in<br />

seiner Ursprünglichkeit bestehen.<br />

Im Jahre 1912 wird schon das System<br />

syndikalistischer revolutionärer Kampfesweise<br />

angewendet in einem Generalstreik<br />

im Januar desselben Jahres.<br />

Jener Streik, der mit außergewöhnlicher<br />

Heftigkeit, die bis zum heutigen<br />

Tage noch nicht übertroffen worden ist,<br />

geführt wurde, wurde aus Solidarität für<br />

die Arbeiter Evoras erklärt, die für<br />

besseren Lohn und bessere Arbeitsbedingungen<br />

kämpften. <strong>Die</strong> Polizei griff auf<br />

der Plaza Publica ein, der Attacke erlagen<br />

zwei Kameraden. Der Streik endete<br />

mit Verhaftungen im ganzen Lande und<br />

dem Schließen des Zentrums der Syndikalisten<br />

in Lissabon, wo mehr als<br />

1000 Kameraden verhaftet wurden.<br />

Jener Kampf war belebt vom Geiste<br />

des Klassenkampfes. Im folgenden Jahre<br />

war der Syndikalismus noch mehr gefestigt,<br />

auf dem Kongreß der Landarbeiter<br />

waren mehr als 60 Syndikate vertreten.<br />

Im Jahre 1914 wurde der I. Landeskongreß<br />

der Arbeiter abgehalten, auf<br />

dem die Union Obrera Nacional gebildet<br />

wurde, aus der auf dem Kongreß in<br />

Konferenz der syndikalistischen Union<br />

Italiens.<br />

Von A. Giovannetti, Mailand.<br />

Angesichts der einem regelmäßigen<br />

Kongreß entgegenstehenden Schwierigkeiten,<br />

da viele unserer lokalen Organisationen<br />

nicht funktionieren können und ein<br />

großer Teil der besten Elemente der<br />

Union Sindacale Italiana (U.S.I.) sich im<br />

Ausland befinden oder gefangen sind,<br />

war es notwendig, sich auf eine bescheidene<br />

Zusammenkunft zu beschränken,<br />

die am 27. April in Mailand<br />

unter Teilnahme von Vertretern der<br />

größeren Arbeiterzentren und denen<br />

einiger kleineren Sektionen und lokaler<br />

Komitees stattfand.<br />

Voraus gingen Versammlungen an<br />

verschiedenen Orten, besonders solche der<br />

gegenwärtig im Ausland befindlichen Genossen,<br />

um die notwendigen Vereinbarungen<br />

zu treffen, da dieselben an der Zusammenkunft,<br />

der sie ihre geschriebene Zustimmung<br />

schickten, nicht teilnehmen<br />

konnten. Auch die Genossen in den Gefängnissen<br />

schickten Zustimmungsbriefe<br />

ITALIEN.<br />

Coimbra (dem 2. Kongreß) die Konföderation<br />

der Arbeit (C.G.T.) hervorging.<br />

Das war im September 1919. In der<br />

Zwischenzeit von 1914—1919 sind verschiedene<br />

Ereignisse von gewisser Bedeutung<br />

vorgekommen, zum Beispiel der<br />

Streik der Bauarbeiter im Mai 1917, der<br />

5 Kameraden das Leben kostete und wobei<br />

schätzungsweise 2000 Kameraden in<br />

die Gefängnisse geworfen wurden. Im<br />

November 1919 wurde ein neuer Generalstreik<br />

über das ganze Land erklärt als<br />

Protest gegen die Lebensmittelteuerung;<br />

dieser Streik wurde in weitgehendster<br />

Weise von der Landbevölkerung unterstützt.<br />

Viele von den Streikenden<br />

wurden nach Angola (Afrika) deportiert.<br />

Das ist ein kurzer Ueberblick über<br />

die syndikalistische Aktion. <strong>Die</strong> Kämpfe<br />

sind nicht immer von Erfolg gekrönt gewesen,<br />

aber sie haben den Syndikalismus<br />

sehr gefestigt.<br />

- - -<br />

Zurzeit befindet sich die Arbeiterschaft<br />

Portugals in großen Kämpfen, die<br />

fast einem Generalstreik im ganzen Lande<br />

gleichkommen. In der nächsten Nummer<br />

der „<strong>Internationale</strong>" soll darüber berichtet<br />

werden. <strong>Die</strong> Redaktion.<br />

und Grüße, die großenteils von den Behörden<br />

zensuriert waren.<br />

In der Vormittagssitzung der Zusammenkunft<br />

schickten die Vertreter<br />

den eingesperrten und vertriebenen tätigen<br />

Genossen warme Begrüßungswünsche<br />

und begrüßten ebenso die Organisationen<br />

der anderen Länder und unsere<br />

<strong>Internationale</strong> Arbeiterassoziation durch<br />

einstimmige Annahme eines Beschlusses,<br />

durch welchen die Zusammenkunft, „nachdem<br />

die Sekretärin über die vergangene<br />

Tätigkeit der I.A.A. und der syndikalistischen<br />

Organisationen der verschiedenen<br />

Länder zur Verteidigung unserer eingekerkerten<br />

Genossen und zu deren der<br />

U.S.I. eigener Unterstützung berichtet",<br />

wärmsten und bewegtesten Dank ausspricht<br />

und denselben solidarische Brüdergrüße<br />

auch im Namen der Opfer der<br />

Reaktion schickt."<br />

<strong>Die</strong> sehr zahlreichen Zustimmungen<br />

von ins Ausland geflüchteten Genossen<br />

und deren dortige Tätigkeit im syndikalistischen<br />

Lager der verschiedenen Länder<br />

stellten die Emigrationsfrage an die erste


Stelle, eine Frage, welche das lebhafte<br />

Interesse der Genossen verschiedener<br />

Länder, denen Emigranten zuströmen, erregt.<br />

Hierüber nahm die Zusammenkunft<br />

einstimmig folgende Resolution an:<br />

„In Erwägung, daß die italienische Arbeiterauswanderung<br />

nicht eine vorübergehende<br />

Ausnahmeerscheinung der seit<br />

emigen Jahren dem Proletariat aufgelegten<br />

Reaktionsperiode ist, sondern eine seit<br />

Jahrzehnten stattfindende normale Tatsache,<br />

deren Ursache vor allem in der<br />

übergroßen Zahl der Bevölkerung gegenüber<br />

der Aufnahmefähigkeit der verfügbaren<br />

Arbeitskräfte durch die vorhandene<br />

Industrie liegt;<br />

„daß feststeht, daß die italienische<br />

Emigration normalerweise teils aus zeitweilig,<br />

für bestimmte Jahreszeiten, teils<br />

Für eine Anzahl von Jahren oder dauernd<br />

Auswandernden besteht; daß erst in<br />

den letzten Jahren eine durch die<br />

Reaktion verursachte ausnahmsweise Abwanderung<br />

von Arbeitern stattfindet,<br />

deren Aufenthalt im Ausland nur aus<br />

diesem Grund ein länger dauernder ist;<br />

„in Anbetracht, daß die aus irgendeiner<br />

Ursache ausgewanderten Arbeiter<br />

tatsächlich und rechtlich ein Teil des<br />

Proletariats ihres neuen Arbeitslandes<br />

werden und daher mit demselben den<br />

Arbeitgebern gegenüber gleiche Interessen<br />

und Wünsche haben,<br />

„bekräftigt die Zusammenkunft von<br />

neuem die unabänderliche Pflicht der auswandernden<br />

Arbeiter, in die Syndikate<br />

ihres Gwerbes oder ihrer Industrie einzutreten<br />

und an den Klassenbewegungen<br />

teilzunehmen, den Geist der Solidarität,<br />

von dem sie im eigenen Land ein Beispiel<br />

gegeben haben, hochhaltend;<br />

„sie hält nichtsdestoweniger für notwendig,<br />

auf besondere Weise im Schoß<br />

der fremden syndikalistischen Bewegungen<br />

das italienische Arbeiterelement zu<br />

pflegen durch bestimmte Organe und durch<br />

Veröffentlichungen in italienischer<br />

Sprache zur Orientierung und zur Rekrutierung<br />

der Ausgewanderten für das<br />

Syndikat;<br />

„als Ausnahmefall, angesichts des politischen<br />

Charakters der Auswanderung der<br />

Flüchtlinge in die Nachbarländer Italiens,<br />

ladet sie diese Arbeiter ein, den Zusammenschluß<br />

der Anhänger der U.S.I. intensiv<br />

zu betreiben, jedoch weiterhin der<br />

syndikalistischen Bewegung ihres neuen<br />

Landes ihre Tätigkeit zu widmen.<br />

Hierauf untersuchte die Zusammenkunft<br />

die Ausnahmeverhältnisse, in denen<br />

Italien. 45<br />

sich unsere Organisationen in sozusagen<br />

allen Zentren der Industrie und des<br />

Ackerbaues in Italien befinden, wo noch<br />

immer verboten ist, sich zu versammeln<br />

und sogar unsere Zeitungen zu erhalten<br />

und zu lesen, während es nicht wenigen<br />

Genossen unmöglich ist, in ihrer Heimat<br />

zu bleiben oder dorthin zurückzukehren<br />

wegen Bedrohung mit schweren, blutigen<br />

Repressalien. Es wurde daher beschlossen,<br />

die Organisation zu besorgen durch<br />

die Bildung und Entwicklung syndikaler<br />

Gruppen in den Werkstätten, Fabriken<br />

und Geschäften selbst.<br />

Betreffs der internationalen Organisation<br />

wurde nach kurzer, herzlicher Diskussion<br />

einstimmig beschlossen:<br />

„Nach Bericht des Exekutivkomitees<br />

über die vergangene Tätigkeit zur Orgaganisation<br />

der internationalen revolutionär-syndikalistischen<br />

Kräfte, über die Zusammenkünfte<br />

und den Kongreß der<br />

<strong>Internationale</strong>n Arbeiterassoziation und<br />

über die Tätigkeit des Genossen Borghi<br />

als Delegierter der U.S.I. in der I.A.A.;<br />

„In Anbetracht der Tatsache, daß die<br />

Tätigkeit des Exekutivorgans der U.S.I.<br />

und ihrer Vertreter vollständig den Be-<br />

Schlüssen des Kongresses von Rom und<br />

der verschiedenen Entschließungen des<br />

Generalrats entspricht,<br />

„billigt die Zusammenkunft das Geschehene<br />

und schickt einen brüderlichen<br />

Glückwunschgruß an die I.A.A., in<br />

welcher der klassische Geist der ersten<br />

glorreichen <strong>Internationale</strong> gründlich wiederauflebt."<br />

Schließlich wurde eine Resolution<br />

über die Einheit der italienischen Arbeiter<br />

angenommen, mit welcher die<br />

Politikanten der Sozialdemokratie und des<br />

Bolschewismus immer ihr Spiel trieben.<br />

<strong>Die</strong>se Resolution setzt klar und einfach<br />

Bedingungen fest, durch welche jede Einmischung<br />

der um die Hegemonie über das<br />

Proletariat streitenden Parteien ausgeschlossen<br />

und die klassischen Richtlinien<br />

direkter und revolutionärer Aktion in der<br />

syndikalistischen Bewegung aufs neue bekräftigt<br />

werden:<br />

„1. Fusion (Verschmelzung) der auf<br />

dem Boden des Klassenkampfes stehenden<br />

proletarischen syndikalistischen Organisationen,<br />

„2. Absolute syndikalistische Autonomie<br />

und Unabhängigkeit von allen<br />

politischen Parteien und Gruppen und den<br />

Regierungen: Desinteressement der lo-


46 Zeitschriften und Bücherschau.<br />

kalen oder zentralen syndikalistischen<br />

Organisationen an den Wahlkämpfen, indem<br />

sie dem Wettbewerb der Parteien<br />

nach Eroberung und Ausübung der öffentlichen<br />

Gewalt fremd bleiben;<br />

„3. Lokale und Landesorganisation<br />

nach Industrien; lokaler Verband der Gewerkschaften<br />

oder der Arbeiterkammern.<br />

Vollständiger Ausschluß von Gewerk-<br />

Schaftsgruppen und -komitees, die zu<br />

einer Partei gehören. Proportionelle Vertretung<br />

auf allen Kongressen und in den<br />

Aemtern der Organisationen, mit starkem<br />

Uebcrgcwicht der Organisierten über die<br />

angestellten Organisatoren der syndikalistischen<br />

Organisationen. Unvereinbarkeit<br />

der Bekleidung öffentlicher Aemter durch<br />

Organisatoren mit der von bezahlten<br />

Aemtern und Funktionen in den syndikaustischen<br />

Organisationen;<br />

„4. Garantien für die Teilnahme der<br />

organisierten Massen an syndikalistischen<br />

Fragen und Problemen und die Teilnahme<br />

der lokalen Organisationen an den<br />

beratenden Sitzungen;<br />

„5. Neuerziehung der Arbeitermassen<br />

auf Grund der Prinzipien ihrer eigener<br />

Kraft und Aktion als Klasse, die von einem<br />

heilsamen Entsagungs- und Opfergeist beseelt<br />

ist, so daß sie wirkungsvoller der,<br />

unvermeidlichen Folgen des Kampfes<br />

standhalten und sie überwinden kann, bis<br />

die gemeinsamen Ideale der Befreiung des<br />

Proletariats von der kapitalistischen Ausbeutung<br />

und Herrschaft erreicht werden.''<br />

Es wurden noch interne Beschlüsse<br />

gefaßt, während die Besprechung der<br />

moralischen und finanziellen Lage und<br />

andere der Kürze der Zeit und der augenblicklichen<br />

Schwierigkeiten wegen nicht<br />

zur Prüfung gelangende Fragen auf eine<br />

andere, baldige Zusammenkunft verschoben<br />

wurden.<br />

<strong>Die</strong>se kürzliche Zusammenkunft der<br />

U.S.I. ist der offenkundige Beweis für den<br />

Entschluß der revolutionären Arbeiter<br />

Italiens, um jeden Preis der andauernden<br />

Reaktion Widerstand zu leisten und hartnäckig<br />

die Kräfte für die Reorganisation<br />

der syndikalistischen Bewegung vorzubereiten.<br />

Zeitschriften und Bücherschau.<br />

Deutschland.<br />

<strong>Die</strong> Inhaltslosigkeit und Geistesarmut<br />

der reformistischen Gewerkschaftsbewegung<br />

Deutschlands tritt am deutlichsten<br />

zutage in der Tatsache, daß es bisher kein<br />

einziges Blatt gab, das die Gewerkschaftsbewegung<br />

als solche, ihr Ziel und ihr<br />

Wesen zum Gegenstand hatte. <strong>Die</strong>ser<br />

Mangel wäre schier unverständlich, wenn<br />

man nicht wüßte, daß die gesamte Gewerkschaftsbewegung<br />

überhaupt keine<br />

selbständige Zielsetzung hat, sondern nur<br />

Anhängsel der politischen Parteien ist.<br />

In keinem Lande ist die Gewerkschaftsbewegung<br />

so unselbständig und ohnmächtig,<br />

die Kämpfe des Proletariats zu<br />

meistern, wie gerade in Deutschland.<br />

<strong>Die</strong> englischen Trade Unions, die den<br />

deutschen Gewerkschaften zum Vorbild<br />

dienten, sind ihren deutschen Nachahmern<br />

weit voran, sie verstehen vor allem sich<br />

des Mittels der direkten Aktion zu bedienen,<br />

während die deutschen gerade<br />

dieses Mittel als Ausgeburt syndikalistischer<br />

Teufelei betrachten.<br />

Krieg und noch mehr die Revolutionen<br />

haben auch hier eine kleine Veränderung<br />

geschaffen. Es hat sich erwiesen,<br />

daß die politischen Parteien ohn-<br />

mächtig waren, die Aufgaben der sozialen<br />

Revolution zu erfüllen, und man scheint<br />

langsam einzusehen, daß eigentlich die<br />

Gewerkschaften als Organisationen der<br />

Produkteure die wichtigste Aufgabe des<br />

sozialen Lebens, vor allem bei Uebernähme<br />

der Produktion zu erfüllen haben.<br />

Derartige Gedanken sind freilich noch<br />

zu kühn für die offiziellen Vertreter der<br />

reformistischen Gewerkschaften Deutschlands<br />

und so hat ein Außenstehender,<br />

Karl Zwing, in Jena die Herausgabe eines<br />

,,Gcwcrkschafts-Archiv" begonnen.<br />

Der Leit- und Einführungsartikel<br />

„Gewerkschaftliche Zeitenwende" von<br />

Karl Zwing spricht davon, durch dieses<br />

Archiv eine neue geistige Aera für die<br />

Gewerkschaften einzuleiten." Er spricht<br />

sodann von einer „Gewerkschaftswissenschaft,<br />

die neu belebt werden müsse",<br />

davon, daß „die übertriebenen Hoffnungen,<br />

die weite Arbeiterkreise auf die Politik<br />

gesetzt haben, sich nicht erfüllten und<br />

nicht erfüllen konnten. Es ist eben illusionär,<br />

zu glauben, die Probleme der<br />

Wirtschaft können von der Politik her gemeistert<br />

werden. <strong>Die</strong> Politik ist vielmehr<br />

erst die Synthese der ökonomischen Ge !<br />

samtentwicklung."


<strong>Die</strong>se Sätze scheinen vielversprechend<br />

zu sein, in Wirklichkeit<br />

sind sie alt und orthodox marxistisch.<br />

Sie sind nur eine Ableitung des marxistisehen<br />

Gedankens, daß die Produktions-<br />

Verhältnisse den wirtschaftlichen Unterbau<br />

der Gesellschaft bilden. Mit dem<br />

Aussprechen dieser Sätze ist aber noch<br />

nichts getan. Und wenn man etwa<br />

glaubt, daß mit dem neuen Gewerkschaftsarchiv<br />

ein Schritt zu syndikalistischer<br />

Erkenntnis gemacht wurde, so<br />

wird man dann doch belehrt, daß es sich<br />

um eine ganz andere Entwicklungslinie<br />

handelt. Der Herausgeber des Gewerk-<br />

Schaftsarchivs vertritt den Gedanken der<br />

Wirtschaftsdemokratie und des Wirtschaftsparlamentarismus,<br />

mit andern<br />

Worten: die Gewerkschaften sollen als<br />

selbständig wirtschaftliche Macht auftreten<br />

auf dem Gebiete der Sozialversicherung,<br />

Sozialpolitik, Sozialgesetzgebung<br />

usw. Sie sollen ferner das<br />

Problem der Arbeiterbanken, der Produktivgenossenschaften<br />

und Konsumgenossenschaften<br />

in ihren Bereich ziehen.<br />

Auch die Gedanken des Gildensozialismus<br />

sollen in Erwägung gezogen werden.<br />

Alles dies wäre freilich ein Fortschritt,<br />

und zweifelsohne finden sich auch<br />

hier und da Ansätze zu einem Ausblick<br />

in fortschrittlicher Richtung; im allgemeinen<br />

sind jedoch die Schritte derart<br />

zaghaft und noch so stark belastet<br />

mit dem Staatsgedanken, daß von<br />

einer Annäherung an die Gedankengänge<br />

des revolutionären Syndikalismus<br />

keine Rede sein kann. Man hat noch<br />

nicht einmal daran gedacht, den Staat<br />

zu beseitigen, sondern sieht in demselben<br />

ein Instrument, das mit neuen Kräften<br />

und neuem Inhalt aus den Reihen<br />

der Gewerkschatten erfüllt werden<br />

müsse. Und wie man dem Staat nicht<br />

ernsthaft zu Leibe rückt, so wagt man<br />

es auch nicht, dem Kapitalismus vollständig<br />

den Laufpaß zu geben. Das geht<br />

hervor aus den Sätzen: „Wie ist aber das<br />

Ziel der Ebenbürtigkeit zwischen Kapital<br />

und Arbeit und der Herbeiführung einer<br />

höheren wirtschaftlichen Lebensordnung<br />

am schnellsten und sichersten zu erreichen?<br />

Als Element der Wirtschaft<br />

mit dieser über einen durch formal-demokratische<br />

Wahl reaktionär wirkenden<br />

Staat oder mit Stimmzettel und Staat<br />

über eine Wirtschaft, die sich oft stärker<br />

als der Staat erwiesen hat. <strong>Die</strong> Wirtschaft<br />

lebendig und sehr wandlungsfähig, der<br />

Staat starr und verknöchert. Wenn man<br />

das Gesetz des Vorstoßes nach der Front<br />

Zeitschriften und Büchcrschau. 47<br />

des geringsten Widerstandes anwendet,<br />

wo ist der geringste Widerstand für die<br />

Gewerkschaftsbewegung auf dem Wege<br />

zu ihrem Ziele: bei der wandlungsfähigen<br />

aber starken Wirtschaft oder beim starren<br />

aber schwachen Staat? Ein interessanter,<br />

aber vollständig ungeklärter Fragenkomplex."<br />

<strong>Die</strong>se Worte zeigen, wie wenig man<br />

sich in den Kreisen der reformistischen<br />

Gewerkschaften klar ist über die Hauptfragen<br />

der sozialen Probleme überhaupt.<br />

Man tappt vollständig im Dunkeln. Man<br />

hat die Unfähigkeit der politischen<br />

Parteien eingesehen. Man gibt sogar<br />

zu, daß „der Kampf um die Macht-<br />

Verhältnisse der Klassen auf wirtschaftlichem<br />

Gebiete vor sich wird gehen<br />

müssen. Aber man verharrt auf dem<br />

Vertretungssystem und bleibt in autoritären<br />

Gedankengängen stecken.<br />

Das ist der Grund, weshalb man<br />

nicht zu einer einheitlich abgerundeten<br />

Weltanschauung kommen kann. Es fehlt<br />

das Bindeglied: die direkte Aktion.<br />

Vom sozialen Generalstreik findet man<br />

kein Sterbenswörtlein. Man bemerkt<br />

schon ganz richtig, daß die Lösung der<br />

sozialen Probleme im Sinne des Sozialismus<br />

nur durch wirtschaftliche Organisationen<br />

gefunden werden kann, man hat<br />

sich aber noch nicht zu dem Gedanken<br />

durchgerungen, daß die Gewerkschaften<br />

auch die Kraft entwickeln und vorbereiten<br />

müssen, durch eigene, direkte Aktionen<br />

und Kämpfe, durch den sozialen<br />

Generalstreik diese neue und höhere<br />

Wirtschaftsform einzuleiten. Wenn es<br />

erst des Weltkrieges und einer verpfuschten<br />

Revolution bedurft hat, um den fortschrittlichsten<br />

Elementen der reformistischen<br />

Gewerkschaften zu zeigen, daß die<br />

Gewerkschaften sich ein höheres Ziel<br />

stecken müssen und nicht alles den politischen<br />

Parteien überlassen dürfen, was<br />

wird dann erst dazu nötig sein, um die<br />

letzte Konsequenz zu ziehen, daß durch<br />

selbständigen Kampf revolutionärer Gewerkschaften<br />

der Kapitalismus und Staat<br />

gestürzt und eine höhere Wirtschafts- und<br />

Weltordnung das Zepter ergreifen kann?<br />

Wem daran gelegen ist, sich über<br />

den Charakter der reformistischen Zentralverbände<br />

und über ihre theoretischen<br />

Grundlagen auf dem Laufenden zu halten,<br />

der wird dies in dem Gewerkschafts-<br />

Archiv tun können. Es erscheint monatlich<br />

und ist um eine Mark per Heft zu<br />

haben im Verlag Gewerkschafts-Archiv,<br />

Jena, Camsdorfer Straße 10.


48 Zeitschrifen und Bücherschau.<br />

Frankreich.<br />

<strong>Die</strong> syndikalistische Bewegung interessiert<br />

die Soziologen unserer Zeitspanne<br />

in Frankreich nicht übermäßig. Ist es die<br />

gegenwärtige Krise, die sie zurzeit von<br />

einem so schwierigen Studium abhält oder<br />

interessiert der Syndikalismus unsere Zeitgenossen<br />

weniger als frühere Vorgänger?<br />

Das ist schwer zu sagen.<br />

Im Jahre 1923 ist nur ein einziges<br />

Werk über den Syndikalismus in französischer<br />

Sprache erschienen. Es ist das<br />

Buch von Emile Cozalis über: „<strong>Die</strong><br />

soziale Stellung des Syndikalismus in<br />

Frankreich" (Les positions sociales du<br />

syndicalisme ouvriers en France), mit<br />

einem Vorwort von Joseph Caillaux.<br />

früherer Ministerpräsident.<br />

<strong>Die</strong>ses Buch ist eine Doktorarbeit. Der<br />

Verfasser mußte sich also einer gewissen<br />

Zurückhaltung befleißigen und seinen Gedankengängen<br />

eine Beschränkung auferlegen.<br />

In Eile zusammengestellt, begnügt<br />

sich diese Arbeit mit der bloßen Analyse<br />

und Feststellung von Tatsachen, ohne daß<br />

es scheint, daß der Autor ein Urteil abgeben<br />

oder den Leser zu vorgesteckten<br />

Zielen führen wollte, sonst bringt dieses<br />

Buch nichts neues. Es wird einfach die<br />

Entwicklung des Syndikalismus seit dem<br />

Kriege wiedergegeben und es werden die<br />

bedeutenden Ereignisse aufgezählt, die uns<br />

zu der schwierigen Situation führten, die<br />

wir kennen.<br />

Das Vorwort ist sorgfältig vorbereitet<br />

und reicher an Ideen als das Buch<br />

selbst. Caillaux, der von dieser Seite noch<br />

nicht bekannt war, spricht dem Syndikalismus<br />

eine bedeutende Wertschätzung<br />

zu. Der revolutionäre Syndikalismus<br />

scheint von ihm — was sehr wunderlich<br />

ist — bevorzugt zu werden. Wir müssen<br />

daher unsere Augen offen halten und<br />

uns erinnern, was Waldeck-Rousseau 1901<br />

unter fast ähnlichen Verhältnissen getan<br />

hat. P. B.<br />

Eingelaufene Druckschriften.<br />

Traugott oder Deutschland über Alles.<br />

Roman von Max Uebelhör. Verlag<br />

von Oskar Wöhle, Konstanz 1924, 303<br />

Seiten.<br />

Enrico Leone: I/ Neo Marxismo,<br />

Sorel e Marx. Verlag Sindacato Ferrovieri,<br />

Bologna.<br />

Enrico Leone: Anti - Bergson,<br />

Neapel, Verlag „La Luce del Pensiero",<br />

Piazza Cavour 55.


DIE<br />

INTERNATIONALE<br />

ORGAN DER INTERNATIONALEN ARBEITER-ASSOZIATION • BERLIN<br />

1. JAHRG. SEPTEMBER 1924 NR.3


DIE INTERNATIONALE<br />

ORGAN DER INTERNATIONALEN ARBEITER - ASSOZIATION • BERLIN<br />

DEUTSCHE AUSGABE / HERAUSGEGEBEN VOM SEKRETARIAT DER I. A. A.<br />

1. JAHRG. SEPTEMBER 1924 NR. 3<br />

Der internationale Kapitalismus und das Weltproletariat.<br />

Von Pierre Besnard, Paris.<br />

Gezwungen durch gebieterische Notwendigkeiten versammelten<br />

sich die Regierungen der Alliierten in London, um, wie sie sagten, den<br />

Versuch zu machen, die großen Probleme zu lösen, die nach dem<br />

Kriege entstanden sind.<br />

Das Auftreten MacDonalds in England, das von Herriot in Frankreich<br />

sollte, wie uns die Demokraten erzählten, die Lösung der schwierigen<br />

Fragen bedeutend erleichtern, die nach der Konferenz in Cannes<br />

über uns schweben und jede Tätigkeit lahmlegen.<br />

Gewiß kann man zugestehen, daß Herr Poincare, diese ständige<br />

Bedrohung des Weltfriedens, durch seine endlosen Verteidigungsreden,<br />

seine herausfordernden Vorträge, seine ebenso unselige wie zerstÖrerische<br />

Ruhraktion, seine Hartköpfigkeit, sich zu weigern, die Räumung<br />

des Ruhrgebietes vor der Bezahlung durch Deutschland vorzunehmen,<br />

eine Bezahlung, deren Unmöglichkeit ihm selbst bewußt war, die Lage<br />

absichtlich verwickelte, die ohnehin höchst unklar war.<br />

<strong>Die</strong> ganze Welt war voll von seinen Streitigkeiten mit Lloyd<br />

George, dann mit Bonar Law und schließlich mit Baldwin. Und doch<br />

ist die Frage um keinen Schritt ihrer Lösung entgegengeschritten, bis<br />

durch den Ausgang der Wahlen in Frankreich MacDonald von diesen<br />

unnützen Unterhaltungen befreit wurde, Unterhaltungen, deren stets<br />

wiederkehrender Schluß, komme was da wolle, gewesen ist: „Deutschland<br />

muß bezahlen, Deutschland wird bezahlen."<br />

Während der Herrschaft des „Kriegspräsidenten" (Poincaré la<br />

guerre) wurde die Spannung zwischen Frankreich und Deutschland bis<br />

zum Aeußersten getrieben, und dieser unselige Mann, von dem die Geschichte<br />

das Schlimmste zu sagen haben wird, führte die Völker<br />

äußerst nahe an den Rand des Krieges.<br />

In Deutschland hat sich gegen ihn ein solcher Haß angesammelt,<br />

der es den Alldeutschen, den Junkern und ihrem Anhang, erlaubte, den<br />

Kopf immer höher zu recken und die öffentliche Meinung fast vollständig<br />

gegen Frankreich mobil zu machen. In Frankreich selbst hatte die


2 DER INTERNATIONALE KAPITALISMUS UND DAS WELTPROLETARIAT<br />

reaktionäre Regierung durch die tägliche Beeinflussung einer knechtischen<br />

Presse die Bevölkerung rasend gegen Deutschland gehetzt.<br />

Wieder einmal erschien das scheußliche Gespenst des Krieges auf<br />

beiden Seiten des Rheins und der kleinste Funke hätte das Pulverfaß<br />

zum Entzünden bringen können.<br />

Der Abgang Poincarés und die Niederlage Millerands schienen<br />

diese Lage ein wenig zu verändern. Es schien so, denn im Grunde dreht<br />

sich die Frage um ihre eigene Achse, sie ist praktisch nicht vom<br />

Fleck gekommen. <strong>Die</strong> Gefahr bleibt in ihrer Gesamtheit bestehen.<br />

<strong>Die</strong> Situation ist nur genauer umrissen worden. <strong>Die</strong> rauhe Wirklichkeit<br />

zeigt sich in demselben Maße, wie die wahren Interessen sich entschleiern<br />

und die wahren Herren gezwungen sind, auf die Bühne zu<br />

treten. Wenn die Völker aller Länder wirklich an ihrem Schicksal<br />

Anteil nehmen, dann müßten sie heute diese Diskussionen verstehen<br />

und die wahren Drahtzieher erkennen. Das eine ist ebenso notwendig<br />

wie das andere, wenn sie das Geheimnis der unzweifelhaften Verschwörungen<br />

durchschauen wollen, die beständig ihre Existenz und<br />

ihre Interessen bedrohen.<br />

Mit der „empfindsamen" Zusammenkunft von Chequers als Vorgängerin,<br />

wurde die Konferenz zu London eröffnet, nachdem Mac-<br />

Donald den Sattel von Herriot zurechtrückte, gegen welchen Poincaré<br />

seine Angriffe richtete.<br />

<strong>Die</strong> Regierungen der früheren Entente diskutierten fieberhaft an<br />

den Ufern der Themse, um zu einem Einverständnis zu kommen, das<br />

gerade deshalb so schwer zu erreichen war, weil die Interessen sich<br />

gegenüberstanden, aus denen die hartnäckige Krise entstand.<br />

Alle diskutierten eifrig das famose Dawesgutachten, das, wie die<br />

Stute Rolands, alle Tugenden zu haben scheint, außer der einen: das<br />

Leben, das jene ZerstÖrer ihm hartnäckig zuzugestehen sich weigern.<br />

Ohne auf den Ausgang der Konferenz einzugehen, können wir<br />

feststellen, daß die Regierungen ihren Platz teilen mußten mit den<br />

wahren Herren der Situation: den Finanzleuten. <strong>Die</strong> Regierungen sind<br />

nur die geschobenen Figuren. Herriot, MacDonald, Kellogg, de Stefani,<br />

Theunis sind von der Hochfinanz ins Hintertreffen gedrückt worden.<br />

<strong>Die</strong> Anhänger des Dawesplanes sind jetzt Lamon von der Morganbank<br />

für Amerika, MacKenna, Lord Kindersley und Sir Montague Norman<br />

für England, und sie pflegen mit Monsieur Sergent, Simon und Horace<br />

Finarly, den Vertretern der französisch-belgischen Finanzleute und<br />

den Verteidigern der Reparationskommission Diskussionen und treffen<br />

mit ihnen Vereinbarungen.<br />

<strong>Die</strong> englisch-amerikanischen Finanzmächte sind handgemein geworden<br />

mit dem Comité des Forges et des Houillères (Hütten- und<br />

Kohlengrubenkomitee Frankreichs). Im Grunde ist die ganze Frage<br />

von London hierin enthalten. Wer wird siegen? Wird es die Großfinanz<br />

sein, die sich die englisch-deutsch-amerikanische Schwerindustrie<br />

dienstbar gemacht hat oder wird es das Comité des Forges<br />

sein, Vertreter der französischen Schwerindustrie, das bis zum<br />

heutigen Tage die Hochfinanz in Schach gehalten hat? Das ist die<br />

ganze Frage.


DER INTERNATIONALE KAPITALISMUS UND DAS WELTPROLETARIAT 3<br />

Sehen wir zu, was die einen wie die andern wert sind, was die Annähme<br />

des Dawesplanes und die Aufrechterhaltung der Reparationskommission<br />

uns bringen würde.<br />

Das Wesentliche des Dawesplanes liegt darin: er kann nur erfolgreich<br />

durchgeführt werden, wenn die wirtschaftliche Einheit des Deutsehen<br />

Reiches wiederhergestellt wird. Er stützt sich somit ganz und<br />

gar auf die wirtschaftliche Einheit Deutschlands, wodurch folgerichtig<br />

die Räumung des Ruhrgebietes vollzogen werden müßte in dem<br />

Augenblick, in welchem das Dawesgutachten in Kraft tritt.<br />

<strong>Die</strong> Ausführung dieses Gutachtens erfordert die Herausgabe einer<br />

Anleihe von 800 Millionen Goldmark, die von einer besonderen Bank<br />

unter Kontrolle der Geldgeber zur Verfügung gestellt werden sollen.<br />

Zu dieser Summe kommt noch eine andere, bedeutend höhere hinzu,<br />

die aus Industrieobligationen herstammt, und die auf 16 Milliarden<br />

Goldmark für die deutschen Eisenbahnen und auf 5 Milliarden für die<br />

Industrie veranschlagt wird.<br />

<strong>Die</strong> Mittel zur Deckung der Zinsen dieser Kapitalien, die aus dem<br />

gewöhnlichen Budget entnommen werden sollen, bilden die Zahlungsfähigkeit<br />

Deutschlands für die Tilgung der Reparationen. <strong>Die</strong> jährlichen<br />

Zahlungen sind nach einem Moratorium von 4 Jahren wie folgt<br />

festgesetzt:<br />

das 1. Jahr nichts,<br />

„ 2. „ 1220 Millionen Goldmark,<br />

„ 3. „ 1200<br />

4 1750<br />

„ 5. „ 2500<br />

und so immer weiter bis zur vollständigen Tilgung der Reparationen,<br />

deren endgültige Summe erst festgesetzt werden soll.<br />

Selbstverständlich fordern die englisch-amerikanischen Finanzleute<br />

ernsthafte Garantien für ihre internationale Anleihe von 800 Millionen<br />

Goldmark und für ihre Teilnahme an den Obligationen der<br />

Eisenbahnen und der Industrie, die sich auf 21 Milliarden Goldmark<br />

belaufen. Sie fordern Pfänder. <strong>Die</strong>se Pfänder sind die Eisenbahnen,<br />

Staatsmonopole, Rechte auf die Zölle, die Kontrolle der Großindustrie,<br />

der Gruben usw., mit einem Worte, sie wollen den gesamten Nationalreichtum<br />

Deutschlands als Sicherheiten. <strong>Die</strong> Durchführung des<br />

Dawesplanes würde in der Tat zur Kolonisierung Deutschlands, zum<br />

vollständigen Ruin der kleinen Gewerbetreibenden und ihres Handels,<br />

besonders aber zur Unterjochung des deutschen Proletariats unter die<br />

internationale Finanzwelt führen.<br />

Untersuchen wir ganz kurz die Folgen dieses Gutachtens in erster<br />

Linie für Frankreich und Deutschland und dann für alle Länder. <strong>Die</strong><br />

deutsche Großindustrie, die von der Finanz reichlich mit Mitteln versehen<br />

wird, wird bei Durchführung des Dawesplanes und unter seiner<br />

Kontrolle ihre volle Leistungsmöglichkeit aufwenden und die natürlichen<br />

Reichtümer vollständig ausbeuten. Der Wert ihres Geldes und<br />

Zinsfußes wird ihr Erleichterungen eines überlegenen Geldwechsels<br />

vor anderen Ländern sicherstellen. <strong>Die</strong> deutsche Industrie wird mit


4 DER INTERNATIONALE KAPITALISMUS UND DAS WELTPROLETARIAT<br />

ihren Erzeugnissen den ganzen Weltmarkt überschwemmen, in erster<br />

Linie Frankreich, dann aber auch England und Amerika.<br />

Wenn das kapitalistische England und Amerika einer Konkurrenz<br />

spotten, die ihnen nicht gefährlich erscheint, weil ja die Finanzleute<br />

dieser beiden Länder die eigentlichen Besitzer der Reichtümer Deutschlands<br />

sind, so ist es nicht der Fall mit Frankreich, seinem Comité des<br />

Forges und seinen Banken.<br />

Frankreich wird bald gezwungen sein, auf Lager zu arbeiten. <strong>Die</strong><br />

Absatzstockung sowie die Schwierigkeiten der Neuversehung mit Rohmaterial<br />

wird zu einer Krise der Arbeitslosigkeit führen, von welcher<br />

der französische Arbeiter um so schwerer getroffen wird, als die Verwendung<br />

ausländischer Arbeitskräfte, die für niedrigere Löhne arbeiten,<br />

gefahrvoller wird.<br />

<strong>Die</strong> Exportkrise wird zu einer Lahmlegung der Industrie und zu<br />

einer Diskont- und Kreditkrise für die Banken führen. <strong>Die</strong> Bank von<br />

Frankreich, Regulatorin aller übrigen französischen Banken, wird gezwungen<br />

sein, sich entweder der Inflation auszuliefern oder von der<br />

Regierung durch Anleihen neue Mittel zu fordern.<br />

Wenn unter diesen Umständen eine Anleihe keine wirklichen<br />

Quellen für einen neuen Geldzufluß gibt, dann kann sie durch ihre<br />

Niederlage eine unheilbare Finanzkatastrophe auslösen. <strong>Die</strong> Inflation<br />

ist vielleicht ein noch bedeutenderes Risiko. Wenn diese Inflation,<br />

wie in Deutschland, die Schulden im Inlande auf den Nullpunkt herabsetzt,<br />

alle Rentiers, die direkten Gläubiger des Staates, ruiniert, dann<br />

wird sie in Frankreich die äußeren Schulden mathematisch erhöhen,<br />

die bereits jetzt 157 Milliarden betragen, die der französische Staat<br />

Amerika und England schuldet.<br />

Parellel mit dieser unvermeidlichen Krise und als Folge derselben<br />

wird eine unerhörte Krise der Lebensmittelverteuerung einsetzen,<br />

durch welche die schlimmste wirtschaftliche und politische Situation<br />

entsteht.<br />

<strong>Die</strong>s scheint indessen das Ziel der englisch-deutsch-amerikanischen<br />

Finanzleute zu sein. Der französische Staat und das Comité<br />

des Forges werden sich dann den Launen der letzteren unterwerfen<br />

müssen.<br />

Der französische Staat, von Schulden ausgehöhlt, wird von seinen<br />

Gläubigern rücksichtslos um Zurückerstattung angegangen werden,<br />

und er wird einen neuen Dawesplan verlangen zu seiner Wirtschaftlichen<br />

Sanierung. Das Comite des Forges, dem die Hochfinanz die<br />

Gurgel zuschnürt, wird durch die gradweise und beständige Verstopfung<br />

aller Zugänge, durch Erlöschen seiner Hochöfen bei Entziehung<br />

des deutschen Kokses gezwungen sein, seine industrielle<br />

Tätigkeit einzustellen.<br />

Und dann wird für die englisch-amerikanischen Gläubiger der<br />

Augenblick gekommen sein, wo sie ihren überwundenen Gegnern die<br />

Bedingungen stellen, die heute Deutschland gestellt werden. Für ihre<br />

Anleinen und Vorschüsse werden sie selbstverständlich Pfänder in<br />

den Reichtümern des Landes fordern: die Gruben, Eisenbahnen, Häfen,<br />

Zölle usw.


DER INTERNATIONALE KAPITALISMUS UND DAS WELTPROLETARIAT 5<br />

Nachdem sie Deutschland kolonisiert haben, werden sie Franks<br />

reich kolonisieren. Sie werden Herren dieser beiden Länder sein, und<br />

somit Herren von ganz Europa, da diese beiden Länder das Uebergewicht<br />

über alle übrigen Länder auf dem europäischen Kontinent<br />

haben.<br />

<strong>Die</strong> kapitalistische Konzentration wird sich ihrem entscheidenden<br />

Stadium nähern. <strong>Die</strong> Reichtümer der Welt werden fast vollständig<br />

in den Händen der internationalen Finanzleute sein.<br />

Das Proletariat Deutschlands und Frankreichs wird brutaler als je<br />

unterjocht sein. Der Achtstundentag wird aufgehört haben zu<br />

existieren, und die unzureichenden Löhne werden nur ein äußerst<br />

elendes Leben ermöglichen. Das englische und amerikanische Proletariat<br />

wird ebenfalls seinen Leiden nicht entgehen können. Und die<br />

Arbeiterschaft der anderen Länder wird sich diesen Leiden auch nicht<br />

entziehen können. <strong>Die</strong> Lösung dieses weiten Problems kann nur durch<br />

eine Weltrevolution gefunden werden, die der Allgemeinheit ihren<br />

Wohlstand sicherstellt, wenn die Völker endlich fähig sein werden,<br />

ihre Tyrannen niederzuschlagen.<br />

Das also ist das Ende der Folgen des ersten Dawesplanes und<br />

des zweiten, der ihm folgen wird.<br />

Bedroht von der Gefahr eines vollständigen Abtretens von der<br />

Bildfläche, von der sichern Unterwerfung durch die englisch-amerikanischen<br />

Finanzmächtigen, sucht das französische Comite des Forges,<br />

das letzte Bollwerk der europäischen Schwerindustrie, die Reparationskommission<br />

aufrechtzuerhalten, die den Versailler Vertrag<br />

in ihren Händen hält. Mittels dieser Körperschaft hat das Comité<br />

des Forges das Ruhrgebiet besetzen und sich der Reichtümer, die es<br />

enthält, bemächtigen können.<br />

Im gleichzeitigen Besitze des Kokses, des Stahles, des Eisens und<br />

der Gießereien ist das Comite des Forges gegenwärtig Herr der gesamten<br />

Metallindustrie und dadurch imstande, mächtige Schläge<br />

gegen alle großen englischen und besonders amerikanischen Unternehmungen<br />

zu führen. Es kann nach Belieben Hausse und Baisse<br />

(Steigen und Fallen an der Börse) veranlassen. Es weiß sehr wohl,<br />

wenn die Konferenz zu London den Dawesplan annimmt und beschließt,<br />

daß die Einheit des Deutschen Reiches wiederhergestellt<br />

werden soll, dann wird es eines großen Teiles seiner Rohmaterialien<br />

beraubt sein. Es begreift vollkommen, daß es seine Herrschaft verliert,<br />

wenn es die lothringischen Erze nicht mit deutschem Koks behandeln<br />

kann. <strong>Die</strong> Entwicklung der deutschen Industrie wird bei<br />

ihrem Reichtum, ihrem Aufschwung, es in den Händen haben, die<br />

Hochöfen Lothringens zum Erlöschen zu bringen, was übrigens nur<br />

eine Frage der Zeit sein braucht. <strong>Die</strong>ser Trumpf der englisch-amerikanischen<br />

Finanz wird durch Vermittlung der deutschen Schwerindustrie<br />

direkt zum Ruin des Comite des Forges führen. <strong>Die</strong> französiche<br />

Schwerindustrie wird ihre Rettung nur um den Preis ihrer<br />

Unterwerfung unter die Hochfinanz erkaufen können.<br />

Das sind die Interessen, die in London zusammenstoßen. Wenn<br />

die Verteidiger des Dawes-Gutachtens Erfolg haben, so werden wir,


6 DER INTERNATIONALE KAPITALISMUS UND DAS WELTPROLETARIAT<br />

erst in Frankreich und Deutschland, später überall, ganz in Frieden<br />

unterjocht werden. Wenn dagegen das Comité des Forges Erfolg hat,<br />

dann kommen wir zu einer Unterjochung durch den Krieg, der durch<br />

die Handlungen der Reparationskommission hervorgerufen wird, die<br />

bewaffnete Konflikte zwischen Frankreich und Deutschland anstiften<br />

wird, Konflikte, in welche fast alle Völker der Erde verwickelt sein<br />

werden. Wir befinden uns also vor einer Krise ohne Ausweg, und<br />

wie immer auch die Konferenz in London ausgefallen ist, selbst das<br />

angenommene Kompromiß wird durch die Ereignisse zerschlagen<br />

werden; die Situation des Weltproletariats ist außerordentlich<br />

schwierig.<br />

Angesichts dieses Dilemmas darf das französische und deutsche<br />

Proletariat, das direkt an dieser Sache interessiert ist, nicht für diese<br />

oder jene kapitalistische Lösung eintreten, die sich einander gegenübersteht,<br />

in diesem Konflikt ohnegleichen.<br />

Im Gegensatz und in Opposition mit dem Standpunkt der Sozialdemokraten<br />

und Reformisten, die das Heil in der Durchführung des<br />

Dawesplanes erblicken, muß das Proletariat beider Länder sich zusammenschließen<br />

auf seinem Boden des Klassenkampfes, dem einzigen<br />

Bande, das sie vereinigt.<br />

Den Handlungen eines Kapitalismus gegenüber, der jede demokratische<br />

Lösung verwirft, wie z. B. die Streichung der internationalen<br />

Schulden, die Organisation und Kontrolle der Produktion durch Arbeiterschaft<br />

und Unternehmertum; eines Kapitalismus, der den<br />

Völkerbund und das <strong>Internationale</strong> Arbeitsamt von Tag zu Tag<br />

immer mehr verhöhnt, der es vorzieht, stets auf dem Boden seiner<br />

Klasse zu kämpfen, muß das Proletariat seine vereinigte Macht als<br />

Klasse gegenüberstellen und tagtäglich auf beiden Seiten des Rheins<br />

den Klassenkampf führen.<br />

<strong>Die</strong> proletarischen Kräfte in beiden Ländern, die bald den Kampf<br />

für ihre Existenz aufnehmen werden, müssen auch auf die vollständige<br />

Solidarität und die Hilfe der Proletarier in anderen Ländern<br />

rechnen können. Wenn das nicht der Fall ist, wenn die werktätigen<br />

Massen nicht in Aktion treten, dann ist es um sie geschehen.<br />

Werden die werktätigen Massen im gegebenen Augenblick verstehen,<br />

daß ihr Einsatz in den Kampf notwendig ist, der sich wie<br />

rasend gestalten wird, und in dem der Kapitalismus, der auf dem<br />

Gipfel seiner Macht angelangt ist, seinen überlegenen Angriff führen<br />

wird? Werden die Proletarier aller Länder ihre Kräfte vereinen, um<br />

das Monstrum Kapitalismus, von dem sie unterdrückt werden, in den<br />

Abgrund zu stürzen?<br />

Das Leben des Proletariats ist ein Spielball, seine Freiheit ist in<br />

Gefahr; im Hintergrund lauern vollständige Knechtung und Elend.<br />

Niemals noch war die Lage so tragisch, Völker empor! Proletarier<br />

verteidigt Euch!


AUSLÄNDISCHE ARBEITSKRÄFTE, INLÄNDISCHE ARBEITERSCHAFT 7<br />

Ausländische Arbeitskräfte und inländische Arbeiterschaft.<br />

Von A. Souchy.<br />

<strong>Die</strong> Auswanderung der Arbeiterschaft aus Ländern mit niedrigem<br />

Lebensstandard in solche mit höherem Lebensstandard oder aus Ländern<br />

politischer Rückständigkeit oder Reaktion in Länder mit mehr<br />

politischer Freiheit ist von jeher gang und gäbe gewesen, so lange der<br />

Kapitalismus besteht. In den Zeiten nach dem Kriege hat sich diese<br />

Auswanderung aus den Ländern Mitteleuropas nach Nord- und besonders<br />

Südamerika erheblich gesteigert, und nach dem Antritt der Herrschaft<br />

der Reaktion in Italien und Spanien geht auch von diesen Ländern<br />

eine starke Auswanderung vor sich. In Europa ist gegenwärtig<br />

Frankreich das Land der Einwanderung polnischer, italienischer, spanischer<br />

und arabischer Arbeiter. Es dauerte nicht lange, bis es zu<br />

gewissen Gegensätzen und sogar Konflikten zwischen den einheimischen<br />

und den ausländischen Arbeitern gekommen ist. Da es sich<br />

hier keineswegs um Einzelfälle handelt, sondern um eine allgemeine<br />

Erscheinung, ist die Behandlung dieser Frage von dringender Notwendigkeit<br />

für die internationale Arbeiterbewegung. In nachstehenden<br />

Ausführungen soll zunächst die Diskussion über diese Frage aufgeworfen<br />

werden, der II. Kongreß der I.A.A. wird sich noch näher<br />

damit befassen müssen.<br />

<strong>Die</strong> Ursachen der Auswanderung sind bereits in dem einleitenden<br />

Satze angedeutet worden: sie liegen in der Verschiedenartigkeit der<br />

wirtschaftlichen Lebensbedingungen, und politischen Verhältnisse der<br />

einzelnen Länder. Würde diese Verschiedenartigkeit von einer Gleichartigkeit<br />

abgelöst werden, dann würde unter normalen Verhältnissen<br />

auch die Massenauswanderung oder Einwanderung aufhÖren und nur<br />

noch eine Auswanderung aus persönlichen Veranlagungen und<br />

Neigungen einzelner stattfinden. Von dieser Norm würde nur dann<br />

eine Abweichung erfolgen, wenn die Entdeckung eines neuen Landes<br />

— und dies kommt heute nicht mehr in Frage — oder die Entdeckung<br />

neuer Rohstoffquellen sowie besonders günstige Entwicklungsmöglichkeiten<br />

Anreiz zu einer Erleichterung der Lebensfristung bieten. Es ist<br />

nicht vollständig ausgeschlossen, daß in späterer Zukunft unter<br />

freieren politischen Verhältnissen und bei weiterer Steigerung des Bevölkerungszuwachses<br />

in Mitteleuropa Rußland zu einem neuen Anziehungspunkte<br />

für auswanderungslustige Elemente werden wird,<br />

gleichwie im vergangenen Jahrhundert Amerika es gewesen ist.<br />

Das geeignetste Untersuchungsobjekt für die Beziehungen<br />

zwischen ausländischen und einheimischen Arbeitern bieten die Vereinigten<br />

Staaten Nordamerikas. So gut wie die gesamte Bevölkerung


8 AUSLÄNDISCHE ARBEITSKRÄFTE, INLÄNDISCHE ARBEITERSCHAFT<br />

Amerikas besteht aus Nachkommen Eingewanderter oder neu Eingewanderter.<br />

Der Unterschied zwischen den geborenen Amerikanern<br />

oder den vor langer Zeit eingewanderten Elementen, die das Bürgerrecht<br />

erworben haben, und den neu Eingewanderten ist augenfällig,<br />

selbst innerhalb der Arbeiterschaft. Und auch unter den Arbeitern,<br />

die neu eingewandert sind, macht sich bald eine Kluft auf zwischen<br />

den gelernten und ungelernten Arbeitern, sowie zwischen den einzelnen<br />

Nationen. Gelernten Arbeitern, die der englischen Sprache<br />

mächtig sind, ist von vornherein ein besseres Los beschieden als ungelernten<br />

Arbeitern, die die offizielle Landessprache nicht beherrschen.<br />

Da aber die überwiegende Anzahl der Einwanderer der Landessprache<br />

unkundig ist, so liegt hier das ganze Problem. In der Regel besteht<br />

ein großer Unterschied in der Lebenshaltung der einheimischen<br />

Arbeiterbevölkerung und der zugewanderten, der oft so groß ist wie<br />

der Unterschied in der Lebenshaltung zwischen Kleinbourgeois und<br />

Arbeiter. Der zugewanderte Arbeiter, selbst wenn er bald Arbeit<br />

findet, ist an eine bescheidenere Lebensführung gewöhnt und führt<br />

diese in den ersten Jahren auch noch weiter. Er ist anspruchsloser<br />

und begnügt sich daher oft mit weit niedrigeren Löhnen als der einheimische<br />

Arbeiter. Daran ist mitunter noch nicht einmal das unentwickelte<br />

Klassenbewußtsein schuld, denn viele der Einwanderer waren<br />

in ihrem Heimatlande Mitglieder einer Klassenkampforganisation. Es<br />

ist aber das traurige Los und das graue Elend, dem die Einwanderer<br />

nicht selten mit Frau und Kind ausgesetzt sind, wodurch sie wohl aus<br />

Verzweiflung Arbeit um jeden Preis und unter den schlimmsten Bedingungen<br />

annehmen.<br />

Derartige Verhältnisse finden wir nicht nur in Amerika, sondern<br />

in fast allen Ländern mit Einwanderung. Und hier setzt auch der<br />

Gegensatz ein zwischen den einheimischen und den zugewanderten<br />

Arbeitern. Nimmt die Einwanderung große Dimensionen an, wie in<br />

den letzten Jahren in Frankreich, dann kann dieser Gegensatz selbst<br />

zur Erweckung des Nationalhasses bei nicht klassenbewußten und<br />

nicht sozialistisch geschulten einheimischen Arbeitern führen. Der<br />

revolutionäre Syndikalist freilich wird in wahrer Erkenntnis der Sachlage<br />

dieser nationalistischen Verirrung nicht anheimfallen; er weiß,<br />

daß er gerade dadurch den herrschenden Mächten des Kapitalismus<br />

und Nationalismus den besten <strong>Die</strong>nst leisten würde.<br />

<strong>Die</strong> Einwanderung nach den südamerikanischen Ländern, nach<br />

Kanada und auch nach Frankreich wird von dem Unternehmertum<br />

dieser Länder mit großem Eifer begünstigt. <strong>Die</strong> Agenten dieser Kapitalisten<br />

locken geradezu die durch lange Arbeitslosigkeit und großes<br />

Elend im Heimatlande verzweifelten Arbeiter durch Vorspiegelung<br />

glänzender Verhältnisse zur Auswanderung an, weil sie dadurch<br />

billige Arbeitskräfte erhoffen, die nicht nur selbst zu niedrigeren<br />

Löhnen arbeiten, sondern auch die von der einheimischen Arbeiterschaft<br />

erkämpften höheren Lohne und besseren Arbeitsbedingungen<br />

herabzusetzen drohen. In der Tat haben die organisierten Tischler<br />

von Buenos Aires vor Zuzug warnen müssen, da der Arbeitsmarkt<br />

überfüllt ist, und mit jedem neuen Einwandererschiff neue Arbeits-


AUSLÄNDISCHE ARBEITSKRÄFTE, INLÄNDISCHE ARBEITERSCHAFT 9<br />

lose und damit auch Lohndrücker ankommen. <strong>Die</strong> neu Ankommenden,<br />

die ihr ganzes Hab und Gut für das Reisegeld zur Ueberfahrt ausgegeben<br />

haben, sind natürlich mittellos und darauf angewiesen, unter<br />

allen Umständen Arbeit anzunehmen, wenn sie nicht vollständig dem<br />

Elend anheimfallen wollen.<br />

Wie steht es in Frankreich?<br />

Ein großer Prozentsatz der Arbeiterschaft in den Seifenfabriken<br />

zu Marseille sind Araber. <strong>Die</strong>se arbeiten zu niedrigeren Löhnen als<br />

die französischen Arbeiter. Das erzeugt bei den französischen Arbeitern<br />

einen Fremdenhaß, von dem der Nationalismus und Chauvinismus<br />

selbstverständlich profitieren. Aehnlich ist die Lage im französischen<br />

Baugewerbe. Zum Wiederaufbau der zerstörten Kriegsgebiete<br />

Nordfrankreichs, später für das ganze Land, wurden von den Unternehmern<br />

ausländische Arbeitskräfte ins Land gezogen, die bald so<br />

zahlreich wurden, daß sie stellenweise das zahlenmäßige Uebergewicht<br />

über die französischen Arbeiter des Baugewerbes haben. <strong>Die</strong> Agenten<br />

der Kapitalisten haben meist schon mit den auswandernden Arbeitern<br />

in deren Heimat Verträge abgeschlossen, die im Widerspruch standen<br />

mit den im Baugewerbe geltenden Arbeitsbedingungen und Arbeitslöhnen.<br />

Eine allgemeine Niederdrückung der Arbeitsbedingungen<br />

setzte ein seitens der Unternehmer trotz der günstigen Konjunktur<br />

im Baugewerbe. Nun setzten die französischen Bauarbeiter sich in<br />

Harnisch gegen die ausländischen Arbeitskräfte und sie wollen die ausländischen<br />

Arbeiter verantwortlich machen für den Verlust des Achtstundentages<br />

und für die niedrigen Löhne, die jetzt im allgemeinen<br />

gezahlt werden. <strong>Die</strong> Lage hat sich derart zugespitzt, daß die französische<br />

Bauarbeiterföderation Zusammenstöße auf den Bauplätzen<br />

zwischen den französischen und ausländischen Arbeitern fürchtete.<br />

<strong>Die</strong> leitenden Personen der Gewerkschaften werden alle Hände voll<br />

zu tun haben, um den Arbeitern klarzumachen, daß .nicht die ausländischen<br />

Arbeiter die Schuld trifft, sondern die durch den K a p i t a -<br />

1 i s m u s hervorgerufene Lage. Tatsächlich kann man feststellen, daß<br />

von dieser Reaktion auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiete nicht<br />

nur die französischen Arbeiter, sondern auch die ausländischen betroffen<br />

sind, die sehr oft wohl nichts besseres wünschten als höhere<br />

Löhne und kürzere Arbeitszeit.<br />

Vor dem Kriege war auch Deutschland ein Einwanderungsland.<br />

Italienische Arbeiter waren auch da im Baugewerbe tätig und arbeiteten<br />

für niedrigere Löhne als die einheimischen deutschen Arbeiter,<br />

da ihre Bedürfnisse geringer waren. Heute kann die deutsche Industrie<br />

keine ausländischen Arbeiter mehr aufnehmen, Deutschland gibt im<br />

Gegenteil noch qualifizierte Arbeiter ins Ausland ab. Landwirtschaftliche<br />

Arbeiter aus Polen und den Oststaaten wandern aber auch heute<br />

noch ein und verrichten für weit niedrigere Löhne als die deutschen<br />

Arbeiter dem preußischen Junker Erntearbeiten. Zwar suchen die<br />

Gewerkschaften gegen diese Lohndrückerei Front zu machen, ihr Einfluß<br />

ist aber bei weitem nicht groß genug, dieselbe zu verhindern.<br />

In Brasilien kam es in den Kohlengruben von Arrico Rato bei<br />

Jeranymo zu einem Konflikt. <strong>Die</strong> Belegschaft besteht zum Teil aus


10 AUSLÄNDISCHE ARBEITSKRÄFTE, INLÄNDISCHE ARBEITERSCHAFT<br />

Spaniern und zum Teil aus eingewanderten Ruhrbergleuten. Als der<br />

Streik ausbrach, waren es sieben deutsche Ruhrbergleute, die Streikbrecherdienste<br />

verrichteten. <strong>Die</strong> Verständigung zwischen ihnen und<br />

den spanischen sowie portugiesischen Arbeitern war wegen der<br />

Sprachverschiedenheiten sehr schwer. Nach Beendigung des Streiks,<br />

der eine Niederlage der Arbeiterschaft brachte, veranlaßten die<br />

Grubenbesitzer die Einwanderung neuer Bergarbeiter aus Deutschland,<br />

um neue Streikbrecher zur Hand zu haben.<br />

Aus diesen Beispielen ersieht man, daß wir es hier nicht mit nationalen<br />

Fragen zu tun haben, sondern mit Wirkungen des kapitalistischen<br />

Systems. Das ausländische Lohndrückerwesen ist von dem Kapitalismus<br />

mit Absicht organisiert. Ist es den Arbeitern eines Landes durch<br />

hartnäckige Kämpfe gelungen, ihre Arbeitszeit zu verkürzen und ihre<br />

Löhne zu erhöhen, dann ziehen die Kapitalisten fremde Arbeitskräfte<br />

herein und machen somit die Errungenschaften der Arbeiter illusorisch.<br />

Wendet sich dann die einheimische Arbeiterbevölkerung gegen die<br />

ausländische und kommt es zu einem Bruderkampf, dann haben die<br />

Unternehmer gerade das erreicht, was sie wollten, um das gesamte<br />

Proletariat besser beherrschen zu können. Das Unternehmertum handelt<br />

auch hier nach dem bewährten Grundsatz: Teile und herrsche.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiterschaft aller Länder hat das größte Interesse daran,<br />

sich gegen dies schamlose Vorgehen des internationalen Kapitalismus<br />

zu wehren. Der Kampf gegen das ausländische Lohndrückertum muß<br />

von den Arbeiterorganisationen jedes Landes und dann auch von der<br />

internationalen Arbeiterbewegung geführt werden. In demselben Maße<br />

wie die Macht der Arbeiterbewegung steigt, wird die Lohndrückerei<br />

ausländischer Arbeitskräfte zurückgehen. Wie soll aber der Kampf<br />

gegen diese Lohndrückerei geführt werden? <strong>Die</strong>ser Kampf muß eingeleitet<br />

werden sowohl von dem <strong>Internationale</strong>n Gewerkschafts-Bund<br />

wie von der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation. Beide <strong>Internationale</strong>n<br />

müssen eine Kontrolle durch ihre angeschlossenen Landesorganisationen<br />

ausüben auf die auswandernden Proletarier. <strong>Die</strong>se Kontrolle<br />

wird sich effektiv zwar nur auf die organisierte Arbeiterschaft erstrecken,<br />

während die unorganisierten Arbeiter schwerer zu erfassen<br />

sein werden. Hier müssen die Gewerkschaftsorganisationen des Einwanderungsortes<br />

in Wirksamkeit treten. Kein ausländischer Einwanderer<br />

darf in einem Betriebe oder auf einem Bauplatz in Arbeit treten,<br />

wenn er nicht organisiert ist. Daß hierbei außerordentliche Schwierigkeiten<br />

zu überwinden sind, weit größere als bei der Werbe- und Organisationsarbeit<br />

unter der einheimischen Bevölkerung, das liegt auf der<br />

Hand. Dennoch muß darauf der größte Wert gelegt werden, und auch<br />

die herbsten Enttäuschungen dürfen den Eifer nicht zum Erlahmen<br />

bringen. Wenn es erst einmal gelungen ist, die Einwanderer unter die<br />

Kontrolle der Arbeiterorganisationen zu bringen, dann wird die Gefahr<br />

des internationalen Lohndrückertums auch überwunden sein.<br />

Den Arbeitern, die nach Beratung mit den Gewerkschaften ihres<br />

Landes ins Ausland auswandern, muß ans Herz gelegt werden, sich<br />

sofort in der entsprechenden Gewerkschaft des Einwanderungslandes


AUSLÄNDISCHE ARBEITSKRÄFTE, INLÄNDISCHE ARBEITERSCHAFT 11<br />

zu organisieren. Womöglich sollte sogar von der Gewerkschaft, der<br />

ein Auswanderer in der Heimac angehörte, die Organisation im Einwanderungslande<br />

über das Eintreffen des Einwanderers informiert<br />

werden. Aber auch die unorganisierten Arbeiter müssen zur Organisation<br />

herangezogen werden. Um die Werbetätigkeit für die Organisation<br />

erfolgreich betreiben zu können, wird es notwendig sein, an<br />

den Einwandernden in seiner eigenen Muttersprache heranzutreten.<br />

Das macht die Verbindung der Arbeiterorganisationen des Einwanderungslandes<br />

mit denen des Auswanderungslandes notwendig, damit im<br />

Bedarfsfalle ein Agitator von den Organisationen des Mutterlandes<br />

herangezogen wird. Wenn es gelungen sein wird, die eingewanderten<br />

Arbeiter zu organisieren, dann ist es selbstverständlich, daß diese nur<br />

zu den Lohn- und Arbeitsbedingungen arbeiten, die von den Gewerkschaften<br />

erkämpft sind und die für die gesamte einheimische und zugewanderte<br />

Arbeiterschaft Geltung haben. Kommen wir erst einmal<br />

so weit, dann wird es nicht mehr möglich sein, daß die einheimische<br />

Arbeiterschaft die ausländischen Arbeiter verantwortlich macht für<br />

die Verschlechterung der Lohn- und Arbeitsbedingungen. Denn es<br />

gehört zur Tätigkeit der <strong>Internationale</strong>n, daß sie auch in bezug auf die<br />

Zahl der Einwanderer in jedes Land regulierend einwirken, so daß<br />

von einem bestimmten Beruf kein Zuzug mehr erfolgen darf, wenn in<br />

diesem Beruf bereits Arbeitslosigkeit herrscht oder ein Streik und<br />

dergl. ausgebrochen ist. Wie es bereits innerhalb eines Landes heute<br />

geschieht, so muß auch die Solidarität des gesamten Proletariats auf<br />

alle Länder ausgedehnt und durch die Organisationen geregelt werden.<br />

Nur bei praktischer Anwendung wird die internationale Solidarität<br />

für das Weltproletariat einen Wert haben.<br />

Auswanderer, die wirtschaftlich bessere Lebensverhältnisse im<br />

neuen Lande suchen, müssen zum Eintritt in die Arbeiterorganisation<br />

des Landes herangezogen werden; bei politischer Emigration größeren<br />

Stiles, die nach allen Anzeichen nur vorübergehender Natur ist, wäre<br />

es jedoch notwendig, daß die Mitglieder einer Arbeiterorganisation<br />

auch im Einwanderungslande das Band ihrer Mutterorganisation neben<br />

der Gewerkschaftsorganisation des Landes noch aufrechterhalten. Ein<br />

solcher Fall ist eingetroffen mit unseren italienischen Kameraden, die<br />

durch die faschistische Reaktion gezwungen waren, in Massen das Land<br />

zu verlassen, wenn sie dem grausamen Terror des Faschismus entgehen<br />

wollten. In diesem Sinne nahm auch die Syndikalistische Union<br />

Italiens auf ihrer letzten Landeskonferenz zu Mailand eine Entschließung<br />

an, in der über diese Frage gesagt wird:<br />

„als Ausnahmefall, angesichts des politischen Charakters der Aus-<br />

Wanderung der Flüchtlinge in die Nachbarländer Italiens, ladet die<br />

Konferenz diese Arbeiter ein, den Zusammenschluß der Anhänger<br />

der Syndikalistischen Union Italiens intensiv zu betreiben, jedoch<br />

weiterhin der syndikalistischen Bewegung ihres neuen Landes ihre<br />

Tätigkeit zu widmen."<br />

<strong>Die</strong>ser Beschluß stützt sich auf die Innsbrucker Konferenz der<br />

I.A.A., in welcher über diese Frage folgendes beschlossen wurde:


12 AUSLÄNDISCHE ARBEITSKRÄFTE, INLÄNDISCHE ARBEITERSCHAFT<br />

„. . . <strong>Die</strong> Konferenz legt es den Kameraden der Syndikalistischen<br />

Union Italiens, die durch den Faschismus gezwungen waren, sich nach<br />

dem Auslande zu begeben, ans Herz, überall dort, wo sie in genügender<br />

Anzahl vorhanden sind, sich organisatorisch zusammenzuschließen<br />

und sich als die Fortsetzung der Syndikalistischen Union<br />

Italiens zu betrachten. Es ist die Pflicht dieser Kameraden, sich zu<br />

organisieren und sich solidarisch zu erklären mit den Kräften des<br />

revolutionären Syndikalismus des Auslandes, für die es ihrerseits<br />

eine Pflicht sein muß, die italienischen Kameraden in ihrem Kampfe<br />

um die Verteidigung und die Existenz der Syndikalistischen Union<br />

Italiens zu unterstützen."<br />

Das Land, in welches die meisten italienischen Kameraden flüchteten,<br />

ist Frankreich. Gerade in diesem Lande herrscht aber eine<br />

beklagenswerte Zerrissenheit der Arbeiterbewegung. <strong>Die</strong>ser Umstand<br />

mag wohl dazu beigetragen haben, daß der internationale Beschluß<br />

von Innsbruck und der Beschluß der Syndikalistischen Union Italiens<br />

nicht voll erfüllt worden sind. Es wäre wünschenswert, daß die französische<br />

Arbeiterschaft zu einer größeren Geschlossenheit käme,<br />

damit sie den revolutionären Syndikalisten Italiens, die durch die<br />

Reaktion gezwungen sind, im Auslande zu leben, alle Erleichterungen<br />

für eine Regelung im Sinne der angeführten Beschlüsse gewähren kann.<br />

Aber auch abgesehen von diesem besonderen Fall müssen die<br />

Arbeiterorganisationen, besonders die revolutionären Syndikalisten,<br />

dieser Frage größere Aufmerksamkeit widmen wie bisher. Unsere<br />

Kameraden aller Länder werden gut tun, die hier gegebenen Anregungen<br />

in Erwägung zu ziehen und danach zu handeln. In der kapitalistischen<br />

Gesellschaftsordnung sind die oft bedauernswerten Auswanderer<br />

ebenso das Opfer und das Ausbeutungsobjekt dieses Systems<br />

wie die einheimische Arbeiterschaft es ist. Nur der Sturz des Kapitalismus<br />

kann endgültige Befreiung und Ordnung schaffen. Bei der<br />

internationalen Vertrustung des Weltkapitalismus wird die Befreiung<br />

der Arbeiterschaft nur dann gelingen, wenn sie die Polypenarme des<br />

Kapitalismus in allen Ländern beseitigt. Wenn die Arbeiter aller<br />

Länder durch internationale Verständigung und internationale Aktionen<br />

einheitliche Lebensbedingungen errungen haben werden, dann wird<br />

auch der Anreiz zur Massenauswanderung bedeutend nachlassen. Das<br />

nächste Ziel der Arbeiterschaft muß daher sein, einen internationalen<br />

Realeinheitslohn in allen Industrien zu erkämpfen, angefangen bei den<br />

Seeleuten, dann bei den Bergarbeitern, Bauarbeitern usw., bis in alle<br />

Industrien.<br />

Zurzeit ist die Arbeiterschaft in fast allen Ländern in Verteidigungsstellung<br />

gedrängt. <strong>Die</strong> Reaktion herrscht und will sich verankern.<br />

Sorgen wir dafür, daß es soweit nicht kommt. Kämpfen wir in allen<br />

Ländern für die Wiedereinführung des Achtstundentages, für Kontrolle<br />

über die Betriebe, für höhere Löhne und für den sozialen Fortschritt,<br />

gegen den internationalen Faschismus. Wenn dieser Kampf siegreich<br />

verläuft, dann wird die Auswanderung des Lohnsklaven keinen Anlaß<br />

mehr zum Klagen geben.


ZUR BESETZUNG DER BETRIEBE IN ITALIEN 13<br />

Zur Besetzung der Betriebe in Italien.<br />

Von A. Giovannetti.<br />

<strong>Die</strong> Besetzung der Metallfabriken Italiens im Jahre 1920 ist nicht<br />

ohne große moralische und psychologische Vorbereitungen zustandegekommen.<br />

<strong>Die</strong> U.S.I. (Syndikalistische Union Italiens) hat für diese<br />

Idee seit 1919 agitiert, d. h. sofort nach dem Kriege, als die Arbeiterbewegung<br />

wieder auflebte. Dank der herrschenden Unzufriedenheit<br />

hat sich die Propaganda der U.S.I. weiter entwickeln können, und<br />

bei jeder Gelegenheit, bei den Kämpfen innerhalb einer Industrie<br />

oder bei allgemeinen Kämpfen, haben die tätigen Genossen von der<br />

U.S.I. niemals vergessen, die Notwendigkeit vor Augen zu führen,<br />

daß man vom passiven Streik zur Besetzung" der Fabriken übergehen<br />

muß.<br />

<strong>Die</strong> praktischen Resultate ließen nicht auf sich warten.<br />

In den Kämpfen der Landarbeiterschaft, die fast überall in<br />

Italien, und besonders in Süd-Italien, sofort nach dem Kriege ausbrachen,<br />

gingen die Landarbeiter zur Tat über und nahmen von den<br />

Ländereien Besitz. Hatten nicht selbst die Propagandahetzer des<br />

sogenannten „Befreiungskrieges" den Bauern das Land versprochen?<br />

Auf dem Gebiete der Industrie verwirklichten sich die ersten<br />

Kundgebungen dieser Art in Sestri Ponente, Sampierdarena und<br />

Trento. <strong>Die</strong> Metallarbeiter dieser Städte, die zur U.S.I. gehörten,<br />

waren es, die, ohne zu zögern, als erste dem Beispiel der Landarbeiter<br />

folgten.<br />

In unserem offiziellen Organ „Guerra di Classe" (Klassenkampf)<br />

vom 1. März 1920 sagten wir in einem Artikel, der auf die Ereignisse<br />

jener Tage in dem Metallarbeitergebiet des ligurischen Flusses Bezug<br />

nimmt:<br />

„<strong>Die</strong> Tatsache der Besitznahme der Metallfabriken in Sestri Ponente<br />

und Sampierdarena hat den größten Lärm hervorgerufen. Alle<br />

Behörden sind in Bewegung geraten. Das Hauptziel der Arbeiter<br />

war, die Obrigkeit und das Unternehmertum zu zwingen, die Folgen<br />

einer langen Aussperrung zu überdenken: einer Aussperrung, die die<br />

Arbeitermasse nicht wollte. <strong>Die</strong>ses Ziel ist erreicht worden. Das<br />

andere Ziel, das sich die Arbeiter gesetzt hatten, war von demonstrativem<br />

Charakter: nämlich die technische Reife der Arbeiter selbst<br />

zu beweisen, indem man zeigte, daß man die größten und modernsten<br />

industriellen Betriebe in den verschiedenen Produktionszweigen selbst<br />

einrichten und leiten konnte. Um diese Einsicht zu erreichen, war<br />

es nötig, in die Betriebe einzudringen, und die einzige Art hineinzugelangen<br />

war, nicht aus ihnen herauszugehen. <strong>Die</strong>se Kundgebung<br />

der Arbeiter Liguriens, die große Begeisterung unter den Arbeitern


14<br />

ZUR BESETZUNG DER BETRIEBE IN ITALIEN<br />

ganz Italiens hervorrief, war kein Zufall. Doch wenn es auch nicht<br />

am nötigen Geist fehlte, um dieses Experiment zu versuchen, fehlte<br />

wegen der Ueberstürzung der Ereignisse die nötige Zeit, um alle Elemente<br />

innerer Organisation in den Fabriken zu ordnen.<br />

In der Tat wurden unter diesen Umständen die technischen<br />

Leiter jedes Industriezweiges in großer Eile in den Betrieben gewählt,<br />

unter dem Drucke unmittelbarer Notwendigkeit, aber nur von<br />

rein technischen Gesichtspunkten aus, d. h. man berief die geeignetsten<br />

Arbeiter zur Leitung.<br />

Ist die Arbeit gut vorwärts geschritten? Ja, die Arbeit ist sehr<br />

gut vorwärts geschritten, und mit welcher Freude und Disziplin hat<br />

jeder Arbeiter geschafft, sobald er in die Fabrik eintrat. Es war eine<br />

Vorläufer-Bewegung, die keine Nachfolgerin hatte, und die in diesem<br />

Moment auch nicht nachgeahmt werden konnte, die aber das praktische<br />

Beispiel in einem Augenblick gab, wo es große Beeinflussungskraft<br />

hatte. Nach zwei Tagen warf die Königsgarde die Fabrikarbeiter<br />

in Sestri Ponente aus den Fabriken hinaus, und das brachte<br />

tragische Zwischenfälle mit sich. In den großen Stahlfabriken von<br />

Campi dauerte die Besetzung vier Tage. Während dieser Zeit ist die<br />

Produktion in jeder Fabrik über dem Durchschnitt gewesen, trotz<br />

aller Versuche von Seiten des Unternehmertums, den elektrischen<br />

Strom abzuleiten."<br />

Wir glauben, es ist nützlich, wenn wir bekanntgeben, was wir<br />

in der „Guerra di Classe" vom 28. Februar 1920 geschrieben haben,<br />

sogleich nach den Ereignissen, von denen wir sprachen. Es ist ein<br />

Leitartikel und heißt: „Hinein in die Fabriken!", vom Kameraden<br />

Borghi geschrieben. Hier ist er:<br />

„<strong>Die</strong> letzten Tage waren von Ereignissen von größter Wichtigkeit<br />

ausgefüllt. Es ist schon länger als ein Jahr her, daß in Italien jeder<br />

Vorwand gut ist, um bei den Arbeitermassen zu erreichen, daß sie mit<br />

den alten Kämpfen für die unmittelbare Verbesserung und für die<br />

moralischen Siege brechen, um mit Riesenschritten zu der revolutionären<br />

Lösung, der Besitznahme der Fabriken zu gelangen. <strong>Die</strong> Masse<br />

geht bis zum äußersten, das heißt ganz einfach, daß sie die Notwendigkeit,<br />

an den Grundfesten der Gesellschaft zu rütteln, verstanden<br />

hat, und daß die Grundfeste das Kapital ist.<br />

<strong>Die</strong> Besetzung der Betriebe ist die Idee, die die Masse beherrscht,<br />

und künftighin kann man sicher sein, daß eine Revolution in Italien<br />

sich nicht anders entwickeln kann als auf dieser befreienden Grundlage.<br />

Schon mehr als 6 Monate ist es her, daß man gegen die<br />

Teuerung gekämpft hat. <strong>Die</strong> Masse hat die Läden im Sturm genommen<br />

und hat die Arbeiterbörsen zum Mittelpunkt ihres instinktiven<br />

Kommunismus gemacht. Beim Generalstreik in Mantua hat<br />

die Masse die Arbeiterbörse zu ihrem Hauptquartier gemacht. Bei<br />

der Aussperrung in Ligurien geht die Masse nicht aus den Fabriken<br />

heraus und beginnt, auf eigene Rechnung zu produzieren. Der Kampf<br />

zieht sich auf seinen natürlichen Mittelpunkt hin, auf den Mittelpunkt,<br />

den wir seit langer Zeit schon angezeigt haben: auf die Fabrik.<br />

In diesem Moment befinden wir uns noch in dem Stadium der Pro-


ZUR BESETZUNG DER BETRIEBE IN ITALIEN 15<br />

paganda durch die Tat; aber wenn die Königsgarde und die Carabinieri<br />

(eine Art Reichswehr) mit den Waffen in der Hand die Fabriken<br />

befreien müssen, um sie den Besitzern zu übergeben, wenn<br />

der Arbeiteraufstand nicht mehr in dem Stadium ist, daß man sich,<br />

wie die Sklaven auf dem Berg Aventinus, zurückziehen muß, wenn<br />

die Arbeiter auf die Dächer der Fabriken steigen, um die Fabriken<br />

mit den Waffen, die ihnen die Soldaten gegeben haben, selbst zu<br />

verteidigen, — an jenem Tage muß die enteignende Revolution noch<br />

untergehen, und man muß hinzufügen, nicht wegen des geringen<br />

Klassenbewußtseins der Massen, sondern wegen der Faulenzerei gewisser<br />

sogenannter revolutionärer Parteien, die ihren Versprechungen<br />

nicht nachkommen und die Hoffnung, die das Volk auf sie gesetzt<br />

hat, nicht erfüllen. <strong>Die</strong> Vorwärtsbewegung des Proletariats von Sestri<br />

Ponente hat uns noch nicht zum Ziel geführt, aber sie hat es uns<br />

um vieles näher gebracht. Man geht von solch einer Höhe nicht<br />

wieder herunter, und man löscht nicht mehr die Spuren dieses Vortrupps<br />

aus. <strong>Die</strong> Arbeiter sind zur Arbeit für das Unternehmertum<br />

wieder zurückgekehrt, weil die wohlbewaffnete Minderheit der Verteidiger<br />

des Kapitals gesiegt hat; aber morgen wird der Kampf wieder<br />

von dort aus weitergeführt werden, wo die Ereignisse von Sestri<br />

Ponente Halt gemacht haben, genau so, wie die Ereignisse von Sestri<br />

da begonnen haben, wo der Mantuaer Kampf aufgehört hat.<br />

Dürfen wir unter diesen Umständen jene Kämpfe als zu voreilig<br />

beschuldigen, weil der Sieg nicht gelang und weil sie über die Anfangsgründe<br />

eines Arbeiterkampfes hinausgehen? Wir überlassen diese<br />

Rolle den Kapuzinerpatern der Zeitung „Avanti", die ihre Vergangenheit<br />

entwürdigen. Wir im Gegenteil, wir sagen: „Waren die Ereignisse<br />

von Sestri denn unzeitgemäß, weil sie vereinzelt blieben? Doch diese Tat-<br />

Sachen sind zu ihrer Zeit geschehen, denn, eine nach der andern, haben<br />

sie, indem sie über alle Gaue Italiens dahinschritten, gezeigt, daß<br />

in Wirklichkeit das ganze Proletariat Italiens dasselbe Kraftniveau<br />

hat (und das ist seine revolutionäre Reife). Das zeigt eine Lage der<br />

Dinge, die diejenigen, welche wirklich die Revolution machen wollen,<br />

zur praktischen Tat bringen müßte. Oder vielleicht sind deshalb Ereignisse<br />

wie die von Sestri unzeitgemäß, wie der „Avanti" schreibt,<br />

weil sie dem Allgemeinen Gewerkschaftsbund hinderlich sind, und<br />

dann muß man eingestehen, daß man die Revolution nicht will.<br />

Wir rufen den Kameraden von Sestri, Campi, Ligurien usw. zu:<br />

„Immer vorwärts, Kameraden! <strong>Die</strong> Revolutionäre von 1789 riefen:<br />

Auf die Bastille! Das Proletariat von heute ruft: In die Fabrik!"<br />

Dem großen Kampf zwischen Fabrikbesitzern und Metallarbeitern<br />

ging, ehe er in die allgemeine Bewegung im September 1920 einmündete,<br />

eine lange Periode gemeinsamer Besprechungen voraus. Während<br />

dieser Periode wollte die U.S.I. außerhalb diplomatischer Verhandlungen<br />

und akademischer Klassengemeinschaften bleiben, indem sie<br />

dieses Geschäft den reformistischen und katholischen Organisationen<br />

überließ. <strong>Die</strong> Landesorganisation der Metallarbeitersyndikate, die<br />

zur U.S.I. gehörten, gaben, als das Unternehmertum versuchte, die<br />

Diskussion mit den Organisationen auf die Frage der Industriebedin-


16<br />

ZUR BESETZUNG DER BETRIEBE IN ITALIEN<br />

gungen zu lenken, eine Erklärung ab, deren wesentliche Worte die folgenden<br />

sind: „In Anbetracht dessen, daß das heutige System nicht<br />

auf den Interessen der Allgemeinheit, sondern auf Einzelinteressen<br />

aufgebaut ist; in Anbetracht dessen, daß das der ursprüngliche Grund<br />

der Störungen im wirtschaftlichen und politischen Industrieleben der<br />

Gesellschaft ist, haben die Arbeiter infolgedessen keine Verantworte<br />

lichkeit für den Glückswechsel der Industrie selbst, und sie können<br />

sich nicht um die Lage der industriellen Bourgeoisie kümmern, die die<br />

Arbeiter als käufliche Ware ansieht und nicht wie Menschen, die ein<br />

Recht auf das Leben und auf den Genuß der Früchte ihrer Arbeit<br />

haben."<br />

Nach diesen Erklärungen weigerte sich die U.S.I., in den unnützen<br />

und endlosen Diskussionen auf die Frage der Bedingungen in der<br />

Industrie zurückzukommen, wirklichen oder künstlich geschaffenen<br />

Bedingungen, die das Unternehmertum immer fälschen kann, wie es<br />

das so oft den Arbeitern oder selbst dem Staate gegenüber tut, wie<br />

man es nach einer Reihe von Skandalen, die zur Kenntnis der Gesellschaft<br />

gelangten, feststellen konnte.<br />

<strong>Die</strong> wichtigste Aufgabe, die die U.S.I. in den hier dargestellten<br />

Klassenkämpfen übernommen hat, war, ihnen voranzugehen und sie<br />

in ein bestimmtes Fahrwasser zu leiten, um sie zu einem revolutionären<br />

Ausweg zu führen, da die allgemeine Lage in Italien zu jener Zeit<br />

ihnen günstig war. Das Unternehmertum hatte schon seine Absicht<br />

gezeigt, einen Kampf mit dem Proletariat zu provozieren, um einen<br />

Vorwand zu haben, es durch eine schreckliche Reaktion unterdrücken<br />

zu können. All das hatte die U.S.I. wohl verstanden, und sie gab dem<br />

Proletariat Italiens das Alarmzeichen durch ein Manifest ihres Metallarbeitersyndikats,<br />

in dem sie unter anderem sagte: „Man will den<br />

Preis der Produkte aufrechterhalten und die Löhne der Arbeiter<br />

drücken, um sie zurückzustoßen und sie dem unkontrollierbaren Despotismus<br />

der Arbeitgeber zu unterwerfen."<br />

In einer anderen Kundgebung desselben Metallarbeitersyndikats<br />

der U.S.I. warnte man das Proletariat und schloß mit folgenden<br />

Worten: „Seid zum Kampf bereit, der unvermeidlich ist; schart Euch<br />

alle um die Fahne der Revolution."<br />

Der Kampf drohte, da die Unerbittlichkeit der Arbeitgeberverbände<br />

auf der Hand lag, und während die anderen Arbeiterorganisationen<br />

einen ruhigen Ausweg aus dem Kampf suchten, arbeitete die<br />

U.S.I., um in den Arbeitermassen den Gedanken an die Besetzung<br />

der Fabriken wachzurufen.<br />

Seit den ersten Tagen des Juli, während der F.I.O.M. (Italienischer<br />

Metallarbeiterverband) den Kampf auf systematische Obstruktion der<br />

Arbeit zu beschränken suchte (ein unzulängliches Kampfmittel in Anbetracht<br />

der Breite des Kampfes), setzten sich die Organe der U.S.I.<br />

für ein energisches Vorgehen ein, und seit diesem Augenblick verschwand<br />

schon der Gedanke systematischer Obstruktion, indem man<br />

den Streik in der Fabrik und die Besetzung der Fabriken vorzog. In<br />

einer Landeskonferenz, die am 17. August in Spezia stattfand, nach<br />

dem Scheitern jeden Versuchs, der Metallarbeiterbewegung eine


ZUR BESETZUNG DER BETRIEBE IN ITALIEN 17<br />

pazifistische Lösung zu geben, wie die Reformisten es wollten, nahm<br />

man folgende Resolution an:<br />

„In Anbetracht dessen, daß der Streik in der gegenwärtigen<br />

Situation bei der Haltung der Industriellen, die Interesse daran haben,<br />

die Kräfte des Proletariats zu lähmen, nicht zu verwirklichen ist, in<br />

Anbetracht dessen, daß der passive Widerstand der Arbeiter großen<br />

praktischen Schwierigkeiten begegnen wird, in Anbetracht dessen,<br />

daß man, um dem Widerstand von Seiten der Unternehmer energisch<br />

standzuhalten, zu allen Mitteln und besonders zum gleichzeitigen<br />

Einbruch in die Fabriken greifen muß, beschließt die Konferenz, in der<br />

Masse der Metallarbeiter die Annahme dieses letzteren Kampfmittels<br />

zu unterstützen."<br />

Nach dieser Konferenz wurde ein anderes Manifest veröffentlicht.<br />

Hier sind die wichtigsten Stellen daraus, die systematische Obstruktion<br />

betreffend:<br />

„Bei der Hartnäckigkeit und dem Widerstand der Fabrikbesitzer<br />

scheint uns diese Kampfesform, die bis in die Unendlichkeit fortdauern,<br />

die Massen enttäuschen, den Kampfesgeist schwächen kann,<br />

ohne daß es ihr gelingt, die Besitzerklasse tatkräftig aufs Haupt zu<br />

schlagen, unzureichend. Der passive Widerstand und die Obstruktion<br />

können die Industriellen zum allgemeinen oder Teilausstand bringen,<br />

was die Besitznahme der Fabriken durch die Arbeiter sehr erschwert,<br />

weil man sie, wenn sie sich außerhalb der Fabriken befinden, mit Hilfe<br />

der Bajonette der Königsgarde verhindern kann, von neuem hineinzugelangen."<br />

Wir hatten alles vorausgesehen, bis auf die Einzelheiten. Tatsächlich<br />

verkündeten einige Betriebe den Ausstand, und wenn die Arbeiter<br />

nicht bereit gewesen wären, den allgemeinen Ausstand zu verhindern,<br />

indem sie einfach nicht aus den Fabriken herausgingen, so wäre die<br />

Besetzung der Fabriken nicht möglich gewesen.<br />

Eine andere Stelle aus dem Manifest der U.S.I.:<br />

„<strong>Die</strong> Besitznahme der Fabriken muß gleichzeitig vor sich gehen,<br />

ehe man herausgeworfen wird und muß mit allen Mitteln, die der<br />

organisierten Arbeiterklasse zu Gebote stehen, verteidigt werden. Wir<br />

sind fest entschlossen, auch selbst die Arbeit anderer Industriezweige<br />

sowie die Landwirtschaft in den Kampf hineinzuziehen. <strong>Die</strong> Pflicht<br />

der anderen Organisationen also ist es, Stellung zu nehmen und sich<br />

zum endlichen Angriff bereit zu halten."<br />

So trieb die U.S.I. zum Kampf, während der reformistische Allgemeine<br />

Gewerkschaftsbund bereit war, auch auf den passiven Widerstand<br />

zu verzichten, um die Besprechungen mit den Arbeitgebervers<br />

bänden wieder aufnehmen zu können.<br />

Aber das Niveau des Proletariats war höher als die Psychologie<br />

der reformistischen Führer, und alle Vorläufer proletarischen Kampfes<br />

nach dem Kriege zeigten die Unvermeidlichkeit extremen Kampfes,<br />

der alle andern übersteigen müsse, die man bis dahin ausgefochten<br />

hatte.<br />

Am 20. August 1920 begann der passive Widerstand und der Kampf<br />

in den Betrieben der Metallarbeiter in ganz Italien. Gemäß den Be-


18<br />

ZUR BESETZUNG DER BETRIEBE IN ITALIEN<br />

Schlüssen der reformistischen Organisationen hätten die Arbeiter<br />

schuften sollen auf Grund des mittelmäßigen Tariflohnes und unter<br />

Ausschluß des Arbeitsüberschusses, der zum Gewinn für die Kapitalisten<br />

dient. Aber die Arbeiter setzten, indem sie den Rat des Allgemeinen<br />

Metallarbeiterverbandes der U.S.I. befolgten, die Arbeit auf<br />

80 % herab, mit der Idee, dem Kampfe einen entscheidenden Abschluß<br />

zu geben und den weniger extremen Teil der Arbeiter selbst für die<br />

Besetzung der Fabriken zu begeistern.<br />

Gerade in diesem Augenblick wurde eine Delegation der U.S.I. ins<br />

Arbeitsministerium nach Rom berufen, um eine Wiederaufnahme der<br />

Unterredungen zwischen Industriellen und Arbeitern zwecks Aufschub<br />

des Kampfes zu versuchen; aber die Delegation der U.S.I.<br />

erklärte, die einmal gefällten Entscheidungen nicht zurücknehmen,<br />

noch auf den begonnenen Kampf verzichten zu können. In denselben<br />

Tagen begann tatsächlich in mehreren hundert Metallfabriken die<br />

Besetzung von seiten der Arbeiter. <strong>Die</strong>se Besetzung griff in der<br />

Metallindustrie am 1. September überall um sich, am selben Tage, wo<br />

der ehrenwerte Buozzi, der Generalsekretär des F.I.O.M. (Italienischer<br />

Metallarbeiterverband Richtung Amsterdam) dem Arbeitsminister<br />

und dem Präsidenten des Industriellenverbandes erklärte, daß er bereit<br />

sei, auf den passiven Widerstand zu verzichten, wenn man andererseits<br />

zur Wiederaufnahme der Unterhandlungen um einer friedlichen<br />

Lösung willen bereit wäre. Aber die Arbeiter hatten über diese Frage<br />

schon entschieden, indem sie der Entscheidung und den Ratschlägen<br />

der U.S.I. Folge leisteten. Der Allgemeine Gewerkschaftsbund und<br />

die Politikanten, die ihn verteidigten, waren geschlagen.<br />

<strong>Die</strong> schwarzen und roten Fahnen wehten an jenem Tage von den<br />

Schornsteinen unzähliger Metallfabriken, von den Schiffsbauplätzen,<br />

den Hochöfen und allen Stahlfabriken.<br />

In den Köpfen der Arbeiter Italiens trat der leuchtende Gedanke<br />

einer neuen sozialen Aera in seiner ganzen Breite auf. Es war der<br />

entscheidende Moment, wo man entweder den Vormarsch einerseits<br />

oder den unglücklichen Rückschritt andererseits wählen mußte. <strong>Die</strong><br />

Masse war bereit. Eine entschiedene revolutionäre Minderheit war<br />

entschlossen, ihre Pflicht zu tun. <strong>Die</strong> reformistischen Politikanten<br />

hatten wohl Mittel um zu zerstÖren, denn sie sprachen immer von<br />

Revolution, und deswegen konnten sie die Hoffnungen der Arbeiterklasse<br />

täuschen. Alle diese Kräfte waren am Spiel. Wem war der<br />

Sieg bestimmt?<br />

<strong>Die</strong> U.S.I., die fest entschlossen war, der Verwirklichung der allgemeinen<br />

Sehnsucht der Proletarier obzuliegen, hielt mit ihrer Aktivität<br />

nicht vor der vollendeten Tatsache der Besetzung der Metallfabriken<br />

still.<br />

Am 2. September, dem Tage der allgemeinen Besitzergreifung der<br />

Fabriken, wurde eine Versammlung des Generalkomitees in Mailand<br />

abgehalten. Man erließ einen Aufruf an die Industriearbeiter, worin<br />

man sie zum endgültigen Kampf gegen die Bourgeoisie, zur Vorbereitung<br />

der Besitzergreifung der Bauplätze, Felder und Bergwerke, aufforderte.


ZUR BESETZUNG DER BETRIEBE IN ITALIEN 19<br />

<strong>Die</strong>ser Aufruf wurde von den Massen, die dem bürgerlichen Regime<br />

ein Ende machen wollten, mit Begeisterung aufgenommen. An mehreren<br />

Orten dehnte sich die Besetzung der Fabriken einige Tage später auch<br />

auf die Bergwerke, auf die chemische und Textilindustrie und selbst<br />

auf die Ländereien aus. Der Geist der Masse war voll lodernder Begeisterung.<br />

Man wollte bis zum Endziel vorgehen. <strong>Die</strong> Führer des A.G.B.<br />

(Allgemeiner Gewerkschaftsbund) konnten sich dem Druck der Arbeitermassen,<br />

die von dem Gedanken unmittelbarer Verwirklichung der Enteignung<br />

erfüllt waren, nicht entziehen. Und nun berief der A.G.B.<br />

seinen Generalrat für den 10. und 11. September ein, um einen endgültigen<br />

Beschluß zu fassen. <strong>Die</strong> U.S.I. hielt nicht einen Augenblick in ihrer<br />

fieberhaften Tätigkeit ein, die Besitzergreifung auf alle Zweige der<br />

Industrie auszudehnen. In Sampierdarena (bei Genua) wurde für den<br />

7. September eine Konferenz einberufen, alle syndikalistischen Organisationen<br />

Liguriens, das hauptsächlich Industriegebiet ist, wurden dorthin<br />

geladen, selbst diejenigen, die nicht zur U.S.I. gehörten, denn man<br />

wollte sozusagen die anderen gewerkschaftlichen Kräfte in unsere<br />

Aktion mit hineinziehen und sie dem Einfluß der reformistischen<br />

Führer des A.G.B. entziehen. <strong>Die</strong> Versammlung fand statt. <strong>Die</strong> Eisenbahner,<br />

Hafenarbeiter und Seeleute nahmen daran teil. <strong>Die</strong> leitende<br />

Idee war, daß man aus dieser Versammlung mit dem Gedanken an<br />

sofortige Besetzung der wichtigsten Häfen herausgehe: Zuerst in<br />

Genua und dann in Spezia und Savona; zur selben Zeit Besetzung und<br />

Besitzergreifung der Eisenbahnen, Straßenbahnen und anderer gemeinnütziger<br />

Betriebe. <strong>Die</strong> Leiter der C.G.T. begriffen, daß eine solche<br />

Aktion, die sich außerhalb ihrer Beschlüsse entwickelt hatte, sie in<br />

ernstliche Ungelegenheiten bringen könnte, denn ihre Autorität wäre<br />

sicherlich nicht anerkannt worden. Besonders war der A.G.B.<br />

ganz von dem Gedanken beherrscht, daß er gegenwärtig einer<br />

vollendeten Tatsache gegenüberstehen könnte, ohne seine einschläfernde<br />

Kontrolle ausgeübt zu haben. Infolgedessen hielt er es für nötig, an<br />

jener Initiativ-Versammlung, die die U.S.I. organisiert hatte, sich zu<br />

beteiligen und schickte seine Delegierten, deren Ziel natürlich die Lähmung<br />

jeglichen Aktionswillens der Arbeiter war: Herrn Colombino<br />

(einer der Sekretäre der Metallarbeiterföderation, die zum A.G.B. gehörte)<br />

und Herrn Garino (ein Metallarbeiter und sogenannter Anarchist<br />

aus Turin, zum A.G.B. gehörig, der im Gegensatz zu den meisten Syndikalisten<br />

und Anarchisten seines Wohnorts stand).<br />

<strong>Die</strong>se beiden Abgesandten versicherten uns, daß der A.G.B. in der<br />

großen Generalversammlung für das ganze Land am 10. Sept. in Mailand<br />

vorschlagen würde, die Okkupationsbewegung auf alle Industrien<br />

und alle Produktionszweige in Italien auszudehnen, und daß man,<br />

damit alles gut gehe, die Ereignisse nicht überstürzen dürfe, um nicht<br />

durch eine Lokalschlacht die Bewegung im ganzen Lande zu kompromittieren,<br />

die im geeigneten Moment die proletarische Revolution auf<br />

der gesamten Halbinsel zum Ausdruck bringen würde. <strong>Die</strong>se<br />

schmeichlerischen Versprechungen konnten die Mehrheit der Versammlung<br />

überzeugen, um so mehr, als ein revolutionärer Kamerad<br />

sie aussprach: Garino glaubte zweifeltos an die Versprechungen der


20<br />

ZUR BESETZUNG DER BETRIEBE IN ITALIEN<br />

reformistischen Chefs des A.G.B. <strong>Die</strong> Delegierten, die unter diesen<br />

Umständen durch uns versammelt waren, nahmen den Beschluß an,<br />

die Bewegung noch einige Tage hinzuziehen, bis zur Landesversammlung<br />

des A.G.B. Man versicherte uns im übrigen (von Seiten der<br />

beiden Abgesandten Colombino und Garino), daß man zu dieser Vers<br />

Sammlung auch die U.S.I., die F.d.M. (Seemannsbund), die S.D.C.<br />

(Eisenbannerverband) und die F.d.P. (Hafenarbeiterföderation) eins<br />

laden werde.<br />

Nichtsdestoweniger blieb der Schreiber dieser Zeilen den Absichten<br />

der reformistischen Führer gegenüber sehr skeptisch, da er wußte,<br />

daß die Arbeitermasse (selbst die des A.G.B.) mit uns, d. h. für die<br />

Enteigungsbewegung, war. Mehrere Kameraden mißtrauten, so wie<br />

ich, diesem Beschluß; aber trotzdem (in Anbetracht der Tatsache, daß<br />

unsere Versammlung sich ausschließlich aus Organisationen, die zur<br />

U.S.I. gehörten, zusammensetzte) ließ der Gedanke oder die Furcht,<br />

die allgemeine Bewegung durch einen Provinzaufstand in Ligurien zu<br />

kompromittieren, die ungeheure Verantwortlichkeit bemerken, die<br />

daraus entspringen konnte, so daß die Mehrzahl der Delegierten sich<br />

dafür entschied, den Vorschlag der Delegierten des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes,<br />

Colombino und Garino, anzunehmen, d. h. den<br />

Entscheid des Rates des A.G.B., der am 10. und 11. September in<br />

Mailand stattfinden sollte, abzuwarten. Doch die U.S.I. ließ sich von<br />

diesen eitlen Versprechungen nicht einschläfern, und trotzdem sie auf<br />

die Mailänder Räteversammlung wartete, arbeitete sie an ihrem revolutionären<br />

Propagandawerk für die Enteignung weiter fort. Der<br />

10. September kam: <strong>Die</strong> Konferenz des A.G.B. wurde bei verschlossenen<br />

Türen abgehalten, und die U.S.I. wurde, ebenso wie die andern<br />

Arbeiterorganisationen, die nicht zum A.G.B. gehörten, davon ausgeschlossen.<br />

Abermals erließ die U.S.I. einen Aufruf an alle gewerkschaftlichen<br />

Zentralen und Vorstandskomitees der politischen Arbeiterparteien, um<br />

noch am 12. September wegen eines Meinungsaustausches über die<br />

gemeinsame Aktion zusammen zu beraten. Wir unsererseits wußten,<br />

daß man handeln und sogar schnell handeln müsse, denn hier stand<br />

Leben oder Tod des Proletariats auf dem Spiel.<br />

Der Verrat der Führer des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes.<br />

Man muß wissen, wie sich die Dinge in der Konferenz des A.G.B.<br />

abspielten. So wie wir oben berichten, wurde die U.S.I. kategorisch<br />

davon ausgeschlossen (und das mit gutem Grunde), und man ließ nur<br />

die Organisationen, die offiziell zum A.G.B. und in seinen Rahmen<br />

gehörten, zu. Einige Delegierte der S.D.C. (Eisenbahnerverband) und<br />

F.d.M. (Seemannsbund) waren mit Beratungs- aber ohne Abstimmungsrecht<br />

zugelassen worden.<br />

<strong>Die</strong> U.S.I., die trotz allem am unmittelbarsten am Kampfe beteiligt<br />

war, ließ man beiseite. Ein Delegierter erhob sich, um die Zulassung<br />

unserer Delegation zu erbitten: es war der Sekretär der Straßenbahnergewerkschaft;<br />

aber die Führer des A.G.B. weigerten sich hartnäckig.<br />

<strong>Die</strong>ser Konferenz hatte man eine sehr große Bedeutung beigemessen


ZUR BESETZUNG DER BETRIEBE IN ITALIEN 21<br />

und hatte ihren Sitz in das Mailänder Rathaus verlegt, das sich in den<br />

Händen der Sozialistischen Partei befand. <strong>Die</strong> Presse hatte viel Lärm<br />

wegen dieser Versammlung gemacht, denn man erwartete von ihr<br />

den . . . Befehl, sei es, um bis zum Aeußersten vorzugehen, oder um<br />

sich zurückzuziehen. Und es stand zweifellos fest, daß man, um sich<br />

besser zurückziehen zu können, die U.S.I. ganz bewußt aus dieser Versammlung<br />

zurückstieß, die sich ausschließlich aus den Hauptführern<br />

des A.G.B. und denen der Sozialistischen Partei (mehrerer Senattierungen)<br />

zusammensetzte, z. B. die Turati, Modigliani usw. Unter weniger<br />

schwierigen Umständen hätte man schon, trotzdem man nicht von<br />

einer Einheitsfront (Moskauer Neuerfindung) sprach, alle gewerkschaftlichen<br />

und politischen Organisationen, d. h. die Sozialistische<br />

Partei und die Anarchistische Union gemeinsam versammelt. Aber<br />

dieses Mal verhinderten die politischen Führer das Zusammentreffen.<br />

<strong>Die</strong> sozialistischen Führer waren vertreten und auch die, die sich heute<br />

Kommunisten nennen, die damals aber brüderlich vereinigt in derselben<br />

großen Partei saßen. Und dort, wo Turati, ganz wie es ihm behagte,<br />

Ruhe predigen konnte, war es Malatesta nicht möglich, hineinzukommen,<br />

um zum Kampf anzufeuern, und wo d'Aragona die gefaßten<br />

Beschlüsse sabotierte, ließ man uns zum „Vorwärts"rufen nicht zu.<br />

Der Sekretär der Seeleute sprach in Anbetracht der zugespitzten Lage<br />

der Metallarbeiterbewegung seine Meinung zugunsten der Ausdehnung<br />

der Aufstandsbewegung aus: „Von nun an rücken die Forderungen der<br />

Metallarbeiter an die zweite Stelle. Wenn selbst die Unternehmer uns,<br />

angesichts der jetzigen revolutionären Lage, dreimal mehr anbieten, als<br />

sie uns bis jetzt vorgeschlagen haben, darf man nicht zurückweichen."<br />

Der Sekretär der F.d.P. (Hafenarbeiterföderation) erklärte, daß<br />

„seine Föderation bereit sei zu einer entscheidenden Aktion."<br />

Colombino selbst, einer der reformistischen Führer, mußte erkennen,<br />

daß die Lohnaufbesserungen dem Geisteszustand der Massen<br />

nicht angepaßt seien, und daß die Arbeiter, die in die Fabriken eingedrungen<br />

seien, sie in ihrem Besitz behalten wollten.<br />

Der reformistische Abgeordnete Modigliani verkündete, daß „die<br />

Lage so revolutionär sei, daß keine Möglichkeit mehr bestehe, sie unter<br />

das kapitalistische Regime wieder einzuordnen."<br />

Aber unglücklicherweise sollte diesen Worten eine ultrakonservative<br />

Tat von seiten der Führer des A.G.B. und der sozialistischen Deputierten<br />

folgen, die vollkommen miteinander übereinstimmten, die berühmte<br />

„Anerkennung des Prinzips gewerkschaftlicher Kontrolle der Industrie"<br />

zu fordern „und . . . die unmittelbare Eröffnung der Deputiertenkammer<br />

zu erbitten". Es erübrigt sich zu sagen, daß diese beiden Forderungen<br />

die Zustimmung der Kommunisten fanden, die an der Spitze<br />

der Sozialistischen Partei und der Parlamentsgruppe standen. So<br />

wurde die große revolutionäre Schlacht, auf die das italienische Proletariat<br />

sich mit so viel Begeisterung vorbereitet hatte, sabotiert;<br />

sabotiert am Vorabend ihrer allgemeinen Ausbreitung von einer<br />

Gruppe von Politikanten, die vorgab, die Interessen des Proletariats<br />

zu schützen, und die es in dem Augenblick, wo es zur Vernichtung des<br />

Kapitalismus aufmarschierte, feige verriet. Der Beschluß, der vom


22<br />

ZUR BESETZUNG DER BETRIEBE IN ITALIEN<br />

Generalrat des A.G.B. in der Nacht vom 11. zum 12. September angenommen<br />

wurde, war nicht die Willensäußerung des arbeitenden Volkes.<br />

In der Tat wurde für d'Aragonas Resolution in bezug auf die Stillegung<br />

des Kampfes und Rückgabe der Fabriken nur von den Delegierten von<br />

600 000 Arbeitern abgestimmt, während 400 000 für den Kampf bis zum<br />

Aeußersten stimmten und 94 000 sich enthielten. Man muß wissen, daß<br />

die Mitgliederzahl aller Arbeiterorganisationen (ob sie zum A.G.B.<br />

gehörten oder nicht), die auf dem Boden des Klassenkampfs standen,<br />

ungefähr auf 3 Millionen stieg; ungefähr 2 Millionen hatten keine Vertreter<br />

in der Landeskonferenz, oder die letzteren hatten kein Stimmrecht.<br />

Außerhalb dieser Versammlung befanden sich fast alle<br />

Arbeiter, die für die Enteignung waren. Der Beweis dafür ist die Erklärung<br />

der Hafenarbeiter, der Delegierten der Seeleute und die Haltung<br />

der U.S.I., die immerfort zum Kampf anfeuerte.<br />

So hatte von 3 Millionen organisierter Arbeiter nur ein Drittel das<br />

Stimmrecht bei einer so ernsten Lage und mitten in einer revolutionären<br />

Periode, während man von freien Arbeiterräten sprach. Ein Fünftel<br />

der gesamten gewerkschaftlich organisierten Arbeitermasse sprach sich<br />

durch die Stimme dieser sogenannten Delegierten gegen die revolutionäre<br />

Aktion aus und gab sich willkürlich den Titel „Mehrheit". In<br />

Wirklichkeit hatte der Landesrat des A.G.B. nur ein Ziel: die Entwicklung<br />

des proletarischen Kampfes, koste es, was es wolle, zu verhindern<br />

und sie, im Augenblick, wo sie das kapitalistische Regime stürzen<br />

konnte, anzuhalten. Das war der Plan, den die Reformisten vorausgesellen<br />

und gewollt hatten, was d'Aragona auch später zugegeben hat,<br />

indem er sagte: „Wir sind stolz darauf, den Ausbruch der Revolution,<br />

den die Extremisten forderten, verhindert zu haben."<br />

<strong>Die</strong> schändliche Flucht der Kommunisten.<br />

Der Verrat der Funktionärkonferenz des A.G.B. erschwerte<br />

von nun an die Lage der U.S.I. Trotzdem berief sie in Uebereinstimmung<br />

mit der S.D.C. (Eisenbahnerverband) für den 12. September eine<br />

Versammlung aller gewerkschaftlichen proletarischen Organisationen<br />

ein, um zum Zwecke einer gemeinsamen Aktion eine Vereinigung für<br />

die allgemeine Enteignung in ganz Italien zu bilden. An dieser Ver-<br />

Sammlung nahmen die U.S.I., die F.d.M. (Seemannsbund), die F.d.P.<br />

(Hafenarbeiterföderation), die Gewerkschaften der Transportarbeiter,<br />

der A.G.B., die Sozialistische Partei, die Union der kommunistischen<br />

Anarchisten und etliche andere, die weniger bedeutend sind, teil. Alle<br />

Delegierten, die anwesend waren, mit Ausnahme von denen des A.G.B.,<br />

stimmten in der Anerkennung der Notwendigkeit, die Besetzungsbewegung<br />

weiter auszudehnen, überein. Der A.G.B.-Delegierte hatte<br />

die entgegengesetzte Ansicht, indem er darlegte, daß nach dem Beschluß<br />

des A.G.B.-Generalrats am vorhergehenden Tage, es für den<br />

A.G.B. vollkommen unmöglich wäre, mit den anderen Organisationen,<br />

die den Kampf bis zum Aeußersten forderten, zusammenzugehen. Der<br />

Vorstand der Sozialistischen Partei vereinigte sich mit dem A.G.B. und<br />

machte sich zu seinem öffentlichen Mitschuldigen in dem verräterischen


ZUR BESETZUNG DER BETRIEBE IN ITALIEN 23<br />

Werk, das er verübte, und man muß bemerken, daß diese Führer dieselben<br />

waren, die sich Kommunisten nannten, und die später die Kommunistische<br />

Partei bildeten. Selbst der Sekretär der Sozialistischen<br />

Partei, Herr Gennari, war zu jener Zeit ein erbitterter Kommunist.<br />

<strong>Die</strong> Moskauer „Prawda", (Zentralorgan der Kommunistischen Partei<br />

Rußlands) selbst mußte gestehen, daß die Saboteure der Revolution<br />

in Italien nicht nur die Reformisten waren, sondern auch die Kommunisten,<br />

die nichts weiter vermochten, als zweideutige Gründe anzugeben<br />

und sich der Disziplin des A.G.B. zu unterwerfen, dessen letzten und<br />

verhängnisvollen Verrat sie durch ihre Zustimmung sanktionierten. Der<br />

Delegierte der S.D.C. (Eisenbahnerverband) erklärte, daß die Eisenbahner<br />

an der Besetzungsbewegung teilnehmen könnten, ohne auf die<br />

Zustimmung des A.G.B. zu warten und selbst gegen seinen Beschluß<br />

es täten, wenn wenigstens die Sozialistische Partei sich zugunsten der<br />

Bewegung erklärte. Aber der Delegierte der Sozialistischen Partei<br />

weigerte sich, diese Zustimmung zu geben. So wurden die Arbeiter,<br />

die zuerst von den Reformisten des A.G.B. verraten worden waren<br />

und noch auf die revolutionäre Aufrichtigkeit der kommunistischen<br />

Führer an der Spitze der Sozialistischen Partei hofften, doppelt enttäuscht,<br />

als sie den Abfall der letzteren sowie des A.G.B. sahen. <strong>Die</strong>se<br />

Arbeiter dachten, daß nach dem Bankerott der A.G.B.-Führer die Sozialistische<br />

Partei die Verantwortung für die Weiterführung der Bewegung<br />

übernehmen könnte, um so mehr, als starke Arbeiterorganisationen, die<br />

ihren außerordentlichen Besitz in den Betrieben und wichtigen Zweigen<br />

der Produktion behaupteten, bereit waren, loszuschlagen. Aber der<br />

Zufall wollte, daß die Kommunisten betreffs der Revolution dieselben<br />

Vorurteile wie die Reformisten hatten, so daß das Proletariat von den<br />

einen sowohl als auch von den anderen verraten wurde. <strong>Die</strong> Kommunisten,<br />

die nicht den revolutionären Wert der Besetzung der Fabriken<br />

übersahen, stießen sich an dem Gedanken, daß die Masse wegen mangelnder<br />

militärischer Vorbereitung und der zur Verteidigung nötigen<br />

Waffen nicht stark genug wäre, den Ansturm der Regierungsoffensive<br />

auszuhalten. Und selbst ein Delegierter aus Turin legte diesen Gesichtspunkt<br />

vor der Konferenz des A.G.B. dar. <strong>Die</strong> Besorgnisse der<br />

Kommunisten waren schlecht begründet, die klarsten Tatsachen haben<br />

ihnen ihr Unrecht gezeigt.<br />

Tatsächlich gestand der Arbeitsminister, Herr Labriola (ein ehemaliger<br />

revolutionärer Sozialist, der zu den Reformisten übergegangen<br />

ist), in einem Interview mit Vertretern des Pariser „Matin" ein, daß<br />

es der Regierung unmöglich sei, den Aufstand zu unterdrücken, da er<br />

die Arbeiter für bewaffnet und unbesiegbar hielt. Und der Minister-<br />

Präsident, Herr Giolitti, verfehlte nicht, dem Senate einige Tage nach<br />

dem Rückzug der Arbeiter, als man ihm seine Regierungsschwäche<br />

vorwarf, zu antworten: „Und wenn ich wirklich Waffengewalt angewendet<br />

hätte, wissen Sie denn, in welchen Abgrund das Land gestürzt<br />

wäre?" Er, der das Proletariat kannte, der es in so vielen Schlachten<br />

gesehen hatte und daran seine wirtschaftliche und aufrührerische Kraft,<br />

im Augenblick, wo sich diese Tatsachen ereigneten, maß, konnte das<br />

antworten.


24<br />

ETWAS ÜBER DIE LAGE DER VOLKSBILDUNG IN RUSSLAND<br />

Der Staatsmann war ohnmächtig und reagierte nicht auf die revolutionäre<br />

Woge, die sich brüllend erhob und mit schwindelerregendem<br />

Stoß Thron, Macht, die kapitalistische Gesellschaft mit all ihren Privilegien,<br />

Gesetzen und Ungerechtigkeiten zu verschlingen drohte. Er<br />

wartete auf . . . das Werk des A.G.B. Und er wartete weder lange<br />

noch vergeblich. Denn dieser Sabotageakt des A.G.B. rettete<br />

die Bourgeoisie, die unfähig war, sich zu verteidigen und resigniert auf<br />

die Besiegung wartete, worüber Giolitti sich im Senat erlauben konnte<br />

zu sagen: „Ich vertraute auf den A.G.B. Sie sehen jetzt, daß er mein<br />

Vertrauen zu würdigen gewußt hat."<br />

Tatsächlich hatten die Regierungsmänner und die Bourgeoisie begriffen,<br />

daß keine andere Aktion gegen die Arbeiter, die sich der Ländereien,<br />

der Industrie, der Bergwerke und Transportmittel bemächtigt<br />

hatten, möglich war; sie sahen sich in ihren Festungen gefangen, ohne<br />

Ausweg. Was konnte ihre Polizeimacht gegen mehrere Millionen entschlossener<br />

und bewaffneter Menschen, die zum Freiheitskampf bereit<br />

waren, ausrichten?<br />

<strong>Die</strong>se Ereignisse zeigten, die Grundlosigkeit der Illusion derer, die<br />

da vorgeben, daß man, um die soziale Revolution zu machen, zuerst<br />

den Staat erobern muß, um die Arbeiterregierung zu verkünden. <strong>Die</strong><br />

Lage in Italien hat gezeigt, daß die Regierung ein ohnmächtiges und<br />

unnützes Organ ist, wenn das arbeitende Volk selbst das Steuer der<br />

Gesellschaft ergreift. Wenn es sich der Produktionsmittel bemächtigt,<br />

wird sich die Revolution von unten auf mit der Tendenz, die politische<br />

Maschine des Staates zu zerstÖren, verwirklichen, um alle Wirtschaftlichen<br />

und technischen Kräfte, die dem Leben zugrunde liegen, nutzbar<br />

zu machen. Durch diese Kräfte verwirklicht die Revolution das Ziel<br />

der Arbeiterklasse, welche nicht die Herren wechseln, sondern sich<br />

von jeder Herrschaft befreien will.<br />

Etwas über die Lage der Volksbildung in Rußland.<br />

Von Mark Mratschny, Rußland.<br />

Man muß den Bolschewisten das Kompliment machen, daß sie es sehr<br />

gut verstehen, Eigenreklame zu führen. Im Grunde genommen braucht<br />

uns das wenig zu interessieren. Aber erstens dient diese oftmals<br />

freche Fanfarenreklame bedauerlicherweise zur Verblendung gewisser<br />

Schichten ehrlicher Arbeiter, besonders im Auslande. Und wir meinen,<br />

daß die richtige Aufklärung über die wahre Lage in Rußland unserer<br />

revolutionären Propaganda viel geholfen hätte. Zweitens wird diese<br />

kostspielige Reklame, die von den pfiffigen Vertretern der russischen<br />

Regierung in Europa und Amerika organisiert ist, nicht aus dem Privatbeutel<br />

der Herren Sinowjew, Stalin und Konsorten bezahlt, sondern mit<br />

den noch vom Schweiß der Arbeit feuchten Pfennigen des Arbeiterund<br />

Bauernrußlands. In den letzten Jahren hatten wir Gelegenheit,<br />

nachzuforschen, wieviel Millionen Rubel die zaristische Regierung jähr-


ETWAS UBER DIE LAGE DER VOLKSBILDUNG IN RUSSLAND 25<br />

lich für die große und selbstverständlich käufliche europäische Presse<br />

vergeudet hat, um eine wohlwollende oder wenigstens neutrale Meinung<br />

des übrigen Europa für sich zu gewinnen. In der „Humanité",<br />

dem Zentralorgan der kommunistischen Partei Frankreichs, ist vor<br />

3 Monaten eine ganze Reihe offizieller Dokumente veröffentlicht<br />

worden, die unzweifelhaft bewiesen haben, daß viele große Zeitungen<br />

und mehr oder weniger „ehrenwerte" Journalisten tatsächlich die Zuhälter<br />

der Pogromregierung Nikolais II. waren. Und wir zweifeln<br />

keinen Augenblick daran, daß wir, wenn eine neue Welle der erwachenden<br />

Revolution die jetzigen kommunistischen Alleinherrscher<br />

wegfegen und die geheimen Archive des politischen Büros der Kommunistischen<br />

Partei Rußlands für uns öffnen wird, dann in der Lage sind,<br />

auszurechnen, wieviel Hundert Millionen Goldrubel das arbeitende<br />

Rußland zahlen mußte, damit eine Armee dienstbarer Geister in sämtlichen<br />

Ländern der Welt für das Wohl der Kreml-Regierung arbeite,<br />

ohne den Hals zu wagen und ohne Papier und Tinte zu schonen. Und<br />

dann werden die arbeitenden Massen Rußlands klar sehen, daß sie<br />

auch deshalb ausgebeutet waren, um im Ausland ein vollkommen verkehrtes<br />

Bild der Verhältnisse in Rußland zu schaffen, auch deshalb,<br />

damit einerseits ihre Herrscher die schreckliche Lage der arbeitenden<br />

Massen in den andern kapitalistischen Ländern ausnützen und andererseits<br />

die Geldgier und Herrschsucht mehrerer Journalisten, Anwälte<br />

und anderer Schurken mit Hilfe von Putschen, Zusammenarbeit mit<br />

reaktionären und abenteuerlichen Offizieren benutzen konnten, um<br />

auch in andern Ländern dasselbe Knuten-, Dekret- und Revolverregiment<br />

herzustellen, das in der diplomatischen Sprache der „wissenschaftlichen"<br />

Marxisten „Diktatur des Proletariats" heißt. <strong>Die</strong> Pflicht<br />

eines jeden von uns Kämpfern der Sozialrevolution ist, der gesamten<br />

Arbeiterschaft die Lage in Rußland zu zeigen und die erzrevolutionäre<br />

Maske, hinter der sich oft das finstere Antlitz der zukünftigen Ausbeuter<br />

der arbeitenden Massen versteckt, rücksichtslos herunterzureißen.<br />

<strong>Die</strong> Bolschewisten prahlen oft und gern mit der Schulaufbauarbeit<br />

in Rußland. Es gibt auch so maßlos begeisterte Moskauanhänger, die<br />

es für möglich halten, Moskau als Muster hinzustellen, wenn nur die<br />

Frage der Außenschulbildung, Arbeitsschule usw. berührt wird. Ich<br />

habe vor kurzem auf einer gut besuchten Versammlung der „Entschiedenen<br />

Schulreformer" in Berlin den Vortrag eines deutschen Kommunisten<br />

hÖren müssen, der stundenlang davon sprach, wie großartig<br />

die Volksschule in Rußland sei, wieviel Liebe und Aufmerksamkeit<br />

die kommunistische Oberherrschaft der Schule widme, und wie „Moskau<br />

als Erzieher" unser Vorbild sein kann.<br />

Halten wir es hier für nötig, diese Frage, wenn auch nur kurz,<br />

zu berühren, so tun wir es selbstverständlich nicht, um die bolschewistische<br />

Regierung zu entlarven. <strong>Die</strong>ses Thema würde mehrere Bände<br />

beanspruchen. Auch wenn ich mich darauf beschränken wollte, das<br />

engherzige und engstirnige Schalten und Walten der Bolschewisten<br />

nur auf dem Gebiete der Volksbildung zu beschreiben, so müßte ich<br />

viel mehr Zeit und Raum opfern. Wenn wir nur eine ganz kleine


26<br />

ETWAS ÜBER DIE LAGE DER VOLKSBILDUNG IN RUSSLAND<br />

Tatsache, die Frau Krupskaja (Lenins Frau) in der Moskauer „Prawda"<br />

selbst bestätigt hat, berichten wollen, die Tatsache, daß ein Rundschreiben<br />

unlängst die Beiseiteschaffung schädlicher Bücher aus den<br />

Volksbibliotheken empfiehlt — und zwischen diesen „schädlichen"<br />

Büchern befanden sich einige Werke von Dostojewski, Tolstoi,<br />

Kropotkin, Nietzsche usw. usw. —, so ist diese kleine Tatsache allein,<br />

glaube ich, charakteristisch genug, um die Ausmaße des Gänsegehirns<br />

der Moskauer Diktatoren zu zeigen. Mögen sie! Früher oder später<br />

— hoffentlich früher als später — wird die Welle des Volksaufruhrs<br />

die Bolschewisten wie eine stickige Dunstwolke wegfegen. Uns interessiert<br />

eine andere, hundertmal wichtigere Frage. Wir wissen, daß<br />

die echte Arbeiterrevolution nicht nur in engem Zusammenhange mit<br />

Organisation und Zusammenarbeit der arbeitenden Massen von Stadt<br />

und Land steht, sondern auch mit dem Niveau ihrer Kultur. Unsere<br />

Arbeiterrevolution werden wir Hand- und Kopfarbeiter allein machen;<br />

und deswegen sind wir verpflichtet, möglichst mehr Aufmerksamkeit<br />

der Bestandaufnahme unserer kulturellen Reichtümer zu schenken,<br />

und uns zu bemühen, unser eigenes Niveau und das unserer Arbeitsbrüder<br />

zu erhöhen. Es soll hier auch nebenbei bemerkt werden,<br />

daß wir, ohne in den Sumpf menschewistisch-opportunistischer Kulturträgerei<br />

zu versinken, uns auch von der wohlfeilen, leeren, inhaltlosen,<br />

oft auch schädlichen, „revolutionären" (aber im Grunde genommen<br />

kleinbürgerlichen und reaktionären) Phraseologie der Alles-ZerstÖrer<br />

und Alles-Negierer befreien müssen. Auf unseren Kongressen, den<br />

Kongressen der Land- und Stadtproletarier, müssen wir in erster Linie<br />

die sachliche und genaue Ausarbeitung der Außenschulbildungsfragen<br />

(Bibliotheken, Schulen für Erwachsene, Lesehallen, kulturrevolutionäre<br />

Propaganda), der Frage der Arbeitsschule und unserer gewerkschaftlichen<br />

Ausbildung erörtern. Selbstverständlich werden uns die Machtund<br />

Kapitalsinhaber auf alle mögliche Art und Weise stÖren. Selbstverständlich<br />

wird man uns allerlei Steine in den Weg legen. Aber die<br />

Revolution wird man uns auch nicht zu machen „erlauben". Unsere<br />

Klassenfeinde sind leider schlechte Anhänger der Tolstoi-Ideen. Sie<br />

werden mit Klauen und Zähnen ihre Privilegien, ihre „heiligen"<br />

Rechte auf Besitz und Macht, schützen. Und trotz der erbitterten<br />

Gegenwehr werden wir die Revolution machen, wir werden das Regime<br />

der Ausbeutung des einen durch den andern vernichten. So wollen<br />

wir alle unermüdlich für dieses Ziel, das alle Opfer wert ist, arbeiten,<br />

alle wollen wir uns anstrengen, unsere Kampfmittel zu vervollkommnen.<br />

Jeder von uns soll darauf achten, daß, je niedriger das Niveau der<br />

Geisteskultur und das revolutionäre Bewußtsein ist, unsere Feinde<br />

desto mehr Chancen auf Erfolg haben, und wir desto weiter von<br />

unserm Ziel, der geistigen und sozialen Revolution, entfernt sind.<br />

Betrachten wir jetzt einmal die Lage der Volksbildung in Rußland.<br />

Ich muß hierbei bemerken, daß ich das Material dazu aus der „Prawda",<br />

dem amtlichen Zentralorgan der K.P. Rußlands, entnehme.<br />

<strong>Die</strong> Lage der Volksbildung ist trotz, oder besser gesagt, dank der<br />

unermüdlichen Besorgnis der kommunistischen Regierung, recht jämmerlich.<br />

<strong>Die</strong>, welche für die Volksbildung arbeiten (besonders die


ETWAS ÜBER DIE LAGE DER VOLKSBILDUNG IN RUSSLAND 27<br />

Dorflehrer und diejenigen der Gymnasien und Volksschulen) sind zum<br />

hungern verurteilt. Im Artikel „Ueber den Schullehrer und die Sowjetstenotypistin",<br />

(„Prawda", Nr. 84, 12. IV. 1924) lesen wir: „Ein hochqualifizierter<br />

Pädagoge bekommt weniger als eine Sowjet-Stenotypistin.<br />

Dringende Mittel tun not." Seine Ausführungen belegt der Verfasser<br />

mit einigen Tatsachen. (Man könnte noch viel erschütterndere Tat-<br />

Sachen bringen, aber wir wollen uns damit begnügen, weil wir es in<br />

einer amtlichen Zeitung von einem Parteimitglied geschrieben finden).<br />

„1. Tatsache: Eine ganz einfache Stenotypistin bekommt in einigen<br />

unserer Regierungs-Wirtschaftsanstalten 10—12 Tscherwonjetz (Anm.<br />

d. Red.: 1 Tscherwonjetz = ungefähr 18 Goldmark), ein hochqualifizierter<br />

Pädagoge mit Universitätsbildung, der im Gymnasium unterrichtet,<br />

bekommt 3 Tscherwonjetz. (Anm. der Red. dieses Gehalt bezieht<br />

sich auf den Monat.) 2. Tatsache: Ein praktizierender Ingenieur,<br />

der beispielsweise bei der ehrenwerten Elektrostroi (Anm. d. Red.:<br />

Staatl. Elektrizitätsgesellschaft) angestellt ist, bekommt 50—80 Tscherwonjetz,<br />

und ein Professor der Moskauer Universität, der diesen<br />

Ingenieur vorbereitet hat, bekommt 5—7 Tscherwonjetz monatlich."<br />

Und weiter: „Auf der Delegiertenversammlung der Bildungsarbeiter<br />

des Baumannviertels (Anm. d. Red.: Stadtteil in Moskau) am 3. IV. 24,<br />

hat man nach einem Vortrag des Genossen Popoff, eines Mitglieds<br />

des Moskauer Sowjets, über die Arbeit der Sektion der Moskauer<br />

Staatsabteilung der Volksbildung, demselben einige orginelle Fragezettel<br />

gegeben, die sehr deutlich die Beziehung der Lehrerschaft zur<br />

Lohnfrage charakterisieren. „Weiß denn der Moskauer Sowjet, daß wir<br />

dank dem niedrigen Arbeitslohn schlimmer als das Vieh leben?",<br />

schreibt eine Lehrerin. — „Ich habe dem Domkom (Anm. d. Red.: entspricht<br />

ungefähr dem Mieterrat) drei Bescheinigungen über die Norm<br />

meines Arbeitslohnes vorgelegt, aber der Domkom-Vorsitzende glaubte<br />

mir nicht. Er sagt, er habe nie gehört, daß irgendwo solche Lohnnormen<br />

existierten", so erklärt ein Arbeiter eines Kinderheims unter<br />

allgemeinem Gelächter und Beifall der Versammelten.<br />

Es ist sehr natürlich, daß der jämmerliche Arbeitslohn die Lehrer<br />

dazu zwingt, mehrere Stellungen zu gleicher Zeit anzunehmen. Aber<br />

erstens stört das sehr die Arbeit an und für sich, und zweitens bringt<br />

es einen großen Prozentsatz Lehrererkrankungen mit sich. Ein<br />

Pädagoge, der gezwungen ist, täglich 10—12 akademische Stunden zu<br />

geben, „ist ein Jahr später ein Neurhasteniker; er verliert die Stimme,<br />

wird blutarm und letzten Endes unvermeidlich tuberkulös."<br />

Nachdem uns der Verfasser des obigen Artikels die ganze Lage<br />

geschildert hat, stellt er die Frage: „Wo ist ein Ausweg?" Und er<br />

antwortet: „Es gibt keinen Ausweg." So pessimistisch endet der<br />

Artikel. Und dabei ist zu bemerken, daß so die Lage nicht irgendwo in<br />

der fernen Provinz ist, sondern im „roten" Moskau, einige Schritte vom<br />

Volksbildungs - Kommissariat entfernt, vor der Nase von Herrn<br />

Lunatscharski, dem gelehrten Schwätzer von Volksbildung und dem<br />

Spezialisten in Theaterangelegenheiten. Aber Herr Lunatscharski ist<br />

ein sehr beschäftigter Mensch. Er schreibt und schreibt und schreibt.<br />

Er schreibt Dramen, Komödien und dazwischen Dekrete, hochgelehrte


28 ETWAS ÜBER DIE LAGE DER VOLKSBILDUNG IN RUSSLAND<br />

Beiträge zum Ballett, über kommunistische Hochschulen, über die allweltliche<br />

Diktatur des Proletariats und sonstige wichtige Angelegenheiten.<br />

Unterdessen kann die Lehrerschaft bei dem jetzigen Hundelohn,<br />

abgesehen von geistigen Bedürfnissen, auch die elementarsten<br />

wirtschaftlichen Bedürfnisse nicht befriedigen. Und deshalb ist nach<br />

Mitteilungen aus der „Prawda" eine „Massendesertation" zu bemerken.<br />

Und es desertieren oft sehr talentvolle Lehrer mit langer Berufserfahrung.<br />

<strong>Die</strong> Pädagogen „gehen in andere Berufsvereinigungen über,<br />

sie bekommen Stellungen in Kontoren oder andere Arbeit, sie werden<br />

in Nachhilfelehrer umgewandelt usw. Und so sehen wir uns der<br />

Tatsache wachsender Krisis auf dem Gebiete der Volksbildung<br />

gegenüber."<br />

Ich glaube, daß man über eine Unmenge von Demagogie oder<br />

Naivität verfügen muß, um uns Märchen über die neuen Lehrmethoden<br />

der Arbeitsschule und die proletarische Kultur zu erzählen ..<br />

Noch schlimmer ist die Lage im Dorf. So lesen wir im Artikel von<br />

N. Ponuroff, „Prawda" Nr. 102, 8.V.24: „Dorfschule. Arbeitet sehr<br />

schlecht. Bis jetzt ist ihr noch nicht gelungen, das Wachsen des Analphabetismus<br />

zu verhindern." — <strong>Die</strong> schlechte materielle Lage des<br />

Lehrers bringt den Zerfall der Dorfschule mit sich. „Der Lehrer ist<br />

gezwungen, sich Nebenarbeit zu suchen, zum Nachteil der pädagogischen<br />

Tätigkeit. Er kann sich keine Zeitung oder Zeitschrift<br />

halten noch ein Buch kaufen. Er wird rückständig und stumpfsinnig."<br />

In einem kleinen Artikel von N. Sominski, „Prawda" Nr. 61, 15. III.<br />

1924, „Ueber den Dorflehrer" finden wir eine ganze Reihe interessanter<br />

Tatsachen aus der Inspektion von Gruppen des Arbeiterbildungsvereins<br />

in mehreren Dörfern der Tatarenrepublik: „Vor allem<br />

über die ökonomische Lage der Lehrerschaft. Der Mittellohn beträgt<br />

10 Goldrubel, wird aber mit großen Verspätungen ausgezahlt. So hat<br />

man das Oktobergehalt Ende November bekommen, das Novembergehalt<br />

Anfang Januar, das Dezembergehalt Ende Januar. Und wegen<br />

des Januargehalts hatte man zur Zeit der Inspektion (Ende Februar)<br />

noch keine Ahnung." Man muß beachten, daß die Geldentwertung in<br />

Rußland unaufhaltsam fortschritt, so daß die Lehrer, als sie das Geld<br />

auf dem nächsten Markttag ausgeben konnten, 33% seines Wertes verloren<br />

hatten. Der proletarische Geistesarbeiter im Dorf muß hungrig<br />

dahinvegetieren, in oft schrecklichem Milieu finsterer ländlicher Unwissenheit,<br />

unter der strengen und belästigenden Aufsicht der kommunistischen<br />

Beamtenschaft, ohne Lehrmaterial, und selbst auf ziemlich<br />

niedriger Bildungsstufe stehend. Wir wissen alle, wie schmählich die<br />

Volksbildung unter dem Zarismus in Rußland war. <strong>Die</strong> Dorfschule<br />

und ihr Lehrer waren seine vernachlässigtesten Stiefkinder. <strong>Die</strong><br />

Oktoberrevolution hat viele Millionen im Volke tief aufgerüttelt.<br />

Zweifellos hat auch eine große Umkehr im Volksbildungswesen stattgefunden.<br />

Während meiner Arbeit als Volksbildungs-Instrukteur in<br />

den Jahren 1919—20 in Ural, Sibirien und in der Ukraine habe ich oft<br />

mit innerer Freude festgestellt, wie tief und weitgehend die geistige<br />

Umkehr im Dorfe um sich gegriffen hat, und besonders im Kreise von<br />

den Genossen, die sich um die Ausbildung der Dorfeinwohner verdient


ETWAS ÜBER DIE LAGE DER VOLKSBILDUNG IN RUSSLAND 29<br />

machten. Aber doch sind wir festzustellen gezwungen, daß bis jetzt<br />

noch sehr wenig gemacht worden ist. Und die Dorfschule (im<br />

Bauern rußland ist noch bis heute das Stiefkind. Beispiele<br />

könnte ich viele bieten. Ich werde mich mit einigen begnügen. So<br />

erfahren wir aus dem Artikel von N. Spoliansky, „Prawda" Nr. 102, daß<br />

in Kaluga im Monat April der Lohnfonds der Bildungsarbeiter von<br />

11 500 Rubel auf 3800 Rubel gesunken ist, d. h. auf 67 %, und die Staatsabteilung<br />

für Volksbildung des Gouvernements (Kaluga) vor der Frage<br />

des Massenschulabbaus steht. Ferner: In der Kamuschin-Provinz ist<br />

bestimmt worden, die staatlichen Ausgaben zu vermindern, so daß der<br />

Lohnabbau auf einzelnen Gebieten in folgenden Ziffern zutage tritt:<br />

Verwaltungsapparat, Gesundheits; und Gemeindewesen 25 % Abbau<br />

Polizei<br />

35%<br />

Volksbildung<br />

75%<br />

<strong>Die</strong>se Ziffern zeigen uns am allerdeutlichsten, was unserer Arbeiter-<br />

und Bauernregierung am meisten am Herzen liegt. <strong>Die</strong> Polizei,<br />

die Hüterin der Sowjetordnung, wird nur 35 % abgebaut, und man muß<br />

noch dazu bemerken, daß wir in diesem „unerbittlichen Ausgabenabbau"<br />

nicht den G.P.U.-Abbau (Anmerk. d. Verf.: Kommunistische<br />

Geheimpolizei, Tscheka) vorfinden. N. Spoliansky fährt melancholisch<br />

und ziemlich zurückhaltend fort: „Der Verwaltungsapparat mit<br />

der „Sowjet-Stenotypistin" wird 25 % abgebaut, die Lehrerschaft 75 %.<br />

<strong>Die</strong> Folge dieses Abbaus ist, daß von 500 beamteten Lehrern nur<br />

95 bezahlt werden können, und zwar mit einem Gehalt von 16 Rubeln,<br />

80 Kopeken. Bis 400 im Schulwesen Tätige werden auf die Straße<br />

gesetzt, und man muß dazu bemerken, daß sie Ende des Jahres entlassen<br />

werden, nachdem sie mit kärglichem Lohn doch das Schuljahr<br />

bis zu Ende gearbeitet haben."<br />

„<strong>Die</strong> Lage der Lehrerschaft hat sich faktisch bis jetzt nicht nur<br />

nicht gebessert, sondern sogar verschlimmert." (Unterstrichen in der<br />

„Prawda"!) — Noch eine Tatsache: Ein Telegramm des Vereins für<br />

Bildungswesen in Glasoff (Wotzki-Gebiet) vom 17. April 1924 teilt<br />

mit, daß wegen Geldmangels des Sowjets von Glasoff beschlossen<br />

worden ist, alle Schulen und Bildungsanstalten der Stadt und der benachbarten<br />

Bezirke zu schließen. 300 Schullehrer und Personal sind<br />

entlassen, nur allein die Kinderheime sind geblieben.<br />

Um dieselbe Zeit kann man jetzt auch in den Moskauer Stadtschulen<br />

bemerken, wie die verfluchte Erbschaft der früheren Regierung:<br />

Antisemitismus, religiöser und anderer Aberglauben wieder anfängt,<br />

sich breit zu machen. Der „Kulak" (reicher Bauer nach dem Wörterbuch<br />

der Sowjetpresse) beherrscht allmählich und sicher, wie wir es<br />

in einem anderen Artikel zeigen können, das Dorf. Und wieder werden<br />

die Tonangeber auf dem Lande der Kulak, der Pop und der Schankwirt.<br />

Als Illustration diene dieses kurze aber schauderhafte Telegramm:<br />

„Prawda" Nr. 106: „Krasnojarsk, 10. V. Im Gouvernement von Jenessei<br />

hat die Herstellung von Samogon (Anm. des Verf.: Selbstgebrannter<br />

Kornschnaps) um sich gegriffen. <strong>Die</strong> Polizei hat Tausende von Samogon-Apparaten<br />

beschlagnahmt. Aber das hat die Samogon-Herstellung


30 ETWAS ÜBER DIE LAGE DER VOLKSBILDUNG IN RUSSLAND<br />

nicht vermindert. Nach der Auskunft des Exekutivkomitees des<br />

Sowjet-Gouvernements sind im Gouvernement im Laufe des Jahres<br />

1 Million 800 000 Pud Brot für die Herstellung von Samogon verbraucht<br />

worden. Unter dem Zaren konsumierte man für ungefähr 7 Millionen<br />

Rubel Wodka im Gouvernement. <strong>Die</strong> Samogon-Menge, die jetzt hergestellt<br />

wird, ist ungefähr über 6 Millionen Rubel wert."<br />

Rückständig und unwissend (in Sowjetrußland haben wir, wie<br />

Sinowjew selbst es zugibt, 70 % Analphabeten) durch Samogon benebelt,<br />

vom Kulak und der Kommunistenherrschaft unterjocht, ist<br />

Rußland jetzt wie vor 7 Jahren, vielleicht auch vor 70 Jahren, in<br />

Finsternis befangen.<br />

In der „Prawda" vom 8. Mai 1924 finden wir folgende offenherzigen<br />

Zeilen: „Das Kulturniveau der Arbeiterschaft ist in den letzten Jahren<br />

höher geworden. Das ist eine unbestreitbare Tatsache. Das Kulturs<br />

niveau der Bauern ist in denselben Jahren der Revolution niedriger<br />

geworden. Das ist auch eine Tatsache." (In der „Prawda" unterstrichen.)<br />

Eine schauderhafte Tatsache, wenn wir uns erinnern, daß<br />

wenigstens 85 % der Bevölkerung Rußlands Bauern sind.<br />

Unterdessen schläft die Sowjetregierung nicht. Im Auslande liebäugelt<br />

man mit Mussolini und seinesgleichen, im Inlande wird viel und<br />

langweilig über Lenins geistiges Testament gesprochen. Es wird viel<br />

über die Grundlagen des Leninismus geschrieben, über die Stärkung<br />

des Leninismus in Europa usw. Und zur selben Zeit finden wir in der<br />

„Prawda" Nr. 110, 17. V. 24, daß der Rat der Volkskommissare beschlossen<br />

hat, die Zahl der Studenten in den Hochschulen abzubauen,<br />

und diesen Abbau bis Ende des Schuljahres zu vollziehen — Rußland<br />

war also, ohne es zu wissen, so reich an kulturellen Kräften, daß es sich<br />

den Luxus erlauben kann, höhere Schulen abzubauen! Wir, russische<br />

Arbeiter und Bauern, zahlen für die Herstellung einer starken imperialistischen<br />

sogenannten „roten" Armee. <strong>Die</strong> G.P.U. (kommunistische<br />

Geheimpolizei) verschlingt jährlich auch mehrere Millionen Rubel aus<br />

dem Volkssäckel. Es ist nicht überflüssig, wenn man unterstreicht,<br />

daß die Kommunistische Partei Rußlands, die jetzt über die Bauern und<br />

Arbeiter Rußlands unbegrenzt schaltet und waltet, jährlich große<br />

Geldsummen (die man jetzt noch nicht berechnen kann) zum Zwecke<br />

der Weltrevolution oder, einfacher gesagt, zum Unterhalt eines großen<br />

Heeres tüchtiger Parteibonzen, Putsch-Spezialisten und anderer Vertreter<br />

der Kommunistischen <strong>Internationale</strong> und der Roten Gewerkschaftsinternationale<br />

im Ausland vergeudet. Man kann, ohne zu übertreiben,<br />

behaupten, daß die Mehrheit, wenn nicht alle kommunistischen<br />

Parteien Europas und Amerikas, von Moskau inspiriert, dirigiern und<br />

selbstverständlich unterstützt werden! Das alles sind die ausgebeuteten<br />

Massen Rußlands zu bezahlen gezwungen.<br />

Zur selben Zeit wird die „erste sozialistische Sowjetrepublik der<br />

Welt" buchstäblich von der Menge der Herrscher oben und der großen<br />

Finsternis unten erstickt.<br />

- - -<br />

Wie wir im Anfang unseres unzureichenden und kurzen Beitrages<br />

gesagt haben, waren wir weit entfernt davon, die Bolschewisten zu ent-


ETWAS ÜBER DIE LAGE DER VOLKSBILDUNG IN RUSSLAND 31<br />

larven oder nur zu beschuldigen. Kein einsichtiger Mensch wird<br />

alles Böse, was jetzt in Rußland geschieht, nur auf das Konto der Bolschewisten<br />

schreiben. Selbstverständlich ist die Schuld dieser Partei<br />

groß. Selbstverständlich wird niemals der geistlose Bürokratismus,<br />

das Ersticken der revolutionären Selbstinitiative der Massen, die blutdürstige<br />

Diktatur über das arbeitende Volk verziehen werden können.<br />

Aber um gerecht zu sein, müssen wir auch beachten, daß die Revolution<br />

eine große verfluchte Erbschaft, von den Romanows und der Feudalherrschaft<br />

stammend, angetreten hat. Vieles muß man auch auf die<br />

Rechnung der imperialistischen Kriege setzen. Der bei jeder mehr<br />

oder weniger proletarischen Revolution unvermeidliche Bürgerkrieg<br />

einerseits, die imperialistische Blockade andererseits haben auch vieles<br />

zu dem jetzt in Rußland herrschenden Tohuwabohu beigetragen.<br />

Uns interessiert jetzt nicht die Frage, wer die Schuld trägt, sondern<br />

die Möglichkeiten der zukünftigen sozialen Revolution und ihre<br />

Chancen auf Erfolg. Ohne allzu pessimistisch zu werden, müssen<br />

wir ruhig, sachlich und von allen Seiten die jetzige Lage in Rußland<br />

beleuchten, die objektiven Tatsachen festlegen, gewisse konkrete und<br />

klare Folgerungen ziehen.<br />

1. Folgerung: <strong>Die</strong> schrecklichste Feuerstätte der echten Reaktion<br />

befindet sich nicht in den jämmerlichen Banden der ehemaligen Generäle,<br />

Gutsbesitzer und anderer Pogromleute, auch nicht in der jetzt<br />

herrschenden Kommunistischen Partei Rußlands, sondern in unserer<br />

fast allgemeinen Unwissenheit und Wildheit. Unsere Aufgabe jetzt in<br />

Rußland ist nicht nur der Kampf für die Organisierung des arbeitenden<br />

Volkes, sondern auch die Bekämpfung der Unwissenheit, die uns<br />

schon jahrzehntelang fesselt. Unwissenheit (allgemeine und selbstveständlich<br />

auch politische) ist das beste Mittel zur Unterstützung des<br />

Zarentums, Bolschewismus und dergleichen. Bekämpfen wir die Unwissenheit!<br />

2. Folgerung: Der russische Bildungstätige, der in der Mehrheit ein<br />

echtes Kind des arbeitenden Volkes ist, hat in den letzten Jahren viel<br />

durchgemacht. In dieser Zeit der Revolutionen und Bürgerkriege war<br />

ein großer Teil der Bildungstätigen gezwungen, unter verschiedenartigen<br />

Herrschenden tätig zu sein, z. B. unter Nikolai IL, Kerenski,<br />

Lenin, Skoropadski usw. Am eigenen Leibe haben sie gelernt, daß der<br />

Staat, wie er sich auch nenne, immer Gegner echt freiheitlicher Erziehung<br />

und echt humaner Kultur ist. Für den Staat ist der Lehrer in der<br />

Schule, was der Feldwebel in der Kaserne sein muß: ein pflichtgetreuer<br />

Beamter, der gehorsame Untertanen „züchtet". Zusammen mit den<br />

Stadt- und Landarbeitern müssen auch die intellektuellen Proletarier<br />

zur Ueberzeugung kommen, daß sie ihr ökonomisches und geistiges<br />

Interesse nur durch ihre revolutionären Berufsorganisationen, die ebenso<br />

das kapitalistische Regime wie auch den Staat bekämpfen werden,<br />

schützen können. Wir müssen an der Organisierung der intellektuellen<br />

Proletarier regen Anteil nehmen.<br />

3. Folgerung: Wir müssen unsere größte Aufmerksamkeit auf die<br />

arbeitende Jugend (in der Stadt und besonders auf dem Lande) lenken.<br />

Denn nach der großen Enttäuschung und sehr erklärlichen Apathie und


32 MITTEILUNGEN DES SEKRETARIATS DER I.A.A.<br />

Müdigkeit, die das Absterben der Revolution in Rußland mit sich<br />

gebracht hat, ist die Jugend fast das einzige noch, das die heilige<br />

Begeisterung der Revolution bewahrt hat. Arbeiten wir für die Bewahrung<br />

und Vertiefung dieser Begeisterung. <strong>Die</strong> Jugend muß von<br />

uns aufgeklärt werden, daß der Staat, mag er von Mussolini, Eberl<br />

oder Lenin beherrscht sein, mit Hilfe von Schule, Kaserne und Gefängnis<br />

die Jugend in gehorsame und gehirnlose Untertanen umwandeln<br />

will. Arbeiten wir zusammen mit der Jugend, um sie von der<br />

Vormundschaft des Staates zu befreien! In Gemeinschaft mit uns<br />

Hand- und Kopfarbeitern wird sie für ein neues freiheitliches Leben<br />

kämpfen, in dem Ausbeutung und Unterdrückung nicht mehr bestehen<br />

werden.<br />

Mitteilungen des Sekretariats der I. A. A.<br />

Aufruf<br />

der <strong>Internationale</strong>n Arbeiters<br />

Assoziation an das Welt-<br />

Proletariat.<br />

Zum Tag der 10. Wiederkehr des Kriegsausbruches.<br />

Genossen!<br />

Am 31. Juli sind 10 Jahre verflossen<br />

seit Ausbruch des Weltkrieges. In diesen<br />

10 Jahren haben die Werktätigen aller<br />

Länder und Zungen unsagbar viel gelitten.<br />

Während der 4 Jahre des Weltkrieges<br />

sind gegen 13 Millionen Menschen getötet,<br />

viele Millionen verwundet worden.<br />

Frauen und Kinder im Hinterlande wurden<br />

durch Seuchen und Hungersnöte weggerafft.<br />

<strong>Die</strong> Wunden, die der Weltkrieg dem<br />

Proletariat aller Länder geschlagen hat,<br />

sind heute noch nicht vernarbt, und<br />

schon beginnt der wilde Nationalismus,<br />

der beutegierige Kapitalismus und der unersättliche<br />

Imperialismus aller Länder, zu<br />

neuen Kriegen zu hetzen.<br />

Seit Beendigung des Weltkrieges<br />

haben Europa und die Welt keine Ruhe<br />

gefunden. Der Vertrag von Versailles<br />

bietet keine Friedensgarantie. Er ist ein<br />

Diktat der Siegermächte, ebenso wie der<br />

Friedensvertrag von Brest-Litowsk zwischen<br />

den siegreichen Mittelmächten und<br />

Sowjetrußland oder der Vertrag zu Bukarest<br />

der Triumph der siegreichen Soldateska<br />

gewesen ist. Gerade diese sogenannten<br />

Friedensverträge der kapitalistischen<br />

Staaten sind immer noch Ausgangspunkt<br />

neuer kriegerischer Verwicklungen<br />

gewesen, wie die Besetzung des<br />

Ruhrgebietes und die sich entwickelnde<br />

Revanchestimmung in Deutschland aufs<br />

neue beweisen.<br />

Trotz Verschiebung der Machtverhältnisse<br />

in Europa hat die Welt keine Ruhe<br />

gefunden. <strong>Die</strong> Kriegsrüstungen nehmen<br />

nicht ab, sondern zu. Heute stehen mehr<br />

Soldaten unter Waffen als vor dem Weltkriege.<br />

<strong>Die</strong> Entwicklung der Kriegschemie<br />

in den letzten Jahren hat neue Giftgase<br />

und Explosivstoffe hervorgebracht, die<br />

alle bisherigen Vernichtungsmittel an<br />

Furchtbarkeit weit in den Schatten stellen.<br />

<strong>Die</strong> Rüstungen der Luftflotten nehmen<br />

gigantische Dimensionen an. Alles spitzt<br />

sich zu einem neuen Kriege zu.<br />

Hand in Hand mit der Steigerung<br />

der materiellen Kriegsvorbereitungen geht<br />

die Erstarkung des nationalistischen Geistes<br />

in den einzelnen Ländern. <strong>Die</strong><br />

Niederlage der revolutionären Erhebungen<br />

in Italien und Deutschland, die Hilflosigkeit<br />

des Proletariats und dessen Unfähigkeit,<br />

den Massen zum Sozialismus und<br />

zu sichtbaren Erfolgen und Vorteilen zu<br />

verhelfen, haben einer neuen rechtsradikalen<br />

Bewegung Spielraum gegeben, die<br />

eine große Gefahr für die freiheitliche<br />

Arbeiterbewegung bedeutet. Abenteurerexistenzen,<br />

die der Krieg entwurzelt hat<br />

und die ein Landsknechtsleben weiterführen<br />

wollen, haben sich zu modernen<br />

Freischaren zusammengefunden, die von den<br />

herrschenden Klassen bewaffnet und unterhalten<br />

werden, um die revolutionäre<br />

Arbeiterschaft in Schach zu halten. So<br />

entstand in Italien der Faschismus, in<br />

Deutschland die Bewegung der Deutschvölkischen<br />

Partei, in Spanien die Diktatur<br />

Riveras, in Amerika der Ku-Klux-Klan.


MITTEILUNGEN DES SEKRETARIATS DER I. A. A. 33<br />

<strong>Die</strong> gewaltigen Ereignisse, die 1914<br />

einsetzten, haben uns nicht Freiheit und<br />

Wohlstand gebracht, sondern die Reaktion<br />

gestärkt, den Militarismus vermehrt, die<br />

Lebenshaltung der Arbeiter herabgesetzt.<br />

Der Kapitalismus, der allerdings auch<br />

großen Erschütterungen unterworfen war,<br />

hat sich behauptet, und heute übt er<br />

seine schamlose Ausbeutung rücksichtsloser<br />

aus denn jemals vorher.<br />

Das Werk der revolutionären Arbeiterbewegung<br />

muß es sein, das Proletariat<br />

der ganzen Welt vor einem neuen<br />

Krieg zu retten, der den Untergang der<br />

gesamten Kultur mit sich bringen würde.<br />

<strong>Die</strong> zehnjährige Wiederkehr des<br />

Kriegsausbruches ist als Gedenktag zu<br />

großen Protestaktionen geeignet. Das<br />

Proletariat müßte an diesem Tage in der<br />

ganzen Welt die Arbeit niederlegen, um<br />

durch einen eintägigen Generalstreik zu<br />

zeigen, daß es nicht gewillt ist, sich<br />

für die Interessen des Kapitalismus oder<br />

den Wahnsinn des Nationalismus aufzuopfern.<br />

Leider haben die Führer der reformistischen<br />

Arbeiterbewegung, dieselben, die<br />

während des Weltkrieges die Massen zum<br />

,,Durchhalten" aufforderten und mit den<br />

kriegführenden Mächten ihres Landes<br />

einen Burgfrieden schlossen, in die Antikriegsaktion<br />

einen Keil getrieben und dadurch<br />

die gesamte hoffnungsvolle Bewegung<br />

zur Bedeutungslosigkeit verurteilt.<br />

Der <strong>Internationale</strong> Gewerkschaftsbund,<br />

Sitz Amsterdam, war der Meinung, daß<br />

der Tag des Versailler Vertrages besser<br />

zu Antikriegskundgebungen geeignet sei,<br />

weil nämlich an diesem Tage auch die<br />

Elemente an der Kundgebung teilnehmen<br />

würden, die sich gegen den Versailler<br />

Vertrag wenden. Das sind aber auch die<br />

Militaristen und Nationalisten der Staaten,<br />

die den Krieg verloren haben, die mit<br />

allen Mitteln den Rachekrieg vorbereiten!<br />

Aus Witterungsrücksichten kam man<br />

dann vom Tage des Versailler Vertrags<br />

(November) ab und wählte einen neutralen<br />

Tag im September.<br />

Wie schon so oft vorher haben auch<br />

diesmal wieder die Sozialpatrioten die<br />

Massen entzweit, ihre Kräfte geschwächt<br />

und nationalen Belangen den Vorrang eingeräumt.<br />

Es ist klar, daß nun durch Zersplitterung<br />

der Antikriegskundgebungen<br />

auf den 3. August und 20. September die<br />

Kraft beider Kundgebungen eingedämmt<br />

wurde und der Kampf gegen den Krieg<br />

eine empfindliche Einbuße erlitten hat.<br />

<strong>Die</strong>se Schwächung des internationalen<br />

Kampfes des Proletariats gegen den Krieg<br />

wird noch weiter ausgedehnt durch das<br />

Verhalten der III. Kommunistischen <strong>Internationale</strong><br />

und ihren Ableger, die Rote<br />

Gewerkschaftsinternationale. <strong>Die</strong>se beiden<br />

Körperschaften sind nur Organe für die<br />

Außenpolitik der russischen Regierung.<br />

Keine Regierung kann auf die bewaffnete<br />

Macht und den Krieg als letztes Mittel,<br />

sich zu behaupten, verzichten. Aus diesem<br />

Grunde wenden sich die Moskauer<br />

<strong>Internationale</strong>n nicht gegen den<br />

Krieg schlechthin, sondern nur<br />

gegen den sogenannten imperialistischen<br />

Krieg. Dadurch wird auch der<br />

Teil der revolutionären Arbeiterschaft,<br />

der den Fahnen der Kommunisten folgt,<br />

von dem Kampfe gegen Krieg und Militarismus<br />

abgelenkt.<br />

<strong>Die</strong>se traurige Zersplitterung der<br />

Kräfte des Proletariats aller Länder hat<br />

einen Kräfteverfall des Kampfes gegen<br />

Reaktion und Kriegsgefahr zur Folge.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong> Arbeiter-Assoziation<br />

steht in dieser Lage so gut wie einsam<br />

da in ihrem Kampfe gegen den Militarismus.<br />

Wir können nur noch mit den<br />

Antimilitaristen aller Länder und mit den<br />

gesunden Masseninstinkten rechnen, die<br />

sich uns zuwenden, wenn es eine Entscheidung<br />

gilt. Wir machen jedoch kein<br />

Hehl daraus, daß unsere Kräfte in Europa<br />

nicht zureichen, um das Gesamtproletariat<br />

zu Aktionen zu bringen. Leider<br />

ist der Einfluß der reformistischen Amsterdamer<br />

in Europa noch zu nachhaltig.<br />

Wir rufen die Arbeiterschaft aller Länder<br />

trotzdem auf, am zehnjährigen Gedenktage<br />

des Kriegsausbruches durch Massenaufgebot<br />

ihren Willen kundzutun gegen<br />

jeden neuen Krieg, gegen die<br />

stehenden Heere, gegen jeden<br />

Militarismus.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiter müssen sich prinzipiell<br />

weigern, Kriegsmaterial herzustellen und<br />

jede Waffenerzeugung, welche dem organisierten<br />

Völkermord dienen soll, einstellen.<br />

Sobald ein Krieg droht, müssen<br />

die Grubenarbeiter die Kohlen- und Erzförderung<br />

brachlegen und die Transportarbeiter<br />

die Beförderung von Truppen unterbinden.<br />

Und den Soldaten, den Proletariern<br />

im Waffenrock, gilt es dann zu<br />

sagen, daß sie die Waffen, die man ihnen<br />

in die Hände gibt, vernichten, oder dieselben<br />

gegen diejenigen anwenden, die<br />

sie zur Schlachtbank führen wollen.<br />

Vor allem aber gilt es die Mütter<br />

und Frauen des Volkes zu warnen vor<br />

neuen blutigen Auseinandersetzungen der<br />

Völker, die lediglich den Interessen kleiner<br />

privilegierter Minderheiten zugute kom-


34<br />

MITTEILUNGEN DES SEKRETARIATS ÜEK I. A. A.<br />

men. Wollen sie den Mord ihrer Männer<br />

und Söhne verhindern, so müssen sie<br />

selbst in die Arena steigen und sich in<br />

Massen den Organisatoren und Förderern<br />

des Massenmordes entgegenwerfen.<br />

Krieg dem Kriege! das muß<br />

das Losungswort der Proletarierfrauen<br />

aller Länder werden. Nur unermüdliche<br />

Agitation und Vorbereitung zur Aktion<br />

kann die Welt vor neuen Anschlägen der<br />

Massenmörder und ihrer profitlüsternen<br />

Hintermänner bewahren.<br />

Proletarier! Wir stellen hier noch<br />

einmal vor dem Forum des Weltproletariats<br />

fest, daß die Verantwortung bei<br />

einer neuen Menschenschlächterei auf diejenigen<br />

fällt, die es aus irgendwelchen<br />

Gründen unterlassen, euch aufzurufen<br />

durch die eingreifende Tat, dieses grauenhafte<br />

Unglück zu verhindern; die euch<br />

von diesen Aktionen mit allen ihnen zu<br />

Gebote stehenden Mitteln abzuhalten<br />

suchen.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong> Arbeiter-Assoziation<br />

hat nichts unversucht gelassen und<br />

wird auch in Zukunft alles daransetzen,<br />

um einen neuen Krieg zu verhindern. <strong>Die</strong><br />

Sache des Proletariats aller Länder ist es<br />

unserm Ruf zu folgen und für die Befreiung<br />

durch direkten Einsatz jedes einzelnen<br />

zu kämpfen. Getreu dem Kampfesruf<br />

der I. <strong>Internationale</strong> rufen auch wir<br />

dem Proletariat aller Länder zu:<br />

<strong>Die</strong> Befreiung der Arbeiter-<br />

Schaft muß das Werk der Arbeiter<br />

selbst sein!<br />

<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong> Arbeiter - Assoziation.<br />

An die Organisationen der I.A.A.!<br />

An die Arbeiter aller Länder!<br />

Das Verwaltungsbüro der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter-Assoziation hält es für<br />

seine Pflicht, die ihm angeschlossenen<br />

Organisationen und darüber hinaus die<br />

revolutionäre Arbeiterschaft aller Länder<br />

auf den III. Kongreß der Roten Gewerkschaftsinternationale<br />

aufmerksam zu<br />

machen, der in Moskau abgehalten wurde.<br />

Auf diesem Kongreß wurden Beschlüsse<br />

gefaßt, die der revolutionären Arbeiterbewegung<br />

in allen Ländern zur Gefahr<br />

werden können, wenn wir uns nicht rechtzeitig<br />

dagegen zur Wehr setzen. War die<br />

bisherige Taktik der R.G.I. auf ihrem<br />

I. und II. Kongreß auf den Fang der freiheitlichen<br />

Arbeiterbewegung berechnet, so<br />

hat man auf dem III. Kongreß eine neue<br />

Kursrichtung eingeschlagen: der Anarcho-<br />

Syndikalismus soll auf das schärfste bekämpft<br />

werden.<br />

Daneben sucht man unter der Parole<br />

der „Einheitsfront" eine Annäherung an<br />

die reformistische Arbeiterbewegung und<br />

eine Vereinigung mit den reformistischen<br />

Amsterdamern, die man bisher als Verräter<br />

der Arbeiterbewegung bezeichnete.<br />

<strong>Die</strong> neue Taktik der Roten Gewerkschaftsinternationale<br />

ist also:<br />

Kampf den Anarcho-Syndikalisten<br />

und Vereinigung mit den Reformisten.<br />

Der Kampf gegen den Anarcho-Syndikalismus<br />

ist ein Kampf gegen die I.A.A.<br />

In dem von dem III. Kongreß der R.G.I.<br />

veröffentlichten Aufruf „Gegen den<br />

weißen Terror" entblödet man sich nicht,<br />

die Worte auszusprechen: „Der weiße<br />

Terror findet in den Sozialdemokraten<br />

und auch in den Anarcho-Reformisten<br />

aller Länder treue Verbündete." <strong>Die</strong>s<br />

sagen Leute, die ihre Existenz den Geldern<br />

der russischen Regierung verdanken,<br />

einer Regierung, die im eigenen Lande<br />

einen blutigen Ausrottungskampf führt<br />

gegen jede revolutionäre und sozialistische<br />

Regung, die die Abschlachtung Tausender<br />

Kronstädter Matrosen auf dem Gewissen<br />

hat, die mit dem italienischen Faschismus<br />

Verträge abschließt und den Gesandten<br />

Mussolinis<br />

empfängt.<br />

in Moskau feierlich<br />

Der III. Kongreß der R.G.I. hat<br />

ihren Anhängern vorgeschrieben, auf<br />

welche Weise der revolutionäre Syndikalismus<br />

bekämpft werden soll. Der Spanier<br />

Maurin erklärte, daß „die Erfahrung in<br />

Spanien ihn davon überzeugt habe, daß<br />

der Kampf gegen den Anarcho-Syndikalismus<br />

eine notwendige Vorbedingung sei."<br />

In der Resolution über die Aufgaben<br />

der Anhänger der R.G.I. in den skandinavischen<br />

Ländern heißt es, es sei erforderlich,<br />

„die anarcho-syndikalistischen Führer<br />

zu entlarven, ihren Verrat an der<br />

Sache der Arbeiter aufzudecken und alles<br />

daranzusetzen, um die Leitung der Gewerkschaften<br />

ihren Händen zu entreißen."<br />

Ueber die südamerikanischen Staaten<br />

wird 1<br />

in einer Resolution gesagt, daß dort<br />

„die Anarchisten infolge der aus Frankreich<br />

und Spanien übertragenen syndikalistischen<br />

Traditionen einen dominierenden<br />

Einfluß ausüben. Gegenwärtig jedoch befindet<br />

sich der Anarchismus in einer<br />

inneren Krise. So schufen seine Anhänger<br />

in Erkenntnis der Fruchtlosigkeit ihrer<br />

Bemühungen gemeinsam mit den Gelben<br />

eine Einheitsfront zum Zwecke des<br />

Kampfes gegen den Anschluß an irgend-


MITTEILUNGEN DES SEKRETARIATS DER I. A. A. 35<br />

eine der bestehenden internationalen Gewerkschaftsvereinigungen."<br />

Nachdem unsere Kameraden in verleumderischer<br />

Weise angegriffen werden,<br />

entwirft man einen Plan, wie in Zukunft<br />

mit russischen Regierungsgeldern, die aus<br />

der ausgebeuteten russischen Arbeiterklasse<br />

herausgepreßt werden, in Südamerika<br />

gearbeitet werden soll. In diesem<br />

Plane heißt es: „Der Einfluß der Anarchisten<br />

ist besonders auch darauf zurückzuführen,<br />

weil es keine kommunistische<br />

Presse gibt, wohl aber werden die lateinischen<br />

Länder Amerikas mit anarchistischer<br />

Literatur überschwemmt, die sowohl<br />

in Spanien als auch an Ort und Stelle<br />

selbst herausgegeben wird. In Anbetracht<br />

all dieser Umstände beschließt der<br />

III. Kongreß der R.G.I. folgendes:<br />

„1. <strong>Die</strong> im lateinischen Amerika erscheinende<br />

Presse der Anhänger der<br />

R.G.I. soll qualitativ verbessert, ihre Auflage<br />

vergrößert und nach Bedarf die<br />

Herausgabe neuer Zeitungen und Zeitschriften<br />

vorgesehen werden.<br />

2. Sämtliche Veröffentlichungen der<br />

R.G.I. sollen nach den lateinischen Ländern<br />

Amerikas in spanischer Sprache gesandt<br />

und an Ort und Stelle ein Monatsbulletin<br />

in spanischer Sprache mit einem<br />

den lateinischen Ländern Amerikas gewidmeten<br />

speziellen Teil herausgegeben<br />

werden.<br />

3. Es sollen Anstrengungen gemacht<br />

werden, um den Anschluß der Arbeitsföderation<br />

Perus an die R.G.I. und die<br />

Vereinigung aller Gewerkschaftsorganisationen<br />

Brasiliens in einer nationalen<br />

Arbeitsföderation durchzusetzen.<br />

4. <strong>Die</strong> Tätigkeit unter den Transportarbeitern,<br />

die den Verkehr zwischen<br />

den einzelnen Ländern in der Hand haben,<br />

soll intensiver gestaltet werden, wobei die<br />

Hauptaufmerksamkeit auf die Transportarbeiterverbände<br />

in Vera Cruz und<br />

Buenos Aires zu richten ist."<br />

Kameraden Südamerikas! Man will<br />

durch den rollenden russischen Rubel auch<br />

in eure freiheitliche Arbeiterbewegung<br />

den Zwiespalt und die Korruption hineintragen.<br />

Man wird durch die Leninschen<br />

Methoden des- „V erschweigens der<br />

Wahrheit, der Lüge" und dergleichen<br />

auch die Arbeiterschaft Südamerikas<br />

vor den Wagen des Staatskapitalismus<br />

und des russischen Imperialismus<br />

spannen. Wir sind überzeugt, daß<br />

diese unheilvollen Methoden, die in Rußland<br />

zu einem roten Despotismus und zu<br />

einer vollständigen Knebelung der Arbeiterschaft<br />

führten, die in Europa eine voll-<br />

ständige Zersetzung der Arbeiterbewegung<br />

zur Folge hatten, ein abschreckendes<br />

Beispiel für euch sein werden und ihr der<br />

„neuen Botschaft" eure Herzen und Türen<br />

verschließen werdet.<br />

Was lehrt uns die Taktik der R.G.I.<br />

und was zeitigte sie für Erfolge?<br />

In Deutschland führte der andauernde<br />

Wechsel der Parolen der R.G.I. und der<br />

Kommunistischen <strong>Internationale</strong> zu einer<br />

heillosen Verwirrung der Arbeiterschaft.<br />

Einmal hieß es: Hinein in die reformistischen<br />

Gewerkschaften, dann wieder heraus<br />

aus denselben. Noch vor einem halben<br />

Jahre hieß es: Bildung von Industrieverbänden<br />

außerhalb der Amsterdamer<br />

Zentralgewerkschaften. Es wurden bereits<br />

alle Vorbereitungen für die Neugründung<br />

„kommunistischer Gewerkschaften", die<br />

sich der R.G.I. anschließen sollten, getroffen,<br />

dann aber beschloß der Hohe Rat<br />

zu Moskau anders, und die Arbeiter wurden<br />

wieder zum Kampf um die Aufnahme<br />

in die reformistischen Gewerkschaften<br />

und zur Eroberung derselben zurückgetrieben,<br />

bis sie zuletzt nicht mehr wußten,<br />

was sie überhaupt tun sollten.<br />

In Frankreich war es nicht besser.<br />

Während zuerst gerade durch die<br />

Wühlereien der Moskauer Spaltpilze<br />

die Arbeiterkonföderation gesprengt und<br />

dann auch in die Reihen der unitären<br />

Arbeiterkonföderation durch die Hetze<br />

der Kommunisten ein Riß getrieben<br />

wurde, sollen die Arbeiter, die sich<br />

Moskau angeschlossen haben, jetzt wieder<br />

für eine Vereinigung mit Amsterdam<br />

vorbereitet werden, wie der III. Kongreß<br />

der R.G.I. beschloß. Kein Wunder, daß<br />

die französischen Syndikalisten dieses<br />

widerwärtigen Spieles müde sind und die<br />

gewerkschaftlichen Organisationen verlassen.<br />

In Holland bohrte man derart innerhalb<br />

des revolutionärssyndikalistischen<br />

N.A.S., daß die Anhänger der R.G.I. jede<br />

Tätigkeit der Organisation unmöglich<br />

machten, so daß schließlich eine Spaltung<br />

vollzogen werden mußte. <strong>Die</strong> eine Hälfte<br />

blieb den Grundsätzen des revolutionären<br />

Syndikalismus treu und schloß sich der<br />

I.A.A. an, die andere Hälfte kam vollständig<br />

unter die Kontrolle der Kommunistischen<br />

Partei. Und jetzt soll sie sich vereinen<br />

mit der reformistischen Gewerkschaftsorganisation,<br />

Richtung Amsterdam.<br />

Wohin wir blicken, überall hat die<br />

Taktik der R.G.I. die größten Verwüstungen<br />

innerhalb der Arbeiterbewegung angerichtet.<br />

Und trotz der unerschöpflichen<br />

Geldmittel, die angewendet wurden, um


36 MITTEILUNGEN DES SEKRETARIATS DER I.A.A.<br />

die internationale Arbeiterbewgung zu<br />

kaufen, hat Moskau keinen Erfolg gehabt.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiterschaft beginnt endlich die<br />

Schaukelpolitik Moskaus von sich zu<br />

weisen und wendet sich in immer größeren<br />

Scharen mit Abscheu von den Nutznießern<br />

der russischen Revolution ab. <strong>Die</strong><br />

Moskauer Diktatoren merken, daß es<br />

immer einsamer wird um sie herum, daß<br />

ihr Einfluß schwindet und daß der<br />

Wechselbalg, den sie aus der russischen<br />

Revolution gemacht haben, dem Weltproletariat<br />

keine Begeisterung mehr einflößen<br />

kann.<br />

<strong>Die</strong> Anerkennung Sowjetrußlands von<br />

einer Reihe kapitalistischer Staaten hat<br />

den Arbeitern vollends die Augen geöffnet.<br />

In dieser verzweifelten Situation<br />

griffen die Moskauer Machthaber zu ihrem<br />

letzten Rettungsanker, sie gaben die Parole<br />

heraus: Einigung mit den reformistischen<br />

Amsterdamern. <strong>Die</strong><br />

internationale Linie, die das Exekutivkomitee<br />

der R.G.I. noch vor einem halben<br />

Jahre als die allein richtige Taktik aufgestellt<br />

hat, wurde vollständig über. Bord<br />

geworfen und das direkte Gegenteil gefordert.<br />

Das wurde auch auf dem III. Kongreß<br />

zu Moskau von dem deutschen Delegierten<br />

Schumacher offen ausgesprochen.<br />

Er sagte wörtlich:<br />

„Es wird sich herausstellen, daß die<br />

Massen der revolutionären Gewerk-<br />

Schaftsmitglieder vollständig verwirrt und<br />

kopfscheu gemacht werden. Ich glaube,<br />

wir haben in der revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />

schon allerhand gesündigt<br />

durch Resolutionen und Thesen,<br />

durch Zickzackkurse und Anwendung<br />

von allerlei Einheitsfront."<br />

Ueber die Einheitsresolution mit den<br />

reformistischen Amsterdamern, die der<br />

Kongreß angenommen hat und die einer<br />

Liquidierung der R.G.I. gleichkommt, sagt<br />

derselbe Schumacher:<br />

„Ich erblicke in der hier vorgeschlagenen<br />

Resolution die Liquidierung der R.G.I.<br />

mit all ihren Konsequenzen im nationalen<br />

und internationalen Sinne. Es entsteht<br />

die Frage, ob die R.G.I. jetzt oder zu<br />

einem späteren Zeitpunkt liquidiert werden<br />

soll."<br />

<strong>Die</strong> revolutionären Arbeiter, die bis<br />

heute noch geglaubt haben, durch eine<br />

Vereinigung oder Zusammenarbeit mit<br />

Moskau die Kraft der revolutionären<br />

Arbeiterbewegung zu stärken, werden jetzt<br />

endlich kuriert worden sein. Was wir<br />

von Anfang an behauptet haben, das hat<br />

sich jetzt bewahrheitet: <strong>Die</strong> Rote Gewerkschaftsinternationale<br />

war nichts<br />

anderes als eine Etappe über Moskau nach<br />

Amsterdam. <strong>Die</strong> Wankelmütigkeit der<br />

Moskauer Hampelmänner kannte keine<br />

klare Zielsetzung, ihre Parolen richteten<br />

sich ganz und gar nach den Bedürfnissen<br />

der Außenpolitik der russischen Regierung.<br />

Kameraden! Bald wird der Moskauer<br />

Spuk verflogen sein. Wenn eine Vereinigung<br />

zwischen Moskau und Amsterdam<br />

zustande kommt, dann wird die gesamte<br />

autoritäre Richtung der Arbeiterbewegung<br />

wieder unter einem Hut versammelt<br />

sein, wie es vor dem Weltkriege gewesen<br />

ist. <strong>Die</strong>se Richtung ist eine Fortsetzung<br />

des marxistischen Flügels der ersten <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter-Assoziation. Ihr<br />

gegenüber steht die Fortsetzung des bakuninistischen<br />

Flügels der ersten Intetnationale:<br />

<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong> Arbeiter-Assoziation,<br />

die im Dezember 1922 ins<br />

Leben trat.<br />

Wie in der ersten <strong>Internationale</strong> der<br />

marxistische Zentralismus zu einer Spaltung<br />

der gesamten Bewegung führte, die<br />

Arbeiterschaft zur parlamentarischen<br />

Ohnmacht verdammte und zur Gesetzesgläubigkeit<br />

erzog, so will auch heute der<br />

verderbliche Zentralismus, der in Moskau<br />

bis ins Groteske entwickelt wurde, die<br />

Arbeiterbewegung in seinen Verhängnisvollen<br />

Bannkreis ziehen. Das revolutionäre<br />

Zentrum der Welt liegt heute aber<br />

nicht mehr im bolschewistischen Moskau,<br />

die revolutionären Zentren, die allein den<br />

Sturz des Kapitalismus und eine freie Geseilschaft<br />

herbeiführen können, liegen in<br />

der direkten Aktion der Arbeiterschaft in<br />

den Betrieben, in den Gruben, auf den<br />

Feldern, in den Werkstätten. <strong>Die</strong>se<br />

Aktionskraft wird nur gefördert durch<br />

den Föderalismus, der der freien Initiative<br />

Spielraum gibt. Moskau hat die Revolution<br />

getötet, Moskau will die Arbeiterschaft<br />

dem Reformismus in die Arme<br />

treiben; die <strong>Internationale</strong> Arbeiter-Assoziation<br />

erweckt die revolutionären Traditionen<br />

zu neuem Leben und verkündet den<br />

Kampf gegen jeden Zentralismus und<br />

Reformismus, den Kampf gegen den Kapitalismus<br />

und Staat, für freie Bündnisse<br />

aller Schaffenden.<br />

Das Verwaltungsbüro der <strong>Internationale</strong>n<br />

A rbeiter-Assoziation.


AUS DER INTERNATIONALE DES SYNDIKALISMUS: FRANKREICH 37<br />

Aus der <strong>Internationale</strong> des Syndikalismus.<br />

<strong>Die</strong> gewerkschaftliche Lage.<br />

Von Pierre Besnard, Paris.<br />

<strong>Die</strong> Lage der Gewerkschaften in<br />

Frankreich ist immer noch so verworren<br />

wie vorher. Sie scheint sich eher zu erschweren<br />

als zu verbessern. Und es sind<br />

keineswegs die Beschlüsse des III. Kongrosses<br />

der Roten Gewerkschafts-<strong>Internationale</strong>,<br />

die den Weg der Heilung anbahnen.<br />

<strong>Die</strong> Verwüstungen, welche die Spaltung<br />

im Dezember 1921 angerichtet hat,<br />

wurden durch den Unitarischen Gewerkt<br />

schaftsbund keineswegs beseitigt, sondern<br />

haben seit dem Kongreß in Bourges<br />

den Syndikalismus in Frankreich vollständig<br />

auf den Hund gebracht, und heute<br />

ist der Syndikalismus nur in einigen Departements<br />

und in zwei Industrieföderationen,<br />

und zwar bei den Bauarbeitern<br />

und im Buchgewerbe zu finden.<br />

<strong>Die</strong> heißen Wünsche nach Einheit in<br />

den Arbeitermassen, die Notwendigkeit<br />

für dieselben, tagtäglich gegen ein immer<br />

mächtigeres und kampflustigeres Unternehmertum<br />

unaufhörlich zu kämpfen, die<br />

Wahrnehmung der Ohnmacht der Arbeiterklasse,<br />

-die beklagenswerten Ereignisse<br />

des 11. Januar,-) die eine nachhaltige<br />

Wirkung ausübten, all dies drängte die<br />

Arbeiter dahin, mit allen Mitteln eine Lösung<br />

des Uebels zu erstreben.<br />

So hat sich nun gegenwärtig in den<br />

örtlichen Syndikaten und den Gauverbänden<br />

eine Bewegung herausgebildet, die<br />

sich zum Ziel setzte, auf die Leitungen<br />

der beiden Gewerkschaftsbünde einen<br />

Druck auszuüben für die Verwirklichung<br />

der gewerkschaftlichen Einheit.<br />

<strong>Die</strong>se Bewegung, deren Ziel zu sein<br />

scheint, selbständige syndikalistische<br />

Aktionszentren zu bilden, droht die beiden<br />

Gewerkschaftsbünde zu zersetzen.<br />

Wir sehen diese Bewegung bei den Eisenbahnern<br />

in Nord-Frankreich sowohl in<br />

der alten C.G.T. als auch in der C.G.T.U.,<br />

wo sie den Beschluß gefaßt haben, aus<br />

beiden Zentralorganisationen auszutreten,<br />

wenn bis zum 15. Oktober die gewerkschaftlichc<br />

Einheit nicht hergstellt ist. In<br />

-) Am 11. Januar 1924 wurden 2 Syndikalisten<br />

in einer Versammlung der<br />

Kommunistischen Partei in Paris von den<br />

aufgehetzten Moskauanhängern erschossen.<br />

Anm. d. Red.<br />

FRANKREICH.<br />

der Bretagne haben 25 Gewerkschaftsverbände<br />

beschlossen, sich offen gegen die<br />

C.G.T.U. aufzulehnen wegen der Vergewaltigung<br />

der Statuten. An der Rhone<br />

haben die Kommunisten einen Konflikt in<br />

der bisher am stärksten entwickelten Metallarbeiterföderation<br />

heraufbeschworen.<br />

Ueberall also gibt es Krach, der sich<br />

immer weiter ausbreitet.<br />

Niemand kann voraussagen, was für<br />

Folgen dieser Stand der Dinge haben<br />

wird. Es ist wahrscheinlich, daß neue<br />

Verhandlungen einsetzen werden mit dem<br />

Ziele, die Einheit auf der Grundlage der<br />

Unabhängigkeit und Selbständigkeit des<br />

Syndikalismus zu verwirklichen.<br />

Man möge noch so heiß von dem<br />

Wunsche beseelt sein, daß es zu einer<br />

solchen Einheit komme, wahrscheinlich<br />

aber ist, daß dieser Wunsch nicht so bald<br />

in Erfüllung geht.<br />

Wenn die gegenwärtigen Diskussionen<br />

in dieser Angelegenheit zu keinem<br />

Ergebnis führen, dann wird die gewerkschaftliche<br />

Einheit in Frankreich wohl<br />

niemals zustande kommen.<br />

Es bleibt dann nichts anderes übrig,<br />

als noch ein letztes Mal die Frage von<br />

Grund auf zu erörtern, und wenn man<br />

nicht das vollständige und endgültige Verschwinden<br />

des Syndikalismus in diesem<br />

Lande will, dann muß man sich beeilen,<br />

die zerstreuten Reste zu sammeln, ihnen<br />

Leben einzuflößen, ihre Tätigkeit zusammenzufassen,<br />

mit einem Worte in Frankreich<br />

eine syndikalistische Bewegung neu<br />

zu gründen und ihr als Grundlage ein positives<br />

und praktisches Aktionsprogramm<br />

zu geben und gleichzeitig revolutionäre<br />

Vorbereitungen zu treffen.<br />

<strong>Die</strong> Minorität hat sich übrigens an<br />

diese Aufgabe mutig heran gewagt und<br />

ihre Anstrengungen haben bereits die<br />

besten Ergebnisse gezeitigt.<br />

Der Zeitpunkt weittragender Beschlüsse<br />

nähert sich und es muß ohne<br />

Zaudern eine Lösung getroffen werden, die<br />

die Ereignisse gebieten und die die Verteidigung<br />

der Arbeiter notwendig macht.<br />

Es ist notwendig, die Entwicklung der<br />

zweiten Krise der französischen Gewerkschaftsbewegung<br />

aufmerksam und aus der<br />

Nähe zu verfolgen; es würde hingegen zu<br />

nichts führen, vor der Zeit ein endgültiges<br />

Urteil zu fällen darüber, was in einer<br />

nahen Zukunft getan werden soll.


38<br />

<strong>Die</strong> gegenwärtige Lage der anarcho-syndikaustischen<br />

Arbeiterföderation in Spanien.<br />

Von J. P e i r o s , Spanien.<br />

Ehrlich gestanden: <strong>Die</strong> Angriffskräfte<br />

der anarcho-syndikalistischen Arbeiterföderation<br />

in Spanien sind in unmittelbarer<br />

Gegenwart fast vollständig lahmgelegt.<br />

Wohlgemerkt, nur die Angriffsmöglichkeiten<br />

sind zurzeit nicht gegeben.<br />

Denn nichts ist irriger, als die selbsttrügerische<br />

Einbildung der herrschenden<br />

Mächte und Träger des kapitalistischen<br />

Systems in Spanien, die organisatorische<br />

und geistige Triebkraft des wirklich revolutionären<br />

spanischen Arbeitervolks sei<br />

gebrochen. <strong>Die</strong> Reaktionäre aller Schattierungen<br />

Spaniens (die übrigens von gewissen<br />

Sozialdemokraten und Parteikommunisten<br />

in verblendeter Kurzsichtigkeit,<br />

gegebenen Falles auch durch schnöden<br />

Verrat, unterstützt werden) versuchen<br />

zwar mit allen Mitteln ihrer unsauberen<br />

Demagogie, die weitere Oeffentlichkeit<br />

glauben zu machen, die Gefahr des<br />

Anarcho-Syndikalismus existiere nicht<br />

mehr. Sowohl die Demagogen selbst, wie<br />

ihre Gläubigen im Lager der Parteipolitiker<br />

und des satten Bürgertums werden<br />

in absehbarer Zeit ein böses Erwachen erleben.<br />

Das steht für jeden nüchternen Beobachter<br />

fest, der nur einigermaßen mit<br />

den Ueberlieferungen des revolutionären<br />

spanischen Proletariats vertraut ist<br />

<strong>Die</strong> scheinbare Ruhe in Spanien muß<br />

man sich aus den barbarischen Unterdrückungsmaßnahmen<br />

erklären, denen das<br />

revolutionäre Spanien im Laufe der letzten<br />

sechs Jahre ausgesetzt war. Sie verfolgten<br />

das ausgesprochene Ziel, die anarcho-syndikalistischen<br />

Arbeiterorganisationen zu<br />

vernichten. Weder die Sozialdemokraten<br />

noch die Parteikommunisten haben jene<br />

brutalen Konsequenzen zu spüren bekommen.<br />

In diesen Kreisen hat man auch<br />

nicht im entferntesten die Schmerzen und<br />

die Trauer mitempfunden und geteilt, wie<br />

sie von einem blutigen Drama zum andern<br />

im Lager der Anarcho-Syndikalisten aufgewühlt<br />

wurden.<br />

Kann man also darüber erstaunt sein,<br />

wenn wir aufrichtig zugeben müssen, daß<br />

die Triebkräfte unserer Arbeiterföderationen<br />

gegenwärtig keine aktive Tätigkeit<br />

zu entwickeln vermögen?<br />

Und doch: jener Sieg der reaktionären<br />

Mächte Spaniens über die am äußersten<br />

vorgeschobenen Posten der spanischen Arbeiterbewegung<br />

kämpfenden Anarcho-Syndikalisten<br />

war ein Pyrrhussieg, der den<br />

SPANIEN<br />

SPANIEN.<br />

angstbeklommenen „Siegern", wie ihren<br />

unnatürlichen Helfern, den Sozialdemokraten<br />

und Parteikommunisten, bald<br />

sauer genug aufstoßen dürfte.<br />

Eine kleine Auslese schwerwiegender<br />

Umstände und infamer Hilfsmittel mag<br />

dem Leser zeigen, wie jener Pyrrhussieg<br />

zustande kam. Zunächst eine Gesetzgebung,<br />

die der Regierung gestattet, ohne<br />

Rücksicht auf konstitutionelle Garantien<br />

jeden Bewohner des Landes, der dem herrschenden<br />

System unbequem wird, kurzerhand<br />

zu verhaften.<br />

Jeder Esel, außer den spanischen Gewalthabern,<br />

wird zugeben, daß man mittels<br />

solchen Gesetzleins nebst obligater<br />

Skrupellosigkeit ein ganzes Volk in zwei<br />

Hälften spalten kann, nämlich eine Minderheit,<br />

die lieber den Nacken bricht als<br />

ihn beugt und eine Mehrheit, die aus<br />

Klugheitsrücksichten scheinbar nachgibt,<br />

um unter günstigeren Verhältnissen mit<br />

verdoppelter Wucht gegen das verhaßte<br />

Gewaltregiment Sturm zu laufen. Während<br />

der Auswirkungen jenes Gesetzes in<br />

der hemmungslosesten Gewaltperiode vom<br />

November 1922 bis September 1923 war<br />

denn auch nichts anderes zu erwarten, als<br />

daß die Mehrheit in den revolutionären<br />

Arbeiterbünden an aktiver Betätigung die<br />

schwerste Einbuße erlitt.<br />

Um diese herrlichen sozialrevolutionären<br />

Organisationsgebilde vollends zu<br />

vernichten, formierten zu dieser Zeit die<br />

Aasgeier jeder bürgerlichen Gewaltherrschaft,<br />

die weißen Terroristen, ihre Horden<br />

in dem kindlichen Unterfangen, durch<br />

die feige Ermordung eines allerdings hervorragend<br />

fähigen spanischen Anarchisten<br />

dem Anarcho-Syndikalismus den Rest zu<br />

geben. Einer der begabtesten Vorkämpfer<br />

und klarsten Denker des spanischen Anarchismus,<br />

unser unvergeßlicher Kamerad<br />

Salvador Segui, fiel jenen Eintagsfliegen<br />

im Entwicklungsleben des spanischen Völkerfortschritts<br />

zum Opfer.<br />

Indes, weder der weiße Terror noch<br />

sein Nährvater und Schutzpatron, der spanische<br />

Staat und seine Kreaturen, vermochten<br />

die Glut der Empörung und Begeisterung<br />

in den Schädeln der Anarcho-<br />

Syndikalisten zu ersticken.<br />

Angesichts dieser namenlosen Kräfte<br />

des spanischen Proletariats erschien es als<br />

eine groteske Komödie, als die militarischen<br />

Machthaber sich anschickten, die<br />

Vernichtung des spanischen Anarcho-<br />

Syndikalismus dem reaktionären Bürgertum<br />

auch noch durch mancherlei militärdespotische<br />

Maßnahmen zu „beweisen".


Führer in diesem unsterblich lächerlichen<br />

Beweisverfahren war eine Militärgröße,<br />

die auf den Namen Primo de Rivers hört.<br />

<strong>Die</strong>ser Operettenheld kleinsten Kalibers<br />

verhaftete unter den Verkehrsarbeitern<br />

Barcelonas ebenso zahlreich wie nachtwächterweise<br />

drauf los und glaubte allen<br />

Ernstes, das ganze Verkehrsleben dadurch<br />

vor dem anarcho-syndikalistischen Propagandagist<br />

zu retten, daß er die ganze Besatzung<br />

der Hauptstadt Cataloniens, wie<br />

die Angehörigen der Polizei an die Arbeitsplätze<br />

der Verkehrsarbeiter in Barcelona<br />

kommandierte. Gleichzeitig gab ihm<br />

die Desertion eines Soldaten die willkommene<br />

Veranlassung, äußerst geräuschvoll<br />

einen militärischen Prozeß zu inszenieren,<br />

in den eine große Anzahl unserer Genossen<br />

verwickelt wurden.<br />

Mit diesen und ähnlichen Maßnahmen<br />

wuchs gleichzeitig Schritt für Schritt das<br />

Vertrauen breiter Massen zu unseren Organisationen<br />

und unserer Auffassung vom<br />

Klassenkampf des Proletariats. Oberflächenmenschen,<br />

die gewohnt sind, das<br />

Vertrauen und den Einfluß revolutionärer<br />

Kampforganisationen lediglich nach ihren<br />

Mitgliederziffern zu bemessen, werden<br />

natürlich nicht begreifen und verstehen,<br />

daß während der Staatsstreichperiode in<br />

Barcelona die gesamte Opposition Cataloniens<br />

ihre Durchgeistigung, Begründung<br />

und Argumente aus den Arsenalen der<br />

AnarchosSyndikalisten bezogen, weil aus<br />

den verwaschenen Programmen und taktischen<br />

Kampfplänen der Parteipolitiker<br />

schlechterdings für den spanischen Arbeiter<br />

weder zeitgemäße Ideen noch durchschlagende<br />

praktische Kampfmethoden bezogen<br />

werden konnten.<br />

<strong>Die</strong>. permanenten Unterdrückungsmaßnahmen<br />

gegen alle mit der Propaganda,<br />

den Organisationen und der Tätigkeit<br />

der Anarcho-Syndikalisten in Verbindung<br />

stehenden spanischen Arbeitern<br />

weisen zwar gegenwärtig nicht mehr jene<br />

Akte der Grausamkeit auf, wie sie während<br />

der letzten Jahre durchweg in diesem<br />

Lande verübt wurden. Aber sie sind<br />

skrupelloser und mannigfaltiger geworden<br />

und werden zudem mit einer Zähigkeit<br />

und Beharrlichkeit durchgeführt, daß die<br />

Arbeit in den und für die Organisationen<br />

nur unter größten persönlichen Opfern gefördert<br />

werden und ein rasches Aufblühen<br />

bis zur alten Stärke für die allernächste<br />

Zeit nicht erwartet werden kann.<br />

Neben den Unterdrückungsmaßnahmen<br />

militärischer und polizeilicher Natur<br />

haben sich in letzter Zeit noch solche<br />

moralischer Natur herausgebildet, die<br />

SPANIEN 39<br />

wohl zu den schäbigsten gehÖren, die je<br />

innerhalb der Arbeiterbewegung zur Anwendung<br />

gelangten.<br />

Weil die Grundsätze und Kampfmethoden<br />

der Anarcho-Syndikalisten unangreifbar<br />

sind und deshalb von parteipolitischen<br />

und gewerkschaftlichen Reformgeistern<br />

ständig als geistige Nährquellen<br />

benützt werden, muß die persönliche<br />

Verunglimpfung der an exponiertesten<br />

Stellen tätigen Genossen dazu herhalten,<br />

die unwiderstehliche Anziehungskraft<br />

der anarchistisch^syndikalistischen<br />

Ideen und Kampfmethoden herabzumindern.<br />

Auf diesem Felde niedrigster Gehässigkeit<br />

arbeiten Staatsorgane und Parteikommunisten<br />

mit dem gleichen geifernden<br />

Eifer. Den Staatsstreich, unter dem<br />

die Anarcho-Syndikalisten blutig zu leiden<br />

hatten, haben die Parteikommunisten mitverschuldet.<br />

Sie mögen sich darauf etwas<br />

zugute tun, treu zu den von Moskau ausgegebenen<br />

Parolen und Verfügungen zu<br />

stehen. In ihrem Verhalten gegenüber den<br />

Aktionen der Anarcho-Syndikalisten betätigen<br />

sie sich oft verräterisch und leisten<br />

der Unterdrückung in jeder Gestalt direkt<br />

Vorschub. Militärgewaltige und Kapitalisten<br />

sprechen den Anarchisten und dem<br />

Anarchismus jedes ethische Empfinden<br />

und jeden ethischen Gehalt ab. Genau<br />

dasselbe, vielleicht nur noch mit gewöhnlicheren<br />

Mitteln und Formen, praktizieren<br />

die Parteikommunisten. Befleißigten sich<br />

früher die Moskauer Führer eines anständigen<br />

Benehmens uns gegenüber, so<br />

betätigen sie jetzt das Gegenteil und<br />

schämen sich nicht, wahre unterirdische<br />

Feldzüge gegen uns und unsere Genossen<br />

in Szene zu setzen. In offener Aussprache<br />

Rede und Antwort stehen, dazu lassen<br />

sich weder die Parteikommunisten noch<br />

Sozialdemokraten noch sogenannte Freidenker,<br />

geschweige denn katholisch-religiöse<br />

Hirnverkleisterer herbei.<br />

Indes, wie schon wiederholt betont<br />

und nachgewiesen, die geistigen Kräfte<br />

des AnarchosSyndikalismus sind in Spanien<br />

wirksam und nicht umzubringen.<br />

Sie ziehen in der Erkenntnis der spanischen<br />

Arbeiterschaft immer weitere Kreise<br />

und wegen dieser zuversichtlichen Tatsache<br />

werden in nächster Zukunft die<br />

staatlichen Machthaber und Parteipolitiker<br />

die schwersten Enttäuschungen erleben,<br />

die ihnen während einer längeren oder<br />

kürzeren Lebenslaufbahn beschieden<br />

waren. <strong>Die</strong> Tage der Diktatur eines Primo<br />

de Rivera sind im Buch der Entwicklungsgesetze<br />

bereits gezählt. Wenn auch die<br />

Blutströme aus dem Körper des spani-


40<br />

schen Anarcho-Syndikalismus der letzten<br />

Jahre uns und unsere Aktionen in die<br />

Reserve zwingen, die Zeit ist nicht mehr<br />

ferne, in der der Geist des Anarcho-Syndikalismus<br />

die spanischen Arbeitermassen<br />

in gewaltigem Aufbäumen gegen jede Gewalt<br />

und jeden parteipolitischen Betrug<br />

zum Kampfe führen wird.<br />

Holländischer Brief.<br />

Von W. A. Walraven, Amsterdam.<br />

Kamerad Lansink schrieb in Nr. 1 der<br />

„<strong>Internationale</strong>" über „<strong>Die</strong> Spaltung der revolutionären<br />

Gewerkschaften in Holland".<br />

Zur Information der ausländischen Kameraden<br />

folgt hier einiges über die heutigen<br />

Verhältnisse in der holländischen<br />

Bewegung. Von den sechs Gewerkschaftszentralen<br />

sind die sozialdemokratische<br />

und die katholische die größten.<br />

Neutrale und christliche sowohl wie Moskowiter<br />

und Syndikalisten bleiben dagegen<br />

weit in der Minorität.<br />

<strong>Die</strong> Konfessionellen sind aber von<br />

vornherein Feinde der revolutionären Arbeiterbewegung<br />

und die Tatsache, daß<br />

wir heutzutage mit einer „christlichen"<br />

Regierung gesegnet sind und die Führer<br />

der konfessionellen Organisationen sich<br />

verpflichtet fühlen, diese Regierung in<br />

ihrem arbeiterfeindlichen Streben zu unterstützen,<br />

betont ihre Feindschaft noch<br />

schärfer. Als es z\ B. der Regierung gelungen<br />

war, das Arbeitsgesetz umzuändern,<br />

wodurch die Arbeitgeber das Recht<br />

bekamen, länger arbeiten zu lassen, waren<br />

sie die ersten, die sich dem veränderten<br />

gesetzlichen Zustand fügten und<br />

in die verlängerte Arbeitszeit einwilligten.<br />

Je nachdem der Klassenkampf schärfer<br />

geführt wird, treten sie unverschämter<br />

auf als Handlanger der Reaktion. Das<br />

erfuhren die kämpfenden Textilarbeiter.<br />

Vielleicht weiß man im Auslande, daß in<br />

Twente, dem wichtigsten Gebiet der<br />

Textilindustrie von Holland, von Oktober<br />

1923 bis Juli 1924 ungefähr 20 000 Arbeiter<br />

einen scharfen Kampf führten.<br />

<strong>Die</strong> Arbeitgeber begründeten ihre<br />

Forderung der verlängerten Arbeitszeit<br />

mit dem Hinweis auf die internationale<br />

Konkurrenz. Als die Arbeiterorganisationen<br />

nicht geneigt waren,<br />

sich diesem Verlangen der Industriellen<br />

zu fügen, setzten diese Herren den<br />

Lohn mit 10% herab, in der Erwartung,<br />

HOLLAND<br />

HOLLAND.<br />

Dann wird sich auch das Schicksal<br />

derjenigen Mächte entscheiden, in deren<br />

Hirnen und Systemen rohe Gewalt und<br />

Blutvergießen als ewige Herrscher und<br />

Sieger über den Fortschritt jeglicher höheren<br />

Kultur und humanitären Menschenliebe<br />

erscheinen. Dann wird der Sieg sich<br />

auf unsere Fahnen heften.<br />

daß, wenn dieser Angriff Erfolg haben<br />

würde, die Arbeiter selbst schon darum<br />

ersuchen würden, länger arbeiten zu<br />

dürfen.<br />

Als Folge dieser Lohnerniedrigung<br />

legten die Arbeiter auf einer Fabrik in<br />

Enschede die Arbeit nieder, worauf die<br />

Fabrikanten mit einer Aussperrung antworteten.<br />

Nachdem Streik und Aus-<br />

Sperrung ungefähr fünf Monate gedauert<br />

hatten, gelang es dem Reichsschlichter,<br />

mit den konfessionellen Organisationen<br />

und den Fabrikanten eine Einigung zu erzielen;<br />

die Lohnherabsetzung sollte von<br />

10 % zu 7½ % zurückgebracht werden<br />

unter der Bedingung, daß die Arbeiter<br />

130 Stunden Ueberarbeit im Jahre leisten<br />

würden.<br />

<strong>Die</strong> konfessionellen Führer gaben<br />

daraufhin die Parole der Arbeitsaufnahme<br />

aus. Dank der unermüdlichen Agitation<br />

der syndikalistischen Textilarbeiter-Föderation<br />

zeigten sich die Arbeiter nicht geneigt,<br />

unter diesen Bedingungen wieder<br />

in die Fabriken hineingehen, und die sozialdemokratischen<br />

Führer, die während<br />

der Aussperrung eng mit den Christlichen<br />

zusammenarbeiteten und eine 5%ige<br />

Lohnherabsetzung bereit waren anzunehmen,<br />

mußten dem Druck der Arbeiter<br />

nachgeben und erklärten sich gegen jede<br />

Lohnherabsetzung sowie für Weiterführung<br />

des Kampfes.<br />

<strong>Die</strong> Polizei und die militärische Besetzung<br />

in Enschede ist verstärkt worden,<br />

die Konfessionellen versuchten mit allen<br />

Mitteln, ihre Mitglieder wieder in die Fabriken<br />

zu bekommen, aber nur ein kleiner<br />

Teil der Arbeiter hat der verräterischen<br />

Aufforderung dieser Führer Folge geleistet.<br />

- -<br />

-<br />

Dennoch lassen wir uns nicht durch<br />

die Haltung der sozialdemokratischen<br />

Führer verführen. Ihre Taktik ist zu durchsichtig<br />

und bezweckt nur die Vergrößerung<br />

ihrer Mitgliederzahl. Ihre Haltung<br />

in Twente, wo sie nach vielem hin und<br />

her endlich den Standpunkt einnahmen:


keine Lohnherabsetzung, hebt sich scharf<br />

ab gegen ihr Auftreten, wo es sich um<br />

Arbeiter handelt im <strong>Die</strong>nst von Gemeinden,<br />

wo die Sozialdemokraten mit die<br />

Verantwortung für die Verwaltung tragen.<br />

Hier zeigt sich in aller Deutlichkeit, wie<br />

notwendig es ist, daß die Gewerkschaft<br />

selbständig auftritt, frei von politisch-<br />

parlamentarischen Parteien. Was ist der<br />

Fall?<br />

Der Magistrat der Gemeinde Amsterdam<br />

besteht aus dem Bürgermeister und<br />

sechs Stadträten, von denen drei zur Sozialdemokratie<br />

gehÖren, und so wie die<br />

Regierung diejenigen behandelt, die im<br />

Reichsdienst sind, nämlich Lohnherabsetzung<br />

einführt, so handelt auch die „Regierung"<br />

von Amsterdam. <strong>Die</strong> Vorschläge<br />

zur Herabsetzung des Lohnes werden<br />

aber nur dann im Stadtrat behandelt,<br />

wenn es unmöglich ist, in der „Schlichtungskommission"<br />

— in denen Vertreter<br />

des Magistrats und der Gewerkschaften<br />

Sitzung haben — eine Einigung zu erzielen.<br />

Es ist nun interessant zu beobachten,<br />

wie die sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer<br />

ihr möglichstes tun,<br />

um ihre Mitglieder zu veranlassen, die<br />

Arbeitsverschlechterungen, die in der<br />

Kommission besprochen worden sind, anzunehmen,<br />

um damit vorzubeugen, daß<br />

ihre Parteigenossen im Stadtrat genötigt<br />

sind, öffentlich die Herabsetzung der<br />

Löhne verteidigen zu müssen. <strong>Die</strong> Bundesgemeinschaft<br />

mit der Sozialdemokratischen<br />

Partei ist es, die die Führer der<br />

Arbeiter zum Verrat an den Interessen<br />

ihrer Mitglieder zwingt. Das ist die Bestätigung<br />

in der Praxis von der Richtigkeit<br />

unseres Standpunkts.<br />

- -<br />

-<br />

Es ist von Interesse einiges mitzuteilen<br />

über den Kongreß der K.P., der vor<br />

einigen Monaten in Rotterdam stattfand.<br />

Zwei Punkte der Tagesordnung ziehen<br />

unsere Aufmerksamkeit besonders an,<br />

nämlich die Maßnahmen gegen die Opposition<br />

in der Partei und der Standpunkt<br />

der Partei gegenüber der Gewerk-<br />

Schaftsbewegung. <strong>Die</strong> Opposition fand<br />

die offizielle Führung zu reformistisch.<br />

Nach ihrer Meinung hätte die Zentrale<br />

eine andere Taktik einschlagen müssen<br />

hinsichtlich der deutschen Revolution, der<br />

Gewerkschaftspolitik und der Kolonialpolitik<br />

der Regierung. <strong>Die</strong> Opposition<br />

war ziemlich fest organisiert und hatte<br />

sogar einen Vertreter nach der Exekutive<br />

in Moskau gesandt, um dort ihre Beschwerden<br />

gegen die Parteileitung auseinanderzusetzen.<br />

Ebenfalls war ein Ver-<br />

HOLLAND 41<br />

treter des Parteivorstandes nach dem<br />

„roten Mekka" gezogen um die Exekutive<br />

zu informieren.<br />

<strong>Die</strong> Exekutive der K.I. hatte ihre<br />

Meinung über den „Bruderstreit" in einem<br />

ausführlichen Brief niedergelegt, der auf<br />

dem Kongreß vorgelesen wurde. Und<br />

beide Strömungen, Zentrale und Opposition,<br />

fanden diesen Brief als eine Perle<br />

bolschewistischer Staatskunst, denn beide<br />

behaupteten, daß die Exekutive nach dem<br />

Brief ihnen Recht gäbe. Nachdem man<br />

sich gegenseitig verhöhnt und ausgeschimpft<br />

hatte, kam unter dem Druck<br />

Moskaus ein Kompromiß zustande. <strong>Die</strong><br />

Opposition bekam einige Stellen in der<br />

Zentrale, man sang zusammen die <strong>Internationale</strong><br />

und die Vorstellung war zu<br />

Ende.<br />

Was ist hierzu zu bemerken? Folgendes:<br />

daß die Partei, die stets von<br />

Zellenbau in anderen Organisationen<br />

spricht, um auf diese Weise die Organisationen<br />

zu erobern, sofort mit Ausschluß-<br />

Anträgen kommt, wenn die Opposition<br />

in den eigenen Reihen zur Fraktionsbildung<br />

übergeht. Dann erheben sie ein<br />

furchtbares Geschrei.<br />

<strong>Die</strong> Diskussion über das Verhältnis<br />

der Partei zur Gewerkschaftsbewegung<br />

und speziell zum moskowitischen N.A.S.<br />

(Nationalen Arbeits-Sekretariat) war ein<br />

trauriges Schauspiel. Der Parteivorstand<br />

meinte, daß die Kommunisten „ganz im<br />

Geiste Moskaus" in den Massen-Organisationen<br />

arbeiten müßten, d. h. in den<br />

gelben, reformistischen Gewerkschaften.<br />

Kommunisten, die Mitglied einer Gewerkschaft<br />

seien, die dem <strong>Internationale</strong>n Gewerkschaftsbund<br />

(Amsterdam) angeschlossen<br />

ist, sollten nicht austreten, um zum<br />

N.A.S. (bolschewistische Gewerkschafts-<br />

Organisation) überzutreten, sondern in den<br />

sozialdemokratischen Gewerkschaften<br />

bleiben und dort an der Einheitsfront<br />

arbeiten.<br />

Das N.A.S. mit seinen 14 000 Mitgliedern<br />

hätte keine Bedeutung mehr und<br />

sollte nur zerstört werden. Leider gibt<br />

es ein halbes Dutzend Kommunisten, die<br />

als angestellte Vorstandsmitglieder des<br />

N.A.S. ihren Lebensunterhalt verdienen!<br />

Sie kamen natürlich in die Opposition und<br />

hatten Erfolg.<br />

In einer spaltenlangen Resolution mit<br />

vielen großen Worten wird schließlich<br />

gesagt, daß das N.A.S. weiter existieren<br />

darf, aber nichts tun darf, um die gelben<br />

Organisationen des N.V.V. (reformistische<br />

Richtung, Amsterdam) zu schwächen!<br />

<strong>Die</strong> Kommunisten, die Mitglied der re-


42<br />

formistischen Zentralverbände sind, bleiben<br />

dort, um für die revolutionäre Einheit<br />

zu arbeiten.<br />

Das N.A.S. hat seihe Existenzberechtigung<br />

aus den Händen der Führer<br />

der K.P. empfangen, dank der Tatsache,<br />

daß einige Kommunisten in dem N.A.S.<br />

ihre Existenz finden.<br />

Wer der Meinung ist, daß der Vorstand<br />

des N.A.S. diese Resolution als eine<br />

feindliche Tat ansehen würde, irrt sich.<br />

Es wurde eine offizielle Erklärung abgegeben,<br />

in der die Resolution der Kommunistischen<br />

Partei eine mögliche. Grundlage<br />

zur Beendigung der Feindschaft genannt<br />

wurde.<br />

Grundsätze der Konföderation der Arbeit,<br />

angenommen auf ihrem III. Kongreß in<br />

Mexiko vom 15.—26. Dezember 1923.<br />

Organisatorische Grundsätze.<br />

Wir werden in folgenden Nummern<br />

nacheinander die ideologischen und organisatorischen<br />

Grundlagen der verschiedet<br />

nen syndikalistischen Landesorganisatio:<br />

nen, die der l.A.A. angeschlossen sind,<br />

veröffentlichen. Auf diese Weise hoffen<br />

wir die Kenntnis des internationalen<br />

Syndikalismus zu verbreiten. Jeder kann<br />

von dem andern lernen, die Vorzüge oder<br />

Kachteile können geprüft werden und<br />

schließlich kann eine internationale Annäherung<br />

nicht nur in der Uebereinstims<br />

mung der Hauptidee, sondern auch in der<br />

Anpassung und praktischen Betätigung<br />

des revolutionären Syndikalismus erzielt<br />

werden. Eine vollständige Gleichartigkeit<br />

des organisatorischen Aufbaus kann selbstverständlich<br />

niemals erzielt werden, was<br />

aber erreicht werden kann, das ist die<br />

Vervollkommnung der Organisationsformen,<br />

die durch die Erfahrungen oller<br />

Länder bereichert und beschleunigt werden<br />

kann. Anm. d. Red.<br />

Für unsere Verteidigung und Erziehung<br />

sowohl wie für die vollständige<br />

Befreiung der Arbeiter und Landarbeiter<br />

anerkennen wir als fundamentalen Grunds<br />

satz den Klassenkampf. Erkennend, daß<br />

keine Gemeinsamkeit zwischen der Arbeiterklasse<br />

und der Ausbeuterklasse bestehen<br />

kann, sehen wir in dem freiheitlichen<br />

Kommunismus unser höchstes Ziel,<br />

und in der direkten Aktion, die jede<br />

politische Betätigung ausschließt und für<br />

die Erziehung der arbeitenden Bevölke-<br />

MEXIKO<br />

MEXIKO.<br />

<strong>Die</strong> Kommunistische Partei Hollands<br />

beauftragte ihre Mitglieder im N.A.S.<br />

unter anderem „dahin zu streben, daß<br />

auch vom N.A.S. die Fraktionsbildung<br />

innerhalb des reformistischen N.V.V. anerkannt<br />

und durchgeführt wird". Der<br />

Vorstand des N.A.S. nimmt keine Stellung<br />

dagegen, sondern erklärt sehr<br />

schüchtern, daß dieser Beschluß nur vom<br />

N.A.S. selbst gefaßt werden kann. Man<br />

versucht also krampfhaft den Schein der<br />

Unabhängigkeit zu wahren. Zweifelsohne<br />

wird die Kommunistische Partei den Moskauer<br />

„Syndikalisten" im N.A.S. dieses<br />

Vergnügen gönnen, wenn diese nur tun,<br />

was ihre Herrin ihnen befiehlt.<br />

rung das rationalistische System anerkennt,<br />

sehen wir unsere Kampfestaktik.<br />

1. <strong>Die</strong> Gesamtorganisation dieses<br />

Landes, die sich zusammensetzt aus allen<br />

Industrien und aus allen Gebieten menschlichen<br />

Wissens, trägt den Namen: Confederacion<br />

General de Trabajadores" —<br />

C.G.T. — (Allgemeiner Arbeiterverband).<br />

2. <strong>Die</strong>ser Konföderation können angehÖren<br />

alle Kampf- und Widerstandsgruppierungen<br />

der Arbeiterschaft, die die<br />

Prinzipienerklärung und die Grundsätze<br />

der C.G.T. in ihrem betreffenden Industriezweige<br />

anerkennen.<br />

3. <strong>Die</strong> Verwaltungskörperschaft der<br />

C.G.T. setzt sich zusammen aus einem<br />

Sekretariat, das aus 5 Mitgliedern besteht,<br />

die vom Kongreß ernannt werden<br />

und die ihrerseits ihren Geschäftsort bestimmen.<br />

4. <strong>Die</strong> C.G.T. wird repräsentiert<br />

durch einen Konföderalrat, der gebildet<br />

wird von einem Vorsitzenden und je<br />

einem Delegierten aus allen angeschlossenen<br />

Haupt- und lokalen Föderationen.<br />

<strong>Die</strong>se Delegierten werden einen Monat<br />

nach der Abhaltung des allgemeinen Kongresses<br />

gewählt und bleiben bis zur<br />

Wiedereinberufung des Kongresses in<br />

Funktion.<br />

5. Sowohl die allgemeine wie auch<br />

die LokalsFöderationen können ihre Repräsentanten<br />

im Föderalrat abberufen,<br />

wenn sie solches für angebracht erachten.<br />

Sie teilen ihre Gründe dem Sekretariat<br />

mit, das seinerseits eine Plenarsitzung<br />

des Rates einberuft und so alle Mitglieder<br />

desselben benachrichtigt.<br />

6. <strong>Die</strong> Mitglieder des Konföderalrates<br />

haben am Orte der Föderation, die<br />

sie vertreten, ihren Sitz.


7. Jedes Mitglied des Konföderalrates<br />

schickt dem Sekretariat einen monatlichen<br />

Bericht; dieser Bericht wird vom<br />

Sekretariat allen Stellen der Körperschaft<br />

übermittelt.<br />

8. Der Konföderalrat tritt zusammen<br />

mindestens einmal im Jahre an dem Orte<br />

und zu der Zeit, die vom Sekretariat<br />

bestimmt werden. Vollsitzungen können<br />

einberufen werden, wenn zwei seiner<br />

Mitglieder oder eine allgemeine Föderation<br />

es fordern.<br />

9. <strong>Die</strong> Vollsitzung des Konföderalrates<br />

kann das Sekretariat ganz oder<br />

teilweise abberufen, indem sie an seine<br />

Stelle ein provisorisches Sekretariat einsetzt<br />

und dieselbe Plenarsitzung gleichzeitig<br />

einen allgemeinen Kongreß einberuft,<br />

auf dem sie die Gründe, die eine derartige<br />

Entscheidung verursacht haben,<br />

auseinandersetzt.<br />

10. Das Sekretariat übermittelt allen<br />

Mitgliedern des Konföderalrates einen<br />

zweimonatlichen Bericht, den diese an<br />

die Föderationen, die sie vertreten, weiterleiten.<br />

Dasselbe Sekretariat schickt an<br />

die <strong>Internationale</strong> Arbeiter-Assoziation<br />

einen dreimonatlichen Bericht.<br />

11. Durch die Mitgliedschaft an<br />

die C.G.T. verlieren die allgemeinen und<br />

Lokal-Föderationen, die Syndikate und<br />

nahestehenden Unionen als kollektive<br />

Körperschaften nichts an Selbstbestimmung<br />

bezüglich der eigenen inneren<br />

Angelegenheiten.<br />

12. Jede Landes- oder lokale Föderation,<br />

Syndikat oder angeschlossene<br />

Union können ihre eigenen Probleme<br />

selbst lösen ohne Einmischung von anderen;<br />

im Falle größerer Gefahr würden<br />

sie mit größtmöglichster Voraussicht die<br />

Hilfe aller föderierten Körperschaften anrufen,<br />

indem sie ihnen einen genauen<br />

Bericht der Schwierigkeiten übermitteln,<br />

damit diese, im Besitz der Daten, ihrerseits<br />

ohne Verzögerung vom Momente<br />

des Hilferufes an das ihre tun können.<br />

13. Alle Syndikate und lokalen Föderationen<br />

haben mit größtmöglichster<br />

Schnelligkeit sich zu Landesföderationen<br />

zusammenzuschließen; und wo diese schon<br />

bestehen, haben sie sich in derselben<br />

Form wie der Rat und das Sekretariat<br />

der Confederation General de Trabajadores<br />

zu konstituieren, um so durch einen<br />

festen Zusammenschluß und Ueberein-<br />

Stimmung in allen angeschlossenen Körperschaften<br />

die Vereinbarungen und<br />

Resolutionen der Lokal- oder Landeskonigresse<br />

auszuführen.<br />

MEXIKO 43<br />

14. Der C.G.T. dürfen keine Formationen<br />

angehÖren, die politische Kämpfer<br />

in ihren Reihen haben, seien diese Bürgerliche<br />

oder Proletarier! <strong>Die</strong> solches tun,<br />

werden zu Verrätern der Arbeiterklasse<br />

gestempelt und in diesem Sinne müssen<br />

alle proletarischen Organisationen der<br />

Welt benachrichtigt werden.<br />

15. Um zu verhüten, daß während<br />

politischer Kämpfe in den Reihen der<br />

Arbeiterschaft Stützen des gegenwärtigen<br />

kapitalistischen Systems sich breit<br />

machen, haben die eigenen Organisationen<br />

sich der Teilnahme an solchen Kämpfen<br />

zu enthalten.<br />

16. Das Sekretariat der Confederacion<br />

General de Trabajadores gibt mit finanzieller<br />

und intellektueller Mitarbeit der<br />

Arbeiterorganisationen und Propagandagruppen<br />

eine Zeitschrift heraus, die das<br />

offizielle Organ der C.G.T. darstellt.<br />

17. Alle Mitglieder der C.G.T. tragen<br />

ein Mitgliedsbuch, daß die Grundsätze<br />

des Syndikalismus und der Conförderation<br />

enthält.<br />

18. Jede Landes- oder lokale Föderation,<br />

alle Syndikate und angeschlossenen<br />

Unionen haben das Recht ihren Monatsbeitrag<br />

für die wirtschaftliche Erhaltung<br />

der Conföderation selbst zu bestimmen.<br />

19. Das Sekretariat der C.G.T. übernimmt<br />

es, die notwendigsten Unkosten<br />

von Kommissionen nach vorherigem<br />

Uebereinkommen, gemäß den Bedürfnissen<br />

der Organisation, tragen zu helfen;<br />

wo eine Föderation besteht, übernimmt<br />

sie diese Aufgabe.<br />

20. Organisations- und Propagandaaufgaben<br />

werden von freiheitlichen, idealistisch<br />

gesinnten Kameraden unterstützt,<br />

so daß der Ueberschuß von Veranstaltungen<br />

der C.G.T. zugute kommt.<br />

21. Das Motto der C.G.T. ist: Gruß<br />

und freiheitlicher Kommunismus!<br />

22. Als Abzeichen für alle angeschlossenen<br />

Föderationen gilt eine Erdkugel<br />

auf rotem Grunde, auf deren Mitte<br />

man einige landwirtschaftliche und industrielle<br />

Geräte sieht. Am Rande des<br />

Abzeichens steht die Inschrift: Confederacion<br />

General de Trabajadores. I.A.A.<br />

23. <strong>Die</strong> C.G.T. hält in allen ihren<br />

Schreiben und Berichten die I.A.A. auf<br />

dem Laufenden; dasselbe tun die Organisationen<br />

des Landes hinsichtlich der<br />

C.G.T.<br />

24. <strong>Die</strong> C.G.T. ist internationalen<br />

Charakters und anerkennt darum weder<br />

Grenzen- noch Rassenunterschiede.


44<br />

25. <strong>Die</strong> C.G.T. kann sich nicht auf,<br />

lösen, solange noch zwei Föderationen<br />

geneigt sind, sie zu erhalten und zu unterhalten.<br />

Im Falle ihrer Auflösung gehen<br />

ihre Möbel und sonstigen Gegenstände<br />

n das Inventar des Komitees für Gefangene<br />

über; wenn ein solches nicht da ist,<br />

gelangen die Gegenstände in die Hände<br />

der I.A.A.<br />

26. <strong>Die</strong> der C.G.T. angehÖrenden<br />

Organisationen leihen der Propaganda<br />

der der C.G.T. ebenfalls angehÖrenden<br />

ideologischen Gruppen den größtmöglichen<br />

Beistand.<br />

27. <strong>Die</strong> der C.G.T. angeschlossenen<br />

kulturellen Gruppen haben nur die Aufgabe,<br />

durch Wort, Schrift und Beispiel<br />

zu erziehen. Sie haben sich nicht in die<br />

wirtschaftlichen Arbeiten der C.G.T. einzumischen.<br />

Vollsitzungen und Landeskongresse.<br />

1. <strong>Die</strong> Vollsitzungen des Konföderalrates<br />

werden mindestens einmal jährlich<br />

abgehalten; sie können einberufen<br />

werden durch das Sekretariat oder durch<br />

die Initiative von zwei Mitgliedern des<br />

Föderalrates.<br />

2. <strong>Die</strong> gewöhnlichen oder außergewöhnlichen<br />

Allgemeinen Kongresse der<br />

Konföderation oder die Kongresse einer<br />

Föderation werden mindestens einmal jährlich<br />

abgehalten und in folgender Weise<br />

einberufen:<br />

a) Einen gewöhnlichen oder außergewöhnlichen<br />

Allgemeinen Kongreß,<br />

wenn das Sekretariat oder ein Mitglied<br />

des Konföderalrates in Uebereinstimmung<br />

mit seiner betreffenden Föderation<br />

einen solchen für nötig halten.<br />

b) Einen gewöhnlichen oder außergewöhnlichen<br />

Landeskongreß einer Föderation,<br />

wenn das Sekretariat derselben<br />

oder ein Mitglied des Föderationsrates<br />

in Uebereinstimmung mit<br />

seiner respektiven Lokalorganisation<br />

einen solchen für nötig halten.<br />

3. <strong>Die</strong> Landesföderationen informieren<br />

das Sekretariat der Konföderation über<br />

das Resultat ihrer Kongresse.<br />

4. Datum und Gründe für die Abhaltung<br />

eines Allgemeinen Kongresses, handle<br />

es sich um den Kongreß der Konföderation<br />

oder nur um den einer Föderation, sind<br />

an alle Körperschaften der C.G.7. im<br />

Voraus mitzuteilen.<br />

MEXIKO<br />

Punkte der Resolutionen des 3. Kongresses.<br />

Betriebsräte, Landarbeiterrate,<br />

lokale und allgemeine<br />

Räte der Arbeiterschaft.<br />

1. Der III. Kongreß der C.G.T. anerkennt<br />

die Bildung von Betriebsräten<br />

und Landarbeiterräten, die von den<br />

lokalen und allgemeinen Räten der<br />

Arbeiterschaft ins Leben gerufen werden.<br />

2. Der Betriebsrat setzt sich in folgender<br />

Weise zusammen:<br />

a) <strong>Die</strong> Arbeiter in den Werkstätten,<br />

Fabriken und landwirtschaftlichen Betrieben<br />

ernennen einen Delegierten<br />

für jeden Betrieb oder jede Abteilung.<br />

b) Auf dem Kongreß der Delegierten<br />

wird der Betriebsrat ernannt.<br />

3. Aufgaben der Delegierten<br />

:<br />

a) <strong>Die</strong> Uebereinkünfte der Betriebsräte<br />

durchführen,<br />

b) <strong>Die</strong> Betriebsräte über technische<br />

Schwierigkeiten in den einzelnen<br />

Werkstätten und Abteilungen informieren,<br />

c) Vertretung der Arbeiter der Werk-<br />

Stätten und Abteilungen in Konflikten<br />

technischen Charakters,<br />

d) Führen von Statistiken über Produktion,<br />

Konsum usw.<br />

4. Aufgaben der Betriebsrate:<br />

a) Aufstellen der Reglements technischen<br />

Charakters in Fabriken und Industrien,<br />

b) Gerechte Arbeitsverteilung,<br />

c) Einmischung in technische Konflikte,<br />

die während der Arbeit entstehen.<br />

5. <strong>Die</strong> Betriebsräte mischen sich<br />

nicht ein in verwaltungstechnische Angelegenheiten<br />

der Gewerkschaften.<br />

6. <strong>Die</strong> Landarbeiterräte setzen sich<br />

zusammen aus den verschiedenartigen<br />

Gebieten der Landwirtschaft.<br />

7. <strong>Die</strong> Aufgaben der Landarbeiterrate<br />

sind dieselben wie die der Betriebsrate<br />

nur liegen sie auf ihrem besonderen<br />

Gebiete.<br />

8. Der Lokalrat der Arbeiterschaft<br />

wird von je zwei Delegierten des Betriebsrates<br />

oder des Landarbeiterrates oder aus<br />

beiden Körperschaften gebildet.<br />

9. <strong>Die</strong> Lokalräte ernennen ihrerseits<br />

einen Delegierten und einen Beisitzenden,<br />

die den allgemeinen Arbeiterrat konstituieren.<br />

10. <strong>Die</strong> Lokalräte versammeln sich<br />

mindestens vierzehntäglich.


11. <strong>Die</strong>se Räte, lokaler oder allgemeiner<br />

Natur, senden zweimonatlich einen<br />

Bericht an die Confederacion General de<br />

Trabajadores, die ihrerseits dem Sekretariat<br />

der C.G.T. diese Berichte zugängs<br />

lieh macht.<br />

Organ der C.G.T.<br />

1. <strong>Die</strong> Confederation General de<br />

Trabajadores veröffentlicht laut ihres<br />

Uebereinkommens des III. Kongresses<br />

eine Zeitschrift, die ihr offizielles Organ<br />

darstellt.<br />

2. Der III. Kongreß beauftragt das<br />

Sekretariat, einen Kameraden zu ernennen,<br />

der in Uebereinstimmung mit ihm eine<br />

intensive Vorarbeit für dieses Organ entfaltet.<br />

<strong>Internationale</strong> Beziehungen.<br />

1. Laut Uebereinkunft des III. Kongresses<br />

der C.G.T. schlägt das Sekretariat<br />

einen kontinentalen amerikanischen<br />

Kongreß vor, zu dem alle revolutionären<br />

Organisationen, die unter den verschiedenen<br />

Nationen Amerikas bekannt sind,<br />

eingeladen werden.<br />

2. Um den vorherigen Absatz zu vervollständigen,<br />

sei hinzugefügt, daß die<br />

I.W.W. (Industrial Workers of the World<br />

der Vereinigten Staaten Nordamerikas)<br />

zu einer Konferenz eingeladen werden<br />

wird, um mit dieser Organisation in<br />

Uebereinstimmung hinsichtlich der Einberufung<br />

des Kongresses zu kommen.<br />

3. Das Sekretariat der C.G.T. bestimmt<br />

vorderhand Datum und Ort<br />

dieser Konferenz.<br />

4. Dasselbe Sekretariat ernennt die<br />

Delegierten der C.G.T. für diese Konferenz<br />

und betreibt unter den angeschlossenen<br />

Organisationen die Propaganda für<br />

Zusammenbringung der für die Delegation<br />

notwendigen Mittel.<br />

5. Auf Grund des Uebereinkommens<br />

vom III. Kongreß schließt die Confederas<br />

cion General de Trabajadores sich der<br />

<strong>Internationale</strong>n Arbeiterassoziation an<br />

und übernimmt damit alle durch diese<br />

Entschließung entstehenden Verpflichtungen.<br />

Komitee für Gefangene und für soziale<br />

Fragen.<br />

1. Der III. Kongreß der C.G.T. ernennt<br />

ein Komitee für Gefangene, das<br />

sich zusammensetzt aus den Kameraden<br />

Nicolas T. Bernal, Francisco Orellano<br />

u. a.<br />

Das Komitee hat die Aufgabe, eine<br />

intensive Propaganda zugunsten der Ge-<br />

MEXIKO 45<br />

fangenen in Spanien, Rußland, den Vereinigten<br />

Staaten usw. zu entfalten.<br />

2. Um dem in vorhergehender Spalte<br />

ausgedrückten Vorhaben praktischen<br />

Ausdruck zu verleihen, ist das Sekretariat<br />

bevollmächtigt, eine Conföderation der<br />

Hafen-Verkehrs-Transport-Arbeiter und<br />

Seeleute zu gründen, um mit ihrer Uebeieinstimmung<br />

einen Boykott der kaufguter<br />

der vorhererwähnten Länder durchs<br />

zuführen.<br />

Erziehung.<br />

1. Der III. Kongreß der C.G.T. beauftragt<br />

das Sekretariat mit der Bildung<br />

eines Rates für Erziehung, der in weitgellendster<br />

Weise das Werk der Aufklärung<br />

zu unternehmen hat und so die<br />

Entschließungen des II. Kongresses in die<br />

Praxis umsetzt.<br />

2. Eine der Hauptaufgaben dieses<br />

Kongresses muß die Organisierung von<br />

Lehrersyndikaten in allen Gegenden<br />

Mexikos sein, die vermittelst des Sekretariats<br />

der C.G.T. einen Lehrerkongreß<br />

einberufen.<br />

3. <strong>Die</strong>ser Rat hat weiter an der Bildung<br />

von Gruppen für Musik und Theater<br />

mitzuhelfen, welche einen Teil der<br />

Einnahmen ihrer Veranstaltungen und<br />

die Mittel, die ihre Sammlungen ergeben,<br />

für die Errichtung von rationalistischen<br />

Schulen verwenden.<br />

Organisation der Frauen.<br />

1. Der III. Kongreß der C.G.T.<br />

empfiehlt dem Sekretariat, Gruppen freiheitlicher<br />

Frauen in allen Gegenden Mexikos<br />

ins Leben zu rufen.<br />

2. Bis zur Einberufung eines Frauenkongresses<br />

übernimmt das Sekretariat in<br />

Ausführung der Wünsche und Ziele der<br />

C.G.T. das Ordnen der Funktionen dieser<br />

Frauengruppen.<br />

Kampf gegen den Klerikalismus.<br />

1. Der III. Kongreß der C.G.T. beschließt,<br />

die Kampagne gegen die klerikalen<br />

Elemente intensiver zu gestalten,<br />

auch wenn Zeit und Geld der föderierten<br />

Organisationen hierfür zu opfern ist. Es<br />

gilt, den verdummenden Einfluß, den<br />

dieses Element auf die Massen ausübt,<br />

zu brechen.<br />

2. Um an der Krankenpflege der Arbeiter<br />

beitragen zu können, empfiehlt der<br />

III. Kongreß dem Sekretariat die Errichtung<br />

und Verwaltung von Mutterheimen.


46<br />

Schlußbemerkungen.<br />

In Erfüllung des Absatzes III unserer<br />

Prinzipienerklärung wurden die Arbeiten<br />

des III. Kongresses beendigt mit der Ernennung<br />

des Sekretariats. Es wurden<br />

gewählt Antonio Pacheco, Sekretär für<br />

Korrespondenz und Veröffentlichungen,<br />

Tomas Cordero Farrel, Sekretär für Er-<br />

Ziehung, Rodolfo Aguirre, Kassierer,<br />

ANHANG<br />

Anhang.<br />

Moisés Guerrero und Ciro Mendoza,<br />

Sekretäre für Konflikte, Organisation<br />

und Archiv. <strong>Die</strong>ses Sekretariat bleibt,<br />

ausgenommen einer Regelwidrigkeit, wie<br />

solche erwähnt sind, in den Absätzen<br />

der Prinzipienerklärung, bis zur Abhaltung<br />

eines neuen allgemeinen Kongresses<br />

bestehen.<br />

<strong>Die</strong> internationale Literatur des Syndikalismus.<br />

Um unsern Genossen ein Bild von der Ausdehnung des Syndikalismus in den<br />

verschiedenen Ländern zu geben, beginnen wir in dieser Nummer mit der Veröffentlichung<br />

der syndikalistischen Literatur in einigen Ländern. <strong>Die</strong>se Darstellung kann<br />

nicht als erschöpfend betrachtet werden, es soll hauptsächlich Wert gelegt werden auf<br />

die neuere Literatur. In dieser Nummer 3 wird vor allem Italien und Norwegen behandelt.<br />

Später werden die andern Länder folgen.<br />

Italien.<br />

<strong>Die</strong> revolutionärssyndikalistische Literatur war in Italien sehr reich von der Zeit<br />

an, als der Syndikalismus seinen Einzug in Italien hielt. Das war zur Zeit des ersten<br />

Generalstreiks im Jahre 1904, welcher die erste revolutionärssyndikalistische Aeußerung<br />

des italienischen Proletariats gewesen ist.<br />

Unter den vielen Büchern, die im Laufe der Zeit erschienen sind, sind jene von<br />

Enrico Leone wegen ihrer Gründlichkeit vor allen andern zu erwähnen. Er gab auch<br />

während einer Reihe von Jahren eine syndikalistische Revue heraus, „Divenire Sociale"<br />

(Soziale Zukunft), an welcher die besten Schriftsteller und Wirtschaftstheoretiker<br />

Italiens mitarbeiteten.<br />

Außerdem wurden in einer Reihe von Büchern nicht nur propagandistische und<br />

polemische, sondern auch wirtschaftlichsgewerkschaftliche und syndikalistische<br />

Probleme in ausgiebiger Weise behandelt, besonders haben auch die Landarbeiterorganisationen<br />

eine Reihe kleinerer Publikationen, Zeitungen, Zeitschriften usw. herausgegeben.<br />

Der Vandalismus des Faschismus hat leider auch nicht Halt gemacht vor wissenschaftlichen<br />

Sammlungen, weder vor den Bibliotheken und Buchhandlungen der Organisationen<br />

noch privater Personen. Alles wurde zerstört, selbst die Bibliothek von<br />

Enrico Leone. Auch die Kataloge sind zum großen Teil unauffindbar. Deshalb kann<br />

das Verzeichnis über die Veröffentlichungen syndikalistischer Literatur in italienischer<br />

Sprache nicht vollständig sein. Dennoch gelang es uns, folgendes Verzeichnis zusammenzustellen:<br />

E. Leone: Il Sindacalismo. La Revisione del Marxismo. L'Economi a Edonistica.<br />

Il Principio dell'Equilibrio Economico. Il Giusto Prezzo. Critici e Libellisti del<br />

Sindacalismo. II Sindacato e Politica. Il Neo Marxismo: Sorel e Marx. Economia<br />

Sociale in Rapporto al Socialismo. Ant-Bergson und viele andere Bücher stammen<br />

aus der Feder dieses Verfassers.<br />

A. Labriola: La Commune di Parigi. Riforme e Rivoluzione Sociale. Rincaro e<br />

Capitalismo. Economia, Socialismo, Sindacalismo. Marx nell'Economia e come<br />

Teorico del Socialismo. Storia di <strong>Die</strong>ci Anni. Risposta a Plechanonoff. Il limiti del<br />

Sindacalismo und andere Schriften.<br />

A. O. Olivetti: Azionc diretta e mediazionc. Questioni del Socialismo contemporaneo.<br />

Cinque anni di Sindacalismo e lotte Proletariei in Italia.<br />

Bücher anderer Verfasser: Pagini Sindacaliste von P. Mantica. Sindacalismo e<br />

Medio Evo von S. Panuzio. Marx e il Marxismo von Pietri Tonelli. Teoria della<br />

Violenzia von G. Sorel. L'<strong>Internationale</strong> von G. Domanico. Sindacalismo come


ANHANG 47<br />

Problema della Liberta Operaia von A. D. P. Tonelli. Dopo la Rivoluzione (Nach<br />

der Revolution) von James Guillaume. Lc Finalita del Sindacato von A. Giovannetti.<br />

Azione Diretta von A. Deambris. Anarchismo e Sindacalismo von A. Borghi.<br />

L'ldea de Patria von G. Pedrini. Il nostro Irredentismo von T. Masotti. L'A.B.C.<br />

del Sindacalismo von Ivetot. L'Organizzazione operaia e l'Anarchia von Luiggi Fabbri.<br />

Sindacalismo e rivoluzione sociale von F. Pelloutier. Azione pratica e Sindacalismo<br />

von Lagardell. Lo Sciopero generale in un Documento del secolo XIII von E. Lonaco.<br />

Pratica Sindacalista von T. Masotti. Lo Sciopero del Fervieri Francesi von P. Zocchi.<br />

Unita operaia e tradimenti confederali von A. Deambris. Fernando Pelloutier nel<br />

Sindacalismo Francese von A. Borghi. La Mezzadria von A. Giovannetti. Democrazia<br />

vile von A. Deambris. Lo Sciopero di Parma von Mazzoldi. Lo Sciopero<br />

generale von A. Briand. Sindicalismo e elezionismo von A. Deambris. Prigionieri di<br />

guerra von A. Borghi. I danni della compartecipazione von A. Giovannetti. L'Eccidio<br />

di Langhirano sowie la „sociata di domani" außerdem „la Comune" alle drei von Giovannetti.<br />

Almanaco dell „Internazionale" 1912, ferner „Sempre" Almanaco di Guerra di<br />

Classe 1917. Dasselbe 1923—24 herausgegeben von der Unione Sindacale. Berichte<br />

und ähnliches unter dem Namen „Relazione" 1912. Dasselbe 1919. Idem 1922, Problemi<br />

Agricoli von Bitelli. L'Azione Sindacale von E. M. und ein Teil anderer Veröffentlichungen.<br />

Es wurde ferner während mehrerer Jahre eine Reihe syndikalistischer Zeitschriften<br />

herausgegeben. Darunter sind zu merken: „Divenire Sociale" (Soziale Zukunft) in<br />

Rom; „Pagine Libre" (Freie Blätter) in Lugano; „Demolizione" (Niederringen) in<br />

Modena; „Polemica Sindacalista" (Syndikalistische Polemik) in Rom. Es gab auch eine<br />

Anzahl syndikalistischer Tageszeitungen, wie „L,Azione" (<strong>Die</strong> Aktion) in Rom; „La<br />

Conquista" (<strong>Die</strong> Eroberung) in Mailand; „L'Internazionale" in Parma; „La Scintilla"<br />

(Der Funke) in Ferrara; die aktiven Syndikalisten der Unione Sindacale arbeiteten<br />

auch mit an der anarchistisch-kommunistischen Zeitung „Umanita Nova", die als<br />

Tageszeitung in Mailand erschien. <strong>Die</strong> jungen Syndikalisten gaben in einer Reihe von<br />

Jahren ein eigenes Organ heraus; erst unter dem Titel „Gioventu Sozialista", später<br />

unter dem Namen „Gioventu Rossa".<br />

Außer den Büchern, Broschüren und angeführten Tageszeitungen wurden periodische<br />

Schriften, teils als Wochen-, teils als Halbmonatsblätter herausgegeben. Sämtliche<br />

hier angeführten Zeitungen folgten den Richtlinien der syndikalistischen Union<br />

Italiens (U.S.I.), bis der Sieg des Faschismus auch diese Arbeit unmöglich machte. Außer<br />

dem Hauptorgan der U.S.I., „Guerra di Classe", befand sich in fast jeder größeren Stadt<br />

ein syndikalistisches Organ. Wir bringen nur folgende in Erinnerung: „Lotta Operaia"<br />

(Arbeiterkampf) in Sestri Ponente und Ligurien; „Il Cavatore" (Organ der Arbeiter<br />

in den Marmorgebieten zu Carrara; „Puglia Sindacale" von Adria und Puglien;<br />

„Voce Proletaria" (Proletarische Stimme) von Piancenza und Provinz; „Il Proletario"<br />

von Parma; „Bandiera Operaia" (Arbeiterfahne) für Stadt und Provinz Modena;<br />

„Paleingenesi" (Neuschöpfung) in Minervino Murge, Provinz Puglien; „La Som-<br />

„mossa" (<strong>Die</strong> Erhebung) in Terni und Umbria; „L'Agitatore" von Verona und Veneto;<br />

„L'Azione Diretta" in Rom; „Il Martello" (Der Hammer) in Piombino, Elba und<br />

Maremma. In vielen anderen Städten, wie Pisa, Cerignola, Bari, Genua, Imola usw.<br />

wurden ebenfalls Zeitungen herausgegeben.<br />

Alle diese Zeitungen wurden in ihrer Herausgabe verhindert durch den Vormarsch<br />

der Faschisten, durch Zerstörung der Volkshäuser, der Arbeiterbörsen und der<br />

Druckereien unserer Kameraden. <strong>Die</strong> einzige Zeitung, die dieser Reaktion noch eine<br />

Zeit Standhalten konnte, war das Hauptorgan „Guerra di Classe". Aber auch dieses<br />

wurde im Dezember 1923 von der faschistischen Regierung unterdrückt, nachdem die<br />

Druckerei vorher von faschistischen Banden zerstört worden war.<br />

Am 1. Mai 1924 hat die „Unione Sindacale" eine besondere Mainummer<br />

„Calendimaggio" herausgegeben. Auch diese Ausgabe wurde von der Regierung verboten.<br />

Herausgabe syndikalistischer Literatur und Zeitschriften in italienischer Sprache<br />

in Amerika.<br />

Durch die Initiative revolutionärer Syndikalisten, die nach den Vereinigten<br />

Staaten ausgewandert sind, kam es auch dort zur Herausgabe einer Zeitung in Gemeinschaft<br />

mit der „Industrial Workers of the World" (I.W.W.). <strong>Die</strong>se Zeitung trägt<br />

den Namen „Il Proletario". Außerdem sind noch folgende Schriften erschienen:


48<br />

ANHANG<br />

„Che Cos' e l'I.W.W.?" (Was ist die I.W.W.?): „La Tattica Sindacalista in America"<br />

(<strong>Die</strong> syndikalistische Taktik in Amerika) von G. L. „I.W.W. Storia Struttura e<br />

Metodi" (<strong>Die</strong> Geschichte, der Aufbau und die Methoden der I.W.W.) von V. S. John;<br />

„L'I.W.W. nella Teoria e nella Pratica" (<strong>Die</strong> I.W.W, in Theorie und Praxis) von<br />

Justus Ebert; „Unionismo industriale e Trade-Unionismo" (Berufs- oder Industrieverbände)<br />

von Ettor und Caroti; „La Tecnica Industriale e la Rivoluzione Proletaria"<br />

(<strong>Die</strong> industrielle Technik und die proletarische Revolution) von R. Facio; „Unionismo<br />

Industriale e Sindacalismo (Industrieverbände und der Syndikalismus) von A. Giovannetti;<br />

„La Società Proletaria" (<strong>Die</strong> proletarische Gesellschaft) von Albino Braida);<br />

„La Crisi del Socialismo" (<strong>Die</strong> Krisis des Sozialismus) von E. M.; „Giustizia Capitalista"<br />

von Pietro Gigra; „Il Processo Muto" von J. Tori; „Rosso Bagliore d'Oriente" (Der<br />

rote Schimmer vom Osten) von S. Piesco; „Nostaglia Proletaria" (Proletarisches<br />

(Heimweh) von E. Bartoletti.<br />

Italienische Veröffentlichungen in Aegypten.<br />

In Port Said (Ägypten) wird die syndikalistische Revue „Revista Sociale" in zwei<br />

Sprachen herausgegeben: in Griechisch und in Italienisch, da sich dort eine ganze Anzahl<br />

italienischer Auswanderer befindet.<br />

Norwegen.<br />

<strong>Die</strong> syndikalistische Bewegung Norwegens ist verhältnismäßig jung. Trotzdem hat<br />

sie durch eine ganze Anzahl Schriften die Ideen des Syndikalismus in die norwegische<br />

Arbeiterschaft getragen. <strong>Die</strong> hier angeführten Schriften sind alle erschienen im Verlage<br />

der Syndikalistischen Föderation Norwegens (Norsk Syndikalistisk Federations forlag):<br />

Norsk Syndikalistisk Federation, bygget paa Lokale Samorganisationer (Syndikalistische<br />

Föderation Norwegens, aufgebaut auf allgemeinen Ortsvereinen). 32 S. (gelangt<br />

zur Gratisverteilung). — Rud. Holme: Proletarens kamporganisation. 48 S., Preis<br />

50 Öre. — Hvem er splitningsmaend? (Wer sind die ZerstÖrer?) 36 S., Preis 25 Öre. —<br />

Tom Mann : Hvorfor jeg er Syndikalist. (Warum ich Syndikalist bin.) 48 S., Preis<br />

50 Öre. — Carl O. Tangen: Den syndikalistiske Organisation. 32 S., Preis 30 Öre, —<br />

Til kamp mot utvisningerne! (Zum Kampf gegen die Ausweisungen!) 32 S., Preis 30 Öre.<br />

— Akkordsystemet. 24 S., Preis 30 Öre. — H. K i 1 e n: Landarbeiderne og Syndikalismen.<br />

56 S., 75 Öre. — John Andersson: Tysklands arbeiderklasse og Syndikalismen.<br />

16 S., 25 Öre. — Den spanske arbeiderklasses revolutionaere kamp. 20 S., 25 Öre. —<br />

Rud. Rocker: Ned med vaabnene! Saenk hamrerne! (<strong>Die</strong> Waffen nieder! <strong>Die</strong><br />

Hämmer nieder!) 32 S., 30 Öre. — G. H. - s o n Holmberg: Syndikalismen, dens vaesen,<br />

tcori og taktik. (Der Syndikalismus, dessen Wesen, Theorie und Taktik.) 240 S., 2,50 Kr.<br />

— Alfr. M. Nilsen: Vor fremtidige Organisation. (Unsere zukünftige Organisation.)<br />

64 S., 1 Kr. — Kamerat i arbeidsblusen. 16 S. (gratis). — A. V. Johansson: Kampen<br />

paa arbeidspladsen. 48 S., 75 Öre. — Albert Jensen: Bolsjevisme — Syndikalismc.<br />

150 S., 2,50 |Kr. — Hilmar Knutsen: Syndikalismen som verdensopfatning. (Der<br />

Syndikalismus als Weltanschauung.) 32 S., 75 Öre. — N. S. F.s haandbok. 116 S., 2,50 Kr.<br />

(gebunden). — Resolutioner, vedtat paa de revolutionaere syndikalisters intern, kongres<br />

i Berlin 25/12 1922—2/1 1923. 32 S., 35 Öre. — Aarsbereninger og kongresprotokoller fra<br />

1917—1922 (Jahresberichte und Kongreßprotokolle von 1917—1922).<br />

Berichtigung.<br />

In Nummer 2 „<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong>" hat sich in dem Artikel von Max Nettlau:<br />

„Nationalismus und Internationalismus" ein Fehler eingeschlichen. Auf Seite 23, Zeile 11,<br />

steht „Popularität", es soll heißen „Prosperität" Der Deutlichkeit halber<br />

wiederholen wir den ganzen Satz: „Speziell Napoleon III. erwartete durch nationale<br />

Kriege und territoriale Expansion (Nizza und Savoyen) seine Usurpation, 1851, vergessen<br />

zu machen und sein Kaisertum endlich auf wirtschaftlicher Prosperität<br />

fest zu begründen."


DIE<br />

INTERNATIONALE<br />

ORGAN DER INTERNATIONALEN ARBEITER ASSOZIATION •BERLIN<br />

1. JAHRG. JANUAR 1924 NR.4


DIE INTERNATIONALE<br />

ORGAN DER INTERNATIONALEN ARBEITER-ASSOZIATION • BERLIN<br />

DEUTSCHE AUSGABE / HERAUSGEGEBEN VOM SEKRETARIAT DER IAA.<br />

1. JAHRG. JANUAR 1925 NR. 4<br />

<strong>Die</strong> Wandlungen<br />

in der Staatsauffassung der Sozialdemokratie.<br />

Von Rudolf Rocker.<br />

Während der sechs ereignisvollen Jahre nach dem Kriege hat<br />

innerhalb der Sozialdemokratie ein Entwicklungsprozeß seinen endgültigen<br />

Abschluß gefunden, der früher in den Kämpfen zwischen den<br />

radikalen Marxisten und den sogenannten Revisionisten viel Staub<br />

aufgewirbelt und verschiedene Parteikongresse beschäftigt hat. Wir<br />

sprechen hier von der Beteiligung der Sozialdemokratie an einer bürgerlichen<br />

Regierung und der Stellung, welche die Partei bisher dieser<br />

Frage gegenüber eingenommen hat. Im Grunde genommen war dieses<br />

vielumstrittene Problem nur das Ergebnis einer tieferen Ursache: Es<br />

entsprang der sozialdemokratischen Auffassung über den Staat im allgemeinen,<br />

obzwar dies in den heftigen Debatten, die seiner Zeit<br />

zwischen den verschiedenen Richtungen innerhalb der Partei zum Austrag<br />

kamen, wenig hervortrat, ja dem Gros der sozialdemokratischen<br />

Parteigänger überhaupt nicht zum klaren Bewußtsein gekommen ist.<br />

Das war um so verständlicher, als bei der großen Mehrheit der sozialdemokratischen<br />

Parteimitglieder gerade über diesen Punkt niemals<br />

Klarheit herrschte und die Verfechter der sozialdemokratischen<br />

Theorien während all der Jahre so gut wie nichts getan hatten, um<br />

gerade in dieser Frage aufklärend zu wirken und eine bestimmte Anschauung<br />

herauszuarbeiten. Ja man kann sogar ruhig behaupten, daß<br />

die einflußreichen Parteiprominenzen dieser Frage mit einer gewissen<br />

Aengstlichkeit aus dem Wege gingen, die nur hie und da einzelnen<br />

Theoretikern Stoff zu rein abstrakten Erörterungen bot. Erst der<br />

Kampf mit dem in Rußland zur Macht gelangten Bolschewismus und<br />

die neue politische Einstellung der Sozialdemokratie innerhalb der<br />

Deutschen Republik hat die Frage wieder in den Vordergrund gestellt<br />

und den Kreislauf einer Entwicklung geschlossen, die eigentlich zu<br />

keinem anderen Ergebnis führen konnte.<br />

<strong>Die</strong> deutsche Sozialdemokratie, soweit sie der Bewegung entstammte,<br />

die Lassalle seiner Zeit ins Leben gerufen hatte, war von der<br />

absoluten Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit des Staates fest überzeugt.<br />

In ihrer geradezu fanatischen Staatsgläubigkeit übertraf sie das<br />

liberale Bürgertum so sehr, daß die liberale Presse jener Zeit die<br />

Lassallesche Bewegung häufig als ein Werkzeug der preußischen Reaktion<br />

bezeichnete, ein Vorwurf, dem zwar jede materielle Begründung


2 WANDLUNG IN DER STAATSAUFFASSUNG DER SOZIALDEMOKRATIE<br />

fehlte, der aber durch das sonderbare Liebäugeln Lassalles mit dem<br />

„sozialen Königtum" nur zu erklärlich war.<br />

In den Arbeitervereinen der Lassalleschen Richtung herrschte zu<br />

jener Zeit vielfach eine ausgesprochene monarchistische Gesinnung,<br />

und es erregte kaum Aufsehen, wenn die Mitgliedschaft des Allgemeinen<br />

Deutschen Arbeitervereins zu Iserlohn dem König von Preußen<br />

im April 1865 ein Begrüßungstelegramm zu seinem Geburtstag schickte<br />

und den Tag festlich beging, wobei auf einem Transparent, das im<br />

Festsaale angebracht war, unter dem unvermeidlichen preußischen<br />

Adler die Worte prangten: „Heil dem König, dem Beschützer der Bedrängten!"<br />

Lassalle selbst war Zeit seines Lebens ein unermüdlicher Verfechter<br />

der Hegeischen Staatsidee und hatte sich die Anschauungen des französischen<br />

Staatssozialisten Louis Blanc über die soziale Aufgabe der<br />

Regierung vollständig zu eigen gemacht. Im „Arbeiterprogramm"<br />

faßte er seine Ansichten über den Staat in folgende Worte, welche<br />

gleichzeitig zur Grundlage des politischen Glaubensbekenntnisses der<br />

Lassalleschen Bewegung wurden:<br />

„<strong>Die</strong> Geschichte, meine Herren, ist ein Kampf mit der Natur; mit dem Elende, der<br />

Unwissenheit, der Armut, der Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller Art, in<br />

der wir uns befanden, als das Menschengeschlecht im Anfang der Geschichte auftrat.<br />

<strong>Die</strong> fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit — das ist die Entwicklung der<br />

Freiheit, welche die Geschichte darstellt.<br />

In diesem Kampfe würden wir niemals einen Schritt vorwärts gemacht haben,<br />

oder jemals weiter machen, wenn wir ihn als einzelne jeder für sich, jeder allein,<br />

geführt hätten oder führen wollten.<br />

Der Staat ist es, welcher die Funktion hat, diese Entwicklung der Freiheit, diese<br />

Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit zu vollbringen.<br />

Der Staat ist diese Einheit der Individuen in einem sittlichen Ganzen, eine Einheit,<br />

welche die Kräfte aller einzelnen, welche in diese Vereinigung eingeschlossen sind,<br />

millionenfach vermehrt, die Kräfte, welche ihnen allen als einzelnen zu Gebote stehen<br />

würden, millionenfach vervielfältigt.<br />

Der Zweck des Staates ist also nicht der, dem einzelnen nur die persönliche Freiheit<br />

und das Eigentum zu schützen, mit welcher er nach der Idee der Bourgeoisie angeblich<br />

schon in den Staat eintritt; der Zweck des Staates ist vielmehr gerade der, durch diese<br />

Vereinigung die einzelnen in den Stand zu setzen, solche Zwecke, eine solche Stufe<br />

des Daseins zu erreichen, die sie als einzelne nie erreichen könnten, sie zu befähigen,<br />

eine Summe von Bildung, Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen sämtlich als<br />

einzelnen unersteiglich wäre.<br />

Der Zweck des Staates ist somit der, das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung<br />

und fortschreitenden Entwicklung zu bringen, mit andren Worten, die menschliche<br />

Bestimmung, d. h. die Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig ist, zum wirkliehen<br />

Dasein zu gestalten; er ist die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts<br />

zur Freiheit.<br />

Das ist die eigentliche sittliche Natur des Staates, meine Herren, seine wahre und<br />

höhere Aufgabe."<br />

<strong>Die</strong> sogenannte Eisenacher Richtung, welche sich vornehmlich aus<br />

dem „Verband deutscher Arbeitervereine", der sich früher vollständig<br />

im Schlepptau der liberalen Bourgeoisie befand, entwickelte, vertrat<br />

besonders unter Liebknechts Einfluß die Idee des „freien Volksstaates".<br />

<strong>Die</strong> landläufige Behauptung, daß die sogenannten Eisenacher im<br />

Gegensatz zu den Lassalleanern die Theorien von Marx vertraten, ist<br />

nur eine fable convenue, die mit der Wirklichkeit der Dinge keineswegs<br />

übereinstimmt. Vom eigentlichen Marxismus wußten die Eisen-


WANDLUNG IN DER STAATSAUFFASSUNG DER SOZIALDEMOKRATIE 3<br />

acher kaum mehr als die Nachfolger Lassalles. Liebknecht selber<br />

nannte sich zwar des öfteren einen Schüler Marxens, mit dem er lange<br />

Jahre persönlich befreundet war, aber den eigentlichen Kern der Marxschen<br />

Lehre hatte er nie richtig erfaßt; überhaupt blieb ihm dessen<br />

Auffassung vom Staate vollkommen fremd. Der Sozialismus Liebknechts<br />

war mehr ein Ausfluß des sozialistischen Jakobinertums der<br />

Franzosen als ein Ergebnis der Marxschen Ideen. Ueberhaupt nahm<br />

bei ihm der Demokrat stets den Platz vor dem Sozialist ein.<br />

So lautete denn auch der erste Artikel des Eisenacher Programms:<br />

„<strong>Die</strong> sozialdemokratische Arbeiterpartei erstrebt die Errichtung des freien Volks-<br />

Staats."<br />

So wichtig erschien der jungen Partei dieser Punkt ihrer politischen<br />

Bestrebungen, daß sie ihr Zentralorgan, dem Liebknecht als Redakteur<br />

vorstand, „Volksstaat" betitelte.<br />

Als dann 1875 die Vereinigung der Lassalleaner mit den Eisenachern<br />

auf Grund des Gothaer Programms vor sich ging, wurde der Passus<br />

vom „freien Volksstaat" durch die Worte ersetzt: daß<br />

„die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit allen gesetzlichen Mitteln den<br />

freien Staat und die sozialistische Gesellschaft"<br />

erstrebe. Von der scharfen Kritik, welche der Volksstaatsidee in den<br />

Organen des freiheitlichen Flügels der <strong>Internationale</strong> und durch die<br />

Pioniere der anarchistischen Bewegung Deutschlands, Emil Werner,<br />

August Reinsdorf usw., in der Berner „Arbeiterzeitung" zuteil wurde,<br />

erfuhren die Anhänger der deutschen Sozialdemokratie ebensowenig,<br />

wie von der vernichtenden Kritik des Gothaer Programmentwurfs im<br />

allgemeinen und der Idee vom „freien Staate" im besonderen durch<br />

Marx, welche er kurz vor der Tagung des Gothaer Kongresses Bracke,<br />

Geib, Auer, Bebel und Liebknecht unterbreitet hatte. Von diesem<br />

Dokument erhielten die gewöhnlichen Parteigenossen erst fünfzehn<br />

Jahre später durch die „Neue Zeit" Kenntnis.<br />

Marx selber nahm dem Staate gegenüber von Anfang an eine<br />

andere Stellung ein als Lassalle und die prominenten Führer der<br />

späteren vereinigten sozialdemokratischen Partei. Bereits im Jahre<br />

1844, also in der Anfangsphase seiner sozialistischen Entwicklung,<br />

unterzog er die Institution des Staates im Pariser „Vorwärts" einer<br />

zersetzenden Kritik in seinem Aufsatze „Kritische Randglossen zu dem<br />

Artikel: Der König von Preußen und die Sozialreform".<br />

In diesem Aufsatz suchte Marx zu beweisen, daß der Staat seinem<br />

inneren Wesen nach nicht imstande sei, das Elend zu beseitigen und im<br />

besten Falle seine Zuflucht zur öffentlichen Wohltätigkeit nehmen<br />

müsse. Wollte der Staat den Pauperismus aufheben, so müßte er sich<br />

selber aufheben, da aber der Selbstmord gegen die Gesetze der Natur<br />

verstoße, so könne man von ihm eine solche Handlung nicht erwarten.<br />

„Der Staat wird nie im Staat und in der Einrichtung der Gesellschaft, wie es der<br />

Preuße von seinem König verlangt, den Grund sozialer Gebrechen finden. Wo es<br />

politische Parteien gibt, findet jede den Grund eines jeden Uebels darin, daß statt<br />

ihrer ihr Widerpart sich am Staatsruder befindet. Selbst die radikalen und revolutionären<br />

Politiker suchen den Grund des Uebels nicht im Wesen des Staates, sondern in einer<br />

bestimmten Staatsform, an deren Stelle sie eine andere Staatsform setzen wollen."


4 WANDLUNG IN DER STAATSAUFFASSUNG DER SOZIALDEMOKRATIE<br />

Und an einer anderen Stelle desselben Aufsatzes heißt es:<br />

„Denn diese Zerrissenheit, diese Niedertracht, dies Sklaventum der bürgerlichen<br />

Gesellschaft ist das Naturfundament, worauf der moderne Staat ruht, wie die bürgerliche<br />

Gesellschaft des Sklaventums das Naturfundament war, worauf der antike<br />

Staat ruhte. <strong>Die</strong> Existenz des Staates und die Existenz der Sklaverei sind unzertrennlich.<br />

Der antike Staat und die antike Sklaverei — offenherzige klassische Gegensätze —<br />

waren nicht inniger aneinander geschmiedet als der moderne Staat und die moderne<br />

Schachcrwelt — scheinheilige christliche Gegensätze."<br />

Aus dem ganzen Aufsatz fühlt man deutlich den starken Einfluß<br />

Proudhons heraus, dessen Schrift „Qu'est-ce que la propriété où recherches<br />

sur le principe du droit et du gouvernement" auf Marx bekanntlich<br />

einen mächtigen Eindruck machte, der allerdings nicht nachhaltig<br />

war. Aber sogar später, als Marx sich mehr und mehr die praktischen<br />

Methoden und Leitsätze der Babouvisten oder Blanquisten zu eigen<br />

machte, schwebte ihm die Ueberwindung des Staates stets als Endziel<br />

der sozialen Revolution vor. In diesem Sinne heißt es denn auch im<br />

„Kommunistischen Manifest":<br />

„Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist<br />

alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die<br />

öffentliche Gewalt den politischen Charakter. <strong>Die</strong> politische Gewalt im eigentlichen<br />

Sinne ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen. Wenn<br />

das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint,<br />

durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse<br />

gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktions-<br />

Verhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt<br />

und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf. — An die Stelle der alten bürgerlichen<br />

Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation,<br />

worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung<br />

aller ist."<br />

Sogar in jener haßerfüllten Schmähschrift „L'Alliance de la Démocratie<br />

socialiste et l'Association internationale des Travailleurs",<br />

welche Marx zusammen mit Engels und Lafargue gegen Bakunin und<br />

den freiheitlichen Flügel der <strong>Internationale</strong> verfaßt hatte, werden die<br />

Worte, die bereits in dem berüchtigten Privatzirkular des Generalrats:<br />

„Les pretendues scissions dans l'<strong>Internationale</strong>" enthalten sind, noch<br />

einmal wiederholt:<br />

„Alle Sozialisten verstehen unter Anarchie dieses: ist einmal das Ziel der<br />

proletarischen Bewegung, die Abschaffung der Klassen erreicht, so verschwindet die<br />

Gewalt des Staates, welche dazu dient, die große produzierende Mehrheit unter dem<br />

Joche einer wenig zahlreichen ausbeutenden Minderheit zu erhalten, und die Regierungsfunktionen<br />

verwandeln sich in einfache Vcrwaltungsfunktionen."<br />

Das Ziel, das Marx im Auge hatte, war also unzweifelhaft die Aus?<br />

Schaltung des Staates aus dem Leben der Gesellschaft. In dieser Hins<br />

sieht huldigte er vollständig anarchistischen Gedankengängen. Nur in<br />

der Art, wie er dieses Ziel erreichen wollte, unterschied er sich grundsätzlich<br />

von Bakunin und den freiheitlich gesonnenen Föderationen<br />

der <strong>Internationale</strong>. Bakunin und seine Freunde vertraten den Standpunkt,<br />

daß eine soziale Revolution zusammen mit den Institutionen<br />

der wirtschaftlichen Ausbeutung der Massen auch den politischen<br />

Machtapparat des Staates abtragen müsse, damit sich das neue soziale<br />

Leben ungehindert entfalten könne. Wie man sich diesen Prozeß vorstellte,<br />

geht deutlich aus den Reden, die Hins und Pindy auf dem Baseler


WANDLUNG IN DER STAATSAUFFASSUNG DER SOZIALDEMOKRATIE 5<br />

Kongreß im Jahre 1869 gehalten haben, hervor, in denen der sogenannte<br />

Rätegedanke einen klaren Ausdruck fand. <strong>Die</strong> freiheitlichen<br />

Elemente der <strong>Internationale</strong> waren der Meinung, daß ein neues, auf der<br />

Grundlage des Sozialismus beruhendes Wirtschaftsleben sich nicht<br />

innerhalb der alten politischen Formen verwirklichen lasse, sondern<br />

sich eine neue Form des politischen Organismus schaffen müsse als die<br />

erste Vorbedingung seiner ungestörten Entwicklung.<br />

Marx aber wollte den Staatsapparat als Mittel benutzen, um den<br />

Sozialismus praktisch durchzuführen und die Klassengegensätze innerhalb<br />

der Gesellschaft abzuschaffen. Erst nachdem die Klassen verschwunden,<br />

sollte ihnen der Machtapparat des Staates nachfolgen und<br />

der Verwaltung der Dinge Platz machen.<br />

Heute wissen wir, wer Recht in diesem Streite hatte, denn durch<br />

das praktische Experiment der Bolschewiki in Rußland ist die Frage<br />

ein für allemal entschieden worden. Auch Lenin sprach von der Ueberwindung<br />

des Staates. In seiner bekannten Schrift „Staat und Revolution"<br />

hat er alle Aussprüche von Marx und Engels, die ein Licht auf<br />

ihre Auffassung vom Staate werfen, geschickt zusammengetragen und<br />

die einzelnen Etappen, die seiner Meinung nach die Revolution gehen<br />

mußte, genau vorgezeichnet. Aber die lebendige Wirklichkeit erwies<br />

sich auch in diesem Falle stärker als die ideologischen Spitzfindigkeiten<br />

des bolschewistischen Führers und Theoretikers. Indem die bolschewistische<br />

Partei den Staatsapparat in ihre Hände nahm, wurde sie<br />

selbst von der zermalmenden Kraft seines Mechanismus ergriffen, deren<br />

innere Gesetze man nicht willkürlich ändern kann. Sie erstickte alle<br />

schöpferischen Kräfte der Nation in der toten Uniformität der Staatliehen<br />

Schablone, und der angebliche Befreiungsapparat blieb auch in<br />

ihren Händen bloß ein Instrument der Unterdrückung, das dem Volke<br />

dieselben Wunden schlug, wie früher die Knute des zarischen Regimes.<br />

Anstatt die Klassen und Klassengegensätze abzuschaffen, schuf<br />

der neue Staat eine neue Kaste ans den Parteigängern des Bolschewismus<br />

und entwickelte fortgesetzt neue Gegensätze zwischen sich und<br />

den werktätigen Massen, die er angeblich beschützen wollte. Und da<br />

er fortwährend neue Hindernisse vor sich auftürmte, glaubte er dieselben<br />

durch den Schrecken besiegen zu können, bis er endlich wieder<br />

beim Kapitalismus Zuflucht suchen mußte.<br />

<strong>Die</strong> Diktatur des Proletariats, die in Wahrheit nie etwas anderes<br />

gewesen, als die Diktatur über das Proletariat und die zuerst nur als<br />

ein Provisorium gedacht war, bis die Mächte der Konterrevolution<br />

niedergerungen seien, wütet heute schlimmer gegen die Verfechter jeder<br />

anderen sozialistischen Meinung als in den Tagen, wo die Judenitsch,<br />

Denikin oder Wrangel ihre reaktionären Armeen gegen Sowjetrußland<br />

führten. Das Wort Proudhons, daß jede sogenannte provisorische<br />

Regierung stets die Absicht verfolge, permanent zu werden, hat sich<br />

auch im bolschewistischen Rußland bewahrheitet, wo man den Sozialismus<br />

längst preisgegeben und nur noch das eine Ziel verfolgt, die Herrschaft<br />

einer bestimmten Partei über die breiten Massen des Volkes<br />

um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Das russische Experiment hat<br />

klar bewiesen, daß der Sozialismus nicht innerhalb des alten Staats-


6 WANDLUNG IN DER STA ATS AUFFASSUNG DER SOZIALDEMOKRATIE<br />

Systems verwirklicht werden kann, daß er sich vielmehr neue politische<br />

Organe schaffen muß, um ins Leben treten zu können. Daß diese<br />

Lehre mit so viel Blut und Tränen und enttäuschten Hoffnungen erkauft<br />

werden mußte, ist sicherlich die tragischste Seite dieses Versuches.<br />

Nach dem Sozialistengesetz schuf sich die Sozialdemokratie auf<br />

dem Erfurter Parteitag ein neues Programm, in dem nicht mehr die<br />

Rede war, vom „Volksstaat" oder vom „freien Staate" wie in den Programmen<br />

von Eisenach und Gotha. <strong>Die</strong> Kritik, die Marx an dem<br />

Gothaer Programm geübt hatte, und die Engels acht Monate vor dem<br />

Parteitag in Erfurt in der „Neuen Zeit" veröffentlichte, hatte ohne<br />

Zweifel dazu beigetragen, daß das Bekenntnis zum Staate aus dem<br />

Programm verschwunden ist. Allerdings scheint auch hier die Frage<br />

nicht so ohne Widerstand von statten gegangen zu sein, denn nach der<br />

Aussage Bebels wurde dem Parteitag erst die sechste Umarbeitung<br />

des Programms zur Beratung vorgelegt.<br />

Demgemäß erklärte denn auch Bebel in der berühmten Zukunftsstaats-Debatte<br />

im Deutschen Reichstag, die sich unter der Reichskanzlerschaft<br />

des Fürsten Bülow abspielte, daß die Sozialdemokratie überhaupt<br />

keinen sozialistischen Zukunftsstaat, sondern eine sozialistische<br />

Gesellschaft erstrebe. Ein Wort, das Liebknecht aber sofort abschwächte,<br />

indem er der Meinung Ausdruck gab, daß es keinen Unterschied<br />

mache, wie man das Ding nenne — Staat oder Gesellschaft.<br />

Als dann die Opposition der Jungen bald nach dem Fall des Sozialistengesetzes<br />

einsetzte und sich nach dem Ausschluß ihrer Wortführer<br />

auf dem Parteitag von Erfurt als Partei der unabhängigen Sozialisten<br />

zusammenschloß, war es ein beliebtes Argument der Bebel,<br />

Kautsky usw., auf das Erfurter Programm hinzuweisen mit der Erklärang,<br />

daß man doch unmöglich von einer Verbürgerlichung der Partei<br />

reden könne, wenn sich dieselbe Partei soeben in Erfurt ein viel radikaleres<br />

Programm zugelegt habe. Aber Programme sind ein eigen<br />

Ding und beweisen an und für sich noch wenig für den revolutionären<br />

Charakter einer Bewegung, der letzten Endes immer in der Aktionskraft<br />

ihrer Anhänger seinen Ausdruck findet.<br />

Das Auftreten des Revisionismus und die langjährigen Kämpfe<br />

der sogenannten „Radikalen" gegen seinen wachsenden Einfluß in der<br />

Partei waren ein Beweis dafür, daß Programme nicht imstande sind,<br />

der Verbürgerlichung einer Bewegung einen Damm entgegenzusetzen.<br />

Der Kampf der Revisionisten mit den Radikalen ging weit über die<br />

Grenzen Deutschlands hinaus und spielte sich in mehr oder weniger<br />

breiten Formen in allen Ländern ab, in denen eine sozialdemokratische<br />

Bewegung vorhanden war. Theoretisch mochten die Kautsky, Cunow,<br />

Mehring, Plechanow noch so sehr in ihrem Rechte sein, taktisch aber<br />

waren sie den Revisionisten gegenüber stets im Unrecht. Denn der<br />

Revisionismus entwickelte sich folgerichtig aus der gänzlich parlamentarisch<br />

eingestellten Taktik der sozialistischen Parteien des In- und<br />

Auslandes.<br />

Mit der zahlenmäßigen Entwicklung der sozialdemokratischen<br />

Wählerschaft in den verschiedenen Ländern entstand die Frage wegen<br />

einer eventuellen Beteiligung der Sozialdemokratie an einer bürger-


WANDLUNG IN DER STAATSAUFFASSUNG DER SOZIALDEMOKRATIE 7<br />

lichen Regierung ganz von selbst. Was half da die schärfste Kritik der<br />

sogenannten Radikalen und die Mehrheitsbeschlüsse der Kongresse?<br />

Standen doch die Radikalen in der Praxis auf demselben Boden wie die<br />

Revisionisten und befolgten dieselbe Taktik, wenn sie es auch nicht<br />

wahr haben wollten. <strong>Die</strong> praktische Betätigung der Sozialdemokratie<br />

in den parlamentarischen Körperschaften des bürgerlichen Staates<br />

drängte die Partei zwangsläufig immer mehr in das Fahrwasser des<br />

Revisionismus trotz aller Bannsprüche der Grabwächter des „reinen<br />

Marxismus".<br />

Theorien haben nur dann eine Bedeutung, wenn sie dem praktischen<br />

Leben entspringen und die alltäglichen Erfahrungen und die<br />

Schlüsse, die daraus zu ziehen sind, sozusagen in kristallisierter Form<br />

wiedergeben. Aber Theorien, welche in den luftleeren Räumen rein abstrakter<br />

Vorstellungen erzeugt werden, sind wertlos, auch wenn sie<br />

allen Regeln der sogenannten Logik entsprechen. In dieser Stellung<br />

aber befanden sich die „Radikalen" den Revisionisten gegenüber.<br />

Der Ministerialismus der Revisionisten, welcher durch das Beispiel<br />

des Franzosen Millerand mächtig gefördert wurde, war eben das<br />

unvermeidliche Ergebnis einer jahrzehntelangen parlamentarischen<br />

Betätigung. So lange die Sozialdemokratie im Reichstag nur eine verschwindend<br />

kleine Minorität repräsentierte, konnte natürlich von einer<br />

Beteiligung an der Regierung keine Rede sein. Aber in dem Maße, wie<br />

die Partei immer mehr Stimmen auf ihre Kandidaten vereinigte und<br />

sich zahlenmäßig zur stärksten Partei Deutschlands entwickelte, wurde<br />

die Frage immer dringlicher und war zuletzt nicht länger zu umgehen.<br />

Es spielte sich hier dieselbe Erscheinung noch einmal in anderer<br />

Form ab, die sich schon einmal in den Reihen der Sozialdemokratie<br />

manifestiert hatte. Im Gegensatz zu den Lassalleanern stand ein gut<br />

Teil der Eisenacher dem Parlamentarismus anfänglich ziemlich skeptisch<br />

gegenüber. <strong>Die</strong> bekannte Rede Liebknechts über die politische<br />

Stellung der Sozialdemokratie (1869) gab dieser Stellung klaren Ausdruck.<br />

Wenn Liebknecht später behauptete, daß seine Rede nur auf<br />

den Norddeutschen Reichstag vor der Gründung des Deutschen<br />

Reiches Bezug hatte, so wird diese Behauptung durch ihn selbst widerlegt<br />

durch das Vorwort, das er der zweiten Auflage seiner gedruckten<br />

Rede im Jahre 1874 vorausschickte. In diesem Vorwort, das allerdings<br />

in der Ausgabe von 1888 sorgfältig ausgemerzt wurde, erklärte Liebknecht<br />

ganz offen, daß sich der Parlamentarismus im Deutschen<br />

Reichstag „nicht minder glorreich betätige, als weiland im Norddeutschen<br />

Reichstag" und daß er an seinen ursprünglichen Ausführungen<br />

„nichts zu widerrufen und nichts zu mildern" habe.<br />

Man wollte sich zwar an den Wahlen beteiligen, aber nur der Propaganda<br />

wegen. Man wollte von der Tribüne des Parlaments zum<br />

Volke sprechen und stand der positiven Mitarbeit grundsätzlich feindlich<br />

gegenüber. Noch auf dem Parteitag in St. Gallen im Jahre 1887<br />

wurde einstimmig folgende Resolution angenommen:<br />

„Der Parteitag ist der Ueberzeugung, daß nach wie vor die Stellung der Partei zu<br />

der parlamentarischen Tätigkeit der Abgeordneten im Reichstag und in den Landtagen<br />

die bisherige bleiben muß; wie bisher das Hauptgewicht auf die kritische und agitato-


8 WANDLUNG IN DER STAATSAUFFASSUNG DER SOZIALDEMOKRATIE<br />

rische Seite zu legen und die positive gesetzgeberische Tätigkeit nur in der Voraussetzung<br />

zu pflegen, daß bei dem heutigen Stand der Parteigruppierung und der ökonomischen<br />

Verhältnisse über die Tragweite dieser positiven Tätigkeit im Parlament für<br />

die Klassenlage der Arbeiter in politischer wie in ökonomischer Hinsicht kein Zweifel<br />

gelassen und keine Illusion geweckt werden kann."<br />

Das war ungefähr das, was unsere Kommunisten heute in ihrem<br />

politischen Rotwelsch „antiparlamentarischen Parlamentarismus"<br />

nennen. Aber diese Stellung der Sozialdemokratie änderte sich in dem<br />

Maße wie die Zahl ihrer Wähler sich vermehrte, und es lag in der<br />

Natur der Sache, daß die positive Mitarbeit die rein negative Betätigung<br />

früher oder später verdrängen mußte. Aber mit derselben Notwendigkeit,<br />

mit der sich aus dem negativen Parlamentarismus die positive<br />

Mitarbeit ergab, mußte die positive Mitarbeit notgedrungen zum<br />

Ministerialismus der Revisionisten führen. Was half es, daß man den<br />

Revisionismus auf fünf oder sechs Kongressen mausetot schlug, wenn<br />

er nach jeder „Niederlage" um so kräftiger emporblühte? Es war ein<br />

Schauspiel für Götter, zu sehen, wie die unentwegten Verfechter des<br />

Marxismus in Reinkultur jedesmal die Scheiter herbeischleppten, auf<br />

denen die Bernstein, Vollmar, Heine, Auer usw. gebraten werden<br />

sollten. Nicht einmal ausräuchern konnte man den „inneren Feind",<br />

geschweige verbrennen.<br />

Auf dem <strong>Internationale</strong>n Sozialistenkongreß in Paris im Jahre 1900<br />

brachte Kautsky eine Resolution ein, derzufolge die Sozialdemokratie<br />

„einen Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft<br />

nicht erstreben kann."<br />

Im Jahre 1903 nahm dann der Dresdener Parteitag eine Resolution<br />

an, die von den Radikalen eingebracht wurde und in der es unter<br />

anderem heißt:<br />

„Daher ist der Parteitag im Gegensatz zu den in der Partei vorhandenen revisionistischen<br />

Bestrebungen der Ueberzeugung, daß die Klassengegensätze sich nicht abschwächen,<br />

sondern sich stetig verschärfen und erklärt:<br />

1. daß die Partei die Verantwortlichkeit ablehnt für die auf der kapitalistischen<br />

Produktionsweise beruhenden politischen und wirtschaftlichen Zustände und daß sie<br />

deshalb jede Bewilligung von Mitteln verweigert, welche geeignet sind, die herrschende<br />

Klasse an der Regierung zu erhalten;<br />

2. daß die Sozialdemokratie, gemäß der Resolution Kautsky des <strong>Internationale</strong>n<br />

Sozialistenkongresses zu Paris im Jahre 1900, einen Anteil an der Regierungsgewalt<br />

innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht erstreben kann.<br />

Der Parteitag verurteilt ferner jedes Bestreben, die vorhandenen stets wachsenden<br />

Klassengegensätze zu vertuschen, um eine Anlehnung an bürgerliche Parteien zu<br />

erleichtern."<br />

Vierzehn Jahre später fegte der Krieg alle diese Grundsätze über<br />

den Haufen und schuf sozusagen die Grundlage für die Regierungsfähigkeit<br />

der Sozialdemokratie, welche sie sich durch ihren Burgfrieden<br />

mit den Kapitalisten und ihr Durch-dick-und-dünn-gehen mit<br />

den Mächten der politischen und militärischen Reaktion redlich<br />

erworben hatte.<br />

Nach dem Untergang des alten Regimes änderte sich die Stellung<br />

der Sozialdemokratie zur bürgerlichen Regierung vollständig, und sogar<br />

die intransigentesten Befürworter des radikalen Marxismus, für die<br />

jeder Revisionist bisher der Inbegriff alles Uebels gewesen, vergaßen<br />

plötzlich ihre unerschütterlichen Grundsätze, die „bisherige bewährte


WANDLUNG IN DER STAATSAUFFASSUNG DER SOZIALDEMOKRATIE 9<br />

und sieggekrönte, auf dem Klassenkampf beruhende Taktik" und bekehrten<br />

sich im Handumdrehen zum Ministerialismus Bernsteins und<br />

seiner Anhänger. Der Revisionismus hatte nun auch äußerlich gesiegt<br />

auf der ganzen Linie.<br />

Cunow, einstens einer der grimmen Kämpen gegen den Revisionismus,<br />

verfaßte sogar ein zweibändiges Werk, „<strong>Die</strong> Marxsche Geschichte,<br />

Gesellschafts: und Staatstheorie. Grundzüge der Marxschen Soziologie",<br />

in dem er sich die meisten Argumente Bernsteins zu eigen macht<br />

und es sich besonders angelegen sein läßt, die Marxsche Auffassung<br />

vom Staat zu erschüttern. Denn Cunow weiß sehr gut, daß die Frage<br />

des Eintritts der Sozialdemokratie in eine bürgerliche Regierung eng<br />

verknüpft ist mit ihrer Auffassung vom Staate. Aus diesem Grunde<br />

gibt sich Cunow alle Mühe, den Beweis zu erbringen, daß zwar die<br />

soziologischen Teile der Marxschen Staatslehre immer noch zu Recht<br />

bestehen,<br />

„was aber fällt, ist die mit seinen eigenen (Marxens) soziologischen Auffassungen<br />

im Widerspruch stehende, aus einem halbutopisch-anarchistischen Revolutionarismus<br />

herauskonstruierte Hypothese von der baldigen Abschaffung oder Auflösung des<br />

Staates."<br />

Cunow hat es unternommen, Marx durch sich selber zu widerlegen,<br />

soweit seine Staatsauffassung in Frage kommt. Er mußte dies<br />

tun, um jene Unterscheidungslinie zu finden, welche den alten Obrigkeitsstaat<br />

von den modernen parlamentarischen Staaten der kapitalistischen<br />

Periode trennt, denn nur so war es ihm möglich, die Anteilnahme<br />

der Sozialdemokratie an der Regierungsgewalt des bürgerlichen<br />

Staates zu begründen und zu rechtfertigen. So entwickelt er denn in<br />

seinem Werke im direkten und bewußten Gegensatz zu Marx die<br />

folgende Ansicht, die man ruhig als die Auffassung der heutigen Sozialdemokratie<br />

betrachten kann:<br />

„Im früheren Obrigkeitsstaat wurde die Staatsmacht meist noch gar nicht als<br />

zusammenordnende Gewalt, als notwendige Gemeinschaftsgewalt, sondern als Willkürmacht<br />

der herrschenden Regierung empfunden. Aus dem zunehmenden Gefühl,<br />

daß das eigene Wohl in erheblichem Maße mit dem Staatswesen verbunden ist und<br />

nur in ihm zur Geltung kommen kann, entstand aber naturgemäß die Erkenntnis einer<br />

gewissen Gemeinschaftlichkeit, die im weiteren Verlauf zu einer bewußten und<br />

gewollten Teilnahme an der staatlichen Gemeinsamkeit wurde, in den ärmeren<br />

Volksschichten freilich erst, nachdem sie einen Anteil an der Staatsgewalt gewonnen<br />

haben. An die Stelle des einstigen dynastischen Machtwortes: „Der Staat bin ich!"<br />

tritt nun in einem sich mehr und mehr erweiternden Staatsbürgerkreise das erstarkende<br />

Bewußtsein: „Der Staat sind wir!" — <strong>Die</strong> Entwicklung des Staates hat demnach eine<br />

andere Richtung genommen, wie Marx und Engels in ihrer Beeinflussung durch liberalanarchistische<br />

Zeitströmungen glaubten. Der Staat wird nicht überflüssig; er verliert<br />

nicht, wie Engels meint, einen immer größeren Teil seiner einstigen Funktionen an die<br />

Gesellschaft, sondern er übernimmt im Gegenteil immer weitere soziale Aufgaben<br />

und erweitert dadurch seine Verwaltungsmaschinerie."<br />

Das ist der vollständige Bruch mit der alten Auffassung Marxens<br />

vom Staate und in derselben Zeit die theoretische Voraussetzung für<br />

den in die Praxis getretenen Revisionismus, der heute die ganze<br />

Sozialdemokratie restlos erfaßt hat. Man fragt sich nur erstaunt, aus<br />

welchem Grund Cunow früher den Revisionismus so bitter bekämpfte,<br />

dem er sich nun mit Haut und Haaren verschrieben? Wozu war der<br />

ganze Lärm und der Theaterdonner früherer Kongresse?


10 WANDLUNG IN DER STAATSAUFFASSUNG DER SOZIALDEMOKRATIE<br />

Wohl hat Kautsky in einer besonderen Streitschrift: „<strong>Die</strong> Marxsche<br />

Staatsauffassung im Spiegelbild eines Marxisten", den Versuch<br />

gemacht, zu beweisen, daß Cunow Marx und Engels falsch interpretiert<br />

habe. Aber diese Dinge ziehen heute nicht mehr. Es gab eine<br />

Zeit, wo Kautsky und Cunow gemeinsam denselben Vorwurf gegen<br />

Bernstein erhoben. Dann hat Cunow Kautsky ein mangelhaftes Verständnis<br />

der Marxschen Anschauungen an den Kopf geworfen und<br />

Kautsky zahlt ihm nun in gleicher Münze heim, nachdem schon früher<br />

ein anderer Marxtheologe, Lenin in eigener Person, den beiden<br />

quittierte, daß sie die reine Lehre Marxens verfälscht und überhaupt<br />

nicht verstanden hätten.<br />

Ueber solche Argumentationen lachte man einmal, heute aber<br />

wirken sie langweilig und erinnern lebhaft an die Streitigkeiten der<br />

alten christlichen Theologen, ob man Jesus mit einem I oder einem J<br />

schreiben dürfe, ob eine Maus, die von einer Hostie gefressen, geheiligt<br />

sei oder nicht und dergleichen mehr. Es handelt sich doch schließlich<br />

nicht darum, wie dogmatische Spitzfindigkeit einen Denker interpretiert,<br />

sondern darum, inwieweit sich seine Lehren im Laufe der<br />

Zeit als richtig erwiesen und durch die praktischen Erfahrungen des<br />

Lebens bestätigt wurden oder nicht. Auch der genialste Denker ist<br />

mit tausend Ketten an seine Zeit geschmiedet und seine Anschauungen<br />

haben nur eine relative Bedeutung. Alles, was wir Wahrheit nennen,<br />

richtet sich letzten Endes nach dem jeweiligen Stand unserer Erkenntnis<br />

und verliert seinen positiven Wert in dem Maße, wie sich die Horizonte<br />

unseres Erkennens weiten und uns neue Perspektiven eröffnen.<br />

Das Wort: „Man wird stets von den eigenen verraten", hat sich besonders<br />

bei dem Marxismus bewahrheitet.<br />

Und übrigens ist es ja auch an und für sich gleichgültig, ob Kautsky<br />

oder Cunow Marx richtig interpretiert. Tatsache ist, daß Kautsky<br />

heute auf demselben Boden steht wie Cunow und die alten Wortführer<br />

des Revisionismus, die er einstens so bitterlich bekämpfte.<br />

Auch Kautsky ist heute vollständig davon überzeugt, daß die Sozialdemokratie<br />

an der bürgerlichen Regierungsgewalt Anteil nehmen<br />

müsse, derselbe Kautsky, der vor nunmehr vierundzwanzig Jahren die<br />

sozialistischen Arbeiterparteien der Welt durch seine bereits erwähnte<br />

Resolution zu überzeugen suchte, daß „die Sozialdemokratie einen Anteil<br />

an der Regierungsgewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft<br />

nicht erstreben kann." Oder sollte Kautsky der Meinung sein, daß das<br />

heutige Deutschland nicht mehr als gewöhnlicher bürgerlicher Staat<br />

zu betrachten sei? Bei Gott und bei den Dialektikern des Marxismus<br />

sind nämlich alle Dinge möglich.<br />

Als vor nunmehr zweiundfünfzig Jahren Marx und Engels auf<br />

der Londoner Konferenz den Versuch machten, der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiterassoziation die parlamentarische Betätigung als obligatorisch<br />

aufzuoktroyieren, zerstörten sie nicht bloß das Werk, an dem sie selbst<br />

gebaut, und schleuderten die Fackel der Zwietracht ins Lager des<br />

Sozialismus, sie legten auch damals die Fundamente jener Entwicklung,<br />

die folgerichtig zu dem vollständigen Triumph der revisionistischen


WANDLUNG IN DER STAATSAUFFASSUNG DER SOZIALDEMOKRATIE 11<br />

Auffassung innerhalb der modernen sozialistischen Arbeiterparteien<br />

führen mußte. In dem Maße, wie diese Entwicklung vor sich schritt,<br />

erblaßten die sozialistischen Anschauungen der Sozialdemokratie mehr<br />

und mehr. Heute ist die Sozialdemokratie regierungsfähig, aber von<br />

ihren ehemaligen sozialistischen Grundsätzen blieb ihr nicht mehr<br />

als das Wort. Sie hat den Kreislauf vollendet und befindet sich heute<br />

auf dem Punkte, wo der letzte Rest ihres Sozialismus der bürgerlichen<br />

Politik zum Opfer fiel. Das Görlitzer Programm ist nur die Um-<br />

Schreibung der heutigen Stellung der Sozialdemokratie zum bürgerlichen<br />

Staate.<br />

<strong>Die</strong>ser Prozeß beschränkt sich übrigens nicht bloß auf Deutschland,<br />

wenn er auch hier am deutlichsten zum Ausdruck kam. <strong>Die</strong><br />

Frage, ob die Sozialdemokratie an einer bürgerlichen Regierung Anteil<br />

nehmen kann, ist heute für die Arbeiterparteien in den verschiedenen<br />

Ländern keine Frage mehr. Damit erklärt sich auch zum großen Teil<br />

der Rückgang des bürgerlichen Liberalismus in Europa, dessen Platz<br />

mehr und mehr von den modernen Arbeiterparteien übernommen wird.<br />

Allerdings trifft auch dies nur im bedingten Maße zu, denn es ist der<br />

dekadente Liberalismus, dessen politische Erbschaft die sozialistischen<br />

Arbeiterparteien der Gegenwart angetreten haben, der Liberalismus,<br />

der seine grundlegenden Prinzipien längst vergessen und selber Staatsgläubig<br />

geworden ist.<br />

Aber es gab eine Zeit, wo der politische Radikalismus oder Liberalismus<br />

eine bahnbrechende Rolle in der geistigen Entwicklung Europas<br />

spielte, die unvergeßlich bleiben wird. <strong>Die</strong> blöde Auffassung, welche<br />

im Liberalismus nichts anders sehen will als das Glaubensbekenntnis<br />

des kapitalistischen Manchestertums, ist eine groteske Verzerrung der<br />

geschichtlichen Wahrheit. Männer wie Priestly, Price, Paley, Diderot,<br />

Paine, Condorcet usw. waren sicher keine Vorkämpfer des Kapitalist<br />

mus. Der politische Radikalismus war der Aufschrei des menschlichen<br />

Persönlichkeitsgefühls gegen die alles nivellierende Tendenz des absoluten<br />

Regimes und später gegen den Ultrazentralismus und die Staatsgläubigkeit<br />

des Jakobinismus und seiner verschiedenen politischen Abstufungen.<br />

Und in diesem Sinne wurde er auch später von Mill, Buckle,<br />

Spencer und anderen aufgefaßt. Daß er später in kastrierter Gestalt<br />

dem kapitalistischen Manchestertum als politisches Aushängeschild<br />

dienen mußte, hat mit seinen ursprünglichen Bestrebungen ebensowenig<br />

zu tun, wie die ursprünglichen Ideen des Sozialismus mit der<br />

praktischen Tätigkeit der heutigen Sozialdemokratie.<br />

Und in diesem Sinne ist nicht bloß der Sozialismus den modernen<br />

Arbeiterparteien ein leerer Begriff geworden, sondern auch die Demokratie,<br />

die ihnen heute bloß noch als totes Mehrheitsprinzip erscheint,<br />

von dem sie kaum was anderes gelernt haben, als daß fünf mehr denn<br />

drei ist. Und doch gab es eine Zeit, und diese Zeit liegt noch nicht<br />

allzu weit hinter uns, wo der demokratische Gedanke die Völker —<br />

vornehmlich in Westeuropa — etwas anderes lehrte und ein wirksames<br />

Gegengift war gegen die Stagnation des gesellschaftlichen Lebens in den<br />

starren Formen des Staates. Man lese heute das „Politische Manifest


12 WANDLUNG IN DER STAATSAUFFASSUNG DER SOZIALDEMOKRATIE<br />

des Nationalkomitees der Demokratischen Partei Spaniens" vom<br />

1. Februar 1858 und vergleiche es mit dem seichten Mehrheitsdemokratismus<br />

unserer heutigen Sozialdemokraten. In diesem Manifest der<br />

spanischen Demokratie finden sich die tiefschürfenden Worte:<br />

„Trotz der wiederholten Beweise von der Unfähigkeit und Ohnmacht des Staates<br />

gibt es immer noch Leute, die ihm eine unbeschränkte Macht einräumen möchten,<br />

damit er das Los der Klassen verbessere, deren Elend durch die Versuche der Staatsgewalt,<br />

ihm abzuhelfen, nur vergrößert wurde. Vergessen wir es nicht, der Staat<br />

ist wie Attilas Pferd, das den Boden unfruchtbar macht, auf den es seinen Fuß setzt.<br />

Wir glauben daher alle unsere Anstrengungen dahin richten zu müssen, seinen Wirkungskreis<br />

zu verengen, nicht zu erweitern. Ihn erweitern hieße nur, an die Stelle<br />

eines vorübergehenden einen härteren und schlimmeren Despotismus setzen. <strong>Die</strong><br />

Freiheit ist es, und nicht die Staatsgewalt, die uns die Frucht wahrer Reformen reifen<br />

läßt. Das Leben, welches die Staatsmacht den Systemen gibt, ist immer ein Scheinleben<br />

und eine unsichere Existenz; das Leben hingegen, welches ihnen das schöpferische<br />

Interesse des einzelnen erteilt, ist das einzig wahre und allein fähig, alle Entwicklungsstufen<br />

durchzumachen."<br />

Man vergleiche diese Worte, aus denen der Geist der Selbständigkeit<br />

und der freien Initiative glüht, mit der toten Kasernendisziplin, die<br />

unseren heutigen Sozialdemokraten als der Inbegriff der Demokratie<br />

erscheint. Wer denkt heute daran, die Funktionen des Staates zu beschränken<br />

und seinem fortgesetzten Eingreifen in das Leben des einzelnen<br />

Zügel anzulegen? Im Gegenteil, man ist heute bereit, dem<br />

Staate alle Gebiete des gesellschaftlichen und individuellen Lebens<br />

rücksichtslos preiszugeben und erblickt, wie Cunow, in dieser ununterbrochenen<br />

Erweiterung der staatlichen Wirkungssphäre eine Manifestation<br />

der gesellschaftlichen Demokratisierung. So ebnet man dem<br />

Staatskapitalismus alle Wege und glaubt dabei im Interesse des Sozialismus<br />

zu handeln, während man ihn in Wirklichkeit erdrosselt. <strong>Die</strong><br />

ganze geistige Einstellung unserer modernen Arbeiterparteien arbeitet<br />

auf diese Weise der sozialen Reaktion bewußt oder unbewußt in die<br />

Hände und verlängert nur die Periode der wirtschaftlichen Ausbeutung<br />

und der politischen Bedrückung.<br />

Anarchisten und revolutionäre Syndikalisten sind heute die einzigen,<br />

welche die Ausschaltung des Staates aus dem gesellschaftlichen<br />

Leben als eine Vorbedingung für die Verwirklichung des Sozialismus<br />

verkünden und die Erbschaft des freiheitlichen Flügels der alten <strong>Internationale</strong><br />

getreulich wahren. Um so größer ist die Verantwortlichkeit,<br />

die auf ihnen lastet. Denn der Sozialismus wird frei sein oder er wird<br />

nicht sein.


EIN BLICK IN DEN REVOLUTIONÄREN SYNDIKALISMUS FRANKREICHS 13<br />

Ein Blick<br />

in den revolutionären Syndikalismus Frankreichs.<br />

Von A. S c h a p i r o.<br />

Am 1. und 2. November fand die Konferenz der revolutionären<br />

Syndikalisten (Minorität) Frankreichs statt. <strong>Die</strong> Krise des revolutionären<br />

Syndikalismus ist noch nicht überwunden, man kann jedoch<br />

schon mit Sicherheit und ohne sich der Gefahr auszusetzen, in einen<br />

Widerspruch zu geraten, sagen, daß nicht der revolutionäre Syndikalismus<br />

einer Krankheit verfallen ist, sondern seine Vertreter, die Kameraden,<br />

die ihn heute verteidigen.<br />

<strong>Die</strong> Krankheit, an der sie leiden, erscheint oft bei allen Bewegungen<br />

in kritischen Momenten. Man kann sie als Skiaphobie, das Schattenhafte,<br />

bezeichnen. Das ist eine Infektion, während welcher die Kameraden,<br />

die von ihr befallen sind, Furcht vor ihrem eigenen Schatten<br />

haben, so daß sie bei jedem Schritte, den sie nach vorwärts machen,<br />

mehrere Male zurückblicken, um sich zu überzeugen, ob der Schatten<br />

sie gesehen hat.<br />

Glücklicherweise braucht der Syndikalismus kein adliges Wappenschild,<br />

denn sonst hätte man während der letzten Jahre auf dem des<br />

revolutionären Syndikalismus Frankreichs das Leitmotiv der Bewegung<br />

mit den Worten einschreiben können: „Ich habe Furcht" . . .<br />

Trotzdem muß zu unserer Zufriedenheit hinzugefügt werden, daß<br />

diese Krankheit ihrem Ende entgegengeht, wenigstens soweit die<br />

Situation im eigenen Lager in Betracht kommt. Allerdings geht es nur<br />

sehr zaghaft, mit langsamen Schritten, gewissermaßen verstohlen, und<br />

man könnte fast sagen, der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe,<br />

der Genesung entgegen. Aber der Genesungsprozeß ist vorhanden.<br />

Nach einer Periode unaufhörlicher Winkelzüge, während welcher sie<br />

auf beiden Schultern den schmutzigen Schlamm fühlten, der von überführten<br />

Verleumdern mit vollen Händen seit zwei Jahren auf sie geworfen<br />

wurde, hat die revolutionärssyndikalistische Minderheit den<br />

Entschluß gefaßt, Schluß zu machen mit den Söldlingen Moskaus, den<br />

Anschwärzern des Syndikalismus, den bewußten und gewollten Komplizen<br />

einer Regierung von Mördern.<br />

Schon am Tage der Konferenz des 18. Januar, die anläßlich der<br />

Ermordung unserer Kameraden durch einen französischen Kommunisten<br />

einberufen wurde, haben wir an die Minorität die Worte gerichtet:-)<br />

„Wollen die revolutionären Syndikalisten Frankreichs angesichts<br />

eines solch gigantischen Verrates der Arbeiterklasse aller Länder<br />

durch die russische Regierung und ihre Agenten im Auslande, die Kommunistische<br />

<strong>Internationale</strong> und die Rote Gewerkschafts-<strong>Internationale</strong>,<br />

sich dieses Verrates mitverantwortlich machen, oder wollen sie ein<br />

für allemal alle die an den Pranger stellen, die die russische Regierung<br />

bis zum Verbrechen unterstützen und . . . nachahmen? . . . Unter den<br />

derzeitigen Verhältnissen in dem Unitären Gewerkschaftsbund<br />

-) Siehe „Le Libertaire" vom 18. Januar 1924.


14 EIN BLICK IN DEN REVOLUTIONÄREN SYNDIKALISMUS FRANKREICHS<br />

(C.G.T.U.) zu bleiben, bedeutet auf der einen Seite, der Ermordung<br />

unserer Kameraden seine Zustimmung zu geben und auf der anderen,<br />

das Spiel der russischen Regierung zu spielen. Das aber wäre der revolutionär-syndikalistischen<br />

Minderheit nicht würdig."<br />

Damals hat die Minorität noch nicht zu antworten gewagt, denn<br />

es herrschte noch ein zu großer Wirrwarr. Sie hat sich nicht zu der<br />

Handlungsweise emporgeschwungen, die alle Revolutionäre von ihr<br />

erwarteten. Sie fürchtete sich vor der Spaltung! Seitdem ist kein Tag<br />

vergangen, an dem nicht die direkte Aktion der revolutionären Syndikalisten<br />

verleumdet, geschwächt, gebrochen und verkauft wurde: man<br />

ließ es geschehen, denn man fürchtete die Spaltung!<br />

Moskau hat aber schließlich verstanden: um die Spaltung herbeizuführen,<br />

die sie erzeugt hat, müsse man sich an den revolutionären<br />

Syndikalisten direkt vergehen, und erst als diese Tag für Tag verhöhnt,<br />

verunglimpft, in den Schmutz gezogen würden, da verstanden auch sie<br />

es schließlich.<br />

<strong>Die</strong> Konferenz der Minorität vom 1. und 2. November hat beschlossen,<br />

aus der C.G.T.U. auszutreten. Es ist allerdings besser spät<br />

als niemals. Aber selbst heute wagt die Minderheit nicht, ihren Schritt<br />

frank bis zu Ende zu gehen und die ganze Verantwortung auf sich zu<br />

nehmen. Man muß auf der Konferenz anwesend gewesen sein, um<br />

gesehen zu haben, wie groß die Unschlüssigkeit noch in den Reihen der<br />

Minorität gewesen ist. <strong>Die</strong> Zeit ist gekommen, sagte man uns, da wir<br />

uns verteidigen müssen! Wer den Ereignissen in Frankreich gefolgt ist<br />

und sie mit der mehr als durchsichtigen Politik der Roten Gewerkschafts-<strong>Internationale</strong><br />

verknüpft hat, der hätte schon seit lange mit weit<br />

größerem Rechte sagen können: Der Augenblick zum Angriff ist gekommen!<br />

<strong>Die</strong> Minorität ist aber noch nicht dazu bereit. Sie befindet sich<br />

noch im Krankheitszustande. Wir wollen nicht die Frage erörtern,<br />

ob es angebracht ist, eine dritte Landesorganisation der Arbeiterklasse<br />

zu errichten. Wir hätten aber wenigstens die Minorität nicht mit<br />

Worten spielen sehen wollen, denn das ist eine Uebung, die immer<br />

schlecht für die Akrobaten endet. <strong>Die</strong> meisten Delegierten auf der<br />

Konferenz waren wohl für den "Bruch aller organisatorischen Verbindungen<br />

mit der C.G.T.U. und gegen die Zurückkehr in den Allgemeinen<br />

Gewerkschaftsbund (C.G.T.), aber zu gleicher Zeit gegen die<br />

Bildung einer neuen Landesorganisation, und doch traten sie für die<br />

Errichtung eines organisatorischen Bandes ein zwischen den Organisationen,<br />

die bereits selbständig sind oder am Tage nach der Beschlußfassung<br />

der Minorität selbständig werden. Eine derartige Konfusion —<br />

nach allen traurigen Erfahrungen der französischen Bewegung in den<br />

letzten Jahren — zeigt uns am besten diese unglückselige Krankheit:<br />

den Mangel an Courage vor eigenen Meinungen.<br />

Suchen wir dieser Konfusion und diesem Wahne auf den Grund<br />

zu kommen.<br />

In bezug auf die Situation im eigenen Lande fühlen die Anhänger<br />

einer Scheidung von der C.G.T.U. und der Selbständigmachung der


EIN BLICK. IN DEN REVOLUTIONÄREN SYNDIKALISMUS FRANKREICHS 15<br />

Ortsvereine selbst, daß eine solche Zerstückelung der Kräfte der<br />

Arbeiterschaft sicherlich nicht dazu angetan ist, die Aktionskraft des<br />

Proletariats zu verstärken und zu erhöhen. Aus politischen Gründen<br />

gezwungen, ihre Unterstützung sowohl dem reformistischen wie dem<br />

diktatorischen Gewerkschaftsbund zu verweigern, sind sie durch die<br />

Ereignisse gezwungen worden, sich in selbständigen Ortsvereinen zu<br />

gruppieren, ohne daß sie es selbst wollten. Einmal in selbständigen<br />

Ortsvereinen, haben dieselben Ereignisse — die Notwendigkeit, sich<br />

gegen die Verleumdungen der Kommunisten „zu verteidigen" (niemals<br />

anzugreifen) — sie gezwungen, sich gegen ihren Willen zu verbinden<br />

und eine Organisation zu bilden, die ihre zerstreuten Kräfte zusammenfaßte.<br />

Der Kampf gegen das Unternehmertum — den man bei all diesen<br />

unfruchtbaren inneren Kämpfen leider allzu sehr vergaß — wird sie<br />

zwingen, ihr Tätigkeitsfeld noch zu erweitern und ihre Vereinigungskörperschaft<br />

zu verstärken.<br />

Und doch war die große Mehrheit auf der Konferenz der Minorität<br />

gegen die Bildung einer solchen Organisation, deren Unerläßlichkeit<br />

sie doch alle eingesehen haben!<br />

Durch eine völlig unverständliche Verirrung, die nur durch die<br />

absolute Konfusion, die in den Reihen der revolutionären Syndikalisten<br />

herrscht, erklärt werden kann, erklärten sich auf der Konferenz alle<br />

Gegner einer neuen Landesorganisation für ein gemeinsames Band, das<br />

alle revolutionärssyndikalistischen Organisationen des Landes vereinen<br />

soll, die zu den beiden bestehenden Landesorganisationen in Opposition<br />

stehen! Das ist ungefähr so, wie wenn die Atheisten erklärten, sie<br />

seien alle gegen Gott, aber für die Existenz einer übermenschlichen<br />

Macht, welche das Schicksal der Menschheit und des Weltalls lenke!<br />

<strong>Die</strong> syndikalistische Minderheit hatte Furcht vor der C.G.T.U.<br />

Sie fürchtete sich vor ihren eigenen Kräften innerhalb der C.G.T.U.<br />

Jetzt, da sie von dieser Furcht geheilt ist, entwickelt sich bei ihr eine<br />

andere Furcht: die Angst vor einem vereinigenden Bande, vor einer<br />

revolutionären Landesorganisation — mit einem Worte, die Angst vor<br />

sich selbst.<br />

Zu dieser Krise der Phantome kommt noch eine andere hinzu: die<br />

Furcht vor dem anarchistischen Gtspenste! Der Gipfel dieser Konfusion<br />

besteht aber darin, daß die Anarchisten selbst ganz besonders<br />

unter dieser Krankheit leiden!<br />

Anfänglich bestand das Hauptargument der Delegierten, die dafür<br />

waren, in die reformistische Landesorganisation zurückzukehren, darin,<br />

daß eine dritte Landesorganisation die Beute einer dritten politischen<br />

Partei sein könnte! Es schien also, daß der revolutionäre Syndikalist<br />

mus — der wahre und unzerstörbare — nur dazu bestimmt sei, von<br />

irgendeiner politischen Gruppe verschluckt zu werden. Das ist freilich<br />

eine Situation, die nicht gerade rühmlich ist für eine Bewegung, deren<br />

Vorkämpfer, wie Pelloutier und andere, niemals und vor niemandem<br />

Furcht hatten, und die das syndikalistische Schiff stets unabhängig von<br />

den politischen Schleppern zu erhalten wußten. Ein derartiger syndikalistischer<br />

„Unabhängigkeitshorizont", wie sich ihn die Kameraden<br />

vorstellen, die schon heute eine politische Partei fürchten, die noch gar


16 EIN BLICK IN DEN REVOLUTIONÄREN SYNDIKALISMUS FRANKREICHS<br />

nicht existiert, ist eines revolutionären Syndikalisten unwürdig und<br />

nichts weiter als ein Beweis, daß ihr eigener Schatten sie verfolgt und<br />

nicht loslassen will.<br />

Einer der Delegierten hat eingestehen müssen, daß er die Möglichkeit<br />

neuer Tendenzen innerhalb der anarchistischen Ideengänge<br />

fürchte. (Wir mutmaßen, daß dies eine Anspielung auf den Anarcho-<br />

Syndikalismus ist.) Darauf reagierten die Anarchisten, die im Saale<br />

anwesend waren, indem sie schrien, der Anarchismus sei nur eine<br />

Moral, soll heißen eine Lehre, so daß folglich eine dritte Landesorganisation<br />

von dieser Seite nichts zu fürchten hätte!<br />

Keiner der anwesenden anarchistischen Delegierten hielt es für<br />

notwendig, gegen eine solche entstellende Definition einer politischen<br />

Bewegung zu protestieren, der sie angehörten, keiner hielt für notwendig,<br />

die tatsächlichen Unterschiede zwischen der anarchistischen<br />

Bewegung, die gegen jede Eroberung der politischen Macht ist und den<br />

anderen politischen Bewegungen zu erklären, die für die politische<br />

Machteroberung sind.<br />

Ein anderer Delegierter, bekannter Syndikalist und Anarchist, erklärte<br />

sich gegen eine dritte Landesorganisation, weil er fürchtete (!),<br />

man könnte diese neue Landesorganisation als anarchistisch bekämpfen!<br />

Hier genügt es, daran zu erinnern, daß Pelloutier und später Pouget,<br />

Yvetot, Griffuelhes weit entfernt waren von derartigen Bekümmere<br />

nissen, als sie die Leiter einer wahrhaft syndikalistischen Landesorganisation<br />

gewesen sind.<br />

Alle Geistesäußerungen der Delegierten auf der Konferenz der<br />

syndikalistischen Minorität scheinen von Furcht diktiert gewesen zu<br />

sein. <strong>Die</strong> Furcht vor Offenheit hat alle Debatten und damit notwendigerweise<br />

auch alle Beschlüsse verdunkelt.<br />

<strong>Die</strong> Frage hat aber noch eine andere Seite, das ist die Stellung der<br />

syndikalistischen Minorität auf internationalem Gebiete.<br />

Hierbei — das muß eingestanden werden — gab es keinerlei Konfusion.<br />

Da gab es keine Angst noch Furcht, sondern ganz einfach<br />

Schrecken. Ein einziger Delegierter wagte es, die Frage aufzuwerfen,<br />

die allen hätte im Sinne liegen sollen und sicher auch gelegen hat. Es<br />

war derselbe Kamerad, Syndikalist und Anarchist, der als erstes Argument<br />

gegen die Gründung einer neuen Landesorganisation die Furcht<br />

einer möglichen Kritik gegen den anarchistischen Geist dieser Landesorganisation<br />

vorgeschoben hatte. Sein zweites Argument gegen die<br />

Gründung einer neuen Landesorganisation war folgendes: „Eine neue<br />

Langesorganisation müßte auf internationalem Gebiete eine Stellung<br />

einnehmen; sie müßte ihre internationale Verbindung haben. <strong>Die</strong>se<br />

kann sie nicht finden in der Amsterdamer <strong>Internationale</strong>, die sich an<br />

die Sünden der II. <strong>Internationale</strong> der politischen Parteien gewöhnt hat,<br />

auch nicht in Moskau, da Moskau unter der Fuchtel der russischen<br />

Regierung steht. Wir haben also kein internationales Band!"<br />

<strong>Die</strong> Furcht vor dem eigenen Schatten ist hier zu einem Grade entwickelt,<br />

der einer mathematischen Wissenschaft gleicht. Und doch<br />

wußte dieser Kamerad sehr wohl — wenige konnten es besser wissen


EIN BLICK IN DEN REVOLUTIONÄREN SYNDIKALISMUS FRANKREICHS 17<br />

als er — daß die Gründung der I.A.A. erfolgt ist auf Grund des vorhergegangenen<br />

Verleumdungsfeldzuges, der dem glich, der der Bildung<br />

der dritten Landesorganisation in Frankreich vorangegangen ist. Er<br />

weiß, daß in dieser <strong>Internationale</strong> die revolutionärssyndikalistischen<br />

Landesorganisationen aller Länder vereinigt sind, mit Ausnahme des<br />

unterjochten Rußland und des furchtsamen Frankreich. Er weiß auch,<br />

daß alle diese Organisationen die Vorhut der revolutionären Arbeiterschaft<br />

sind. Und trotzdem kann ein Kongreß der revolutionären Syndikalisten<br />

zwei Tage lang tagen, die Delegierten können über den revolutionären<br />

Syndikalismus und die internationalen Beziehungen<br />

sprechen, ohne jemals auch nur den Namen der einzigen Organisation<br />

auszusprechen, die auf internationalem Gebiete den revolutionären<br />

Syndikalismus ebenso verteidigt, wie die syndikalistische Minorität<br />

Frankreichs ihn bei sich im eigenen Lande verteidigt.<br />

Wie anders soll man eine solche „Vergeßlichkeit" erklären als<br />

durch den Schrecken der revolutionären Syndikalisten Frankreichs vor<br />

dem . . . revolutionären Syndikalismus selbst und vor der Furcht —<br />

immer wieder die Furcht —, daß sie beim Aussprechen des Namens der<br />

I.A.A. sofort die Beute jenes anarchistischen Gespenstes werden<br />

könnten, mit welchem die französischen Kommunisten bis auf den<br />

heutigen Tag unsere Kameraden der Minorität schrecken konnten.<br />

<strong>Die</strong> dritte Landesorganisation, die sich nun auf dem Kongreß der<br />

Minorität am 1. und 2. November konstituiert hat, muß jetzt ihre Organisation<br />

auf die Füße stellen. Vor allem wird sie ihre Statuten ausarbeiten<br />

müssen. Der Syndikalismus genügt sich selbst, es muß ihm<br />

nicht nur seine Charta von Amiens wiedergegeben werden, er muß<br />

auch modernisiert werden. Er muß seine Grundsätze, seine Moral,<br />

seine Aktionsmittel erhalten. Wir können diese Grundsätze, Moral<br />

und Aktionsmittel, dann vergleichen mit jenen der I.A.A., wie diese<br />

hervorgegangen sind aus ihrem konstituierenden Kongreß. Wir werden<br />

dann sehen, ob die revolutionärssyndikalistische Landesorganisation,<br />

die am 1. und 2. November 1924 geboren wurde, uns wirklich eine Prinzipienerklärung<br />

geben wird, die der Prinzipienerklärung zuwiderläuft,<br />

die der Gründungskongreß der I.A.A. im Dezember 1922 sich gegeben<br />

hat, auf welchem auch die Vertreter der revolutionärssyndikalistischen<br />

Minorität Frankreichs vertreten waren.<br />

<strong>Die</strong> Konfusion muß ein für allemal verschwinden. <strong>Die</strong> neue Landesorganisation<br />

muß auf nationalem und internationalem Gebiete eine<br />

eindeutige Stellung einnehmen. Im eigenen Lande hat das Ausweichen,<br />

die Furcht, der Opportunismus, die unaufhörlichen Schwankungen und,<br />

sprechen wir es ruhig aus, der Mangel an Zivilcourage der Genossen<br />

der Minorität die Bewegung an den Rand des Abgrundes geführt. Wenn<br />

die neue Organisation lebensfähig sein soll, dann muß sie ihre Richtlinien<br />

klar und genau ausarbeiten. Sie muß ohne Furcht, auf die<br />

Empfindlichkeiten ihrer Feinde von rechts und links zu stoßen (denn<br />

die angeblich links sitzen, sind ja auch nichts als eine verkappte Rechte),<br />

ihr Programm ausarbeiten, aufhören, sich furchtsam zu verteidigen und<br />

einen Frontalangriff beginnen. Nur so wird sie das Vertrauen in den


18 EIN BLICK IN DEN REVOLUTIONÄREN SYNDIKALISMUS FRANKREICHS<br />

Reihen des enttäuschten Proletariats wiedergewinnen können. Auf<br />

internationalem Gebiete sollte die Lehre der jüngsten Vergangenheit<br />

unseren französischen Kameraden die Gefahr gezeigt haben, die darin<br />

besteht, mit den Winkelzügen, Ausflüchten und Unschlüssigkeiten<br />

aufs neue zu beginnen, die auf nationalem Gebiete so beklagenswert<br />

Bankrott gemacht haben. Auch hier muß ohne Umschweife gesagt<br />

werden, für wen und gegen wen man ist.<br />

Das Argument, welches unsere französischen Kameraden vielleicht<br />

gegen die I.A.A. anwenden wollten, besteht darin, daß diese schwach<br />

und unbedeutend ist, — ein Argument, das „in der Luft" auf der Konferenz<br />

der Minorität lag, ohne daß es jemand ausgesprochen hat.<br />

<strong>Die</strong>ses Argument ist ihnen von den Kommunisten eingegeben worden,<br />

die ein besonderes Vergnügen daran empfinden, die I.A.A. dreimal<br />

wöchentlich zu begraben. Es wird Zeit, daß unsere Kameraden sich<br />

selbst mit der internationalen Frage beschäftigen und nicht das, was<br />

ihnen ihre Exkollegen der C.G.T.U. aufbinden, als wahre Münze hinnehmen.<br />

Und außerdem hätte gerade die neue Landesorganisation in<br />

Frankreich — die Minorität innerhalb der C.G.T.U. von gestern — am<br />

wenigsten Grund, der I.A.A. Schwäche vorzuwerfen, denn sie hat<br />

sich während zweier Jahre vom Winde bald hierhin und bald dahin<br />

treiben lassen, ohne zu wissen, wo sie den Anker werfen und landen<br />

sollte.<br />

Wenn wir schließlich dieser Schwäche auf den Grund gehen, so<br />

müssen wir uns fragen: Ist etwa die Confederacion National del<br />

Trabajo Spaniens, die vor der Machtergreifung Primo de Riveras<br />

800 000 Mitglieder hatte, und die wieder zu dieser Macht erstehen wird,<br />

und noch darüber hinaus, an dem Tage, an welchem das Land sich von<br />

dieser Pestbeule befreit haben wird, ein Nichts?<br />

Sind die angeschlossenen Landesorganisationen Portugals, Mexikos,<br />

Deutschlands, Schwedens, Norwegens, Hollands und der Südamerikanischen<br />

Republiken ein Nichts?<br />

Wir glauben nicht, daß die französischen Kameraden die Stärke<br />

einer Organisation nach dem Gelde messen, das sich in ihrer Kasse<br />

befindet, dann schlägt die Rote Gewerkschafts-<strong>Internationale</strong> allerdings<br />

jeden Rekord. <strong>Die</strong> Macht liegt nur in der Verbindung aller revolutionären<br />

Kräfte des Weltproletariats. Aus diesem Grunde hat die R.G.I.<br />

— eine Körperschaft der Spaltung und der Intrigen — in keinem Lande<br />

einen Stützpunkt finden können, und wenn sie in Frankreich einen<br />

erreichen konnte, so geschah dies um den Preis der vollständigen Zersetzung<br />

der gesamten Arbeiterbewegung.<br />

<strong>Die</strong> Vereinigung aller Kräfte des revolutionären Syndikalismus<br />

erscheint dringend geboten. Je schneller sie zustande kommt, um so<br />

schneller wird der revolutionäre Syndikalismus eine Macht werden.<br />

Lasset die Verleumder und Feinde nur schreien. Sie haben euch stets<br />

aller Art Verbrechen beschuldigt; sie werden euch auch in alle Zukunft<br />

anklagen, was immer ihr auch tun möget! Entschließt euch endlich das<br />

zu tun, was ihr selbst beabsichtigt und wollt. <strong>Die</strong> Kommunisten haben<br />

uns wenigstens ein gutes Beispiel gegeben: sie verrichten ihre Arbeit,


EIN BLICK IN DEN REVOLUTIONAREN SYNDIKALISMUS FRANKREICHS 19<br />

ohne sich darum zu bekümmern, „was man sagt". Verrichten wir unser<br />

Werk, tut das eurige, Genossen der neuen Landesorganisation: Eure<br />

Landesorganisation wird die I.A.A. stärken, und die I.A.A. wird durch<br />

die Solidarität der Syndikalisten der ganzen Welt das Werk der revolutionären<br />

Landesorganisation in Frankreich verstärken.<br />

Ein Wort noch über die gewerkschaftliche Einheit in Frankreich.<br />

Man hat während der Konferenz der Minorität viel davon gesprochen.<br />

Man beginnt aber bereits einzusehen, daß es Augenblicke gibt, da die<br />

Einheit zu einer Gefahr wird. Den Mund voll zu nehmen von dieser<br />

Einheit, bedeutet noch lange nicht, die Einheit wirklich zu wünschen. Es<br />

wäre daher besser, jetzt, da man beschlossen hat, sich unabhängig von<br />

beiden bestehenden Landesorganisationen zu organisieren, nicht mehr<br />

von dieser fiktiven und unseligen Einheit zu sprechen und an das<br />

Werk der Organisation und Zusammenfassung der syndikalistischen<br />

Kräfte zu schreiten. <strong>Die</strong> Einheit darf nicht ein Fetisch werden, dem<br />

man sich um jeden Preis unterwerfen muß. <strong>Die</strong> Minorität selbst läßt<br />

sich nicht mehr anführen, und in dem ersten Manifeste der neuen<br />

Landesorganisation, die sich den Namen „Föderative Union selbständiger<br />

Gewerkschaften Frankreichs" gegeben hat, spricht man<br />

nicht mehr von der Einheit. <strong>Die</strong> Ziele dieser Union sind nicht —<br />

wie man es auf der Konferenz der Minorität hat glauben machen<br />

wollen — darin gelegen, sich abzusondern, um die Einheit besser erreichen<br />

zu können, sondern weit wichtigere Dinge. Ihr Ziel-) ist:<br />

„In einem einzigen Bunde alle gewerkschaftlichen Kräfte zu vereinen,<br />

die im Lande zerstreut sind, ihre Aktionen zusammenzufassen und<br />

sie dem Ziele des Syndikalismus entgegenzuführen: die Vernichtung<br />

des Kapitalismus und der Lohnherrschaft."<br />

Wir hoffen, daß unsere Kameraden der Föderativen Union die<br />

Bedeutung dieser Erklärung selbst begreifen, und sich daran erinnern,<br />

daß die I.A.A. ebenfalls zu dem Zwecke ins Leben gerufen wurde, um<br />

die syndikalistischen Kräfte der ganzen Welt in einem Bunde zu vereinen,<br />

damit sie mit größerem Erfolge und mit größerer Einheitlichkeit<br />

dem revolutionärsföderalistischen Syndikalismus die Wege ebnen und<br />

das Ziel verwirklichen kann: die Zerstörung des Kapitalismus und der<br />

Lohnherrschaft. Hierzu müssen wir aber noch hinzufügen: die Zerstörung<br />

des Staates, da der Staat aufs engste und unweigerlich verbunden<br />

ist mit der Unternehmerherrschaft und der Lohnknechtschaft.<br />

-) Siehe „Le Libertaire" vom 5. November 1924.


20 DER ABRUSTUNGSPLAN DANEMARKS<br />

Der Abrüstungsplan Dänemarks.<br />

Von J. J. I p s e n, Kopenhagen.<br />

Dänemark hat in Europa Aufsehen erweckt durch die Ankündigung<br />

des sozialdemokratischen Ministeriums, das durch seinen Kriegsminister,<br />

Herrn Rasmussen, einen Zivilisten, im Reichstage einen Vorschlag<br />

zur Abrüstung einbringen will. <strong>Die</strong>ser Plan besteht aus folgenden<br />

Punkten:<br />

1. Vom 1. April 1925 wird die allgemeine Wehrpflicht aufgehoben.<br />

2. An deren Stelle wird gleichzeitig eine 7000 Mann starke Polizeiwehr<br />

errichtet.<br />

3. Alle freiwilligen Korps werden drei Monate später aufgelöst und<br />

ihre Waffen vom Staate übernommen.<br />

4. Es wird eine Flotte beibehalten zur Lösung von zivilen Aufgaben.<br />

Da der Vorschlag noch unter Ausarbeitung ist, sind nur diese allgemeinen<br />

Hauptlinien bekannt. Es fällt sofort auf, daß der Vorschlag<br />

des Sozialdemokraten Herrn Rasmussen dem Namen Abrüstungsplan<br />

nicht entspricht, unter welcher Bezeichnung er auf dem Genfer Kongreß<br />

des Völkerbundes berühmt und auch in Dänemark anerkannt wurde.<br />

<strong>Die</strong> Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht ist ausgezeichnet, und<br />

dabei hätte man bleiben sollen. Wenn man aber im selben Atemzuge<br />

ein Wachkorps von 7000 professionellen Soldaten einführt, dann ist das<br />

ungefähr so, wie es auf dem großen Volksreichstag in Frankfurt war<br />

nach dem durch die Napoleonischen Kriege entstandenen und langandauernden<br />

Wirrwarr. Da rief ein Redner begeistert: „<strong>Die</strong> alte Autorität<br />

ist tot!", worauf der Vorsitzende trocken bemerkte: „Ja, wir sitzen<br />

aber gerade hier, um eine neue zu errichten." Politik ist immer das<br />

Gegenteil davon, einen Standpunkt einzunehmen. Als das Schloß in<br />

Christiansborg zu Kopenhagen im Jahre 1884 abbrannte, schrieben die<br />

Oppositionsblätter: „Auf diesem Grunde wird keine Christiansborg<br />

mehr erstehen." Zehn Jahre später aber stand das neue Königsschloß<br />

an der Stelle des alten, größer und prächtiger als jemals vorher, und die<br />

Kosten zum Bau wurden von allen politischen Parteien, die Sozialdemokratie<br />

inbegriffen, bewilligt. <strong>Die</strong>selben Parteien einigten sich im Jahre<br />

1915, die alte Verfassung abzuschaffen, sie nahmen jedoch gleichzeitig<br />

eine neue Verfassung an, in der 28 Paragraphen vom Königtum handeln,<br />

die nächsten 37 über den Parlamentarismus, 7 von der Polizei und den<br />

Gerichten, 5 von der Staatskirche, der Rest vom Privateigentum, dem<br />

A^rmenwesen, dem Heer und der Flotte. <strong>Die</strong>se Verfassung wurde den<br />

dänischen Arbeitern einexerziert, für diese riefen sie Hurra, und das<br />

taten sie aus aller Kraft ihrer Lungen und ihrer Einfalt, obzwar in der<br />

Verfassung für sie selbst nichts anderes enthalten ist als ein Paragraph,<br />

daß sie auf den Straßen keinen Auflauf machen sollten, sondern hübsch<br />

nach Hause gehen sollen, wenn die Polizei sie dreimal dazu im Namen<br />

des Königs und des Gesetzes aufgefordert hat. Etwas Entscheidendes<br />

hat die dänische Sozialdemokratie niemals fertigbringen können. Und<br />

deshalb bekam sie auch Angst vor ihrer eigenen Courage, als sie die<br />

Abschaffung des Heeres und der Flotte vorschlug. Sie hat deshalb


DER ABRUSTUNGSPLAN DÄNEMARKS 21<br />

schnellstens hinzugefügt: Laßt uns vorläufig 7000 Mann und eine<br />

„zivile" Flotte behalten. Ist das nicht dasselbe, was man während des<br />

Weltkrieges mit einem französischen Wort als Camouflage (Täuschung)<br />

bezeichnete? Und was für ein Unterschied besteht im Grunde zwischen<br />

den beiden Berühmtheiten, dem deutschen Ludendorff und dem<br />

dänischen Rasmussen; doch nur der, daß Rasmussen mit dem zivilen<br />

Spazierstock und Ludendorff mit dem Säbel herumspaziert?<br />

In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Lächerlichkeit hinweisen,<br />

daß die dänische Sozialdemokratie sich stets hinter der Parole:<br />

„Evolution" versteckt. Wieder blauer Dunst, Camouflage. Hinter der<br />

Evolution will man nämlich verdecken und gleichzeitig durchscheinen<br />

lassen, daß man ja auch Revolution damit meine, je nachdem es am<br />

besten paßt. Man will den Arbeitern einreden, sie seien revolutionäre<br />

Marxisten, und daß die sozialdemokratische Regierung Seiner Majestät<br />

des Königs aus revolutionären Evolutionisten besteht. (!) Können<br />

denn die Menschen niemals die einfache Sache lernen, daß die Evolution<br />

eine langsame, tausendjährige Entwicklung ins Blinde hinein und<br />

ohne Bewußtsein von dem Ziele ist, wie beispielsweise die Entwicklung,<br />

die den ursprünglichen Schwanz der Menschen in Wirbelsäulenrudimente<br />

verwandelte, die heute noch unter der Haut am Ende des<br />

Rückens zu finden sind. <strong>Die</strong> Revolution dagegen ist der Ausdruck desjenigen,<br />

der ein Ziel vor Augen hat und sich dessen klar bewußt ist.<br />

<strong>Die</strong>se einfache Sache scheinen die Arbeiter nicht zu lernen. Ihre Revolution<br />

ist der Hund von 1789, den Carlyle beschrieb „als einen Hund,<br />

der abwechselnd vor und nach dem König bellte". Ihre Revolution ist<br />

der Parlamentarismus der 4000 heulenden Rechtsanwälte. Deshalb ist<br />

ihr Vorschlag zur Abrüstung auch dem König und dem bürgerlichen<br />

Parlamente vorgelegt worden, es ist daher leicht zu verstehen, daß das,<br />

was dabei herauskommt, nur Geschrei und Blaff, niemals aber eine<br />

wirkliche Abrüstung sein kann.<br />

Der Programmpunkt, welcher lautet, daß die freiwilligen Korps aufgehoben<br />

und ihre Waffen vom Staate übernommen werden sollen, verliert<br />

seine Bedeutung, wenn zu gleicher Zeit ein bewaffnetes Korps von<br />

Staatsfunktionären errichtet wird, vermutlich aus lauter freiwilligen<br />

Sozialdemokraten. Das ist aber in bester Uebereinstimmung mit der<br />

Art und Weise, wie die Partei den Staat abschaffen will. In Dänemark<br />

sind wir nämlich so weit gekommen, daß die Arbeiterschaft wie eine<br />

Herde Schafe in den sozialistischen Staat hineingelenkt wird, dessen<br />

Erfindung die Führer dreist Karl Marx zuschreiben, obzwar Karl Marx<br />

eigentlich in allen seinen Schriften den Staat nicht genannt hatte, sondern<br />

als Ziel des Sozialismus die Abschaffung jedes Staates hinstellte.<br />

<strong>Die</strong> 7000 werden nichts anderes sein als 7000 Parteisoldaten zur Aufrechterhaltung<br />

des Glaubens an das Kalb mit den zwei Köpfen, dessen<br />

Aufstellung vor dem Parlamentsgebäude in Kopenhagen erwartet werden<br />

kann: nämlich der sozialistische Staat, geschnitzt von Stauning.<br />

<strong>Die</strong>ser wunderliche Abrüstungsvorschlag ist außerdem dazu geeignet,<br />

ein vollständig falsches Bild von der Arbeiterinternationale zu<br />

geben. <strong>Die</strong>se <strong>Internationale</strong> erstarb 1914, da die Arbeiter aller Länder


22 DER ABRÜSTUNGSPLAN DÄNEMARKS<br />

aufeinander losgingen. Verweilen wir in unseren Gedanken nur einen<br />

Augenblick bei Rußland, wo der „sozialistische oder kommunistische<br />

Staat" Lenins Gefängnisse und Kirchhöfe mit Arbeitern füllte, und<br />

denken wir nur an das übrige Europa nach 1918. Wir nähern uns einem<br />

nächsten großen Bruderkrieg. Errichtet Denkmäler für Kain in aller<br />

Länder Hauptstädten, denn sein ist unsere Zeit! <strong>Die</strong> Deutschen sind<br />

nicht schlimmer als die andern auch. Ich erinnere mich, daß kurz vor<br />

dem Weltkriege deutsche Badegäste in einem dänischen Badeorte<br />

riefen: „Deutschland bis nach Skagen!" Und ich kenne Dänen, die<br />

nach der Zeit lechzen, als Holstein und Lauenburg noch zu Dänemark<br />

gehörten, was noch in meiner Jugendzeit der Fall war. Eine <strong>Internationale</strong><br />

zwischen London und Leningrad, zwischen Berlin und Paris ist<br />

uns ebenso fern, selbst wenn Dänemark heldenmütig seine Waffen<br />

ablegt und sie wieder aufs neue ergreift.<br />

Ich überschätze die Revolution nicht. <strong>Die</strong> Revolution von 1789<br />

akzeptierte den Siebenstundentag. Wir in unserer fortgeschrittenen<br />

Zeit haben nicht einmal den Achtstundentag halten können, und in<br />

Rußland arbeitet man 10 und 12 Stunden, und außerdem haben die<br />

Arbeiter noch Rede-, Preß- und Versammlungsfreiheit eingebüßt. Ich<br />

ziehe aber trotzdem die Revolution der sozialdemokratischen Evolution<br />

im Pakt mit dem Bürgertum vor, die gerade jetzt eine <strong>Internationale</strong><br />

in Genf und an anderen Orten zusammenkleistern will — denn das<br />

wird doch immer eine <strong>Internationale</strong> des Geldsackes sein.<br />

In der Natur herrscht stets ein Kampf. <strong>Die</strong> Natur sagt nicht, entwaffne<br />

dich, sondern sagt stets: verteidige dich! Auch die Menschen<br />

gehören dazu. Sie haben aber den Kampf zum Leben mißverstanden.<br />

Denn es ist keineswegs der Sinn der Natur, daß Pflanzen, Tiere oder<br />

Menschen sich selbst in gegenseitigem Kampf ausrotten sollen. <strong>Die</strong><br />

Menschen schufen den Militarismus, die Kunst, diejenigen totzuschlagen,<br />

mit denen man zusammen arbeiten müßte. In dem alten<br />

Europa sind wir umgeben von Räuberbanden, die den Namen Staat<br />

tragen. <strong>Die</strong> Regierungen erzeugen Mord, und die Völker schicken sich<br />

darein. Der einzige Ausweg, der niemals probiert wurde, ist die Abschaffung<br />

der Regierungen und Staaten und die Rückkehr zur Gemeinde<br />

und Kommune. Das ist Anarchismus, Anarchosyndikalismus.<br />

Jetzt sind alle Menschen Sozialdemokraten geworden, weil alle von<br />

Schwächegefühlcn beherrscht werden, die sie in Militärstaaten zusammenfügen<br />

in dem Glauben, daß dies die einzige Art und Weise sei,<br />

Schutz zu finden. Was mit Organisation begann, ist zur Ueberorganisation<br />

geworden. <strong>Die</strong> Sozialdemokratie ist zu einem Staat im Staate<br />

geworden, die ebenso bewaffnet sein will, wie das Bürgertum. Man<br />

kann fast sagen, daß die Sozialdemokraten Europa erobert haben, insofern<br />

die Staatsidee von heutzutage zwei große Namen trägt, die der<br />

Sozialdemokratie entspringen: LENIN und MUSSOLINI. Staatssozialismus<br />

aber ist Staatskapitalismus. Und der Kapitalismus wird sich<br />

niemals entwaffnen lassen.<br />

<strong>Die</strong> Anarchisten und Anarchosyndikalisten haben die ganze Welt<br />

zum Feinde, denn sie sind die Stimme der neuen Zeit. <strong>Die</strong> Sozialdemo-


GUSTAV LANDAUER 23<br />

kraten wurden zu Streikbrechern und Verrätern in Massen: sie wurden<br />

Machthaber anstatt Zerstörer der Macht. Und da veränderte auch<br />

ganz natürlich die Revolution ihren Charakter; sie ist nicht mehr eine<br />

Barrikade, sie ist eine Arbeit. <strong>Die</strong> Revolution ist die Arbeit für eine<br />

neue und bessere Produktionsweise, die an Stelle der heutigen treten<br />

soll, auf der alle Staaten sich aufbauen. Das kann aber durch eine<br />

solche Abrüstung, wie wir sie in Dänemark bekommen sollen, nicht<br />

erreicht werden.<br />

Gustav Landauer.<br />

Von Fritz Oerter.<br />

<strong>Die</strong> wertvollsten Menschen sind die, welche die Zukunft bauen.<br />

Konservative Gelehrte, Ethiker und Künstler gibt es nicht, d. h. im<br />

eigentlichen Sinne nicht; denn was soll die Menschheit mit einer Wissenschaft<br />

anfangen, die wider alle Erfahrung und entgegen allem daraus<br />

entstehenden Uebel das Vergängliche, Todgeweihte und Vernichtungsreife<br />

zu einer Dauereinrichtung machen möchte? Was mit<br />

einer Ethik, die trotz aller trüben Erscheinungen die gegenwärtigen<br />

Moralgrundsätze — sofern von solchen überhaupt noch gesprochen<br />

werden kann — aufrechterhalten will, und was mit einer Kunst, die<br />

nur Nachbild ist statt Vorbild? Eine rückwärts gerichtete Intelligenz<br />

ist unter allen Umständen unfruchtbar. Nichtsdestoweniger sind —<br />

besonders in Deutschland! — jene Kreise, die sich zu den Intellektuellen<br />

zählen, fast durchweg reaktionär. Das haben sie vor dem<br />

Kriege, während desselben und nach ihm unzählige Male bewiesen.<br />

Das Häuflein jener Intellektuellen, die am Bestehenden scharfe<br />

Kritik übten und eifrig bemüht waren, Wegbereiter, Bahnbrecher und<br />

Baumeister einer schöneren, auf Gemeinschaft begründeten Zukunft<br />

zu sein, war von jeher außerordentlich klein. Wohl ritten hin und<br />

wieder einmal diese oder jene Wissenschaftler und Dichter eine<br />

schneidige Attacke, aber wenn es zum wirklichen Kampf kommen<br />

sollte, dann wichen sie aus und machten einen großen Strich zwischen<br />

sich, d. h. der eigenen Person und ihrem Werk; ja manche verleugneten<br />

sogar ihre Geisteskinder.<br />

Wie ganz anders mutet uns da eine Charaktergestalt von der Größe<br />

Gustav Landauers an, der unter allen Umständen mit seinem ganzen<br />

persönlichen Leben hinter seinen gesprochenen und geschriebenen<br />

Worten stand, dem der Kampf mit den Dunkelmännern unserer<br />

Epoche geradezu ein Bedürfnis war.<br />

Er war noch ein blutjunger Mensch, als er sich mit dem Feuer der<br />

Begeisterung in die sozialistische Bewegung stürzte, von Anfang an<br />

ein freier und unabhängiger Geist, der in keinen Parteistall paßte. Das<br />

geschah zu Beginn der neunziger Jahre. <strong>Die</strong> Wogen der sozialistischen<br />

Bewegung schlugen damals sehr hoch, denn es war ein großer Sturm


24 GUSTAV LANDAUER<br />

ausgebrochen, der sich besonders gegen die Engherzigkeit und den<br />

Opportunitätsgeist der sozialdemokratischen Partei richtete. <strong>Die</strong><br />

Jungen rebellierten gegen die Alten, die sich während der Herrschaft<br />

des Sozialistengesetzes eine große Autorität angemaßt hatten. <strong>Die</strong><br />

Letzteren ließen kein Mittel unbenutzt, auch die schofelsten nicht, um<br />

die Opposition niederzuschlagen, was ihnen auch gelang. <strong>Die</strong> Folge<br />

war, daß sich ein Teil der aufrührerischen Elemente überhaupt vom<br />

Sozialismus abwandte, ein anderer reumütig in den Schoß der alleinseligmachenden<br />

sozialdemokratischen Kirche zurückkehrte und daß<br />

die revolutionärsten Elemente noch einige Schritte weiter gingen, d. h.<br />

zum Anarchismus übertraten. Das Organ dieser Revolutionäre wurde<br />

der von Gustav Landauer, Wilhelm Spohr und Albert Weidner geleitete<br />

„Sozialist", ein Kampfblatt trefflichster Art, das aber dennoch<br />

Zeit genug fand, auch noch höhere Geisteskultur zu pflegen. Von<br />

allen Seiten verfolgt, hin und wieder unterdrückt, dann wieder neubegründet,<br />

hielt sich dieser frühere „Sozialist" jahrelang.<br />

Um jene Zeit herum war es auch, wo Gustav Landauer jene zwei<br />

sonderbaren aber hübschen Novellen schrieb, die erst vor kurzem<br />

unter dem alten Titel „Macht und Mächte" wieder erschienen sind.<br />

Wenn wir uns ein Bild machen wollen von der Tätigkeit Landauers,<br />

dann lassen wir ihn am besten selbst reden. Er sah sich nämlich<br />

einmal — es war im Jahre 1918 (30. Dez.) im bayerischen provisorischen<br />

Nationalrat — infolge eines unschönen Angriffes durch den sozialdemokratischen<br />

„Revolutionsminister" Timm gezwungen, davon zu<br />

sprechen:<br />

.... Herr Timm hat gesagt, ich sei zwar anno 1896 im Konfektionsstreik<br />

in einer großen Arbeiterbewegung aufgetreten, hätte mich aber<br />

dann wieder zurückgezogen und jetzt höre er zum ersten Male wieder<br />

von meinem Auftreten in der sozialistisch-revolutionären Bewegung.<br />

Wenn es auch der Fall wäre, daß Herr Timm von dem, was ich in der<br />

Zwischenzeit getan habe, nichts gehört hat, so hätte er nicht das Recht<br />

zu einer solchen Bemerkung, weil Herr Timm vielleicht zu eng an seine<br />

Parteibewegung angeschlossen war. Ich bin für unabhängigen, aber<br />

ganz unabhängigen Sozialismus, (Er betonte dies, um sich nicht mit der<br />

unabhängigen sozialdemokratischen Partei zu identifizieren. Der Verf.)<br />

für alle die, die mich hören wollten, für das, was man meinetwegen,<br />

wenn man es nur nicht mißdeutet, Anarchismus nennen kann: dafür<br />

bin ich eingetreten vom Jahre 1891 bis zu dieser Stunde, von meinem<br />

21. Lebensjahr bis zum 48. und habe keine Pause gemacht. Ich habe,<br />

nachdem der alte „Sozialist", an den sich Herr Timm noch erinnern<br />

könnte, eingegangen war und pausiert hat, in anderen Zeitschriften,<br />

durch Bücher, durch meinen „Aufruf zum Sozialismus" gearbeitet und<br />

ich empfehle allen, wenn einmal von mir die Rede sein soll, die den<br />

Sozialismus in dieser höchsten Krisis aufbauen wollen, diesen „Aufruf<br />

zum Sozialismus" aus dem Jahre 1908. Ich habe vom Jahre 1909 bis zum<br />

Jahre 1915 in den Krieg hinein den Sozialist, das Organ des sozialistischen<br />

Bundes, herausgegeben, habe mich daneben allerdings vielfach<br />

literarisch, ästhetisch, dramaturgisch betätigt, weil ich, solange ich im


GUSTAV LANDAUER 25<br />

Sozialismus wirksam bin, noch niemals einen Pfennig von der sozialistischen<br />

Bewegung für mein Leben genommen habe. Ich habe den<br />

„Sozialist" gratis redigiert und geschrieben, beinahe von der ersten bis<br />

zur letzten Zeile, sechs Jahre hindurch und habe daneben ohne jedes<br />

Vermögen mein Leben gefristet durch anderweitige literarische<br />

Arbeit .. . ." So Landauer selbst.<br />

Für uns ist wohl sein „Aufruf zum Sozialismus" sein wichtigstes<br />

Werk, ja wir halten es überhaupt für das Beste, was jemals in Deutschland<br />

über Sozialismus geschrieben wurde. <strong>Die</strong> Sozialdemokratie hat<br />

das Buch totgeschwiegen, natürlich —: denn es erkennt ja die marxistischen<br />

Dogmen nicht an. Als es im Jahre 1911 herauskam, sandte es<br />

Landauer, wie er mir mitteilte, an alle bedeutenden Sozialdemokratischen<br />

Zeitungen zur Besprechung, aber man schwieg dennoch darüber.<br />

1919 hat es der Verlag Paul Cassirer neu herausgebracht, dann<br />

ging es in den Verlag des Vorwärts über, aber wahrlich nicht, um es<br />

nun recht weit zu verbreiten, sondern eher, um es vor der Oeffentlichkeit<br />

zu bewahren. Neuerdings jedoch erschien es im Marcan-Block-<br />

Verlag in Köln. Vielleicht erobert es sich doch noch die Herzen und<br />

Hirne der Menschen. Es gibt ja fast gar kein Buch, das, gerade in<br />

gegenwärtiger Zeit, aktueller wirken könnte. Für die kommenden<br />

Generationen ist es sicher von grundlegender Bedeutung und sollte<br />

es eigentlich auch schon für die heutigen sein.<br />

Auch seine übrigen Aufsätze und Schriften, die gesammelt unter<br />

verschiedenen Titeln erschienen sind, haben große Bedeutung und<br />

zeugen für seinen vielseitigen, allesumfassenden Geist. Vor allem<br />

möchte ich seine Shakespeare-Aufsätze und die Revolutionsbriefe erwähnen.<br />

Daß er sich auch als Uebersetzer bewährte, ist rühmlichst<br />

bekannt. Der Gedankenaustausch mit seiner geistvollen Frau, der<br />

sinnigen Dichterin Hedwig Lachmann, die sich ebenfalls mit Uebersetzungen<br />

beschäftigte — sie starb ein Jahr und mehrere Monate vor<br />

ihm — wird viel zu seiner geistigen Regsamkeit beigetragen haben.<br />

Allmählich geht selbst dem gebildeten Bürgertum ein Licht auf und<br />

und es erkennt, welch ein tiefer und großer Mensch Landauer gewesen<br />

ist. Wir, seine Genossen, wußten es längst. Sein Leben liegt offen vor<br />

uns. In einem Ort nahe bei Karlsruhe als Sohn eines Arztes geboren,<br />

konnte er höhere Schulen und sogar die Universität besuchen. Der<br />

bürgerliche Wissenskram, der da erworben wird, konnte ihm wohl<br />

kaum die Veranlassung geben, sich dem Sozialismus zuzuwenden, da<br />

mußte letzten Grundes schon eine tiefe Veranlagung des Gemüts<br />

und das Herz dazu drängen. Mit Feuereifer und Begeisterung stürzte<br />

er sich als junger Mann in die sozialistische Bewegung und kämpfte<br />

von Beginn an auf ihrem äußersten linken Flügel. Sein Ziel war — wie<br />

er selbst sagt — in allen seinen Lebensjahren das gleiche: der unabhängige,<br />

herrschaftslose Sozialismus, wie er ihn mit so großer Geistesschärfe<br />

in seinem Aufruf verfocht. Daß er infolge seiner revolutionären<br />

Tätigkeit auch mit dem Gefängnis Bekanntschaft machte, sei<br />

nur nebenbei bemerkt, denn das ist ja das gewöhnliche Schicksal eines<br />

jeden Revolutionärs.


26 GUSTAV LANDAUER<br />

Sozialdemokraten und Bürgerliche haben, teils, weil sie für die<br />

Erscheinung eines im vollsten Sinne des Wortes unabhängigen Sozialisten<br />

kein Verständnis hatten, jeden aber doch in eine gewisse<br />

Kategorie einreihen wollten, teils aber auch in bewußter Absicht, um<br />

ihm etwas anzuhängen, häufig Landauer mit den Parteikommunisten<br />

in einen Topf geworfen, und die Bolschewiki in Rußland sollen, wie wir<br />

hören, Landauer noch heute als einen der ihrigen reklamieren. Das ist<br />

ja ganz unsinnig. Niemals hatte Gustav Landauer etwas mit den<br />

sozialdemokratischen Marxisten, noch mit den kommunistischen<br />

Marxisten gemein. Auch während der revolutionären Gärungsepoche<br />

und der Räterepublik in München nicht. <strong>Die</strong> Führer der Kommunistischen<br />

Partei in München waren allerdings viel anständigere Gegner<br />

als die Sozialdemokraten, und selbst die kommunistischen Massen bezeugten<br />

unserem Landauer die größte Achtung. Von den Sozialdemokraten<br />

jener Zeit muß gesagt werden, daß sie vor dem Adel des<br />

Geistes und revolutionärer Gesinnung niemals Respekt hatten. Einmal<br />

hat Landauer die Herren von der Mehrheitspartei in seinem gerechten<br />

Zorn tötlich beleidigt. Das haben sie ihm nie vergessen. Es<br />

war in jenem Rätekongreß, der nach der Ermordung Kurt Eisners in<br />

München zusammenberufen worden war. <strong>Die</strong> Leitung der bayerischen<br />

Sozialdemokratie (Dr. Braun) hatte sich die Kontrolle und Beaufsichtigung<br />

des Kongresses angemaßt und alle Beschlüsse — auch wenn sie<br />

mit dem Einverständnis ihrer eigenen Parteigenossen gefaßt worden<br />

waren — sofern sie ihr nicht paßten, und welche paßten ihr? — sabotiert,<br />

korrigiert oder direkt umgestoßen. Als es Landauer gelungen<br />

war —allerdings nur unter Preisgabe von Grundsätzen und mit größter<br />

Mühe — einmal den Rätekongreß zu einem ziemlich einmütigen Beschluß<br />

zusammenzubringen, schickte anderen Tages die Sozialdemokratische<br />

Partei einen Redner vor, der den Antrag stellte, den Beschluß<br />

des vorangegangenen Tages wieder umzustoßen. In begreiflicher<br />

Erregung über ein solch nichtswürdiges Verhalten warf Landauer<br />

der Sozialdemokratischen Partei vor, daß sie bisher alle revolutionären<br />

Anstrengungen zunichte gemacht habe und es jetzt wieder<br />

versuche, und er schloß mit dem Ausruf: „Da muß ich denn doch<br />

sagen: <strong>Die</strong> unwürdigste Kreatur in der ganzen politischen Naturgeschichte<br />

ist doch die Sozialdemokratie!" Darüber brach auf den<br />

sozialdemokratischen Bänken ein großer Lärm aus, ein wahres Indianergeheul:<br />

„Das werden wir Ihnen nicht vergessen, Herr Landauer!"<br />

Sie drohten und schimpften, und wahrlich, sie hielten Wort. In den<br />

Hetzblättern, die von der berüchtigten sozialdemokratischen Hoffmannregierung<br />

bis zuletzt gegen die Münchener Räterepublikaner gerichtet<br />

wurden, ward kein Name so oft und gehässig erwähnt als der Name<br />

Landauer. Obwohl dieser sich schon nach wenigen Tagen des Bestehens<br />

der Räterepublik von jeder amtlichen Tätigkeit zurückgezogen<br />

hatte, wurde er bis zuletzt als der treibende Geist, als der Macher<br />

dieser ganzen Erhebung, hingestellt. Man hetzte förmlich die gegen<br />

München gesandten Truppen auf ihn. Und als diese Landauer in die<br />

Hände bekamen, da glaubten sie vielleicht noch ein verdienstliches<br />

Werk zu vollbringen, wenn sie ihn umbrachten, wie jene Bauern,


GUSTAV LANDAUER 27<br />

die Holz herzuschleppten, um Huß zu verbrennen. O sancta Simplicitas!<br />

Aber von der Mitschuld an dem grausigen Tode Landauers<br />

kann die Sozialdemokratische Partei nicht freigesprochen werden.<br />

Zu solchen heftigen Konflikten führte nun freilich das Verhältnis<br />

zwischen Landauer und den Kommunisten nicht. <strong>Die</strong>se letzteren<br />

waren vernünftigen Auseinandersetzungen gegenüber noch zugänglicher,<br />

und die Führer hatten damals auch noch nicht dieses Bonzenmäßige<br />

wie die der Sozialdemokratie. In der 5. Sitzung des provisorischen<br />

Nationalrates vom 18. Dezember 1918 sagte Landauer: „Ich<br />

gestehe es frei heraus und will es auch denen sagen, die es nicht gern<br />

hören wollen: <strong>Die</strong>se Revolution kann keine Parteiherrschaft bringen,<br />

und die Leute, die sich Bolschewisten und Spartakisten nennen, wenn<br />

die uns nicht bald sagen, was sie wollen, wie sie die menschliche<br />

Gesellschaft, das deutsche Volk organisieren wollen, wenn sie uns<br />

immer nur bedeuten, sie wollen die Herrschaft haben — denn nichts<br />

anderes steckt hinter der Diktatur des Proletariats —, dann gehören<br />

sie in denselben Kessel hinein, in dem die stehen, die nur um die Herrschaft<br />

von Parteien kämpfen, in anderer Form, in anderen Ausdrücken,<br />

aber es ist genau dasselbe. Wir brauchen keine Parteiherrschaft..."<br />

Ich meine, klarer konnte sich Landauer über seine Stellung zur Kommunistischen<br />

Partei wie überhaupt zu den Parteien gar nicht aussprechen.<br />

Seine Haltung stimmt hier vollständig mit dem Standpunkt<br />

der Syndikalisten und Anarchisten überein. Aber es hätte dieses Hinweises<br />

gar nicht bedurft. Aus dem „Aufruf zum Sozialismus", zu<br />

dessen Wiederherausgabe durch Cassirer er 1919 ein Vorwort schrieb,<br />

aus dem hervorgeht, daß er seine Grundanschauungen über freien unabhängigen<br />

Sozialismus nicht geändert, sondern nur vertieft hat, kann<br />

man schon seine ablehnende Haltung gegenüber jedem Partei-<br />

Sozialismus und skommunismus ersehen.<br />

Auch die anfängliche Beteiligung Gustav Landauers an der Münchener<br />

Räterepublik ist alles andere als ein Beweis für Landauers<br />

Neigung zur Kommunistischen Partei. Kurt Eisner, neben Landauer<br />

wohl der fähigste und geistvollste Kopf der sogenannten deutschen Novemberrevolution<br />

und darum auch der von der Reaktion am meisten<br />

gehaßte, berief unmittelbar nach der Umwälzung Landauer und andere<br />

fähige Menschen nach München, um an ihnen Hilfe und Stütze zu finden.<br />

Während dieser Epoche war Landauer unermüdlich, und es ist<br />

zweifellos, daß er einen großen Einfluß auf die Massen hatte. Er hatte<br />

die Gabe des Wortes und übte sie. ohne dabei ein Vielredner zu sein.<br />

Wenn die Diskussionen im Rätekongreß und im provisorischen Nationalrat<br />

auch noch so niedrig am Boden schleiften, sobald Landauer das<br />

Wort ergriff, veränderte sich die Situation. Seine Rede war immer<br />

fesselnd, sogar für seine Gegner, und immer wieder gelang es ihm, den<br />

Kongreß aus seiner Starrheit emporzureißen.<br />

Nach der Ermordung Eisners waren die tapferen Landtagsabgeordneten<br />

panikartig auseinandergestoben. Aber der Zentralrat der Arbeiter-<br />

und Soldatenräte Bayerns berief einen neuen Kongreß ein, und<br />

dieser ermächtigte nach ziemlich stürmischen Verhandlungen ein so-


28 GUSTAV LANDAUER<br />

zialdemokratisches Ministerium, daß es die Geschäfte weiterführe. Es<br />

setzte sich zusammen aus Mehrheitlern und Unabhängigen, und Hoffmann<br />

war der Präsident. <strong>Die</strong>ses Ministerium wurde nachträglich von<br />

der Mehrheit des damaligen Landtages bestätigt; aber als es tatsächlich<br />

arbeiten und bescheidene soziale Maßnahmen treffen wollte, erhub<br />

die bürgerliche Presse ein fürchterliches Geschrei. Man behinderte<br />

die Weiterarbeit nach allen Regeln der Niedertracht. Das revolutionäre<br />

Proletariat verlor die Geduld, wurde unruhig und verlangte stürmisch<br />

die Fortführung der sozialen Maßnahmen, indem es versicherte,<br />

daß es mit seiner ganzen Kraft hinter dem Ministerium stehe. Obwohl<br />

in der Masse wenig Verständnis für die Aufgaben einer Rätewirtschaft<br />

vorhanden war, wurde der Ruf darnach immer lauter. Man hatte<br />

aber dabei immer noch die Hoffnung und den Wunsch, das Ministerium<br />

zu stärken und ihm gegen die Bourgeoisie Widerstand einzuflößen.<br />

Aber nach kurzem Schwanken warfen sich die sozialdemokratischen<br />

Minister, mit Ausnahme der Unabhängigen, auf die Seite des Bürgertums.<br />

<strong>Die</strong> Gunst des Bürgertums und ihre sicheren Ministersessel<br />

waren ihnen lieber als das Schicksal der Arbeiterschaft. <strong>Die</strong> Räterepublik<br />

war etabliert worden, und Landauer wurde beauftragt, für Aufklärung<br />

zu wirken. Aber sein Wirken dauerte nicht lange. Wenige<br />

Tage nach der Proklamierung der Räterepublik, woran sich die Kommunistische<br />

Partei als solche anfangs übrigens nicht beteiligte, veranstalteten<br />

sozialistische und reaktionäre Elemente einen Putsch.<br />

<strong>Die</strong>ser Putsch wurde mit Hilfe der Kommunisten niedergeschlagen,<br />

wonach sich auch diese an der Räterepublik beteiligten und an der<br />

Regierung teilnahmen. Da mochte Landauer eingesehen haben, daß<br />

sein Weiterwirken an der Sache keinen Sinn mehr habe, und er zog<br />

sich zurück.<br />

Inzwischen war die famose Arbeiterregierung nach Bamberg verzogen<br />

und hatte gegen das rebellische München Truppen herbeigerufen,<br />

die die Ordnung wieder herstellen sollten. Im Namen Hoffmanns<br />

und seiner würdigen Kollegen fielen am 1. Mai (welch ein blutiger<br />

Hohn; gerade am Weltarbeiterverbrüderungstage!) die Soldaten und<br />

Freiwilligenkorps über München her. Wie sie dort hausten, ist allgemein<br />

bekannt. Am 2. Mai nahmen sie in der Wohnung der Frau<br />

Eisner Gustav Landauer fest, schleppten ihn ins Stadlheimer Gefängnis,<br />

wo sie ihn in bestialischer Weise wie einen Hund erschlugen.<br />

<strong>Die</strong> Mörder gingen straffrei aus, im neuen Deutschland keine Seltenheit.<br />

So starb Landauer, einer der größten sozialistischen Denker<br />

Deutschlands, unbeugsam in seinem Charakter, tapfer und beispielgebend<br />

in seiner Lebensführung. Wir sind der festen Ueberzeugung,<br />

daß Landauers Geist noch in der Menschheit fortwirken und fortzeugen<br />

wird, wenn seine Mörder und Widersacher schon längst vergessen<br />

sind. Trotzdem sie ihm vorzeitig das Wort abgeschnitten haben<br />

und ihn tot wähnen: er lebt weiter, und sein Same wird aufgehen.


VON DER TÄTIGKEIT DES SEKRETARIATS<br />

Von der Tätigkeit des Sekretariats.<br />

Aufruf an das Weltproletariat.<br />

Anläßlich der 60jährigen Wiederkehr<br />

der Gründung der I. <strong>Internationale</strong> hat<br />

das Sekretariat an die Arbeiterschaft aller<br />

Länder folgenden Aufruf erlassen:<br />

Am 28. September sind 60 Jahre verflossen<br />

seit jener denkwürdigen Versammlung<br />

in Saint Martin's Hall in London,<br />

welche zur Gründung der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter-Assoziation führte. Es<br />

war der erste große Versuch der europäischen<br />

Arbeiterklasse, alle Richtungen<br />

und Strömungen innerhalb der jungen Arbeiterbewegung<br />

aller Länder in einem<br />

mächtigen Bunde zu vereinigen, um die<br />

versklavte Arbeit vom Joche des Kapitalismus<br />

zu befreien.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong> war nicht das Ergebnis<br />

einiger findigen Köpfe, sie entsprang<br />

nicht der Idee einiger Auserwählten,<br />

sie wurde vielmehr aus dem gärenden<br />

Schoße der arbeitenden Massen geboren<br />

und formte sich nach deren Wünschen<br />

und Bedürfnissen. Tatsache ist, daß der<br />

Gedanke an eine internationale Vereinigung<br />

der Arbeiter die proletarischen<br />

Organisationen Frankreichs und Englands<br />

bereits in den 30er und 40er Jahren beschäftigte,<br />

aber der Staatsstreich Napoleons<br />

und die Reaktion, die nach den verlorenen<br />

Revolutionen von 1848—49 überall<br />

einsetzte, drängten diese Pläne wieder in<br />

den Hintergrund. Als aber in der ersten<br />

Hälfte der 60er Jahre ein neuer Wind<br />

durch Europa wehte und die Arbeiterklasse<br />

sich wieder zu erholen begann von<br />

den schweren Schlägen, die sie erlitten<br />

hatte, da wurde auch der Gedanke an eine<br />

internationale Vereinigung der werktätigen<br />

Klassen wieder lebendig, bis er<br />

endlich 1864 praktische Form und Gestalt<br />

annahm.<br />

In demselben Sinne vollzog sich auch<br />

die geistige Entwicklung der <strong>Internationale</strong>.<br />

Ihre reichen Quellen sprudelten<br />

nicht aus den Studierstuben der Gelehrten,<br />

sondern aus den praktischen Kämpfen<br />

des alltäglichen Lebens, aus den tausend<br />

Erfahrungen einer kampfreichen Gegenwert.<br />

Waren die Beschlüsse ihrer ersten<br />

Kongresse in Genf (1866) und Lausanne<br />

(1867) noch sehr unbestimmt und gemäßigt,<br />

so waren den Arbeitern die<br />

schweren Kämpfe der nachfolgenden<br />

Jahre die beste Schule, um ihnen zu<br />

zeigen, in welcher Richtung sich ihre end-<br />

29<br />

gültige Befreiung zu vollziehen habe. <strong>Die</strong><br />

Beschlüsse der Kongresse von Brüssel<br />

(1868) und Basel (1869) zeigen uns die<br />

<strong>Internationale</strong> auf dem Höhepunkt ihrer<br />

geistigen Entwicklung. Auf dem Kongreß<br />

in Basel entwickelte der Belgier Hins den<br />

großen Gedanken von der politischen<br />

Einheit der Gemeinden und der wirtschaftlichen<br />

Reorganisation der Gesellschaft<br />

durch die Gewerkschaften. „Aus<br />

dieser doppelten Organisationsform der<br />

lokalen Arbeitervereinigungen und der allgemeinen<br />

Industrieverbände", sagte Hins,<br />

„würde sich einerseits die politische Verwaltung<br />

der Gemeinde und andererseits<br />

die allgemeine Vertretung der Arbeit und<br />

zwar regional, national und international<br />

ergeben. <strong>Die</strong> Räte der Berufs- und Industrieorganisationen<br />

werden die heutige<br />

Regierung ersetzen und diese Vertretung<br />

der Arbeit wird ein für allemal die alten<br />

politischen Systeme der Vergangenheit ablösen."<br />

<strong>Die</strong>ser neue und fruchtbare Gedanke<br />

entsprang der Erkenntnis, daß jede neue<br />

Wirtschaftsform der gesellschaftlichen<br />

Organisation auch eine neue Form<br />

der politischen Organisation nach<br />

sich ziehen muß, ja sich nur<br />

im Rahmen dieser verwirklichen läßt.<br />

Aus diesem Grunde müsse auch der Sozialismus<br />

eine besondere politische Ausdrucksform<br />

erstreben, innerhalb derer er<br />

ins Leben treten könne, und man glaubte<br />

diese Form im Rätesystem der Arbeit gefunden<br />

zu haben.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiter der romanischen Länder,<br />

in denen die <strong>Internationale</strong> ihren Hauptrückhalt<br />

fand, entwickelten ihre Bewegung<br />

auf der Basis der wirtschaftlichen Kampf-<br />

Organisation und der sozialistischen Propagandagruppen<br />

und wirkten im Sinne<br />

der Baseler Beschlüsse. Da sie im Staate<br />

den politischen Agenten und Verteidiger<br />

der besitzenden Klassen erkannten, so erstrebten<br />

sie keineswegs die Eroberung der<br />

politischen Macht, sondern die Ueberwindung<br />

des Staates und die Abschaffung<br />

der politischen Macht in jeder Form, in<br />

der sie mit sicherem Instinkt die Vorbedingung<br />

jeder Tyrannei und Ausbeutung<br />

erkannten. Aus diesem Grunde<br />

dachten sie nicht daran, der Bourgeoisie<br />

nachzuahmen, eine neue Partei zu gründen<br />

und damit einer neuen Klasse von Berufspolitikern<br />

die Wege zu ebnen. Ihr<br />

Ziel war die Eroberung des Grund und


30<br />

VON DER TÄTIGKEIT DES SEKRETARIATS<br />

Bodens, der Werkstätten und Betriebe,<br />

und sie erkannten wohl, daß dieses Ziel<br />

sie grundsätzlich von dem Politikantentum<br />

der radikalen Bourgeoisie unterschied,<br />

dessen ganze Tätigkeit auf eine Eroberung<br />

der Regierungsgewalt eingestellt war. Sie<br />

begriffen, daß mit dem Monopol des Besitzes<br />

auch das Monopol der Macht fallen<br />

müsse, daß das- ganze gesellschaftliche<br />

Leben auf neuen Grundlagen aufzubauen<br />

sei. Ausgehend von der Erkenntnis, daß<br />

die Herrrschaft des Menschen über den<br />

Menschen ihre Zeit gehabt habe, suchten<br />

sie sich mit dem Gedanken an die Verwaltung<br />

der Dinge vertraut zu machen.<br />

So setzten sie der Regierungspolitik der<br />

Parteien die Wirtschaftspolitik der Arbeit<br />

entgegen. Man begriff, daß in den Betrieben<br />

und Industrien die Reorganisation<br />

der Gesellschaft im sozialistischen Sinne<br />

vorgenommen werden müsse, und aus<br />

dieser Erkenntnis heraus wurde der Rätegedanke<br />

geboren. In den Versammlungen,<br />

in der Presse, in der Broschürenliteratur<br />

des freiheitlichen Flügels der <strong>Internationale</strong>,<br />

der sich um Bakunin und seine<br />

Freunde scharte, fanden diese Ideen ihre<br />

Klärung und Vertiefung.<br />

<strong>Die</strong> freiheitliche Richtung innerhalb<br />

der <strong>Internationale</strong> begriff vollkommen,<br />

daß der Sozialismus von keiner Regierung<br />

diktiert werden könne, daß er sich vielmehr<br />

organisch von unten nach oben aus<br />

dem Schöße des arbeitenden Volkes entwickeln<br />

und daß die Arbeiter selber die<br />

Verwaltung der Produktion und Konsumtion<br />

in ihre Hände nehmen müßten. <strong>Die</strong>se<br />

Idee war es, welche sie dem Staatssozialismus<br />

aller Schulen und Richtungen entgc<br />

genstellten. Und diese inneren Gegensätze<br />

zwischen Zentralismus und Föderalismus,<br />

diese verschiedenen Auffassungen<br />

über die Rolle des Staates als Uebergangsfaktor<br />

zum Sozialismus bildeten<br />

auch den Mittelpunkt des Streites<br />

zwischen Bakunin und seinen Freunden<br />

und Marx und dem Londoner Generalrat,<br />

welcher zur Spaltung des großen Arbeiterbundes<br />

führte. Es handelte sich in<br />

diesem Kampfe nicht um persönliche<br />

Gegensätze, wiewohl Marx und Engels<br />

gegen die sogenannten „Bakuninisten" fast<br />

ausschließlich die gehässigsten persönliehen<br />

Verdächtigungen ins Feld führten.<br />

Nein, es handelte sich um zwei verschiedene<br />

Auffasungen des Sozialismus und<br />

ganz besonders um zwei verschiedene<br />

Wege, die zum Sozialismus führen sollten.<br />

Marx und Bakunin waren lediglich die<br />

hervorragendsten Vertreter in diesem<br />

Kampfe um fundamentale Prinzipien. Es<br />

war nicht der Gegensatz zwischen zwei<br />

Personen, in dem sich die Frage erschöpfte,<br />

sondern der Gegensatz zwischen<br />

zwei Ideenströmungen, der ihm seine Bedeutung<br />

gab und heute noch gibt.<br />

Der Arbeitersozialismus der <strong>Internationale</strong><br />

kannte keine Grenzen zwischen<br />

Nation und Nation. Für die Internationalisten<br />

war der Sozialismus das Symbol<br />

einer neuen gesellschaftlichen Kultur,<br />

welche berufen ist, die Zivilisation des<br />

kapitalistischen Zeitalters abzulösen. Aus<br />

diesem Grunde kannten sie nur ein gemeinschaftliches<br />

Interesse der Arbeit dem<br />

Kapitalismus gegenüber, das von keinen<br />

Bedenken nationalistischer und politischer<br />

Art beeinflußt werden konnte. <strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong><br />

sollte das Instrument sein, in<br />

dem das Interesse der organisierten Arbeit<br />

gegen die kapitalistische Welt seinen<br />

Ausdruck finden sollte.<br />

<strong>Die</strong>se große allgemeine Auffassung<br />

unterscheidet die alte <strong>Internationale</strong> ihrem<br />

ganzen Wesen nach von den modernen<br />

sozialistischen Arbeiterparteien, die sich<br />

in der sogenannten Zweiten oder Dritten<br />

<strong>Internationale</strong> zusammengefunden haben.<br />

<strong>Die</strong> 1<br />

ganze Erfahrung der letzten fünfzig<br />

Jahre hat klar gezeigt, daß diese Körper-<br />

Schäften unter dem verhängnisvollen Einfluß<br />

der bürgerlichen Politik mehr und<br />

mehr Bestandteile der bestehenden nationalen<br />

Staaten geworden sind und in jeder<br />

kritischen Periode ihre Interessen mit<br />

denen ihrer respektiven Staaten zusammenwerfen.<br />

Von der Dritten <strong>Internationale</strong>,<br />

die ganz offenkundig ein Werkzeug<br />

der auswärtigen Politik des russischen<br />

Staates ist und zu diesem Zwecke eigens<br />

ins Leben gerufen wurde, ist in dieser Beziehung<br />

wenig zu reden, da die Tatsachen<br />

zu offenkundig auf der Hand liegen. <strong>Die</strong><br />

Zweite <strong>Internationale</strong>, die an der obenerwähnten<br />

Tatsache des Hineinwachsens<br />

in den bürgerlichen Staat beim Ausbruche<br />

des Weltkrieges zugrunde ging und jetzt<br />

wieder notdürftig restauriert wurde,' hat<br />

ebenfalls mit den alten Ueberlieferungen<br />

der Ersten <strong>Internationale</strong> nichts gemein.<br />

Dasselbe gilt von der R.G.I. und der<br />

<strong>Internationale</strong> von Amsterdam, die zum<br />

größten Teile unter dem geistigen Protektorat<br />

der sozialistischen Arbeiterparteien<br />

stehen.<br />

Von unvergeßlicher Wichtigkeit ist<br />

die Tatsache, daß es die Frage der politisch'parlamentarischcn<br />

Beteiligung war,<br />

welche die Erste <strong>Internationale</strong> gespalten<br />

hat und ihren stolzen Bau in Trümmer<br />

schlug. In dem Augenblicke, als die berüchtigte<br />

Londoner Konferenz den Be-


VON DER TÄTIGKEIT DES SEKRETARIATS 31<br />

Schluß faßte, die der <strong>Internationale</strong> angeschlossenen<br />

Föderationen und Sektionen<br />

obligatorisch zur parlamentarischen Betätigung<br />

zu verpflichten, in diesem Augenblick<br />

impfte man dem großen Arbeiterbund<br />

den Keim des Todes ein. Ein mahnendes<br />

Beispiel dafür, wie schon damals<br />

die Politik die Arbeiter nicht einte, sondern<br />

ein Element der Zersplitterung und<br />

der inneren Zersetzung war und bis auf<br />

den heutigen Tage geblieben ist.<br />

Aber die Ideen der alten <strong>Internationale</strong><br />

gingen nicht zugrunde. Sie finden<br />

auch heute wieder ihren Ausdruck in den<br />

Organisationen, welche in der neuen<br />

<strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation eine<br />

Allianz gegen Lohnsklaverei und Staatliche<br />

Bevormundung geschlossen haben.<br />

In diesem Sinne begrüßen wir den<br />

Gründungstag der alten <strong>Internationale</strong>.<br />

Es lebe die neue <strong>Internationale</strong> der wirtschaftlichen<br />

Kampforganisationen des<br />

arbeitenden Volkes.<br />

Aufruf der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-<br />

Assoziation an das Weltproletariat!<br />

Gegen die neu einsetzende Reaktion<br />

in Spanien wandte sich das Sekretariat<br />

mit folgendem Aufruf an das Welt-<br />

Proletariat.<br />

K a m e r a d e n ! Zum Kampf<br />

gegen den Weißen Schrecken<br />

in Spanien!<br />

Das spanische Proletariat hat einen<br />

heroischen Kampf begonnen gegen die<br />

Blutherrschaft Primo de Riveras. In Barcelona,<br />

dem Mutterboden der spanischen<br />

Revolution, kam es zu Erhebungen der<br />

Arbeiterschaft, die zu blutigen Zusammenstoßen<br />

mit der Militärkamarilla führten.<br />

<strong>Die</strong>se Kämpfe sind die Vorpostengefechte<br />

der spanischen Revolution, an deren Vorabend<br />

wir stehen.<br />

Der herrschende Militarismus hat diesmal<br />

noch den Sieg über das revolutionäre<br />

Proletariat davongetragen. Noch rauchen<br />

die Straßen Barcelonas von den stattgehabten<br />

Kämpfen, da saust die Rache der<br />

Despoten auf die mutigen Revolutionäre<br />

hernieder. Der Weiße Schrecken hat eingesetzt<br />

und mäht die besten Söhne der<br />

proletarischen Revolution. <strong>Die</strong> Militärgerichtshöfe<br />

treten aufs neue unter Martinez<br />

Anido in Aktion; summarische<br />

Todesurteile werden verkündet und unmittelbar<br />

ausgeführt. Schon sind bekannte<br />

und ergebene Vorkämpfer der Revolution<br />

in den Tod geschickt, und vielen droht<br />

dasselbe Schicksal.<br />

<strong>Die</strong> französische Regierung, an deren<br />

Spitze der Pazifist und Sozialistenfreund<br />

Herriot steht, leistet dem verruchten Tyrannen<br />

Rivera Liebesdienste. <strong>Die</strong> spanischen<br />

Revolutionäre werden von den Polizeiknechten<br />

der kapitalistischen Republik<br />

Frankreich an der Grenze in den Pyrenäen<br />

aufgegriffen und der spanischen<br />

Blutherrschaft ausgeliefert.<br />

Wieder wird das spanische Proletariat<br />

auf den Leidensweg gedrängt, den es in<br />

den letzten Jahren, von der eisernen Rute<br />

der Reaktion getrieben, so oft und bitter<br />

wandern mußte. <strong>Die</strong> Blüte des revolutionären<br />

Proletariats Spaniens wird geknickt,<br />

die Hoffnungen auf die revolutionäre<br />

Generation der Gegenwart werden<br />

erstickt. Proletarierblut wird vergossen,<br />

Gefängnisse, Zwingburgen und Kasematten<br />

werden von Leiden erfüllt, Kerken<br />

mauern werden von Flüchen lebendig Begrabener<br />

widerhallen, Frauen und Kinder<br />

werden ihre Gatten und Väter beklagen.<br />

Proletarier aller Länder! Vernehmet<br />

diese Schmerzensrufe, höret die Mahnungen<br />

der so mutigen und unglücklichen<br />

Kämpfer!<br />

Noch ist der Kampf der Unterdrückten<br />

und Ausgebeuteten unter dem herrlichen<br />

Himmelsstrich jenseits der Pyrenäen<br />

nicht für immer eingestellt. Er wird<br />

wieder aufgenommen und so lange geführt<br />

werden, bis die fluchwürdige Unterdrückungsgewalt<br />

und Schreckensherrschaft<br />

zu Boden getreten ist.<br />

Heute ergeht der Ruf an euch! Laßt<br />

den Henker nicht ungestört sein grausames<br />

Bluthandwerk verrichten! Organisiert<br />

den Boykott gegen alle spanischen<br />

Produkte. Laßt kein Schiff in einen Hafen<br />

von Spanien einfahren! Produziert keine<br />

Waren für Spanien und laßt keinen Transport<br />

nach diesem Lande abgehen!<br />

Organisiert Massendemonstrationen<br />

überall, wo es möglich ist, zum Protest<br />

gegen die verbrecherischen Bluttaten, die<br />

gegen eure spanischen Klassenbrüder<br />

verübt werden! Demonstriert vor den<br />

spanischen Botschaften in eurem Lande.<br />

Sendet Resolutionen des Protestes und<br />

Abscheus an die spanische Regierung.<br />

Arbeiter Frankreichs! Laßt es nicht<br />

zu, daß die Regierung eures Landes die<br />

spanischen Klassenbrüder den Henkern<br />

Riveras in die Hände spielt. Zwingt die<br />

herrschende Bourgeoisie zur Freigabe der<br />

gefangenen Spanier und zur Wahrung des<br />

Asylrechtes! Sorgt dafür, daß kein spanischer<br />

Revolutionär in die Hände der<br />

spanischen Grenzbehörden fällt. Zeigt


32 AUS DER INTERNATIONALE DES SYNDIKALISMUS<br />

euch der Hoffnungen würdig, die eure<br />

Leidensbrüder vom Süden in euch setzen!<br />

Durch alle Länder muß der Ruf ertönen:<br />

Freiheit für unsere Brüder in Spanien!<br />

Nieder mit den blutigen Henkersknechten<br />

I Nieder mit der Weißen<br />

Schreckensherrschaft !<br />

Das Sekretariat der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter-Assoziation.<br />

Kongreßdelegation.<br />

Das Sekretariat sandte zum Kongreß<br />

der Norsk Syndikalistisk Federation vom<br />

27. September bis 1. Oktober einen Vertreter,<br />

der unseren norwegischen Kameraden<br />

die Grüße der I.A.A. überbrachte<br />

und den fruchtbringenden Arbeiten des<br />

Kongresses beiwohnte.<br />

<strong>Die</strong> Revue der I. A. A. in spanischer<br />

Sprache.<br />

Unter dem Namen „La Internacional"<br />

ist die erste Nummer der Revue nunmehr<br />

in spanischer Sprache als Organ der<br />

I. A. A. erschienen. Auf 72 Seiten Inhalt<br />

wird ein breites Bild der internationalen<br />

Arbeiterbewegung entworfen. Außer den<br />

Beiträgen, die bereits in den deutschen<br />

Ausgaben erschienen sind, finden sich<br />

eine Anzahl Artikel, die den spanischen<br />

Verhältnissen angepaßt sind.<br />

Aus der <strong>Internationale</strong> des Syndikalismus.<br />

Ueber die amerikanische Arbeiterbewegung.<br />

Max Baginski. New York.<br />

Von der Redaktion der „<strong>Internationale</strong>"<br />

wurde ich aufgefordert, einen Bericht über<br />

„die revolutionäre Arbeiterbewegung Amerikas<br />

in der Nachkriegszeit" zu schreiben.<br />

Ich möchte dem Wunsche gerne nachkommen,<br />

aber schon der vorgeschlagene<br />

Titel setzt mich der Versuchung aus, „über<br />

Dinge zu schreiben, die nicht sind", ein<br />

Wort, mit welchem vor zwei Jahrhunderten<br />

der englische Satyriker Dean Swift<br />

die Zeitungsschreiberei charakterisierte.<br />

Der Genosse Redakteur muß mich entschuldigen,<br />

wenn in diesem Bericht vielleicht<br />

mehr von den Gründen die Rede<br />

ist, welche eine revolutionäre Arbeiterbewegung<br />

hier so schwer aufkommen<br />

lassen, als von den Prinzipien und Aktionen<br />

einer bestehenden Bewegung. Besonders<br />

von der Zeit nach dem Kriege<br />

wird nicht viel zu berichten sein. <strong>Die</strong><br />

amerikanische Nation — eine Völkermischung<br />

so ziemlich aller Rassen der<br />

Erde — entdeckte plötzlich gleich im Beginn<br />

ihres Eintritts in den Krieg, daß sie<br />

ein hochentwickeltes, einheitliches Nationalgefühl<br />

habe. <strong>Die</strong>se Entdeckung führte<br />

zu einem heftigen Ausbruch von patriotischer<br />

Wildheit. Sie stürzte sich auf alle<br />

irgendwie greifbaren, bloß eingebildeten,<br />

oder von Regierungsbeamten und Polizeispitzeln<br />

eigenhändig fabrizierten Ansätze<br />

zu einer revolutionären Bewegung, um sie<br />

ein für allemal auszustampfen.<br />

<strong>Die</strong> Ereignisse nach dem großen Weltschlachten<br />

haben ja überhaupt so manches<br />

ironische Beispiel dafür geliefert, daß die<br />

NORDAMERIKA.<br />

bequeme Ansicht, von der Sozialdemokratie<br />

weit verbreitet, die kapitalistisch<br />

höchst entwickelten Länder hätten auch<br />

die stärkste proletarisch - revolutionäre<br />

Bewegung, ein theoretischer Kurzschluß ist.<br />

Das kapitalistische Regime hat die<br />

Zahl der Proletarier ungeheuer vermehrt,<br />

sie zu Massen zusammengeballt, ob es sie<br />

der Initiative, Willensenergie, dem Denken<br />

und Gefühl nach der Revolution näher<br />

gebracht hat, das läßt sich nicht ohne<br />

weiteres mit ja beantworten. <strong>Die</strong> kapitalistische<br />

Arbeitsweise hat die Wirkung,<br />

das individuelle Element im Menschen zu<br />

verkrüppeln, das Monotone, Typische<br />

mehr hervortreten zu lassen. Teilarbeit<br />

und Maschine zwingen den Arbeiter in<br />

einen fürchterlichen Kreis von tödlich<br />

stumpfer Gewohnheitsverrichtung hinein.<br />

Intensivste Anspannung, Ausnützung der<br />

physischen Kräfte, berauben ihn der<br />

frischen, spontanen Gedanken- und Gefühlsenergie,<br />

durch welche sich der Revolutionär<br />

von dem gleichgültig ins Blaue<br />

hineinlebenden Daseinskaffer unterscheidet.<br />

Eins ist sicher, es hat in Amerika<br />

nie an kapitalistischer Hochentwicklung<br />

gefehlt, dafür fehlt sehr viel, beinahe alles,<br />

in bezug auf eine revolutionäre Bewegung<br />

des amerikanischen Proletariats.<br />

In Berlin sah der Schreiber vor ein<br />

paar Jahren Arbeiter-Demonstrationen<br />

von ein paar hunderttausend Teilnehmern.<br />

Das war nicht bloß der dumpfe Schritt<br />

der Arbeiterbataillone, von welchem Lassalle<br />

drohend gesprochen hatte, es waren<br />

ganze Armeekorps auf dem Marsch, nur<br />

war ihre Haltung, geistiges Gepräge, mehr<br />

automatisch, soldatisch als selbstbewußt


und revolutionär. Sie gingen wie sie<br />

kamen, dem Kommando ihrer gewerkschaftlichen<br />

und parteipolitischen Drillmeister<br />

gehorchend. Aehnliches kann dei<br />

Beobachter hier jedes Jahr im September,<br />

am Labor Day — gesetzlich patentierter<br />

Feiertag der amerikanischen Arbeiter —,<br />

mit ansehen. Ansehnliche Massen marschieren.<br />

Es dauert in New York mehrere<br />

Stunden, bis der Zug der Proletarier an<br />

einem bestimmten Punkt der Fünften<br />

Avenue vorbeigezogen ist. Aber wenn die<br />

Laternenpfähle marschierten und die Proletarier<br />

ständen als Zuschauer auf dem<br />

Trottoir, das Kadaverhafte, die Bedeutungslosigkeit<br />

des Vorganges könnten<br />

nicht markanter hervortreten.<br />

<strong>Die</strong> Zusammenpferchung von Arbeitermassen<br />

in den großen Industriebetrieben<br />

macht es den Gewerkschaften und<br />

politischen Arbeiterparteien Verhältnismäßig<br />

leicht, die Arbeiter zu organisieren,<br />

die daraus sich ergebenden Verbände<br />

sind jedoch keine Organisationen von Individuen,<br />

die in frei gewählter Solidarität<br />

zusammen lernen, wirken und kämpfen<br />

wollen. Es sind von Führern und Beamten<br />

bürokratisierte Organisationen, die<br />

manche Charakterzüge mit dem Maschinen-<br />

und Kasernenbetrieb gemeinsam<br />

haben.<br />

Es ist der Plutokratenherrschaft wohl<br />

nicht gelungen, sich die Arbeiter zu<br />

Freunden zu machen, aber gleichgültige,<br />

sich anpassende Untertanen sind Millionen<br />

von ihnen unter dem Druck dieser Herrschaft<br />

geworden. In Amerika kommt noch<br />

dazu, daß die Möglichkeit eines Aufschwingens<br />

in die Kleinbesitzerklasse mit<br />

traditioneller Zähigkeit überall propagiert<br />

wird. <strong>Die</strong> Zeitungen sind voll mit solchen<br />

Berichten und Geschichten von „Glückszufallen".<br />

<strong>Die</strong> Unzahl von Banken und<br />

besonders von tausenden kleinen Geldund<br />

Kleinbesitz-Spekulanten, Schwindel-<br />

Aktienhändlern usw., sorgt durch eine<br />

Flut von verlogenen Inseraten dafür, daß<br />

die ersparten Arbeitergroschen wieder in<br />

die Truhen der größeren und kleineren<br />

Schieber zurückfließen. Sie scheinen alle<br />

von der fundamentalen kapitalistischen<br />

Ansicht auszugehen, es sei ein schreiendes<br />

Unrecht gegen den Kapitalismus, daß hier<br />

und da Arbeiter, kleine Leute, manchmal<br />

etwas mehr Einkommen haben, als<br />

sie zur Fristung ihrer mageren Existenz<br />

brauchen. Um dieses Mißverhältnis auszugleichen,<br />

das Geld wieder in die richtigen<br />

Hände zu bringen, es den sparenden<br />

Hamstern abzunehmen, werden eine<br />

Menge Pläne geschmiedet, papierene Un-<br />

NORDAMERIKA 33<br />

ternchmungen gegründet, auf welche die<br />

kleinen Leute immer wieder aufs neue<br />

hineinfallen. <strong>Die</strong> Rockefellers, Carnegies,<br />

der Automobil - Ford, haben auch von<br />

ganz klein angefangen und sieh nur, wie<br />

sie jetzt dastehen!<br />

Solche spießerhafte Stimmung ist unter<br />

den amerikanischen Arbeitern viel weiter<br />

verbreitet als unter den europäischen. Das<br />

amerikanische Proletariat fühlt sich nicht<br />

als Proletariat, obwohl sein Dasein unter<br />

der harten Faust der modernen feudalen<br />

Industrieherren im ganzen oft unerträglicher<br />

ist, wie das des europäischen Arbeitskollegen.<br />

<strong>Die</strong> Portionen sind wohl<br />

größer, die Behausungen in den größeren<br />

Städten im ganzen geräumiger. Unternehmungen<br />

von größerem Umfang haben<br />

oft ihre Fabriken außerhalb der Städte, wo<br />

Arbeitslöhne niedriger sind und eventuell<br />

zum Betrieb die Wasserkraft ganz oder<br />

teilweise gestohlen werden kann. Da sieht<br />

man denn oft schmutzige, verrauchte<br />

Holzhütten, die als Arbeiterwohnungen<br />

dienen. Nur die allergewöhnlichsten<br />

Nahrungsmittel, meistens schlechtester<br />

Qualität, sind an solchen Orten zu haben,<br />

die Arbeiter sind den Kompagnien verschuldet<br />

und vollends in sozialer und<br />

geistiger Beziehung ist das Leben da eine<br />

veritable Wüstenei.<br />

Einen noch besseren Erfolg wie mit<br />

der Erziehung der Arbeiter zum stumpfen<br />

Nurdasein hat der amerikanische Kapitalismus<br />

in der Trainierung der Arbeiterführer<br />

aufzuweisen. Sie haben es sich<br />

unter seinen Fittichen recht bequem gemacht.<br />

Als eine professionelle Vermittlerkaste<br />

stellen sie sich dar, deren gesellschaftliche<br />

und ökonomische Erhöhung<br />

über die Arbeiterklasse sie zu einem Teil<br />

der herrschenden Schicht stempelt. Sie<br />

sind ihrer ganzen Lage nach vorbereitet,<br />

Stützen der regierenden Gewalt zu werden.<br />

Es fällt ihnen die Aufgabe zu, dafür<br />

zu sorgen, daß unruhige rebellische Teile<br />

der Arbeiterschaft in ihren Kämpfen.<br />

Streikaktionen, nicht über den Bannkreis<br />

der Bourgeois-Gesellschaft hinausschreiten.<br />

Für diese <strong>Die</strong>nste werden die Führer von<br />

den Arbeitern noch dazu in sehr generöser<br />

Weise bezahlt. Beamte von größeren<br />

Gewerkschaften erhalten 10 000, 8 000,<br />

6 000 Dollar Jahresgehalt und was gelegentlich<br />

bei den Verhandlungen, Kompromissen,<br />

Ausverkauf von Streiks an die<br />

Unternehmer herausspringt, ist auch nicht<br />

unbeträchtlich.<br />

Derart sieht das Ding ungefähr aus,<br />

das als amerikanische Arbeiterbewegung<br />

gilt und in der American Federation of


34<br />

Labor (Amerikanische Föderation der Arbeit)<br />

eingesargt ist. Wollte man deren<br />

Führerschaft mit den Obereunuchen der<br />

englischen, deutschen, französischen Gewerkschafts-Verbände<br />

vergleichen, es geschähe<br />

den letzteren damit ein Unrecht.<br />

Für Samuel Gompers und seine Generalstäbler<br />

in der American Federation<br />

of Labor wäre selbst die Bezeichnung<br />

Verräter an der Arbeiterschaft ein allzuhoch<br />

gegriffenes Wort. Sie haben weder<br />

ein besseres Wissen aus „praktischen<br />

Gründen" preiszugeben, noch ein im<br />

tiefsten Herzensgrunde verstecktes Prinzip<br />

oder Ideal zu verraten. Sie sind in<br />

solcher Hinsicht vollständig unschuldig<br />

und geben sich deswegen ganz offen,<br />

banal, ohne Scham, als Zuhälter des amerikanischen<br />

Imperialismus her. Sie fühlten<br />

sich nicht im geringsten einem fatalen Dilemma<br />

gegenüber, als die Vereinigten Staaten<br />

in den Krieg eintraten. <strong>Die</strong> Idee, daß<br />

sie die Arbeiter gegen den Krieg aufrufen<br />

und beeinflussen könnten, war ihnen nie<br />

in den Kopf gekommen, ebensowenig wie<br />

die andere, daß das Ziel der modernen<br />

Arbeiterbewegung die Beseitigung von<br />

Kapitalismus, Lohnarbeit und Staat sei.<br />

Europäische Arbeiterführer haben auf<br />

Kongressen, in Zeitungen und Publikationen<br />

immerhin einige Jahrzehnte vor dem<br />

Krieg die große internationale Geste gemacht.<br />

In der Literatur der europäischen<br />

Arbeiterbewegung war der Internationalismus<br />

des Proletariats wenigstens theoretisch<br />

ein Palladium der Bewegung. Darum<br />

waren diese Führer gezwungen, nach<br />

faulen Ausreden zu suchen, um ihre kompromittierende<br />

Stellungnahme zu rechtfertigen.<br />

Das hatten die amerikanischen<br />

Gewerkschaftsleiter nicht nötig. Sie<br />

hatten den Massen niemals den Internationalismus<br />

nahe gebracht und aus<br />

diesen Massen klang auch keine helle<br />

Stimme heraus, um sie für ihr Verhalten<br />

zur Rechenschaft zu ziehen. Sie konnten<br />

sich sofort auf die Seite der großen Finanziers,<br />

der Munitionsfabrikanten und Lieferungs-Konzerne<br />

schlagen, welche kolossale<br />

Profite witterten, worin sie auch<br />

wahrlich nicht enttäuscht worden sind.<br />

Daß die Könige der Großindustrie<br />

und der Hochfinanz weder großen Respekt<br />

noch Furcht einer solchen Arbeiterbewegung<br />

entgegenbringen, ist begreiflich.<br />

In den Lohnkämpfen und in solchen um<br />

das Recht der Arbeiter, sich zu organisieren,<br />

wie sie nach dem Krieg stattgefunden<br />

haben, wurde die Sache der<br />

Arbeiter gerade in den wichtigsten und<br />

größten Aktionen geschlagen. Der Stahl-<br />

NORDAMERIKA<br />

trust hat in seinen riesigen Werken nie<br />

eine Arbeiterorganisation anerkannt. Es<br />

arbeiten da mehrere Hunderttausend<br />

Lohnknechte, die sich selbst nur untereinander<br />

zu verständigen brauchten, um eine<br />

gewaltige, unbesiegbare Organisation zu<br />

haben. Sie hätten es gar nicht nötig, sich<br />

einer leblosen Zentralbürokratie, einer<br />

schlecht oder gar nicht funktionierenden<br />

Gewerkschafts-Maschinerie tributpflichtig<br />

zu machen. In diesen Werken begann ein<br />

Streik für das Recht auf Organisation und<br />

Herabsetzung der Arbeitszeit. Ein Arbeitstag<br />

von 12 Stunden, mit sieben Tagen<br />

die Woche, war die Regel. Der Trust<br />

beantwortete die Streikerklärung mit<br />

einem ausgedehnten Lockout (Aussperrung)<br />

und der Streik ging verloren.<br />

Für das feudale, patriarchalische Regime,<br />

wie es sich in der amerikanischen<br />

Industrie zur Herrschaft über die Arbeiter<br />

aufgeschwungen hat, ist ein Nachspiel<br />

charakteristisch. Der Streik fand in<br />

der Presse viel Beachtung. Es fanden sich<br />

einige Philantropen, Geistliche, Wohlmeinende,<br />

welche in einer Adresse an die<br />

Leitung des Stahltrusts diese höflichst<br />

und submissiv aufforderten, doch den<br />

Zwölfstundentag aufzugeben. Selbst Präsident<br />

Harding ließ eine Ermahnung in<br />

diesem Sinne vom Stapel. <strong>Die</strong> Erwiderung<br />

des Trusts war kühl und von oben<br />

herab gehalten. Der Betrieb stelle seine<br />

eigenen strikten Anforderungen, die sich<br />

nicht durch die Einmischung sentimentaler<br />

Leute umgehen ließen. Man werde aber<br />

eine fachmännische Untersuchung beginnen<br />

und wenn sie zu dem Ergebnis<br />

kommen sollte, daß ein Aufgeben des<br />

Zwölfstundentages keine Schädigung der<br />

Interessen des riesigen Unternehmens<br />

herbeiführen würde, so möchte vielleicht<br />

die Frage der Verkürzung der Arbeitszeit<br />

des weiteren erörtert werden.<br />

Es scheint nun fast wirklich so, als<br />

ob diese bourgeoisen Fürbitten zugunsten<br />

der hilflosen Trustsklaven eine Besserung<br />

bewirkt hätten. <strong>Die</strong>ser Tage las man in<br />

den Blättern, der Stahltrust habe versuchsweise<br />

die Arbeitszeit verkürzt, sogar<br />

den Achtstundentag in Betracht gezogen,<br />

was sich soweit im ganzen bewährt habe.<br />

Vom Standpunkt eines etwas höher<br />

entwickelten proletarischen Bewußtseins<br />

sind die großen jüdischen Arbeiterverbände<br />

der Kleiderindustrie in New York<br />

und anderen Großstädten vielleicht als<br />

die relativ kampffähigsten Gewerkschaften<br />

in den Vereinigten Staaten zu bezeichnen,<br />

obgleich der Geist in ihnen nicht mehr<br />

derselbe ist, wie in der ersten Zeit ihres


Bestehens. Infolge von Führer- und<br />

Cliquenwesen, Kompromissen und Schiebereien<br />

mit dem Unternehmertum ist<br />

das Niveau der Organisationen gesunken.<br />

Doch ein aktives, eigenes Element, das<br />

keine völlige Stagnation aufkommen läßt,<br />

ist in den Mitgliedschaften vorhanden.<br />

Außer dem Streik in den Stahltrust-<br />

Werken gingen auch nach dem Kriege<br />

der Eisenbahnerstreik und der Streik der<br />

Arbeiter in den Kohlenbergwerken verloren.<br />

Regierungseingriffe, in Verbindung<br />

mit der bedientenhaften Haltung der Arbeiterführer<br />

gegenüber dem Staat und der<br />

Plutokratie, führten den Fehlschlag herbei.<br />

<strong>Die</strong> meisten anderen größeren Arbeitseinstellungen<br />

hatten dasselbe Schicksal.<br />

An dieser Stelle sei bemerkt, daß Schießereien<br />

und gewaltsame Zusammenstöße bei<br />

größeren Streiks nicht selten sind. Es<br />

wäre jedoch verfehlt, wollte man daraus<br />

den Schluß ziehen, die Arbeiterschaft sei<br />

revolutionär oder auch nur allgemein<br />

radikal gesinnt. In den meisten Fällen<br />

werden solche Schießereien von den angestellten<br />

Bütteln der Unternehmer provoziert<br />

durch tückische, brutale Angriffe<br />

auf die Streikenden. <strong>Die</strong> Staatsbehörden<br />

lassen es hier zu, daß die Unternehmer<br />

gegen die Arbeiter regelrechte Banden<br />

von angeworbenen Landsknechten ins<br />

Feld führen. Mit verschränkten Armen<br />

sehen sie und meistens auch die Gerichte<br />

zu, wie diese Banden unter den Streikenden<br />

den weißen Schrecken aufrichten. Zur<br />

Verteidigung greifen dann hin und wieder<br />

die Arbeiter zu den Waffen. Dabei gehen<br />

sie von keiner revolutionären Idee aus,<br />

die sich etwa gegen den ganzen Apparat<br />

des Gewalt- und Ausbeutungs-Staates,<br />

wie ihn die Kapitalisten brauchen, richten<br />

würde.<br />

Wollte ein zweiter Alexander Berkman<br />

solchen Arbeitern mit einer Tat<br />

gegen ihre Bedrücker zu Hilfe eilen, seine<br />

Solidarität an den Tag legen, sie würden<br />

ihn auch jetzt wieder nicht verstehen und<br />

sehr wahrscheinlich der Obrigkeit helfen,<br />

ihn ins Netz zu bekommen. Ausnahmen<br />

mag es geben, aber seltene.<br />

<strong>Die</strong> engste Verbindung, die es bisher<br />

zwischen dem revolutionären Geist und<br />

der amerikanischen Arbeiterschaft gegeben<br />

hat, fällt wohl in die Periode der<br />

Kämpfe um den Achtstundentag um die<br />

Mitte der achtziger Jahre des vorigen<br />

Jahrhunderts. Ansehnliche Arbeitermassen<br />

hörten damals den Reden von Albert<br />

Parsons, August Spies, Samuel Fielden zu<br />

und nahmen in ihren Kämpfen den Rat<br />

dieser Männer an.<br />

NORDAMERIKA 35<br />

Es kommt hierbei in Betracht, daß zu<br />

jener Zeit das eingewanderte Element<br />

hier noch freier atmen durfte. Jetzt, seit<br />

dem Kriege, hängt ein Gewitter über ihm.<br />

<strong>Die</strong> Deportation von „unerwünschten"<br />

Eingewanderten, die mit der Fahrt des<br />

Dampfers „Buford" am 21. Dezember 1919<br />

begann, hat seitdem nie ganz aufgehört<br />

und mag in der Zukunft sogar in verstärktem<br />

Maße wieder einsetzen. Auf<br />

dem „Buford" befanden sich unter den<br />

249 Deportierten, wovon 51 in der offiziellen<br />

Liste als Anarchisten eingetragen<br />

waren, Emma Goldman und Alexander<br />

Berkman.<br />

Von Washington aus wiederholen sich<br />

immer aufs neue Anzeichen und<br />

Berichte, daß Schritte vorbereitet werden,<br />

eine allgemeine Auslese großen Stils unter<br />

den „Fremdgeborenen" vorzunehmen. Eine<br />

Auslese in dem Sinne, daß nur solche Eingewanderte<br />

im Lande weiter geduldet werden,<br />

von welchen sich die Behörden überzeugt<br />

haben, daß sie dem Staat und dem<br />

Kapitalismus gute, folgsame Untertanen<br />

sein werden. Eine dahinzielende Gesetzesvorlage<br />

wurde schon dem vorigen Kongreß<br />

(Bundeslegislatur) unterbreitet. Sie verlangte<br />

Registrierung aller Fremden, was<br />

deren Stellung unter Polizeiaufsicht gleichgekommen<br />

wäre. Das Melde- und Abmeldewesen,<br />

wie es in Deutschland besteht,<br />

ist hier nie eingeführt gewesen, aber die<br />

Behörden dieser Republik sagen sich, daß<br />

es ein gutes System ist, unter dem es<br />

leicht wäre, jeden Augenblick die Hand<br />

auf mißliebige Personen zu legen. Der<br />

berüchtigte Detektiv - Häuptling William<br />

Burns, zur Zeit als diese Gesetzesvorlage<br />

diskutiert wurde, Chef des Geheimdienstes<br />

der Regierung, ließ sich die<br />

Aeußerung entschlüpfen: „Wenn diese<br />

Vorlage im Kongreß angenommen wird,<br />

werden wir im Hafen von New York<br />

nicht Schiffe genug haben, um alle die<br />

Roten und andere unerwünschte Fremde<br />

zu deportieren."<br />

<strong>Die</strong> Vorlage wurde nicht angenommen,<br />

das heißt, soweit sie die Registrierung der<br />

Fremden betraf, wurde sie noch einmal<br />

zurückgestellt, womöglich aus Rücksicht<br />

auf die Wahlen, die im November stattfanden.<br />

Daß der Plan aber durchaus<br />

nicht aufgegeben ist, beweisen neuerliche<br />

Aeußerungen des Arbeitsministers,<br />

der es sich zur besonderen Aufgabe gemacht<br />

zu haben scheint, die Fremden<br />

unter Aufsicht und Kontrolle zu stellen.<br />

Einen Anlauf zur Schaffung einer revolutionären<br />

Bewegung unter den amerikanischen<br />

Arbeitern unternahm vor länger


36<br />

als zwanzig Jahren die Organisation der<br />

Industrial Workers of the World (I.W.W.).<br />

<strong>Die</strong> Bewegung war technisch, organisatorisch<br />

mehr zentralistisch wie föderalistisch,<br />

ihr Geist aber das erste Jahrzehnt<br />

und auch noch später ein ausgesprochen<br />

robust proletarischer. <strong>Die</strong> Mitgliedschaft<br />

bestand hauptsächlich aus<br />

„ungelernten" Arbeitern und Wanderarbeitern,<br />

deren rauhe Existenz eine starke<br />

Sprache und Propaganda verlangte. Syndikalistische<br />

Kampfmittel, Sabotage, „go<br />

canny" kamen zur Anwendung. <strong>Die</strong> Besitzenden<br />

zögerten nicht lange, die Gesetzgebenden<br />

dagegen mobil zu machen.<br />

Ein Gesetz gegen den „kriminellen Syndikalismus"<br />

wurde schnell angenommen<br />

mit monströs hohen Strafmaßen. Urteile<br />

von zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren Zuchthaus<br />

waren keine große Seltenheit.<br />

Der Krieg brachte dann die Gelegenheit,<br />

eine Zerstörungs - Kampagne gegen<br />

die I.W.W. zu inszenieren. Es konnte<br />

ihnen zwar nicht nachgewiesen werden,<br />

daß sie aktive Eingriffe gegen die Kriegs-<br />

Vorbereitungen begangen hatten, doch das<br />

galt den Gerichten wenig. Genug, daß<br />

das Programm der Organisation sich gegen<br />

Kapitalismus, Zwangsstaat und Militarismus<br />

wandte, um Urteile gegen Angeklagte<br />

auszusprechen, die in Fällen, wo<br />

es sich nicht um jüngere Leute handelte,<br />

voraussichtlich lebenslängliche Gefangenschaft<br />

bedeuteten. Manche sind in der<br />

Gefangenschaft gestorben, andere haben<br />

sich Krankheit und Siechtum darin zugezogen.<br />

Schließlich wurden nach und nach<br />

die Gefangenen freigesetzt, oft erst nach-<br />

<strong>Die</strong> letzte Entwicklung der revolutionären<br />

Bewegung.<br />

Von D. A. de S.<br />

<strong>Die</strong> weite Ausdehnung des von romanischen<br />

Rassen bewohnten Amerika mit<br />

seinen 100 Millionen Einwohnern läßt uns<br />

die Bedeutung dieser Länder für die Welt-<br />

Wirtschaft erraten.<br />

<strong>Die</strong> revolutionäre Arbeiterbewegung in<br />

den kultiviertesten Ländern, wie Argentinien,<br />

Uruguay, Chile, Mexiko, steht<br />

unter dem Einfluß der Anarchisten, die<br />

unentwegte Verteidiger der Arbeiterorganisationen<br />

sind, und die als erste die<br />

Proletariermassen zu den Klassenkämpfen<br />

nach modernen Methoden gegen den Kapitalismus<br />

und Staat aufgerufen haben.<br />

SÜDAMERIKA<br />

SÜDAMERIKA.<br />

dem sie eine Art Versprechen auf gutes<br />

Betragen abgegeben hatten. <strong>Die</strong> Nichtamerikaner<br />

darunter wurden nach der<br />

Entlassung meistens deportiert. <strong>Die</strong> Organisation<br />

selbst war beinahe zertrümmert,<br />

die Mitglieder unter der brutalen<br />

Verfolgung in alle Winde zerstreut, einige<br />

der Führer auch ins Ausland geflüchtet,<br />

um der langen Einkerkerung zu entgehen.<br />

<strong>Die</strong> I.W.W.-Organisation scheint von<br />

kleinem Cliquenwesen zerrissen zu sein,<br />

und es ist nach den schweren Verfolgungen<br />

kaum zu erwarten, daß sie sich<br />

zu der früheren Höhe zurück fühlen wird.<br />

<strong>Die</strong> Verfolgung würde dann übrigens sofort<br />

wieder neu einsetzen. <strong>Die</strong> I.W.W.-<br />

Bewegung ist ein Stück amerikanischer<br />

Arbeiterbewegung von revolutionärem<br />

Charakter.<br />

In Amerika machen Behörden und Gerichte<br />

kaum einen Unterschied zwischen<br />

revolutionärer Theorie, Weltanschauung<br />

und revolutionärer Tat. Jede Anschauung,<br />

die sich kritisch gegen das Bestehende<br />

wendet, wird eigentlich schon als verbrecherische<br />

Aktivität betrachtet und bei<br />

Gelegenheit werden ihre Vertreter demgemäß<br />

drakonisch mißhandelt.<br />

Ein besonderes Faschisten-Regime ins<br />

Leben zu rufen, das haben die Bank- und<br />

Trust-Präsidenten in Amerika gar nicht<br />

nötig. Der Praxis nach besteht es schon.<br />

Ich wollte in diesem Beitrag besonders<br />

die typisch amerikanische Arbeiterbewegung<br />

ihrem Wesen nach schildern, weil<br />

ich beim Lesen von europäischen Arbeiterblättern<br />

oft den Eindruck hatte, daß man<br />

dieses Wesen drüben noch wenig versteht.<br />

<strong>Die</strong> Sozialdemokraten begannen ihre<br />

Propagandatätigkeit in Argentinien im<br />

Jahre 1900, sie hatten es aber mit einem<br />

so achtunggebietenden Gegner wie Pietro<br />

Gori, dem bekannten anarchistischen<br />

Dichter Italiens zu tun, und wurden daher<br />

zu einem Scheindasein verurteilt, bis sie<br />

1918 den Anarchisten das Feld vollends<br />

überließen. Auch in Mexiko hat die Sozialdemokratie<br />

keine Wurzeln fassen<br />

können. An Stelle des autoritären marxistischen<br />

Sozialismus ist eine Verbindung<br />

freiheitlicher Ideen mit rein liberalen<br />

bürgerlichen Anschauungen aufgetreten,<br />

und von diesem Gemisch wird heute die<br />

Partei des Junkertums Mexikos getragen,<br />

die zwar vorgibt, proletarische Theorien<br />

zu vertreten, in Wirklichkeit aber die


Interessen des Großgrundbesitzes vertritt.<br />

<strong>Die</strong> anarchistischen Ideen sind in Mexiko<br />

seit der Zeit der I. <strong>Internationale</strong> verankert<br />

und haben in dem historischen<br />

Kampfe gegen die Diktatur des Porfirio<br />

Diaz eine nicht unbeträchtliche Rolle<br />

gespielt. Der Sturz des Tyrannen Diaz<br />

ist in erster Linie der aufopferungsvollen<br />

und einflußreichen Tätigkeit unseres Genossen<br />

Richardo Flores Magon zu verdanken,<br />

dessen Name in der Arbeiterschaft<br />

Mexikos sich einen Ehrenplatz gesichert<br />

hat.<br />

In Peru, Chile, Uruguay und Cuba<br />

wurde der Same der modernen Arbeiterbewegung<br />

von unseren Kameraden gesät,<br />

und bis auf den heutigen Tag sind sie es,<br />

die das Banner des Kampfes hochhalten.<br />

Wenn wir eine Statistik über Streiks<br />

und sonstige Bewegungen in den Ländern<br />

Amerikas, die von den romanischen<br />

Rassen bewohnt sind, aufstellten, dann<br />

würde sich zeigen, daß sämtliche Aktionen<br />

von unseren Kameraden eingeleitet<br />

worden sind. Man findet weder die Amsterdamer<br />

noch die Moskauer, auch sind<br />

die Anhänger Gompers ohne jeden Einfluß.<br />

Schon allein die Presse in diesen<br />

Ländern zeigt uns, daß unsere Ideen eine<br />

Macht sind, mit der zu rechnen ist. Das<br />

haben auch die Bürokraten des <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeitsamtes in Genf, sowie die<br />

<strong>Internationale</strong>n von Moskau und Amsterdam<br />

anerkennen müssen. Selbst Gompers<br />

hat sich über die Schwierigkeit geäußert,<br />

die darin besteht, die Anarchisten aus der<br />

Arbeiterbewegung des spanischen Amerika<br />

zu vertreiben. Sie alle haben auf<br />

ihren Kongressen und Konferenzen in den<br />

letzten zwei Jahren in Resolutionen auf<br />

die Notwendigkeit hingewiesen, das lateinische<br />

Amerika für ihre respektiven Tendenzen<br />

zu erobern. Der Roten Gewerkschaftsinternationale<br />

Moskaus ist es gelungen,<br />

eine reformistische Organisation<br />

in Chile zu erobern und unter den Renegaten<br />

des Anarchismus in Chile und Uruguay<br />

einige Anhänger zu finden; das ist<br />

aber auch alles. Das <strong>Internationale</strong> Arbeitsamt<br />

zu Genf und die Amsterdamer<br />

<strong>Internationale</strong> haben in Argentinien mit<br />

Hilfe des dortigen Lokomotivführerverbandes<br />

und der Gewerkschaft der städtischen<br />

Angestellten von Buenos Aires<br />

eine Filiale eingesetzt. Das hat aber keine<br />

Bedeutung. Weit gefährlicher dagegen ist<br />

die Politik des Samuel Gompers mit seiner<br />

American Federation of Labor, denn<br />

hinter ihm steht der nordamerikanische<br />

Kapitalismus, der über alle Mittel verfügt,<br />

um die politische und wirtschaftliche Un-<br />

SÜDAMERIKA 37<br />

abhängigkeit der kleineren Republiken<br />

Zentralamerikas zu brechen. <strong>Die</strong> Richtung<br />

Gompers hat bereits in Mexiko eine Organisation<br />

geschaffen, die unter dem<br />

Namen Regionale Arbeiterkonföderation<br />

Mexikos (C.R.O.M.) bekannt ist und die<br />

die mexikanische Regierung unterstützt.<br />

Sie spielt damit dieselbe Rolle wie die russischen<br />

Gewerkschaften in Rußland und<br />

die faschistischen Gewerkschaften in Italien.<br />

Gompers hat auch bereits in Cuba,<br />

Santo Domingo, Panama, Costa Rica, Columbia<br />

und Brasilien Vertretungen geschaffen.<br />

Wenn wir auch die Gefahr der<br />

Gompersschen Tendenzen für die lateinischen<br />

Länder Amerikas erkennen, so<br />

haben wir jedoch weder von den Hysterikern<br />

Moskaus noch von den Reformisten<br />

Amsterdams etwas zu fürchten. Sie<br />

können zwar einige schwache Gewerkschaften<br />

ins Leben rufen, niemals aber<br />

feste Wurzeln schlagen. Auf unserer<br />

Seite sind die freiheitlichen Traditionen,<br />

die im Proletariat fest verankert sind.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong> Arbeiterassoziation<br />

ist die einzige der bestehenden <strong>Internationale</strong>n,<br />

die auf die Sympathien der Massen<br />

rechnen kann. Bis heute sind an sie angeschlossen<br />

die Landesorganisationen Mexikos,<br />

Argentiniens, Chiles, Uruguays, die<br />

von Ecuador und anderen Ländern werden<br />

ihren Anschluß vollziehen, wenn die Reaktion<br />

in diesen Ländern ihnen eine Atempause<br />

lassen wird. <strong>Die</strong> Reaktion in<br />

Amerika ist bedeutend stärker als die<br />

Reaktionen in Europa jemals gewesen<br />

sind. In dieser Hinsicht marschiert das<br />

lateinische Amerika in derselben Linie wie<br />

die moderne kapitalistische Zivilisation.<br />

Bei fast allen Streiks fühlten Polizei und<br />

Militär sich gezwungen, einzugreifen.<br />

Jeden Monat kann man den Tod von<br />

Kameraden, die im Kampfe gefallen sind,<br />

das Los verwundeter oder eingekerkerter<br />

Arbeiter beklagen. Das politische und<br />

revolutionäre Leben jener Länder ist stets<br />

in Aktivität und gibt unseren Kameraden<br />

dauernd Gelegenheit, sich an den<br />

Kämpfen zu beteiligen. In den letzten<br />

Monaten hat die Reaktion ernste Schläge<br />

geführt in Tampico (Mexiko), wo es Tote<br />

und Verwundete gab, und an anderen<br />

Orten des Landes, bei denen zahlreiche<br />

Arbeiter verwundet, andere ins Gefängnis<br />

gesetzt wurden usw. In Melchor de<br />

Ocampo allein wurden 13 Kameraden verhaftet.<br />

In Rio de Janeiro und Sao Paulo<br />

(Brasilien) wurden von den Regierungstruppen<br />

zahlreiche tätige Genossen getötet,<br />

andere aus dem Lande verwiesen,<br />

darunter gerade die besten Kameraden,


38<br />

die für die I.A.A. die beste Stütze gewesen<br />

sind. Unsere Organisationen in<br />

Brasilien sind in einer bedauernswerten<br />

Situation. Nach den letzten revolutionären<br />

Unruhen wurde die revolutionäre<br />

Bewegung völlig niedergeschlagen. Ihre<br />

Presse wird unterdrückt, die Post verhindert<br />

die Beförderung der Zeitungen,<br />

die Zensur ist ebenso hart wie im bolschewistischen<br />

Rußland. <strong>Die</strong> Zentralverbändler<br />

oder Reformisten werden von der Regierung<br />

begünstigt und nutzen die Situation<br />

aus, um ihre Propaganda zu entfalten<br />

und sich als die einzige Arbeitergewerkschaft<br />

des Landes den Arbeitern<br />

darzustellen.<br />

In Argentinien (Bahia Bianca, Provinz<br />

Buenos Aires) gab es vor kurzem einen<br />

Streik, der von blutigen Kämpfen begleitet<br />

war. Da der Streik von unseren Genossen<br />

der FORA, geführt wurde, hatten auch die<br />

Ortsgruppen in den betreffenden Orten<br />

und Nachbarorten unter den polizeilichen<br />

Verfolgungen am meisten zu leiden. Ein<br />

anschauliches Bild über die Aktivität unserer<br />

Genossen und unsere Bewegung in<br />

Argentinien wird schon durch die Tatsache<br />

gegeben, daß für den Inhaftiertenfonds<br />

in Buenos Aires allein jährlich gegen<br />

40 000 Pesos aufgebracht werden. Dabei<br />

muß noch bemerkt werden, daß einige<br />

Gewerkschaften, wie z. B. die Bäcker von<br />

Buenos Aires, die einige tausend Mitglieder<br />

haben, ihren eigenen Inhaftierten-<br />

Fonds besitzen und keinen Gebrauch vom<br />

allgemeinen Inhaftiertenfonds machen.<br />

In Bolivia wurden unsere Kameraden<br />

in eine entfernte Wüste ausgesetzt, denn<br />

man will die Propaganda unserer Ideen<br />

um jeden Preis unterdrücken. In Chile<br />

herrscht gegenwärtig eine furchtbare Militärdiktatur,<br />

so daß unsere Bewegung zur<br />

Illegalität verurteilt und zeitweise zur<br />

vollständigen Untätigkeit verdammt ist.<br />

Trotzdem kann die Presse immer noch<br />

erscheinen, was von nicht zu unterschätzender<br />

Bedeutung für die Aufrechterhai-<br />

SÜDAMERIKA<br />

tung der Verbindungen und die Wachhaltung<br />

des revolutionären Geistes ist.<br />

In Peru ist jetzt eine erzreaktinäre<br />

Regierung am Ruder, die jede freiheitliche<br />

Regung im Volke erstickt und besonders<br />

unsere Ideen mit Berserkerwut bekämpft.<br />

Der Präsident Perus befindet sich unter<br />

dem Einflüsse des Klerus, der danach<br />

strebt, mittelalterliche Verhältnisse einzuführen.<br />

Während der letzten Monate<br />

fanden grausame Massaker an Indianern<br />

und Arbeitern statt. <strong>Die</strong> Presse der freiheitlichen<br />

Bewegung wird rigoros unterdrückt,<br />

die Vertreter der Bewegung werden<br />

verfolgt.<br />

Es wäre verfehlt, zu glauben, daß die<br />

Verbindungen zwischen den lateinischen<br />

Ländern gut sind. Im Gegenteil, die<br />

Verbindungen sind sehr erschwert. <strong>Die</strong><br />

Einheitlichkeit der Bewegung ist jedoch<br />

eine natürliche Erscheinung, denn ihre<br />

Wurzeln sind überall die gleichen freiheitlichen<br />

und die wirtschaftlichen und politischen<br />

Verhältnisse sind einander sehr<br />

ähnlich. Das Uebel der Arbeiterbewegung<br />

des lateinischen Amerika besteht jedoch<br />

darin, daß die einzelnen Länder sich nicht<br />

genügend kennen. Argentinien, und hier<br />

wieder Buenos Aires, ist seit 30 Jahren<br />

das Zentrum unserer Propaganda. Von<br />

hier aus ist die Bewegung in den kleineren<br />

Ländern beeinflußt worden, zum Teil<br />

direkt ausgegangen. Und dennoch sind die<br />

gegenseitigen Verbindungen ungenügend.<br />

Wir beabsichtigen durch eine Propagandatour<br />

in allen Republiken Mittel- und Südamerikas<br />

die Fäden enger als bisher zu<br />

verknüpfen, um die Bewegung noch mehr<br />

zu vereinheitlichen. Es ist mit Sicherheit<br />

zu rechnen, daß dieses Werk einen großen<br />

Erfolg zeitigen wird, so daß alle Versuche<br />

von Gompers, von den Amsterdamern<br />

und Moskauern, die Arbeiterschaft des<br />

lateinischen Amerika für ihre Ziele zu<br />

gewinnen, von vornherein zum Scheitern<br />

verurteilt sein werden.


Geschichtlicher Ueberblick über die freiheitliche<br />

Bewegung in Polen.<br />

Das polnische Proletariat war im<br />

Laufe der Jahre gewöhnt, einen revolutionären<br />

Kampf zu führen. In seinen nationalen<br />

und sozialen Kämpfen und Bedürfnissen<br />

geknechtet, in ungesetzlichen Verhältnissen<br />

des zaristischen Rußland,<br />

wurde es dem polnischen Arbeiter zum<br />

vollen Bewußtsein, daß er nur auf seine<br />

eignen Kräfte zu bauen hat, und nur was<br />

er mit eigner Kraft erobern wird, das wird<br />

ihm zuteil werden.<br />

In den Handels- und Industriestädten<br />

Polens, wie Lodz, Bielostok, Warschau und<br />

den Dombrowa-Kohlengruben lebte der<br />

revolutionäre Geist der Arbeiterschaft<br />

Polens, die vor keinen Maßnahmen im<br />

Kampfe um ihre ökonomischen Rechte<br />

zurückschreckte. Sie war immer zielbewußt<br />

und wandte alle Mittel, wie wirtschaftlichen<br />

Terror, Sabotage, bewaffneten<br />

Aufstand usw. an, und wollte sich in<br />

keinem Falle unterkriegen lassen.<br />

Der polnische Proletarier bekam den<br />

Stempel der im Kampfe notwendigen<br />

Widerstandsfähigkeit unter dem Joch des<br />

Zarismus, der revolutionäre Geist des<br />

Unterjochten entwickelte sich auf Grund<br />

verschiedener Umstände; es wirkte der<br />

Einfluß der herrschenden Regierung sehr<br />

fatal und destruktiv auf die polnische Arbeiterbewegung.<br />

<strong>Die</strong> „Polnische Sozialistische<br />

Partei" ging von den nationalpatriotischen<br />

Gefühlen aus, daß Polens<br />

Auferstehung geschehen muß, daß Polen<br />

ein unabhängiges polnisches nationales<br />

Kaisertum werden müsse.<br />

<strong>Die</strong> „Sozialdemokratische Partei"<br />

des Königreichs Polen und Litauen<br />

dagegen ging jedoch vom „internationalen"<br />

Standpunkte aus, d. h. sie verlangte<br />

die allgemeine russische demokratische<br />

Republik mit der vollen Autonomie<br />

Polens.<br />

Nur wenn diese Punkte ihres Programms<br />

erfüllt waren, schien es den erwähnten<br />

Parteien möglich, den Kampf für<br />

den Sozialismus zu führen.<br />

<strong>Die</strong> anarchistischen Tendenzen innerhalb<br />

der Arbeiterbewegung wurden, wo<br />

sie zum Vorschein kamen, von den national-patriotischen<br />

und politischen Parteien<br />

bekämpft und in den Hintergrund gedrängt.<br />

Bis 1905 spielte der Anarchismus in<br />

Polen keine große Rolle. Wenn auch<br />

POLEN 39<br />

POLEN.<br />

Keime des Anarchismus vorhanden waren<br />

und viele anarchistische Gruppen existierten,<br />

hatten diese jedoch keinen nachhaltigen<br />

Einfluß in weiteren Kreisen der<br />

Arbeitermassen.<br />

Im Jahre 1899 wurde in Genf durch<br />

eine dieser Gruppen das Buch von Bakunin<br />

„Gott und Staat" in polnischer<br />

Sprache herausgegeben. In demselben<br />

Jahre erschien in Galizien, wo die Zensur-<br />

Verhältnisse günstiger waren, das Buch:<br />

„<strong>Die</strong> Probleme des Sozialismus", unterzeichnet<br />

von einem gewissen Waltschewsky.<br />

Der Verfasser des<br />

Buches, ein armer Student der Warschauer<br />

Universität, wurde dann der berühmte<br />

Soziologe Eduard Abramowsky,<br />

der einzige Theoretiker des Anarchismus<br />

in Polen.<br />

Von demselben Verfasser erschien<br />

unter dem Pseudonym Tschaikowsky im<br />

Jahre 1904 in Lemberg ein zweites Buch:<br />

„Sozialismus und der Staat". — In seinen<br />

beiden Büchern kam Abramowsky zu dem<br />

Schlüsse, daß der einzige Weg zur Befreiung<br />

der Arbeiterklasse der herrschaftslose<br />

Sozialismus ist, der sich nur in<br />

verkörperten Gemeinschaften verwirklichen<br />

kann. — Abramowsky widmete<br />

sich ganz und gar seiner Lieblingsidee<br />

— der Genossenschaftsbewegung. Es<br />

erschienen noch zwei Broschüren über die<br />

Genossenschaften, teilweise dem Anarchismus<br />

gewidmet. Sein theoretisch-anarchistisches<br />

System bauend, war Ab ram<br />

o w s k y gleichzeitig der Anhänger des<br />

utopistischen Anarchismus, der den revolutionären<br />

Kampf nicht anerkennt.<br />

Außer dem Buche von Abramowsky:<br />

„Sozialismus und der Staat", welches in<br />

Lemberg erschien, erschienen auch dort<br />

Uebersetzungen der vortrefflichen Werke<br />

Kropotkins: „Memoiren eines Revolutionärs"<br />

(1904), „<strong>Die</strong> Eroberung des Brotes"<br />

(1903), wie auch „An die Jugend".<br />

Gleichzeitig arbeitete in Paris der<br />

Genosse Joseph Zielinsky, stud. med., der<br />

im Laufe von 5 Jahren (1901—1905) vier<br />

Broschüren herausgegeben hat, und zwar:<br />

„Der Generalstreik (1901), „Der falsche<br />

Sozialismus" (1902), „Ist der Anarchismus<br />

in Polen möglich" (1906), „<strong>Die</strong> kampffähigen<br />

gewerkschaftlichen Arbeitervereine".<br />

Inzwischen wurde es im Lande<br />

immer schwüler; die Vorahnung der Ereignisse<br />

von 1905 schwebte in der Luft.<br />

<strong>Die</strong> Reaktion und die Unterdrückung,


40 POLEN<br />

denen die Arbeiterklasse ausgesetzt war,<br />

zwangen die Massen, zu immer gewaltsameren<br />

Gegenaktionen und Mitteln zu<br />

greifen.<br />

Im Jahre 1905 entstand eine anarchistische<br />

Gruppe in Bielostok, die sich<br />

„Kampf" nannte. <strong>Die</strong> Stadt wurde zum<br />

ständigen Zentrum der anarchistischen<br />

Bewegung. Der „Kampf" führte eine intensive<br />

Propaganda, gab viele Broschüren in<br />

russischer und jüdischer Sprache heraus<br />

wie auch zeitgenössische Blätter und<br />

Zeitungen, für die Bauern und die Armee<br />

bestimmt. — An den Versammlungen<br />

nahmen regelmäßig zirka 600—800 aktive<br />

Mitglieder teil. Sie führten Streiks unter<br />

Anwendung von ökonomischem Terror,<br />

die sehr günstig ausfielen. Zur Zeit der<br />

allgemeinen Arbeitslosigkeit wurde mit<br />

Gewalt Brot aus den Bäckereien geholt<br />

und unter die Hungernden verteilt. <strong>Die</strong>se<br />

Art direkter Aktion empörte die politischen<br />

Parteien sehr, und sie Schleuderten<br />

die größten Schmähungen gegen die<br />

Anarchisten.<br />

<strong>Die</strong> Gruppen verfügten über eine geheime<br />

Druckerei mit dem Titel „Anarchist",<br />

welche im Jahre 1906 entdeckt<br />

wurde, wobei einige Genossen verhaftet<br />

wurden.<br />

In der Umgegend von Bielostok, wie<br />

Sekosti (wo bei bewaffnetem Aufstand<br />

der Anarchisten gegen die Polizei der Genosse<br />

Salomon Buchwaiz fiel), Ruzany,<br />

Bielitz, Ciechanowitsche usw., existierten<br />

ebenfalls anarchistische Gruppen, die<br />

immer in Verbindung mit Bielostok standen.<br />

In Ruzany führten sie viele Streiks<br />

aus. <strong>Die</strong> Bauerngruppe führte eine aktive<br />

Propaganda in Bielitz und Orlo.<br />

Aus einzelnen Ereignissen ersieht man,<br />

daß die anarchistische Bewegung energisch<br />

für die soziale Befreiung kämpfte.<br />

Aktiven Anteil nahmen die Anarchisten<br />

im Jahre 1905. Einige von ihnen waren<br />

aktive Mitglieder des Arbeiterrats und<br />

übten einen großen Einfluß auf die gesamte<br />

Arbeiterschaft aus. Im Jahre 1906<br />

existierte in Bielostok eine größere „Anarchistische<br />

Föderation", die einen anarcho-syndikalistischcn<br />

Charakter trug. Es<br />

waren 4 Berufsorganisationen vorhanden,<br />

nämlich: Weber, Tischler, Schneider und<br />

Färber. <strong>Die</strong> Gruppen bestanden fast ausschließlich<br />

aus Polen und Juden. Ihre<br />

Tätigkeit bestand im Organisieren von<br />

Streiks durch direkte Aktion, im Herbeischaffen<br />

der Lebensmittel für die<br />

Streikenden, so daß sehr viele Streiks,<br />

donk dieser Tätigkeit, mit großem Erfolg<br />

endeten. Unterdessen wurde zur selben<br />

Zeit der tapfere Genosse Joseph Meplinski<br />

wegen Ausübung einiger Terrorakte<br />

zum Tode verurteilt. Das Todesurteil<br />

wurde in der Warschauer Zitadelle vollstreckt.<br />

Gleichzeitig wurden die Genossen<br />

Leonard Czarnecki (Olek), Jan<br />

Ganski (Mietek) und Anton Nizborski<br />

(Antek), wegen Anwendung von Sabotage<br />

in verschiedenen Unternehmungen, zum<br />

Tode verurteilt.<br />

<strong>Die</strong> Gruppe der „unmotivierten<br />

Terroristen" vollführte einige Attentate<br />

wie: im Bankhause von Scherenewsky und<br />

in einem der elegantesten Hotels in Warschau.<br />

— Daneben mußten sie noch einen<br />

scharfen Kampf mit den Sozialisten<br />

führen, die sie immerzu verspotteten und<br />

beschimpften.<br />

In den sogenannten „Freiheitstagen",<br />

in den blutigen Tagen von 1905, veranstalteten<br />

die Anarchisten Massenversammlungen,<br />

die neue Repressalien und Verhaftungen<br />

hervorriefen. Bei einer Flugblattverteilung<br />

unter den Soldaten wurde<br />

der Genosse Viktor Ryrkind verhaftet und<br />

späterhin zum Tode verurteilt. Es wurden<br />

auch massenhaft Verhaftungen vorgenommen,<br />

viele Bomben, Explosionsmaterial<br />

und Gewehre konfisziert.<br />

Das alles jedoch schreckte die anarchistische<br />

Bewegung nicht. <strong>Die</strong> Gruppe<br />

der „<strong>Internationale</strong>" in Warschau, fast<br />

nur aus Juden bestehend, organisierte<br />

Meetings in polnischer und jüdischer<br />

Sprache. <strong>Die</strong>se Gruppe zählte 125 Mitglieder.<br />

Wie in Bielostok, so führten<br />

auch hier die Anarchisten ganze Streiks<br />

mit Sabotage und Terroranwendung. Zur<br />

Zeit des Bäckerstreiks haben die Streikenden<br />

den vorbereiteten Teig in den Backtrögen<br />

mit Petroleum getränkt und einige<br />

Oefen in die Luft gesprengt. <strong>Die</strong> in<br />

Schrecken gesetzten Besitzer ließen ihre<br />

Bäckereien im Stich und die streikenden<br />

Arbeiter übernahmen für kurze Zeit die<br />

Betriebe, bis sie von der Reaktion wieder<br />

vertrieben wurden. Im Januar 1906 wurden<br />

16 Genossen der „<strong>Internationale</strong>" zum<br />

Tode verurteilt, viele wurden nach<br />

Sibirien verschickt, viele entflohen ins<br />

Ausland.<br />

Im August desselben Jahres wurde<br />

jedoch wieder die Arbeit rege. Es entstanden<br />

2 Gruppen: „Schwarzes Zeichen"<br />

und „<strong>Die</strong> Freiheit", und bereits im Winter<br />

zeigten sich die Wirkungen ihrer Tätigkeit<br />

in Attentaten und Streiks.<br />

Im Jahre 1907 wurden wieder Verhaftungen<br />

vollzogen und die Redaktion<br />

der Zeitung: „<strong>Die</strong> revolutionäre Stimme'"<br />

konfisziert. — In Lodz, Siedice, Biala,


Tschenstochau existierten anarchistische<br />

Gruppen, die eine größere Propaganda<br />

führten.<br />

Gleichzeitig waren anarchistische<br />

Gruppen im Auslande tätig. Im Jahre<br />

1907 erschienen in London 2 Broschüren<br />

in polnischer Sprache: „Was wollen die<br />

Anarchisten?", von Turner, und „<strong>Die</strong> Anarchie",<br />

von Malatesta. In demselben<br />

Jahre erschien in Paris die Broschüre „<strong>Die</strong><br />

Gerichtsrede", von Emil Enrico.<br />

Aus Anarchistenkreisen stammte auch<br />

der berühmte M a c h a j s h i, der bewußte<br />

Verfasser und Schöpfer des Systems der<br />

„Arbeiterselbstverschwörung", der starken<br />

Anteil an der russischen Bewegung<br />

Spitzbergen, eine kapitalistische Oase im<br />

nördlichen Eismeer.<br />

Von K. und S.<br />

Weit ab von den sonnenerwärmten,<br />

fruchtbaren Länderstrecken Mittel-, Westund<br />

Südeuropas, fern von den lärmenden<br />

Stätten moderner Industrie, entwickelte<br />

sich in den letzten Jahren in dem im<br />

nördlichen Polarkreis gelegenen Spitzbergen<br />

eine Kohlenindustrie. Der gierige<br />

Kapitalismus begnügt sich nicht mit den<br />

vorhandenen Schätzen, er sucht in noch<br />

wilden, unerforschten Gegenden nach<br />

neuen Rohstoffquellen, um seine Macht<br />

zu erweitern und seine Reichtümer zu<br />

vermehren. Es gibt keine Schwierigkeiten,<br />

die nicht überwunden, keine Hemmnisse,<br />

die nicht überstiegen werden.<br />

Spitzbergen ist ein Archipel im nördlichen<br />

Eismeer, das aus 5 größeren und<br />

einer größeren Anzahl kleinerer Inseln<br />

besteht, die fast das ganze Jahr hindurch<br />

mit Schnee und Eis bedeckt sind. Es liegt<br />

650 Kilometer vom nördlichsten Teil des<br />

europäischen Festlandes entfernt und ist<br />

mit Dampfschiff in drei Tagen von<br />

Tromsö, Nordnorwegen, zu erreichen. Der<br />

Schiffahrtsverkehr ist jedoch nur in der<br />

Zeit vom 17. April, manches Jahr noch<br />

später, bis etwa zum 20. Oktober offen.<br />

<strong>Die</strong> übrige Zeit sind diese Eisinseln von<br />

jeder Verbindung abgeschlossen. Auf den<br />

eisigen Schneefeldern und Bergen Spitzbergens<br />

gedeiht nicht die mindeste Vegetation.<br />

Polarwölfe und Eisbären sind die<br />

einzigen lebenden Wesen, die bis vor<br />

kurzer Zeit allein diese kalte Zone bewohnten.<br />

SPITZBERGEN 41<br />

SPITZBERGEN.<br />

nahm, aber keinen Einfluß auf die Polen<br />

hatte. <strong>Die</strong> Jahre 1903—1907 waren in<br />

Polen Jahre des Aufblühens des Anarchismus.<br />

<strong>Die</strong> junge Bewegung mit der kleinen<br />

Vergangenheit, aber reichen Erfahrung,<br />

hatte leider Fehler und Lücken. Um dieselben<br />

auszumerzen und sie zu beseitigen,<br />

wurde im Jahre 1907 eine geheime Konferenz<br />

der anarchokommunistischen Gruppen<br />

Polens und Litauens abgehalten. <strong>Die</strong><br />

angenommenen Resolutionen wurden in<br />

den eigenen Druckereien gedruckt und<br />

in der Arbeiterschaft verbreitet; sie<br />

waren unterzeichnet von den „Föderierten<br />

anarchokommunistischen Gruppen Polens<br />

und Litauens". (Schluß folgt.)<br />

Da entdeckten Forschungsreisende, daß<br />

sich an der Oberfläche und unmittelbar<br />

unter der Oberfläche dieser eisigen Felder<br />

und Berge Kohlenvorkommen fanden. Der<br />

internationale Kapitalismus bemächtigte<br />

sich nun mit größter Eile der neuentdeckten<br />

Schätze. Unter dem arbeitslosen<br />

Proletarierheer des alten Europa fanden<br />

sich bald willige Sklaven, die bereit<br />

waren, mitten aus den Inseln des nördlichen<br />

Eismeeres die schwarzen Schätze<br />

zu heben, wobei sie freilich der grimmigsten<br />

Kälte und den härtesten Prüfungen<br />

an ihrer Gesundheit ausgesetzt sind.<br />

<strong>Die</strong> Temperatur Spitzbergens schwankt<br />

zwischen 30 und 50 Grad Reaumur unter<br />

Null, im Sommer kann es mitunter 6—8<br />

Grad warm werden. Doch hält dies nicht<br />

lange an, bald bricht die Kälte und lange<br />

Winternacht wieder an.<br />

<strong>Die</strong> Eigentümer der Kohlengruben<br />

Spitzbergens sind kapitalistische Gesell-<br />

Schäften Norwegens, Schwedens, Englands,<br />

Hollands, Rußlands, deren Mitglieder<br />

sich vielleicht an den Strahlen<br />

der Herbstsonne in dem blühenden Italien<br />

wärmen oder in den kühlen Fluten des<br />

Mittelmeeres an der Azurküste baden,<br />

während die Proletarier in den Eiswüsten<br />

des Polarkreises ihnen die Mittel für ihre<br />

Freuden durch Aufopferung ihrer Gesundheit<br />

und unter den schwersten<br />

Strapazen durch Schürfen der schwarzen<br />

Diamanten herbeischaffen.<br />

<strong>Die</strong> Kohlenschätze Spitzbergens waren<br />

schon aufgeteilt, ehe noch ein Mensch die<br />

Hacke angesetzt hat. <strong>Die</strong> geförderte Kohle<br />

gehört aber nicht denen, die sie schürfen.


42<br />

sondern den weichhändigen internationalen<br />

Kapitalisten.<br />

SPITZBERGEN<br />

Zur Zeit befinden sich in Spitzbergen<br />

folgende Unternehmungen:<br />

Norwegische Gruben: <strong>Die</strong><br />

große norwegische Kohlengrube<br />

an der Adventbai. <strong>Die</strong><br />

Gesellschaft beschäftigt durchschnittlich<br />

300 Arbeiter im Jahre. <strong>Die</strong> Jahresproduktion<br />

an Kohlen beträgt 150 000 Tonnen.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiter verdienten durchschnittlich<br />

im letzten Jahre 18 norwegische Kronen<br />

per Tag. Für Kost und Logis (Schlafen<br />

in Baracken) mußten sie 4 Kronen per<br />

Tag bezahlen. <strong>Die</strong> Arbeiter dieser Grube<br />

sind fast gar nicht organisiert. <strong>Die</strong> Gesellschaft<br />

hat dafür aber einen Priester engagiert,<br />

der für die Arbeiter Gottesdienst<br />

abhält. Auch besteht auf dieser Grube<br />

ein Kinematograph und eine Bibliothek<br />

zweifelhaften Charakters.<br />

Kingsbay-Kohlengrube, ebenfalls<br />

ein norwegisches Unternehmen, beschäftigt<br />

200 Arbeiter und produziert<br />

gegen 80 000 Tonnen Kohle im Jahre. Der<br />

Durchschnittsverdienst auf dieser Grube<br />

beträgt 16 norwegische Kronen per Tag.<br />

Für Kost und Logis müssen die Arbeiter<br />

auch hier 4 Kronen pro Tag bezahlen. Nur<br />

wenige Arbeiter sind organisiert in „Spitzbergens<br />

Syndikalistischer Föderation".<br />

Björnöcn Kulkompagnie, norwegisches<br />

Unternehmen, beschäftigt 100<br />

Arbeiter und hat eine Jahresproduktion<br />

von 20 000 Tonnen. Durchschnittlich verdient<br />

auch hier ein Arbeiter 16 norwegische<br />

Kronen per Tag. doch muß er<br />

für Kost und Logis 4,50 Kronen bezahlen.<br />

Niederländische Spitzbergen-Kohlenkompagnie<br />

hatte eine<br />

Kohlenproduktion von 140 000 Tonnen pro<br />

Jahr. Es werden 450 Arbeiter beschäftigt.<br />

Skandinavische Arbeiter verdienen 16 norwegische<br />

Kronen per Tag, deutsche und<br />

holländische Arbeiter erhalten ihren Lohn<br />

in holländischer Währung ausbezahlt. Er<br />

beträgt 8 bis 12 Gulden täglich. <strong>Die</strong><br />

Gesellschaft errichtete Arbeiterwohnungen<br />

sowie eine Bibliothek und ein Kino. Sic<br />

verkauft Bier und Schnaps an die Arbeiter<br />

und sie hat auch, insbesondere unter Einfluß<br />

des Arztes, die Errichtung eines Bordelles<br />

in Erwägung gezogen, vorläufig<br />

wurde der Plan noch nicht ausgeführt.<br />

Auf dieser Grube sind gegen 200 Arheiter<br />

organisiert, die sich in Spitzbergens<br />

Syndikalistischer Föderation befinden. <strong>Die</strong><br />

Organisierten sind meist Skandinavier.<br />

Im vergangenen Winter wurde von der<br />

Organisation ein Kampf für Lohnerhöhung<br />

geführt, der zu dem Erfolg führte, daß<br />

eine 30 prozentige Lohnerhöhung durchgeführt<br />

wurde. Auch die hygienischen<br />

Arbeitsbedingungen wurden zum Teil<br />

verbessert. <strong>Die</strong> deutschen Arbeiter sind<br />

als Streikbrecher aufgetreten, während<br />

die holländischen Arbeiter sich solidarisch<br />

verhielten. Das Gros der Arbeiter besteht<br />

aus Skandinaviern, die ihre eigene<br />

Klassenkampforganisation haben.<br />

Anglo-Russian Grumant-<br />

Aktiengesellschaft ist eine englisch-russische<br />

Gesellschaft. Sie produziert<br />

jährlich 12 000 Tonnen Kohle und beschäftigt<br />

60 Arbeiter. Der Durchschnittsverdienst<br />

beträgt 16 Kronen per Tag.<br />

Hier wird meist Akkordarbeit geleistet.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiter haben Kost und Logis frei.<br />

<strong>Die</strong> Gesellschaft hat bisher nur einen<br />

Versuchsbetrieb getrieben. <strong>Die</strong> Arbeiter<br />

sind nicht organisiert.<br />

Schwedische Steinkohlenaktiengesc11schaftSpitzbergen<br />

(Sveagrube) mit einer Jahresproduktion<br />

von 120 000 Tonnen Kohle, beschäftigt<br />

200 Arbeiter. Davon sind 170 in der Zentralorganisation<br />

der schwedischen Arbeiter<br />

(Syndikalisten) organisiert, da die<br />

meisten Arbeiter Schweden sind. Der<br />

Durchschnittsverdienst beträgt gegen 20<br />

schwedische Kronen per Tag. Es wird<br />

meist Akkordarbeit geleistet. Für Kost<br />

und Logis bezahlen die Arbeiter 3,50<br />

Schwedenkronen täglich.<br />

Im ganzen arbeiten in Spitzbergen auf<br />

allen Gruben gegen 1300 Arbeiter. Dazu<br />

kommen die Vorarbeiter, Steiger, Aufseher,<br />

Direktoren, das Kochpersonal usw.<br />

Von diesen Arbeitern sind gegen 450 Arbeiter<br />

organisiert, und zwar in syndikalistischen<br />

Organisationen. Andere Organisationen<br />

gibt es in Spitzbergen nicht.<br />

Dennoch ist es sehr schwer, die Arbeiter,<br />

die nach Spitzbergen wandern, organisatorisch<br />

zu erfassen. Es sind meist Elemente.<br />

die dorthin reisen, um recht<br />

schnell recht viel Geld zu verdienen. Das<br />

Los der Arbeiter ist keineswegs beneidenswert.<br />

<strong>Die</strong> Einöde der Landschaft, der<br />

ewige Schnee und das Eis zwingen den<br />

Arbeiter, in den Baracken zu bleiben, und<br />

da keine Gelegenheit da ist, den Lohn<br />

auszugeben, so ist er gezwungen, aus der<br />

Not eine Tugend zu machen. Er behält<br />

das verdiente Geld und nach einem halben<br />

Jahre hat er wirklich eine für einen Proleten<br />

respektable Summe beisammen. Das<br />

ist die Anziehungskraft, die Spitzbergen<br />

vielen Arbeitern bietet. Das einzige Vergnügen,<br />

das den Arbeitern bleibt, ist die


Jagd. Das Tragen von Waffen ist ihnen<br />

jedoch verboten, und wenn sie einmal auf<br />

die Bärenjagd gehen wollen, dann müssen<br />

sie von der Gesellschaft das Gewehr<br />

leihen. Gelingt es ihnen, einen Wolf oder<br />

Bären zu erlegen, dann gehört diese<br />

Jagdbeute der Gesellschaft.<br />

Spitzbergens Syndikalistische Föderation,<br />

die als einzige Arbeitergewerkschaft<br />

in Spitzbergen in Frage kommt, hat 280<br />

Mitglieder. <strong>Die</strong> Mitgliederbeiträge betragen<br />

1 Krone wöchentlich. Es ist sehr<br />

schwierig, die Glücksucher, die in Spitzbergen<br />

Reichtümer zu erwerben hoffen,<br />

für Arbeiterorganisationen und den soli-<br />

Il Neo-Marxismo: Sorel e Marx.<br />

<strong>Die</strong>ses Buch: Der Neu - Marxismus:<br />

Sorel und Marx, ist in italienischerSprache<br />

in letzter Zeit erschienen. Der Verfasser,<br />

Enrico Leone, gehört zu den bedeutendsten<br />

sozialistischen Schriftstellern und<br />

Wirtschaftstheoretikern Italiens. Seine<br />

Arbeiten nehmen die erste Stelle auf<br />

diesem Gebiete ein. In den letzten Monaten<br />

wurden sie bereichert um zwei neue<br />

Werke, das oben genannte: Sorel und<br />

Marx, eine Gegenüberstellung dieser verschiedenen<br />

Auffassung proletarischen<br />

Werdens: des Marxismus und des Sorelismus,<br />

und „Anti-Bergson", eine Kritik des<br />

Bergsonismus, den der Autor als Philosophen<br />

der Dekadenz betrachtet.<br />

In dem Buche Sorel und Marx legt der<br />

Autor dar, wie untreu die Nachfolger<br />

ihrem Meister Marx geworden sind.<br />

In seiner Auslegung marxistischer Gedankengänge<br />

entwickelt Sorel den Geist<br />

von Marx, indem er die Gegensätzlichkeit<br />

dieser Anschauungsweise mit der neuen<br />

Lage der Gesellschaft darstellt. Nach<br />

Marx liegt in jedem sozialen Umsturz<br />

ein Umsturz der Produktionskräfte verborgen,<br />

die in ihrem wirtschaftlichen Gegensatz<br />

die Produktionsmethoden stabilisieren.<br />

Sorel ist im Gegensatz hierzu der<br />

Meinung, daß das soziale Werden bestimmt<br />

wird durch Beeinflussung des<br />

Willens, der leidenschaftlich jede Aktion<br />

belebt, durch bewegende Kräfte mystischer<br />

Natur ohne Eingreifen der Vernunft.<br />

Nach Leone ist der Widerspruch dieser<br />

beiden philosophischen Bestrebungen zu-<br />

BÜCHERSCHAU 43<br />

Bücherschau.<br />

ITALIEN.<br />

darischen Klassenkampf zu gewinnen.<br />

Dennoch hat es die S.S.F. zustande gebracht,<br />

fast ein Drittel der Arbeiterschaft<br />

für die Klassenorganisation zu gewinnen.<br />

Bei den letzen Kämpfen der organisierten<br />

Arbeiter Spitzbergens traten deutsche<br />

Streikbrecher auf, die sich bei den übrigen<br />

Arbeitern aufs unliebsamste bemerkbar<br />

machten.<br />

Möge es der S.S.F. gelingen, die gesamte<br />

Arbeiterschaft Spitzbergens zu organisieren,<br />

damit die unter so harten und<br />

schweren Bedingungen schaffenden Arbeiter<br />

im nördlichen Polarkreise von ihrem<br />

harten Los befreit werden.<br />

rückzuführen auf die Verschiedenartigkeit<br />

der beiden Temperamente und er enthält<br />

sich noch einer Darstellung ihrer sozialen<br />

Umgebung, ehe er ihre Lebensbeschreibung<br />

entwickelt hat.<br />

Der Autor des Buches drückt dann<br />

den Gedanken aus, daß Marx den Blanquismus<br />

überschritten hat, welcher den<br />

Schwerpunkt der revolutionären Gewalt<br />

in den Mittelpunkt setzte, Marx setzte<br />

die Macht der Produktionskräfte gegen<br />

die Macht des Unternehmertums als wichtiger<br />

voraus. Sorel griff hingegen auf<br />

den Blanquismus zurück, eliminierte aber<br />

aus ihm den politischen Charakter eines<br />

Parteikomplotts und stützte sich auf das<br />

Prinzip der Gewalt direkt, aus welchem<br />

er eine neue Lehre und ein beredsames<br />

Glaubensbekenntnis machte.<br />

Und über diesen Punkt sagt Leone:<br />

„<strong>Die</strong> Gewalt ist entweder geschichtlich<br />

oder kriminell. <strong>Die</strong> geschichtliche Gewalt<br />

ist entweder Krieg oder Revolution.<br />

Der Krieg ist der Ursprung des Staates,<br />

und von hier aus entwickelte sich die<br />

falsche Solidaritätslehre, welche die<br />

Hauptursache der Beherrschung ist, gegen<br />

welche sich die Auffassung Sorels wendet.<br />

<strong>Die</strong> Revolution (inbegriffen Rebellion,<br />

Meutereien, Empörung usw.) ist die Art<br />

und Weise, die man anwenden muß, um<br />

die Tyrannei des Staates zu zerstören. <strong>Die</strong><br />

Theorie der Gewalt äußert sich hier wie<br />

die Theorie der Politik."<br />

Leone meint, daß der Syndikalismus<br />

den Klassenkampf besonders auf dem<br />

Boden der Produktion führen müsse. Er


44 DIE INTERNATIONALE LITERATUR DES SYNDIKALISMUS<br />

will zeigen, „daß der politische Ueberbau<br />

einer revolutionären Aktion der Arbeiter<br />

standhalten kann. Das Proletariat müßte<br />

eine Aktion anwenden, die das kapitalistische<br />

System ersetzen kann, eine Aktion,<br />

die aus den rechtlichen und Wirtschaftlichen<br />

Fähigkeiten des Proletariats sich<br />

ergibt. Mit andern Worten soll die Vorbereitung<br />

zur Leitung und Uebernahme<br />

der landwirtschaftlichen und gewerblichen<br />

sowie der industriellen Betriebe,<br />

immer intensiver entfaltet werden, so daß<br />

das Proletariat imstande ist, ohne Unternehmer<br />

und ohne Beamte des Staates<br />

finanzieller wie verwaltungstechnischer<br />

Art das gesellschaftliche Leben weiterzuführen.<br />

Für den Verfasser ist die Gewalt, die<br />

für den früheren Sozialismus der Schwerpunkt<br />

war, heutzutage eine Aeußerung,<br />

Anhang.<br />

die zum Widerstand der Arbeiter durch<br />

ihre Organisationen beitragen kann. Er<br />

ist von der Notwendigkeit überzeugt, daß<br />

die Syndikalisten ein System herausbilden<br />

müssen, welches sich auf eine Kultur der<br />

Erzeuger aller gesellschaftlichen Werte<br />

aufbaut, die diesen Erzeugern allein zugute<br />

kommen müssen. Hierdurch wird<br />

die Macht der Herrschenden besiegt werden<br />

können und der Staat ersetzt durch<br />

freie Vereinigungen der werktätigen Bevölkerung.<br />

Das interessante Buch ist eine Synthese<br />

dieser beiden Geistesströmungen des<br />

Marxismus und des Sorelismus, und es<br />

mündet aus in den Freiheitsbestrebungen<br />

der proletarischen Bewegung. Es ist erschienen<br />

im Verlag der Eisenbahnergewerkschaft<br />

Italiens: Bologna. Via Malghera<br />

I. A. G.<br />

DIE INTERNATIONALE LITERATUR DES SYNDIKALISMUS.<br />

<strong>Die</strong> syndikalistische Literatur<br />

in Deutschland.<br />

Wir bringen hier eine Uebersicht über<br />

die Schriften syndikalistischen Charakters,<br />

die in Deutschland herausgekommen<br />

sind. <strong>Die</strong> Broschüren, die vor dem Kriege<br />

erschienen, sind heute größtenteils vergriffen.<br />

Wir führen sie dennoch hier an.<br />

<strong>Die</strong> Bedeutung der Gewerkschaften für<br />

die Taktik des Proletariats. Ein Beitrag<br />

zur Entwicklungsgeschichte der<br />

Gewerkschaften von Paul Kampffmeyer.<br />

Preis 15 Pf. Verlag des „Sozialist"<br />

(W. Werner), Berlin S. 1892.<br />

Wie sollen wir uns organisieren? Verlag<br />

Fritz Kater, Berlin. 1898.<br />

Generalstreik! <strong>Die</strong> deutsche Arbeiterbewegung<br />

und der Klassenkampf. Preis<br />

10 Pf. Freier Arbeiter^Verlag, Berlin.<br />

1905.<br />

Parlamentarismus und Generalstreik.<br />

Vortrag von Dr. R. Friedeberg. Preis<br />

10 Pf. Verlag Fritz Kater, Berlin. 1905.<br />

Flugschrift zur Aufklärung der Mitglieder<br />

der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften.<br />

Verlaß Carl Thieme, Berlin.<br />

1907.<br />

Das Programm der Freien Vereinigung<br />

deutscher Gewerkschaften und die Resolution<br />

betreffend Streiks und Aus-<br />

sperrungen nebst Begründungen. Eine<br />

Aufklärungsschrift. Fritz Kater, Berlin.<br />

1908.<br />

Mann der Arbeit aufgewacht! Und erkenne<br />

deine Macht! Herausgegeben v.<br />

Agitationskomitee der „Freien Vereinigung"<br />

in Rheinland und Westfalen,<br />

Düsseldorf. April 1910.<br />

Generalstreik und direkte Aktion im proletarischen<br />

Klassenkampfe. Von Pierre<br />

Ramus. Preis 30 Pf. Fritz Kater, Berlin.<br />

1910.<br />

<strong>Die</strong> direkte Aktion. (Revolutionäre Gewerkschaftstaktik.)<br />

Von Arnold Roller.<br />

Herausgegeben von der Freiheit Publishing<br />

Association, New York. 1912.<br />

Was wollen die Lokalisten? Programm.<br />

Ziele und Wege der „Freien Vereinigung<br />

deutscher Gewerkschaften". Geschäftskommission<br />

der „Freien Vereinigung<br />

deutscher Gewerkschaften",<br />

Berlin. 1912.<br />

Freie Vereinigung deutscher Gewerk-<br />

Schäften. Eine kurze Geschichte der<br />

deutschen Sozialrevolutionären Gewerkschaftsbewegung.<br />

Fritz Kater, Berlin,<br />

Ende März 1912.<br />

Syndikalismus. Lebendige, keine toten<br />

Gewerkschaften. Von Max Baginski<br />

Preis 10 Pf.


DIE INTERNATIONALE LITERATUR DES SYNDIKALISMUS 45<br />

Klassenpolitik. <strong>Die</strong> Politik der Gewerkschaften<br />

von Luigi. Preis 10 Pf. Verlag<br />

„Kampf" (A. Fricke), Hamburg.<br />

1913.<br />

Keine Kriegswaffen mehr! Von Rudolf<br />

Rocker. Verlag Erfurt. 1919.<br />

Der Syndikalismus. Von Emil Pouget.<br />

„Der Syndikalist", Berlin. 1919<br />

Der kommunistische Aufbau des Syndikalismus,<br />

im Gegensatz zum Partei-Kommunismus<br />

und Staatssozialismus. „Der<br />

Syndikalist", Berlin. 1919.<br />

Was wollen die Syndikalisten? „Der Syndikalist",<br />

Berlin. 1920.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiterbörsen des Syndikalismus.<br />

Von Franz Barwich. Preis 30 Pf.<br />

Syndikalismus und Anarchismus. Von<br />

Peter Kropotkin. Preis 10 Pf.<br />

Unter Landarbeitern. Ein Zwiegespräch.<br />

Von Errico Malatesta. Preis 20 Pf.<br />

Verantwortlichkeit und Solidarität im<br />

Klassenkampf. Von Dr. Max Nettlau.<br />

Preis 10 Pf.<br />

Was wollen die Syndikalisten? Von Fritz<br />

Oerter. Preis 10 Pf.<br />

Der proletarische Ideenmensch. Von Karl<br />

Roche. Preis 15 Pf.<br />

Das Wesen des Föderalismus im Gegensatz<br />

zum Zentralismus. Von Rudolf<br />

Rocker. Preis 25 Pf.<br />

Kunst, Wissenschaft und Sozialismus.<br />

Von Bertrand Russell. Preis 10 Pf.<br />

Resolutionen des <strong>Internationale</strong>n Syndikalisten-Kongresses<br />

vom Dezember 1922<br />

zu Berlin. Preis 10 Pf.<br />

Der revolutionäre Syndikalismus. Von<br />

Dr. Max Tobler. Preis 10 Pf.<br />

In Wahlzeiten. Ein Arbeiterzwiegespräch<br />

von Errico Malatesta. Berlin 1924.<br />

Was will der syndikalistische Frauenbund?<br />

Von Milly Witkop - Rocker.<br />

Preis 10 Pf.<br />

Außer dieser rein syndikalistischen<br />

Literatur gab der Verlag „Der Syndikalist"<br />

in der Zeit nach dem Kriege eine<br />

Reihe Bücher und Broschüren heraus, die<br />

in anderen Ländern längst erschienen<br />

waren, in Deutschland aber infolge des<br />

marxistischen Uebergewichts in der Arbeiterbewegung<br />

nicht auf den Büchermarkt<br />

kamen. <strong>Die</strong> Nachkriegszeit löste<br />

den Bann des Marxismus. <strong>Die</strong> Arbeiter-<br />

schaft wollte endlich auch etwas anderes<br />

kennenlernen. Und so war es der syndikalistischen<br />

Bewegung möglich, die<br />

grundlegenden Werke Bakunins, die theoretischen<br />

Arbeiten Kropotkins, Arbeiten<br />

von Franzisco Ferrer, Malatesta, Nettlau<br />

und anderen freiheitlichen Denkern der<br />

deutschen Arbeiterbewegung zugänglich<br />

zu machen. Der Verlag „Der Syndikalist"<br />

stellte sich die Aufgabe, die theoretischen<br />

Werke des Anarchismus und Anarcho-<br />

Syndikalismus in deutscher Sprache erscheinen<br />

zu lassen. Zwar waren noch<br />

sehr viele Schwierigkeiten zu überwinden,<br />

im großen ganzen kann aber festgestellt<br />

werden, daß dieses Werk gelungen<br />

ist. Jetzt ist die Armut an anarchistischer<br />

und syndikalistischer Literatur in<br />

deutscher Sprache auf dem besten Wege,<br />

überwunden zu werden. Bisher sind im<br />

Verlage „Der Syndikalist" erschienen:<br />

Michael Bakunins gesammelte Werke<br />

(Band I, II und III). Preis je Band<br />

broschiert 2,— M., gebunden 3,— M.<br />

<strong>Die</strong> russische Tragödie. Von Alexander<br />

Berkman. Preis 30 Pf.<br />

<strong>Die</strong> KronstadtsRebellion. Von Alexander<br />

Berkman. Preis 25 Pf.<br />

Bericht über den <strong>Internationale</strong>n Antimilitaristischen<br />

Kongreß im Haag 1921<br />

Preis 30 Pf.<br />

<strong>Die</strong> moderne Schule. Von Francisco<br />

Ferrer. Preis 1,— M.<br />

<strong>Die</strong> Ursachen des Niedergangs der russischen<br />

Revolution. Von Emma Goldman.<br />

Preis 60 Pf.<br />

Landwirtschaft, Industrie und Handwerk.<br />

Von Peter Kropotkin. Brosch. 1,50 M.,<br />

gebunden 2,50 M.<br />

<strong>Die</strong> Eroberung des Brotes. Von Peter<br />

Kropotkin. Brosch. 1,50 M., geb. 2,50 M.<br />

Ethik. Von Peter Kropotkin. Broschiert<br />

2,50 M., gebunden 3,50 M.<br />

Gerechtigkeit und Sittlichkeit. Von Peter<br />

Kropotkin. Preis 20 Pf.<br />

<strong>Die</strong> historische Rolle des Staates. Von<br />

Peter Kropotkin. Preis 20 Pf.<br />

Gesetz und Autorität. Von Peter Kropotkin.<br />

Preis 10 Pf.<br />

Kropotkin-Beerdigungsalbum mit 30 Bildem<br />

und Einleitung von R. Rocker.<br />

Preis 80 Pf.<br />

Unsere Aufgaben an der Menschheit. Von<br />

Bertha Lask. Preis 50 Pf.


46 DIE INTERNATIONALE LITERATUR DES SYNDIKALISMUS<br />

<strong>Die</strong> Sozialdemokratie und der Krieg. Von<br />

Arthur Müller-Lehning. Preis 25 Pf.<br />

Errico Malatesta. Das Leben eines Anarchisten.<br />

Von Dr. Max Nettlau. Preis<br />

1,25 M.<br />

<strong>Die</strong> freie Liebe. Von Fritz Oerter. Preis<br />

15 Pf.<br />

Jugend! Voran! Von Fritz Oerter. Preis<br />

60 Pf.<br />

Zersetzung des Weltkapitalismus. Von<br />

Karl Peter. Preis 15 Pf.<br />

Des „Armen Teufel" gesammelte Werke.<br />

Von Robert Reitzel. Preis je Heft 15 Pf.<br />

Johann Most. Das Leben eines Rebellen.<br />

Von Rudolf Rocker. Preis broschiert<br />

5,— M., gebunden 6,50 M.<br />

Uebersicht über die revolutionäre Literatur<br />

in spanischer Sprache.<br />

Eine bibliographische Uebersicht über<br />

die anarchistische und anarchosyndikalistische<br />

Literatur spanischer Sprache zu<br />

geben, würde eine sehr große Arbeit sein,<br />

da seit Beginn der modernen Arbeiterbewegung<br />

die gesamte wertvolle revolutionäre<br />

Literatur, die in italienischer, französischer,<br />

englischer Sprache geschrieben<br />

worden ist, ins Spanische übersetzt wurde<br />

und teils in Spanien selbst, teils in dem<br />

spanisch sprechenden Amerika herausgekommen<br />

ist.<br />

Bei einem einfachen Blick auf die<br />

Kataloge der Buchhändler in spanischer<br />

Literatur gewahrt man die Ueberlegenheit<br />

der freiheitlichen Bewegung über die<br />

anderen Richtungen, marxistischer oder<br />

reformistischer Art. Keine Partei und<br />

keine Bewegung besitzt eine so große<br />

Schriftenreihe wie wir, dabei muß beachtet<br />

werden, daß die Länder der spanischen<br />

Sprache weniger Schriftsteller<br />

hervorbrachten als die andern Länder.<br />

Innerhalb der sozialen Bewegung gibt es<br />

wohl nur einige Autoren, die sich würdig<br />

den Verfassern ähnlicher Schriften<br />

anderer Länder gegenüberstellen können.<br />

Unter diesen sind zu nennen: Tarrida<br />

del Marmol, Ricardo Mella,<br />

Anselmo Lorenzo, Jose Prat.<br />

Dagegen finden wir in den spanisch<br />

sprechenden Ländern glänzende Redner,<br />

SPANIEN — SÜDAMERIKA.<br />

Nacktkörperkultur. Ein Weg zur Gesundung<br />

unseres Geschlechtslebens. Von<br />

Alfons Schoene. Preis 40 Pf.<br />

Wie lebt der Arbeiter and Bauer In Rußland?<br />

Von Augustin Souchy. Preis<br />

80 Pf.<br />

Rede gegen den Krieg. Von Leo Tolstoi.<br />

Preis 10 Pf.<br />

Aufruf an die Menschheit. Von Leo<br />

Tolstoi. Preis 15 Pf.<br />

Das Geburtenproblem und die Verhütung<br />

der Schwangerschaft. Von Max Winkler.<br />

Preis 50 Pf.<br />

hervorragende Propagandisten, bedeutende<br />

Revolutionäre und ergebene Vorkämpfer<br />

für die Ideale der Freiheit Den Mangel<br />

an eigenen revolutionären Schriftstellern<br />

hat man wettgemacht durch Uebersetzungen<br />

der besten Bücher der sozialen<br />

Weltliteratur. So hat Kropotkin wohl in<br />

keinem Lande eine größere Leserschaft<br />

gefunden wie in den Ländern der spanischen<br />

Sprache; die Ausgaben seiner<br />

Bücher und Broschüren in Spanien, Argentinien,<br />

Mexiko und Chile sind zahllos.<br />

Allerdings sind diese Ausgaben nicht<br />

immer von unseren Kameraden besorgt<br />

worden, so daß die bürgerlichen Verlagsanstalten<br />

mit unserer Literatur gute Geschäfte<br />

gemacht haben. Bis zum Ferrerprozeß<br />

und den Ereignissen im Juli 1909<br />

in Barcelona sind die bürgerlichen Verlagshäuser<br />

die mächtigsten Propagandisten<br />

des Anarchismus und revolutionären Syndikalismus<br />

gewesen. Wir brauchen nur<br />

die Unternehmungen von Sempere in Valencia,<br />

die von V. Blasco Ibanez geleitet<br />

wurden, und die Firma Mauri in Barcelona<br />

zu erwähnen. Jetzt, da sie sich durch<br />

die Herausgabe der freiheitlichen Literatur<br />

bereichert haben, wollen sie sich nicht<br />

mehr vor ihren reaktionären Klassenangehörigen<br />

kompromittieren. Unsere Kameraden<br />

haben jedoch die Ausgabe freiheitlicher<br />

Schriften in eigene Hände genommen.<br />

Den ersten Anstoß dazu gab<br />

Francisco Ferrer mit der Gründung<br />

des Verlages „<strong>Die</strong> moderne Schule", in wel-


DIE INTERNATIONALE LITERATUR DES SYNDIKALISMUS 47<br />

chem unter zahlreichen Propagandaschriften<br />

das Monumentalwerk von E 1 i s é e<br />

R e c 1 u s „Der Mensch und die Erde"<br />

sowie „<strong>Die</strong> französische Revolution" von<br />

Kropotkin herausgegeben wurden, die an<br />

eleganter Ausstattung mit jedem bürgerlichen<br />

Verlagshause wetteifern konnten.<br />

In den darauffolgenden Jahren, seit der<br />

Ermordung Ferrers, ist ein gewisser Stillstand,<br />

eine kritische Periode in unserer<br />

Verlagstätigkeit eingetreten, die durch die<br />

Kriegsjahre nicht behoben wurde. Seit<br />

1920 ist die Ausgabe von freiheitlichen<br />

Schriften durch die eigene Verlagstätigkeit<br />

unserer Genossen wieder stark belebt<br />

worden. <strong>Die</strong> bedeutendsten Mittelpunkte<br />

für den Buchverlag sind Barcelona, Buenos<br />

Aires und Mexiko.<br />

<strong>Die</strong> gelesensten Schriftsteller in Arbeiterkreisen<br />

sind außer Kropotkin und<br />

Bakunin Jean Grave, Sebastien Faure,<br />

Errico Malatesta, Luigi Fabbri, R. Rocker,<br />

Max Nettlau und andere.<br />

In Buenos Aires wurden seit 1920 folgende<br />

Bücher und Broschüren herausgegeben:<br />

„El congreso de Bolognia de la Union<br />

communista anarquista italiana, Verlag<br />

Argonauta 1920. — Soviet o dictatura?<br />

Verlag Argonauta 1920, Artikel von<br />

Rocker, Kropotkin und anderen. — Hacia<br />

una sociedad de produetores (Einer Ge-<br />

Seilschaft der Produkteure entgegen), Verlag<br />

Argonauta 1921. Errico Malatesta:<br />

Paginas de lucha cotidiana (Blätter des<br />

Tageskampfes), Verlag Argonauta. — Malatesta:<br />

Communismo y anarquismo (Ein<br />

größeres Werk, in welchem die bedeutendsten<br />

Arbeiten Malatestas enthalten sind.),<br />

Verlag Fueyo 1921. — Sebastien Faure:<br />

Temas subversivos (Umstürzlerische<br />

Reden. Eine Sammlung von 12 Vorträgen),<br />

Verlag La Protesta 1922. —<br />

R. Rocker: Bolchevismo y anarquismo.<br />

Verlag Argonauta 1922. — Lombroso y<br />

Mella, Los Anarquistas (estudio y replica)<br />

Verlag La Protesta 1922. —<br />

R. Rocker: Artistas y rebeldes, Verlag<br />

Argonauta 1922, Sebastien Faure: Mi comunismo,<br />

Verlag La Protesta 1923. —<br />

Luigi Fabbri: Cartas a una mujer sobre la<br />

anarquia (Briefe an eine Frau über<br />

die Anarchie), Verlag La Protesta 1923. —<br />

Max Nettlau: Errico Malatesta, la vida<br />

de un anarquista (Das Leben eines Anarchisten),<br />

Verlag La Protesta 1923. —<br />

Augustin Souchy: La Ukrania revolucionaria,<br />

Verlag La Protesta 1923. —<br />

Luigi Fabbri: Dictatura y revolucion.<br />

Verlag Argonauta 1923. —<br />

Außer diesen Neuausgaben wurde eine<br />

große Anzahl Neudrucke bereits vorher<br />

erschienener Bücher und Broschüren neuaufgelegt<br />

und gedruckt. Zahlreiche<br />

Broschüren wurden hergestellt und gratis<br />

verteilt oder zu Propagandazwecken bei<br />

außerordentlich niedrigen Preisen abgegeben.<br />

In Santiago (Chile) hat man ebenfalls<br />

mit der Herausgabe kleinerer Broschüren<br />

von Mella, Chaughi, Pestana und Segui<br />

sowie anderer revolutionärer anarchistischer<br />

Verfasser begonnen. Außerdem<br />

wurde eine besondere Ausgabe von<br />

Kropotkins: Eroberung des Brotes im<br />

Jahre 1922 veranstaltet. Außerdem hat<br />

die Gruppe „El Sembrador" Malatestas<br />

und Kropotkins Werke aufs neue herausgegeben.<br />

In Mexiko bildeten die Kameraden der<br />

Kulturgruppe: R. Flores Magon ein Verlagsunternehmen,<br />

in welchem sie seit 1921<br />

mehr als 10 Bände der Werke von<br />

Flores Magon und Praxedis<br />

G. Guerrero herausgegeben haben.<br />

Am bemerkenswertesten davon sind:<br />

P. G. Guerrero: Nümenes (1921). —<br />

R. Flores Magon: Semilla libertaria,<br />

(2 Bände, Mexiko 1924). — Sembrando<br />

ideas (Mexiko 1923). — Tierra y libertad<br />

(Mexiko 1924). — Victimas y verdugos<br />

(Mexiko 1924). — Rayos de luz (Mexiko<br />

1924). — Außerdem wurde auch eine kleine<br />

Biographic Bakunins, verfaßt von Max<br />

Nettlau herausgegeben. In Kürze werden<br />

die sozialen Werke Elises Reclus in mehreren<br />

Bänden erscheinen.<br />

In den Vereinigten Staaten Nordamerikas<br />

sind in spanischer Sprache ebenfalls<br />

einige Propagandabroschüren, unter anderem<br />

von Pedro Esteve, Emma Goldman<br />

usw erschienen.<br />

<strong>Die</strong> Bücher erscheinen gewöhnlich in<br />

Auflagen von 5 bis 10 000 Exemplaren.<br />

<strong>Die</strong> Broschüren haben eine größere Auflage.<br />

So sind einige Broschüren von<br />

Malatesta im Verlage La Protesta (Buenos<br />

Aires) in einer Auflage von 100 000 Exemplaren<br />

erschienen. <strong>Die</strong> Broschüre von<br />

Alexander Berkman über den Kronstädter<br />

Aufstand ist in einer Auflage von<br />

55 000 Exemplaren erschienen.<br />

In Barcelona sind in neuerer Zeit eine<br />

große Anzahl Neuausgaben schon früher<br />

herausgekommener Bücher erschienen.<br />

Außerdem wurden Propagandabroschüren<br />

von Reclus, Kropotkin, Mella, Nettlau,<br />

Carpenter, Rocker und anderen neu herausgegeben.<br />

Ferner sind neue Arbeiter<br />

über die russische Revolution und theore-


48 DIE INTERNATIONALE LITERATUR DES SYNDIKALISMUS<br />

tische aktuelle Fragen von spanischen<br />

Kameraden, wie Pestana, Abella, Alaiz<br />

und anderen herausgegeben worden. Fede-<br />

Federico Urales, der Redakteur von<br />

Revista Bianca (eine anarchistische Halbmonatsschrift),<br />

hat in letzter Zeit einige<br />

soziale Romane mit anarchistischem Charakter<br />

geschrieben, die ebenfalls im Verlage<br />

unserer Kameraden herausgegeben<br />

wurden.<br />

Das bedeutendste Werk jedoch,<br />

welches 1923 in Barcelona herausgekommen<br />

ist, und dessen Bedeutung weit<br />

über Spanien hinausgeht, ist der zweite<br />

Band von „El proletariado militante, Memorias<br />

de un Internacional" von Anselmo<br />

Lorenzo (Das kämpfende Proletariat,<br />

Erinnerungen eines <strong>Internationale</strong>n,<br />

von Anselmo Lorenzo), dessen<br />

erster Band einige Jahre vor dem Tode<br />

des Autors, der einer der Begründer der<br />

Ersten <strong>Internationale</strong> in Spanien gewesen<br />

Der II. Kongreß der I.A.A.<br />

ist, erschien. <strong>Die</strong>ses Buch bedarf einer<br />

eigenen Würdigung, die später gegeben<br />

werden soll.<br />

Es wäre noch hinzuzufügen, daß „La<br />

Protesta", Buenos Aires, eine vollständige<br />

Herausgabe sämtlicher Schriften Bakunins<br />

plant, deren erster Band bereits herausgekommen<br />

ist. <strong>Die</strong> „Ethik" von Kropotkin<br />

ist ebenfalls in Vorbereitung, außerdem<br />

die Biographie von John Most, geschrieben<br />

von R. Rocker.<br />

Es verdient noch erwähnt zu werden,<br />

daß die besten Werke des revolutionären<br />

Syndikalismus, wie z. B. von George<br />

S o r e 1, dem Italiener Leone, und<br />

andere Werke des Syndikalismus, die in<br />

spanischer Sprache herausgekommen sind,<br />

keinen großen Erfolg haben. Noch<br />

weniger aber wird die marxistische Literatur<br />

in spanischer Sprache beachtet, trotz<br />

aller Anstrengungen, die von ihren Befürwortern<br />

gemacht werden. D. A. de S.<br />

Der II. Kongreß der I.A.A. findet am 15. März 1925 in Amsterdam statt.<br />

Zu diesem Kongreß wurden eingeladen: 1. alle der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-<br />

Assoziation angeschlossenen Organisationen, 2. alle revolutionären Gewerkschaftsorganisationen,<br />

die der I.A.A. nahestehen oder die auf dem 1. Kongreß<br />

angenommene Prinzipienerklärung anerkennen.<br />

Aus der Tagesordnung entnehmen wir:<br />

Bericht der Ländervertreter.<br />

<strong>Die</strong>se Berichte müssen schriftlich spätestens einen Monat vorher an das<br />

Sekretariat gesandt werden.<br />

Kampf gegen die internationale Reaktion.<br />

<strong>Internationale</strong> Solidaritätskämpfe durch Boykotts, Protestaktionen,<br />

Demonstrationen, Propagierung internationaler Streiks usw.<br />

<strong>Internationale</strong> Unterstützungen, finanzielle Hilfe.<br />

Vorschläge zu einer organisatorischen Regelung der Unterstützungen.<br />

Stellung der I.A.A. zu den verschiedenen Richtungen innerhalb der Arbeiterbewegung.<br />

Rudolf Rocker.<br />

Stellung der I.A.A. zu den Betriebsräten.<br />

<strong>Die</strong> I.A.A. und die Syndikalistische Jugend.<br />

Statutenveränderung; Amandements nach Paragraphen müssen schriftlich<br />

vorgelegt werden.<br />

Das Sekretariat bittet alle angeschlossenen Landesorganisationen, zu den<br />

vorgeschlagenen Punkten Stellung zu nehmen.<br />

Alle Zuschriften richte man an die Adresse Fritz Kater, I.A.A.,<br />

Berlin O 34, Kopernikusstr. 25. Telegrammadresse: „Syndikalist Berlin".<br />

Mit Brudergruß<br />

Das Verwaltungsbüro der I.A.A.


<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong><br />

Berlin.<br />

Jahrgang 2. 1925/1926<br />

Nr./Datum Seite<br />

5 Redaktion: <strong>Die</strong> internationale Arbeiterbewegung und die<br />

Juni 1925 IAA. Vorbemerkung zum Bericht des II. Kongresses der IAA. 193<br />

Bericht des II. Kongresses der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-<br />

Assoziation. Amsterdam, vom 21. bis 27. März 1925. 195<br />

(1. Verhandlungstag.)<br />

Rockers Begrüßungsrede. 195<br />

Bericht der Mandatsprüfungskommission. 196<br />

Tagesordnung. 197<br />

Bericht Portugal. 197<br />

<strong>Internationale</strong> Einheit. 198<br />

2. Verhandlungstag.<br />

Tätigkeitsbericht des Sekretariats. 198<br />

Diskussion über Bericht Souchys. 200<br />

Argentinien über IWW (Industrial Workers of the World). 200<br />

Entlastung des Kassierers. 201<br />

Entlastung des Sekretariats. 202<br />

Rocker über verschiedene Richtungen in der Arbeiterbewegung.<br />

202<br />

Diskussion über Vortrag Rocker. 212<br />

3. Verhandlungstag.<br />

Vortrag Lansink: IAA und praktische Tageskämpfe. 215<br />

Diaz über praktische Tageskämpfe. 216<br />

Diskussion über praktische Tageskämpfe. 216<br />

Diskussion über Resolution Rocker. 218<br />

4. Verhandlungstag.<br />

Kampf gegen die internationale Reaktion. 219<br />

Carbo über Kampf gegen internationale Reaktion. 225<br />

<strong>Internationale</strong> Solidarität. Vortrag Schapiro. 226<br />

Diskussion über internationale Solidarität. 229<br />

5. Verhandlungstag.<br />

Diskussion über internationale Solidarität. 232<br />

<strong>Internationale</strong> Industrieföderationen. 234<br />

Bericht der Finanzprüfungskommission. 235<br />

Presse der IAA. 236<br />

IAA und Dawesabkommen. Redner: Lansink jr. 236<br />

Diskussion über Dawesabkommen. Redner: Rocker. 237<br />

6. Verhandlungstag.<br />

Statutenveränderung. 239<br />

Zusatzantrag Schapiro. 239<br />

Syndikalistische Jugend. Redner: do Campos. 242<br />

Redner: Betzer über Jugendfrage. 243<br />

I


Nr./Datum Seite<br />

7. Verhandlungstag.<br />

Antikriegstag der IAA. 244<br />

Prinzipienerklärung und Statuten der IAA. 246<br />

Anhang. Angenommene Resolutionen des II. Kongresses<br />

der IAA. (Politische Verfolgungen; Parteiwesen und Reaktionn;<br />

internationale Reaktion; praktische Tageskämpfe;<br />

Dawesabkommen; syndikalistische Jugend; internationale<br />

Aktionen; Antimilitarismus; internationale Industrieföderationen;<br />

internationale Studienkommissionen; Finanzierung;<br />

Presse.) 253<br />

Anhang. Nicht angenommene Resolutionen und Erklärungen.<br />

259<br />

Begrüßungsschreiben. 262<br />

Tätigkeitsbericht des Sekretariats zum II. Kongreß.<br />

Amsterdam, März 1925. 266<br />

I. <strong>Die</strong> Organisation der IAA. (a. angeschlossene<br />

Organisationen, b. nahestehende Organisationen.) 266<br />

II. Propagandatätigkeit, (a. schriftliche Propaganda,<br />

b. mündliche Propaganda.) 267<br />

III. Zur Tätigkeit des Sekretariats in Rußland und Indien.<br />

(a. Rußland, b. Indien.) 270<br />

IV. <strong>Die</strong> Kinderhilfe der IAA. (a. Deutschland, b. Italien.) 271<br />

V. Kampf gegen die internationale Reaktion. (Italien,<br />

Rußland, Spanien.) 272<br />

VI. Eintreten der IAA bei Streiks und Lohnkämpfen. 277<br />

Aufrufe der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation.<br />

(10. Wiederkehr des Weltkriegsausbruchs; 60. Wiederkehr<br />

der Gründung der I. <strong>Internationale</strong>; Rote Gewerkschaftsinternationale.)<br />

280<br />

Berichte der Landesorganisationen der verschiedenen<br />

Länder. 287<br />

Argentinien. 287<br />

Brasilien. 305<br />

Columbien. 306<br />

Dänemark. 309<br />

Deutschland. 311<br />

Frankreich. 316<br />

Holland. 318<br />

Italien. 324<br />

Mexiko. 327<br />

Norwegen. 338<br />

Portugal. 339<br />

Schweden. 347<br />

Spanien. 350<br />

Eingelaufene Druckschriften. 356<br />

II


Nr./Datum Seite<br />

6 <strong>Die</strong> internationale Lage des Syndikalismus. Unsere<br />

Jan. 1926 Stellung zur Einheit der Arbeiterbewegung. 357<br />

Maximoff: <strong>Die</strong> revolutionär-syndikalistische Bewegung<br />

in Rußland. 364<br />

Agnes Smedley: Der kommende Krieg gegen Asien. 378<br />

Albert Jensen: Wandlungen in der schwedischen<br />

Sozialdemokratie. Vordringen syndikalistischer Erkenntnisse.<br />

385<br />

J. J. Ipsen: <strong>Die</strong> dänische Arbeiterbewegung unter sozialdemokratischen<br />

Fittichen. 389<br />

F. Carbo: <strong>Die</strong> Lage in Spanien. 392<br />

Th. A.: <strong>Internationale</strong> Petroleumpolitik und Proletariat. 395<br />

Aus der <strong>Internationale</strong> des Syndikalismus. Syndikalistische<br />

Landeskongresse. (Deutschland, Schweden, Portugal,<br />

Mexiko, Brasilien, Panama, Italien.) 399<br />

Aus der Arbeit des Sekretariats der IAA. Solidarität<br />

(Unterstützung der Sektionen der IAA in Norwegen,<br />

Italien und Bulgarien.) — Propaganda. — Aufrufe.<br />

(Gegen Terror in Bulgarien; Marokko-Verbrechen;<br />

ungarische Henkerjustiz.) 400<br />

Übersicht über die im Jahre 1925 in spanischer Sprache<br />

erschienene freiheitliche Literatur. 403<br />

Freiheitliche Zeitungen in Spanien. 404<br />

III


DIE<br />

INTERNATIONALE<br />

ORGAN DER INTERNATIONALEN ARBEITER-ASSOZIATION• BERLIN<br />

2.JAHRG. JUNI 1925 NR.5


DIE INTERNATIONALE<br />

ORGAN DER INTERNATIONALEN ARBEITER - ASSOZIATION / BERLIN<br />

DEUTSCHE AUSGABE / HERAUSGEGEBEN VOM SEKRETARIAT DER I.A.A.<br />

2. JAHRG. JUNI 1925 NR. 5<br />

<strong>Die</strong> internationale Arbeiterbewegung und die I.A.A.<br />

Vorbemerkung zum Bericht des II. Kongresses der I.A.A.<br />

Seit Erscheinen von Nummer 4 der „<strong>Internationale</strong>" ist eine geraume Zeit<br />

verstrichen. <strong>Die</strong> jetzt vorliegende Nummer 5 behandelt den II. Kongreß der<br />

<strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation. Das ausführliche Protokoll dieses Kongresses<br />

und die Berichte aus den verschiedenen Ländern geben dem Leser einen<br />

Ueberblick über den gegenwärtigen Stand der internationalen syndikalistischen<br />

Bewegung. Vergleicht man die heutige Lage der internationalen syndikalistischen<br />

Bewegung mit der Situation zur Zeit der Gründung der I.A.A., so springt<br />

eine auffallende Veränderung in die Augen. Damals waren die revolutionären<br />

Syndikalisten noch gezwungen, sich mit der Roten Gewerkschaftsinternationale<br />

zu Moskau zu beschäftigen. Der I. Kongreß hielt es noch für notwendig, seine<br />

Stellung gegenüber Moskau in einer besonderen Entschließung niederzulegen.<br />

Moskau bemühte sich damals noch um den Anschluß der Syndikalisten und<br />

suchte unter Anwendung aller Mittel die revolutionären Syndikalisten für sich<br />

zu gewinnen. Zwar ließen sich einige Elemente betören, andere kaufen, im<br />

großen ganzen aber ist es den Moskowitern nicht gelungen, in den revolutionären<br />

Syndikalismus eine Bresche zu schlagen. Das Hauptverdienst, alle Anschläge<br />

Moskaus auf den internationalen Syndikalismus abgeschlagen zu haben,<br />

fällt den Kräften zu, die die I.A.A. gegründet haben. <strong>Die</strong> I.A.A. war der Wall,<br />

an dem alle Versuche der Moskauer Diktatoren scheiterten.<br />

Dank der Wachsamkeit der I.A.A. haben die diktatorischen Bestrebungen<br />

Moskaus, die internationale revolutionäre Arbeiterbewegung vor den Wagen<br />

des russischen Imperialismus zu spannen, ausgespielt. Um ihr Fiasko bei der<br />

revolutionären Arbeiterbewegung zu verdecken, wenden sich die Moskauer<br />

heute an die Reformisten, an die von ihnen so arg bekämpften und beschimpften<br />

Amsterdamer. <strong>Die</strong> neue Parole: Vereinigung mit Amsterdam, wird<br />

unter der Maske der Einheitsfront der Arbeiterbewegung geführt. <strong>Die</strong>se Vereinigung<br />

von Moskau und Amsterdam wird auf irgendeine Weise kommen.<br />

Sind die Amsterdamer Herren schlau genug, dann werden sie den jetzt von<br />

Moskau inszenierten Einigungsrummel ausebben lassen, bis den Moskauern<br />

nichts anderes übrigbleibt, als sang- und klanglos den Eintritt der russischen<br />

Gewerkschaften in den <strong>Internationale</strong>n Gewerkschaftsbund zu vollziehen. <strong>Die</strong><br />

übrigen wenigen Gewerkschaften, die der Roten Gewerkschaftsinternationale


2<br />

BERICHT DES II. KONGRESSES DER I.A.A.<br />

noch angeschlossen sind, werden ebenfalls gleich dem verlorenen Sohne die<br />

Rückkehr in die väterlichen Ställe Amsterdams antreten müssen, wenn sie es<br />

nicht vorziehen, draußen zu bleiben und von allen bösen Geistern verlassen<br />

zu werden. Aber auch wenn die diplomatischen Kniffe der Russen den Sieg<br />

davontragen, wird es zu irgendeinem Einigungskongreß kommen, der in<br />

gleichen Resultaten ausmünden wird.<br />

Nach dieser Vereinigung von Moskau und Amsterdam läßt die Situation<br />

in der internationalen Arbeiterbewegung nichts mehr an Klarheit fehlen. Auf<br />

der einen Seite finden wir dann alle staatserhaltenden Elemente und auf der<br />

andern die staatsfeindlichen. Der internationalen Vereinigung wird notwendigerweise<br />

die nationale Verschmelzung auf dem Fuße folgen müssen. Wo<br />

es heute noch revolutionäre Gewerkschaften gibt, die auf Seiten Moskaus<br />

stehen, wie in Frankreich, der Tschechoslowakei, dort werden diese zurückgeführt<br />

werden in die reformistischen Zentralverbände und die revolutionären<br />

Elemente werden in ihrer Werbetätigkeit bis aufs äußerste eingeschränkt und<br />

behindert werden. Das wird vielen früheren Syndikalisten die Augen öffnen,<br />

und sie werden wohl oder übel ihren Weg zum revolutionären Syndikalismus,<br />

der einzigen unabhängigen Arbeiterbewegung, wieder zurückfinden. <strong>Die</strong> Inten<br />

nationale Arbeiten Assoziation wird dann erst recht das Sammelbecken aller<br />

revolutionären Kräfte der internationalen Arbeiterbewegung werden.<br />

Vielleicht wird manchen unserer Kameraden der Fortschritt der I.A.A.<br />

nicht schnell genug erscheinen. Sie werden auf einen schnelleren Sieg gehofft<br />

haben. Ihnen wollen wir zu bedenken geben, daß wir uns heute in einer reaktionären<br />

Periode befinden, ähnlich wie sie nach dem Falle der Pariser Kommune<br />

auftrat. In den „Siegerstaaten" des Weltkrieges herrscht immer noch jene<br />

Stimmung vor, die einer wahrhaft revolutionären Bewegung die stärksten<br />

Fesseln auflegt. <strong>Die</strong> Verhunzung der russischen Revolution hat den fortschrittlichen<br />

Kräften der Arbeiterbewegung noch den letzten Elan geraubt, das klägliche<br />

Fiasko der deutschen Revolution, der Faschismus in Italien, die weiße<br />

Diktatur in Spanien, die andauernde Reaktion in Südamerika, die Festsetzung<br />

des reformistischen Staatssozialismus in Mexiko, das alles hat die Kräfte des<br />

revolutionären Syndikalismus gelähmt, der gerade in der romanischen<br />

Arbeiterbewegung schon seit den Tagen der I. <strong>Internationale</strong> eine Heimstätte<br />

gefunden hat. Und gerade dort herrscht heute weißer Terror.<br />

Der Tag ist jedoch nicht mehr ferne, da der Faschismus und die Somatenherrschaft<br />

in Italien und Spanien ihre letzten Trümpfe ausgespielt haben.<br />

Dann werden sich die Bande der Knebelung von der unterdrückten Arbeiterbewegung<br />

lösen und der revolutionäre Syndikalismus zu neuem Leben erwachen.<br />

Neue Impulse werden ausgehen und sich über die gesamte Arbeiterschaft<br />

aller Länder verbreiten. <strong>Die</strong> Zeit wird kommen, an dem die <strong>Internationale</strong><br />

Arbeiter-Assoziation den Platz in der internationalen Arbeiterbewegung<br />

einnehmen wird, der ihr von der Geschichte vorgezeichnet wird.<br />

<strong>Die</strong> Redaktion.


ROCKERS BEGRÜSSUNGSREDE<br />

Bericht des II. Kongresses<br />

der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation.<br />

Amsterdam, vom 21. bis 27. Marz 1925.<br />

Der Kongreß wurde vom Vorsitzenden des syndikalistischen Gewerk-<br />

Schaftsverbandes Hollands, dem Genossen Rousseau, begrüßt, sodann vom<br />

Sekretär A. Souchy im Namen des Sekretariats der I.A.A. eröffnet.<br />

Es erfolgte die Wahl der Mandatsprüfungskommission, die aus folgenden<br />

Genossen bestand: Jensen, Schweden; Santillan, Mexiko: Hooze, Holland;<br />

Souchy vom Sekretariat.<br />

Während sich die Mandatsprüfungskommission an die Arbeit begab,<br />

hielt Rudolf Rocker im Namen des <strong>Internationale</strong>n Büros die Begrüßungsrede.<br />

Redner dankte den holländischen Kameraden für den guten Empfang<br />

und gibt dann eine kurze Entwicklungsgeschichte der I.A.A., aus der hervor?<br />

geht, mit welchen Schwierigkeiten dieselbe zu kämpfen hatte, bis sie sich<br />

nach und nach durchringen konnte. Der unselige Krieg hatte alle Verbindungen<br />

zwischen den Kameraden der verschiedenen Länder zerstört, und<br />

als man Ende 1918 endlich wieder daran denken konnte, die internationalen<br />

Beziehungen wiederherzustellen, da stand man vor einer ganz neuen Situation.<br />

In Rußland war der Staatssozialismus zur Macht gelangt, und in ihrer<br />

Begeisterung für die russische Revolution verwechselten sogar viele unserer<br />

Genossen das Werk der Revolution mit der Wirksamkeit der bolschewistischen<br />

Partei. <strong>Die</strong>s war um so leichter möglich, als man in jener Zeit überhaupt<br />

kaum wußte, was in Rußland vorging. Erst nach und nach, besonders<br />

nach der Niederlage der weißen Armeen, erkannte man in den verschiedenen<br />

Ländern die Wahrheit. <strong>Die</strong> revolutionären Syndikalisten und alle übrigen<br />

Strömungen des freiheitlichen Sozialismus mußten erkennen, daß ein gemeinschaftliches<br />

Zusammengehen mit der durch und durch autoritären Richtung<br />

der Moskauer Diktatur unmöglich war, obwohl man sich in Moskau alle<br />

Mühe gab, die Organisationen der Syndikalisten und Anarchisten im Auslande<br />

den Zwecken der Dritten <strong>Internationale</strong> dienstbar zu machen. Allein<br />

die Tatsache, daß man sich im Auslande um die Sympathie derselben Richtungen<br />

bewarb, deren Träger man in Rußland selber auf das grausamste<br />

verfolgte, mußte jedem, der noch ein Funken proletarisches Solidaritätsgefühl<br />

besaß, die Augen öffnen. Es galt nun für uns, das Erbe der alten<br />

<strong>Internationale</strong> gegen den Einfluß der reformistischen Bestrebungen von<br />

rechts und in derselben Zeit gegen den Einfluß der kommunistischen Parteidiktatur<br />

zu verteidigen. Wenn wir heute sagen können, daß die revolutionären<br />

Syndikalisten aller Länder, mit der einzigen Ausnahme von Frankreich,<br />

in der I.A.A. vereinigt sind, so ist dies ein Erfolg, den man vielleicht erst<br />

später richtig zu würdigen verstehen wird. <strong>Die</strong> I.A.A. kann daher mit Recht<br />

für sich in Anspruch nehmen, daß sie die Bewegung des revolutionären<br />

Syndikalismus gerettet hat in einer Zeit der schwersten Krise, die ihn je<br />

bedrohte.<br />

Redner erwähnt zum Schluß noch den Namen des Pioniers der sozialistischen<br />

Bewegung in Holland, Domela Nieuwenhuis, der bereits auf dem<br />

<strong>Internationale</strong>n Sozialistenkongreß in Brüssel (1891) den Weltkrieg voraussagte<br />

und die Proletarier aller Länder aufforderte, schon jetzt Mittel und<br />

Wege vorzubereiten, um die nahende Katastrophe zu verhindern. <strong>Die</strong> Worte<br />

Nieuwenhuis, der sich folgerichtig vom Sozialdemokraten zum Anarchisten<br />

entwickelte, verhallten damals wie ein Schrei in der Wüste. Wir aber wissen,<br />

was wir diesem Manne zu danken haben, von dem ich wünsche, daß sein<br />

Geist die Verhandlungen unseres Kongresses beeinflussen möge.<br />

3<br />

Rockers<br />

Begrüßungrede.


Bericht der<br />

Mandatsprüfungskommission.<br />

4 VERTRETENE ORGANISATIONEN<br />

In das Präsidium wurden gewählt: Kater, Deutschland; Jensen, Schweden;<br />

Silva do Campos, Portugal; Lansink jr., Holland.<br />

Carbo, Spanien, schlug vor, an die politischen Gefangenen in allen<br />

Ländern eine Begrüßungsresolution zu senden und an die Kameraden Baron<br />

und Rubintschik, die von der russischen Sowjet-Regierung verfolgt werden,<br />

Telegramme zu senden. Der Kongreß stimmte diesem Antrag bei und nahm<br />

folgende Resolution an: (Siehe Anhang Seite 61, Resolution I.)<br />

Genosse Kater, Deutschland, übernahm den Vorsitz der ersten Sitzung<br />

und gab dem Vertreter des internationalen Antimilitaristischen Büros J. Giesen<br />

zu einer kurzen Ansprache das Wort:<br />

Giesen führte aus, daß die Antimilitaristen, die in dem I.A.M.B. vereinigt<br />

sind, mit der I.A.A. sich aufs engste verbunden fühlen. Wir alle stehen<br />

auf dem Grunde der I. <strong>Internationale</strong>. Redner sprach für den Generalstreik<br />

gegen den Krieg, für die persönliche Militärdienstverweigerung und für die<br />

Anwendung der wirtschaftlichen Macht der Arbeiterschaft zur Erreichung<br />

dieser Ziele. Der Redner gedachte ebenfalls der Inhaftierten aller Länder<br />

und wünschte, daß die Macht der freiheitlichen Bewegung in der ganzen<br />

Welt ausstrahlt und zum Sturz der Kasernen und aller Unterdrückungsmächte<br />

führen möge.<br />

In die Redaktionskommission wurden gewählt: Borghi, Italien; Lansink,<br />

Holland; Carbo, Spanien; Diaz, Argentinien; Rocker vom Sekretariat.<br />

Sodann wurden Begrüßungsschreiben und Telegramme verlesen, die im<br />

Anhang des Berichtes zu finden sind. (Siehe Anhang Seite 68 und folgende<br />

Seiten.)<br />

Santillan gab den Bericht der Mandatsprüfungskommission, nach welchem<br />

auf dem Kongreß 12 Länder vertreten sind:<br />

ARGENTINIEN: Federacion Obrera Regional Argentina (F.O.R.A.); Vertreter:<br />

S. Diaz, D.A. de Santillan.<br />

BRASILIEN: Federaçao Operaria de Rio Grande du Sul; Vertreter:<br />

R. Rocker.<br />

DEUTSCHLAND: Freie Arbeiter-Union Deutschlands (F.A.U.D.); Vertreter:<br />

F. Kater.<br />

DAENEMARK: Revolutionärt Arbejderforbund; Vertreter Albert Jensen.<br />

HOLLAND: Nederlandsch Syndicalistisch Vakverbond; Vertreter: A. Rousseau,<br />

B. Lansink jun., A. J. P. Hooze, G. Blanken, A. v. d. Berg,<br />

O. Dekker, H. Have, O. Vonk, C. Wolff.<br />

ITALIEN: Unione Sindacale Italiana (U.S.I.); Vertreter: A. Borghi.<br />

MEXIKO: Confederacio General de Trabajadores; Vertreter: D. A. de<br />

Santillan.<br />

NORWEGEN: Norsk Syndikalistisk Federation; Vertreter A. Jensen.<br />

PORTUGAL: Confederacao Geral do Trabalho; Vertreter: M. Silva,<br />

Campos.<br />

SPANIEN: Confederacion Nacional del Trabajo; Vertretr: E. C. Carbo.<br />

SCHWEDEN: Sveriges Arbetares Centraiorganisation; Vertreter: A.Jensen.<br />

URUGUAYA: Federacion Obrera Regional Uruguaya; Vertreter: JulioDiaz.<br />

GÄSTE: Anarchistisch-syndikalistische Jugend Deutschlands; Vertreter:<br />

R. Rocker, E. Betzer. Allgemeine Arbeiter-Union (Einheitsorganisation);<br />

Vertreter: Franz Pfemfert. Von der „Ino" (<strong>Internationale</strong>s Informationsbüro);<br />

Vertreter: Ernst Liebetrau.


TAGESORDNUNG / BERICHT PORTUGAL 5<br />

A. Borghi, Italien, hatte widriger Umstände zufolge ein schriftliches<br />

Mandat von der U.S.I. nicht beibringen können. Da er aber selbst Sekretär<br />

dieser Organisation und von ihr zum Mitglied in den Ausschuß der I.A.A.<br />

gewählt wurde, außerdem schon vorher von der U.S.I. aus Italien durch Handschreiben<br />

die Delegierung Borghis angezeigt wurde, anerkannte der Kongreß<br />

die Delegation Borghis für die U.S.I. Im ganzen waren 16 Delegierte aus<br />

12 Ländern mit beschließender Stimme vertreten.<br />

<strong>Die</strong> Tagungszeit des Kongresses wurde festgesetzt von vormittags 9 Uhr<br />

bis mittags 12½, von 1½ bis 5½ Uhr und von 8 bis 12 Uhr abends.<br />

In die Finanz- und Pressekommission wurden gewählt: Silva do Campos,<br />

Portugal; A. Jensen, Schweden; van den Bergh, Holland; A. Souchy vom<br />

Sekretariat.<br />

<strong>Die</strong> Tagesordnung wurde in der vom Sekretariat vorgeschlagenen Weise<br />

wie folgt angenommen:<br />

1. Bericht des Sekretariats. (Berichterstatter: A. Souchy.)<br />

2. Berichte der einzelnen Länder.<br />

3. Stellung der I.A.A. zu den verschiedenen Richtungen innerhalb der Arbeiterbewegung.<br />

(Berichterstatter: Rudolf Rocker.)<br />

4. Stellung der I.A.A. zu den praktischen Tageskämpfen. (Berichterstatter:<br />

B. Lansink jun., Holland, und Julio Diaz, Argentinien.)<br />

5. Der Kampf gegen die internationale Reaktion. (Berichterstatter:<br />

A. Borghi, Italien.)<br />

6. <strong>Die</strong> I.A.A. und die Betriebsräte. (Berichterstatter: A. Souchy.)<br />

7. <strong>Internationale</strong> Solidarität. (Berichterstatter: A. Schapiro.)<br />

8. <strong>Die</strong> I.A.A. und die Industrieföderationen. (Berichterstatter: A. Rousseau,<br />

Holland.)<br />

9. <strong>Die</strong> syndikalistische Jugendbewegung. (Berichterstatter: Campos,<br />

Portugal.)<br />

10. Stellung der I.A.A. zum Dawesabkommen. (Berichterstatter: Lansink<br />

jun., Holland, Rocker, Deutschland.)<br />

11. <strong>Die</strong> Presse der I.A.A. (Berichterstatter: A. Souchy.)<br />

12. Statutenänderung.<br />

13. <strong>Die</strong> I.A.A. und die internationale Hilfsweltsprache (Berichterstatter:<br />

A. Rousseau, Holland.)<br />

14. Wahl und Sitz des Sekretariats.<br />

15. Ort und Zeit des nächsten Kongresses.<br />

16. Schlußrede.<br />

Der Bericht des Sekretariats lag schriftlich vor. Der mündliche Bericht<br />

wurde auf den nächsten Tag zurückgestellt. Statt dessen gab do Campos,<br />

Vertreter der C.G.T. Portugals, einen kurzen mündlichen Bericht, weil sein<br />

schriftlicher Bericht von ihm erst mitgebracht wurde und deshalb noch nicht<br />

übersetzt werden konnte. Der schriftliche Bericht schildert die Lage der<br />

organisierten Arbeiterschaft Portugals in ausführlicher Weise und ist dem<br />

Protokoll beigefügt. Deshalb braucht der mündliche Bericht, der eine<br />

Wiedergabe des schriftlichen Berichtes ist, nur kurz skizziert werden.<br />

Campos führte aus, daß der Allgemeine Gewerkschaftsbund Portugals<br />

gals (C.G.T.) sich gegen jede politische Partei erklärt. <strong>Die</strong> I.A.A. erfreut<br />

sich in Portugal großer Sympathien seitens des organisierten Proletariats.<br />

Im Jahre 1920 betrug die Mitgliedschaft 150 000. Als dann die allgemeine<br />

Reaktion in Europa einsetzte und auch in Portugal zu verspüren war und<br />

dazu noch eine Wirtschaftskrise mit Geldinflation und großer Arbeitslosigkeit<br />

über das Land hereinbrach, gingen die Gewerkschaften in ihrer Mitgliederzahl<br />

etwas zurück. Heute zählt die C.G.T. 80 000 Mitglieder, die aber<br />

Tages-<br />

Ordnung.<br />

Bericht<br />

Portugal.


<strong>Internationale</strong><br />

Einheit.<br />

Tätigkeitsbericht<br />

des<br />

Sekretariats.<br />

6 INTERNATIONALE EINHEIT<br />

klassenbewußte proletarische Kämpfer sind. <strong>Die</strong> C.G.T. ist die größte Arbeiterorganisation<br />

Portugals, politische Parteien haben auf die Arbeiterbewegung<br />

des Landes keinen Einfluß. <strong>Die</strong> C.G.T. besitzt eine Tageszeitung,<br />

die in einer Auflaße von 10000 Exemplaren in Lissabon erscheint. Außerdem<br />

besitzen die Industrieföderationen ihre Föderationsorgane. Der Aufbau<br />

der Organisation trägt einen föderalistischen Charakter, jede Diktatur wird<br />

verworfen. <strong>Die</strong> revolutionäre Arbeiterbewegung in Portugal ist bis auf das<br />

Jahr 1832 zurückzuführen, nach Fall der Pariser Kommune, besonders im<br />

Jahre 1872, kam es zu einem Rückgang, im Jahre 1900 erfolgte wieder<br />

ein Aufstieg.<br />

<strong>Die</strong>ser Bericht gelangte nicht zur Diskussion. Ein Vorschlag von der<br />

F.O.R.A. Argentiniens, zur Lösung des Konfliktes in Argentinien eine Kommission<br />

einzusetzen, gelangte zur Annahme. Zum Mitglied dieser Kommission<br />

wurden vorgeschlagen do Campos von Portugal, Carbo von Spanien<br />

und Jensen von Schweden; vom Sekretariat Rudolf Rocker. Santillan erklärte,<br />

daß er von der C.G.T. Mexikos den Auftrag habe, an dieser Angelegenheit<br />

teilzunehmen, er beanspruche deshalb einen Sitz in der Kommission,<br />

um so mehr, als der Vertreter der C.N.T. Spaniens, die in dieser<br />

Angelegenheit Stellung genommen hat, der Kommission angehört.<br />

Der Gast F. Pfemfert, delegiert von der Allgemeinen Arbeiter-Union<br />

(Einheitsorganisation), A.A.U.E., wünschte einige Worte zu sagen und erklärte,<br />

daß die A.A.U.E. ihren Anschluß an die I.A.A. noch nicht vollzogen<br />

habe, daß aber seine Organisation, wenn es sich um einen internationalen<br />

Anschluß handelt, nur der I.A.A. beitreten könne.<br />

Im Namen des noch nicht erschienenen Sekretärs A. Schapiro wurde<br />

eine vorläufige Resolution über die Stellung der I.A.A. zur Vereinigung der<br />

<strong>Internationale</strong>n von Amsterdam und Moskau verlesen, die noch vor Eintritt<br />

in die eigentliche Tagesordnung behandelt werden sollte.<br />

Zu dieser Frage sprach der Vertreter Argentiniens Diaz. Nach seiner<br />

Meinung müsse die Einigung des Proletariats sich in ideeller Hinsicht vollziehen.<br />

Politische Parteien sind eine große Gefahr für die Arbeiterschaft.<br />

Redner verwies auf Rußland, wo die revolutionäre Arbeiterschaft durch<br />

die zur Macht gekommene politische Partei großen Verfolgungen ausgesetzt<br />

ist. Auch die Formel „alle Macht den Gewerkschaften" ist nicht immer<br />

richtig. Redner stellt sich auf den Boden der I. <strong>Internationale</strong>. In ganz Süd-<br />

Amerika spricht man von der I.A.A. Sein Ziel ist der kommunistische<br />

Anarchismus und dieses Ideal soll auch unsere Gegenwartsarbeit beeinflussen<br />

und durchsetzen. Redner ist für die Annahme der Resolution, da wir eine<br />

konsequente Stellung zu den übrigen <strong>Internationale</strong>n einnehmen müßten.<br />

Es wurde jedoch der Vorschlag gemacht, die Resolution nach dem<br />

Referat über die verschiedenen Richtungen innerhalb der Arbeiterbewegung<br />

zu verhandeln. <strong>Die</strong>sem Vorschlag wurde zugestimmt.<br />

Schluß des ersten Verhandlungstages.<br />

Zweiter Verhandlungstag, Sonntag, den 22. März.<br />

Mündlicher Bericht des Sekretariats. Hierzu nahm A. Souchy das Wort.<br />

Er führte aus:<br />

Da bereits ein schriftlicher Bericht des Sekretariats vorliegt (siehe<br />

Anhang Seite 74 u. f.), könne Redner sich kurz fassen. Er wies auf die<br />

schwierige Lage hin, in der sich die I.A.A. nach ihrem Gründungskongreß<br />

befand. Obzwar der definitive Anschluß an die I.A.A. nur von einigen<br />

Landesorganisationen, wie Deutschland, Schweden, Norwegen vorlag, sollte<br />

die I.A.A. sogleich in Tätigkeit treten und bei solch wichtigen Er-


MÜNDLICHER BERICHT DES SEKRETARIATS 7<br />

scheinungen, wie die Besetzung des Ruhrgebietes, Aktionen unternehmen.<br />

Das konnte sie allein nicht tun, sie wandte sich daher an die Amsterdamer<br />

und an die Moskauer <strong>Internationale</strong> zwecks Herbeiführung gemeinsamer<br />

Aktionen. <strong>Die</strong>s gelang jedoch nicht, da die genannten <strong>Internationale</strong>n<br />

zu einer gemeinsamen Aktion des Proletariats nicht geneigt<br />

waren. Das Sekretariat wandte sich danach direkt und allein an die<br />

Arbeiter aller Länder, besonders aber Deutschlands und Frankreichs,<br />

um diese zu einem Generalstreik aufzufordern. <strong>Die</strong> Majorität der Arbeiter<br />

folgte jedoch den Parolen ihrer Amsterdamer und Moskauer Führer, und<br />

so kam diese Generalstreiksaktion nicht zustande.<br />

Redner erwähnte den Briefwechsel zwischen dem provisorischen Komitee<br />

zur Bekämpfung des Faschismus und dem Sekretariat der I.A.A. Er machte<br />

darauf aufmerksam, daß trotz Bereitwilligkeit der I.A.A. zu einer gemeinsamen<br />

Aktion gegen den Faschismus die Moskauer <strong>Internationale</strong> und ihre<br />

Anhänger in Europa eine solche Zusammenarbeit nicht haben wollten.<br />

<strong>Die</strong> Tätigkeit der I.A.A. gegen die Reaktion in Spanien, Italien, Argentinien<br />

und Rußland wurde vom Redner kurz dargestellt. Es ging daraus<br />

hervor, daß den Opfern der Reaktion durch das Eintreten der I.A.A. Hilfe<br />

zuteil geworden ist. Besonderen Nachhall fand der Kampf gegen die<br />

Verfolgungen der Revolutionäre in Rußland. In allen Ländern nahm<br />

das revolutionäre Proletariat die Parole der I.A.A. auf, so daß Millionen<br />

Arbeiter in der ganzen Welt sich mit dem Schicksal ihrer russischen Leidensbrüder<br />

beschäftigten und von der Sowjet-Rcgierung die Freigabe aller politischen<br />

Gefangenen forderten. <strong>Die</strong>se Propaganda kam der russischen Regierung<br />

und ihrem kommunistischen Anhang in allen Ländern sehr ungelegen.<br />

Nach den Ausführungen des Redners trat die I.A.A. auch bei großen<br />

Streiks und Aussperrungen für die kämpfende Arbeiterschaft ein.<br />

<strong>Die</strong> Hilfsaktionen der I.A.A. erstreckten sich auf die Unterstützung der<br />

F.A.U.D. Deutschlands und auf eine Kinderhilfe für die notleidenden Kinder<br />

unserer Kameraden in Deutschland und der inhaftierten Genossen in Italien.<br />

<strong>Die</strong> I.A.A. hatte auch Stellung zu nehmen zur Spaltung der syndikalistischen<br />

Bewegung in Holland und zur Situation innerhalb der I.W.W.<br />

Amerikas. Das Sekretariat veröffentlichte einen Brief an die Majorität des<br />

Vorstandes des holländischen N.A.S., der von der Mehrzahl der angeschlossenen<br />

Landesorganisationen gutgeheißen wurde, nur nicht von unseren<br />

Kameraden Frankreichs. Redner war der Meinung, der Kongreß müsse zur<br />

I.W.W. Amerikas erneut Stellung nehmen, um diese Genossen den Reihen<br />

der I.A.A. zuzuführen.<br />

Der Redner gab auch noch einen Ueberblick über das Verhältnis der<br />

I.A.A. zu den ihr nahestehenden Organisationen und über die Propagandatätigkeit,<br />

die in Ländern geführt wurde, in denen noch keine der I.A.A. angeschlossenen<br />

Organisatioen bestehen. Er gab ein Bild über die schriftliche<br />

Agitation der I.A.A. und wünschte, daß dieser Kongreß neue Mittel und<br />

Wege finden möge, um die Propaganda zu erweitern und zu vergrößern,<br />

damit die Ideen des revolutionären Syndikalismus, die Ideen des freiheitlichen<br />

Kommunismus tiefere Wurzeln schlagen und eine breitere Basis gewinnen<br />

innerhalb der Arbeiterschaft aller Länder.<br />

An diesen Bericht, der einige Stunden dauerte, von dem wir aber nur<br />

das Wichtigste wiedergaben, schloß sich eine Diskussion an.<br />

Als erster Diskussionsredner ergreift Santillan, Mexiko, das Wort. Er<br />

führt aus, daß in dem Bericht des Sekretariats behauptet wird, daß zwischen<br />

der I.A.A. und der I.W.W. freundschaftliche Beziehungen herrschen. Das<br />

sei nicht richtig. <strong>Die</strong> I.W.W. kann vorläufig für den Anschluß an die I.A.A.<br />

nicht in Frage kommen. Sic ist heute nicht mehr das, was sie früher einmal


8 DISKUSSION ÜBER BERICHT SOUCHY<br />

gewesen ist. Der Arbeitermonroismus eines Gompers hat auch in die I.W.W.<br />

Einzug gehalten. <strong>Die</strong> öffentlichen Angriffe der I.W.W gegen die I.A.A. kann<br />

man nicht unerwähnt übergehen.<br />

Diskussion über r A. Borghi, Italien, fand an dem Bericht nichts auszusetzen. Er wollte<br />

den Bericht nur erwähnen, daß in bezug auf die I.W.W. Amerikas durch die Beein-<br />

Souchys. flussung der italienischen und russischen Sektionen etwas getan werden könne.<br />

Er stehe mit der italienischen Sektion der I.W.W. in engster Beziehung und<br />

es sei gerade von ihm und den Kameraden der I.A.A. den italienischen Mitgliedern<br />

der I.W.W. angeraten worden, den Anschluß an die I.A.A. erst<br />

dann zu vollziehen, wenn die ganze I.W.W. dazu bereit sei, um die Einigkeit<br />

innerhalb der I.W.W. zu wahren. <strong>Die</strong> italienische Zeitung der I.W.W.<br />

ist stets bereit, Artikel für die I.A.A. aufzunehmen.<br />

Argentinien Diaz, Argentinien, ist der Meinung, daß die italienische Sektion der<br />

über I.W.W.<br />

I.W.W. Borghi das Wort in ihrer Zeitung gibt, weil es Borghi ist, und nicht,<br />

weil er für die I.A.A. eintritt. Es komme nicht immer auf die Prinzipien<br />

an, sondern auch auf die Aktionen, die im Einverständnis mit den Prinzipien<br />

sein müssen. <strong>Die</strong> syndikalistische Union Argentiniens hat zwar freiheitliche<br />

Prinzipien, in ihren Handlungen ist sie jedoch nicht revolutionär. <strong>Die</strong> Regionale<br />

Arbeiterföderation Mexikos steht mit der Regierung Mexikos in Verbindung<br />

und will auch mit uns in Fühlung treten. Dabei wollen sie uns<br />

in allen Beziehungen bekämpfen, wir aber werden uns mit regierungsfreundlichen<br />

Organisationen niemals befreunden können. In Chile besteht<br />

eine I.W.W.-Organisation, und diese schließt sich der I.A.A. an, um die freiheitliche<br />

Organisation, die mit der F.O.R.A. konform geht, unmöglich zu<br />

machen. Der Kongreß müsse auch dazu Stellung nehmen und sich dahingehend<br />

aussprechen, daß die F.O.R.A. die Möglichkeit hat, in Chile eine<br />

Organisation zu bilden. <strong>Die</strong> I.W.W. Chiles ist zwar der I.A.A. angeschlossen,<br />

sie fällt aber unseren eigenen Genossen stets in den Rücken. Gerade durch den<br />

Anschluß der I.W.W. Chiles an die I.A.A. ist die Verworrenheit aufgekommen.<br />

Hier muß Klarheit geschaffen werden.<br />

Santillan, der Mexiko und Argentinien vertrat, fügte zu den Ausführungen<br />

von Diaz noch eine Ergänzung hinzu, nach welcher die I.W.W.<br />

sich in Argentinien breit zu machen hoffte. Sie kam eines Tages mit einem<br />

Auto und machte Propaganda für ihre Ideen, um die Arbeiterschaft von den<br />

bereits bestehenden revolutionären Organisationen abspenstig zu machen<br />

und sie für die I.W.W. zu gewinnen. Das machte natürlich unter der Arbeiterschaft,<br />

und besonders bei den Mitgliedern der F.O.R.A. böses Blut.<br />

Solange die I.W.W. derartige Methoden anwendet, kann sie nicht von uns<br />

Versöhnung verlangen.<br />

<strong>Die</strong> Sitzung wurde jetzt unterbrochen durch die Mittagspause. In der<br />

dritten Sitzung wurde dieselbe Frage weiter diskutiert.<br />

Carbo, Spanien, war der Meinung, daß man die I.W.W. Nordamerikas<br />

nicht abstoßen dürfe. Innerhalb der C.G.T. Spaniens befänden sich selbst Kommunisten,<br />

mit deren Anschauungen und Taktik wir nicht einverstanden sind.<br />

Wir schließen sie dennoch nicht aus der Organisation aus. Wir müssen alle<br />

Kräfte zusammenfassen, und da dies unsere Meinung ist, schließen wir selbst<br />

die Kommunisten nicht aus, die 1921 sogar die Führung unserer Organisation<br />

an sich rissen, als die besten unserer Genossen verhaftet waren. Allerdings<br />

machte die Konföderation diesem Spuk rasch ein Ende. In bezug auf die<br />

spanische Revue erwähnte Carbo, daß es die strenge Zensur, die nach den<br />

Ereignissen von Vera einsetzte, gewesen ist, die den Versand der spanischen<br />

Revue verhinderte und erschwerte.<br />

Campos, Portugal, erklärte, daß auch sie in Portugal diejenigen aus<br />

der Organisation nicht ausschlössen, die mit den Richtlinien der Organi-


ENTLASTUNG DES KASSIERERS UND SEKRETARIATS 9<br />

sation nicht ganz einverstanden sind, weil die Propaganda darunter leiden<br />

würde. Man müsse unterscheiden zwischen Arbeitern und Führern. Während<br />

man kommunistische Führer ausschließen könne, dürfe man es bei<br />

den Arbeitern nicht tun.<br />

Kater, Deutschland, ersucht, über den Bericht des Sekretariats zu diskutieren.<br />

<strong>Die</strong> Propaganda in den einzelnen Ländern könne in diesem Zusammenhang<br />

nicht behandelt werden.<br />

Borghi wendet sich dann noch gegen die Ausführungen der südamerikanischen<br />

Genossen, die der Meinung seien, die italienische Sektion der I.W.W.<br />

wolle von der I.A.A. nichts wissen. In Wirklichkeit sind sie mit Herz und<br />

Leib für die I.A.A.<br />

In seinem Schlußwort machte Souchy darauf aufmerksam, daß die Konferenz<br />

in Innsbruck beschlossen habe, die Revue in spanischer Sprache herauszugeben.<br />

<strong>Die</strong> Herausgabe in Französisch und Englisch stieß auf Absatzschwierigkeiten,<br />

deshalb griff man außer der deutschen noch zur spanischen<br />

Sprache. <strong>Die</strong> spanische Revue verzögerte sich, und als die erste Doppelnummer<br />

fertiggestellt war, brachen gerade an der französisch-spanischen<br />

Grenze Unruhen aus, in deren Verlauf der Transport der Revue erschwert<br />

wurde. Ein Teil der Auflage wurde sogar von der spanischen Regierung<br />

beschlagnahmt. Redner stellte die Frage, ob die I.A.A. sich damit begnügen<br />

solle, in den Ländern Propaganda zu betreiben, wo der revolutionäre<br />

Syndikalismus bereits vertreten ist, oder ob es nicht vielmehr die Aufgabe<br />

der I.A.A. sei, die Länder zu bearbeiten, in denen der revolutionäre Syndikalismus<br />

noch unbekannt ist. Das letztere erscheint dem Redner notwendig.<br />

<strong>Die</strong> Herausgabe des Pressedienstes in englischer Sprache ist von<br />

diesem Gesichtspunkt aus wichtig. Wenn die nach Indien gesandten Pressedienste<br />

auch der Gefahr der Beschlagnahme ausgesetzt sind, so dürfe man<br />

deshalb die Sache nicht aufgeben. Redner schlägt vor, der I.W.W. gegenüber<br />

eine andere Taktik als bisher anzuwenden. Man solle die italienische, russische<br />

und schwedische Sektion der I.W.W. ruhig auffordern, sich der I.A.A.<br />

anzuschließen. Das dürfe und würde selbstverständlich keine Spaltung innerhalb<br />

der I.W.W. bedeuten, da diese Sektionen nach wie vor innerhalb<br />

der I.W.W. verbleiben müßten. In bezug auf die Beziehungen des Sekretariats<br />

mit der U.S.A. Argentiniens stellte der Redner fest, daß nur einmal<br />

die U.S.A. sich an die I.A.A. mit einem Brief wandte, daß das Sekretariat<br />

darauf antwortete, und damit hatte die Sache ihr Bewenden. Andere<br />

Beziehungen gab es zwischen der U.S.A. und I.A.A. nicht. Redner stellte es<br />

dem Kongreß anheim, dem Sekretariat für seine Tätigkeit entweder Billigung<br />

auszusprechen oder diese Tätigkeit nicht anzuerkennen.<br />

Santillan wünschte noch das Wort zu einer kurzen Bemerkung und<br />

sagte, daß die Lage in Frankreich heute anders wäre für uns, wenn das Sekretariat<br />

von Anfang an eine andere Taktik eingeschlagen hätte. In Amerika<br />

mache die I.W.W. Versuche, überall in die lateinischen Länder einzudringen.<br />

Deshalb müsse etwas getan werden, um diesem Treiben entgegenzuwirken.<br />

Santillan stellte im Auftrag der Revisoren folgenden Entlastungsantrag:<br />

Im Laufe der Tätigkeitsperiode vom Januar 1923 bis März 1925 ist die Entlastung des<br />

Kasse der I.A.A. von den Unterzeichneten des öfteren geprüft worden und Kassierers.<br />

jedesmal wurde dieselbe in guter Ordnung vorgefunden. Wir beantragen<br />

deshalb, da wir auf dem Kongreß persönlich nicht erscheinen können, auf<br />

schriftlichem Wege, dem Kassierer, Genossen Franz Barwich, Entlastung<br />

zu erteilen. Der Obmann der Revisoren: Th. Schuster.<br />

Beisitzer der Revisoren: Aug. Reichenbach.<br />

Berlin, den 3. März 1925.


Entlastung des<br />

Sekretariats.<br />

Rocker über<br />

verschiedene<br />

Richtungen in<br />

der Arbeiterbewegung.<br />

10 ROCKER: STELLUNG DER I.A.A. ZU DEN VERSCHIEDENEN<br />

Kater, Deutschland, beantragt, dem Sekretariat für seine Tätigkeit Ent-<br />

lastung zu erteilen. Ueber die Meinungsverschiedenheiten betreffend Taktik<br />

der I.W.W. gegenüber soll eine Resolution ausgearbeitet werden, damit das<br />

Sekretariat weiß, wie es in Zukunft in dieser Sache zu handeln habe.<br />

Darauf wurde die Abstimmung vollzogen; sie ergab für den Kassierer<br />

und für das Sekretariat einstimmige Entlastung.<br />

Kater machte auch als Vorsitzender darauf aufmerksam, daß zu den<br />

verschiedenen Punkten der Tagesordnung schriftliche Resolutionen vorlägen,<br />

die von den Delegierten durchgesehen werden mögen.<br />

Carbo, Spanien, wünscht noch mündliche Berichte der Delegierten als<br />

Ergänzung der bereits vorliegenden schriftlichen Berichte. <strong>Die</strong>s wird jedoch<br />

abgelehnt.<br />

Als nächster Punkt wird die<br />

Stellung der I.A.A. zu den verschiedenen Richtungen innerhalb<br />

der Arbeiterbewegung<br />

behandelt. Als Berichterstatter erhält Rudolf Rocker das Wort zu folgendem<br />

Vortrag:<br />

Kameraden!<br />

Will man die Stellung des revolutionären Syndikalismus zu allen anderen Richtungen<br />

der sozialistischen Arbeiterbewegung richtig erfassen, so ist es unbedingt notwendig,<br />

den geschichtlichen Werdegang der allgemeinen Arbeiterbewegung näher ins<br />

Auge zu fassen.<br />

<strong>Die</strong> moderne Arbeiterbewegung ist eine verhältnismäßig neue Erscheinung, die<br />

man mit den früheren Bewegungen unterdrückter Klassen nicht verwechseln darf. Sie<br />

ist das natürliche Ergebnis jener großen wirtschaftlichen Umwälzung in Europa, die<br />

bereits am Ende des Mittelalters einsetzte und sich besonders nach den großen Revolutionen<br />

in England und Frankreich erst richtig entfalten konnte. <strong>Die</strong> alte feudale<br />

Gesellschaft stürzte krachend in Trümmer und überall entwickelten sich mit verblüffender<br />

Gleichmäßigkeit neue Formen des sozialen Lebens, welche das ganze Aussehen<br />

der europäischen Gesellschaft in wenigen Jahrzehnten von Grund aus veränderten.<br />

Es begann jene gewaltige Epoche der Industrialisierung, die zum Ausgangspunkt<br />

einer ganz neuen Phase der menschlichen Zivilisation wurde und auf alle<br />

anderen Gebiete des geistigen und materiellen Lebens mächtig einwirkte.<br />

Von der einen Seite hatten die großen Revolutionen in Europa die Fesseln, durch<br />

welche die feudale Gesellschaft die Entwicklung neuer Produktionsformen unterbunden<br />

hatte, gewaltsam gesprengt; von der anderen Seite hatte das Erwachen der Wissenschaften<br />

die Vorbedingungen zu einer vollständigen Umgestaltung der Technik und<br />

somit der alten Produktionsbedingungen geschaffen, welche dem siegreichen Bürgertum<br />

auf Grund seiner wirtschaftlichen Machtmittel die Möglichkeit gab, diese Errungenschaften<br />

des menschlichen Geistes zu seinen Gunsten auszubeuten und seine wirtschaftlichen<br />

und sozialen Vorrechte immer weiter auszubreiten.<br />

Nicht das Bürgertum als Klasse hat diese Vorbedingungen zu jener gründlichen<br />

Umstellung der Produktionsformen veranlaßt, wie so oft mit Unrecht behauptet wird.<br />

Aber es hat es verstanden, sich die neuen Ergebnisse der Wissenschaft in rücksichtsloser<br />

Weise nutzbar zu machen und hat auf diese Weise die Fundamente der neuen<br />

Gesellschaftordnung gelegt, die wir gerne die kapitalistische nennen.<br />

In den mechanischen Betrieben und Fabriken der neuen Industriezentren, wo das<br />

soziale Elend die besitzlosen, von der Scholle vertriebenen Massen zusammenballte,<br />

entstand eine neue Gesellschaftsschicht, wie man sie in dieser Form früher nicht<br />

kannte — das moderne Industrieproletariat, die Klasse der Lohnarbeiter, die lediglich<br />

durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft ihr Dasein fristen kann.<br />

In England, wo die moderne Industrie zuerst die engen Hüllen der alten Arbeitsmethoden<br />

gesprengt und ein neues Produktionssystem ins Leben gerufen hatte, das sich<br />

auf die Mechanisierung der Betriebe und die sogenannte Arbeitsteilung gründete, vollzog<br />

sich dieser Prozeß der gesellschaftlichen Umgestaltung am ersten, um sich allmählich<br />

über alle anderen Länder zu verbreiten. Mit der Hilfe der berüchtigten<br />

..Einzäunungsgesetze" rauhte man den Bauern die Gemeindeländereier und trieb sie


RICHTUNGEN INNERHALB DER ARBEITERBEWEGUNG 11<br />

hinein in die Industriestädte, wo sie bequeme Ausbeutungsobjekte für das junge Unternehmertum<br />

abgaben. Konservative Grundbesitzer und liberale Industriebarone verbanden<br />

sich gegenseitig, um den Massenraub der kommunalen Ländereien planmäßig<br />

durchzuführen, an dem sie beide — jeder in seiner Art — interessiert waren.<br />

Fern von der heimatlichen Scholle, die man ihnen entrissen hatte, umrauscht vom<br />

Lärm der Maschinen und betäubt von all den neuen Eindrücken ihrer neuen Lebenslage,<br />

waren diese modernen Lohnsklaven zunächst gar nicht fähig, all das Neue und<br />

Ungewohnte, das von allen Seiten auf sie einstürmte, fassen zu können. Aber es<br />

dauerte nicht lange, bis sie den ganzen Ernst ihrer neuen Existenz verstehen lernten.<br />

Das Unternehmertum warf sich mit einer förmlichen Wut auf diese Leibeigenen der<br />

modernen Großindustrie, um den letzten Tropfen Lebenssaft aus ihnen herauszupressen.<br />

<strong>Die</strong> Arbeitskraft der Männer genügte ihm nicht, auch die Frauen und besonders die<br />

Kinder wurden mit hineingezwungen in die großen Betriebe und mechanischen<br />

Werkstätten, um der Gier des Unternehmertums blutigen Tribut zu zahlen. Es<br />

genügt, die Berichte der Fabrikinspektoren und die furchtbaren Beschreibungen einsichtiger<br />

Zeitgenossen jener Periode zu lesen, um zu begreifen, was die grauenvollen<br />

Ergebnisse jener „Entwicklung" sein mußten, die nach der Ansicht der englischen<br />

Oekonomisten dazu berufen war, England zum reichsten Lande der Welt zu machen.<br />

Unter diesen Umständen war es ganz natürlich, daß der Gedanke der Organisation<br />

sich unter den Arbeitern sozusagen von selber Bahn brechen mußte. <strong>Die</strong> Verhältnisse<br />

selbst und die bitteren Erfahrungen jeder Stunde hämmerten ihnen ohne Unterlaß die<br />

Idee eines engeren Zusammenschlusses zur Wahrnehmung ihrer Interessen ins Hirn.<br />

Jeder einzelne fühlte seine persönliche Ohnmacht in diesem neuen Spiel der Kräfte<br />

und suchte Kraft und Selbstvertrauen im Bunde mit seinen Kameraden und Leidensgefährten.<br />

So entstanden die ersten Gewerkvereine als die erste Form der modernen<br />

Arbeiterbewegung, die sich mit erstaunlicher Schnelligkeit verbreiteten.<br />

<strong>Die</strong>se erste Phase der Arbeiterbewegung richtete sich lediglich gegen die schreiensten<br />

Mißstände der kapitalistischen Wirtschaft, ohne dieser selbst zu nahe zu treten. Im<br />

Gegenteil, man träumte damals noch von einer Harmonie zwischen Kapital und Arbeit,<br />

und das Losungswort der Arbeiter jener Periode war: „Für redliche Arbeit ein redlicher<br />

Lohn."<br />

Trotzdem erkannte das Unternehmertum sofort die Gefahr, die ihm aus diesen<br />

Vereinigungen der Arbeiter erwachsen mußte, und bot all seinen Einfluß auf, um die<br />

Regierung zu veranlassen, die Gewerkvereine zu unterdrücken. So entstanden im<br />

Jahre 1800 im englischen Parlamente jene infamen Gesetze gegen die Arbeiterorganisationen,<br />

welche den Proletariern jede Vereinigung untersagten, die sich mit der wirtschaftlichen<br />

Verbesserung ihrer Lage befaßte.<br />

<strong>Die</strong>ses brutale Attentat auf das Organisationsrecht der Arbeiter rief in den Kreisen<br />

der letzteren eine ungeheure Verbitterung hervor, die um so begreiflicher war, als die<br />

Arbeiter, wenn sie sich den Gesetzen fügen wollten, der schrankenlosen Ausbeutung<br />

des Unternehmertums wehrlos preisgegeben waren. <strong>Die</strong> englische Arbeiterschaft<br />

fügte sich nicht dem Machtgebot der Bourgeoisie, und da man ihr das Recht geraubt<br />

hatte, öffentlich ihre Sache zu fördern, so mußten die Gewerkschaften im geheimen ihr<br />

Dasein fristen und ihre Zwecke erfüllen. Tausende von Arbeitern sind diesem Kampfe<br />

zum Opfer gefallen. Man warf sie in die Gefängnisse oder verschickte sie auf administrativem<br />

Wege nach den Strafkolonien von Australien, wo sie gestorben und verdorben<br />

sind.<br />

Aber die Arbeiter trotzten allen Gefahren, und die drakonischen Verfolgungen<br />

durch die Regierung machten den Kampf nur erbitterter. <strong>Die</strong> wirtschaftlichen Kämpfe,<br />

welche von den geheimen Gewerkschaften geleitet wurden, nahmen einen außergewöhnlich<br />

heftigen Charakter an und gingen in manchen Fällen bis zum bewaffneten<br />

Aufstand. <strong>Die</strong> Arbeiter zerstörten die Maschinenanlagen, steckten Fabriken in Brand,<br />

verwüsteten die Rohstoffe und bestraften Verräter in ihren Reihen mit dem Tode.<br />

Es ist klar, daß die geheimen Gewerkschaftsorganisationen schwere Opfer in diesem<br />

Kampfe zu bringen hatten, aber selbst die schlimmsten Verfolgungen waren nicht imstande,<br />

die geheimen Verbände der Arbeiter zu vertilgen.<br />

<strong>Die</strong>se Bewegung wurde, wie bereits erwähnt, keineswegs von sozialistischen Ideengängen<br />

inspiriert, sie wurde geboren aus den praktischen Verhältnissen des Lebens<br />

als natürliches Bollwerk gegen die unerhörten Anmaßungen und Ausbeutungsgelüste<br />

des Unternehmertums. <strong>Die</strong> Organisationen der Arbeiter jener Periode waren im<br />

vollen Sinne des Wortes Interessengemeinschaften, die den Zweck verfolgten, die


12 ROCKER: STELLUNG DER I.A.A. ZU DEN VERSCHIEDENEN<br />

Lage der Arbeiter innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft so günstig wie möglich<br />

zu gestalten, und Streiks, Boykotts, Sabotage usw. mußten ihnen in ihrem Kampfe<br />

als Mittel der Aktion dienen.<br />

Nachdem im Jahre 1825 das englische Parlament die Berechtigung der Gewerkschaften<br />

gesetzlich anerkannte, versuchte Robert Owen, der Pionier des englischen<br />

Sozialismus, in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre die Gewerkschaften mit sozialistischem<br />

Geiste zu erfüllen. <strong>Die</strong> „Grand National Consolidated Trades Union", die<br />

er zu diesem Zweck mit anderen ins Leben rief, erfreute sich auch auf kurze Zeit<br />

großer Sympathien unter den Arbeitern, aber sie fiel bald den ungeheuerlichen Verfolgungen<br />

der Regierung zum Opfer. Teilweise hatte auch die neuentstandene Bewegung<br />

der Chartisten dazu beigetragen, ihren Untergang zu besiegeln, da diese erste<br />

Form einer politisch-parlamentarischen Arbeiterbewegung in den breiten Massen des<br />

Proletariats Hoffnungen erweckten, die sich natürlich nicht erfüllen konnten.<br />

Während sich auf diese Weise in England die ersten Organisationen der modernen<br />

Arbeiterbewegung entwickelten, entstanden auf dem Kontinent, vornehmlich in Frankreich,<br />

eine ganze Reihe sozialistischer und sozial-reformistischer Schulen und Richtungen,<br />

die eine mehr oder weniger gründliche Umwälzung der wirtschaftlichen Grundlagen<br />

der Gesellschaft anstrebten. Männer wie Fourier, Saint Simon und ihre Schüler<br />

und etwas später Buchez, Leroux, Cabet, Proudhon, Vidal, Pecqueur, Blanc usw. —<br />

neben ihnen die sozialistischen Jakobiner, die sich in den Geheimgesellschaften zur<br />

Zeit des sogenannten Bürgerkönigtums um die Personen von Blanqui und Barbès<br />

scharten —, hatten trotz ihrer theoretischen und taktischen Differenzen einen Punkt,<br />

in dem sie sich trafen: Sie hatten erkannt, daß rein politische Umwälzungen nicht imstande<br />

waren, die sozialen Probleme, welche die Gesellschaft zerklüften, zu lösen.<br />

Aus diesem Grunde suchten sie in der Umformung der Wirtschaftsbedingungen auf<br />

einer mehr oder weniger sozialistischen Grundlage die Lösung der sozialen Fragen.<br />

Manche von ihnen versuchten dies, indem sie sich jeder politischen Betätigung enthielten;<br />

andere glaubten ihr Ziel am besten zu erreichen durch das Bestreben, die<br />

Politik mit sozialistischen Gedankengängen zu durchsetzen.<br />

<strong>Die</strong> meisten dieser Richtungen — mit Ausnahme der geheimen babouvistischen<br />

Gesellschaften, die zum großen Teile aus Arbeitern bestanden — setzten sich fast<br />

ausschließlich aus den Kreisen der Intellektuellen und Mitgliedern der besitzenden<br />

Klassen zusammen, die aus idealen Gründen eine Beseitigung des sozialen Elends<br />

erstrebten. Allein ihre Ideen fanden zunächst wenig Verständnis unter den Massen.<br />

Erst als sich später aus dem Schoße der französischen Arbeiterklasse die sogenannten<br />

„Assoziationen" als erste Form der dortigen Arbeiterbewegung entwickelten, fanden<br />

die Ideen der sozialistischen Denker auch eine Verbreitung im Proletariat. Besonders<br />

waren es Louis Blanc und nach ihm Proudhon, welche auf die geistige Entwicklung<br />

der Assoziationen, die man übrigens nicht mit den heutigen Genossenschaften verwechseln<br />

darf, wie das häufig geschieht, den größten Einfluß hatten.<br />

Aber diese junge Bewegung der französischen Arbeiterklasse, wie alle anderen<br />

Keime der ersten Arbeiterbewegung in Frankreich, wurden erstickt durch den Staatsstreich<br />

Louis Bonapartes, und als die Bewegung in den sechziger Jahren wieder zu<br />

neuem Leben erwachte, nahm sie mehr und mehr einen gewerkschaftlichen Charakter<br />

an, der von sozialistischen Ideengängen stark beeinflußt wurde.<br />

Aus den Gewerkschaften Englands und Frankreichs entwickelte sich auch später<br />

die „<strong>Internationale</strong> Arbeiter-Assoziation", deren gedankliche Ursprünge sich in jenen<br />

beiden Ländern bis in die dreißiger und vierziger Jahre zurückverfolgen lassen. <strong>Die</strong><br />

<strong>Internationale</strong> war nicht das Ergebnis einiger findigen Köpfe, sie entsprang nicht der<br />

Idee einiger Auserwählten, sie wurde vielmehr aus dem gärenden Schoße der werktätigen<br />

Massen geboren und formte sich nach deren Wünschen und Bedürfnissen.<br />

In demselben Sinne vollzog sich auch die geistige Entwicklung der <strong>Internationale</strong>.<br />

Ihre reichen Quellen sprudelten nicht aus den Studierstuben der Gelehrten, sondern<br />

aus den praktischen Kämpfen des alltäglichen Lebens, aus den tausend Erfahrungen<br />

einer kampfreichen Gegenwart. Waren die Beschlüsse ihrer ersten Kongresse in Genf<br />

(1866) und Lausanne (1867) noch sehr unbestimmt und gemäßigt, so wurden die<br />

praktischen Kämpfe der folgenden Jahre den Arbeitern die beste Schule für die Entwicklung<br />

ihrer Ideen.<br />

<strong>Die</strong> Beschlüsse der Kongresse von Brüssel (1868) und Basel (1869) zeigen uns die<br />

<strong>Internationale</strong> auf dem Höhepunkt ihrer geistigen Entwicklung. Auf dem Kongreß in<br />

Basel entwickelte der Belgier Hins den großen Gedanken von der politischen Einheit


RICHTUNGEN INNERHALB DER ARBEITERBEWEGUNG 13<br />

der Gemeinden und der wirtschaftlichen Reorganisation der Gesellschaft durch die<br />

Gewerkschaften. „Aus dieser doppelten Organisationsform der lokalen Arbeiter-<br />

Vereinigungen und der allgemeinen Industrieverbände", sagte Hins, „würde sich einerseits<br />

die politische Verwaltung der Gemeinde und andererseits die allgemeine Vertretung<br />

der Arbeit, und zwar regional, national und international, ergeben. <strong>Die</strong> Räte<br />

der Berufs- und Industrieorganisationen werden die heutigen Regierungen ersetzen, und<br />

diese Vertretung der Arbeit wird ein für allemal die alten politischen Systeme der<br />

Vergangenheit ablösen."<br />

<strong>Die</strong>ser neue und fruchtbare Gedanke entsprang der Erkenntnis, daß jede neue<br />

Wirtschaftsform des gesellschaftlichen Organismus auch eine neue Form der politischen<br />

Organisation bedingt und sich nur im Rahmen dieser verwirklichen läßt. Aus diesem<br />

Grunde müsse auch der Sozialismus eine besondere politische Ausdrucksform erstreben,<br />

innerhalb derer er ins Leben treten könne, und man glaubte diese Form im Rätesystem<br />

der Arbeit gefunden zu haben. <strong>Die</strong> Arbeiter der romanischen Länder, in welchen die<br />

<strong>Internationale</strong> ihren Hauptrückhalt fand, entwickelten ihre Bewegung auf der Basis<br />

der wirtschaftlichen Kampforganisationen und der sozialistischen Propagandagruppen<br />

und wirkten im Sinne der Baseler Beschlüsse.<br />

Da sie im Staate den politischen Agenten und Verteidiger der besitzenden Klassen<br />

erkannten, so erstrebten sie keineswegs die Eroberung der politischen Macht, sondern<br />

die Ueberwindung des Staates und die Abschaffung der politischen Macht in jeder<br />

Form, in der sie mit sicherem Instinkt die Vorbedingung jeder Tyrannei und Ausbeutung<br />

erkannten. Aus diesem Grunde dachten sie nicht daran, der Bourgeoisie nachzuahmen,<br />

eine neue Partei zu gründen und damit einer neuen Klasse von Berufs-<br />

Politikern die Wege zu ebnen. Ihr Ziel war die Eroberung des Bodens und der<br />

Betriebe, und sie erkannten wohl, daß es dieses Ziel war, das sie grundsätzlich von dem<br />

Politikantentum der radikalen Bourgeoisie unterschied.<br />

Ausgehend von der Erkenntnis, daß die Herrschaft des Menschen über den<br />

Menschen ihre Zeit gehabt, suchten sie sich mit dem Gedanken an die Verwaltung<br />

der Dinge vertraut zu machen. So setzten sie der Regierungspolitik der Parteien die<br />

Wirtschaftspolitik der Arbeit entgegen. Man begriff, daß in den Betrieben und<br />

Industrien die Reorganisation der Gesellschaft im sozialistischen Sinne vorgenommen<br />

werden müsse, und aus dieser Erkenntnis heraus wurde der Rätegedanke in seiner<br />

ursprünglichen und reinen Form geboren.<br />

<strong>Die</strong> freiheitliche Richtung innerhalb der <strong>Internationale</strong> begriff vollkommen, daß<br />

der Sozialismus von keiner Regierung diktiert werden könne, daß er sich vielmehr<br />

organisch von unten nach oben aus dem Schoße des werktätigen Volkes entwickeln<br />

müsse, daß die Arbeiter selber die Verwaltung von Produktion und Konsumtion in<br />

ihre Hände nehmen müßten. <strong>Die</strong>se Idee war es, welche sie dem Staatssozialismus<br />

der verschiedenen Richtungen entgegenstellten. Und diese inneren Gegensätze zwischen<br />

Zentralismus und Föderalismus, diese verschiedenen Auffassungen über die Rolle ;<br />

des<br />

Staates als Uebergangsfaktor zum Sozialismus bildeten auch den Mittelpunkt des<br />

Streites zwischen dem autoritären und antautoritären Flügel des großen Arbeiterbundes.<br />

Marx und Bakunin waren lediglich die hervorragendsten Vertreter in diesem<br />

Kampfe, der einen ausgesprochenen prinzipiellen Charakter hatte und noch hat, wenn<br />

auch das persönliche Element oft mit hineinspielte.<br />

Solange die <strong>Internationale</strong> den Grundzügen ihrer föderalistischen Organisation treu<br />

blieb, blühte sie mächtig empor und entwickelte sich mehr und mehr als die internationale<br />

organisierte Macht der Arbeit gegen das System des internationalen Kapitalismus.<br />

Sogar die verschiedenen Ideenrichtungen in ihren Reihen konnten dieser Entwicklung<br />

keinen Abbruch tun, denn man begriff, daß die Arbeiterbewegung keine<br />

Kirche ist. Allein das änderte sich sofort, als der Generalrat unter dem Einfluß von<br />

Marx und Engels die Rechte der Föderationen zu beeinträchtigen versuchte und dieselben<br />

verpflichten wollte, an der politisch-parlamentarischen Tätigkeit teilzunehmen.<br />

<strong>Die</strong>ser Versuch, die <strong>Internationale</strong> in eine Wahlmaschine zu verwandeln, mußte den<br />

lebhaftesten Protest des freiheitlichen Flügels hervorrufen und führte naturnotwendig<br />

zur Spaltung und zum späteren Untergang des großen Bundes. Es war dies der Anfang<br />

jener traurigen Erscheinung, die sich seither in der Arbeiterbewegung aller Länder<br />

stets wiederholt hat: Während die Organisation auf wirtschaftlicher Grundlage stets<br />

ein Element der Einheit unter den Arbeitern gewesen ist, erwies sich die Politik der<br />

sogenannten sozialistischen Parteien noch immer als ein Faktor der inneren Zersetzungen<br />

und Verflachung.


14 ROCKER: STELLUNG DER I.A.A. ZU DEN VERSCHIEDENEN<br />

Es war ein großes Verhängnis, daß der freiheitliche Sozialismus in den romanischen<br />

Ländern, wo die <strong>Internationale</strong> am stärksten gewesen, nach dem deutschsfranzösischen<br />

Kriege, der Niederlage der Pariser Kommune und den kantonalistischen Aufständen<br />

in Spanien (1873) durch die Ausnahmegesetze der siegreichen Reaktion auf lange Jahre<br />

hinaus in die Schlupfwinkel einer unterirdischen Bewegung gedrängt wurde. Während<br />

dieser Zeit entwickelten sich in den übrigen Ländern, hauptsächlich in Deutschland,<br />

die sogenannten sozialistischen Arbeiterparteien, ein ganz neues Gebilde in der<br />

Arbeiterbewegung, das in seinen Bestrebungen an die Traditionen der französishcen<br />

Staatskommunisten und die Chartisten anknüpfte. Indem diese neuentstandenen Parteien<br />

ihre Wirksamkeit allmählich ganz und gar auf die parlamentarische Betätigung<br />

der Arbeiterklasse einstellten und in der Eroberung der politischen Macht die erste<br />

Vorbedingung für die Verwirklichung des Sozialismus erblickten, schufen sie nach<br />

und nach eine ganz andere Ideologie, die von den sozialistischen Ideengängen, welche<br />

die Arbeiter der ersten <strong>Internationale</strong> verfolgten, wesentlich verschieden war. Der<br />

Parlamentarismus, der in den Arbeiterparteien sehr rasch eine dominierende Stellung<br />

einnahm, lockte eine Menge kleinbürgerlicher Elemente und karrierelüsterner Intellektueller<br />

in das Lager der sozialistischen Parteien, welche diesen Prozeß noch beschleunigen<br />

halfen.<br />

So entwickelte sich an Stelle des Sozialismus der alten <strong>Internationale</strong> eine Art<br />

Ersatzprodukt des Sozialismus, das mit diesem bloß noch den Namen gemein hatte.<br />

<strong>Die</strong> modernen Arbeiterparteien und die unter ihrer geistigen Protektion stehenden<br />

Gewerkschaften entwickelten sich dadurch immer mehr in Bestandteile ihrer respektiven<br />

nationalen Staaten. Der Sozialismus verlor für ihre Führer allmählich den<br />

Charakter eines neuen Kulturideals, das berufen war, die kapitalistische Gesellschaft<br />

abzulösen und infolgedessen an den Grenzen der einzelnen Staaten nicht haltmachen<br />

konnte. Immer mehr vermengte sich ihnen das Interesse des nationalen Staates mit<br />

den Interessen der Partei, bis sie zuletzt überhaupt nicht mehr imstande waren, eine<br />

bestimmte Grenze zu ziehen, was sich besonders in der Zeit des Weltkrieges unzweideutig<br />

offenbarte. So konnte es nicht ausbleiben, daß die sogenannten Arbeiterparteien<br />

sich allmählich als notwendige Bestandteile in das nationale Staatsgefüge eingliederten,<br />

ebenso wie jede andere Institution, die zur Erhaltung und Stärkung desselben<br />

berufen ist.<br />

Aus der Erkenntnis dieser Tatsache entstand dann in der Mitte der neunziger<br />

Jahre die moderne syndikalistische Bewegung, die im Grunde genommen nichts<br />

anderes war als eine natürliche Fortsetzung jener großen Strömung innerhalb der alten<br />

<strong>Internationale</strong>, welche in dem freiheitlichen Flügel derselben ihren Ausdruck fand.<br />

Der revolutionäre Syndikalismus ist die Verkörperung jener Richtung in der modernen<br />

Arbeiterbewegung, die eine wirtschaftliche Vereinigung aller Werktätigen anstrebt, um<br />

diese auf dem Wege direkter und revolutionärer Aktionen vom Joche des Kapitalismus<br />

und der staatlichen Zwangsinstitutionen zu befreien und sie für die Reorganisation<br />

der Gesellschaft auf der Basis des freiheitlichen oder anarchischen Sozialismus vorzubereiten.<br />

Im Gegensatz zu den Arbeiterparteien der verschiedenen Länder ist es dem<br />

Syndikalismus nicht darum zu tun, die Arbeiter in bestimmten politischen Parteien<br />

zusammenzufassen; seine Bestrebungen sind vielmehr darauf eingestellt, die Arbeiter<br />

in ihrer Eigenschaft als Produzenten zu vereinigen und denselben immer weiter vor<br />

Augen zu führen, daß von ihrer produktiven Tätigkeit die gesamte Existenz der<br />

Gesellschaft abhängt.<br />

Es ist also die wirtschaftliche Vereinigung der Arbeiter, welche den Syndikalisten<br />

fortgesetzt vor Augen schwebt und in welcher sie die wesentliche Vorbedingung für<br />

die Befreiung der proletarischen Klassen erblicken. Für die Syndikalisten ist der Sinn<br />

der Organisation kein toter mechanischer Begriff, sondern eine durch die inneren<br />

Zusammenhänge des gesellschaftlichen Lebens bedingte Erscheinung, die in den unzähligen<br />

und mannigfachen Bedürfnissen der Menschen ihrer Ursprung findet. <strong>Die</strong><br />

Aufgaben der Organisation können nur erfüllt werden, wenn die gegenseitigen Interessen,<br />

Bedürfnisse und Willenskundgebungen ihrer Mitglieder in ihr fest verankert<br />

und organisch verwachsen sind. Nur von diesem Standpunkt aus betrachtet, bekommt<br />

auch die heute so viel umstrittene Frage der Einheitsorganisation wirklich Sinn und<br />

Bedeutung. Im Gegensatz zu den politischen Arbeiterparteien erblicken die Syndikalisten<br />

in der Wirtschaftsorganisation die natürliche und eigentliche Basis der proletarischen<br />

Einheit. Partei ist stets Bruchstück eines Ganzen, das von außen her dem<br />

Ganzen seine Sonderziele aufdrängen will. <strong>Die</strong> innere Einheit der Arbeiterklasse


RICHTUNGEN INNERHALB DER ARBEITERBEWEGUNG 15<br />

bedeutet daher kein willkürliches Zusammenkoppeln sich widerstrebender Elemente<br />

unter dem Zwange einer toten Disziplin, sie muß vielmehr den Gesamtbedürfnissen<br />

der gemeinschaftlichen Interessen und Bestrebungen entspringen und in diesen ihre<br />

natürliche Basis finden. Nicht die eine Organisation ist das Entscheidende, sondern<br />

die Gemeinschaftlichkeit der Interessen und Bestrebungen. Nur in der Wirtschaltsorganisation<br />

des Proletariats ist eine solche Einheit möglich, weil hier der Arbeiter<br />

direkt mit seinem Werke verbunden und persönlich Träger, Kämpfer und Verteidiger<br />

seiner Interessen ist, während er in der sogenannten Politik stets nur äußere Staffage<br />

für den Ehrgeiz der Parteien und Werkzeug für bestimmte Sonderinteressen ist, die<br />

man ihm fälschlicherweise als seine eigenen unterschiebt<br />

Der revolutionäre Syndikalismus ist eine Klassenbewegung und steht als solche<br />

auf dem Boden des revolutionären Klassenkampfes und der direkten Aktion. Seine<br />

Aufgabe ist eine doppelte: Er ist einerseits bestrebt, die Lage der Arbeiter innerhalb<br />

der kapitalistischen Gesellschaftsordnung so günstig wie möglich zu gestalten und<br />

durch die Anwendung revolutionärer Kampfmittel, wie Streiks, Boykott, Sabotage usw.,<br />

die Arbeit gegen die Anschläge der Ausbeuter und des Staates zu schützen. Andererseits<br />

betrachtet er es als seine vornehmste Aufgabe, eine neue soziale Ordnung der<br />

Dinge anzubahnen und praktisch in die Wege zu leiten, in welcher die Verwaltung<br />

des gesamten wirtschaftlichen und sozialen Lebens in den Händen des werktätigen<br />

Volkes selbst ruhen wird. Es ist diese Aufgabe, welche dem revolutionären Syndikalismus<br />

sein besonderes Gepräge und seine geschichtliche Bedeutung für die Zukunft<br />

gibt. Denn nur in der vom revolutionären Geiste erfüllten Wirtschaftsorganisation<br />

der Arbeiter kann sich die Reorganisation der Gesellschaft vorbereiten und im<br />

gegebenen Moment feste Gestalt annehmen. Sie ist Interessengemeinschaft und Ideengemeinschaft<br />

in derselben Zeit und verwirft prinzipiell jeden Dualismus in der Arbeiterbewegung,<br />

welcher die geistigen Bestrebungen der Arbeiter und die Wahrnehmung<br />

ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen in besondere organisatorische<br />

Formen zu kleiden bestrebt ist.<br />

Wenn der revolutionäre Syndikalismus jede Möglichkeit wahrnimmt, den<br />

momentanen Bedürfnissen der Arbeiter Rechnung zu tragen, und stets bestrebt ist,<br />

direkte Aktionen einzuleiten, um eine Besserung ihrer wirtschaftlichen Bedingungen<br />

oder bestimmte Verbesserungen auf politischem und sozialem Gebiet zu erzielen, so<br />

geschieht dies stets unter der Voraussetzung, daß durch dergleichen Zugeständnisse<br />

den Arbeitern zwar bestimmte und augenblickliche Vorteile entstehen, aber an ihrer<br />

Stellung als Lohnsklaven nichts geändert wird. Aus diesem Grunde müssen solche<br />

Kämpfe des Alltags stets unter Hinweis der großen Ziele der Bewegung geführt und<br />

sozusagen als Vorpostengefechte für ihre endgültige Befreiung betrachtet, die stets im<br />

Kampfe gegen das Unternehmertum und gegen die Autorität des Staates errungen<br />

werden. Es ist diese Einstellung, welche den Syndikalismus von allen reformistischen<br />

Richtungen sowohl seinen Zielen als auch seinen Methoden nach grundsätzlich unterscheidet.<br />

Aber die fortgesetzten Kämpfe für die Eroberung des täglichen Brotes und die<br />

Verbesserung der ellgemeinen Lebenslage haben auch noch eine andere Bedeutung,<br />

welche ihnen einen hohen ethischen Wert verleihen. Sie sind die beste Erziehungsschule<br />

für die Arbeiter, für die praktische Anwendung und Vertiefung ihrer sozialen<br />

Empfindungen und ihrer persönlichen Initiative im Rahmen der gegenseitigen Hilfe<br />

und des solidarischen Zusammenwirkens. So wird die Gewerkschaft Erziehungsstätte<br />

für die stete Entwicklung der geistigen und sittlichen Fähigkeiten des Proletariers und<br />

Betätigungsfeld für die Entfaltung seiner besten sozialen und individuellen Eigenschaften.<br />

<strong>Die</strong> wirtschaftliche Kampforganisation wird ihm auf diese Weise zum Hebel<br />

in seinem fortgesetzten Kampfe gegen die Mächte der Ausbeutung und Unterdrückung<br />

und in derselben Zeit zur Brücke, auf welcher die Arbeiter aus der Hölle des kapitalistischen<br />

Staatssystems in das Reich des Sozialismus und der Freiheit gelangen werden.<br />

Denn auch für die Reorganisation der Gesellschaft im Sinne des Sozialismus ist<br />

die wirtschaftliche Kampforganisation die einzig gegebene Basis, während die Partei<br />

sich gerade auf diesem Gebiete als völlig bedeutungslos und unfähig erweisen muß.<br />

<strong>Die</strong> gewaltigen Ereignisse, die sich im Laufe der letzten fünf Jahre in Rußland und<br />

Mitteleuropa abgespielt haben, legen beredtes Zeugnis dafür ab, daß politische Parteien,<br />

beherrscht von den alten Ueberlieferungen der bürgerlichen Revolutionen, zwar<br />

imstande sind, die staatliche Macht zu erobern, daß ihnen aber zu einer wirtschaftlichen<br />

und sozialen Reorganisation des gesellschaftlichen Organismus nicht weniger wie alles


16 ROCKER: STELLUNG DER I.A.A. ZU DEN VERSCHIEDENEN<br />

fehlt. Soziale Bewegungen und Neuschöpfungen der Gesellschaft werden eben nicht<br />

gemacht durch Staatsdekrete und gesetzliche Verordnungen von oben; sie entwickeln<br />

sich vielmehr aus dem Schöße der Massen, aus der freien Auswirkung aller schöpferischen<br />

Kräfte im Volke, welche durch die auf Schablonenarbeit und totes Mechanisieren<br />

eingestellte Routine einer Regierung, wie revolutionär sie sich immer gebärden<br />

möge, in ihrer natürlichen Entfaltung gehemmt und allmählich ganz erstickt werden.<br />

Gerade Rußland hat in dieser Hinsicht ein mahnendes Beispiel gegeben, dessen<br />

unheilvolle Konsequenzen für die gesamte internationale Arbeiterschaft in ihren Einzelheiten<br />

heute noch gar nicht zu übersehen sind. Indem dort die sogenannte Diktatur<br />

einer bestimmten Partei alle natürlichen Organe des gesellschaftlichen Wiederaufbaues<br />

entweder gewaltsam zerstört hat, wie dies mit dem großen Netz der Genossenschaften<br />

der Fall war, oder andere, wie die Gewerkschaften und die Sowjets, in einfache<br />

Institutionen des neuen Staates umgestaltete, hat sie in derselben Zeit alle Vorbedingungen<br />

zur Verwirklichung des Sozialismus künstlich unterbunden und ist heute<br />

mehr und mehr gezwungen, sich auf den Weg der kapitalistischen Wirtschaftsweise<br />

zurückzubegeben. <strong>Die</strong> Diktatur war zwar imstande, ein politisches Unterdrückungssystem<br />

zu entwickeln, welches den Despotismus des zarischen Regimes weit in den<br />

Schatten stellte, aber sie erwies sich vollständig unbrauchbar und versagte völlig, als<br />

es sich um eine schöpferische Umgestaltung der Wirtschaft handelte.<br />

<strong>Die</strong> revolutionären Syndikalisten sind der Meinung, daß jede neue Wirtschaftsform<br />

auch eine neue Form der politischen Organisation nach sich zieht, ja, daß sie<br />

sich nur innerhalb dieser neuen politischen Form des gesellschaftlichen Lebens durchsetzen<br />

und entwickeln kann. So fand das Gildensystem des Mittelalters seinen<br />

politischen Ausdruck in der Freien Stadt, der Feudalismus und das System der Hörigkeit<br />

im absoluten Königstum, die Wirtschaftsform des Kapitalismus im modernen Vertretungsstaat.<br />

Es ist daher klar, daß auch die sozialistische Wirtschaftsordnung ihre<br />

besondere politische Organisationsform auswirken und entwickeln muß, wenn sie nicht<br />

von Anfang an zur Unfruchtbarkeit verdammt sein will. Aber diese neue Form der<br />

politischen Organisation der Zukunft kann weder der Vergangenheit entlehnt, noch<br />

der Gegenwart willkürlich nachgeahmt werden. Sie muß vielmehr das unmittelbare<br />

Ergebnis der Neueinteilung des gesamten Wirtschaftslebens sein und in diesem ihre<br />

natürliche Begründung und Stütze finden. Zusammen mit dem System der Wirtschaftlichen<br />

Monopole und der Ausbeutung der Massen muß auch das System der politischen<br />

Bevormundung und Beherrschung verschwinden, das durch jenes bedingt ist, oder —<br />

um mit Saint Simon zu sprechen — die Kunst, Menschen zu regieren, muß durch die<br />

Kunst, Dinge zu verwalten, ersetzt werden.<br />

Eine sozialistische Wirtschaftsordnung, in welcher die gesamte Verwaltung der<br />

gesellschaftlichen Produktion und Verteilung in den Händen des werktätigen Volkes<br />

liegt, kann sich niemals innerhalb der starren Grenzen eines politischen Zwangsapparates<br />

durchsetzen, sie muß ihre natürliche politische Ergänzung vielmehr direkt<br />

in den Betrieben, in den verschiedenen Zweigen der industriellen und landwirtschaftlichen<br />

Berufe haben und findet im Rätesystem ihren vollendeten Ausdruck. Jedoch<br />

muß jede äußere Macht über den Räten und jede Beherrschung und Bevormundung<br />

derselben durch politische Parteien oder durch bestimmte Gruppen sozialistischer<br />

Berufspolitiker von vornherein ausgeschaltet werden, wenn die gesellschaftliche<br />

Reorganisation nicht vom ersten Schritte an gestört und auf staatskapitalistische Abwege<br />

geraten soll.<br />

<strong>Die</strong> Behauptung der sozialistischen Parteipolitiker der verschiedensten Schulen<br />

und Richtungen, daß die Eroberung und Beibehaltung der Staatsmaschine wenigstens<br />

für die Zeit des „Uebergangs" unumgänglich sei, beruht auf vollständig falschen Voraussetzungen<br />

und rein bürgerlichen Ideengängen. <strong>Die</strong> Geschichte kennt in diesem<br />

Sinne keine „Uebergangsperioden", sondern lediglich primitivere oder höhere Formen<br />

der gesellschaftlichen Entwicklung. Jede neue Gesellschaftsordnung ist in ihren<br />

ursprünglichen Ausdrucksformen naturgemäß primitiv und unvollendet. Nichtsdestoweniger<br />

aber müssen die Anlagen ihrer ganzen zukünftigen Entwicklung schon in allen<br />

ihren späteren Entfaltungsmöglichkeiten in jeder ihrer neugeschaffenen Institutionen<br />

gegeben sein, ebenso wie in einem Embryo bereits das ganze Tier oder die ganze<br />

Pflanze vorhanden sind.<br />

Jeder Versuch, einer neuen Ordnung der Dinge wesentliche Bestandteile eines<br />

alten, in sich überlebten Systems einverleiben zu wollen, hat bisher stets zu denselben<br />

Ergebnissen geführt: entweder wurden solche Versuche von der neuen Entwicklung


RICHTUNGEN INNERHALB DER ARBEITERBEWEGUNG 17<br />

der sozialen Lebenserscheinungen bald im Anfang vereitelt, oder aber die zarten<br />

Keime des Neuen wurden von den starren Formen des Gewesenen so stark eingeengt<br />

und in ihrer natürlichen Entfaltung gehemmt, bis ihre innere Lebensfähigkeit allmählich<br />

abstarb und zugrunde gehen mußte.<br />

Aus diesem Grunde bekämpfen die revolutionären Syndikalisten auch den trügerischen<br />

Wahn der sogenannten „Diktatur des Proletariats", der heute weite Kreise der<br />

Arbeiterschaft in seinen Bann geschlagen hat. Sie erblicken in diesen Bestrebunger<br />

nur eine neue Gefahr für die Befreiung der Arbeiterklasse, die letzten Endes, wie<br />

uns das russische Beispiel gezeigt hat, zu einer Diktatur bestimmter Parteien über<br />

das Proletariat führen muß. Der ganze Diktaturgedanke ist nicht bloß ein Erbteil der<br />

alten rein bürgerlichen Auffassungen des Jakobinertums, er ist auch der schlimmste<br />

Feind jeder revolutionären Entwicklung, indem er die schöpferischen Bestrebungen der<br />

Massen, welche für den Erfolg einer Revolution die ersten Vorbedingungen sind, in die<br />

starren Formen einer toten Schablone hineinzupressen versucht und sie dadurch im<br />

Keime erstickt. Das konnten wir am besten in Rußland beobachten, wo die Diktatur<br />

der bolschewistischen Partei die Revolution in keiner Weise gefördert, sondern sie<br />

buchstäblich paralysiert und getötet hat. Aus diesem Grunde ist die Diktatur bisher<br />

das Ideal aller Reaktionäre gewesen und wird auch in den Händen sogenannter<br />

Revolutionäre stets ein Mittel bleiben, einer neuen Reaktion die Wege zu ebnen.<br />

Aus dieser prinzipiellen Einstellung der revolutionären Syndikalisten geht die<br />

Stellung der I.A.A. allen anderen Richtungen in der Arbeiterbewegung gegenüber klar<br />

hervor. Es ist zweifellos, daß die in der I.A.A. vereinigten Landesföderationen eine<br />

besondere Richtung in der Arbeiterbewegung repräsentieren, sowohl in bezug auf die<br />

Ziele, welche sie verfolgen, als auch auf die Methoden, durch welche sie diese Ziele<br />

zu erreichen streben. Sind wir überzeugt, daß die Befreiung der Arbeiterklasse sich<br />

nur auf dem Wege vollziehen kann, den wir den Massen stets propagieren, so müssen<br />

wir auch stets darauf bedacht sein, die organisatorische Selbständigkeit der I.A.A. unter<br />

allen Umständen zu wahren, wenn wir nicht anders mit eigenen Händen das Werk<br />

zerstören wollen, das wir geschaffen haben.<br />

Gewiß betrachten wir die Arbeiter, die in anderen Lagern der internationalen<br />

Arbeiterbewegung vereinigt sind, nicht als unsere Feinde. Es sind unsere Klassenbrüder<br />

und Leidensgenossen, welche unter demselben Drucke leiden, wie wir selber,<br />

und wir haben alles Interesse daran, sie für unsere Ideen zu gewinnen. Unsere<br />

Stellung diesen Arbeitern gegenüber ist stets getragen vom Gefühle der Klassensolidarität,<br />

und wir müssen stets darauf bedacht sein, in ihnen die Gewißheit zu<br />

erwecken, daß sie in allen großen Kämpfen, welche das Unternehmertum und der<br />

Staat ihnen aufzwingen, auf uns rechnen können. Mit einem Worte: wir fühlen uns<br />

verbunden mit den Arbeitern aller Richtungen und Parteien innerhalb der allgemeinen<br />

sozialistischen Bewegung durch das Band als Klasse.<br />

Ganz anders aber ist unsere Stellung den Organisationen gegenüber, welchen diese<br />

Arbeiter angehören. Hier handelt es sich um grundverschiedene geistige Einstellungen<br />

und taktische Voraussetzungen, denen wir nicht bloß kritisch gegenüberstehen, sondern<br />

die wir des Öfteren direkt bekämpfen müssen, weil die Erfahrungen langer Jahre und<br />

die innerste Ueberzeugung uns zeigen, daß diese Bestrebungen ein direktes Hindernis<br />

sind für die Befreiung der Arbeiterklasse.<br />

So ist unsere Stellung den modernen Arbeiterparteien gegenüber klar gegeben.<br />

Schon unsere Pioniere aus der Zeit der I. <strong>Internationale</strong> haben den Befürwortern der<br />

parlamentarischen Aktion vorausgesagt, daß ihre Taktik mit Naturnotwendigkeit zu<br />

einer vollständigen Preisgabe aller sozialistischen Prinzipien und zur Verbürgerlichung<br />

der ganzen Bewegung führen müsse. Heute sehen wir auf der ganzen Linie, daß diese<br />

Befürchtungen nur zu gut begründet waren. <strong>Die</strong>selben Leute, die auszogen, um die<br />

politische Macht zu erobern, haben als einziges Ergebnis zu verzeichnen, daß ihre<br />

Politik ihren Sozialismus längst erobert hat. <strong>Die</strong> sogenannten Arbeiterparteien fingen<br />

in ihrer Jugend damit an, den Parlamentarismus als Agitationsmittel zu betrachten,<br />

und die meisten von ihnen, besonders in Deutschland, lehnten zunächst jede positive<br />

Mitarbeit im Parlament prinzipiell ab. Aber aus dem sogenannten „negativen Parlamentarismus"<br />

ergab sich später ganz von selbst die positive Mitarbeit an der Gesetzgebung,<br />

und, nachdem man einmal so weit gekommen war, ergab sich alles andere<br />

mit fatalistischer Folgerichtigkeit.<br />

Der Revisionismus, der zuerst für die Anteilnahme der Sozialisten an den bürgerlichen<br />

Regierungen eintrat, wurde zunächst stark bekämpft, und der <strong>Internationale</strong>


18<br />

ROCKER: STELLUNG DER I.A.A. ZU DEN VERSCHIEDENEN<br />

Sozialistenkongreß in Paris nahm noch im Jahre 1900 jene berühmte Resolution von<br />

Kautsky an, in der erklärt wurde, daß die „Sozialdemokratie einen Anteil an der<br />

Regierungsgewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht erstreben kann". Seitdem<br />

hat sich das Bild vollständig geändert. Der Revisionismus siegte auf der ganzen<br />

Linie, und die sozialistischen Arbeiterparteien der verschiedenen Länder sind heute<br />

so stark verwachsen mit den Gebilden der nationalen bürgerlichen Staaten, daß sie<br />

nur noch als Bestandteile derselben aufgefaßt werden können und für die Bestrebungen<br />

einer internationalen Befreiung der Arbeiter aus den Ketten der Lohnsklaverei und<br />

des Klassenstaates überhaupt nicht mehr in Betracht kommen.<br />

Auch die Staatsauffassung dieser Parteien hat sich heute grundsätzlich geändert.<br />

Vertraten die meisten von ihnen den alten marxistischen Standpunkt, daß mit dem<br />

Verschwinden der Klassen auch der Staat langsam absterben müsse, so sind heute die<br />

namhaftesten Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie der Ansicht, daß der Staat<br />

in der Zukunft seiner Herrschaft über die verschiedensten Gebiete des gesellschaftlichen<br />

Lebens noch weit verstärken werde, und daß die Voraussetzungen von Marx und<br />

Engels in dieser Hinsicht durchaus falsch gewesen sind.<br />

Daß die I.A.A. mit diesen Richtungen nicht paktieren kann, ist ebenso klar als<br />

selbstverständlich. Es handelt sich hier um Strömungen, die ihrer ganzen prinzipiellen<br />

und taktischen Einstellung nach uns diametral entgegengesetzt sind. Auch ist es ganz<br />

natürlich, daß ein Zusammengehen von Richtungen, von denen die eine ihre ganze<br />

Tätigkeit fast ausschließlich auf die parlamentarische Betätigung abgelegt hat, während<br />

die andere den Arbeitern immer wieder versichert, daß ihre Ziele nur auf dem Wege<br />

der direkten Aktion zu erreichen sind, unmöglich ist. Wohl verwerfen auch wir nicht<br />

die politische Aktion, schon deshalb nicht, weil ja jeder größere Wirtschaftskampf,<br />

jede antimilitaristische oder gegen den Staat gerichtete Propaganda an und für sich<br />

politischer Natur sind, aber wir lehnen prinzipiell jenen Teil der politischen Aktion<br />

ab, der in der parlamentarischen Betätigung zum Ausdruck kommt, weil wir in derselben<br />

nur eine Irreführung der Arbeiter sehen.<br />

Aber auch in bezug auf die Kommunistische Partei und ihre verschiedenen Filialen<br />

in Europa und Amerika kann unsere Stellung keine andere sein. Sie hat alle Fehler<br />

und Gebrechen des zentralistischen Parteiwesens auf die Spitze getrieben und ist<br />

autoritär bis auf die Knochen. In der Wirklichkeit sind die kommunistischen Parteien<br />

der verschiedenen Länder lediglich Organe der auswärtigen Politik der russischen<br />

Kommissariokratie, die auf denselben Machtprinzipien aufgebaut ist wie jeder andere<br />

Klassendespotismus. Für die Befreiung der Arbeiter vom Joche der Lohnarbeit und<br />

der staatlichen Bevormundung kommt die K.P. ebensowenig in Betracht wie die<br />

sozialdemokratischen Parteien, von denen sie sich übrigens prinzipiell gar nicht unter<br />

scheidet. Sind die letzteren Sicherheitsventile für die besitzenden Klassen, so ist die<br />

K.P. nur ein politisches Druckmittel für die Regierungskünste des bolschewistischen<br />

Staates. Dazu kommt noch, daß gerade die Kommunistische Partei durch ihre<br />

jesuitische Methode der Zellenbildung innerhalb anderer Arbeiterorganisationen, um<br />

dieselben zu zertrümmern, eine besondere Gefahr geworden ist. Es war diese Tatsache,<br />

welche die Anarcho-Syndikalisten Deutschlands seinerzeit auf ihrem Kongreß<br />

in Düsseldorf dazu brachte, den Beschluß zu fassen, daß die Mitglieder ihrer Organisation<br />

keiner politischen Partei angehören können. Selbstverständlich ist es nicht<br />

meine Absicht, diesem Beschlüsse internationale Geltung verschaffen zu wollen. Das<br />

ist Sache der Organisationen in den einzelnen Ländern. Es genügt mir, an dieser<br />

Stelle noch einmal auf eine Gefahr hinzuweisen, die auch für unsere Organisationen<br />

besteht und nicht von der Hand zu weisen ist.<br />

Was nun die beiden Gewerkschafts-<strong>Internationale</strong>n von Amsterdam und Moskau<br />

anbetrifft, so könnte ich hier fast dasselbe wiederholen, was ich bereits in bezug auf<br />

die sogenannten Arbeiterparteien gesagt habe. <strong>Die</strong> Amsterdamer <strong>Internationale</strong> ist<br />

das Symbol des vollendetsten Reformismus auf gewerkschaftlichem und politischem<br />

Gebiete. Obwohl die ihr angeschlossenen Landeszentralen organisatorisch selbständige<br />

Körperschaften vorstellen, so stehen sie aber vollständig unter dem geistigen Einfluß<br />

der reformistischen Arbeiterparteien, mit denen sie fast überall Hand in Hand zusammenarbeiten.<br />

<strong>Die</strong>se Einstellung bedingt nicht bloß ihre possibilistische Haltung<br />

allen Bestrebungen der Zukunft gegenüber, sie ist auch entscheidend für ihre Methoden,<br />

die sich immer mehr auf ein fortgesetztes Verhandeln unter möglichster Ausschaltung<br />

aller größeren Kämpfe eingestellt hat. Dadurch wird nicht nur der Kampfesmut der<br />

Arbeiter systematisch gebrochen, sondern allen wirklichen Klassenkämpfen direkt die


RICHTUNGEN INNERHALB DER ARBEITERBEWEGUNG 19<br />

Spitze abgebrochen, wodurch die Befreiung der Arbeiter in unabsehbare Ferne geschoben<br />

wird.<br />

<strong>Die</strong> sogenannte Rote Gewerkschafts-lnternationale aber ist nie etwas anderes gewesen<br />

als eine Filiale der Kommunistischen Partei. Ihre Satzungen und Statuten sind<br />

für den revolutionären und antiautoritären Syndikalismus ebenso unvereinbar wie die<br />

Prinzipien der Amsterdamer. Nachdem es der R.G.I. endgültig mißlungen ist, die<br />

Organisationen des revolutionären Syndikalismus für die Zwecke der K.P. einzufangen,<br />

ist man in Moskau nunmehr bestrebt, mit Amsterdam eine Verschmelzung herbeizuführen,<br />

die früher oder später sicher Tatsache werden wird. Herr Losowsky hat<br />

heute vergessen, daß er die Amsterdamer <strong>Internationale</strong> noch vor einigen Jahren ein<br />

„schlimmeres Gebilde als die sogenannten Orgesch-Organisationcn der deutschen<br />

Faschisten" nannte, und sucht heute mit allem Eifer den Anschluß an Amsterdam.<br />

Und das ist eigentlich nur selbstverständlich, denn die staatssozialistischen Bestrebungen<br />

beider Richtungen, die in der Wirklichkeit nur als staatskapitalistisch bezeichnet werden<br />

können, sind dieselben, wenn auch in der Phraseologie beider vorläufig noch ein<br />

gewisser Unterschied vorhanden ist.<br />

Auch diesen Richtungen gegenüber stellt die I.A.A. ein bestimmtes Prinzip und<br />

eine bestimmte Methode dar, die in derselben Zeit den inneren Gegensatz zwischen<br />

unserer <strong>Internationale</strong> und den <strong>Internationale</strong>n von Moskau und Amsterdam klar und<br />

eindeutig bekunden. Hie Sozialismus — hie Staatskapitalismus. Hie Organisation von<br />

unten nach oben auf der Basis des Föderalismus und der freien Vereinbarung — hie<br />

diktatorische Bevormundung der Massen durch eine bestimmte Führeroligarchie auf<br />

der Basis des Zentralismus. Hie Freiheit — hie Autorität. Und aus dieser Verschiedenheit<br />

der Prinzipien ergibt sich auch die Verschiedenheit der Methoden, die<br />

mit den ersteren eng verbunden sind.<br />

Aus diesem Grunde dürfen wir uns durch das hysterische Geschrei, besonders der<br />

Moskauer, nicht täuschen lassen, das nur dem Zwecke dient, den Weg der R.G.I. nach<br />

Damaskus zu verschleiern. Einheit um jeden Preis ist nur ein gewöhnliches Schlagwort,<br />

ohne Sinn und Inhalt. Es gibt eine Einheit, welche sich aus der Gemeinschaftlichkeit<br />

der Interessen, der geistigen Einstellung und der allgemeinen Bestrebungen<br />

von selbst ergibt. In diesem Falle bedeutet die Einheit Stärke und Entwicklung der<br />

Ideen. Aber es gibt auch eine fiktive Einheit, welche die Zusammenkoppelung sich<br />

innerlich widerstrebender Elemente durch eine blinde und geistlose Disziplin erreichen<br />

will. In diesem Falle bedeutet die Einheit Schwäche und Tod jeder geistigen Entwicklung.<br />

Wir sind keine Sektierer. Wir wissen, daß man in einer Organisation und besonders<br />

nicht in einer internationalen Vereinigung verschiedener Landesorganisationen<br />

alles auf einen Ton abstimmen kann. Im Gegenteil, wir sind sogar der Meinung, daß<br />

verschiedene Meinungen über gewisse Fragen innerhalb derselben Organisation von<br />

großem Nutzen sein können, indem sie die geistige Entwicklung fördern und zur<br />

Selbständigkeit des Urteils anregen. <strong>Die</strong>selbe Erscheinung macht sich auch in der<br />

I.A.A. bemerkbar. Aber trotz gewisser Verschiedenheiten zwischen uns, die zum<br />

großen Teile durch die Entwicklungsbedingungen der Bewegung in den verschiedenen<br />

Ländern gegeben sind, gibt es bestimmte Richtlinien, über die wir uns einig sind und<br />

welche das Band der organisatorischen Einheit zwischen uns knüpfen. Eine solche<br />

Einheit auf Grund kleiner Verschiedenheiten von sekundärer Bedeutung willkürlich<br />

zertrümmern zu wollen, wäre nicht bloß Torheit, sondern ein direktes Verbrechen an<br />

der Sache, die wir vertreten.<br />

Aber ebenso verderblich ist es, wenn man aus rein opportunitären Gründen eine<br />

organisatorische Einheit zwischen verschiedenen Richtungen erzwingen will, die sich<br />

weder ihren Prinzipien noch ihren Methoden nach miteinander vereinigen lassen. In<br />

solchen Fällen handelt es sich stets um eine Art geistiger Vergewaltigung, die einer<br />

Bewegung nie zum Nutzen gereichen kann.<br />

Wenn Fernand Pelloutier seinerzeit die gewerkschaftliche Einheit der Arbeiter den<br />

politischen Parteien gegenüber vertrat, so war dieser Gedanke eine große und fruchtbare<br />

Idee, aus der heraus der revolutionäre Syndikalismus sich erst richtig entwickeln<br />

konnte. Aber wenn unsere Kameraden in Frankreich heute aus jenem Gedanken eine<br />

Art Dogma gemacht haben und immer noch glauben, daß sich eine Vereinigung<br />

zwischen Elementen erreichen lasse, die man schlechterdings nicht vereinigen kann,<br />

so werden sie die Opfer einer Tradition, welche dem revolutionären Syndikalismus


20 DISKUSSION ÜBER STELLUNGEN DER I.A.A ZU DEN VERSCHIE-<br />

nicht förderlich ist, sondern ihn unwiderruflich vernichten muß. Den guten Willen<br />

unserer Genossen in Ehren, aber die Erfahrung hat uns gezeigt, daß ihre krampfhaften<br />

Versuche, eine Einheit zustande bringen zu wollen, die in Wirklichkeit keine Einheit<br />

ist und durch innere Zerrissenheit die Schlagkraft der ganzen Bewegung nur lähmen<br />

mußte, den revolutionären Syndikalismus in seinem Mutterlande nur geschwächt haben,<br />

Eine klare und entschlossene Stellung hätte nicht nur der I.A.A. einen Boden in Frankreich<br />

schaffen können und die Kameraden dort mit den revolutionären Syndikalisten<br />

aller Länder vereinigt, sie hätte auch den Triumph der Kommunistischen <strong>Internationale</strong><br />

über die C.G.T.U. wesentlich abschwächen und beeinträchtigen können.<br />

Nimmt man alle diese Dinge in Betracht, so ist es klar, daß die I.A.A. unter<br />

allen Umständen ihre Selbständigkeit allen anderen Richtungen in der Arbeiterbewegung<br />

gegenüber wahren muß, wenn sie nicht ihre Ziele und das große Erbe des<br />

antiautoritären Flügels der ersten <strong>Internationale</strong>, deren Namen sie trägt, preisgeben<br />

will. Gewiß gibt es auch für uns Momente, wo ein Zusammengehen mit anderen<br />

Richtungen notwendig und durch die Verhältnisse bedingt sein kann, aber sogar in<br />

solchen Fällen bleibt die Wahrung der organisatorischen Selbständigkeit der I.A.A.<br />

das oberste Gebot.<br />

So ist meiner Meinung nach ein ersprießliches und engeres Zusammenarbeiten<br />

mit antiautoritären Ideengruppen, soweit dieselben die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen<br />

Organisation anerkennen und die Ziele der I.A.A. fördern helfen, nicht<br />

nur möglich, sondern auch höchst wünschenswert. Es wäre töricht, jene Gruppierungen<br />

auf dieselbe Stufe wie politische Parteien stellen zu wollen. So haben wir z. B.<br />

in Spanien gesehen, daß seit der Zeit der ersten <strong>Internationale</strong> ein harmonisches Zusammenarbeiten<br />

zwischen den anarchistischen Kameraden und der gewerkschaftlichen<br />

Bewegung stattgefunden hat, welches der allgemeinen Bewegung nur förderlich war,<br />

und es wäre sehr betrüblich, wenn dieses Verhältnis dort jemals gestört werden<br />

sollte. Der Anarchismus hat dort mit seinem Geiste die Gewerkschaften erfüllt und<br />

ihnen Ziel und Richtung gegeben, während andererseits die gewerkschaftliche Bewegung<br />

die Anarchisten davor bewahrt hat, den engen Kontakt mit der Arbeiterbewegung<br />

und ihren täglichen Kämpfen zu verlieren. Aehnlich liegen die Verhältnisse<br />

in manchen anderen Ländern, besonders in Südamerika. Mit demselben Maßstabe<br />

können unsere geistigen Beziehungen auch zu den antimilitaristischen Organisationen<br />

und anderen kulturellen Gruppierungen, die unseren Ideen nahestehen, gemessen<br />

werden. Natürlich müssen in solchen Dingen immer die besonderen Verhältnisse in<br />

jedem Lande herangezogen und von den Genossen selbst geprüft werden.<br />

Aber es gibt auch Möglichkeiten, wo es sich nicht bloß um ein Zusammenarbeiten<br />

mit geistig verwandten Richtungen handelt, sondern wo ein solches auch mit allen<br />

anderen Richtungen in der Arbeiterbewegung bedingt wird, auch wenn die Bestrebungen<br />

derselben den unseren direkt entgegengesetzt sind. Solche Fälle werden<br />

durch plötzliche Ereignisse politischer oder sozialer Natur von selbst bestimmt. Ich<br />

erinnere z. B. an den Kapp-Putsch in Deutschland. Es war klar, daß bei diesem Versuch<br />

zur Wiederherstellung der Monarchie und des alten Regimes alle Richtungen<br />

innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung zusammenarbeiten mußte. Jeder Versuch,<br />

sich einer solchen Erscheinung gegenüber neutral zu verhalten, wäre nicht bloß Wasser<br />

auf die Mühle der Reaktion, sondern auch ein direkter Selbstmord an der eigenen<br />

Bewegung.<br />

Aber zu welchen Schritten und Bündnissen die Verhältnisse uns immer drängen<br />

mögen, nie dürfen wir dabei die Selbständigkeit unserer einzelnen Landesorganisationen<br />

im besonderen und der I.A.A. im allgemeinen aus den Augen lassen, wenn wir unserer<br />

Bewegung und dem freiheitlichen Sozialismus zum Siege verhelfen wollen. Nur in<br />

diesem Sinne wird die I.A.A. blühen und gedeihen und imstande sein, die großen<br />

Aufgaben zu erfüllen, die sie sich gestellt hat.<br />

Diskussion über Darauf setzte die Diskussion ein über die von Rocker vorgelegte Reso-<br />

Vortrag Rocker.<br />

lution. Während mit dem Vortrag Rockers alle Diskussionsredner einverstanden<br />

waren, hatten sie doch an der Resolution etwas auszusetzen.<br />

Rousseau, Holland, meint, man dürfe nicht das eine Mal mit den Parteien<br />

gehen, das andere Mal nicht. Wir müßten dann Konzessionen machen,<br />

und das sei immer eine schlechte Sache. Redner wünscht, daß man sich in


DENEN RICHTUNGEN INNERHALB DER ARBEITERBEWEGUNG 21<br />

der Resolution gegen alle anderen Strömungen erklären und unsere Prinzipien<br />

betonen müsse.<br />

Rocker ergreift das Wort zu einer kurzen Richtigstellung, in der er darlegt,<br />

daß es Situationen gibt, in denen die Arbeiterschaft gemeinsam gegen<br />

die Reaktion vorgeht. Eine solche Situation sei in Deutschland durch den<br />

Kapp-Putsch entstanden.<br />

Diaz, Argentinien, ist der Meinung, daß der Kongreß mehr europäisch<br />

als amerikanisch, also zu europäisch ist. <strong>Die</strong> I.W.W. wird von den Kameraden<br />

Südamerikas anders betrachtet, als in Europa. <strong>Die</strong> I.W.W. strebe<br />

überall nach der Macht über die Arbeiterbewegung. In Argentinien sei ihr<br />

dies nicht gelungen, da die F.O.R.A. sich gegen diese Beherrschungsversuche<br />

zu wehren verstand. In Uruguay und in Chile hat die I.W.W. Einfluß.<br />

Dabei sei die I.W.W. nicht revolutionär eingestellt. Sie will auch<br />

keine <strong>Internationale</strong>, sondern nur Industrieverbände. <strong>Die</strong> I.W.W. kämpft<br />

gegen die Anarchisten an. Redner wünscht, daß an Stelle der Worte „revolutionärer<br />

Syndikalismus" überall gesetzt werden möge „antiautoritäre Gewerkschaftsbewegung".<br />

Pfemfert ist der Meinung, daß die Resolution von der Redaktionskommission<br />

geändert werden müsse. Redner macht einige Vorschläge für diese<br />

Veränderungen.<br />

Dritter Verhandlungstag, Montag, den 23. März 1925.<br />

Carbo ist krank und trifft erst nachmittags ein. <strong>Die</strong> Diskussion über<br />

die Resolution Rocker setzt fort. Borghi sagt, daß die Diskussion über die<br />

verschiedenen Richtungen der Arbeiterbewegung ausgiebiger gewesen wäre,<br />

wenn die Vertreter der verschiedenen Länder einen mündlichen Bericht erstattet<br />

hätten. Redner hält die vorläufige Resolution Schapiros über die<br />

bevorstehende Einigung zwischen Amsterdam und Moskau für erledigt, da<br />

wir die Spaltung in Holland und Frankreich gutgeheißen haben. <strong>Die</strong> syndikalistischen<br />

Organisationen müßten zusammenhalten, anderen Organisationen<br />

gegenüber müsse man sich die Hände frei halten. Auf der anderen<br />

Seite sei es für die verschiedenen Richtungen der Arbeiterbewegung in Italien<br />

jetzt unter der faschistischen Herrschaft notwendig, sich gegenseitig<br />

abzutasten, um eventuell gemeinsam Aktionen gegen die faschistische Res<br />

aktion führen zu können. Es gibt in Italien auch viele individualistische<br />

Anarchisten, die zwar gegen die Organisation sind, aber dennoch mit uns<br />

und für die Befreiung der Arbeiterschaft kämpfen. Und mit ihnen können<br />

wir auch eine Strecke Weges gemeinsam gehen. In Frankreich gibt es eine<br />

verhängnisvolle Einigungstradition. Wie in Holland Domela Nieuwenhuis,<br />

so steht in Frankreich der Name Fernand Pelloutier als Sammelpunkt, um<br />

den sich die Arbeiter scharen können. Vor den Anarchisten brauche man<br />

keine Furcht zu haben, denn sie wollen die Gewerkschaften nicht erobern,<br />

wie die Kommunisten es tun wollen. Wir wollen nicht nur mit Worten,<br />

sondern mit Handlungen vor die Arbeiterschaft treten. <strong>Die</strong> Angelegenheit<br />

mit der I.W.W. dürfe nicht so einseitig aufgefaßt werden, wie die argentinischen<br />

Kameraden es getan haben. <strong>Die</strong> I.W.W. ist doch etwas anderes als<br />

Amsterdam und Moskau. <strong>Die</strong> Kameraden Italiens und Portugals können sehr<br />

gut mit der I.W.W. auskommen. Eine besondere Resolution über diese Sache<br />

wäre nicht angebracht. Redner gibt den argentinischen Kameraden zu bedenken,<br />

daß die I.W.W. nicht so ist, wie die F.O.R.A. In der F.O.R.A. seien<br />

die Anarchisten in der Mehrzahl, recht gut, aber nicht überall sei es so<br />

Der Sekretär der Unione Sindacale, Kamerad Giovanetti, ist kein Anarchist,<br />

und doch einer der besten Genossen. Wollte man ihn ausschließen, dann<br />

würde man die Bewegung zerschlagen.


22<br />

I.A.A. UND ANDERE RICHTUNGEN DER ARBEITERBEWEGUNG<br />

Kater weist auf den Bericht Frankreichs, vom Kameraden Besnard, der<br />

ja bisher Mitglied des Verwaltungsbüros der I.A.A. gewesen ist, hin. In<br />

diesem Bericht wird die Frage aufgestellt, ob nach der Vereinigung von<br />

Amsterdam und Moskau die I.A.A. noch weiter bestehen soll. Redner weigert<br />

sich absolut, in einen Sumpf hineinzugehen, sondern will lieber Oasen<br />

in diesem Sumpfe errichten, um von außen den Geist der Schwere und des<br />

Zentralismus bekämpfen zu können. Schapiros Resolution ist sicherlich als<br />

Reagierung gegen die Ansicht der französischen Kameraden entstanden.<br />

Man wandte sich auf diesem Kongreß gegen den Schlußsatz der Resolution<br />

Rocker. Was sagt dieser Schlußsatz? Er sagt, daß wir dann mit anderen<br />

Richtungen der Arbeiterbewegung zusammengehen können, wenn die dies<br />

bezügliche Aktion mit unseren Bestrebungen und Zielen nicht im Wider<br />

spruch steht. Wir in Deutschland haben in unserer Prinzipienerklärung<br />

einen ähnlichen Passus und haben gegen die Resolution in der vorliegenden<br />

Form nichts einzuwenden.<br />

Der Verkehr mit nicht zu uns gehörenden Organisationen sollte seitens<br />

der I.A.A. nur durch die der I.A.A. angeschlossenen Landesorganisationen<br />

gepflogen werden, wenn eine solche in dem betreffenden Lande vorhanden<br />

ist. <strong>Die</strong> Redaktionskommission möge das bei ihren Arbeiten berücksichtigen<br />

und vielleicht einen derartigen Antrag ausarbeiten. Mit einer nicht syndikalistischen<br />

<strong>Internationale</strong> haben wir nichts zu tun. Der I.A.A. können<br />

nur Landesorgansationen angeschlossen sein. Wenn sich eine andere Organisation<br />

in einem Lande der I.A.A. anschließen will, muß die bereits angeschlossene<br />

Organisation des betreffenden Landes erst befragt werden,<br />

damit das Sekretariat gehörig informiert wird. Dann würden Streitigkeiten<br />

wie hier nicht entstehen können.<br />

Santillan weist darauf hin, daß ein Teil der Diskussion hätte gespart<br />

werden können, wenn man den deutschen Text der Resolution zugrunde ge<br />

legt hätte, wo man nur von Zusammengehen, nicht aber von Entente spricht.<br />

Lansink, Holland, bringt einen Antrag ein, nach welchem in jedem<br />

Lande nur eine Organisation der I.A.A. angeschlossen sein darf.<br />

Borghi hält es für unrichtig, diesen Antrag jetzt zu diskutieren.<br />

Souchy weist auf die Statuten der I.A.A. hin, in denen bereits die Auf<br />

nahmebedingungen vorgeschrieben sind. Der vorliegende Antrag würde eine<br />

Statutenänderung notwendig machen, deshalb könne er erst dann zur Ver<br />

handlung kommen, wenn die Statutenänderungen zur Beratung stehen. Der<br />

Antragsteller erklärt sich hiermit einverstanden.<br />

Redner geht dann noch auf den Streit über die I.W.W. ein. Er bringt<br />

den verleumderischen Artikel in „Industrial Solidarity", dem offiziellen Organ<br />

der I.W.W. gegen die I.A.A. zur Sprache und verliest den Brief, den das<br />

Sekretariat als Antwort an das General-Exekutivkomitee der I.W.W. geschrieben<br />

hat. Auf diesen Brief sei keine Antwort erfolgt. Jedoch erhielt<br />

das Sekretariat einige Tage ehe der verleumderische Brief veröffentlicht<br />

wurde, vom damaligen Generalsekretär Doyle einen freundlichen Brief. Kurz<br />

darauf wurde auf dem Kongreß der I.W.W. das bisherige Exekutivkomitee<br />

der I.W.W. abgesetzt, und es kam zu Streitigkeiten innerhalb der I.W.W.<br />

Wahrscheinlich ist es auf diese zurückzuführen, daß bisher immer noch<br />

keine Antwort erfolgte. Augenblicklich verkehren viele Sektionen der I.A.A.,<br />

wie z. B. die italienischen Kameraden, die schwedische Organisation, die<br />

C.G.T. Portugals usw. freundschaftlich mit der I.W.W. und diese mit ihnen.<br />

Der Kongreß sollte eine Stellung der I.W.W. gegenüber einnehmen und die<br />

I.W.W. darauf aufmerksam machen, daß auch die revolutionären Arbeiter<br />

Organisationen, mit denen die I.W.W. jetzt in Verbindung steht und deren<br />

Verbindung ihr auch scheinbar angelegen ist, eine andere Taktik einschlagen


LANSINK: I.A.A UND PRAKTISCHE TAGESKÄMPFE 23<br />

würden, wenn die Verleumdungen gegen die I.A.A. in offiziellen Organen<br />

der I.W.W. nicht aufhören. Das Sekretariat sollte die Vollmacht erhalten,<br />

sich an die angeschlossenenen Organisationen in diesem Sinne zu wenden.<br />

Borghi macht auf das gute Verhältnis der italienischen Sektion der<br />

I.W.W. mit der U.S.I. aufmerksam und hofft auf Beeinflussung des amerikanischen<br />

Teiles durch die uns sympathisch gegenüberstehenden Sektionen<br />

der I.W.W.<br />

4. Sitzung des Plenums.<br />

In der Nachmittagssitzung wird die Diskussion fortgeführt über die<br />

Resolution Rocker. Diaz, Argentinien, findet die Resolution Schapiro zu<br />

europäisch, die von Rocker allgemeiner, er ziehe deshalb die Resolution<br />

Rocker vor. Borghi habe nach seiner Meinung nicht das Richtige in seiner<br />

Beurteilung über die I.W.W. getroffen. <strong>Die</strong> I.W.W. ist selbst international.<br />

Sie führe eine starke Polemik gegen die italienischen Anarchisten. S. do<br />

Campos, Portugal, hält die Einheit mit den Sozialdemokraten und Kommunisten<br />

für eine Utopie, deshalb trete er für die Resolution Schapiros ein, in<br />

der das klar zum Ausdruck komme. Dagegen sollten die Syndikalisten alle<br />

Kräfte zur Stärkung ihrer eigenen Front aufwenden. Er macht nochmals<br />

auf die guten Beziehungen mit der I.W.W. aufmerksam. Außerdem ist<br />

er dafür, daß gegen Moskau und Amsterdam scharf Stellung genommen<br />

werden solle.<br />

Hiermit ist die Diskussion über diesen Punkt erledigt, die verschiedenen<br />

Anträge und Anregungen werden der Resolutionskommission überreicht.<br />

Jetzt kommt Punkt 4 der Tagesordnung zur Behandlung:<br />

Stellung der I.A.A. zu den praktischen Tageskämpfen.<br />

Berichterstatter B. Lansink jun., Holland, und S. Diaz, Argentinien.<br />

Lansink jun. macht darauf aufmerksam, daß der Kongreß bis jetzt Vortrag Lansink<br />

theoretische Fragen diskutiert habe, für eine Gewerkschaftsorganisation sei I.A.A. u. prak-<br />

es aber auch notwendig, praktische Fragen zu erörtern, denn auch diese tischeTages- sind wichtig. <strong>Die</strong> heutige Gesellschaft bringt für die arbeitenden Klassen kämpfe.<br />

große Mißstände mit. <strong>Die</strong> Massen werden immer tiefer versklavt, wir<br />

müssen deshalb einen Weg finden, wie diese Massen emporzuziehen sind.<br />

Nur dann werden sie unsere Ideen zu würdigen wissen und für unser Ideal<br />

eintreten. In Holland selbst gibt es Arbeiter, die unter den schlechtesten<br />

Bedingungen leben. Und so verhält es sich in allen Ländern. <strong>Die</strong>sen Arbeitern<br />

müssen Wege und Mittel gezeigt werden, wie sie ihr Dasein erleichtern<br />

können. Wir revolutionären Syndikalisten wollen das nicht durch Gesetze,<br />

sondern durch die Aktionen der Arbeiterschaft von unten auf. Wir müssen<br />

danach trachten, den Konsum und die Produktion zu übernehmen und<br />

müssen schon heute den Anfang dazu machen durch Konsumtions- und<br />

Produktionsgenossenschaften.<br />

<strong>Die</strong> praktischen Kämpfe der Arbeiterschaft dürfen sich aber nicht auf<br />

das wirtschaftliche Gebiet beschränken, sie müssen auch auf dem politischen<br />

Gebiet ausgekämpft werden. Wir haben den Faschismus in einem Lande,<br />

Militärdiktatur in dem andern, Kapp-Putsch in dem dritten. <strong>Die</strong>se reaktionären<br />

Erscheinungen müssen bekämpft werden. Und wenn es der Arbeiterschaft<br />

auch gelungen ist, sie zu bekämpfen, dann ist der Sozialismus<br />

immer noch nicht da, und die reaktionären Kräfte werden uns in andern<br />

Formen schwer zu schaffen machen. In Holland selbst ist die Reaktion<br />

augenblicklich nicht so stark. Er habe an den Außenminister einen scharfen<br />

Brief wegen der Weigerung, Rocker die Erlaubnis zu einer Propagandatour<br />

zu gewähren, geschrieben. Wenn dieser Brief in Rußland geschrieben worden<br />

wäre, dann wäre der Schreiber sicherlich verhaftet worden.


Diaz über<br />

praktische<br />

Tageskämpfe.<br />

Diskussion über<br />

praktische<br />

Tageskämpfe.<br />

24 DIAZ: I.A.A UND PRAKTISCHE TAGESKÄMPFE<br />

Wollen wir aber den Kampf gegen die Reaktion und für praktische<br />

Verbesserungen der Lage der Arbeiterschaft erfolgreich führen, dann muß<br />

dieser Kampf auf einer möglichst breiten Plattform geführt werden. Aus<br />

diesem Grunde dürfen wir die Mitglieder unserer Organisation, die noch<br />

einer politischen Partei angehören, nicht aussschließen. Bei allem Kampf<br />

ums Endziel dürfe man die praktischen Tageskämpfe nicht vergessen. Redner<br />

hält sich an den Sinn des Sprichwortes: Wenn man nicht hat, was man<br />

liebt, dann soll man wenigstens das lieben, was man hat. Und ein Spatz in<br />

der Hand ist besser als eine Taube auf dem Dach. Wir müssen auf dem<br />

Boden der Tatsachen stehen und deshalb an die praktischen Kämpfe zur<br />

Hebung der Lage der Arbeiterklasse mit revolutionären Mitteln herangehen.<br />

<strong>Die</strong>s soll der Kongreß in einer Resolution bestätigen, die Redner<br />

ausarbeiten und dem Kongreß vorlegen wird.<br />

Als zweiter Redner zu diesem Punkt bekommt Kamerad Diaz, Argentinien,<br />

das Wort. Er erklärt sich mit den Ausführungen Lansinks einverstanden.<br />

Es gibt unter uns Elemente, die nur Idealisten und wieder<br />

andere, die nur für die Massenbewegung sind. Wir müssen beides verbinden,<br />

eine Massenbewegung mit klaren Idealen sein. <strong>Die</strong> Massen haben<br />

kein Interesse an den Organisationen, wenn die Organisationen nicht eintreten<br />

für die praktischen Forderungen zur Hebung der Lage der Massen.<br />

Es müsse eine große Bewegung für den Achtstundentag dort einsetzen, wo<br />

derselbe noch nicht besteht. Und wo er besteht, müsse man noch kürzere<br />

Arbeitszeit fordern. Redner erinnert an die Bewegung der F.O.R.A. für den<br />

Sechsstundentag im Jahre 1906. So hatten die Maler in Buenos Aires schon<br />

den Siebenstundentag, haben denselben aber wieder verloren. <strong>Die</strong> Idee und<br />

der Wille zur Zurückeroberung bestehen aber noch weiter. Der Kampf<br />

müsse deshalb immer fortgeführt werden. Redner erinnert an die Kämpfe<br />

um den Achtstundentag in Chicago 1886. Schon allein die Tatsache der<br />

großen Arbeitslosigkeit, die überall herrsche, erfordere eine Verkürzung<br />

der Arbeitszeit.<br />

Nach den Referaten fordert Pfemfert, Deutschland, das Wort zur Geschäftsordnung<br />

und stellt fest, daß er keine Pflichtversäumnis begangen<br />

habe, als er zum Vortrag des Gen. Rocker nicht das Wort ergriff. Es war<br />

beschlossen worden, erst die Uebersetzung des Vortrages Rockers vorzunehmen,<br />

und angesichts dieses Beschlusses sei er des Morgens zur Uebersetzung<br />

nicht erschienen. Inzwischen hat man anders beschlossen. Daher<br />

kam es, daß er bei der Diskussion nicht anwesend war und auch nicht<br />

das Wort ergreifen konnte. Rocker wies darauf hin, daß Carbo sich in<br />

derselben Lage befände, daß aber die Diskussion noch einmal aufgenommen<br />

werden könne, wenn die Redaktionskommission die fertige Resolution vor-<br />

lege. Damit erklären sich Pfemfert und Carbo einverstanden.<br />

Rocker weist auf die Uebereinstimmung zwischen dem kalten Germanen<br />

Lansink und Diaz, dem heißblütigen Argentiner hin und zieht daraus den<br />

Schluß, daß gerade in diesem Punkte zwischen den Kameraden aller Länder<br />

eine willkommene Einstimmigkeit existiere. Redner erklärt noch einmal, unter<br />

welchen Umständen der Beschluß der deutschen F.A.U., demzufolge kein<br />

Mitglied dieser Organisation auch Mitglied einer politischen Partei sein<br />

kann, zustande kam, betont aber, daß in dieser Beziehung die Genossen in<br />

den einzelnen Ländern ihre Angelegenheiten selber regeln müßten. Wer da<br />

glaube, als Revolutionär den wirtschaftlichen und politischen Kampf um<br />

die Forderungen der Stunde ignorieren zu können, hat die Bedeutung dieser<br />

Kämpfe für die Befreiung der Arbeiter überhaupt nicht verstanden. Obwohl<br />

diese Kämpfe nicht imstande sind, die Lohnsklaverei als System zu<br />

brechen, haben sie aber einen unverkennbaren Einfluß auf die allgemeine


DISKUSSION ÜBER PRAKTISCHE TAGESKÄMPFE 25<br />

Lebenshaltung der Arbeiter. <strong>Die</strong>se Lebenslage aber ist nicht immer dieselbe.<br />

Es ist gar nicht nötig, die Lage des- Proletariers in der Frühperiode<br />

des Kapitalismus als Vergleich heranzuziehen, ein Blick auf die allgemeine<br />

Lebenshaltung der deutschen Arbeiterschaft während der letzten Jahre genügt<br />

vollkommen. Vergleicht man diese Lage mit der Lage vor dem Kriege,<br />

so muß selbst ein Blinder zugeben, daß es Unterschiede in der proletarischen<br />

Lebenshaltung gibt, die für den einzelnen von unverkennbarer<br />

Bedeutung sind. Ebenso stehen die Dinge auf politischem Gebiete.<br />

Es kann den Arbeitern durchaus nicht gleichgültig sein, wenn ihnen<br />

bestimmte politische Rechte gerarubt werden, welche den Regierungen<br />

früher durch rastlose revolutionäre Kämpfe und unter ungeheuren<br />

Opfern entrissen wurden. Fragt nur die Genossen Cabo und Borghi,<br />

die werden euch ein Lied davon singen können. Wenn man weiß, welch<br />

ungeheure Opfer die Arbeiterschaft Englands, Frankreichs und anderer<br />

Länder bringen mußte, um sich das Koalitionsrecht zu erringen, oder wie<br />

die spanischeen Arbeiter schon im Jahre 1855 um dasselbe Recht den<br />

Generalstreik proklamierten und in ihren blutigen Kämpfen gegen den<br />

Henker Zapatero die Worte: „Vereinigung oder den Tod!" auf ihre Fahne<br />

schrieben, dann wird man wohl nicht geneigt sein, solche Errungenschaften<br />

leichtsinnig preiszugeben. <strong>Die</strong> Kämpfe ums tägliche Brot und zur Verteidigung<br />

oder Erringung politischer Rechte müssen als eine eiserne Notwendigkeit<br />

betrachtet werden und in derselben Zeit als eine Schule der Erziehung<br />

für die Massen, um sie für ihre endgültige Befreiung vorzubereiten.<br />

Ohne diese fortgesetzten Kämpfe um des Lebens Notdurft wird uns die<br />

Freiheit niemals kommen.<br />

Pfemfert erklärt, daß seine Organisation mit den Ansichten und Ausführungen<br />

Rockers immer einig sei. <strong>Die</strong> Erklärungen, die hier gemacht<br />

wurden, werden jedoch von unseren Gegnern Mißdeutungen ausgesetzt. Er<br />

wolle nur noch klarer hinzufügen, daß man unter praktischen Tageskämpfen<br />

antiparlamentarische Kämpfe, verstehen müsse. In Deutschland gebe es Elemente,<br />

die jeder Organisation mit Mißtrauen begegnen. Es seien da Individualisten,<br />

die den Streikbruch zum Prinzip erheben. Sie haben viel zur<br />

Zersplitterung der revolutionären Organisationen beigetragen, deshalb<br />

müssen wir unser Augenmerk auf sie richten. Jeder Kampf solle von revolutionären<br />

Organisationen unterstützt werden. So halte es wenigstens die<br />

A.A.U.E., die er hier vertrete. Er sehe das internationale Weltbild vielleicht<br />

etwas anders als Lansink. Nach seiner Meinung befinde sich der Kapita-<br />

Iismus augenblicklich in einer Todeskrise. Es würde nicht allzu schwer sein,<br />

dem Kapitalismus den Todesstoß zu versetzen, wenn nicht die verfluchten<br />

Parteien das Proletariat zersplitterten. Deutschland ist ja nur ein einziges<br />

Land, und nicht das bedeutendste, und dennoch kann die verwickelte Lage<br />

und die Wirrnis im deutschen Proletariat als Beispiel wirken. Der Kampf<br />

stärke das Selbstbewußtsein der Arbeiterschaft und erziehe das Proletariat.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiter müßten sich schon heute für die Uebernahme der Produktion<br />

vorbereiten. Wie die Syndikalisten, so sagen auch wir, daß der Betrieb<br />

der wichtigste Ort sei für die Organisierung der Arbeiterschaft. Im Betrieb<br />

ist das Proletariat heute schon einig. Deshalb sollte der Betrieb dazu benutzt<br />

werden, um die Gedanken der Expropiierung in den Massen wachzurufen.<br />

Souchy will nicht über die Dinge sprechen, über die alle einer Meinung<br />

sind und schlägt auch den andern Rednern vor, sich zu beschränken, er<br />

beantragt Schließung der Rednerliste und wünscht, Genosse Lansink möge<br />

gemeinsam mit der Redaktionskommission eine Resolution ausarbeiten, in<br />

der auch Stellung genommen werden soll zu den Reformisten, zur sozialen<br />

Gesetzgebung und vor allem auch zu dem internationalen Arbeitsamt. Wenn


26 DISKUSSION ÜBER PRAKTISCHE TAGESKÄMPFE<br />

wir uns für Verbesserungen der Lage der Arbeiterschaft in der heutigen<br />

Gesellschaft aussprechen, so müßten wir dennoch nicht unterlassen, klar<br />

zu sagen, daß wir diese Verbesserungen nicht durch Mitarbeit oder Beteiligung<br />

an den gesetzlichen Einrichtungen erzielen wollen, sowohl national<br />

wie international. <strong>Die</strong> Amsterdamer verstehen den Kampf um die Verbesserung<br />

der Arbeiterklasse nämlich in dem Sinne der Mitarbeit am internationalen<br />

Arbeitsamt. Sie wollen eine Art internationale Sozialgesetzgebung<br />

schaffen, das machen wir Syndikalisten nicht mit. Es hat deshalb<br />

etwas zu bedeuten, wenn wir den Arbeitern aller Länder unsere Meinung<br />

über diese Dinge sagen, damit die reformistische Linie der Arbeiten<br />

bewegung und die revolutionäre klar zu unterscheiden sind. Jene führt in<br />

kapitalistische Versumpfung, diese aus dem Kapitalismus heraus. Das muß<br />

in der Resolution zum Ausdruck kommen. Redner bittet die Redaktions;<br />

kommission, das zu berücksichtigen.<br />

Borghi hält eine lange Diskussion über diesen Punkt für überflüssig.<br />

Auch eine Resolution sei nicht notwendig, da wir alle wissen, daß die täglichen<br />

Kämpfe notwendig sind, und mehr noch, da wir schon seit Jahrzehnten<br />

diesen Kampf führen. Redner will bei dem Punkte: Kampf gegen<br />

die internationale Reaktion über die verschiedenen Kampfesformen sprechen,<br />

die nach seiner Meinung notwendig sind.<br />

Santillan teilt diese Meinung. In Argentinien werden schon seit Jahrzehnten<br />

Kämpfe geführt um kürzere Arbeitszeit und um andere Verbesserungen.<br />

Was soll in einer Resolution gesagt werden, etwa, daß der Achtstundentag<br />

zu erstreben sei? Aber unsere F.O.R.A. schlägt den 7- und 6-<br />

Stunden-Tag vor und sucht die Arbeiterschaft dafür zu begeistern. In Barcelona<br />

wird in einigen Industrien schon 6 und 7 Stunden gearbeitet. <strong>Die</strong><br />

Grubenarbeiter in Italien haben auch schon den Siebenstundentag, die Typographen<br />

Portugals arbeiten nur 6 Stunden. Wir würden also bei diesen<br />

Arbeitern schön ankommen, wenn wir jetzt zu ihnen mit der Forderung<br />

des Achtstundentages kämen.<br />

Lansink erklärt, daß in der Resolution keine bestimmte Forderung für<br />

den 8- oder 6-Stunden-Tag erhalten sein dürfe, sondern es den einzelnen<br />

Ländern und Industrien überlassen werden müsse. Auch Borghi ist derselben<br />

Ansicht. Darauf wird die Sitzung bis 8 Uhr abends vertagt.<br />

5. Sitzung des Plenums.<br />

Es wird die umgearbeitete Resolution Rockers über die Stellung der<br />

I.A.A. zu den verschiedenen Richtungen in der Arbeiterbewegung vorgelesen.<br />

Daran schließt sich noch eine kurze Diskussion. Vor allem ergreift<br />

Pfemfert jetzt das Wort und macht folgende Ausführungen:<br />

Er hofft, daß die A.A.U.E. dieses Mal als letztes Mal als Gast auf<br />

Diskussion dem Kongreß der I.A.A. sein wird, auf dem nächsten Kongreß der I.A.A.<br />

über Resolution wird die A.A.U.E. sicher schon den Anschluß an die I.A.A. vollzogen haben.<br />

Rocker.<br />

Redner spricht zwar nicht im Namen von Millionen, aber doch von Zehntausenden<br />

von Arbeitern, die revolutionär gesinnt sind, aber keine abstrakten<br />

Ideen haben. Redner polemisiert gegen Kater, der im „Syndikalist" die<br />

A.A.U.E. angegriffen habe. Er hebt dann die einigenden Punkte mit der<br />

F.A.U.D. hervor, um darauf hinzuweisen, daß die F.A.U.D. von der A.A.U.E.<br />

durch die Organisationsfragen getrennt sei. <strong>Die</strong> A.A.U.E. ist eine Wirt-<br />

Schaftsorganisation und wurzelt als solche im Betriebe, nicht im Berufe, wie<br />

bei den Syndikalisten. Da die A.A.U.E. den Anschluß an die I.A.A. vollziehen<br />

will, muß sie ihre Meinung offen aussprechen und die Karten offen<br />

auf den Tisch legen. <strong>Die</strong> A.A.U.E. steht im Gegensatz zu den Syndikalisten<br />

auf den Standpunkt von der Notwendigkeit der Gewaltanwendung, die


BORGHI: KAMPF GEGEN DIE INTERNATIONALE REAKTION 27<br />

ist für die Rätediktatur, und die Syndikalisten, selbst Rocker, sind in gewissen<br />

Punkten echte Marxisten, insbesondere da, wo es sich um die Betonung<br />

der ökonomischen Verhältnisse handelt. (Hier macht Santillan den<br />

Zwischenruf, daß diese Frage in Uebereinstimmung mit den Statuten der<br />

I.A.A. in gemeinsamen Verhandlungen mit der F.A.U.D. behandelt werden<br />

müsse und eigentlich nicht vor das Plenum des Kongresses gehöre.)<br />

Pfemfert erwiderte, die Sache erwähnt zu haben, weil sie wichtig ist für<br />

seine Organisation. Er sei einig mit Rocker, daß die sozialen Notwendigkeiten<br />

die Form der Organisation bestimmen. Auch die A.A.U.E. habe<br />

das Wort: die Befreiung der Arbeiter müsse das Werk der Arbeiter selbst<br />

sein, auf ihre Fahnen geschrieben, die I.A.A. müsse deshalb alle antiautoritären<br />

Kräfte in sich vereinen. Er persönlich könne den Anschluß nicht<br />

vollziehen, das müssen die Arbeiter in den Betrieben tun, wenn sie den<br />

Bericht vom Kongreß erhalten haben. Es ginge aber nicht an, den Mitgliedern<br />

der A.A.U.E. die Aufnahme in die I.A.A. zu verweigern, denn sie<br />

sind wirklich revolutionäre, antiautoritäre Klassenkämpfer. Wünscht, der<br />

Kongreß möge Beschlüsse fassen, die auch für die Arbeiter, die er hier vertrete,<br />

annehmbar sind.<br />

Nach den Ausführungen Pfemferts erklärt Kater, daß die Stellung der<br />

A.A.U.E. zur F.A.U.D. nicht auf diesen Kongreß gehöre, sondern auf den<br />

15. Kongreß der F.A.U.D. nach Dresden. Aus diesem Grunde wolle er gar<br />

nicht auf die Ausführungen Pfemferts eingehen, sondern müsse es ablehnen,<br />

diese Angelegenheit hier zum Austrag zu bringen. Es dürfe niemandem eine<br />

Extrawurst gebraten werden, er habe seinen Standpunkt nicht geändert und<br />

werde denselben auch in Zukunft vertreten.<br />

Sodann wird über die Resolution abgestimmt, die Annahme erfolgt<br />

einstimmig. (Siehe S. 62.)<br />

Nach der Abstimmung erklärt Carbo, Spanien, daß die von Pfemfert angeschnittene<br />

Frage eine deutsche Angelegenheit sei. Pfemfert möge seine<br />

Vorschläge dazu vorlegen, und der Kongreß könne dann erst beschließen.<br />

Souchy macht darauf aufmerksam, daß diese Frage bei Besprechung der<br />

Statuten erledigt werden könne.<br />

Vierter Verhandlungstag (6. Sitzung), <strong>Die</strong>nstag, den 24. März 1925.<br />

Auf der Tagesordnung steht Punkt 5:<br />

Kampf gegen die internationale Reaktion.<br />

Als Berichterstatter ergreift Borghi, Italien, das Wort, der folgendes ausführt:<br />

Wenn man heute über die Reaktion spricht, so ist es meiner Ansicht nach ganz<br />

unmöglich, die Frage in einem Sinne zu behandeln, wie man es früher zu tun pflegte.<br />

Man muß den reaktionären Zustand jedes Landes heute besonders in Augenschein<br />

nehmen, denn obwohl die schmerzlichen Folgen der Reaktion überall dieselben sind,<br />

und obzwar die Notwendigkeit, den Opfern beizustehen, überall gleich ist, sind aber<br />

die Ursachen der Reaktion nicht überall dieselben, ebensowenig wie die Abwehrmethoden<br />

im Kampfe gegen dieselbe.<br />

Es gibt eine Reaktion im alten Stil, und es gibt eine bolschewistische, eine faschistische<br />

Reaktion.<br />

Ich werde mich hauptsächlich mit der Reaktion des Faschismus beschäftigen, mit<br />

dem man danach alle anderen Formen der Reaktion vergleichen mag.<br />

Der Faschismus, mehr noch die faschistische Reaktion, ist nicht bloß eine Geißel<br />

als „reaktionäres Quantum", d. h. durch die Zahl ihrer Anhänger, sie ist auch als<br />

besondere „Qualität" zu werten, ja die Einstellung ihrer Anhänger bedingt ihre Zahl.<br />

Man hat sich heute fast in allen Ländern daran gewöhnt, jede Form der Reaktion,<br />

jedes reaktionäre Gesetz, jede Form der Unterdrückung durch die Bourgeoisie, das<br />

Kampf gegen die<br />

internationale<br />

Reaktion.


28<br />

BORGHI: KAMPF GEGEN DIE INTERNATIONALE REAKTION<br />

Unternehmertum oder den Staat als „Faschismus" zu bezeichnen. <strong>Die</strong> Reaktionäre<br />

selbst, bezaubert durch die Vorstellungen, die sie sich vom Faschismus machen und<br />

besonders beeinflußt durch seine äußere Erscheinung, fühlen sich als Faschisten und<br />

legen sich des öfteren diesen Namen bei. Es ist dieselbe Erscheinung, weiche 1918 und<br />

1919 viele Revolutionäre veranlaßt hat, sich „Bolschewisten" zu nennen. — Es handelt<br />

sich hier um eine Täuschung der Perspektive.<br />

Wenn alles Reaktionäre in der Tat als Faschismus zu betrachten wäre, dann müßte<br />

man notgedrungen annehmen, daß in Italien der Faschismus immer bestanden habe,<br />

hauptsächlich in der Periode von 1894 bis 1898, ja man könnte dasselbe behaupten von<br />

gewissen Perioden im politischen Leben anderer Länder. Und doch wäre dies ein<br />

großer Irrtum. Man muß unterscheiden zwischen einer Krankheit und einer Epidemie,<br />

zwischen einem Gewitter und einem Erdbeben.<br />

<strong>Die</strong> Reaktion nach altem Stile, wie sie Crispi und Bismarck inszenierten, ist eine<br />

Sache, der Faschismus eine andere, und diese Aenderung im Charakter der Reaktion<br />

hängt eng zusammen mit dem Grad der Stärke, welche das Proletariat während der<br />

letzten Zeit gewonnen hatte.<br />

<strong>Die</strong> Reaktion im alten Stile legte sich noch gewisse Beschränkungen auf, ihre Träger<br />

hatten noch eine gewisse Verantwortlichkeit Sie entsprach einer gewissen politischen<br />

Auffassung des Staates: des kriegführenden Staates, des klerikalen Staates, der absoluten<br />

Monarchie, der militärischen Regierung, des Staates im Belagerungszustand usw.<br />

Ich wiederhole noch einmal: die Reaktion hatte eine bestimmte Form, sie legte sich<br />

gewisse Beschränkungen auf und handelte unter einer bestimmten Verantwortlichkeit.<br />

Der Faschismus ist eine ganz andere Erscheinung. Er kennt weder Beschränkungen<br />

noch Verantwortlichkeit, noch existiert für ihn das Gesetz oder eine bestimmte Rechtsauffassung.<br />

Der Faschismus ist nicht die Reaktion Bismarcks, noch die klerikale<br />

Reaktion oder die Reaktion der Monarchie; er verkörpert sich weder in der Vendée<br />

noch im Nationalismus; es liegen ihm überhaupt keinerlei organische oder historische<br />

Ideen zugrunde, die bisher zu anderen Formen der Reaktion geführt haben. Der<br />

Faschismus ist eine Vereinigung des Schlimmsten aller dieser Ideen und aller reaktionären<br />

Folgen und Missetaten, welche aus ihnen entstanden sind. Er ist eine seltsame<br />

Mischung von Demagogie und einer sogenannten „Revolution". Ebenso wie die Bolschewisten<br />

— und der Faschismus ist nur ein Bolschewismus, der auf dem Kopfe steht —<br />

wollte er den Staat zu einer Macht erheben, welche der Wirtschaft ihre Gesetze diktiert<br />

und durch Dekrete den Lauf der wirtschaftlichen Ereignisse bestimmen sollte, sei es<br />

durch eine intensivere Ausbeutung der Arbeiter zugunsten der Reichen — eine Aufgabe,<br />

die nicht so schwer ist —, sei es durch die Verpflichtung der Kapitalisten und<br />

der Banken, nicht nur dem Staate, sondern dem durch die faschistische Partei monopolisierten<br />

Staate zu dienen — eine Aufgabe, die viel schwerer zu erfüllen ist . . . <strong>Die</strong><br />

letzte Streikbewegung in Mailand und der Lombardei ist das Ergebnis dieser Versuche.<br />

Kann man sich außerhalb Italiens eine so paradoxe Erscheinung vorstellen, daß ein<br />

Streik von Anhängern Daudets oder Hindenburgs oder gar Primo de Riveras geführt<br />

werden soll? Nun gut, wir hatten vor kurzem in der Lombardei einen solchen Generalstreik<br />

für wirtschaftliche Verbesserungen, der von den Führern des Faschismus inszeniert<br />

und von ihrer Partei unterstützt wurde. Natürlicherweise haben die Arbeiter<br />

die Sache anders aufgefaßt, und die Faschisten beeilten sich, der Bewegung ein Ende<br />

zu machen, denn der Gebrauch dieser Kampfesmethode der roten Arbeiterschaft zeigte<br />

ihnen, daß der Geist der Klasse in den Massen noch nicht tot ist.<br />

Daraus geht hervor, daß der Faschismus ein Sammelsurium aller möglichen Ideen<br />

ist, eine Art politischer Futurismus, der nie imstande sein wird, Gleichgewicht und<br />

Stabilität zu gewinnen. Der Faschismus ist ein Monstrum, der keiner lebendigen<br />

Gattung in der politischen Zoologie gleich ist.<br />

Nehmt ein Stück Kreide, schließt die Augen und fahret damit nach allen Richtungen<br />

über eine Tafel und ihr werdet ein Gesamtbild der organischen Ideen des Faschismus<br />

erhalten.<br />

<strong>Die</strong> Faschismus ist monarchistisch und republikanisch, atheistisch und dogmatisch,<br />

vatikanistisch, individualistisch und autoritär, demokratisch und aristokratisch, parlamentarisch<br />

und absolutistisch, gewerkschaftlich und für das Unternehmertum. Er entnimmt<br />

auf vierundzwanzig Stunden jeder Idee das, was er gerade nötig hat, um eine<br />

feindliche Idee zu bekämpfen oder um eine Partei zu täuschen und zu beunruhigen,<br />

welche ihm die Verhältnisse zum Gegner machte.


BORGHI: KAMPF GEGEN DIE INTERNATIONALE REAKTION 29<br />

Er hat alle Prinzipien gefälscht, alle verunreinigt. Mit dem Ergebnis, daß die<br />

faschistische Partei sich aus Elementen zusammensetzt, die wie ein Bilderrätsel anmuten,<br />

Menschen ohne Glauben, ohne Leidenschaft selbst für eine schlechte Idee. Daher<br />

die Unmöglichkeit, einen Zusammenhang unter den faschistischen Elementen zu<br />

schaffen und ihnen eine feste Grundlage zu geben. Daher die beispiellose und systematische<br />

Verlumpung seiner „Helden"! Daher die fortgesetzten Skandale, die nie von<br />

der Tagesordnung des Faschismus verschwinden. Daher der Mangel an Solidarität<br />

unter den Emporkömmlingen, sobald ihren Verbrechen irgendwelche Verantwortung<br />

droht.<br />

Daraus geht zur Genüge hervor, daß man den Faschismus mit keiner anderen<br />

Form der Reaktion vergleichen kann.<br />

- - -<br />

Der Faschismus hat eine ganze Reihe antifaschistischer Strömungen hervorgerufen,<br />

die für das Proletariat eine Gefahr in sich bergen. <strong>Die</strong> Bourgeoisie kann natürlich mit<br />

Mussolini und seiner Bande nicht zufrieden sein- Er hatte ihr gedient als Werkzeug<br />

gegen das Proletariat. Sie dachte ihm dafür ihren Dank auszusprechen und ihn nach<br />

Hause zu schicken. Allein Mussolini war nicht derselben Meinung.<br />

<strong>Die</strong> Demokratie erklärte nunmehr, daß sie bereit sei, sich an die Spitze einer Bewegung<br />

zu setzen, um „die Freiheit" wieder herzustellen und begehrt zu diesem Zweck die<br />

Hilfe des Proletariats- <strong>Die</strong> Parole ist: „Gegen jede Diktatur!"<br />

Der antifaschistische Block würde dadurch also notwendigerweise auch zu einem<br />

antibolschewistischen Block werden. Aus diesem Grunde ergeben sich für uns folgende<br />

Fragen:<br />

Erstens: Können wir mit der Demokratie einen Block schließen gegen den<br />

Faschismus?<br />

Zweitens: Können wir mit der Demokratie auch gegen jene andere Form der<br />

Reaktion einen Block bilden, die im Bolschewismus ihren Ausdruck findet?<br />

Um sich hier zurechtzufinden, müssen wir die Rolle, welche die Demokratie im<br />

Faschismus gegen das Proletariat gespielt hat, etwas näher in Augenschein nehmen.<br />

Ich habe bereits erklärt, daß Mussolini der Bourgeoisie als Werkzeug gedient hat. Das<br />

ist unbestreitbar. Allein es waren nicht ausschließlich Mussolini und die Seinen, welche<br />

das Proletariat besiegt haben zur Zeit der Besetzung der Betriebe. Mussolini hatte<br />

sogar nicht den Mut, sich an die Spitze der Gegner zu stellen, die sich gegen die Besetzung<br />

sträubten. Im Gegenteil, ein Jahr vorher hatte er selbst die Besetzung<br />

gepredigt, und zwar aus demagogischen Gründen, um sein Ansehen zu wahren, damit<br />

er desto besser den Haifischen der auswärtigen imperialistischen Politik dienen könne,<br />

die ihn bezahlten.<br />

Es war also nur mit der Hilfe der bürgerlichen Demokratie, einerlei, ob sie nun<br />

weltlich oder katholisch war, möglich, daß Mussolini seine Rolle als Retter der bedrohten<br />

Ordnung spielen konnte, nachdem Giolitti mit der Hilfe der Reformisten das letzte<br />

mächtige Aufflackern der revolutionären Initiative erstickt hatte, das in der Besetzung<br />

der Betriebe seinen Ausdruck fand.<br />

In der Tat ist es nötig, in dem Faschismus zwei Phasen zu unterscheiden: seine<br />

Rolle von 1920 bis 1922, als er noch außerhalb der Regierung wirkte, und seine Rolle als<br />

regierende Partei nach 1922.<br />

In beiden Phasen seiner Existenz wurde der Faschismus vom Staate unterstützt.<br />

In seiner ersten Phase war es der demokratische Staat, welcher den Faschismus deckte<br />

und ihm den Weg ebnete, indem er seine Anhänger mit Waffen versah, die sie nötig<br />

hatten. Es waren die Bourgeoisie, die Demokratie, die Anhänger d'Annunzios, die Freimaurer,<br />

die große Presse, welche dem Faschismus den Weg gebahnt haben.<br />

In der zweiten Phase war es der faschistische Staat, welcher den Besiegten (Proletariat)<br />

und den Siegern, d. h. der Bourgeoisie, der Bank, der Industrie, den Kampfbrigaden<br />

usw. seine Befehle erteilte. Es war der faschistische Staat, der bald keine<br />

„menschlichen Werte" außerhalb der faschistischen Partei mehr anerkannte. Erst dann<br />

entwickelte sich der Zwiespalt zwischen den Siegern über das Proletariat Doch darf<br />

man sich darüber keiner Täuschung hingeben, denn der ganze Zwiespalt ist lediglich<br />

ein Kampf um die Verteilung der Beute Tatsache ist, daß Christen und Demokraten<br />

(heute in der Opposition) im Ministerium Mussolinis vertreten waren. Sogar ein Führer


30 BORGHI: KAMPF GEGEN DIE INTERNATIONALE REAKTION<br />

der C.G.L. (Zentralgewerkschaften), Herr Baldesi, hatte bald nach dem Marsch auf Rom<br />

von Mussolini eine Einladung erhalten, an der Regierung teilzunehmen. Selbst über die<br />

Ermordung Matteottis gibt es Wahrheiten, die nicht allgemein bekannt sind, die man<br />

aber kennen muß, um die Lage richtig zu verstehen. Denn im Mai 1924, einige Zeit vor<br />

Matteottis Ermordung, gab es in seiner Partei — hauptsächlich unter den Führern der<br />

C.G.L., die alle dieser Partei angehörten — Leute, die von einem politischen Zusammenarbeiten<br />

mit Mussolini träumten, und es war gerade Matteotti, der einen so schmachvollen<br />

Kompromiß am heftigsten bekämpfte.<br />

In der Tat war die letzte Rede Matteottis eine scharfe Absage auf eine Rede Mussolinis,<br />

in welcher sich dieser der C.G.L. gegenüber sehr liebenswürdig zeigte, auf<br />

eine Antwort D'Aragonas, des Sekretärs der C.G.L., der wiederum dem Faschistenchef<br />

sehr liebenswürdig entgegenkam. Und dieses ganze Entgegenkommen D'Aragonas war<br />

nur das Ergebnis einer Arbeit hinter den Kulissen, die eine Mitarbeit der C.G.L. in der<br />

faschistischen Regierung vorbereitete, bald nachdem Mussolini zur Macht gelangte und<br />

die Erde Italiens noch rot war von Proletarierblut.<br />

Wurde Matteotti von den Leuten Mussolinis ermordet, weil man in ihm ein Hindernis<br />

aus dem Wege räumen wollte, um auf diese Weise zu einer Lösung der faschistischen<br />

Krise, d. h. zu einer Zusammenarbeit mit der C.G.L. zu gelangen? Oder<br />

wurde er beseitigt durch faschistische Extremisten, die zwischen Mussolini und<br />

D'Aragona eine Leiche legen wollten? In dem einen wie in dem anderen Falle bleibt<br />

die Verantwortung Mussolinis für diesen Mord dieselbe.<br />

Allein die Affäre Matteotti nahm kein gutes Ende. <strong>Die</strong> Begleiterscheinungen dieses<br />

Mordes selbst, den man zuerst als ein „Verschwinden" darzustellen versuchte, führten in<br />

Rom zu ganz anderen Konsequenzen, wie man erwartet hatte: Ein Sturm der Empörung<br />

und der moralischen Entrüstung gegen den Faschismus ging durch ganz Italien,<br />

So kam es, daß alle Elemente, die mit dem Faschismus unzufrieden waren, geneigt<br />

sind, eine gegenseitige Verständigung; herbeizuführen, um zu einer Lösung der Frage zu<br />

gelangen, die man in einer planmäßigen Opposition zu finden hofft.<br />

Eine „revolutionäre" Opposition? Hier beginnt die große Zweideutigkeit.<br />

Wenn wir selbst keine anderen Gründe hätten, an dem revolutionären Ernst der<br />

Demokratie zu zweifeln, wären dann die früher angeführten Tatsachen nicht schwerwiegend<br />

genug, um der ganzen Welt den Schleier von den Augen zu nehmen?<br />

- - -<br />

Hier stellt sich uns eine Frage entgegen: Indem ich den konservativen Charakter<br />

der Demokratie zum Ausgangspunkt meiner Ausführungen gemacht habe, darf man<br />

daraus schließen, daß wir politischen Freiheiten keine Bedeutung beilegen, daß das Bedürfnis,<br />

dieselben zu fordern und' zu verteidigen, eine Angelegenheit der bürgerlichen<br />

Demokratie ist, ja daß wir uns selber ins Schlepptau der Bourgeoisie begeben, falls wir<br />

für politische Freiheiten eintreten?<br />

Keineswegs! Wir werden jede Art der Freiheit fordern. Wir werden alle Freiheiten<br />

verteidigen, die wir genießen. Das ist durchaus kein Widerspruch. <strong>Die</strong> Kommunisten<br />

können sagen: „Um so besser, wenn es eine bürgerliche Diktatur gibt, nach<br />

ihr wird die unsere kommen!" Wir aber sagen: „Um so schlimmer, wenn es eine<br />

bürgerliche Diktatur gibt, da dieselbe den Glauben erweckt, daß die bürgerliche Demokratie<br />

ein Paradies sei und den bourgeoisen Demokraten die Möglichkeit bietet, als<br />

Revolutionäre und Verfolgte zu posieren."<br />

Wir sagen: „Um so besser, wenn traditionelle Freiheiten bestehen, weil es uns<br />

dadurch erspart bleibt, dieselben für Ziele zu fordern, die grundverschieden sind von<br />

jenen, für welche die bürgerliche Demokratie sie reklamierte, und zwar mit Mitteln,<br />

die viel Lärm machten und wenig Ergebnisse brachten.<br />

Wenn wir uns im Gefängnis befinden und fordern unser Recht, als politische Gefangene<br />

behandelt zu werden, dort, wo dieses Recht existiert, heißt das, daß wir uns<br />

dadurch mit den Hütern des Gefängnisses solidarisch erklären? Gewiß nicht. Es<br />

hieße einfach, Selbstmord begehen, wenn wir uns nicht für die Aufrechterhaltung traditioneller<br />

Freiheiten einsetzen würden. Aber noch einmal: wie müssen wir uns in einem<br />

solchen Falle verhalten?<br />

Sollen wir in außergewöhnlichen Momenten unsere Prinzipien an den Nagel hängen?<br />

Sollen wir uns auf die Seite derjenigen schlagen, die uns den Rat geben, unsere<br />

„Dogmen" auf die Seite zu legen? Sollen wir ein Moratorium fordern für Ideen, die


BORGHI: KAMPF GEGEN DIE INTERNATIONALE REAKTION 31<br />

morgen wieder ihren Wert besitzen, die uns aber heute nicht als Wegweiser dienen<br />

können? Meine Antwort ist: Nein! Das hieße einfach anerkennen, daß unsere Ideen<br />

überhaupt keinen Wert haben, auch nicht in normalen Zeiten, denn der Wert oder<br />

Unwert einer Idee zeigt sich erst in jenen schwierigen Momenten, wenn die allgemeine<br />

Lage eine praktische Anwendung derselben erheischt. Befragt etwa der Seemann im<br />

Sturme nicht den Kompaß? Und sind unsere Ideen nicht gerade aus den Erfahrungen<br />

früherer revolutionärer Krisen hervorgegangen? War es nicht nach 1848, nach den<br />

Enttäuschungen, welche die Erfahrungen der revolutionären Versuche jener Zeit nach<br />

sich zogen, daß Proudhon das große Wort „Anarchie" gebrauchte? Ist es nicht infolge<br />

der furchtbaren Erfahrungen, die alle Kriege bisher den Völkern gebracht haben, daß<br />

unsere Ideen gegen den Krieg gerichtet sind?<br />

Ich will damit nicht sagen, daß wir in jedem Moment des sozialen Kampfes dieselben<br />

Dinge fordern werden. Als wir seinerzeit in Italien die Betriebe in Besitz nahmen,<br />

dachten wir natürlich nicht daran, politische Freiheiten zu fordern. Wir dachten vielmehr<br />

nur daran, vorwärts zu marschieren, der Revolution entgegen. Unsere Parole<br />

lautet auch heute, wie stets: immer vorwärts, demselben Ziel entgegen; nichtsdestoweniger<br />

aber müssen wir anerkennen, daß die Wiedereroberung der Freiheiten, die<br />

man uns geraubt, für uns heute einen großen Schritt vorwärts bedeutet.<br />

Das verhindert uns durchaus nicht, anzuerkennen, daß unsere Ideen für uns nicht<br />

bloß die Bedeutung eines Endzieles haben, sondern, daß sie auch eine bestimmte „Methode"<br />

repräsentieren, eine Methode, die andere Methoden „ausschließt", nicht aus<br />

abstraktem Doktrinarismus, der kein wahres Leben in sich hat, sondern, weil sich in<br />

dieser Methode die gesammelten Erfahrungen aus der Geschichte verkörpern. Mit<br />

anderen Worten meint das, daß unsere Ideen das Ergebnis erworbener Tatsachen darstellen,<br />

und es wäre nur verlorene Zeit, dieselben heute außer Kraft zu setzen, um<br />

morgen wieder zum selben Ausgangspunkt zurückzukehren.<br />

Kein Moratorium also für unsere Ideen! Wir haben das kennen gelernt während<br />

des Krieges und die Geschichte selbst hat uns ge2eigt, daß jede auch nur zeitweilige<br />

Außerkraftsetzung bestimmter Ideen noch stets ein Betrug gewesen ist. Nichts wirkt<br />

permanenter wie das sogenannte Provisorium im Reiche der Ideen.<br />

Es ist also notwendig, auch für uns, jene Freiheiten zu fordern und zu verteidigen,<br />

welche frühere Revolutionen uns gebracht haben, allein wir müssen sie verteidigen,<br />

ohne das Gebiet unserer Ideen und Methoden zu verlassen- Und dies nicht bloß in<br />

bezug auf die Absichten, die wir verfolgen — mit Absichten ist man auch ins Pariament<br />

und in den Krieg gezogen — sondern auch in bezug auf die Tatsachen selbst.<br />

Daraus folgt in erster Linie, daß wir jedes Bündnis, jedes Blockverhältnis ablehnen<br />

müssen. Auf gesetzlichem Gebiete oder soweit die moralische Opposition in Betracht<br />

kommt, mag die bürgerliche Demokratie in den vom Faschismus erfaßten Ländern tun,<br />

was ihr gut dünkt. Sie mag dabei die sozialistischen Reformparteien mit ins Schlepptau<br />

nehmen. Wenn sie imstande ist, dem Faschismus moralisch etwas am Zeug zu flicken,<br />

um so besser. Wir werden es zu nützen verstehen. Auf dem Gebiete der Empörung<br />

ist keine Täuschung mehr möglich. <strong>Die</strong> Bourgeoisie kann nicht mehr zum Jahre 1848<br />

zurückkehren. <strong>Die</strong>s anzunehmen, wäre ein großer Irrtum. <strong>Die</strong> letzten Erfahrungen<br />

unserer Kameraden in Vera (Spanien) und Italien sprechen eine so beredte Sprache, daß<br />

man sie schlechterdings nicht mißverstehen kann. Es käme höchstens noch die Frage<br />

eines bewaffneten Aufstands in Betracht, die unsere Genossen täuschen könnte. Denn<br />

unter ihnen macht sich sehr deutlich die Einstellung für eine gewaltsame revolutionäre<br />

Aktion bemerkbar. Und grade aus diesem Grunde ist es notwendig, ihr Augenmerk<br />

auf die letzten Ereignisse zu lenken. Man kann das tragische Ende unserer Genossen<br />

in Vera nicht vergessen. <strong>Die</strong> spanische Demokratie hat sich dabei die Hände gewaschen,<br />

und die rote französische Regierung leistete der spanischen Polizei Helfersdienste. Sie<br />

hat die heroischen Kameraden, welche zusammen mit den Insurgenten von Vera<br />

wirken wollten, verurteilt und ausgewiesen. <strong>Die</strong>selbe Erscheinung macht sich bei den<br />

italienischen Revolutionären im Ausland bemerkbar, wo man die Illusion verbreitet hat,<br />

daß es möglich sei, mit bewaffneter Hand der Demokratie zu Hilfe zu kommen. Es ist<br />

unmöglich, sich in dieser Weise zu täuschen, wenn man die Dinge kritisch vom Standpunkte<br />

unserer Ideen aus beurteilt.<br />

Mehr noch, als eine Folge dieser Illusionen und der Beziehungen, die sich daraus<br />

ergeben, verliert sich die Klarheit der politischen Stellung; eine Stimmung der Kompro-


32<br />

BORGHI: KAMPF GEGEN DIE INTERNATIONALE REAKTION<br />

misse und der Geist des Staates macht sich bemerkbar. Und eines Tages werdet ihr<br />

gewahr werden, daß einige Kameraden sich den demokratischen Gegnern genähert<br />

haben, trotz der Warnungen der klarer sehenden Genossen, welche sie auf die Gefahr<br />

einer solchen Stellung aufmerksam machten.<br />

Für alle Freiheiten, die wir benötigen, müssen wir eintreten mit ungebundenen<br />

Händen, stets die Verantwortlichkeit unserer Bewegung und unserer Initiative im Auge<br />

habend, und ohne uns in irgendwelche Blockverbindungen einzulassen, mit wem immer<br />

es sei.<br />

Wir dürfen nie vergessen, daß dieselben Gründe, welche vorher die Demokratie<br />

veranlaßt hatten, den Faschismus zu unterstützen, sie heute verhindern werden, ihm an<br />

die Kehle zu fahren. Was ihr fehlt, ist der Wille und die psychische Einstellung. Es<br />

ist wahr, sie hat das Geld, und man könnte annehmen, daß dies immerhin ein Mittel<br />

sei, den Kampf zu erleichtern, Waffen zu erwerben usw. Aber die Erfahrung hat uns<br />

gezeigt, daß es nicht das Geld ist, das den Klassenkampf macht, besonders nicht,<br />

wenn es sich in den Händen der Bankiers befindet. Außerdem ist die Demokratie<br />

nicht frei in ihren Bewegungen; sie kann ihre Interessen nicht kompromitieren.<br />

<strong>Die</strong> Träger der Demokratie wissen sehr gut, daß man heute keinen bewaffneten<br />

Kampf gegen eine Regierung führen kann, ohne die Arbeiter mit hineinzuziehen. Und<br />

sie wissen auch, daß, wenn das Proletariat in den Kampf hineingezogen wird, wird<br />

dies nicht geschehen als passiver Faktor, die Arbeiter werden vielmehr auf dem Gebiete<br />

des wirtschaftlichen Lebens die wichtigste Rolle im Kampfe spielen. Sie wissen,<br />

daß die Revolte gegen den Faschismus unbedingt die Revolte der Arbeiter auf dem<br />

Gebiete der Produktion nach sich zieht, auf welchem die Proletarier stets dominierend<br />

sind, auch wenn sie nicht als Partei in der Regierung vertreten sind.<br />

Angesichts dieser Gefahr zieht die Demokratie den Faschismus vor und arbeitet<br />

gegen ihn nach homöopathischen Methoden, die ihren Zwecken am besten dienen.<br />

Kein Zusammengehen also zwischen dem revolutionären Proletariat und der<br />

Demokratie! Aber wenn es auch vorkommen kann, daß sich in gewissen Momenten<br />

unsere Kräfte mit denen der Demokratie kreuzen im Kampfe gegen den Faschismus,<br />

wie dies z. B. der Fall gewesen ist in Deutschland zur Zeit des Kapp-Putsches, so kann<br />

aber niemals von einem Zusammengehen im Kampfe gegen den Bolschewismus die<br />

Rede sein.<br />

<strong>Die</strong>s ist ein Kampf, den wir ganz allein führen müssen und der sich unter allen<br />

Umständen gleichzeitig gegen die demokratische Bourgeoisie richten muß, die im<br />

Besitze der Staatsgewalt ist, denn wir haben gesehen, daß die Demokratie keineswegs<br />

gegen die Diktatur ist, sondern daß sie im Ernstfalle jede Diktatur unterstützen wird,<br />

um den revolutionären Vormarsch der Arbeiter aufzuhalten. Den Beweis dafür hatte<br />

sie schon lange vor Lenin erbracht und seitdem durch die Abschlachtung der Spartakisten<br />

in Deutschland und durch ähnliche Erscheinungen mehr in allen anderen Ländern<br />

mehr oder weniger bestätigt.<br />

Ich habe bereits gezeigt, daß sich zu diesem Zwecke die Demokratie sogar mit dem<br />

Faschismus vereinigt hat-<br />

Ich weiß, daß man sofort die Einwendung gegen uns erheben wird, daß unsere<br />

Vorschläge rein negativer Natur sind und der positiven Lösungen ermangeln.<br />

Aber wäre es etwa praktischer von uns, wenn wir mit unseren demokratischen<br />

Gegnern Hand in Hand gingen und mit ihnen zusammen mit den Beinen strampelten,<br />

anstatt auf dem Gebiete zu kämpfen, das unseren Ideen angemessen ist?<br />

Es gibt Perioden in der Geschichte, wo man selbst den Mut haben muß, anscheinend<br />

nichts zu tun, wenn man nichts besseres zu tun in der Lage ist, um zu verhindern,<br />

Errungenschaften preiszugeben, die uns morgen retten können. Tun wir das<br />

nicht, so werden sich die Notwendigkeiten der Stunde und die historische Wirklichkeit<br />

in einen Rachen verwandeln, der uns verschlingt.<br />

Nein, wir werden, von einem praktischen Standpunkte ausgehend, keinen Schritt<br />

machen, der uns kompromittieren könnte, indem wir mit jenen zusammengehen, die uns<br />

gerne an ihre Seite fesseln möchten, um die „politischen Freiheiten" zu verteidigen,<br />

trotzdem dies nur geschehen könnte, wenn wir unsere Physiognomie wechselten und uns<br />

politische Verantwortlichkeiten auferlegen würden, durch welche unsere Bewegungsfreiheit<br />

vollständig verlorengehen müßte.<br />

Und nun meine Schlußfolgerungen, welche ich in der hier vorliegenden Resolution<br />

niedergelegt habe.


CARBO: KAMPF GEGEN INTERNATIONALE REAKTION 33<br />

Nach Borghi erhält Carbo, Spanien, das Wort. Er führt aus, daß er bedaure,<br />

nicht genügend Zeit zur Verfügung zu haben, um diese Frage gründlich<br />

zu behandeln.<br />

<strong>Die</strong> Haltung der revolutionären Gewerkschaften den Massen ge- Carbo über<br />

genüber muß sich unterscheiden von der Haltung, die wir den politischen Kampf gegen<br />

Parteien gegenüber einnehmen. <strong>Die</strong> Anarchisten haben das Recht, ihre Ideen internationale<br />

zu propagieren, sie dürfen aber dabei nicht die Welt der Wirklichkeit aus<br />

Reaktion.<br />

den Augen verlieren, in welcher sie sich befinden. <strong>Die</strong> Zukunft wird nicht<br />

aus den Laboratorien hervorgehen, nicht aus abstrakten Formeln geschaffen,<br />

sondern durch die täglichen Kämpfe der Arbeiterschaft. <strong>Die</strong> bittere Wirklichkeit<br />

hat die revolutionären Organisationen Spaniens und Portugals gezwungen,<br />

bestimmte Stellung einzunehmen. <strong>Die</strong> Reaktion in Spanien und<br />

Italien wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht die gesamte Bourgeoisie auf<br />

seiten der Reaktion gestanden hätte. <strong>Die</strong> Militärdiktatur in Spanien wurde<br />

durch die liberale Bourgeoisie gefördert. In Barcelona, dem revolutionären<br />

Zentrum des Landes, bestand eine bürgerlich-nationalliberale Partei, die die<br />

große Gefahr witterte, die der kapitalistischen Gesellschaft von der Arbeiterbewegung<br />

drohte. Sie begriff, daß die letzte Stunde ihres Daseins näher<br />

rückte. Aus dieser Befürchtung heraus suchte die Bourgeoisie Kataloniens<br />

Zuflucht bei der militärischen Macht, und so kam es zum Staatsstreich. <strong>Die</strong><br />

Militärdiktatur in Spanien hatte kein aufbauendes Programm. Primo de Rivera,<br />

ein vollständig denegerierter Mensch, gestand später den Zweck der<br />

Diktatur ein: nach drei Jahren furchtbarer Reaktion, während welcher zahllose<br />

Opfer „auf der Flucht erschossen" wurden, so daß der Volksmund diese<br />

Zeit als Periode des „Fluchtgesetzes" bezeichnete, war es klar, daß die Verfassungsgarantien<br />

wiederhergestellt werden mußten, und daß Martinez Anido<br />

gezwungen war, von der Leitung der Regierungsmacht in Barcelona zurückzutreten.<br />

<strong>Die</strong> Furcht vor Attentaten zwang die liberale Bourgeoisie, die<br />

Rückkehr zu normalen Verhältnissen zu fordern. Das geschah durch den<br />

Tod des Ministerpräsidenten Dato. Graf Bugallei, einer der heißesten Befürworter<br />

der Militärdiktatur, setzte sich eine Stunde nach dem Attentat an<br />

Dato für die Wiedereinführung der verfassungsmäßigen Garantien ein. Das<br />

rief die Unzufriedenheit der Militärmachthaber wach. Der Streik der Transportarbeiter<br />

von Barcelona bewies, daß die revolutionäre Bewegung noch<br />

nicht tot war. Dadurch wurde der Staatstreich forciert. <strong>Die</strong> Reaktion der<br />

Militärs wurde schlimmer und legte sich mit bleierner Schwere auf das gesamte<br />

Leben. Das Wort Revolution war in seinen ungefährlichsten Verbindüngen<br />

planmäßig der Zensur verfallen. Was war zu tun? Eine revolutionäre<br />

Bewegung konnten wir nicht entfachen. Eine Revolution erfordert besondere<br />

Bedingungen, dazu fehlte es uns an allem. <strong>Die</strong> Nationalisten Kataloniens<br />

sahen ihre Hoffnungen zerschellt. Das Direktorium konnte seine<br />

Versprechungen nicht einhalten. Und nun wurden selbst die katalonischen<br />

Nationalisten das Opfer der Militärdiktatur: ihre Sprache, ihre Presse wurden<br />

verboten, ihre Führer verfolgt und ins Ausland vertrieben. <strong>Die</strong> Unzufriedenheit<br />

der katalonischen Nationalisten wurde dadurch noch gesteigert,<br />

und sie forderten die C.N.T. zu einer gemeinsamen Aktion gegen die Diktatur<br />

auf. Redner behauptet, daß die Feinde der Arbeiterklasse, die vorübergehend<br />

ihre Freunde werden, nichtsdestoweniger ihre Feinde bleiben. <strong>Die</strong><br />

Nationalisten wollten um jeden Preis den Sturz der Monarchie, die C.N.T. ließ<br />

sich auf dieser Grundlage auf Verhandlungen mit ihnen ein: die katalonischen<br />

Nationalisten sollten die Waffen liefern, de C.N.T. die Mannschaften. Da jedoch<br />

die katalonischen Nationalisten die technische Leitung des Unternehmens<br />

vollständig in ihre Hände nehmen und die Arbeiter unter eine militärische<br />

Disziplin zwingen wollten, wurden die Verhandlungen erschwert.


<strong>Internationale</strong><br />

Solidarität.<br />

Vortrag<br />

Schapiro.<br />

34 SCHAPIRO: INTERNATIONALE SOLIDARITÄT<br />

Redner trat dafür ein, daß man pro forma darauf eingehen sollte, um Waffen<br />

in die Hände zu bekommen. <strong>Die</strong> spanischen Anarchisten, die in Frankreich<br />

waren, gaben inzwischen eine halböffentliche Erklärung ab, in welcher sowohl<br />

die Führer der katalonischen Nationalisten wie auch die Kameraden, die an<br />

der Spitze der C.N.T. standen, mit dem Tode bedroht wurden. <strong>Die</strong> Nationalisten<br />

erfuhren hiervon und brachen alle Verhandlungen mit uns ab. In<br />

Portugal war eine ähnliche Lage. Nur handelte es sich nicht um eine schon<br />

zur Macht gekommene, sondern nur um die drohende Diktatur. Der Allgemeine<br />

Gewerkschaftsbund (C.G.T.) Portugals (der I.A.A. angeschlossen) ging mit<br />

der Regierung einig, und so wurden die Gelüste der Reaktion und der Militärdiktatur<br />

zum Scheitern gebracht. <strong>Die</strong> C.N.T. Spaniens ist ihren Ideen treu<br />

geblieben. Redner erwähnt einen Fall, der zur Inkonsequenz zwingt. Wenn<br />

ein Genosse zum Tode verurteilt ist, kann nur der König sein Leben retten.<br />

Man reicht deshalb an den König ein Gnadengesuch ein. Sollten wir unserer<br />

Prinzipien wegen das Leben unseres Genossen aufs Spiel setzen? <strong>Die</strong> C.N.T.<br />

bleibt trotz allem ihren Prinzipien treu, wenn sie auch vorübergehend mit<br />

politischen Parteien zusammengeht. Nichtsdestoweniger steht die C.N.T. auf<br />

dem Standpunkt, daß die soziale Revolution von den Arbeitern selbst, ohne<br />

jede politische Partei, durchgeführt werden müsse. Da wir aber keine Waffen,<br />

keine Maschinengewehre, keine Gewehre usw. besitzen, deshalb müssen<br />

wir sie ohne zu zögern von denen nehmen, die sie uns anbieten.<br />

Von einer Diskussion über diesen Punkt wird vorläufig abgesehen, die<br />

Resolutionskommission soll zuerst die Resolution Borghis über den Kampf<br />

gegen die Reaktion ausarbeiten, danach könne diskutiert werden. Außerdem<br />

schlägt Kater vor, in Anbetracht des Umstandes, daß ein Teil der Delegierten<br />

nur noch für 3 Tage Aufenthaltsbewilligung in Holland habe und<br />

der Kongreß seine Arbeiten schnell beenden müsse, die Punkte 6 und 13<br />

vorläufig zurückstellen. Der Kongreß erklärt sich damit einverstanden.<br />

7. Sitzung des Plenums.<br />

Zur Verhandlung steht: Punkt 7 der Tagesordnung:<br />

<strong>Internationale</strong> Solidarität.<br />

Berichterstatter A. Schapiro.<br />

Schapiro führte aus, daß die zwei Jahre, die seit dem Gründungskongreß<br />

der I.A.A. verflossen sind, voll von Kämpfen gegen den Kapitalismus gewesen<br />

sind. Kein einziges Land ist von der Krise verschont geblieben. Man braucht<br />

nur hinweisen auf den Generalstreik in Portugal, auf die Wirtschaftskrise in<br />

Deutschland, auf die politische Krise in Spanien, auf den Faschismus in ltalien,<br />

auf den Generalstreik in Argentinien — um nur die in die Augen<br />

springendsten hervorzuheben — um zu sehen, daß wir gegenwärtig in der gesamten<br />

zivilisierten Welt einen gewaltigen Kampf auszufechten haben.<br />

Alle diese Kämpfe bedrängten das Proletariat, das es mit einem gefährlichen<br />

Gegner zu tun hat, sehr hart. Während dem Staat und Kapitalismus<br />

die Armee, die Polizeimacht und unbeschränkte Geldmittel zur Verfügung<br />

stehen, hat die Arbeiterklasse nichts als ihr Elend. Dazu kommt bei dem<br />

Proletariat noch der Mangel an Zusammengehörigkeitsgefühl und die<br />

Schwäche der Organisation sowie der Mangel an materiellen Mitteln. In<br />

der letzten Zeit scheinen jedoch die Arbeiterorganisationen im allgemeinen,<br />

und der revolutionäre Syndikalismus im besonderen, diese Schwierigkeiten<br />

durch organisatorische Maßnahmen zu überwinden. Wenn auf nationalem<br />

Gebiete der Mangel an gemeinsamer Verständigung behoben wird, so ist es<br />

doch auf internationalem Gebiete noch nicht der Fall.<br />

Innerhalb einer Landesorganisation hat man die materielle Schwäche der<br />

Organisation durch regelmäßige Beiträge jedes Mitgliedes behoben. <strong>Die</strong>se<br />

Beiträge gaben der Arbeiterorganisation nicht nur die Mittel zur Propaganda,


SCHAPIRO: INTERNATIONALE SOLIDARITÄT 35<br />

sondern deckten auch die Bedürfnisse der Organisation und ihrer Mitglieder<br />

in der Stunde der Krisen, denen die Arbeiterklasse tagtäglich ausgesetzt ist.<br />

<strong>Die</strong>se Krisen wurden nach dem Kriege und nach der Revolution immer<br />

schwerer, so daß die große Masse der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter<br />

und ihre Organisationen selbst ihnen nicht immer gewachsen waren. <strong>Die</strong> ständigen<br />

Kämpfe schwächten die Organisationen, da die Arbeiter oft nicht eins<br />

mal die Mitgliederbeiträge aufbringen konnten. Als z. B. die Krise im Jahre<br />

1923 über das deutsche Proletariat hereinbrach, wurden die reformistischen<br />

und kommunistischen Organisationen von ihren Partnern des Auslandes weit<br />

mehr unterstützt als unsere F.A.U.D. Das hatte zum Ergebnis auf der einen<br />

Seite einen erheblichen Mitgliederverlust und auf der andern eine unvermeidliche<br />

Schwächung der Organisation als solcher (die Zeitung ging an Auflage<br />

und Umfang zurück usw.). Der Faschismus in Italien hat unsere syndikalistische<br />

Union Italiens (U.S.I.) fast völlig zerschlagen, die führenden Genossen<br />

eingekerkert und die gesamte Organisation fast an den Rand der Vers<br />

nichtung gebracht. <strong>Die</strong> Organisationen der verschiedenen Länder wurden<br />

aufgerufen, den gefangenen Kameraden, die in den italienischen Gefängnissen<br />

verschmachteten, und der bedrohten Existenz der Organisation selbst zu<br />

Hilfe zu kommen.<br />

<strong>Die</strong>se Beispiele können vervielfacht werden. Das hier Angeführte genügt<br />

jedoch, um die Notwendigkeit internationaler Hilfe innerhalb der I.A.A.<br />

darzutun. <strong>Die</strong> Kommunisten haben diese Tatsache sehr gut erkannt, und was<br />

ihnen an internationalem Anschluß abgeht, suchen sie durch Gelder, die sie<br />

von der russischen Regierung erhalten haben und die sie als Unterstützung<br />

bei großen Streiks, Aussperrungen, Verfolgungen und Verhaftungen ausgeben,<br />

wettzumachen.<br />

Bei vielen revolutionärssyndikalistischen Organisationen stützt sich die<br />

gegenseitige Hilfe und die Solidarität nur auf die Gefühle. <strong>Die</strong>se Solidarität<br />

ist aber immer nur impulsiv und sie tritt nur von Gelegenheit zu Gelegenheit<br />

in Kraft. <strong>Die</strong> Erfahrung hat uns aber gelehrt, daß es eine andere Form der<br />

Solidarität gibt, die ebenso wichtig, und angesichts der Schnelligkeit, mit der<br />

die Ereignisse sich abspielen, weit ernsthafter und gründlicher ist: das ist<br />

vorbeugende, systematische Solidarität, die gerade dadurch an Wert gewinnt,<br />

weil sie zur rechten Zeit kommt und in gewissen Momenten sogar einem<br />

Zusammenbruch vorbeugen kann.<br />

Ohne die Rolle der Beitragsleistungen bei den Gewerkschaften selbst zu<br />

prüfen, ist es leicht zu verstehen, daß die I.A.A. ohne Beiträge nicht einen<br />

Tag leben könnte. Und hier ist es nicht ohne Interesse, festzustellen, daß die<br />

an die I.A.A. angeschlossenen Organisationen, die im eigenen Lande die Beitrags-<br />

und Solidaritätsleistung der Impulsivität überlassen, nur sehr wenig für<br />

die Deckung der Ausgaben beigetragen haben, die eine internationale Organis<br />

sation nötig hat. <strong>Die</strong> Arbeiten einer internationlen Organisation dürfen jedoch<br />

keineswegs von den Launen abhängen. Eine internationale Organisation muß<br />

stets in der Lage sein, sagen zu können, was sie tun kann und welche Mittel<br />

sie zur Durchführung ihrer Unternehmungen hat. <strong>Die</strong> moralische Verantwortlichkeit<br />

ist sicher nicht zu unterschätzen, denn sie verbindet die Menschen,<br />

die einer Idee dienen. <strong>Die</strong>se moralische Verantwortlichkeit genügt<br />

aber nicht allein, um eine Broschüre oder eine Zeitung zu veröffentlichen, um<br />

die Verteidigungskosten eines Prozesses zu bezahlen oder die Gefangenen zu<br />

unterstützen usw. Dazu ist tatsächliche und praktische Verantwortlichkeit<br />

notwendig.<br />

Wenn man nun bei jeder Gelegenheit Aufrufe in alle vier Weltteile ergehen<br />

läßt und die Antworten abwarten muß, dann ist denen, die sich im<br />

Kampfe befinden, in der Regel nicht geholfen. Dazu kommt noch, daß der


36 SCHAPIRO: INTERNATIONALE SOLIDARITÄT<br />

Wert der Aufrufe vermindert wird, wenn diese zu oft wiederholt werden.<br />

Ein Nimm ist mehr wert zwei Du wirst haben. <strong>Die</strong> I.A.A. muß bereit und<br />

in der Lage sein, auf jedes Notsignal zu antworten. Hierzu ist jedoch die<br />

systematische Erziehung zur Solidarität notwendig. <strong>Die</strong>se systematische Solidarität<br />

sollte von allen angeschlossenen Organisationen unternommen werden.<br />

<strong>Die</strong> internationale Solidarität muß zur höchsten Pflicht werden.<br />

Ein anderer Grund, weshalb die impulsive Solidarität ungenügend und<br />

fast immer unwirksam ist, besteht in der weiten Entfernung vieler Länder<br />

von dem Lande, in welchem die Krise ausbricht. Ohne Zweifel spielt sich<br />

gegenwärtig in Europa das Schicksal der ganzen Menschheit ab. Einige<br />

Länder befinden sich aber Monatsreisen von Europa entfernt. Es ist unzulässig,<br />

daß eine internationale Kampfesorganisation beim Ausbruch einer<br />

Katastrophe erst mit allen angeschlossenen Landesorganisationen korrespondieren<br />

muß, die ihrerseits die Frage erst bei ihren Verwaltungsorganen oder<br />

noch weiter hinab diskutieren, und während dieser Zeit auf Antwort wartet.<br />

Eine Krise wartet nicht.<br />

Freilich wird durch die systematische Solidarität nicht das ganze Problem<br />

gelöst. Eine erste Hilfe kann jedoch dann immer zur rechten Zeit gegeben<br />

werden bis später stärkere Hilfe eintrifft.<br />

Wenn man auch der internationalen Solidarität und der Dringlichkeit<br />

der I.A.A., die materielle, moralische und praktische Solidarität zu systematisieren,<br />

den ersten Platz einräumt, so darf man dennoch nicht die Propagandaarbeit<br />

für die Ideen des revolutionären Syndikalismus innerhalb der<br />

Arbeitermassen vergessen. Leider hat diese Propaganda seit dem Bestehen<br />

der I.A.A. nur sehr beschränkt geführt werden können. Sowohl die mündliche<br />

wie die schriftliche Propaganda der I.A.A. läßt große Lücken. <strong>Die</strong><br />

bisherigen Beiträge sind zu ungenügend und zu unregelmäßig eingelaufen.<br />

Viele Organisationen haben keine regelmäßige Beitragsleistung. Und das<br />

wirkt auch zurück auf die internationale Organisation und Propaganda<br />

der I.A.A.<br />

Ohne eine gut entwickelte internationale Propaganda, die einer internationalen<br />

Aktion vorausgeht, hat die I.A.A. keine Daseinsberechtigung. Ein<br />

internationales Band ist nicht nur des Sekretariats wegen da. <strong>Die</strong>ses Band<br />

ist für die revolutionäre Propaganda eine Lebensnotwendigkeit geworden.<br />

Alles nimmt internationale Formen an, um die Arbeiterklasse zu erdrücken:<br />

der Kapitalismus, die Finanzwelt, die politische Unterdrückung, die Diktatur.<br />

Wenn die Arbeiterklasse nicht in politische und wirtschaftliche Sklaverei<br />

fallen will, muß sie sich international stark verbünden. <strong>Die</strong> revolutionärsyndikalistischen<br />

Organisationen aller Länder müssen die internationale<br />

Propaganda als einen Zweig ihrer eigenen Tätigkeit betrachten, die ebenso zu<br />

unterstützen ist wie die Propaganda im eigenen Lande, ohne Grenzen der<br />

einzelnen Länder zu beachten. Je stärker die internationale Propaganda entwickelt<br />

sein wird, desto mehr werden die Ergebnisse dieser Propaganda die<br />

Aktionen der Arbeiter beeinflussen. Eine internationale Organisation, die<br />

nicht fähig ist, eine intensive schriftliche und mündliche Propaganda zu<br />

betreiben, ist früher oder später zum Absterben verurteilt.<br />

Anschließend an diese Ausführungen legte Genosse Schapiro Vorschläge<br />

zur Finanzierung der I.A.A. und zur Organisierung der Solidarität und der<br />

Aktion vor. (Siehe Anhang Seite 65, Resolution VII.)<br />

Als erster Diskussionsredner spricht Santillan. Er wundert sich über<br />

die Vollkommenheit, mit der Schapiro seine Vorschläge ausgearbeitet hat,<br />

ist jedoch der Meinung, dieselben seien unrealisierbar, Utopie. Solidarität


DISKUSSION UBER INTERNATIONALE SOLIDARITÄT 37<br />

in jeder Beziehung wolle auch er. Es müsse aber nie der Boden unter den<br />

Füßen verloren gehen. Theoretisch habe er gegen die Vorschläge Schapiros<br />

nichts einzuwenden, in der Praxis aber ist es nicht möglich. In Mexiko z. B.<br />

das er hier vertrete, ist eine sozialistische Regierung, die unsere Bewegung<br />

fast ebenso hart bekämpfe und unterdrücke wie die Sowjetregierung. Unsere<br />

Kameraden werden von den Regierungssozialisten als Konterrevolutionäre<br />

bekämpft. Es sei aber dennoch nicht möglich, unsere Bewegung zu ver-<br />

nichten, denn sie habe eine Geschichte und ihre Ueberlieferungen in der<br />

Seele des Volkes. Auch in Italien war der Kampf hart, doch hat man unsere<br />

Bewegung nicht gänzlich beseitigen können. Mit Geld könne man gegen<br />

die Reaktion nichts ausrichten, denn wenn wir auch armselige 50000 Dollars<br />

zu Solidaritätszwecken jährlich aufbringen könnten, dann ist das gar nichts<br />

gegen die Kapitalkraft des Kapitalismus. <strong>Die</strong> R.G.I. hat ja die Probe aufs<br />

Exempel gemacht. Sie warf riesige Gelder heraus für die Gewinnung des<br />

lateinischen Amerikas, und doch ist es ihr nicht gelungen, Fuß zu fassen.<br />

<strong>Die</strong> internationale Propaganda kann nur durch die nationale Propaganda<br />

geführt werden. Wenn wir starke Landesorganisationen und nationale Organisationen<br />

haben, dann wird auch die internationale Propaganda eine gute<br />

Heimstätte finden. Ausgaben für internationale Propaganda sollen nach<br />

Möglichkeit eingeschränkt werden, damit alle Mittel für den Kampf der einzelnen<br />

Landesorganisationen verwendet werden können. Er halte den Vorschlag<br />

für ein Ideal, das aber der praktischen Wirklichkeit entbehre.<br />

Diaz. <strong>Die</strong> Kraft der internationalen Propaganda und Aktion liegt nicht<br />

im Sekretariat noch im Verwaltungsausschuß, sondern bei den organisierten<br />

Arbeitern und Organisationen in den einzelnen Ländern selbst. Argentinien<br />

habe immer für internationale Solidarität Gelder aufgebracht. Wenn wir<br />

in unsern Kassen große Summen ansammeln, dann setzen wir deren Verwalter<br />

der Korruption aus. <strong>Die</strong> argentinischen Kameraden haben Gelder<br />

nach Italien geschickt, mit welchen Malatesta die Zeitung weiter herausgeben<br />

konnte. In Argentinien werde in den Organisationen kein systematischer<br />

Beitrag bezahlt. <strong>Die</strong> F.O.R.A. habe 60000 Mitglieder, Beiträge<br />

werden aber nur von etwa 20 000 Mitgliedern im Durchschnitt bezahlt. <strong>Die</strong>se<br />

Art der Regelung werde von anderen als ungeregelt und verwirrt betrachtet,<br />

und doch haben die argentinischen Organisationen stets viel Geld für Solidarität<br />

flüssig machen können, sie geben eine Tageszeitung und etwa<br />

20 Fachzeitungen heraus, sie haben für viele Länder internationale Solidarität<br />

geübt. Argentinien könne einem solch festen Beitrag, wie in den Vorschlägen<br />

gefordert wird, nicht zustimmen, wenigstens nicht jetzt. <strong>Die</strong> Funktionen<br />

des Büros müßten eingeschränkt werden, dann brauche man nicht einen so<br />

großen und teuren Apparat. Man kann Propaganda machen ohne viel Geld<br />

zu haben. Er habe bei der Durchsicht des Kassenberichts gefunden, daß<br />

viele Ausgaben erspart werden konnten.<br />

Kater macht darauf aufmerksam, daß bereits auf dem 1. Kongreß der<br />

I.A.A. von einer internationalen Solidarität durch Vermittlung des Sekretariats<br />

gesprochen wurde. Es wurde auch ein diesbezüglicher Beschluß gefaßt,<br />

dem aber nur wenige Länder nachgekommen sind. Wenn wir uns den<br />

Kassenbericht ansehen, dann finden wir, daß Schweden, Norwegen, Deutschland<br />

ihre Pflicht vollkommen erfüllt haben, andere Organisationen haben<br />

leider ihre Pflicht nicht voll erfüllt. Wenn die F.A.U. Deutschlands nicht<br />

in der ganzen Periode so zahlen konnte, wie sie es gewollt hat, so ist das<br />

auf die außerordentliche Lage zurückzuführen, in der Deutschland sich befand.<br />

<strong>Die</strong> Inflation war ein schwerer Schlag für die deutsche revolutionäre<br />

Bewegung, und wenn da die internationale Solidarität nicht nur von einigen<br />

Landesorganisatioen der I.A.A. ausgeübt worden wäre, sondern von allen<br />

Diskussion über<br />

internationale<br />

Solidarität


38 DISKUSSION ÜBER INTERNATION ALK SOLIDARITÄT<br />

gleichmäßig, dann stände vielleicht der revolutionäre Syndikalismus in<br />

Deutschland heute auch noch besser da.<br />

Den Flüchtlingen der internationalen Reaktion müsse geholfen werden.<br />

<strong>Die</strong> Argentiner haben sich Mühe gegeben, und wenn wir die Zahlen vergleichen,<br />

dann werden wir finden, daß die F.A.U.D. in der verflossenen<br />

Tätigkeitsperiode 2517 Mark an die I.A.A. bezahlt hat, die F.O.R.A. dagegen<br />

nur 400 Pesos. Und doch sind die Lebensbedingungen in Argentinien bedeutend<br />

besser als in Deutschland. In einer internationalen Vereinigung<br />

gibt es gleiche Rechte aber auch gleiche Pflichten. Das Sekretariat muß<br />

die Möglichkeit haben, seine Arbeit auszuführen. Wir müssen moralisch<br />

auf unsere Mitglieder einwirken, sie anspornen, Tatmenschen zu werden.<br />

In Deutschland habe die F.A.U.D. schon lange die I.A.A.-Marke eingeführt.<br />

Es sind nur einige Pfennige, die der einzelne zu zahlen habe, und doch gebe<br />

das als Gesamtheit einen Beitrag, mit dem man haushalten kann. Redner<br />

tritt dafür ein, daß wenigstens der bisherige Beitrag ordnungsgemäß und<br />

regelmäßig bezahlt werden müsse.<br />

Lansink jun. erklärt im Namen der holländischen Delegation, daß diese<br />

mit dem Vorschlage Schapiros einverstanden sei. Sie brauche zu den Ausführungen<br />

Katers nichts hinzufügen. Redner glaubte bemerken zu müssen,<br />

daß in Argentinien keine gut funktionierende Organisation nach unsern<br />

Begriffen zu finden sei. Wir müssen aber danach streben. Wir müßten<br />

unsern Verpflichtungen nachkommen.<br />

Carbo, Spanien, erklärt sich ebenfalls einverstanden mit den Vorschlägen<br />

Schapiros. Es mache einen großen Eindruck auf die Arbeitermassen, wenn<br />

die von der Reaktion getroffenen Kameraden durch internationale Solidarität<br />

unterstützt werden. Diaz gegenüber will er betonen, daß natürlich<br />

keine Kasernendisziplin gefordert werden solle, aber freiwillige Selbstdisziplin.<br />

Anarchismus ist Selbstbeherrschung.<br />

Da noch eine Reihe Redner eingezeichnet sind, wird der Vorschlag gemacht<br />

und angenommen, daß jeder Redner nur 10 Minuten sprechen soll.<br />

Jensen spricht im Namen der skandinavischen Organisationen sich für<br />

den Vorschlag Schapiros aus. Als Antwort auf die Ausführungen der Argentinier<br />

will er bemerken, daß freilich starke Landesorganisationen die Voraussetzung<br />

der I.A.A. überhaupt sind. Andererseits müsse die I.A.A. doch aber<br />

auch ihre Propaganda in die Länder hin erstrecken, in denen sie noch nicht<br />

vertreten ist. <strong>Die</strong> Aufgabe der I.A.A. dürfe sich keineswegs damit erschöpfen,<br />

alle 2 Jahre einen Kongreß abzuhalten und schöne Reden zu führen,<br />

sondern gerade die Propaganda auszudehnen und Solidarität zu üben. Redner<br />

gibt einen Ueberblick über die Propaganda in Schweden. Im Jahre 1924<br />

habe S.A.C. für Propaganda 260 000 Kronen ausgegeben. Und deshalb gerade,<br />

weil die S.A.C. für Propaganda im eigenen Lande viel ausgibt, verstehe<br />

sie auch die Notwendigkeit der internationalen Propaganda. Wenn<br />

aber auf die Dauer nur einige Organisationen immer ihre Pflicht erfüllen,<br />

andere aber nicht, dann muß das notwendigerweise auch auf die letzteren<br />

zurückwirken und sie in ihrer Solidaritätserfüllung erlahmen lassen. In Dänemark<br />

befand sich vor einigen Jahren eine hoffnungsvolle syndikalistische<br />

Bewegung mit einer Tageszeitung als Organ. Eine Krise brach übers Land,<br />

die Bewegung kam in Schwierigkeiten. <strong>Die</strong> schwedische Bruderorganisation<br />

stellte 5000 Kronen zur Verfügung, das reichte jedoch nicht; andere internationale<br />

Solidarität war nicht vorhanden. Um die Zeitung am Leben zu erhalten,<br />

wandte man sich an Moskau, und so wurde schließlich die hoffnungsvolle<br />

Bewegung zur Beute der Moskowiter, die natürlich die Bewegung unter<br />

ihre Botmäßigkeit brachten. Dann kam es zur Spaltung, bis aus der ganzen<br />

Bewegung nur ein Trümmerhaufen übrig blieb. An der Hand dieses Bei-


DISKUSSION ÜBER INTERNATIONALE SOLIDARITÄT<br />

Spieles will Redner darstellen, wie notwendig internationale Solidarität ist.<br />

Redner anerkennt den Antrag Schapiros, macht jedoch den Zusatzantrag,<br />

diese Vorschläge den Landesorganisationen zur Prüfung vorzulegen.<br />

Souchy macht darauf aufmerksam, daß bereits auf der Vollkonferenz<br />

des internationalen Ausschusses in Innsbruck die Frage der Beiträge und der<br />

Solidarität diskutiert wurde. Man stellte sich vor allem die Frage, wie die<br />

romanischen Sektionen, vor allem in Amerika, zur Erfüllung ihrer Beitragspflicht<br />

herangezogen werden könnten. Man beschloß, Solidaritäts- und<br />

Propagandamarken herauszugeben. Leider haben gerade diejenigen Sektionen,<br />

für welche die Marken bestimmt waren, nur in ungenügendem Maße<br />

davon Gebrauch gemacht, so daß die Erfassung der ungenügend bezahlenden<br />

Sektionen nicht erreicht worden ist. <strong>Die</strong> Kameraden Argentiniens mögen<br />

doch einmal ihre Vorschläge machen, wie nach ihrer Meinung das Sekretariat<br />

der I.A.A. arbeiten sollte, wie in Fällen dringender Notwendigkeit schnelle<br />

Hilfe in internationalem Maßstabe geleistet werden könne ohne Schaffung<br />

eines internationalen Fonds. Redner erinnert an den Bergarbeiterstreik in<br />

Deutschland. <strong>Die</strong> I.A.A. richtete einen Aufruf anläßlich dieses Streiks an<br />

die internationale Arbeiterschaft, der jedoch nur platonisches Echo fand.<br />

<strong>Die</strong> Rote Hilfe der Kommunisten dagegen unterstützte die Streikenden<br />

materiell, und wenn diese Unterstützung auch nicht groß war, so blieb doch<br />

der moralische Erfolg. Dasselbe war bei dem Unglück auf der Zeche Stein<br />

in Westfalen der Fall, wo gegen 100 Bergarbeiter ums Leben kamen. <strong>Die</strong><br />

<strong>Internationale</strong> Rote Hilfe sandte sofort einen nur kleinen Betrag, und sie<br />

verstand es auch hier wieder für die Kommunistische Partei Propaganda zu<br />

machen. Zur Zeit streiken in Belgien 700 Bauarbeiter, die selbständig revolutionär-sydikalistisch<br />

organisiert sind und mit der I.A.A. in Verbindung<br />

stehen, sich ihr aber noch nicht angeschlossen haben. <strong>Die</strong>selben Kameraden<br />

wandten sich auch an unsere holländische Sektion um Unterstützung, und<br />

der N.S.V. sandte 25 Gulden. Während des Metallarbeiterkampfes in Norwegen<br />

unterstützten unsere schwedischen Kameraden die streikenden Metalls<br />

arbeiter Norwegens in großem Maße. Wir sehen also, daß von unsern Genossen<br />

in fast allen Ländern internationale Solidarität geleistet wird. Da<br />

wir aber eine I.A.A. haben, so würde das Prestige der I.A.A. selbstverständlich<br />

steigen, wenn die bisherigen internationalen Solidaritätsleistungen durch<br />

die I.A.A. vermittelt werden würden. Außerdem haben wir auch noch die<br />

Flüchtlinge, die oft von Land zu Land getrieben werden und auf internationale<br />

Solidarität angewiesen sind. Man müsse sich auch darüber aussprechen, ob<br />

es nicht notwendig wäre, hier eine Regelung zu treffen.<br />

Campos ist im allgemeinen mit dem Vorschlage Schapiros einverstanden,<br />

jedoch der Meinung, der Fonds sollte nicht in den Händen des Sekretariats<br />

liegen, sondern in den Händen jeder Landesorganisation, die ihn jederzeit<br />

zur internationalen Verfügung stellen müsse.<br />

Santillan will die Angriffe zurückweisen, die gegen die F.O.R.A. und<br />

die südamerikanischen Organisationen gerichtet worden sind. <strong>Die</strong> Südamerikaner<br />

werden als eine Art Träumer, als Romantiker behandelt. <strong>Die</strong><br />

schwedische Sektion der I.A.A. wird als Musterbeispiel hingestellt. Es solle<br />

gar nicht bestritten werden, daß sie viel geleistet hat. Wenn aber einmal<br />

eine Kommission eingesetzt werden würde, die sich zur Aufgabe machen<br />

würde, zu prüfen, wer von den einzelnen Organisationen am meisten für<br />

internationale Solidarität ausgegeben hat, dann würde es sich zeigen, daß die<br />

F.O.R.A. an erster Stelle steht. Schon seit 50 Jahren senden wir Unterstützungsgelder<br />

nach Spanien und Italien. Daß diese Gelder aber über Berlin<br />

gesandt werden sollen, können wir nicht einsehen. In Argentinien wurde<br />

auch für die I.A.A. rege Propaganda getrieben. Es wurde eine Broschüre<br />

39


Diskussion über<br />

internationale<br />

Solidarität.<br />

40<br />

DISKUSSION ÜBER INTERNATIONALE SOLIDARITÄT<br />

herausgegeben von 126 Seiten nur für die I.A.A. <strong>Die</strong> Broschüre kostete<br />

2000 Pesos. <strong>Die</strong> F.O.R.A. verlangte zu dieser Agitation für die I.A.A. nicht<br />

einen Pfennig vom Sekretariat, sondern gebe alles selbst aus. <strong>Die</strong> F.O.R.A.<br />

gibt alljährlich in ruhigen Zeiten 60 bis 70 000 Pesos für den Inhaftiertenfonds<br />

zur Unterstützung der politischen Gefangenen aus den eigenen Reihen.<br />

In ruhigen Zeiten, in denen die revolutionäre Agitation gesteigert ist, wie<br />

z. B. in den Jahren von 1918 bis 1924, wurden mehr als 100000 Pesos jährlich<br />

für diesen Zweck ausgegeben. 1923 wurden von unserm Komitee zum Schutze<br />

der Inhaftierten in Buenos Aires allein 3100 politische Gefangene unterstützt.<br />

Das beweist, wie wir die Solidarität ausüben. Jetzt veranstaltet die F.O.R.A.<br />

auf ihre eigenen Kosten ein Propagandaturnee durch ganz Südamerika zugunsten<br />

der I.A.A. Durch diese Tournes hoffen wir verschiedene Landes-<br />

Organisationen für die I.A.A. gewinnen zu können. Es könne auch nicht<br />

unwidersprochen bleiben, wenn gesagt wird, daß die Lebenshaltung der<br />

Arbeiterschaft in Südamerika besser sei wie in Europa. Redner lebte eine<br />

Zeitlang in Deutschland und muß sagen, daß der deutsche Arbeiter bürgerlieh<br />

lebt im Verhältnis zur Lage der Arbeiter Südamerikas oder Mexikos.<br />

Wenn einige europäischen Sektionen, wie z. B. die C.N.T. Spaniens vorgibt,<br />

sie könne keine Beiträge bezahlen, weil die Reaktion das regelmäßige Funktionieren<br />

der Gewerkschaften gestört habe, so könne das nicht anerkannt<br />

werden. In Südamerika wütet ständig eine Reaktion, die sicherlich nicht<br />

milder ist als die Reaktion in Spanien. Und dennoch tun die Organisationen<br />

ihre Pflicht. Der Niedergang der C.N.T. ist nicht auf die Reaktion zurückzuführen,<br />

sondern darauf, daß die C.N.T. die anarchistischen Prinzipien verlassen<br />

habe. Wenn man die Lage eines Landes kennt, wo sozialistische Reaktion<br />

herrscht, wie Schapiro sicher von Rußland erzählen könnte, dann wird<br />

man verstehen, mit welchenSchwierigkeiten die Arbeiterbewegung zu rechnen<br />

hat. <strong>Die</strong> Verhältnisse in Mexiko sind einem zweiten Rußland fast gleich zu<br />

stellen und deshalb kann man von der C.G.T. keinen regelmäßigen materiellen<br />

Beitrag fordern.<br />

5. Verhandlungstag. 8. Sitzung. Mittwoch, den 25. März 1925.<br />

Ehe der Kongreß in die Tagesordnung eintritt, überreicht Kamerad Rousscau<br />

im Namen des N.S.V. dem Kameraden R. Rocker zu seinem 52 jährigen<br />

Geburtstag, der heute stattfindet, einen großen Fliederstrauß. <strong>Die</strong> Delegierten<br />

beglückwünschen Rocker.<br />

Kater teilt mit, daß nachmittags die Plenarsitzung ausfällt, da die Kommissionen<br />

arbeiten müssen. Freitag abend müsse ein Teil der Delegierten<br />

Holland verlassen haben, deshalb sei Konzentration nötig.<br />

<strong>Die</strong> Diskussion über Punkt 7, internationale Solidarität, wird fortge-<br />

setzt. Rocker hat als erster Redner das Wort. Er glaubt, Vermittler spielen<br />

zu müssen zwischen den an feste regelmäßige Beiträge gewöhnten Nordeuropäern<br />

und den aus Impulsivität handelnden Romanen. Geldmittel zur<br />

Propaganda müssen selbstverständlich da sein. Und das hat wohl auch niemand<br />

bestritten, daß die Südamerikaner ihre Pflicht nicht erfüllt hätten. Wir<br />

müssen versuchen, die Argentinier zu verstehen, umgekehrt müssen auch sie<br />

uns Verständnis entgegenbringen. Diaz wird es wohl schwer fallen, die europäischen<br />

Verhältnisse recht zu verstehen, Santillan aber sollte das können.<br />

Auch die Bewegung in Argentinien habe sieh verändert. Früher kosteten die<br />

Zeitungen in Argentinien nichts, auf allen Zeitungen stand anstatt des angegebenen<br />

Preises: „Jeder nach seinen Kräften." Ein Irländer, Dr. Craigh, habe<br />

zum ersten Male in Argentinien einen festen Preis für eine Zeitung verlangt.<br />

Damals schrieen manche, das sei der Anfang des Zentralismus und das Ende<br />

der anarchistischen Prinzipien. Heute aber habe man sich daran gewöhnt<br />

und findet nichts Antianarchistisches daran, einen Preis für eine Zeitung zu


DISKUSSION ÜBER INTERNATIONALE SOLIDARITÄT 41<br />

fordern. Und man wird sicher auch einmal dahin kommen, in der Schaffung<br />

eines internationalen Solidaritätsfonds nichts Ketzerisches zu sehen. Wir<br />

haben die Aufgabe, die I.A.A. zu verbreiten und praktische Aktionen einzuleiten.<br />

Wir anerkennen die Arbeit unserer argentinischen Kameraden voll<br />

und ganz. Der Plan zur Finanzierung und Solidarität solle den argentinischen<br />

Kameraden in Ruhe vorgelegt werden. <strong>Die</strong> I.A.A. muß sich auf Landeskongressen<br />

vertreten lassen. Sie soll schon in der nächsten Zukunft nach<br />

Portugal und nach Schweden gehen. Das kostet Geld. <strong>Die</strong> I.A.A. soll Broschüren<br />

herausgeben, das kostet Geld. <strong>Die</strong> I.A.A. habe der R.G.I. den Boden<br />

untergraben, das ist von historischer Bedeutung, das hat nur getan werden<br />

können durch die aktive und finanzielle Hilfe unserer Kameraden. Es<br />

brauche jetzt nicht genau gesagt zu werden, wieviel man geben solle. <strong>Die</strong> in<br />

Not geratenen Kameraden müssen wissen, daß sie von ihren Kameraden uns<br />

terstützt werden. <strong>Die</strong> I. <strong>Internationale</strong> ist durch die internationale Solidarität<br />

stark geworden. Redner gibt einige Beispiele von der Unterstützung der<br />

Bergleute in Belgien, der Bronzearbeiter in Paris, der Korbmacher in London<br />

usw. Das waren damals freilich keine großen Unterstützungen, die Sache<br />

hatte aber doch eine nicht zu unterschätzende moralische Wirkung auf die<br />

Arbeiterschaft der damaligen Zeit. Er gibt Santillan den Rat, nicht so leidenschaftlich<br />

zu sein, denn wir müssen doch gemeinsam an einem Werke arbeiten.<br />

Carbo gibt nur eine Bemerkung ab. Er hätte nichts gesagt, wenn die<br />

Angriffe der argentinischen Kameraden von der F.O.R.A. auf die Presse begrenzt<br />

geblieben wären. Da aber Santillan die Sache auch hier auf dem Kongreß<br />

zur Sprache brachte, müsse er sich daagegen wehren im Namen der<br />

C.N.T. In Spanien sei man der Meinung gewesen, daß man Waffen zum<br />

Kampfe notwendig habe, wenn Santillan das nicht verstehe, dann könne er<br />

ihm nicht helfen. <strong>Die</strong> Artikel von Pestaña seien eigene persönliche Meinung,<br />

die im Organe der katalonischen Region „Solidaridad Obrera" und nicht<br />

im offiziellen Organ der C.N.T. erschienen seien. <strong>Die</strong> C.N.T. habe in Spanien<br />

keine Kommunisten aufkommen lassen, man habe den Aspiranten der<br />

Diktatur beizeiten den Garaus gemacht. <strong>Die</strong> Amsterdamer und die Sozialistische<br />

Partei haben in Spanien 10 000 Mitglieder, und aus diesen seien dann<br />

die Kommunisten abgespalten. Von den eigenen Kameraden seien jetzt<br />

immer noch zahlreiche in den Gefängnissen. Er stellte an Santillan die<br />

Frage, ihm genau zu sagen, wann und in welcher Beziehung die C.N.T. ihre<br />

eigenen anarchistischen Prinzipien verlassen habe.<br />

Schapiro hat das Schlußwort. Er will in den Reden der südamerikanischen<br />

Kameraden einen Gegensatz bemerkt haben. Santillan, der schon<br />

einige Zeit in Europa ist, empfand seine (Schapiros) Vorschläge nicht mehr<br />

als einen Verstoß gegen das Ideal, sondern nur noch als eine „Utopie". Diaz<br />

dagegen, der aus Argentinien eben komme, spricht von einem Kompromiß<br />

mit dem Ideal. Nun, „Utopien" lassen sich verwirklichen, das zeige der<br />

technische Fortschritt der letzten Jahre. Daß Geld uns retten könne, habe<br />

Redner niemals behauptet, man könne aber durch Geld den kämpfenden<br />

und verfolgten Kameraden eine erste Hilfe geben. Diaz führte an, daß bei<br />

Vorhandensein eines Solidaritätsfonds die Unterstützung auf einem falschen<br />

Wege ausgenutzt werden könne. Daß unlautere Elemente die Solidarität<br />

ausnutzen, das kann überall und unter allen Umständen geschehen, auch in<br />

Argentinien. Wenn plötzliche Hilfe notwendig ist, dann könne man sich<br />

nicht erst an die angeschlossenen Länder wenden, das würde zu lange dauern.<br />

Wenn geregelte Beiträge eingehen, dann könne die Arbeit besser eingeteilt<br />

werden. Santillan gegenüber entgegnet Redner, daß man Mexiko mit Rußland<br />

in keinem Falle vergleichen könne. Hätten die Anarchisten in Rußland<br />

eine Organisation gehabt wie in Mexiko, dann hätte man mehr getan.


<strong>Internationale</strong><br />

Industrieföderationen.<br />

42 INTERNATIONALE INDUSTRIEFÖDERATIONEN<br />

<strong>Die</strong> Diskussion ist abgeschlossen, es wird abgestimmt darüber, ob man<br />

im Prinzip mit dem Vorschlag Schapiros einverstanden ist. Dafür stimmen<br />

Deutschland, Holland, Schweden, Norwegen, Spanien, Portugal. Dagegen:<br />

Argentinien, Mexiko, Uruguay. Enthaltungen: Italien, Brasilien, Dänemark.<br />

Insgesamt: 6 für, 3 gegen, 3 Enthaltungen.<br />

Borghi gibt eine Erklärung ab, weshalb er für Italien sich bei der Abstimmung<br />

enthalten mußte. Im Prinzip wäre die U.S.I. dafür, da sie aber<br />

durch die faschistische Reaktion zerstört wurde, kann sie in der Praxis diese<br />

Beschlüsse nicht einhalten, und deshalb fühle er sich zur Stimmenenthaltung<br />

veranlaßt.<br />

Es gelangt nun Punkt 8 der Tagesordnung über die<br />

I.A.A. und internationale Industrieföderation<br />

zur Behandlung. Berichterstatter Rousseau, Holland. Er wies auf<br />

die verschiedenartigen Operationen des Kapitalismus hin, die es<br />

dem Proletariat unmöglich machen, den Kapitalismus auf der ganzen<br />

Linie zu bekämpfen. Wenn beispielsweise die Schiffsbauer in<br />

Holland streiken, dann baut der Kapitalismus seine Schiffe in Deutschland.<br />

Und so wie hier geht es auf allen Gebieten. Daher sei notwendig, die<br />

Industrieföderationen international zu verbünden. Redner schlägt eine<br />

Kommission vor, die sich mit der Angelegenheit beschäftigen und Vorschlage<br />

ausarbeiten solle. Es sollten internationale Kommissionen oder<br />

Komitees gebildet werden, damit die Arbeiter der verschiedenen Länder<br />

unterrichtet werden von den jeweiligen Kämpfen, die geführt werden<br />

von ihren Klassenbrüdern jenseits der Grenzen, damit sie sich danach<br />

einrichten können.<br />

Schapiro tritt für eine Erweiterung der Frage ein. Sie sei wichtig genug,<br />

so daß sich die I.A.A. damit beschäftigen solle. <strong>Die</strong> Bauarbeiter stehen<br />

uns ebenso nahe wie die Seeleute oder die Transportarbeiter. Hätten<br />

wir Verbindung mit der I.W.W., dann wäre es für uns bedeutend besser.<br />

Redner meint, daß man diese Frage gründlich behandeln solle, doch dazu sei<br />

auf diesem Kongreß schwerlich Zeit. Immerhin solle die Redaktionskommission<br />

die Frage behandeln, eine Resolution des Kongresses ausarbeiten und<br />

dem Plenum vorlegen.<br />

Souchy teilt mit, daß das Sekretariat ebenfalls an diese Frage herangetreten<br />

sei. Es habe die Einberufung von internationalen Industriekonferenzen<br />

ins Auge gefaßt, sich zu diesem Zwecke an die Bauarbeiterföderation<br />

der G.G.T. Portugals gewendet, an die Bauarbeiterföderation Frankreichs,<br />

um in Verbindung mit den Bauarbeitern Deutschlands und Hollands eine<br />

internationale Bauarbeiterkonferenz zustande zu bringen, die im Anschluß<br />

an diesen Kongreß hätte stattfinden sollen. <strong>Die</strong> Kameraden der Bauarbeiterföderation<br />

Portugals waren jedoch der Meinung, die Zeit sei zu verfrüht, sie<br />

schlugen den Sommer vor, und deshalb sei das Sekretariat gezwungen gewesen,<br />

die Konferenz aufzuschieben. <strong>Die</strong> Frage von Berufs- oder Industrieinternationalen<br />

sei für alle Industrien von großer Bedeutung. Gerade hier<br />

liege das praktische Betätigungsgebiet der I.A.A. <strong>Die</strong> Frage eines Einheitslohnes<br />

müsse nicht nur in einem Lande gestellt werden, sondern auf internationaler<br />

Basis. Heute sei es derart, daß die Bergarbeiter Deutschlands für<br />

einen niedrigeren Lohn arbeiten als die Bergarbeiter Englands. Zur Zeit<br />

der Inflation war die deutsche Arbeiterschaft in allen Industrien Lohndrückerin<br />

gegenüber der Arbeiterschaft aller anderen Länder. Es wäre deshalb<br />

die Aufgabe der internationalen Industrieföderationen, die Parole von<br />

internationalen Einheitslöhnen aufzustellen, zunächst für die Arbeiter einer<br />

Industrie, wie z. B. der Bergarbeiter, später aber auch für alle Industrien.<br />

Selbstverständlich müssen hier Reallöhne in Betracht kommen und nicht


FINANZIERUNG DER I.A.A. 43<br />

Nominallöhne. Für die Seeleute habe sich diese Frage bereits praktisch gestellt.<br />

Sie haben schon die Forderung internationaler Einheitslöhnc aufgestellt.<br />

<strong>Die</strong> Bergarbeiter müßten folgen, und dann weiter in dieser Richtung.<br />

Von nicht weniger großem Interesse sei die internationale Verständigung für<br />

die Landarbeiter und Bauarbeiter. Landarbeiter aus Galizien und Polen<br />

überschwemmen ganz Deutschland, Belgien, Dänemark, selbst Südschweden,<br />

natürlich arbeiten sie für niedrigere Löhne als die einheimischen Landarbeiter,<br />

sie werden zu Lohndrückern. Dasselbe ist der Fall mit den Bauarbeis<br />

tern. Vor dem Kriege waren es italienische Bauarbeiter, die in ganz Mitteleuropa<br />

Gastrollen gaben, heute ist Nordfrankreich von ausländischen Bauarbeitcrn<br />

überschwemmt, und diese Immigration ist für die französischen<br />

Bauarbeiter zu einer Gefahr geworden, so daß die Errungenschaften der<br />

französischen Bauarbeiter in Gefahr gerieten. <strong>Die</strong> französischen Bauarbeiter<br />

fühlten sich gewungen, zu dieser Angelegenheit Stellung zu nehmen, und<br />

es kam sogar schon zu Aeußerungen des Ostrazismus in den Reihen der Arbeiterschaft.<br />

Hier liegt eine Gefahr, die gerade durch das Auftreten internationaler<br />

Industriezusammenschlüsse gebannt werden könne. Man müsse<br />

dahin gelangen, daß die Bergarbeiter Englands die Arbeit niederlegen, wenn<br />

die Bergarbeiter Deutschlands streiken, und vice versa. Redner schlägt vor,<br />

im Einverständnis mit Rousseau eine Entschließung auszuarbeiten und dem<br />

Kongreß vorzulegen.<br />

Rousseau ist mit Souchys Ausführungen einverstanden. Er meint, mit<br />

rein finanziellen Unterstützungen sei die Sache nicht gelöst. Es müßten internationale<br />

Aktionen eingeleitet werden. Wenn die Bauarbeiter streiken, dann<br />

könne finanziell geholfen werden, von Portugal werden keine Bauarbeiter<br />

nach Holland kommen, um Streikbrecherdienste zu verrichten. Bei den Seeleuten<br />

und Dockarbeitern und Bergarbeitern ist es anders. <strong>Die</strong> Arbeiter<br />

dürften keine Schiffe abgehen lassen, keine Kohlen transportieren, keine<br />

Schiffe reparieren.<br />

Kater meint, der Kongreß könne keinen generellen Beschluß fassen. Wo<br />

die Möglichkeit zur Bildung von Industrieföderationen vorhanden ist, wo<br />

ferner solche schon bestehen, könnten und sollten dieselben miteinander in<br />

Verbindung treten. Leider bestünden innerhalb der syndikalistischen Bewegung<br />

nicht überall Industrieföderationen. In Deutschland hätten die Kameraden<br />

schon immer das Bestreben gehabt, international nach Föderationen<br />

zusammenzukommen. Wenn in Holland nicht die Spaltung im N.A.S. erfolgt<br />

wäre, dann würde heute schon eine intimere Verbindung der Industrieföderation<br />

bestehen. <strong>Die</strong> Bauarbeiterföderation innerhalb der F.A.U.D. habe auf<br />

ihrer letzten Konferenz beschlossen, an einer internationalen Bauarbeiterkonferenz<br />

teilzunehmen. <strong>Die</strong>ser Kongreß hier könne nur den Weg weisen, wie<br />

gearbeitet werden solle, könne aber selbst keine endgültigen Beschlüsse<br />

fassen. <strong>Die</strong> internationalen Kommissionen der Industrieföderationen müssen<br />

aus den Industrieföderationen selbst entstehen.<br />

Nachdem noch Santillan, Rocker, Schapiro sich übereinstimmend ausgesprochen<br />

haben, wird die Diskussion geschlossen und die Frage der Redaktions-Kommission<br />

übergeben.<br />

Im Namen der Finanzprüfungskommission erstattet Souchy einen Berieht<br />

und bringt gleichzeitig die Vorschläge der Finanzprüfungskommission<br />

zur Kenntnis, die von der Kommission als Antrag dem Kongreß vorgelegt<br />

und deren Annahme dem Kongreß empfohlen wird. <strong>Die</strong> Vorschläge der<br />

Kommission werden ohne längere Diskussion der Abstimmung unterzogen.<br />

Es ergibt sich fast einstimmige Annahme. Der Vertreter Portugals gibt eine<br />

Erklärung ab, daß die Krise, die in Portugal herrscht, es fast völlig unmöglich<br />

macht, die Beiträge in der geforderten Höhe zu zahlen, er erklärt sich<br />

Bericht der<br />

Finanzprüfungskommission.


I.A.A. u. Dawesabkommen.<br />

Redner:<br />

Lansink jun.<br />

44<br />

Presse der I.A.A.<br />

LANSINK: I.A.A. UND DAWESABKOMMEN<br />

aber im Prinzip damit einverstanden und will alles tun, um die I.A.A. zu<br />

unterstützen. <strong>Die</strong>selbe Erklärung wird für Mexiko von Santillan abgegeben.<br />

Mit Annahme der neuen Resolution über die Finanzierung der I.A.A.<br />

fällt die bisherige Regelung, die in den Statuten enthalten ist, weg.<br />

Der Wortlaut der Resolution befindet sich im Anhang auf Seite 66,<br />

Resolution XI.<br />

Im Namen der Pressekommission unterbreitet Souchy dem Kongreß Vor-<br />

schlage, die er kurz begründet. Der Vorschlag wird ohne Diskussion einstimmig<br />

angenommen. (Siehe Anhang Seite 66 u. 67, Resolution XII.)<br />

9. Sitzung des Plenums.<br />

Als nächster Punkt wird behandelt: <strong>Die</strong> Stellung der I.A.A. zum Dawes-<br />

abkommen. Berichterstatter B. Lansink jun., Holland.<br />

Redner hebt hervor, daß unter revolutionären Syndikalisten eigentlich<br />

Uebereinstimmung herrsche darüber, daß das Dawesabkommen als Folge<br />

des Versailler Vertrages ein Kriegsvertrag zwischen kapitalistischen Staaten<br />

und deshalb zu verwerfen sei. Der Versailler Vertrag und seine verschiedenen<br />

Sonderabkommen, die sich aus ihm ergaben, haben die Quelle des Krieges<br />

nicht beseitigt. Wenn wir den Inhalt des Dawesabkommens kennen, dann<br />

wissen wir, daß er das Ziel verfolgt, die deutsche Arbeiterschaft niederzuhalten,<br />

systematisch auszubeuten und daß infolgedessen auch die Arbeiterschaft<br />

anderer Länder in Mitleidenschaft gezogen wird. <strong>Die</strong> zweieinhalb Milliarden<br />

Goldmark, die von Deutschland bis 1928 gezahlt werden sollen, werden<br />

von den Steuern aus den Arbeitermassen herausgepreßt. Bereits jetzt<br />

wurden Entlassungen von Eisenbahnern und Staatsangestellten vorgenommen,<br />

um den Betrieb profitabel zu gestalten. <strong>Die</strong> Erhöhung des Fahrpreises<br />

der IV. Klasse wurde vorgenommen, die der I. und II. Klasse jedoch nicht.<br />

Das alles beweist, daß nicht die deutschen Kapitalisten, sondern die Arbeiterklasse<br />

die Lasten des Dawesabkommens tragen sollen. Das Abkommen<br />

selbst ist diktiert vom internationalen Kapitalismus. Der internationale<br />

Kapitalismus bedroht das deutsche Proletariat und gleichzeitig auch das Proletariat<br />

der anderen Länder. Wie wird sich das praktisch auswirken? <strong>Die</strong><br />

deutsche Industrie wird auf dem Weltmarkt als Konkurrent auftreten und<br />

versuchen, die Unternehmer der anderen Länder zu unterbieten. Es wird<br />

zu einer allgemeinen Konkurrenz kommen. <strong>Die</strong> englischen Schiffe werden<br />

jetzt schon in Deutschland und in Holland gebaut, weil in diesen Ländern die<br />

Löhne niedriger sind als in England selbst. Das hat eine allgemeine Lohnherabsetzung<br />

zur Folge. <strong>Die</strong> reformistischen Gewerkschaften, die in der<br />

Amsterdamer <strong>Internationale</strong> zusammengefaßt sind, anerkennen den Dawesplan<br />

und damit sind sie auch in der Praxis mit den Lohnherabsetzungen einverstanden.<br />

<strong>Die</strong> Produktion wird erhöht, die Löhne aber werden herabgesetzt.<br />

Das geschah zuerst in Deutschland, die anderen Länder folgen aber<br />

nach. England fängt auch schon damit an, in Holland ist es schon so. Auch<br />

der Achtstundentag wird durchbrochen. <strong>Die</strong> holländischen Kapitalisten begründen<br />

beispielsweise ihre Forderung auf Verlängerung der Arbeitszeit mit<br />

dem Hinweis auf die Arbeitszeit in Deutschland. Sie sagen, um mit den<br />

deutschen Industrieprodukten konkurrieren zu können, müsse die Arbeitszeit<br />

in Holland auch verlängert und die Löhne müssen herabgesetzt werden.<br />

Eine gewaltige Ausbeutung der Arbeiterschaft der ganzen Welt ist durch<br />

das Dawesabkommen eingetreten. <strong>Die</strong> Wirkungen des Dawesplanes beschränken<br />

sich aber nicht nur auf die wirtschaftlichen Verschlechterungen,<br />

auch der nationalistische Geist wird dadurch unter den Arbeitern großgezogen.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiter lassen sich einreden, sie würden vom ausländischen<br />

Kapitalismus ausgebeutet, und eine Hetze gegen das Ausland ist die Folge,<br />

Chauvinismus und Nationalismus gewinnen Oberhand. Das Ergebnis ist ein


ROCKER: I.A.A. UND DAWESABKOMMEN<br />

neuer Krieg, der freilich auch in eine Revolution umschlagen kann. Tatsächlich<br />

kann man in Deutschland ein Anwachsen des Nationalismus feststellen.<br />

Krieg, Ausbeutung und Reaktion laufen im Kielwasser des Dawesabkommens.<br />

Es ist notwendig, daß die I.A.A. dazu Stellung nimmt und ihren<br />

Standpunkt den Arbeitern klar macht. Nach Meinung des Redners müsse<br />

die I.A.A. das Dawesabkommen verwerfen.<br />

Als zweiter Redner nimmt R. Rocker das Wort. Er sagt:<br />

Wenn Genosse Lansink sich gegen das Dawesabkommen erklärt, so sind Diskussion über<br />

wir in diesem Punkte vollkommen mit ihm einverstanden. Wir unterschreiDawesben auch alles, was Lansink über die internationalen Auswirkungen dieses abkommen.<br />

Abkommens und besonders über seine unvermeidlichen Folgen für die Ar- Redner:<br />

Rocker.<br />

beiterschaft in und außerhalb Deutschlands gesagt hat. Wir sind Gegner des<br />

Dawesabkommens, wir wir Gegner des Versailler Vertrages sind. Beide sind<br />

Ergebnisse der imperialistischen <strong>Die</strong>bspolitik des internationalen Kapitalismus,<br />

und aus diesem Grunde bekämpfen wir sie bis aufs Messer. Aber die<br />

antiautoritär eingestellten Teile der deutschen Arbeiterschaft können sich<br />

mit der einfachen Konstatierung dieser Tatsache nicht begnügen. Schon deshalb<br />

nicht, weil sich in unserem Lande die Wortführer der wüstesten Reaktion.<br />

die Anhänger der Monarchie und des schwarz-weiß-roten alten Regimes<br />

als die wütendsten Gegner des Dawesabkommens gerieren. <strong>Die</strong>se<br />

Herren aber haben kein Recht zu protestieren, denn sie wären die ersten gewesen,<br />

welche die anderen Völker nach demselben Rezept behandelt hätten,<br />

nach dem man heute Deutschland behandelt, wenn der Krieg eine andere<br />

Wendung genommen hätte.<br />

Das Dawesabkommen war das direkte Ergebnis des verlorenen Ruhrkrieges,<br />

welcher Deutschland die Riesensumme von fünfzehn Goldmilliarden gekostet<br />

hat. Aber dieses fruchtlose Abenteuer wurde von Stinnes und der<br />

deutschen Schwerindustrie direkt provoziert, und während das Volk in einen<br />

Abgrund des verzweifeltesten Elends gestürzt wurde, waren diese Räuber auch<br />

damals in der Lage, ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen. So war die<br />

Firma Thyssen, um nur ein Beispiel unter Hunderten anzuführen, vor dem<br />

Kriege keine 200 Millionen Mark wert; heute beläuft sich ihr Vermögen auf<br />

über eine Milliarde Goldmark. Kein Versailler Vertrag hat Deutschland<br />

solche Wunden geschlagen, als die gewissenlose Profit-Politik seiner Schwerindustriellen<br />

und Großagrarier, die aus der Haut des eigenen Volkes buchstäblich<br />

Riemen geschnitten haben. <strong>Die</strong>se Herren haben sich nicht nur aus<br />

patriotischer Begeisterung die Steuern stunden lassen, dem Volke die Kohlen<br />

in unverschämtester Weise verteuert, sie haben auch aus den Papierkrediten<br />

der Reichsbank ungeheure Profite ergattert. Und zu allem dem zahlte ihnen<br />

die Regierung noch 700 Millionen Goldmark als „Entschädigung" aus. Niemals<br />

ist ein Volk in gemeinerer Weise bestohlen worden, wie es in diesem<br />

Falle geschah.<br />

Aber nur der Sozialdemokratie und ihrem zentralgewerkschaftlichen Anhang<br />

ist es zu verdanken, daß das Ruhrabenteuer überhaupt möglich wurde.<br />

<strong>Die</strong>selbe Partei, die während des Krieges mit den Trägern der schlimmsten<br />

Reaktion Hand in Hand gegangen, ließ sich auch dieses Mal wieder von der<br />

künstlich emporgearbeiteten nationalistischen Welle mit fortreißen und begünstigte<br />

eine Politik, von der ihre Führer wissen mußten, daß sie nur einer<br />

kleinen Minderheit profitgieriger Finanz- und Industriepiraten zum Nutzen<br />

geraten, aber der breiten Masse des Volkes zum Verderben gereichen mußte.<br />

<strong>Die</strong>se schamlose Preisgabe der Arbeiterinteressen war eine der traurigsten<br />

Erscheinungen in unserem an traurigen Erscheinungen so reichen Lande.<br />

Es ist daher auch nicht zu verwundern, daß die Sozialdemokratie und ihr<br />

Anhang heute zu den stärksten Befürwortern des Dawesabkommens gehört.<br />

45


46 JENSEN: I.A.A. UND DAWESABKOMMEN<br />

<strong>Die</strong>se Dinge müssen hier unbedingt ausgesprochen werden. Sie müssen auch<br />

in der dem Kongresse vorgelegten Resolution über das Dawesabkommen<br />

rücksichtslos zum Ausdruck kommen, wenn sie die Zustimmung unserer Genossen<br />

zu Hause finden soll.<br />

Jensen, Schweden, hat im Prinzip nichts gegen die vorliegende Resolution<br />

einzuwenden, wünscht jedoch einige Abänderungen. Es kann taktisch<br />

als Unklugheit betrachtet werden, die Arbeiterklasse eines Landes, wie<br />

Deutschlands, als gemeinsamen Märtyrer hinzustellen. Es ist unbedingt erforderlich,<br />

daß auch die eigene Verantwortung der Arbeiterschaft hervorgehoben<br />

werde. <strong>Die</strong> Gefühle kollektiven Märtyrertums bei eines Landes Arbeiterschaft<br />

können leicht zur Quelle des Nationalismus und Patriotismus<br />

werden, und! damit dem Militarismus und Krieg geistige Nahrung bieten. Das<br />

Dawesabkommen ist ein natürliches Ergebnis des Krieges. Der Krieg ist<br />

seinerseits das Resultat des kapitalistischen Imperialismus, aber auch die Arbeiterklasse<br />

trägt die Verantwortung: der Weltkrieg wurde geführt und konnte<br />

nur geführt werden mit den nationalistisch vergifteten Proletariern, die das<br />

Schlachtopfer des Schlachtfeldes wurden, aber technisch den Krieg von den<br />

Fabriken und Arbeitsplätzen aus speisten. Es ist notwendig, daß die Arbeiterklasse,<br />

und die deutsche nicht zuletzt, ihre Schuld in dieser Hinsicht anerkennt,<br />

da das Zugeständnis eines Fehlers die Voraussetzung für dessen<br />

Beseitigung ist. Das wirtschaftliche Elend, das unter den breiten Massen<br />

der deutschen Arbeiterschaft herrscht, kann nicht nur auf das Dawesabkommen<br />

zurückgeführt werden, dieses Elend ist auch die Folge der Untätigkeit<br />

des deutschen Proletariats, die von der politischen, nationalistischen<br />

und patriotischen Rücksichtnahme diktiert ist, die auf den geistigen Einfluß<br />

der korrumpierten Sozialdemokratie über die Massen zurückzuführen ist.<br />

<strong>Die</strong> Untätigkeit der deutschen Arbeiterschaft während der Inflation in<br />

Deutschland, die rücksichtsloseste kapitalistische Plünderung eines Volkes,<br />

die die Geschichte kennt, ist ein trauriges Beispiel hierfür. Auch hier können<br />

die Arbeiter nicht von der Verantwortung befreit werden. Nichsdestoweniger<br />

ist es selbstverständlich richtig, daß das Dawesabkommen ein<br />

Attentat gegen das internationale Proletariat ist, das politische Reaktion,<br />

wirtschaftliches Elend und neue kriegerische Verwicklungen im Gefolge<br />

führen muß. Es genügt aber nicht, das zu konstatieren, man muß praktische<br />

Richtlinien für dessen Bekämpfung geben. Das Dawesabkommen ist ein<br />

Versuch des Imperialismus, die durch Kampf erreichten Errungenschaften<br />

des internationalen Proletariats zu durchbrechen. Der Kampf gegen dieses<br />

Attentat muß deshalb international geführt werden. Der Durchbruchsversuch<br />

setzt durch einen konzentrischen Anfall auf den Frontabschnitt der deutschen<br />

Arbeiterklasse ein. Da ist es die selbstverständliche Pflicht des internationalen<br />

Proletariats, alle seine Reserven auf dem Punkte einzusetzen, damit<br />

die Front nicht nachgibt. Der deutschen Arbeiterklasse muß ihre Pflicht vorgehalten<br />

werden, mit Ueberwindung aller nationalistischen Vorurteile ernsthaft<br />

den Kampf gegen den Kapitalismus aufzunehmen, diese Forderung an<br />

die deutsche Arbeiterschaft muß selbstverständlich begleitet werden von der<br />

opferwilligen Unterstützung des internationalen Proletariats. <strong>Die</strong> erste Aufgabe<br />

einer praktischen Bekämpfung des Dawesabkommens muß darin bestehen,<br />

die deutsche Arbeiterschaft bei der Bekämpfung des Kapitalismus<br />

zu unterstützen, da der Kapitalismus das Bestreben hat, die deutschen Arbeiter<br />

zu Kulis des internationalen Kapitalismus zu machen.<br />

Pfemfert hätte nach dem Referat Rockers eigentlich nichts mehr zu der<br />

Frage hinzuzufügen, ist aber doch der Meinung, daß die Resolution Lansink<br />

eine scharfe Abgrenzung vermissen lasse. Es würde in Deutschland patriotisch<br />

wirken, wenn in einer Resolution der I.A.A. gegen das Dawesgutachten


ANTRÄGE ÜBER STATUTENVERÄNDERUNG 47<br />

nicht die Brandmarkung der politischen, sozialdemokratischen Partei ausgedrückt<br />

sein würde. Es ist notwendig, diesen Punkt schärfer hervorzuheben,<br />

er schlägt zu diesem Zwecke vor, daß Rocker an der Umarbeitung der Resolution<br />

mitarbeitet.<br />

Souchy weist darauf hin, daß gerade bei Besprechung dieses Punktes die<br />

Abwesenheit der französischen Delegation zu beklagen ist. Man wird bei<br />

Beurteilung des Dawesabkommens nur dann jeder Einseitigkeit entgehen<br />

können, wenn die revolutionären Syndikalisten sowohl Deutschlands wie<br />

Frankreichs ihre Meinung gesagt und ihre Ideen und Erfahrungen über die<br />

Wirkungen des Dawesabkommens ausgetauscht haben.<br />

6. Verhandlungstag, 10. Sitzung, Donnerstag, den 26. März 1925.<br />

<strong>Die</strong> Redaktionskommission bringt die Resolution über den Kampf gegen<br />

die Reaktion in ihrer endgültigen Fassung zur Verlesung. Es wird abgestimmt<br />

und ergibt einstimmige Annahme. (Siehe Wortlaut Anhang Seite 62,<br />

Resolution III.)<br />

Danach wird noch einmal über die Aenderung der Resolution, in der die<br />

I.A.A. Stellung nimmt zu den verschiedenen Parteien diskutiert, bis eine<br />

Einigung erzielt wird. Da diese Diskussion keinen allgemeinen Charakter<br />

trägt, kann eine Wiedergabe übergangen werden.<br />

<strong>Die</strong> Resolution über die praktischen Tageskämpfe liegt ebenfalls vor<br />

und wird nach Verlesung einstimmig angenommen. (Siehe Wortlaut Anhang<br />

Seite 63, Resolution IV.)<br />

Der Kongreß geht jetzt zur Statutenänderung über. Es werden im allgemeinen<br />

nur stilistische Veränderungen vorgeschlagen, die nach Prüfung<br />

angenommen werden. Außerdem liegt ein Antrag Schapiros vor, im Anschluß<br />

an § 2 der „Prinzipienerklärung des revolutionären Syndikalismus"<br />

folgenden Ansatz hinzuzufügen:<br />

„Daraus folgt, daß die Gefahr für den revolutionären Syndikalismus<br />

in der Verbindung mit den politischen Organisationen und Bewegungen<br />

besteht, die entweder die Eroberung der politischen Macht erstreben und<br />

in der organisierten Arbeiterklasse nur ein Instrument sehen, das zugunsten<br />

der Partei ausgebeutet wird oder mit Organisationen, die sich zwar gegen<br />

die Eroberung der Macht erklären, aber nicht endgültig mit der staatlichen<br />

Ideologie gebrochen haben, wenn diese auch einen Uebergangscharakter trägt.<br />

Dagegen hat der revolutionäre Syndikalismus nichts zu fürchten von<br />

Organisationen oder Bewegungen, die zwar den Klassenkampf und die entscheidende<br />

Rolle der wirtschaftlichen Arbeiterorganisationen in dem Verlaufe<br />

der sozialen Revolution nicht rückhaltlos anerkennen, die Vernichtung<br />

des Unternehmertums und des Staates aber nichtsdestoweniger als unerläßliche<br />

Bedingung einer siegreichen Revolution betrachten und entschieden<br />

gegen die Einmischung irgendeiner staatlichen oder antistaatlichen<br />

Organisation in die Arbeiterbewegung und die wirtschaftlichen Organisationen<br />

der Arbeiter sind. Mit diesen Kräften, Organisationen oder Bewegungen<br />

sollten die revolutionären Syndikalisten eine Grundlage zur Verständigung<br />

und zum Nebeneinanderbestehen finden, damit das Befreiungswerk<br />

auf föderalistischer und antistaatlicher Basis nicht durchkreuzt wird,<br />

die Propaganda der Ideen des freiheitlichen Kommunismus und des antistaatlichen<br />

revolutionären Syndikalismus sich gegenseitig ergänzen kann, der<br />

Aufmarsch zum antistaatlichen Kommunismus beschleunigt und die Er-<br />

Wartungen für den Enderfolg der Revolution bereichert werden."<br />

<strong>Die</strong>ser Antrag ruft eine lebhafte Diskussion hervor. Rousseau, Holland,<br />

erklärt, diesen Zusatzantrag zu den Statuten nicht annehmen zu können,<br />

denn die Anarchisten, um die es sich in diesem Antrag sicher handelt, ohne<br />

Statutens<br />

Veränderung.<br />

Zusatzantrag<br />

Schapiro.


48 DISKUSSION ÜBER STATUTENVERÄNDERUNG<br />

daß es direkt ausgesprochen ist, bekämpfen in Holland die revolutionären<br />

Syndikalisten aufs schärfste. Es gebe in Holland individualistische Anarchisten,<br />

die jede Organisation ablehnen, und mit diesen Leuten, mit denen<br />

sehr schwer auszukommen ist, würden wir bei Annahme dieses Antrages<br />

zu tun bekommen. Auch Lansink, Holland, erklärt, daß die Syndikalisten<br />

in Holland mit dieser Sorte Anarchisten, die jeden Streik ablehnen, nicht<br />

zusammengehen können. Borghi will das Richtige aus dem Vorschlag<br />

Schapiros herausholen. Man soll sich davor in Acht nehmen, denen Fußtritte<br />

auszuteilen, die einem nicht lieb sind. <strong>Die</strong> Anarchisten von Paris sind<br />

auch oft gegen uns, obwohl sie in Zeiten der Krise ganz mit uns eins gehen.<br />

Wenn sie uns bekämpfen, dann sind sie im Widerspruch mit sich selbst.<br />

In Italien ist es ähnlich. Statt Parteien und Gruppen sollten wir sagen<br />

antiautoritäre Gruppen. Kater, Deutschland, ist der Meinung, die Kon-<br />

Zessionen, die hier gemacht werden sollen, können zu Konfusionen führen.<br />

In Deutschland gebe es Leute, die keine Aktionen wollen, sondern Hungerapostel<br />

sind. Rocker drückt die Ansicht aus, daß in diesem Vorschlage eine<br />

Idee zum Ausdruck kommen soll. Man müsse zwischen Parteien und antiautoritären<br />

Gruppen unterscheiden. Es gibt Anarchisten, die über die Frage<br />

des revolutionären Syndikalismus eine von ihm grundverschiedene Auffassung<br />

haben, wie z. B. Malatesta. Und dennoch könne er mit ihm aufs<br />

beste zusammenarbeiten. Allerdings gebe es auch Anarchisten, mit denen<br />

ein Zusammenarbeiten nicht möglich ist. Ein Beispiel: Langer in Hamburg.<br />

Hier müsse man einen Unterschied machen. Es nehmen noch mehrere Delegierte<br />

das Wort. Souchy schlägt vor, den Antrag fallen zu lassen, da das<br />

Wesentliche davon schon in den anderen Teilen der Prinzipienerklärung<br />

und Statuten enthalten ist. Der Antragsteller Schapiro meint, dieser Antrag<br />

sei nicht richtig verstanden, sondern durchaus mißverstanden worden. Was<br />

Rousseau sagte, bestätige nur seine Meinung: man könne mit Anarchisten<br />

auch zusammen arbeiten. Man dürfe nicht vergessen, daß die Gründer der<br />

I.A.A. Anarchisten waren und auch auf diesem Kongreß wohl die Mehrzahl<br />

der Delegierten Anarchisten sind. Der gegenwärtige Streit zwischen Anarchisten<br />

und Syndikalisten ist für beide Teile gefährlich, deshalb müsse man<br />

zu einer Verständigung kommen. Der freiheitliche Kommunismus habe mit<br />

dem Individualismus nichts zu tun. Konzessionen sollten keineswegs gemacht<br />

werden, auch die Anarchisten wollen den Klassenkampf, wenn auch<br />

mit gewissen Reserven. Wir müssen eine enge Verbindung mit diesen Organisationen<br />

finden, insbesondere in den romanischen Ländern. Wenn einer<br />

den andern bekämpft, dann würde das der freiheitlichen Bewegung im allgemeinen<br />

schaden. In Frankreich ist es schon soweit gekommen, und das<br />

ist sehr bedauerlich. Man solle nur nicht vor einigen Individualisten zu große<br />

Angst haben. Wenn wir revolutionären Syndikalisten uns fragen, wie wir<br />

uns den Aufbau der neuen Gesellschaft denken, dann herrscht auch bei<br />

uns noch keine Klarheit. Das Blut der revolutionären Syndikalisten stammt<br />

von den Anarchisten. <strong>Die</strong> Frage der Individualisten könne ganz wegfallen,<br />

weil hier von freiheitlichem Kommunismus gesprochen werde.<br />

Es wird abgestimmt. Es enthalten sich der Stimme: Argentinien, Brasilien,<br />

Mexiko, Norwegen, Uruguay, Dänemark. Dagegen stimmen Deutschland<br />

und Holland. Dafür Italien, Portugal, Spanien, Schweden. Ergebnis:<br />

6 Enthaltungen, 4 für, 2 dagegen.<br />

Da die Mehrzahl sich der Stimme enthalten hat, soll der Antrag den<br />

Landesorganisationen zur Prüfung übersandt werden, die sich der Stimme<br />

enthalten haben. Schapiro bemerkt, daß die Frage praktisch erst vom<br />

nächsten Kongreß entschieden werden kann, nachdem es sich um eine Aende-


INTERNATIONALE STUDIENKOMMISSION 49<br />

rung der Statuten handelt, und eine solche kann nur von einem Kongreß<br />

vorgenommen werden.<br />

Diaz, Argentinien, gibt die Erklärung ab, er habe sich der Stimme deshalb<br />

enthalten, weil in Argentinien die Verhältnisse anders liegen. <strong>Die</strong><br />

Anarchisten sind alle in den Gewerkschaften tätig. Rocker erklärt, er habe<br />

das Mandat von Brasilien, das er vertrete, erst hier in Holland erhalten<br />

und kenne daher den Standpunkt der brasilianischen Kameraden in dieser<br />

Frage noch nicht.<br />

<strong>Die</strong> Frage, ob der Satz beibehalten werden soll, daß dem internationalen<br />

Büro ein Mitglied nicht angehören kann, das gleichzeitig eine politische<br />

Funktion ausübt, erregt eine rege Diskussion. Carbo ist der Meinung, die<br />

Frage solle bis zum nächsten Kongreß aufgeschoben werden. Borghi sagt,<br />

daß die Anarchisten in Spanien, besonders Luigi Fabri, seit langen Jahren<br />

bemüht waren, zu beweisen, daß auch die Anarchisten eine politische Partei<br />

seien. Wenn nun dieser Passus bestehen bliebe, dann dürfte kein Anarchist<br />

dem Verwaltungsbüro angehören. Aus diesem Grunde war die italienische<br />

Delegation bereits auf dem Gründungskongreß der I.A.A. gegen diesen Paragraphen,<br />

und deshalb müsse er in Uebereinstimmung mit dieser Stellungnahme<br />

auch heute wieder für die Streichung dieses Punktes eintreten. Jensen<br />

erklärt, daß die Anarchisten in Schweden sich ebenfalls „Jungsozialistische<br />

Partei" nennen. Er sei Mitglied dieser Partei, und dürfte, wenn dieser Punkt<br />

aufrechterhalten wird, dem Ausschuß nicht angehören.<br />

Souchy schlägt vor, den Punkt zu streichen, da in der Praxis ja doch<br />

niemals ein Mitglied von politischen Parteien, deren Ziel die Machteroberung<br />

ist, in den Ausschuß gewählt wird Campos, Portugal, erwähnt,<br />

daß sie in ihrer Organisation Kommunisten dulden, auch er ist dafür, den<br />

Punkt zu streichen. Schapiro ist der Meinung, daß im Sinne der Ausführungen<br />

von Diaz wir alle eine Gefahr sind. In Rußland bestünden die<br />

linken Sozialisten-Revolutionäre, die ebenfalls mit der I.A.A. in Verbindung<br />

treten wollen. Es sei daher besser, hinzuzufügen, daß nur Mitglieder von<br />

politischen Parteien, die nicht die politische Macht erobern wollen, in den<br />

Ausschuß gewählt werden dürfen. Kater glaubt ebenfalls über die Sache<br />

am besten hinwegzukommen, indem man den Punkt streicht. Rousseau,<br />

Holland, ist hier mit Kater nicht einverstanden. In Holland hätten sie auch<br />

den Fall erlebt, daß im Vorstand des Nationalen Arbeits-Sekretariats Mitglieder<br />

saßen, die für Moskau und die R.G.I. Propaganda machten.<br />

Es wird die Abstimmung vorgenommen.<br />

Für die Streichung dieses Punktes stimmen: Argentinien, Deutschland,<br />

Mexiko, Norwegen, Portugal, Spanien, Schweden, Uruguay.<br />

Dagegen: Holland, Italien.<br />

Enthaltung: Brasilien.<br />

9 Stimmen für Streichung, 2 dagegen, 1 Enthaltung.<br />

Es ist also beschlossen, den Punkt zu streichen.<br />

Schapiro macht einen Vorschlag zur Bildung einer internationalen<br />

Studienkommission. <strong>Die</strong> Aufgabe dieser Studienkommission solle darin bestehen,<br />

wichtige Probleme über internationale Erscheinungen im Kampfe<br />

gegen Staat und Kapitalismus zu behandeln, theorethisch zu klären und in<br />

Form von Broschüren herauszugeben. Nach kurzer Aussprache wird die<br />

Bildung einer solchen Studienkommission beschlossen. Zu Mitgliedern dieser<br />

Kommission werden vorgeschlagen: Jensen, Schweden; Rocker, Deutschland;<br />

Carbo, Spanien; Giovannetti, Italien; Maximoff, Rußland. Maximoff sei<br />

zwar kein Mitglied der I.A.A., daß sei aber nur auf die gegenwärtigen Umstände<br />

zurückzuführen, im übrigen ist er einer der ernsthaftesten Theoretiker<br />

des Syndikalismus in Rußland. Zum Sitz dieser Kommission wird Stockholm


Syndikalistische<br />

Jugend.<br />

Redner:<br />

do Campos.<br />

50 I.A.A. UND SYNDIKALISTISCHE JUGEND<br />

und zum Obmann derselben Jensen vorgeschlagen. Jensen erbat sich noch<br />

einige Wochen Bedenkzeit. Santillan schlug vor, auch einen Südamerikaner<br />

in die Kommission zu wählen. <strong>Die</strong>sem Vorschlag wird beigepflichtet und<br />

Genosse Nitti dazu ausersehen. Außerdem wird der Vorschlag gemacht,<br />

die Kommission solle das Recht haben, sich zu erweitern, wenn sie es für<br />

notwendig befindet.<br />

<strong>Die</strong>s alles wird einstimmig beschlossen. (Siehe Seite 66, Resolution X.)<br />

Santillan bringt zur Sprache, wie man sich die Regelung vorstellt, wenn<br />

in einem Lande zwei Landesorganisationen sich der I.A.A. anschließen<br />

wollen. Wenn eine Landesorganisation schon angeschlossen sei, dann dürfe<br />

die andere sich nur nach Verständigung mit der ersteren, mit der I.A.A., in<br />

Verbindung setzen. Kater meint, daß bei derartigen Vorkommnissen die<br />

betreffende Landesorganisation, die der I.A.A. angeschlossen ist, zu befragen<br />

sei. Schapiro weist darauf hin, daß nicht nur in Argentinien, sondern auch<br />

in andern Ländern eine ähnliche Lage vorliege. Es müsse deshalb eine<br />

Kommission eingesetzt werden, die sich mit dieser Angelegenheit zu beschäftigen<br />

habe. Souchy erwähnt bei dieser Angelegenheit, daß der Bund<br />

herrschaftsloser Sozialisten in Oesterreich in die I.A.A. aufgenommen zu werden<br />

wünsche. Eine syndikalistische Organisation bestände in Oesterreich nicht,<br />

der Bund herrschaftsloser Sozialisten sei zwar eine rein anarchistische Or;<br />

ganisation, betreibe aber auch syndikalistische Propagande. Kater warnt<br />

davor, einen Präzedenzfall zu schaffen, weil dadurch die Entwicklung einer<br />

syndikalistischen Organisation überhaupt unterbunden werden könnte.<br />

Schapiro schlägt vor, das Sekretariat möge dem „Bund" mitteilen, daß er<br />

vorläufig nicht aufgenommen werden könne, da man erst abwarten wolle,<br />

ob nicht doch noch eine syndikalistische Bewegung in Oesterreich entstünde.<br />

Der Kongreß war damit einverstanden. Darauf wurde das Plenum vertagt,<br />

damit die Kommissionen sich an die Arbeit machen könnten.<br />

11. Sitzung des Plenums.<br />

Als darauf das Plenum zu seiner 11. Sitzung, Donnerstag abend, den<br />

26. März, zusammentrat, erstatte Souchy den Bericht der Redaktionskomission<br />

über die internationale Aktion der I.A.A. <strong>Die</strong> vorgeschlagene<br />

Resolution wurde einstimmig angenommen. (Siehe Seite 65, Resolution VII.)<br />

<strong>Die</strong> Entschließung über Bildung von internationalen Industrieföderationen<br />

wurde ebenfalls einstimmig angenommen. Der Kongreß war damit einverstanden,<br />

daß zunächst 3 internationale Sekretariate, nämlich der Bauarbeiter<br />

in Portugal, der Metallarbeiter in Deutschland und der Seeleute in<br />

Holland eingesetzt werden sollen. (Siehe Seite 66, Resolution IX.)<br />

Zum Punkt 9<br />

„<strong>Die</strong> I.A.A. und die syndikalistische Jugend"<br />

nahm Kamerad Silva do Campos, Portugal, das Wort. Er führte aus, daß die<br />

jungen Syndikalisten in Portugal von den Gewerkschaften unterstützt werden.<br />

An der Jugendbewegung Portugals nehme auch die intellektuelle Jugend Anteil.<br />

Das sei von großer Bedeutung, denn in Portugal gebe es 75 Prozent Analphabeten.<br />

<strong>Die</strong> Jugendbewegung trägt dazu bei, das Bildungsniveau der<br />

Arbeiterschaft zu heben. <strong>Die</strong> Jugendbewegung Portugals habe eigene Fortbildungseinrichtungen<br />

geschaffen, in welchen die jungen Arbeiter oder Lehrlinge<br />

allgemein und beruflich sowie technisch weitergebildet werden. <strong>Die</strong><br />

Jugendgenossen nehmen an den Kämpfen ihrer älteren Kameraden Anteil,<br />

oft steht die Jugend am ersten Platze, wenn es gilt, Mut und Kampfeswillen<br />

zu zeigen. <strong>Die</strong> syndikalistische Jugend Portugals ist nicht pazifistisch<br />

eingestellt, sondern glaubt, daß die Gewalt dazu berufen sei, die Uebel der<br />

heutigen kapitalistischen Weltordnung zu heilen. Der Klassenkampf verläuft<br />

oft recht scharf.


I.A.A. UND SYNDIKALISTISCHE JUGEND 51<br />

<strong>Die</strong> Jugend soll sich auch theoretisch und dialektisch bilden, so daß sie<br />

in der Lage ist, einmal die Alten zu ersetzen. Dabei müsse die Jugend sich<br />

dennoch auf ihre Aufgabe zu beschränken wissen und ihr Arbeitsgebiet auf<br />

die Erfassung der proletarischen Jugend und deren Ausbildung und<br />

Kampfcsertüchtigung im Klassenkampfe einschränken. Redner legt einen<br />

Resolutionsvorschlag vor, den er dem Kongreß zur Annahme empfiehlt.<br />

Als zweiter Redner nimmt der Jugendgenosse Betzer, Deutschland, das<br />

Wort. Er geht kurz auf die Entstehungsgeschichte der anarchistischssyndikalistischen<br />

Jugend Deutschlands ein. Auf der Jugendkonferenz in Düsseldorf<br />

im Jahre 1921 herrschte noch große Unklarheit. Einige Elemente hatten<br />

sich gerade von den autoritären Ideen freigemacht und glaubten nun in der<br />

Organisationslosigkeit und im Individualismus das Heil zu finden. Im Laufe<br />

der kommenden zwei Jahre kam es zu einer Wandlung zum Besseren, so daß<br />

auf dem Kongreß in Erfurt die Organisationsgegner aus der anarcho-syndikalistischen<br />

Jugend ausgeschlossen wurden. Auf der 3. Konferenz in Magdeburg<br />

wurde nach einem Referat des Kameraden Albrecht über die Stellung<br />

der anarchistisch-syndikalistischen Jugend zur Gewalt die systematische<br />

Organisierung der Jugend beschlossen auf der Grundlage des revolutionären<br />

Syndikalismus und des freiheitlichen Kommunismus. Es kam dann noch einmal<br />

zu einer Auseinandersetzung mit Ernst Friedrich, der die Jugend auf seine<br />

Seite ziehen wollte und nach Leipzig ein <strong>Internationale</strong>s Antimilitaristisches<br />

Treffen einberief. Friedrich wurde endgültig ausgeschaltet, und auf der<br />

Konferenz in Hannover, Dezember 1924, stellte sich die anarchistisch-syndikalistische<br />

Jugend auf den Standpunkt, ihre Prinzipien zu wahren, dabei<br />

aber an den Tageskämpfen des Proletariats regen Anteil zu nehmen. <strong>Die</strong><br />

anarcho-syndikalistische Jugend Deutschlands hat bei den verschiedensten<br />

Gelegenheiten gezeigt, daß sie ihren Mann stehen kann. Bei Besetzung des<br />

Ruhrgebietes durch den Militarismus Frankreichs und Belgiens haben unsere<br />

Kameraden einen schweren Kampf führen müssen gegen die nationalistischen<br />

Wogen der politischen Parteien. <strong>Die</strong> pazifistischen Prediger seien abgeschüttelt<br />

worden. In Hannover wurde prinzipiell festgelegt, gegen die<br />

Staatsgewalt jedes Mittel, auch den bewaffneten Kampf, anzuwenden.<br />

Gegenwärtig besitzt die anarchistisch-syndikalistiche Jugend Deutschlands<br />

in 180 Orten Gruppen, die insgesamt 2500 bis 3000 Mitglieder haben.<br />

Es werde ein Organ herausgegeben, das zweimal monatlich erscheint. <strong>Die</strong>ses<br />

Blatt tritt für den revolutionären Tageskampf ein und erfreut sich unter<br />

den jugendlichen Elementen großen Anklanges.<br />

Redner wünscht, daß die I.A.A. die internationale Zusammenfassung<br />

der syndikalistischen und anarchistischen Jugendbewegung fördern möge,<br />

er schlägt vor, der Kongreß möge die portugiesische Jugendorganisation damit<br />

beauftragen, diesen Zusamenschluß in die Hände zu nehmen.<br />

Rocker teilt mit. daß auch er mit einem Mandat der anarcho-syndikalistischen<br />

Jugend Deutschlands für diesen Kongreß versehen sei, er habe<br />

zu den Ausführungen seines jugendlichen Kameraden nichts hinzuzufügen,<br />

wolle jedoch noch darauf hinweisen, daß in der Vergangenheit innerhalb<br />

der Jugend Deutschlands unlautere Elemente vorhanden waren, die sich an<br />

die Kameraden des Auslandes um Geldunterstützung gewandt haben. Vor<br />

diesen Elementen müsse gewarnt werden. Nur, wenn ein Schreiben von<br />

einer seitens der I.A.A. anerkannten Jugendorganisation, mit entsprechenden<br />

Unterschriften und Stempel versehen ist, könne darauf Rücksicht<br />

genommen werden.<br />

Rousseau, Holland, bedauert, aus Rücksicht auf die vorgeschrittene Zeit,<br />

die Jugendfrage nicht eingehender behandeln zu können. Im Jahre 1915 sei<br />

in Holland eine syndikalistische Jugendorganisation begründet worden. Red-<br />

Redner: Betzer<br />

über<br />

Jugendfrage.


52 ANTIKRIEGSTAG DER I.A.A<br />

ner habe die Erfahrung gemacht, daß in der Jugend viele Träumer sind, es<br />

müsse die Aufgabe unserer Propaganda sein, den Klassenegoismus bei der<br />

Jugend zu wecken, damit sie instand gesetzt wird, in der Zukunft für die<br />

Befreiung der Arbeiterklasse zu kämpfen. Redner weist auf einige Broschüren<br />

hin, die in Holland für die Jugend im Sinne der freien Erziehung Ferrers<br />

von der syndikalistischen Bewegung herausgegeben wurden. <strong>Die</strong> Jugend<br />

solle am Kampf interessiert und in der Fabrik organisiert werden. In Frankreich<br />

gebe es seines Wissens ebenfalls Jugendgruppen im Sinne des revolutionären<br />

Syndikalismus. Man solle sich auch mit diesen in Verbindung setzen.<br />

<strong>Die</strong> von der U.S.I. ausgearbeitete Resolution wird der Redaktionskommission<br />

übergeben, die einige Zusätze hinzufügen soll. Danach wird die<br />

Resolution einstimmig angenommen. (Siehe Anhang Seite 64, Resolution VI.)<br />

Siebenter Verhandlungstag. Freitag, den 28. März 1925.<br />

Souchy macht die Mitteilung, daß er angesichts der kurzen Zeit, die<br />

noch zur Verfügung steht, auf die Behandlung des Punktes 6 über die<br />

Stellung der I.A.A. zu den Betriebsräten nicht mehr sein Referat halten<br />

werde. Er hält es aber für notwendig, daß die von ihm ausgearbeitete Resolution<br />

(Siehe Seite 67) von den Landesorganisationen besprochen wird, damit<br />

der kommende Kongreß zu dieser nicht unwichtigen Frage Stellung nehmen<br />

kann. Nachdem noch Carbo, Spanien, erklärt, daß auch er beauftragt sei, zu<br />

dieser Frage Stellung zu nehmen, beschließt der Kongreß, die Behandlung aufzuschieben.<br />

Aus den gleichen Gründen wird auch auf eine eingehende Behandlung<br />

des Punktes 13.Stellung zur Welthilfssprache Esperanto, abgesehen, zudem<br />

ja schon beschlossen wurde, den Pressedienst auch in Esperanto herauszugeben.<br />

<strong>Die</strong> Delegation Argentiniens teilt mit, ihre besondere Stellungnahme<br />

zur Jugendfrage schriftlich zu Protokoll zu geben. Außerdem wird noch<br />

gewünscht, das Sekretariat möge eine Broschüre und Artikel über das Dawesabkommen<br />

veröffentlichen. Carbo reicht einen Resolutionsvorschlag ein<br />

zum Dawesplan und wünscht, dieser Vorschlag, der sich mit der bereits<br />

angenommenen Resolution in den wesentlichsten Punkten deckt, möge dem<br />

Protokoll beigelegt werden.<br />

Antikriegstag Lansink, Holland, stellt den Antrag, der Kongreß möge beschließen, die<br />

der I.A.A.<br />

Organisationen der I.A.A. aufzufordern, am ersten Sonntag im Monat August<br />

Demonstrationen und Manifestationen gegen den Krieg zu veranstalten,<br />

eventuell mit anderen Organisationen zusammen. Auf Borghis Bemerkung<br />

wird hinzugefügt: mit solchen Organisationen, die für den Kriegsausbruch<br />

nicht verantwortlich gemacht werden können. Mit diesem Zusatz wird der<br />

Antrag einstimmig angenommen. (Siehe Seite 65, Resolution VIII.)<br />

Carbo hat hierzu einen Antrag ausgearbeitet, den er dem Kongreß zur<br />

Annahme empfiehlt. In diesem Antrag wird von den Organisationen der<br />

I.A.A. gefordert, daß ihre Mitglieder, die unnütze oder schädliche Gegenstände<br />

herstellen, wie Kriegsmaterial, ausgeschlossen Werden mögen. <strong>Die</strong><br />

Mitglieder syndikalistischer Organisationen sollten verpflichtet werden, den<br />

Militärdienst zu verweigern, die Mobilisierung durch Generalstreik zu verhindern<br />

und alle anderen Mittel zu ergreifen, um Krieg und Militarismus um<br />

möglich zu machen. Schapiro macht darauf aufmerksam, daß der Kongreß<br />

die Verantwortung hierfür nicht übernehmen könne. Es wird sodann vorgeschlagen,<br />

der Antrag Carbos solle durch das Sekretariat den einzelnen<br />

Landesorganisatioen zugestellt werden, die dann zu dem Vorschlag der<br />

C.N.T. Spaniens Stellung nehmen können. Der Antrag ist dem Protokoll<br />

beigefügt und auf Seite 68 des Anhanges zu finden.<br />

Santillan macht den Vorschlag, die I.A.A. möge in ihren offiziellen<br />

Dokumenten weniger den Ausdruck „revolutionärer Syndikalismus" anwenden,<br />

dafür lieber den Ausdruck „antiautoritäre Gewerkschaften" be-


WAHL DES SEKRETARIATS 53<br />

nutzen. Borghi meint dazu, in Italien nenne sich die Sektion der I.A.A. nicht<br />

Syndikalistische Union, sondern Syndikaie Union, d. h. gewerkschaftliche<br />

Union, weil es in Italien Politiker gibt, die sich Syndikalisten nennen. Er<br />

könne sich deshalb mit dem Ausdruck antiautoritäre Gewerkschaften ein;<br />

verstanden erklären. Schließlich einigt man sich dahin, auf die Wünsche der<br />

Argentiner Rücksicht zu nehmen.<br />

Bericht der Kommission zur Beilegung des argentienischen Konfliktes.<br />

Auf Wunsch der Genossen Diaz und Santillan von der F.O.R.A. in<br />

Argentinien wird der Kamerad Filippo von der „Allianza Libertaria", der<br />

auf dem Kongreß als Gast anwesend ist, zu den Verhandlungen mit herangezogen.<br />

Befragt, was er zu sagen habe, erklärte Gen. Filippo, daß seine<br />

Organisation ihn beauftragt habe, anzufragen, auf Grund welcher Beweise<br />

das <strong>Internationale</strong> Büro der I.A.A. sie in seinem Pressedienst der Spionage<br />

geziehen hätte. Es handelte sich um eine Notiz, welche der Pressedienst der<br />

I.A.A. seinerzeit unserem Schwesterorgan „La Protesta" entnommen hatte.<br />

Gen. Rocker erklärt darauf, daß es sich in diesem Falle um keine Erklärung<br />

des Büros handele, was schon daraus hervorgehe, daß die betreffende Notiz<br />

nicht vom Büro unterzeichnet war. <strong>Die</strong> Zusammenstellung des Pressedienstes<br />

erfolge teils durch zugeschickte Berichte, teils durch Auszüge aus<br />

unserer Presse in den verschiedenen Ländern. Gen. Filippo gibt sich mit<br />

dieser Erklärung zufrieden, während die Genossen Santillan und Diaz die<br />

Erklärung abgeben, daß ihre Organisation jede Verantwortlichkeit für die<br />

Veröffentlichung jener Notiz in ,,La Protesta" übernehme.<br />

<strong>Die</strong> übrigen Streitpunkte konnten in Anbetracht der kurzen Zeit und des<br />

umfangreichen Materials von der Kommission nicht mehr erledigt werden.<br />

Wahl des Sekretariats und Sitz desselben.<br />

Man einigt sich auf Berlin, wo der Sitz des Sekretariats weiter bestehen<br />

soll, weil gegenwärtig ein anderer Ort schwer in Frage kommen kann. Borghi<br />

schlägt vor, die bisherigen Sekretäre auch weiter zu wählen. Schapiro erklärt,<br />

nicht annehmen zu können, Rocker nimmt an unter der Voraussetzung, daß<br />

auch Souchy es wieder annimmt. Souchy erklärt sich nach einigem Zögern<br />

dazu bereit. Beide werden wiedergewählt. Anstelle Schapiros wird Lansink<br />

jun., Holland, vorgeschlagen und gewählt. Schapiro gab noch die Erklärung<br />

ab, daß er seine Kraft der I.A.A. auch weiterhin zur Verfügung stellen werde.<br />

Als Tagungsort für den III. Kongreß der I.A.A. wird Stockholm oder Lissabon<br />

in Vorschlag gebracht. <strong>Die</strong> engere Wahl wird dem Sekretariat überlassen.<br />

Santillan gab eine Erklärung in Sachen der C.N.T. Spaniens und der<br />

Veröffentlichungen in ihren Organen über die F.O.R.A. ab. Diaz, Uruguay,<br />

drückte ebenfalls den Wunsch aus, die C.N.T. möge sich zu ihrer Stellung;<br />

nähme gegenüber der F.O.R.A. erklären. Carbo von der C.N.T. Spaniens<br />

gab eine schriftliche Erklärung ab.<br />

Zum Schluß spricht noch Gen. Rocker einige warm empfundene<br />

Worte, in welchen er die Einstimmigkeit der Delegierten in den wichtigsten<br />

Fragen des Kongresses feststellt und die Kameraden auffordert, in allen<br />

Ländern für die Ausbreitung der I.A.A. zu wirken. Besonders wünscht er<br />

den Kameraden in Italien und Spanien ein baldiges Ende der Reaktion in<br />

ihren Ländern, damit sich die Bewegung wieder hemmungslos entfalten könne<br />

Auch den russischen Kameraden, die teils in den Kerkern schmachten, teils<br />

im Exile leben müssen, wünscht Redner eine baldige Erlösung von den grausamen<br />

Verfolgungen, denen sie ausgesetzt sind und die um so schwerer<br />

empfunden werden müssen, als sie von einer Regierung ausgehen, die unter<br />

der Flagge des Kommunismus segelt.<br />

Damit war der Kongreß zu Ende.


54 PRINZIPIEN UND STATUTEN DER I.A.A.<br />

Prinzipienerklärung und<br />

Statuten der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter - Assoziation<br />

Angenommen auf dem I. Kongress, Berlin, Dezember 1922,<br />

modifiziert auf dem II. Kongress, Amsterdam, März 1925.<br />

1. Einleitung.<br />

Der jahrhundertelange Kampf zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten<br />

hat einen drohenden Umfang angenommen. Das für kurze Zeit durch den<br />

verheerenden Weltkrieg und durch die große, russische Revolution sowie<br />

durch die hinter ihr stehenden Revolutionen in Deutschland und Ungarn ins<br />

Wanken geratene Kapital erhebt aufs neue sein scheußliches Haupt. Trotz<br />

innerer Kämpfe, die die Bourgeoisie und den Kapitalismus aller Länder<br />

entzweien, herrscht unter ihnen das beste Einverständnis darüber, sich mit<br />

vereinten Kräften auf die Arbeiterklasse zu werfen und sie vor den Triumphwagen<br />

des Kapitalismus zu spannen.<br />

Der Kapitalismus ist aufs beste organisiert. Obgleich er gezwungen war,<br />

seinen eigenen Bestand zu verteidigen, geht er jetzt auf allen Seiten zum Angriff<br />

gegen die Arbeiterklasse über, die durch blutige Kriege und verfehlte<br />

Revolutionen erschöpft ist. <strong>Die</strong>ser Angriff findet seinen tiefgehenden Ursprung<br />

in folgenden zwei Umständen: erstens in der Verwirrung der Ideen<br />

und Prinzipien, die in den Reihen der Arbeiterklasse besteht, in der Unklarheit<br />

über die Ziele der Arbeiterbewegung in Gegenwart und Zukunft, in der<br />

Spaltung in zahlreiche oft feindliche Lager, mit einem Wort in der Schwäche<br />

und in der Desorganisation der gesamten Arbeiterbewegung.<br />

Zweitens und besonders in der späteren Niederlage der russischen Revolution,<br />

die bei ihrem Ausbruch im November 1917, wegen der hohen Prinzipien,<br />

die damals proklamiert wurden, die größten Hoffnungen beim gesamten<br />

Weltproletariat erweckte. Später sank sie jedoch zu einer bloßen politischen<br />

Revolution herab, die nur dazu diente, die eroberte politische Staatsmacht<br />

der Kommunistischen Partei zu erhalten, deren einziges Ziel jedoch<br />

darin lag, das gesamte wirtschaftliche, politische und soziale Leben des Landes<br />

in ihren Händen zu monopolisieren. <strong>Die</strong>ser Zusammenbruch und diese<br />

Auslösung einer sozialen Revolution in eine politische hat notwendigerweise<br />

zu einem Zerrbild und zu einer Uebertreibung des Staatssozialismus geführt,<br />

der in der Entwicklung eines Staatskapitalismus seinen Niederschlag fand,<br />

der an Ausbeutung und Herrschsucht jedem anderen bürgerlichen Regime<br />

gleichkommt. <strong>Die</strong> Notwendigkeit, den Kapitalismus in Rußland wieder einzuführen,<br />

brachte eine Stärkung des Weltkapitalismus mit sich. Der Staatssozialismus<br />

hat unter dem Namen des Kommunismus den bürgerlichen Kapitalismus<br />

vor seinem Schicksal bewahrt, indem er ihn zu Hilfe rief, um ans<br />

geblich die — Revolution zu retten!<br />

<strong>Die</strong>sen beiden auflösenden Elementen: dem Wirrwarr in den Reihen<br />

des Proletariats und dem kapitalistischen Bolschewismus, hat das Agrarund<br />

Industriekapital das Anwachsen seiner Kräfte und die Möglichkeit seiner<br />

Erneuerung zu verdanken.<br />

Gegen diese schweren Angriffe der internationalen Ausbeuter aller<br />

Schattierungen gibt es nur ein Mittel: die sofortige Zusammenfassung der<br />

proletarischen Massen in einer Kampfesorganisatien, die die gesainte revolutionäre<br />

Arbeiterschaft aller Länder in einem mächtigen Block vereinigt, an<br />

dem alle Versuche der Kapitalisten scheitern müssen, und der letzten Endes<br />

alle Widersacher unter seiner gewaltigen Schwere erdrückt.<br />

Bereits mehrere Versuche sind in diesem Sinne unternommen worden.<br />

Zwei davon hoffen noch, dahin zu gelangen. <strong>Die</strong>s sind die <strong>Internationale</strong>


PRINZIPIEN UND STATUTEN DER I.A.A. 55<br />

von Amsterdam und die von Moskau. Beide aber tragen den vergiftenden<br />

Keim der Selbstzerstörung in sich. <strong>Die</strong> Amsterdamer <strong>Internationale</strong> hat<br />

einen rein reformistischen Charakter. Sie steht auf dem Standpunkt, daß<br />

die einzige Lösung der sozialen Frage in einer Verständigung zwischen Kapital<br />

und Arbeit, in der Klassengemeinschaft und in einer friedlichen Revolution<br />

besteht, die geduldig abgewartet werden und ohne Gewalt noch Kampf<br />

mit Einwilligung und im Einverständnis mit der Bourgeoisie verwirklicht wird.<br />

<strong>Die</strong> Moskauer <strong>Internationale</strong> steht auf dem Standpunkt, daß die Kommunistische<br />

Partei als höchste Instanz über alle Revolutionen zu wachen hat,<br />

und daß nur mit dem Zauberstabe dieser Partei die Revolutionen der Zukunft<br />

ausbrechen und durchgeführt werden können. Es ist bedauerlich, daß<br />

in den Reihen des organisierten, klassenbewußten, revolutionären Proletariats<br />

es noch Strömungen gibt, die das unterstützen, was in Theorie und Praxis<br />

unhaltbar geworden ist: die Staatsorganisation. <strong>Die</strong> Existenz des Staates ist<br />

gleichbedeutend mit dem Bestehen der Sklaverei, der Lohnherrschaft, der<br />

Polizeinstitution und der politischen Unterjochung. Alles dies finden wir<br />

in der sogenannten Diktatur des Proletariats, die der Kraft der direkten Expropriation<br />

hemmend in die Zügel fällt, die wahre Souveränität der Arbeiterklasse<br />

unterdrückt und dadurch nichts anderes sein kann als die eiserne<br />

Diktatur eines politischen Klüngels über das Proletariat und die Oberherrschaft<br />

des autoritären Kommunismus. <strong>Die</strong>ser ist die schlimmste Form der<br />

Autorität: der Zäsarismus in der Politik und die völlige Zerstörung des Individuums.<br />

Gegen die Offensive des Kapitalismus auf der einen Seite und gegen die<br />

Politikanten aller Nuancen auf der anderen müssen die revolutionären Arbeiter<br />

der Welt eine wahre <strong>Internationale</strong> Arbeiterassoziation errichten.<br />

Jedes Mitglied derselben muß sich bewußt sein, daß die endgültige Befreiung<br />

der Arbeiter nur dann möglich ist, wenn die Arbeiter selbst als Arbeiter<br />

in ihren wirtschaftlichen Organisationen darauf vorbereitet sind, nicht nur<br />

vom Grund und Boden sowie von den Fabriken Besitz zu ergreifen, sondern<br />

auch, um sie gemeinsam in dem Sinne zu verwalten, daß die Produktion fortgesetzt<br />

werden kann.<br />

Von der Erkenntnis ausgehend, daß dies die Aufgabe der revolutionärsyndikalistischen<br />

Bewegung sei, macht der <strong>Internationale</strong> Kongreß der revolutionären<br />

Syndikalisten zu Berlin, Dezember 1922, sich die Prinzipienerklärung<br />

zu eigen, die auf der internationalen Vorkonferenz der revolutionären<br />

Syndikalisten im Juni 1922 ausgearbeitet wurde.<br />

2. <strong>Die</strong> Prinzipienerklärung des revolutionären Syndikalismus.<br />

<strong>Die</strong> internationale Konferenz anerkennt folgende Thesen über die Grundsätze<br />

und die Taktik des revolutionären Syndikalismus:<br />

1. Der revolutionäre Syndikalismus ist die auf dem Boden des Klassenkampfes<br />

fußende Bewegung der werktätigen Volksschichten, welche die Vereinigung<br />

aller Hand: und Kopfarbeiter in wirtschaftlichen Kampforganisationen<br />

erstrebt, um deren Befreiung vom Joche der Lohnsklaverei und des<br />

staatlichen Unterdrückungsapparates anzubahnen und praktisch durchzuführen.<br />

Sein Ziel ist die Reorganisation des gesamten gesellschaftlichen Lebens<br />

auf der Basis des freien Kommunismus durch die direkte revolutionäre<br />

Aktion der Unterdrückten. Nur die Wirtschaftsorganisationen des Proletariats<br />

in Stadt und Land sind für die Erfüllung dieser Aufgaben geeignet.<br />

Der revolutionäre Syndikalismus wendet sich daher an die Arbeiter in ihrer<br />

Eigenschaft als Produzenten und Erzeuger gesellschaftlicher Werte und<br />

nicht als Mitglieder der modernen politischer. Arbeiterparteien, die als treibende<br />

Kraft wirtschaftlichen Wiederaufbaues nicht in Betracht kommen.


56 PRINZIPIEN UND STATUTEN DER I.A.A.<br />

2. Der revolutionäre Syndikalismus ist ausgesprochener Gegner aller wirtschaftlichen<br />

und sozialen Monopole und erstrebt deren Beseitigung durch die<br />

Wirtschaftskommunen und Betriebverwaltungen, die durch die Industrie- und<br />

Feldarbeiter auf dem Boden eines freien Rätesystems der Arbeiter und<br />

Bauern gewählt sind, das keiner politischen Macht oder Partei unterstellt<br />

ist. Gegen die Politik des Staates und der Parteien stellt er die Wirtschafts-<br />

Organisation der Arbeit; gegen die Regierung der Menschen die Verwaltung<br />

der Dinge. Aus diesem Grunde erstrebt er nicht die Eroberung der politischen<br />

Macht, sondern die Ausschaltung jeder staatlichen Funktion aus dem Leben<br />

der Gesellschaft. Er ist der Meinung, daß zusammen mit dem Monopol des<br />

Besitzes auch das Monopol der Herrschaft verschwinden muß, und daß der<br />

Staat in jeder Form, auch in der Form der sogenannten „Diktatur des Proletariats"<br />

niemals ein Werkzeug für die Befreiung der Arbeit, sondern immer<br />

nur der Schöpfer neuer Monopole und neuer Privilegien sein kann.<br />

3. <strong>Die</strong> Aufgabe des revolutionären Syndikalismus kann wie folgt<br />

definiert werden: er führt einerseits den revolutionären Tageskampf<br />

für die wirtschaftliche, geistige und sittliche Besserstellung der Arbeiter<br />

innerhalb der heutigen Gesellschaftsordnung, andererseits ist<br />

sein vornehmstes Ziel, die Arbeiterschaft heranzubilden für die<br />

stelbständige Verwaltung der Produktion und die Verteilung und die<br />

Uebernahme sämtlicher Zweige des gesellschaftlichen Lebens. Er ist der<br />

Ueberzeugung, daß die Organisation einer Wirtschaftsordnung, die sich in<br />

ihrer Gesamtheit auf die Produzenten stützt, nicht durch Regierungsbeschlüsse<br />

und Staatsdekrete geregelt werden kann, sondern nur durch den<br />

Zusammenschluß aller Hand- und Kopfarbeiter in jedem besonderen Produktionszweige,<br />

durch die Uebernahme der Verwaltung jedes einzelnen Betriebes<br />

durch die Produzenten selbst, und zwar in der Form, daß die einzelnen<br />

Gruppen, Betriebe und Produktionszweige selbständige Glieder des<br />

allgemeinen Wirtschaftsorganismus sind, die auf Grund gegenseitiger Vereinbarungen<br />

die Gesamtproduktion und die allgemeine Verteilung planmäßig<br />

gestalten im Interesse der Allgemeinheit.<br />

4. Der revolutionäre Syndikalismus ist Gegner aller zentralistischen<br />

Bestrebungen und Organisationen, die dem Staate und der Kirche entlehnt<br />

sind, und welche die selbständige Initiative und das eigene Denken systematisch<br />

ersticken. Der Zentralismus ist die künstliche Organisation von<br />

oben nach unten, welche die Regelung der Angelegenheiten Aller einzelnen<br />

wenigen in Bausch und Bogen überträgt. Dadurch wird der einzelne zur<br />

Marionette, die von oben gelenkt und geleitet wird. <strong>Die</strong> Interessen der Allgemeinheit<br />

müssen den Privilegien einzelner weniger, die Verschiedenartigkeit<br />

der Uniformität, die persönliche Verantwortlichkeit einer toten Disziplin,<br />

die Erziehung der Dressur das Feld räumen. Aus diesem Grunde steht<br />

der revolutionäre Syndikalismus auf dem Boden der föderalistischen Vereinigung,<br />

das heißt der Organisation von unten nach oben, des freiwilligen<br />

Zusammenschlusses aller Kräfte auf der Basis der gemeinschaftlichen Interessen<br />

und Ueberzeugungen.<br />

5. Der revolutionäre Syndikalismus verwirft jede parlamentarische Betätigung<br />

und jede Mitarbeit in den gesetzlichen Körperschaften. Auch das<br />

freieste Wahlrecht kann die klaffenden Gegensätze innerhalb der heutigen<br />

Gesellschaft nicht mildern, und das ganze parlamentarische System hat nur<br />

den Zweck, der Herrschaft der Lüge und der sozialen Ungerechtigkeit den<br />

Schein des legalen Rechts zu verleihen — den Sklaven zu veranlassen, seiner<br />

eigenen Sklaverei den Stempel des Gesetzes aufzudrücken.<br />

6. Der revolutionäre Syndikalismus verwirft alle willkürlich gezogenen<br />

politischen und nationalen Grenzen und erblickt in dem Nationalismus nur


PRINZIPIEN UND STATUTEN DER I.A.A. 57<br />

die Religion des modernen Staates, hinter der sich lediglich die Interessen<br />

der besitzenden Klassen verbergen. Er fordert für einzelne wie Körperschaffen,<br />

die auf wirtschaftlicher, regionaler wie nationaler Grundlage vereint<br />

sind, das Recht, ihre eigenen Angelegenheiten selbst regeln zu können<br />

im solidarischen Uebereinkommen mit allen anderen Vereinigungen derselben<br />

Art.<br />

7. Aus demselben Grunde bekämpft der revolutionäre Syndikalismus<br />

den Militarismus in jeder Form und betrachtet die antimilitaristische Propaganda<br />

als eine seiner wichtigsten Aufgaben im Kampfe gegen das bestehende<br />

System. <strong>Die</strong> Verweigerung der Persönlichkeit dem Staate gegenüber<br />

und besonders der organisierte Boykott der Arbeiter gegen die Her-<br />

Stellung von Heeresgerät sollten vor allem andern ins Auge gefaßt werden.<br />

8. Der revolutionäre Syndikalismus steht auf dem Boden der direkten<br />

Aktion und ist bereit an allen Kämpfen des Volkes, die seinen Zielen der<br />

Abschaffung der Wirtschaftsmonopole und der Gewaltherrschaft des Staates<br />

nicht entgegengesetzt sind, teilzunehmen. Als Kampfmittel anerkennt er den<br />

Streik, den Boykott, die Sabotage usw. Ihren höchsten Ausdruck findet die<br />

direkte Aktion im sozialen Generalstreik, der, um im Sinne des revolutionären<br />

Syndikalismus siegreich zu sein, auch die Einleitung zu der sozialen Revolution<br />

sein muß.<br />

9. Gegner jeder organisierten Gewalt in der Hand irgendeiner revolutionären<br />

Regierung, verkennen die Syndikalisten nicht, daß in den entscheidenden<br />

Kämpfen zwischen der kapitalistischen Gegenwart und der freien kommunistischen<br />

Zukunft die Dinge sich nicht reibungslos abspielen werden. Sie<br />

geben daher die Anwendung der Gewalt als Verteidigungsmittel gegen die<br />

Gewalt der regierenden Klassen im Kampf für die Besetzung der Betriebe<br />

und des Grund und Bodens durch das revolutionäre Volk zu. Ebenso<br />

wie jedoch die Expropriation der Betriebe und des Landes von den revolutionären<br />

Wirtschaftsorganisationen der Arbeiter praktisch ausgeführt und<br />

auf die Bahn der sozialen Reorganisation geführt werden muß, so darf auch<br />

die Verteidigung der Revolution nicht einer bestimmten militärischen oder<br />

irgendeiner anderen Organisation, die außerhalb der Wirtschaftsverbände<br />

steht, überlassen bleiben, sie muß vielmehr den Massen selbst und ihren wirtschaftlichen<br />

Organisationen anvertraut sein.<br />

10. Nur in der revolutionären Wirtschaftsorganisation des werktätigen<br />

Volkes liegt der Hebel zu seiner Befreiung und die schöpferische Kraft zum<br />

Wiederaufbau der Gesellschaft im Sinne des freien Kommunismus.<br />

3. Name der internationalen Organisation.<br />

Der internationale Bund des Kampfes und der Solidarität, der die revolutionär-syndikalistischen<br />

Organisationen aller Länder verbündet, trägt den<br />

Namen:<br />

<strong>Internationale</strong> Arbeiter-Assoziation. (I.A.A.)<br />

4. Ziel und Aufgaben der I.A.A.<br />

<strong>Die</strong> I.A.A. hat zum Ziel:<br />

a) die Bildung von gewerkschaftlichen Organisationen auf nationaler<br />

oder industrieller (internationaler) Basis, und die Stärkung der bereits bestehenden,<br />

die entschlossen sind, für die Zerstörung des Kapitalismus und des<br />

Staates zu kämpfen;<br />

b) den Klassenkampf im Sinne der oben umschriebenen Richtung zu ver-


58 STATUTEN DER I.A.A.<br />

c) dem Eindringen jeder politischen Partei entgegenzuwirken und entschlossen<br />

gegen jeden Versuch dieser Parteien zu kämpfen, der geeignet ist,<br />

die Gewerkschaften mit Beschlag zu belegen;<br />

d) gemeinsame Aktionen vorübergehend mit anderen gewerkschaftlichen<br />

und revolutionären proletarischen Organisationen zu unternehmen, und<br />

wenn es erforderlich ist, auch gemeinsame internationale Aktionen im Interesse<br />

der Arbeiterklasse durchzuführen;<br />

e) der Willkürherrschaft aller Regierungen gegen die der sozialen Revos<br />

lution ergebenen Revolutionäre entgegenzuwirken, sie bloßzustellen und zu<br />

bekämpfen;<br />

f) alle Fragen der Arbeiterklasse der ganzen Welt zu untersuchen, um<br />

die internationalen Bewegungen oder die Bewegungen der einzelnen Ländergruppen<br />

zur Verteidigung ihrer Rechte und neuen Errungenschaften der Arbeiterschaft<br />

weiterzuleiten und fortzuentwickeln;<br />

g) bei großen wirtschaftlichen Kämpfen, oder bei verschärften Kämpfen<br />

gegen die offenen und versteckten Feinde der Arbeiterklasse jede Form der<br />

gegenseitigen Hilfe auszuüben;<br />

h) die revolutionärssyndikalistische Propaganda, wo diese in den<br />

Händen der Organisation des Proletariats dieses Landes liegt, moralisch und<br />

materiell zu unterstützen.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong> greift nur dann in die gewerkschaftlichen Fragen<br />

eines Landes ein, wenn die angeschlossene Organisation dies erfordert, oder<br />

wenn diese von den Richtlinien der <strong>Internationale</strong> abweicht.<br />

5. Aufnahmebedingungen.<br />

Mitglied der I.A.A. können sein:<br />

a) die revolutionärssyndikalistischen Landesorganisationen, die keiner<br />

anderen <strong>Internationale</strong> angehören.<br />

Der Anschluß einer zweiten syndikalistischen Landesorganisation in<br />

einem Land kann nur durch einen internationalen Kongreß bestätigt werden,<br />

und zwar nach dem Bericht einer Kommission, die von dem Verwaltungsorgan<br />

ernannt wird. <strong>Die</strong>se Kommission setzt sich zusammen aus je zwei<br />

Mitgliedern, 1. der angeschlossenen Landesorganisation, 2. der um Anschluß<br />

ersuchenden Landesorganisation und 3. des Verwaltungsorgans der I.A.A.<br />

b) die organisierten revolutionärssyndikalistischen Minderheiten inners<br />

halb Landesorganisationen, die einer anderen <strong>Internationale</strong> angehören,<br />

mit Zustimmung der an die I.A.A. angeschlossenen syndikalistischen Landesorganisationen,<br />

wenn solche bestehen.<br />

c) die selbständigen Berufs- oder Industrieorganisationen, welche die<br />

Prinzipienerklärung und Ziele der I.A.A. anerkennen, mit Zustimmung der<br />

angeschlossenen syndikalistischen Landesorganisation, wenn eine solche vorhanden<br />

ist.<br />

<strong>Die</strong> gewerkschaftlichen Berufs- oder Industrieorganisationen, welche aus<br />

einer Landesorganisation, die der I.A.A. angeschlossen ist, ausgetreten oder<br />

ausgeschlossen sind, können in der I.A.A. nur dann Aufnahme finden, wenn<br />

eine vorhergegangene Konferenz, die aus je zwei Vertretern der in Frage kommenden<br />

Organisationen zusammengesetzt ist, zu einem einheitlichen Beschluß<br />

gekommen ist. <strong>Die</strong> Organisationen, die für die Beratungen in Betracht kommen<br />

sind: 1. die abseits stehende Organisation, 2. die syndikalistische Landesorganisaton,<br />

3. das Verwaltungsorgan der I.A.A.<br />

d) in jedem Lande eine revolutionärssyndikalistische Propagandaorganisation,<br />

welche Prinzipienerklärung und Ziele der I.A.A. anerkennt. <strong>Die</strong>s hat<br />

nur für die Länder Geltung, in denen es keine syndikalistische Landesorganisation<br />

gibt, die der I.A.A. angeschlossen ist.


STATUTEN DER I.A.A. 59<br />

6. <strong>Internationale</strong> Kongresse.<br />

<strong>Die</strong> Kongresse der internationalen Arbeiterassoziation sollen mindestens<br />

alle zwei Jahre einberufen werden.<br />

<strong>Die</strong> vom Kongreß gefaßten Beschlüsse sind von allen angeschlossenen<br />

Organisationen organisatorisch einzuhalten. Durch Nichtanerkennung seitens<br />

des Kongresses einer einzelnen Landesorganisation können die Beschlüsse<br />

des internationalen Kongresses nicht aufgehoben werden. Eine Abweichung<br />

hiervon erfolgt nur dann, wenn wenigstens drei angeschlossene<br />

Landeorganisationen eine Nachprüfung und Bestätigung durch eine internationale<br />

Urabstimmung fordern. Nach vollzogener Urabstimmung hat jedes<br />

Land in der <strong>Internationale</strong> nur eine Stimme.<br />

Der Abstimmungsmodus auf den Kongressen ist von jedem Kongreß<br />

selbst zu bestimmen.<br />

7. <strong>Internationale</strong> Uebertritte.<br />

Jedes Mitglied der I.A.A., das mit seinen Beiträgen auf dem Laufenden<br />

ist, kann im Auslande jeder revolutionär-syndikalistischen Landesorganisation,<br />

die der I.A.A. angeschlossen ist, beitreten, ohne besonderes Eintrittsgeld<br />

zu zahlen.<br />

8. Organe der I.A.A.<br />

Um die internationale Tätigkeit der I.A.A. zu regeln, um einwandfreie<br />

Informationen über die Propaganda und die Kämpfe in allen Ländern zu<br />

ermöglichen, um die Beschlüsse der internationalen Kongresse auszuführen<br />

und um alle Arbeiten der I.A.A. zu leiten, ist ein Ausschuß eingesetzt, in das<br />

jedd der I.A.A. angeschlossene Organisation zwei Mitglieder erwählt, ein<br />

ordentliches und ein Ersatzmitglied.<br />

<strong>Die</strong> ordentlichen Mitglieder, die eine Landesorganisation vertreten,<br />

haben auf den Sitzungen des Ausschusses beschließende Stimme. <strong>Die</strong> Mitglieder,<br />

die jede andere angeschlossene Organisation vertreten, haben beratende<br />

Stimme.<br />

Jedes Ersatzmitglied einer angeschlossenen Landesorganisation hat das<br />

Recht der Ausübung des Stimmrechtes bei Abwesenheit des ordentlichen<br />

Mitgliedes, das er vertritt.<br />

Zur Erledigung der laufenden Angelegenheiten sowie der Korrespondenz<br />

der A.A.A. ebenso wie für die Ausführung der Beschlüsse des Ausschusses<br />

erwählt der internationale Kongreß ein Sekretariat aus drei Mitgliedern.<br />

<strong>Die</strong> Sitzungen des Ausschusses werden vom Sekretariat einberufen, wenn<br />

wenigstens drei Mitglieder des Ausschusses, die angechlossene Landesorganisationen<br />

vertreten, die Forderung hierzu stellen.<br />

In Fällen von äußerster Dringlichkeit hat das Sekretariat das Recht,<br />

entweder eine außerordentliche Sitzung des Ausschusses einzuberufen oder<br />

über die dringende Frage eine Urabstimmung bei den ordentlichen Mitgliedern<br />

des Ausschusses vorzunehmen.<br />

<strong>Die</strong> Mitglieder des Sekretariats haben bei den Sitzungen des Ausschusses<br />

nur beratende Stimme.<br />

<strong>Die</strong> Mitglieder des Ausschusses sollen von den respektiven Organisationen<br />

auf der ersten Sitzung ihres ausführenden oder verwaltenden Organs<br />

gewählt werden, auf welcher ihnen der Bericht des internationalen Kongresses<br />

gegeben worden ist. <strong>Die</strong>se Wahlen sollen danach von einem Landeskongreß<br />

bestätigt werden.<br />

<strong>Die</strong> aus dem Ausschuß ausscheidenden Mitglieder sind wieder wählbar.


60 FINANZIERUNG DER I.A.A.<br />

Falls ein Mitglied des Sekretariats sein Amt niederlegt, wählt der Ausschuß<br />

einen Ersatzmann.<br />

Der Sitz des Sekretariats wird auf jedem internationalen Kongreß der<br />

I.A.A. bestimmt.<br />

9. <strong>Die</strong> Finanzierung der I.A.A.<br />

Damit die I.A.A. ihre internationale Tätigkeit erweitern und vertiefen,<br />

ihre schriftliche Propaganda auf eine solide Basis stellen kann, damit ihre<br />

Perioden Veröffentlichungen regelmäßig erscheinen können, damit die I.A.A.<br />

an allen Aeußerungen des revolutionären Syndikalismus aller Länder teilnehmen<br />

kann und in den Stand gesetzt ist, die Ideen des revolutionären Syns<br />

dikalismus in den Ländern zu verstärken und zu vertiefen, in denen unsere<br />

Ideen und Taktik nur schwach vertreten sind, damit die I.A.A. schließlich<br />

stets dazu in der Lage ist, in gleicher Weise und unmittelbar die Solidaritätsaufrufe<br />

zu beantworten, die an sie gerchtet werden, beschießt der II. Kongreß<br />

der I.A.A.<br />

1. daß jedes Mitglied einer Organisation, die der I.A.A. angeschlossen<br />

ist, einen einheitlichen jährlichen Beitrag von 10 amerikanischen Cents oder<br />

den gleichen Wert in der Landesvaluta in de Kasse der I.A.A. zahlt;<br />

2. daß dieser Beitrag von jeder Landesorganisation durch die örtlichen<br />

Gewerkschaftsorganisationen erhoben wird;<br />

3. daß eine besondere Marke herausgegeben wird, die den Mitgliedern in<br />

das Mitgliedsbuch geklebt wird.<br />

4. <strong>Die</strong> Landesorganisationen senden alle Monate oder wenigstens alle<br />

drei Monate die für die I.A.A. erhaltenen Summen an das Sekretariat.<br />

5. Von den eingegangenen Summen für die I.A.A. soll ein Drittel für<br />

einen internationalen Solidaritätsfonds und zwei Drittel für die Propaganda<br />

verwendet werden.<br />

6. Wenn irgendeine angeschlossene Organisation von der I.A.A. beauftragt<br />

ist, Propaganda für die I.A.A. einzuleiten oder fortzusetzen, dann sollen<br />

die Ausgaben dafür von den Beiträgen dieser Organisation entnommen<br />

werden.<br />

7. Gelder aus dem internationalen Solidaritätsfonds können nur an verantwortliche<br />

Organisationen ausgehändigt werden.<br />

10. <strong>Die</strong> Presse der I.A.A.<br />

Der Kongreß beauftragt das Sekretariat:<br />

1. ein Propagandaplakat der I.A.A.,<br />

2. ein illustriertes Album über die internationale syndikalistische Bewegung,<br />

3. den Pressedienst allwöchentlich einmal in deutsch, spanisch, esperanto,<br />

französisch und englisch und allmonatlich eine verkürzte Ausgabe<br />

desselben in russisch,<br />

4. die internationale Revue nach Möglichkeit allmonatlich in mehreren<br />

Sprachen,<br />

5. in Gemeinschaft mit der Syndikalistischen Union Italiens in italienischer<br />

Sprache eine periodische Zeitschrift,<br />

6. Propagandabroschüren in mehreren Sprachen im Verlage der I.A.A.<br />

herauszugeben.<br />

Der Kongreß schlägt außerdem vor:<br />

a) daß jedes Presseorgan von Organisationen, die der I.A.A. angeschlossen<br />

sind oder ihr sympathisch gegenüberstehen, einen Raum der Zeitung für<br />

einen regelmäßigen Aufruf zur internationalen Solidarität und Propaganda<br />

einräumt;


RESOLUTIONEN DES II. KONGRESSES DER I.A.A. 61<br />

b) daß die Mitglieder des Ausschusses der I.A.A. in ihren Landesorganen<br />

und Zeitungen von Zeit zu Zeit Artikel veröffentlichen, die der Tätigkeit<br />

der I.A.A. auf internationalem Gebiet gewidmet sind, in welchen die<br />

Notwendigkeit betont wird, daß jedes Mitglied der I.A.A. seine Pflicht<br />

als revolutionärer Syndikalist sowohl im eigenen Lande wie auf internationalem<br />

Gebiet erfüllt.<br />

11. Kontrollkommission.<br />

Der internationale Kongress wählt eine Kontrollkommission samt Revisoren,<br />

welche die Aufgabe haben, die Verteilung der dem Büro zur Verfügung<br />

gestellten und von ihm verausgabten Gelder einer Prüfung zu unterziehen<br />

und dem Kongreß einen vollständigen Bericht darüber zu erstatten.<br />

Sitz des Büros.<br />

Zum Sitz des <strong>Internationale</strong>n Büros wurde Berlin bestimmt.<br />

Sekretariat.<br />

Es wurde ein Sekretariat aus drei Mitgliedern gewählt. <strong>Die</strong>se drei sind:<br />

Rudolf Rocker, Augustin Souchy, Deutschland;<br />

B. Lansink jun., Holland.<br />

Anfang<br />

Angenommene Resolutionen des II. Kongresses der I.A.A.<br />

I.<br />

Protestresolution gegen die politischen Verfolgungen.<br />

Der II. Kongreß der I.A.A. nimmt mit Entrüstung Kenntnis von den andauernden<br />

Verfolgungen, die nun schon seit Jahren in allen Ländern der Welt gegen die Vorkämpfer<br />

der revolutionären Bewegung wüten.<br />

Der Kongreß protestiert gegen die fortgesetzten Leiden, die unseren Genossen<br />

zugefügt werden, und fordert die Machthaber auf, die Opfer des Klassenkampfes und<br />

der sozialen Reaktion freizugeben.<br />

<strong>Die</strong> Verfolgungen, denen die Revolutionäre in Rußland ausgesetzt sind, fordern eine<br />

besonders energische Verurteilung durch das Weltproletariat, da die Unterdrückung<br />

der freien Meinungsäußerung durch ein sogenanntes sozialistisches oder Räteregime<br />

ein tausendfach verwerflicheres Verbrechen ist. Der Kongreß fordert alle seine angeschlossenen<br />

Landesorganisationen auf, in ihrer Agitation für die Befreiung der<br />

revolutionären Gefangenen, die die bolschewistischen Gefängnisse füllen, niemals zu<br />

erschlaffen.<br />

Der Kongreß sendet den Kameraden in den Gefängnissen aller Länder seine brüderlichen<br />

Grüße und gibt ihnen die Versicherung, daß die revolutionären Syndikalisten in<br />

der ganzen Welt für ihre Befreiung wirken werden.<br />

II.<br />

Stellung des revolutionären Syndikalismus zu<br />

den verschiedenen politischen Parteien und die internationale Reaktion<br />

Der internationale Kongreß erhärtet seine Anschauungen, die In den Statuten der<br />

I.A.A. niedergelegt sind.<br />

Der Kongreß gibt der Meinung Ausdruck, daß zwar alle wirtschaftlichen Organisationen<br />

des Proletariats imstande sind, wirtschaftliche Verbesserungen innerhalb der<br />

heutigen Gesellschaft zu erkämpfen und zu verwirklichen, daß jedoch die revolutio-


62 RESOLUTION: I.A.A. UND ANDERE RICHTUNGEN<br />

nären antiautoritären Arbeiterorganisationen allein die natürliche und wahre Organisationsform<br />

darstellen, die dazu fähig ist, die Reorganisation des wirtschaftlichen und<br />

sozialen Lebens auf der Grundlage des freiheitlichen Kommunismus durchzuführen;<br />

daß die politischen Parteien, welchen Namen sie auch tragen mögen, niemals<br />

als die treibende Kraft der wirtschaftlichen Reorganisation angeschen werden<br />

können, da ihre Wirksamkeit lediglich in der Eroberung der Staatsmacht ihren<br />

Ausdruck findet;<br />

daß nicht die Eroberung der politischen Macht, sondern die Ausschaltung jedes<br />

zentralistischen Machtorganismus aus dem Leben der Gesellschaft eines der<br />

Hauptziele der Arbeiterbewegung sein muß, da die Unabhängigkeit der Arbeiters<br />

bewegung die erste Voraussetzung zur Erreichung ihrer Endziele ist.<br />

Mit diesen Prinzipien als Grundlage seiner Wirksamkeit drückt der Kongreß die<br />

Meinung aus, daß jede Bevormundung der Arbeitergewerkschaften die Arbeiterklasse<br />

ihren eigentlichen Zielen und Aufgaben entfremden muß und daß aus diesem Grunde<br />

jede Koalition zwischen den Gewerkschaften und den parteipolitischen Organisationen<br />

schädlich ist.<br />

Der Kongreß verwirft die trügerische Auffassung, die Parteien, deren Ziel es ist.<br />

die politische Macht zu erstreben, mit Ideengruppen, die außerhalb jedes staatlichen<br />

und autoritären Prinzips für die soziale Umwandlung tätig sind, auf dieselbe Stufe stellt.<br />

Angesichts einer Lage, die für die Arbeiterklasse aller Länder voller Gefahren ist,<br />

vertritt der II. Kongreß der I.A.A. die Meinung, daß es die Pflicht der revolutionären<br />

Syndikalisten ist:<br />

energischer als je die Werbearbeit für den Syndikalismus fortzusetzen auf der<br />

Grundlage der Prinzipien, die in den Statuten der I.A.A. festgelegt sind,<br />

an irgendeiner Einigungskomödie, die von jenen unternommen wird, die die<br />

Arbeiterbewegung vernichten und sie zur Beute von irgendwelchen politischen Parteien<br />

machen wollen, nicht teilzunehmen;<br />

die I.A.A. zum Sammelpunkt aller revolutionären antistaatlichen Gewerkschaftskräfte<br />

der ganzen Welt zu machen.<br />

III.<br />

Resolution über den Kampf gegen die internationale Reaktion.<br />

Der Kongreß betrachtet die elementare Freiheit der Presse, des Wortes und der<br />

Koalition für die Kämpfe der Arbeiter als unentbehrlich.<br />

<strong>Die</strong>se Freiheiten sind das Ergebnis vergangener Revolutionen, und die Verteidigung<br />

oder Wiedererringung derselben hängt stets von der Kraft des Widerstandes ab, den<br />

das organisierte Proletariat zu leisten imstande ist. Sie sind eine kostbare Erbschaft,<br />

die fortgesetzt erweitert werden muß und niemals der Gnade irgendeiner Regierung<br />

anvertraut werden darf.<br />

Der Kongreß ist der Meinung, daß die revolutionären und antiautoritären Gewerkschaften,<br />

die in der I.A.A. vereinigt sind, durch sich selber gegen jede Kompromißgefahr<br />

mit allen Parteien und Organisationen, welche nach der Macht streben, gefeit<br />

sind, selbst dann, wenn sich ihre Wege mit andern politischen Kräften kreuzen im<br />

Kampfe gegen eine militärische oder bürgerliche Diktatur. Im Kampfe gegen die<br />

bolschewistische Diktatur erklärt der Kongreß, daß jedes, selbst vorübergehendes<br />

Zusammengehen mit irgendwelchen staatlichen Elementen oder Organisationen unmöglich<br />

ist.<br />

<strong>Die</strong>ses mögliche Zusammentreffen darf das Proletariat nicht in die Illusion wiegen,<br />

daß die bürgerliche Demokratie, wie revolutionär sie sich in gewissen Momenten auch<br />

geben mag, den Wunsch oder das Interesse hätte, zu ihren alten revolutionären Ueberlieferungen<br />

zurückzukehren. Der Widerstand der Arbeiterklasse als organisierte Kraft<br />

im sozialen Kampfe hat selbst die liberale Bourgeoisie zur Mitschuldigen und zur Stütze<br />

der Diktatur gemacht, wenn sie sich auch in der Theorie gegen dieselbe auflehnte.<br />

Der Kongreß ist der Meinung, daß das Proletariat in jedem Falle nur getäuscht<br />

werden kann, wenn es, anstatt die eventuellen Wirkungen der demokratischen Opposition<br />

gegen irgendeine Diktatur auszunutzen, zum Instrument der Demokratie wird<br />

und auf diese Weise nicht imstande ist, für sich den geringsten Vorteil zu erlangen,<br />

ja zum Gefangenen der politischen Konsequenzen dieses Kompromisses wird.<br />

Der Kongreß ermahnt die Arbeiterklasse jener Länder, die von dem Wüten der<br />

Diktatur betroffen sind, ihr Vertrauen in den Klassenkampf zu bewahren, und dort,


RESOLUTION: I.A.A. UND PRAKTISCHE TAGESKÄMPFE 63<br />

wo die derzeitigen Bedingungen die reguläre Tätigkeit des gewerkschaftlichen Lebens<br />

nicht gestatten, sich auf ihren Arbeitsplätzen selbst — in den Fabriken, den landwirtschaftlichen<br />

Betrieben und den Verkehrsindustrien — zu verbinden, denn der wahre<br />

Kampf gegen die Diktatur fällt nicht nur zusammen mit der Erhebung der Arbeiterschaft,<br />

auf der ganzen Linie der wirtschaftlichen Produktion, er wird auch die Bedingung<br />

jeder Erhebung gegen die Diktatur selbst sein.<br />

IV.<br />

Stellung der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter-Assoziation zu den praktischen Tageskämpfen.<br />

In Anbetracht, daß die <strong>Internationale</strong> Arbeiter-Assoziation die Vernichtung jeder<br />

Form des Lohnsystems und die Beseitigung des Staates als eines ihrer wichtigsten und<br />

fundamentalsten Ziele erstrebt, ein Ziel, das nur erreicht werden kann durch die<br />

klassenbewußte, organisierte revolutionäre Arbeiterklasse,<br />

in Erwägung, daß die praktischen Kämpfe für die Erringung besserer Lebensbedingungen<br />

der Arbeiterschaft innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft von<br />

hervorragender Bedeutung sowohl für die Entwicklung der revolutionären Initiative<br />

der Arbeiterbewegung als auch für die Hebung der Lebenslage auf allen Gebieten<br />

des materiellen und geistigen Lebens sind,<br />

in Anbetracht, daß die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, welche Millionen von<br />

Proletariern das Leben unerträglich macht, zu einem dringenden Bedürfnis der<br />

Stunde geworden ist,<br />

daß die Arbeitslosigkeit teilweise das Ergebnis einer Ueberproduktion ist,<br />

welche sich darauf zurückführen läßt, daß die Produktion nicht durch die notwendigen<br />

Bedürfnisse des Volkes, sondern durch die Interessen des Kapitalismus<br />

und den niedrigen Stand der Arbeiterlöhne bedingt werden,<br />

daß man durch die wissenschaftliche Vervollkommnung aller Produktionsmittel<br />

zu dieser scheinbaren Ueberproduktion gelangt,<br />

daß die Fortschritte der maschinellen Produktion notwendigerweise von einer<br />

entsprechenden Herabsetzung der Arbeitszeit begleitet sein müssen, weil selbst<br />

unter dem kapitalistischen System die Vorteile eines solchen Fortschrittes nicht<br />

ausschließlich den derzeitigen Aneignern der sozialen Reichtümer ausgeliefert<br />

werden dürfen,<br />

in fernerer Erwägung, daß nach den berufendsten Schlußfolgerungen der wissenschaftlichen<br />

Forschung der Achtstundentag in der modernen Industrie eine Verausgabung<br />

der Lebensenergie und einen Grad der Anpassung erheischt, welche das<br />

körperliche Widerstandsvermögen der Menschen überschreitet,<br />

daß bereits in einigen Industrien verschiedener Länder der Sechsstundentag<br />

eine Tatsache ist,<br />

erklärt der Kongreß, daß die I.A.A. mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen,<br />

jede Aktion und jeden Kampf unterstützen wird, welcher die praktischen Verbesserungen<br />

der Lage der Arbeiterklasse zum Ziele hat. Der Kongreß appelliert an die<br />

gesamte Arbeiterschaft, an jeder Aktion für die Eroberung des Sechsstundentages<br />

tätigen Anteil zu nehmen.<br />

V.<br />

Stellung der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter-Assoziation zum Dawes-Abkommen.<br />

Der II. Kongreß der I.A.A. verurteilt auf das schärfste das sogenannte Dawesabkommen,<br />

das nur ein Ergebnis des Schandvertrages von Versailles ist und ebenso<br />

wie dieser das Merkmal der imperialistischen Politik an der Stirn trägt. <strong>Die</strong>ses Abkommen,<br />

das lediglich den Zweck hat, bestimmten Kategorien der internationalen<br />

kapitalistischen Schwerindustrie und Finanzwelt die Herrschaft über die Welt zu<br />

sichern, ist keineswegs eine Garantie für den Frieden, sondern eine giftige Quelle fortgesetzter<br />

neuer Wirtschaftskonflikte, aus denen sich jederzeit ein neuer Krieg entwickeln<br />

kann.<br />

Der internationale Imperialismus, der die Arbeiterklasse Deutschlands niederhält,<br />

bedroht zu gleicher Zeit die wirtschaftliche Lage des Proletariats aller anderen Länder,<br />

da die systematische Auspumpung Deutschlands in den übrigen Ländern unvermeidlich


64 RESOLUTION: I.A.A. UND DAWESABKOMMEN<br />

zu einer Reihe fortgesetzter Wirtschaftskrisen führen muß, durch welche die Arbeiterschaft<br />

der Beutegier des internationalen Ausbeutertums auf Gnade und Ungnade ausgeliefert<br />

wird. In derselben Zeit bedeutet das Abkommen eine verhängnisvolle<br />

Stärkung der internationalen Reaktion in allen Ländern und fördert in jeder Weise das<br />

verbrecherische Werk der gegenseitigen Völkerverhetzung.<br />

Der Kongreß brandmarkt vor der Arbeiterklasse aller Länder die schmähliche<br />

Taktik der sogenannten Arbeiterparteien und ihres reformistisch-gewerkschaftlichen<br />

Anhangs, welche durch ihre Zustimmung zu diesem Abkommen die Pläne der imperialistischen<br />

Reaktion auf der ganzen Linie gefördert haben, während sie in derselben<br />

Zeit in Deutschland den besitzenden Klassen die Möglichkeit gaben, sich auf Kosten<br />

des Elends der breiten Massen in unerhörter Weise zu bereichern, trotz des Dawesabkommens.<br />

Getreu den Prinzipien der ersten <strong>Internationale</strong> gibt der Kongreß der Meinung<br />

Ausdruck, daß die Interessen des internationalen Proletariats von denen der Bourgeoisie<br />

diametral verschieden sind und infolgedessen jedes nationale Zusammengehen zwischen<br />

den Trägern des Kapitalismus und der Arbeiterschaft, wie es von den sogenannten<br />

Arbeiterparteien betrieben wird, zu einer vollständigen Preisgabe der proletarischen<br />

Befreiungsidee führen muß.<br />

Der Kongreß appelliert an alle der I.A.A. angeschlossenen Landesorganisationen,<br />

eine großzügige Propaganda in allen Ländern in die Wege zu leiten, um den Arbeitern<br />

der Welt den wahren Sinn der im Dawesabkommen kristallisierten imperialistischen<br />

Politik des Kapitalismus klar zu machen, damit sie imstande sind, durch gemeinschaftliche<br />

Aktionen der Gefahr zu begegnen, die ihnen droht.<br />

VI.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong> Arbeiter-Assoziation und syndikalistische Jugend.<br />

<strong>Die</strong> gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiterklasse werden durch den Zustrom<br />

der Jugend beständig erneuert. An die Stelle derer, die im Kampf fallen,<br />

erlahmen oder ergrauen, tritt die proletarische Jugend, die in die Gewerkschaft ihre<br />

frische Energie, Glauben und Begeisterung trägt und so die Avantgarde bei allen<br />

Kämpfen der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus darstellt.<br />

<strong>Die</strong> syndikalistische Jugend stellt außerdem jenen Kern dar, auf welchen das<br />

Proletariat alle Zukunftshoffnungen für den Sieg der Freiheit und sozialen Gleichheit<br />

setzt, da die Jungen unzweifelhaft die Männer sein werden, auf denen die schwere<br />

Verantwortung des Endkampfes lastet für die Befreiung und den Aufbau der sozialistischen<br />

Bedarfswirtschaft.<br />

Aus diesen Erwägungen heraus sollen die I.A.A. und die ihr angeschlossenen<br />

Landesorganisationen es sich zur Aufgabe machen, dem Nachwuchs der syndikalistischen<br />

Jugendbewegung besondere Aufmerksamkeit zu widmen und in ihnen die Gefühle<br />

der Edelmütigkeit und Großzügigkeit sowie den Geist der Solidarität und Opferwilligkeit<br />

entwickeln, die Neigung für nützliche Arbeit zu wecken, den Drang für das Eindringen<br />

in die Produktionstechnik sowie das Studium besonderer wirtschaftlicher<br />

Probleme hervorrufen, damit er in der nächsten Zukunft sich seiner technischen und<br />

wirtschaftlichen Ausbildung und Fähigkeiten bedienen kann, zum Zwecke der Befreiung<br />

der eigenen Klasse.<br />

Zur Erreichung dieses Zieles wird vorgeschlagen:<br />

a) die Errichtung besonderer Schulen oder Studienkurse, in welchen die Jugend<br />

sich in ihrem Studium vervollkommnen kann, insbesondere um sämtliche technischen<br />

Fähigkeiten ihres Berufes zu erwerben und um die Grundlagen der<br />

soziale Oekonomie kennen zu lernen;<br />

b) die Veröffentlichung von Broschüren und Büchern zu fördern, in denen die<br />

Probleme in einer Weise behandelt werden, die dem Auffassungsvermögen und<br />

den Fähigkeiten der Jugend angepaßt sind; die Zeitschriften des Kampfes und<br />

der Polemik sind für die gesamte Arbeiterbewegung berechnet und daher für<br />

diesen Zweck nicht besonders geeignet;<br />

c) aufklärende Propaganda zu treiben, die das einzige Mittel ist, die eingefleischten<br />

Ueberlieferungen der bürgerlichen Ideologie zu bekämpfen, auf welchen sich das<br />

moralische Prestige der Beherrschung und des herrschenden Staates aufbaut;<br />

d) energisch dafür zu wirken, daß die Jugend der sportlichen Besessenheit entzogen<br />

wird, weil der Sport heute ein Mittel in den Händen der Kapitalisten ist, die


I.A.A. UND JUGEND / INTERNATIONALE AKTIONEN 65<br />

Jugend vom Klassenkampf und von einer höheren geistigen Entwicklung abzuhalten<br />

und sie zu einem mechanischen, nicht klassenbewußten Instrument macht,<br />

anstatt zu denkenden und aktionsfähigen Menschen;<br />

e) die Jugend dazu aufzumuntern, sich rechtzeitig an der Gewerkschaftsbewegung<br />

zu beteiligen, damit jeder nach seinen Fähigkeiten und Anlagen auf seine Weise<br />

an dem Werke teilnimmt, und die Gewerkschaften mit guten Elementen bereichert,<br />

auf daß diese vor dem Einfluß der Verknöcherung bewahrt werden, die<br />

nicht mehr das Denken und Wollen der Arbeiterschaft widerspiegeln;<br />

f) in den Ländern, wo noch keine Jugendbewegung innerhalb unserer Ideenrichtung<br />

besteht, alle Kraft aufzubieten, um dort eine solche ins Leben zu rufen;<br />

g) dahin zu trachten, die Jugend über die Grenzen der Staaten hinaus zu vereinigen<br />

durch internationale Konferenzen, die diesem Ziele gewidmet sind.<br />

VII.<br />

Resolution über die internationalen Aktionen der I.A.A.<br />

Um die internationale Aktion der I.A.A. auf eine solide Grundlage zu stellen,<br />

schlägt der II. Kongreß der I.A.A. im März 1925 zu Amsterdam vor:<br />

1. daß jede Landesorganisation der I.A.A. eine internationale Aktionskommission<br />

bildet, an deren Spitze das Mitglied des Büros der I.A.A. oder dessen Ersatzmann<br />

steht. <strong>Die</strong>se Kommission unternimmt die notwendigen Arbeiten, um praktische Hilfeleistungen<br />

des revolutionären Proletariats der verschiedenen Länder allen Bewegungen<br />

und jeder Agitation zukommen zu lassen, die die Grenzen eines einzigen Landes überschreiten;<br />

2. daß die Landesorganisation, die direkt an der Unterstützung interessiert ist,<br />

dem Sekretariat der I.A.A. die Lage der Krise sowie die Art schildert, auf welche sie<br />

die Hilfe der I.A.A. für möglich hält.<br />

3. Das Sekretariat der I.A.A. sendet unverzüglich an alle internationalen Aktionskommissionen<br />

aller angeschlossenen Organisationen und, wo solche nicht vorhanden<br />

sind, an die Organisationen selbst alle notwendigen Belege und Vorschläge, die ihm<br />

zugegangen sind und die der Ausschuß oder das Sekretariat für zweckmäßig hält.<br />

4. <strong>Die</strong> internationalen Aktionskommissionen sollten nach der Art der Agitation,<br />

die sie zu unternehmen beabsichtigen, die Mitarbeit der proletarischen Gewerkschaftsorganisationen<br />

oder anderen revolutionären Organisationen bei dem unternommenen<br />

Werke zu erreichen suchen.<br />

5. <strong>Die</strong> internationalen Aktionskommissionen geben ihren respektiven Landesorganisationen<br />

wenigstens allmonatlich einen Bericht über ihre Tätigkeit. Eine Abschrift<br />

dieses Berichtes soll dem Sekretariat der I.A.A. zugesandt werden.<br />

Es versteht sich von selbst, daß im Falle von Verfolgungen, Gefangensetzung oder<br />

anderen Fällen, die durch Telegraphenagenturen usw. verbreitet und der ganzen Welt<br />

zur Kenntnis gelangen sowie ein unverzügliches Eingreifen seitens des Proletariats nötig<br />

machen, die internationalen Aktionskommissionen sofort in jedem besonderen Falle in<br />

Tätigkeit treten, ohne erst Rundschreiben oder Aufforderungen der I.A.A. abzuwarten.<br />

VIII.<br />

Manifest gegen den Krieg.<br />

Der Kongreß beschließt, die angeschlossenen Landesorganisationen aufzufordern,<br />

überall in allen Städten und Orten aller Länder am ersten Sonntag im Monat August<br />

antimilitaristische Versammlungen anläßlich des Ausbruches des Weltkrieges abzuhalten.<br />

<strong>Die</strong>se Versammlungen können auch mit anderen Organisationen gemeinsam unternommen<br />

werden, die für den Ausbruch des Weltkrieges nicht verantwortlich gemacht<br />

werden können.<br />

IX.<br />

<strong>Die</strong> I.A.A. und die internationalen Industrieföderationen.<br />

Nachdem die Delegierten des II. Kongresses der I.A.A. auf die Notwendigkeit<br />

engerer Verbindungen zwischen den einzelnen Industrieföderationen oder Berufsorganisationen<br />

der verschiedenen Länder hingewiesen haben, beschließt der Kongreß,<br />

zunächst drei internationale Sekretariate zu gründen und zwar:


66 RESOLUTIONEN DES II. KONGRESSES DER I.A.A.<br />

1. ein internationales Sekretariat der Seeleute durch die Föderation der Seeleute<br />

innerhalb des N.S.V. Hollands;<br />

2. ein internationales Bauarbeitersekretariat durch die Bauarbeiterföderation der<br />

C.G.T. Portugals;<br />

3. ein internationales Metallarbeitersekretariat durch die Metallindustriearbeiterföderation<br />

der F.A.U.D. Deutschlands.<br />

Das Sekretariat der I.A.A. soll die Bildung von weiteren derartigen Sekretariaten<br />

für andere Industrien nach Möglichkeit ins Auge fassen.<br />

X.<br />

Resolution über die Bildung einer internationalen Studienkommission.<br />

In Erwägung, daß die Entwicklung der Weltkrise das Proletariat aller Länder mehr<br />

und mehr der praktischen Lösung der politischen und wirtschaftlichen Probleme entgegenbringt,<br />

die zur vollständigen Befreiung der Arbeiterschaft führen,<br />

daß das Studium dieser Probleme dadurch eine dringende Aufgabe der revolutionären<br />

Arbeiterbewegung ist,<br />

beschließt der II. Kongreß, eine internationale Studienkommission einzusetzen, die<br />

zur Aufgabe hat:<br />

Eine Serie Schriften über die verschiedenen Seiten der Arbeiterbewegung, über den<br />

Kampf gegen den Weltkapitalismus und zur Lösung der politischen, wirtschaftlichen und<br />

sozialen Probleme, die sich dem für den freiheitlichen Kommunismus kämpfenden<br />

Proletariat entgegenstellen, in Einzelausgaben herauszugeben.<br />

Das Sekretariat der I.A.A. ist beauftragt, Maßnahmen zu ergreifen für die Veröffentlichung<br />

dieser Monographien, die in so vielen Sprachen wie möglich, entweder<br />

durch das Sekretariat oder durch die angeschlossenen Landesorganisationen zur Herausgabe<br />

gelangen sollen.<br />

XI.<br />

Resolution über die Finanzierung der I.A.A.<br />

Damit die I.A.A. ihre internationale Tätigkeit erweitern und vertiefen, ihre schrittliche<br />

Propaganda auf eine solide Basis stellen kann, damit ihre perioden Veröffentlichungen<br />

regelmäßig erscheinen können, damit die I.A.A. an allen Aeußerungen des<br />

revolutionären Syndikalismus aller Länder teilnehmen kann und in den Stand gesetzt ist,<br />

die Ideen des revolutionären Syndikalismus in den Ländern zu verstärken und zu vertiefen,<br />

in denen unsere Ideen und Taktik nur schwach vertreten sind, damit die I.A.A.<br />

schließlich stets dazu in der Lage ist, in gleicher Weise und unmittelbar die Solidaritätsaufrufe<br />

zu beantworten, die an sie gerichtet werden, beschließt der II. Kongreß<br />

der I.A.A.:<br />

1. daß jedes Mitglied einer Organisation, die der I.A.A. angeschlossen ist, einen<br />

einheitlichen jährlichen Beitrag von 10 amerikanischen Cents oder den gleichen Wert<br />

in der Landesvaluta in die Kasse der I.A.A. zahlt;<br />

2. daß dieser Beitrag von jeder Landesorganisation durch die örtlichen Gewerkschaftsorganisationen<br />

erhoben wird;<br />

3. daß eine besondere Marke herausgegeben wird, die den Mitgliedern in das Mitgliedsbuch<br />

geklebt wird;<br />

4. <strong>Die</strong> Landesorganisationen senden alle Monate oder wenigstens alle drei Monate<br />

die für die I.A.A. erhaltenen Summen an das Sekretariat;<br />

5. Von den eingegangenen Summen für die I.A.A. soll ein Drittel für einen internationalen<br />

Solidaritätsfonds und zwei Drittel für die Propaganda verwendet werden;<br />

6. Wenn irgendeine angeschlossene Organisation von der I.A.A. beauftragt ist,<br />

Propaganda für die I.A.A. einzuleiten oder fortzusetzen, dann sollen die Ausgaben dafür<br />

von den Beiträgen dieser Organisation entnommen werden;<br />

7. Gelder aus dem internationalen Solidaritätsfonds können nur an verantwortliche<br />

Organisationen ausgehändigt werden.<br />

XII.<br />

<strong>Die</strong> Presse der I.A.A.<br />

Der Kongreß beauftragt das Sekretariat:<br />

1. ein Propagandaplakat der I.A.A.,<br />

2. ein illustriertes Album über die internationale syndikalistische Bewegung,


STELLUNG ZU DEN BETRIEBSRÄTEN 67<br />

3. den Pressedienst allwöchentlich einmal in Deutsch, Spanisch, Esperanto, Französisch<br />

und Englisch und allmonatlich eine verkürzte Ausgabe desselben in Russisch,<br />

4. die internationale Revue nach Möglichkeit allmonatlich in mehreren Sprachen,<br />

5. in Gemeinschaft mit der Syndikalistischen Union Italiens in italienischer Sprache<br />

eine periodische Zeitschrift,<br />

6. Propagandabroschüren in mehreren Sprachen im Verlage der I.A.A. herauszugeben.<br />

Der Kongreß schlägt außerdem vor:<br />

a) daß jedes Presseorgan von Organisationen, die der I.A.A. angeschlossen sind oder<br />

ihr sympathisch gegenüberstehen, einen Raum der Zeitung für einen regelmäßigen<br />

Aufruf zur internationalen Solidarität und Propaganda einräumt;<br />

b) daß die Mitglieder des Ausschusses der I. A.A. in ihren Landesorganen und<br />

Zeitungen von Zeit zu Zeit Artikel veröffentlichen, die der Tätigkeit der I.A.A.<br />

auf internationalem Gebiete gewidmet sind, in welchen die Notwendigkeit betont<br />

wird, daß jedes Mitglied der I.A.A. seine Pflicht als revolutionärer Syndikalist<br />

sowohl im eigenen Lande wie auf internationalem Gebiete erfüllt.<br />

Nicht angenommene Resolutionen und Erklärungen.<br />

Resolution über die Betriebsräte.<br />

(Wurde aus Zeitmangel zurückgestellt.)<br />

Der revolutionäre Syndikalismus steht auf dem Boden des föderalistischen Rätesystems.<br />

<strong>Die</strong> Bildung von Betriebsräten ist sowohl zur Förderung des Endzieles wie<br />

zur Erfüllung der Gegenwartsaufgaben für das kämpfende Proletariat von großer Bedeutung.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiterräte als direkte Vertretung der werktätigen Massen sind in erster<br />

Linie dazu berufen, in Uebereinstimmung mit den syndikalistischen Gewerkschaften<br />

den Kampf zu führen für die Befreiung der Arbeiterklasse.<br />

<strong>Die</strong> Bildung von Räten in den Betrieben soll der Aufgabe dienen, die Arbeiter<br />

im Betriebe näher zusammenzuführen, ihr Klassenbewußtsein zu wecken und ihre gemeinsamen<br />

Interessen dem Unternehmertum gegenüber wahrzunehmen. Von der Tatsache<br />

ausgehend, daß das Klassenbewußtsein der Arbeiter sich ungleichmäßig entwickelt,<br />

sollten die syndikalistischen Organisationen mit aller Energie dafür eintreten,<br />

daß in den Betrieben Betriebsräte gewählt werden. <strong>Die</strong> Wahl der Betriebsräte<br />

ist ein Akt der Entfaltung von Selbstinitiative der Arbeiterschaft und ist ein Schritt<br />

auf dem Wege zur Produktionskontrolle sowie zur Selbstverwaltung und Eroberung der<br />

Betriebe. <strong>Die</strong> Betriebsräte sind als das Gerippe der zukünftigen Verwaltungskörperschaft<br />

des Betriebes zu betrachten.<br />

Der Kongreß stellt fest, daß die gesetzliche Verankerung der Betriebsräte in Rußland,<br />

Deutschland und Norwegen die Folge der revolutionären Wellen ist, die in den<br />

vergangenen Jahren über die Welt dahinfegten. <strong>Die</strong> Regierungen, die ein Betriebsrätegesetz<br />

billigten, taten dies keineswegs zum Wohl und Fortschritt der Arbeiterschaft,<br />

sondern im Interesse der Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft, um die revolutionäre<br />

Arbeiterbewegung in falsche Kanäle zu leiten und ihr die revolutionäre Schlagkraft<br />

einzudämmen. Tatsächlich sind die Grenzen der bestehenden Betriebsrätegesetze<br />

derart eng gezogen, daß die eigentlichen Aufgaben revolutionärer Betriebsräte erst jenseits<br />

des Rahmens dieser Gesetze liegen. In Ländern, wo gesetzliche Betriebsräte bestehen,<br />

ist es die Aufgabe der revolutionären Syndikalisten, die Arbeiter auf die Unzulänglichkeit<br />

derselben hinzuweisen, deren Aufgabenkreis zu erweitern und Propaganda<br />

für wahrhaft revolutionäre Betriebsräte zu machen, deren Ziel über die heutige Gesellschaft<br />

hinausgehen muß.<br />

Wo es kein Betriebsrätegesetz gibt, sollten die syndikalistischen Organisationen die<br />

Arbeiter auffordern, in den Betrieben Räte zu wählen, in Uebereinstimmung mit der<br />

Prinzipienerklärung der I.A.A. <strong>Die</strong> syndikalistischen Betriebsräte müssen stets unter<br />

der Kontrolle der syndikalistischen Gewerkschaften stehen.<br />

<strong>Die</strong> Aufgaben der Betriebsräte sollen sein:<br />

1. <strong>Die</strong> Interessen der Arbeiterschaft wahrzunehmen, insbesondere bei Konflikten<br />

mit Unternehmertum und Staat.<br />

2. Bei allen Kämpfen der Arbeiterschaft um höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit,<br />

hygienische Arbeitsbedingungen usw. sich an die Spitze der Bewegung stellen.


68<br />

DIE C.N.T. SPANIENS ZUR ANTIMILITARISTISCHEN AKTION<br />

3. Alle Vorteile ausnutzen, die dem Betriebsrat aus seiner Stellung entstehen.<br />

<strong>Die</strong> syndikalistischen Gewerkschaften müssen es sich zur Aufgabe machen, die<br />

Arbeiter vorzubereiten zu dem großen Werke der Uebernahme der Produktion. Hierzu<br />

erachtet der Kongreß als zweckdienlich:<br />

a) für die Betriebsräte aller Betriebe eines Ortes regelmäßige Versammlungen einzuberufen,<br />

in denen gegenseitige Erfahrungen ausgetauscht und über gemeinsame Wege<br />

beraten wird;<br />

b) Konferenzen für die Betriebsräte eines Bezirkes oder Kreises einzuberufen, die<br />

im Einverständnis mit den Gewerkschaften über gemeinsame Aktionen bei Tageskämpfen<br />

und bei revolutionären Aktionen gemeinsam beraten;<br />

c) Landeskongresse für Betriebsräte einzuberufen, sobald der Boden dafür vorhanden<br />

ist;<br />

d) Kurse zu errichten, um die Betriebsräte und damit die gesamte Arbeiterschaft<br />

für die Uebernahme der Betriebe und Verwaltung der Produktion technisch und<br />

administrativ vorzubereiten.<br />

Der Kongreß spricht die Ueberzeugung aus, daß die praktische Durchführung<br />

dieser Beschlüsse zur Hebung und Entfaltung der Selbsttätigkeit der Massen, zur<br />

Ueberwindung des Glaubens an die Wirksamkeit der politischen Parteien und damit<br />

zum Durchbruch des freiheitlichen Kommunismus beitragen werde.<br />

Antrag der spanischen Arbeiterkonföderation (C.N.T.) zur Frage der<br />

antimilitaristischen Aktion.<br />

Folgender Antrag wurde von der C.N.T. Spaniens dem Kongreß unterbreitet. Der<br />

Kongreß nahm ihn zur Kenntnis und legt ihn den angeschlossenen Organisationen zur<br />

Prüfung und Diskussion vor.<br />

In Erwägung, daß es die Pflicht der Arbeiterklasse ist, alles daranzusetzen, um die<br />

Herstellung von Gegenständen zu verhindern, die nicht von allgemein anerkanntem<br />

Nutzen oder gar schädlich sind;<br />

daß zu diesen Gegenständen in erster Linie die Herstellung von Kriegsmaterial<br />

aller Art gehört;<br />

daß der Krieg unmöglich wäre, wenn das Proletariat, das in jeder Beziehung sein<br />

erstes Opfer ist, keine Werkzeuge der Zerstörung, die zur Kriegführung notwendig<br />

sind, herstellen würde;<br />

daß die Kriegsgeräte auch dazu benutzt werden, um die freiheitliche Bewegung des<br />

Proletariats im Blute zu ersticken;<br />

daß der Krieg eine der Hauptursachen der Reaktion ist;<br />

schlägt die C.N.T. Spaniens vor:<br />

1. der Kongreß möge das Sekretariat der I.A.A. beauftragen, alle bestehenden<br />

antimilitaristischen Verbände einzuladen, sich in einer feierlichen öffentlichen Erklärung<br />

gegen jeden Angriffs- wie Verteidigungskrieg durch Anwendung folgender<br />

Mittel zu wenden:<br />

a) die Mobilmachung zu verweigern;<br />

b) die Herstellung jeder Art Kriegsgeräte zu verweigern;<br />

c) den Generalstreik zu erklären;<br />

2. den der I.A.A. angeschlossenen Landesorganisationen und durch diese den örtlichen<br />

Gewerkschaftsorganisationen zur Erwägung unterbreiten, ob Mitglieder, die in<br />

der Rüstungsindustrie, in Waffenfabriken, Werkstätten zur Herstellung von Kriegsflugzeugen<br />

und chemischen Kriegsartikeln arbeiten, die nur für den Krieg oder bei<br />

Erhebungen im Lande selbst verwendet werden können, noch weiter als Mitglieder von<br />

Arbeiterorganisationen betrachtet werden können, die gegen jeden Krieg sind, da der<br />

Krieg die Folge der Gegensätze ist, die vom Kapitalismus und von allen Staaten aufrechterhalten<br />

werden;<br />

3. falls es für nicht ratsam gehalten wird, jenen Arbeitern die Mitgliedschaft zu<br />

verweigern, dann möge zum kommenden internationalen Kongreß der I.A.A. jede angeschlossene<br />

Organisation beauftragt werden, sich eindeutig auszusprechen, ob die mit<br />

der Herstellung von Kriegsmaterial beschäftigten Arbeiter, wenn sie zur Besserstellung<br />

ihrer Lebenslage in den Kampf oder Streik treten, das Recht auf die moralische und<br />

materielle Solidarität der übrigen Arbeiterschaft haben oder nicht;<br />

4. es bereits jetzt in den internationalen Propagandaplan der I.A.A. aufzunehmen,<br />

die in Frage kommenden Arbeiter über den wahren Sinn der Arbeit, die sie ausführen,<br />

aufzuklären.


DIE C.N.T. SPANIENS ZUM DAWESABKOMMEN 69<br />

Antrag der spanischen Delegation auf dem II. Kongreß über das Dawesabkommen.<br />

<strong>Die</strong>ser Antrag ist als Hinzufügung zu der vom Kongreß angenommenen Entschließung<br />

über das Dawesabkommen zu betrachten.<br />

In Anbetracht, daß das Dawesabkommen die vervollständigte und erhöhte Auflage<br />

des Versailler Vertrages ist, und dennoch eine Abschwächung desselben zu sein<br />

vorgibt,<br />

in Anbetracht, daß das Proletariat, wenn es verstehen lernen will, ob es dieses<br />

Dawesabkommen billigen oder bekämpfen soll, sich nur an dessen Ursprung zu erinnern<br />

braucht,<br />

in Anbetracht, daß der Krieg durch den unausgleichbaren Gegensatz der kapitalistischen<br />

Interessen selbst entstanden ist und zur Verstärkung der internationalen<br />

Monopole geführt hat,<br />

in Anbetracht, daß das Dawesabkommen, das im Grunde nichts anderes ist als<br />

das geschichtliche Gepräge des imperialistischen Fiebers des Kapitalismus und der<br />

Staaten, zur Ursache eines neuen und noch blutigeren Krieges, als der von 1914—1918<br />

es gewesen ist, werden wird, wenn eine internationale proletarische Erhebung die große<br />

Gefahr nicht abwendet, die dieser Krieg für das gesamte Proletariat bedeutet,<br />

in Anbetracht, daß das Dawesabkommen als eine Art Willensäußerung zu betrachten<br />

ist, die wirtschaftlichen und moralischen Errungenschaften, die die Arbeiterklasse<br />

während der letzten 50 Jahre gemacht hat zu vernichten,<br />

in Erwägung, daß das Dawesabkommen sich scheinbar nur das deutsche Proletariat<br />

zum Opfer erkoren hat, in Wirklichkeit sich aber gegen die gesamte Arbeiterklasse<br />

aller Länder richtet,<br />

in Erwägung, daß dadurch das Proletariat aller Länder sich mit dem deutschen<br />

Proletariat durch gemeinsame Interessen, Gefühle und durch ein gemeinsames Ideal<br />

vollständiger Befreiung eng verbunden fühlen müsse,<br />

in Erwägung, daß man dem deutschen Proletariat die Irrtümer, in die es gefallen<br />

ist, nicht zum Vorwurf machen kann, da auch die Proletarier der anderen Länder sich<br />

in demselben Irrtum befinden, sondern politischen Parteien aller Länder, die sich anmaßen,<br />

die Arbeiterklasse darzustellen,<br />

in Anbetracht, daß die I.A.A. das Unrecht, dem ein einziger Arbeiter zum Opfer<br />

fällt, als Unrecht gegen die gesamte Arbeiterklasse betrachtet,<br />

in Erwägung, daß die Eroberung der Freiheit und die Errichtung der Gerechtigkeit,<br />

die vollständig nur nach Vernichtung des kapitalistischen Systems erreicht werden<br />

können, nicht eine national beschränkte Frage darstellen, sondern ein großes Problem,<br />

dem die Tätigkeit des Proletariats aller Länder gewidmet sein müsse,<br />

in Erwägung, daß das Dawesabkommen eines der größten Hindernisse für das Vorwärtsschreiten<br />

der Arbeiterklasse darstellt,<br />

ist der II. Kongreß der I.A.A. der Meinung, daß die einzig mögliche Stellung des<br />

internationalen Proletariats gegenüber dem Dawesabkommen in einem offenen rücksichtslosen<br />

Kampf bestehen muß.<br />

Erklärung des Vertreters der C.N.T. Spaniens.<br />

Der Delegierte der C.N.T. auf dem II. Kongreß der I.A.A. kann keine Verantwortung<br />

übernehmen für Artikel über den Streit zwischen der F.O.R.A. und anderen Organisationen<br />

aus folgenden Gründen:<br />

1. er entbehrt der nötigen Grundlagen für die Beurteilung, die ihm eine Stellungnahme<br />

möglich machen,<br />

2. er hat nicht eine einzige Veröffentlichung gesehen, die von dem Zentralkomitee in<br />

obenerwähnter Angelegenheit publiziert wurde,<br />

3. er ist persönlich überzeugt, daß die Einmischung von Personen, die nicht die<br />

Frage kennen, die einzige Folge haben würde, die Angelegenheit zu verwickeln;<br />

4. es kann der Arbeiterklasse nur zum Wohle dienen, wenn diese Streitigkeiten,<br />

die nur eine Schwächung unserer Kräfte zur Folge haben, eingestellt werden.<br />

Amsterdam, den 26. März 1925. E. C a r b o.


70<br />

BEGRÜSSUNGEN DES II. KONGRESSES<br />

Begrüßungsschreiben.<br />

Begrüßungstelegramme liefen ein von der Syndikalistischen Föderation Norwegens,<br />

von der Arbeitsbörse Rotterdams, der Metallarbeiterföderation Portugals, der Ledert<br />

und Gerbereiarbeiterföderation Portugals, der Union der Gewerkschaften Portos in<br />

Portugal, von den jungen Syndikalisten Portugals.<br />

Begrüßungsschreiben von der syndikalistischanarchistischen Jugend Berlins, dem<br />

Bunde herrschaftsloser Sozialisten Oesterreichs, der Union der Gewerkschaften Lissabons.<br />

Der Weltbund der staatenlosen Esperantisten (Tutmunda Ligo de Esperantistoj<br />

Senstatanoj) Sitz 9 rue Louis Blanc, Paris, sandte dem Kongreß ein Begrüßungsschreiben<br />

und bot seine <strong>Die</strong>nste der IAA. für Uebersetzungen an. <strong>Die</strong> Föderation der jungen<br />

Syndikalisten Portugals sandte ein besonderes Schreiben, in dem sie es bedauert, aus<br />

Gründen finanzieller Art keinen Delegierten senden zu können. Außerdem liefen noch<br />

folgende Schreiben ein, die zur Verlesung gelangten:<br />

Das Vereinigte Komitee zum Schutze der gefangenen<br />

Revolutionäre in Sowjetrußland an den II. Kongreß der I.A.A.<br />

Das Vereinigte Komitee bedauert, daß es finanziell nicht in der Lage ist, einen Vertreter<br />

zum 2. Kongreß der I.AA. zu senden. Auch wir würden gern Anteil nehmen.<br />

Das Komitee sendet den Delegierten des Kongresses die besten Grüße und wünscht<br />

dem Kongreß guten Erfolg für seine Arbeiten.<br />

Wir bitten den Kongreß, den gefangenen Revolutionären in Rußland wie auch den<br />

politischen Gefangenen in anderen bürgerlichen Ländern seine Solidarität auszudrücken<br />

und gegen die politischen Verfolgungen zu protestieren.<br />

Wir hoffen, der Kongreß wird seine Delegierten dazu veranlassen, die Sache der<br />

Verfolgungen in Rußland intensiver als bisher aufzunehmen, wenn diese zu ihren Organisationen<br />

zurückgekehrt sind.<br />

Mögen die Arbeiten des Kongresses für die internationale Arbeiterschaft von großem<br />

Nutzen sein.<br />

Mit Brudergruß<br />

Das Vereinigte Komitee zum Schutze der gefangenen Revolutionäre in Rußland.<br />

1. A.: Alexander Berkman.<br />

An den II. Kongreß der <strong>Internationale</strong>n Arbeiten Assoziation.<br />

<strong>Die</strong> Konferenz der russischen, bulgarischen, polnischen und jüdischen Anarchisten,<br />

abgehalten in Paris, den 22. Februar und 8. März 1925, hat nach Prüfung der Frage einer<br />

internationalen Kampagne gegen die unaufhörlichen Verfolgungen der Revolutionäre<br />

und der revolutionären Ideen durch die Sowjetregierung beschlossen, eine solche Kampagne<br />

wieder aufzunehmen und sich zu diesem Zwecke in Verbindung zu setzen mit der<br />

<strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation und mit den anarchistischen Organisationen der<br />

verschiedenen Länder.<br />

Indem wir dies dem Kongreß zur Kenntnis bringen, schlagen wir ihm vor, gegen<br />

die Verfolgungen der Revolutionäre und revolutionären Idee in Sowjetrußland zu protestieren<br />

und von der Sowjetregierung die Befreiung der Anarchisten, Sozialisten, unabhängigen<br />

Revolutionäre zu fordern, die in den Sowjetgefängnissen gefangen sitzen.<br />

Vertreter der Anarchistischen Union Frankreichs: J.Chazoff. Mitglied der<br />

Gruppe zur Verteidigung der gefangenen Revolutionäre in Rußland: Chevalier.<br />

Vertreter der Gruppe polnischer Anarchisten in Paris: R. Nagorski. Vertreter der<br />

Gruppe jüdischer Anarchisten in Paris: J. Kantorowitsch. Vertreter der Gruppe<br />

bulgarischer Anarchisten in Paris: P. D ine ff. Vertreter des internationalen anarchistischen<br />

Verlages: Seb. Faure. Vertreter der Gruppe russischer Anarchisten<br />

im A uslande: P. A r c h i n o f f.<br />

Paris, 15. März 1925.


BEGRÜSSUNGEN DES II. KONGRESSES 71<br />

An den II. Kongreß<br />

der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation in Amsterdam.<br />

Werte Genossen!<br />

Nachdem wir erfahren haben, daß zu den Kongreßarbeiten auch die Stellungnahme<br />

zur Welthilfssprache Esperanto gehört, halten wir es für wichtig, einiges Wissenswerte<br />

mitzuteilen.<br />

Gewiß haben viele von Euch schon von der Nützlichkeit und Brauchbarkeit des<br />

Esperanto gehört, vielleicht auch schon erlebt, während andere an die praktische Verwendungsmöglichkeit<br />

einer Welthilfssprache noch nicht recht zu glauben vermögen.<br />

<strong>Die</strong>ses Urteil beruht aber hauptsächlich auf Unkenntnis der Beschaffenheit der Sprache<br />

und ihrer schon jetzt ungeheuren Verbreitung. Es hätte keinen Zweck, Euch ausführlich<br />

über die Verbreitung des Esperanto bei Pfaffen, Kapitalisten, Radiosidioten und anderem<br />

bürgerlichen Gesindel zu berichten, über die umfangreiche Esperantopresse, übersetzte<br />

und Original-Literatur zu geben; selbst die Verbreitung des Esperanto unter Arbeitern<br />

im allgemeinen ist heute für uns nicht von Wichtigkeit.<br />

Es genügt, festzustellen, daß in unseren Reihen, unter Syndikalisten, Anarchisten<br />

und anderen freiheitlichen Strömungen, Esperanto schon derart Fuß gefaßt hat, daß<br />

sich jetzt eine Weltorganisation von Esperantisten auf freiheitlich-antiautoritärer Grundlage<br />

gebildet hat. <strong>Die</strong>se Entwicklung zur rein-tendenziösen Esperanto-Organisation<br />

mußte mit dem Erstarken der proletarischen Esperanto/Bewegung dahin führen. Daß<br />

jetzt die anfänglich parteipolitisch neutrale proletarische Esperanto-Weltorganisation<br />

„Semacieca tsocio Tutmonda" von den Parteikommunisten beherrscht wird, konnte nur<br />

Anlaß, aber nicht der Grund zur Konstituierung von TLES. (Weltbund esperantistischer<br />

Staatsgegner) sein.<br />

Esperanto ist unter unseren Freunden und Genossen der ganzen Welt schon so weit<br />

verbreitet, daß das Sekretariat der IAA. sich veranlaßt fühlte, auch eine Esperantos<br />

Ausgabe des Pressedienstes der IAA. herauszugeben, um so mehr, da diese Esperantos<br />

Ausgabe sich notwendig machte, als Esperanto nach der Verhaftung der tätigsten, die<br />

englische Sprache beherrschenden Genossen in Japan das einzige Verständigungsmittel<br />

mit unseren Genossen dortselbst blieb. Auch für den Verkehr mit den Genossen in<br />

Ländern, in welchen die strengste Zensur neben anderen grausamen Unterdrückungsmaßnahmen<br />

herrscht, erwies sich Esperanto als äußerst nützlich.<br />

In der ersten Zeit konnte die Esperantos-Ausgabe des <strong>Internationale</strong>n Pressedienstes<br />

nur mit großer Mühe gebracht werden, da die übersetzenden Kameraden als Handarbeiter<br />

nicht mit der Schreibmaschine vertraut waren. Jetzt ist auch diese Schwierigkeit<br />

behoben und es steht einer regelmäßigen Herausgabe nichts mehr im Wege.<br />

Unseres Erachtens müßte die EsperantosAusgabe eine ständige Einrichtung bleiben,<br />

da sie unerläßlich ist in den Fällen, wo die einzigen Verbindungsleute im internationalen<br />

Verkehr, die Genossen nämlich, welche mehrere Sprachen beherrschen, durch<br />

irgendwelche Gründe (Verhaftung usw.) ausgeschaltet werden und nicht sofort ersetzt<br />

werden können.<br />

Durch die leichte Erlernbarkeit der EsperantosSprache ist es möglich, daß sie<br />

in alle Arbeiterkreise eindringt und keine bestimmte Bildungsstufe erforderlich macht.<br />

Es wäre daher Euer Verdienst, allen Genossen in allen Ländern die Erlernung und<br />

Anwendung des Esperanto für unsere Klassenziele recht eindringlich zu empfehlen<br />

und ständig in der Presse aller der IAA. angeschlossenen Organisationen auf die<br />

Wichtigkeit dieses universalen Verständigungsmittels hinzuweisen.<br />

Bis dahin, bis in jedem Ort, in jeder Gruppe esperantokundige Kameraden vorhanden<br />

sind, verfehlt nicht, die <strong>Die</strong>nste der bereits bestehenden antiautoritären<br />

EsperantosOrganisation TLES. anzunehmen, welche Euch von den Sekretären der<br />

einzelnen Länder in Kürze angeboten werden!<br />

Indem wir Euch Vorstehendes zur Beherzigung empfehlen, wünschen wir aufs<br />

richtigst einen vollen Erfolg allen Euren Kongreßarbeiten!<br />

Mit revolutionären Brüdergrüßen<br />

Berliner Gruppe anarcho-syndikalistischer Esperantisten<br />

I. A.:<br />

Bruno Lewandowski, Bernhard Czeppau, Hans Manske.<br />

Alfred Julau, Artur Bolle.<br />

Berlin, den 13. März 1925.


72<br />

BEGRÜSSUNGEN DES II. KONGRESSES<br />

Berlin, 18. März 1925.<br />

An den II. Infernationalen Kongreß der I.A.A.<br />

Werte Genossen!<br />

Wir, linke Sozial-Revolutionäre und Maximalisien Rußlands,<br />

senden den Vertretern der revolutionären-syndikalistischen Arbeiterschaft der Welt<br />

unsere brüderlichen Grüße und erwarten von Ihrem Kongreß eine Stärkung der intenationalen<br />

Emanzipationsbewegung der Werktätigen.<br />

Genossen! Wir bilden zwar in Rußland eine Partei und einen Verband, die einen<br />

politischen Kampf mit politischen Kampfzielen führen; wir fühlen uns aber eins mit<br />

Ihnen in den Grundprinzipien und in der Praxis unserer Tätigkeit unter den Arbeiterund<br />

Bauernmassen Rußlands. Wir sind — ebenso wie Sie — Gegner einer engherzigmarxistischen,rein:ökonomischen<br />

Begründung des Sozialismus, die das ethische Bewußtsein<br />

und den ethischen Willen des Werktätigen beiseite läßt und die ihn zum Sklaven<br />

der mechanischen „historischen Gesetze" macht. Wir sind — ebenso wie Sie — Gegner<br />

einer ausschließlich proletarischen Ausdeutung des Sozialismus, die das industrielle<br />

Proletariat von seinem Arbeits: und Leidensgenossen, dem werktätigen Bauerntum,<br />

trennt, und somit für die soz-revolutionäre Periode an Stelle der bürgerlichen Klassen<br />

eine neue proletarische Herrscherklasse vorbereitet. Wir sind — ebenso wie Sie —<br />

unversöhnliche Gegner des kapitalistischen Staates und Vaterlandes und lehnen jede<br />

Konzession an den Gedankender Vaterlandsverteidigung und des Staatsnationalismus ab.<br />

Wir kämpfen mit allen revolutionären Mitteln für die gewaltsame Vernichtung der<br />

bürgerlichen Gesellschaft, wir erstreben aber dabei nur die Errichtung einer Klassendiktatur<br />

der Arbeiterklasse über die Bourgeoisie (in Form der Räte), keineswegs die<br />

Errichtung einer Parteidiktatur, die notwendigerweise durch Terror und Betrug herrschen<br />

muß. <strong>Die</strong> Partei ist nur die ideologische Zusammenfassung der opferwilligen<br />

Kämpfer, die innerhalb der Arbeiterreihen stehen, die mit ihrem eigenen Blute den<br />

Weg zur Freiheit färben und die sich keine anderen Ziele stellen, als die Massen<br />

allein selbstherrlich werden zu lassen. Wir kämpfen dafür, daß die aus der sozialen<br />

Revolution hervorgehende Gesellschaft ihre staatliche Organisation bis zum Minimum<br />

herabdrückt und daß die Produktion und die Verteilung aller ökonomischen Güter<br />

von den Räten ausschließlich in die Hände der Syndikate und Genossenschaften übergegeben<br />

werden sollen. Eine revolutionär-gewerkschaftlich-genossenschaftliche Föderation<br />

soll das völlige Verschwinden des Staates vorbereiten. Und wir kämpfen für die<br />

unumschränkte Demokratie innerhalb der werktätigen Massen, die auf der Achtung<br />

vor der menschlichen Persönlichkeit des Arbeitsmannes aufgebaut ist.<br />

Wenn wir uns somit in diesen großen Fragen der revolutionären Weltanschauung<br />

Ihnen nahe fühlen, so stehen wir mit Ihnen Schulter an Schulter in dem tagtäglichen<br />

Kampf zusammen. <strong>Die</strong>ser Kampf gilt heute — außer unserem Erbfeinde, der Bourgeoisie<br />

— den beiden inneren Feinden der Menschheitsbefreiung: dem sozialdemokratischen<br />

Reformismus und dem bolschewistischen Kommunismus. <strong>Die</strong> Arbeiterklasse<br />

lebt heute in einer Welt voll Lug und Trug; sie weiß manchmal nicht, wer ihr größerer<br />

Feind ist der Kapitalismus oder seine beiden Handlanger — die Sozialdemokratie und<br />

der Bolschewismus. <strong>Die</strong> staatserhaltende patriotische und geistig verbürgerlichte Sozialdemokratie<br />

ist (ebenso wie die 'Zentralverbände) mit dem Kapitalismus auf Leben<br />

und Tod verbunden und führt die Arbeiterklasse neuen Kriegsschlächtereien entgegen.<br />

<strong>Die</strong> russische bolschewistische Partei (mit allen ihren ausländischen Sektionen), die<br />

sich der glorreichen Oktoberrevolution bemächtigt hat, steht heute dem internationalen<br />

Proletariat gegenüber mit den Marxsprüchen auf den Lippen und mit der Knute in<br />

der Hand. Durch seine kapitalistische NEP - Politik, durch seine verlogene und Krieg<br />

schürende Auslandspolitik, durch seine jede Menschenwürde des Arbeitsmannes und<br />

Bürgers vernichtende Terrorpolitik ist der Bolschewismus zum Hemmschuh der Revolution,<br />

zum Werkzeug der Weltreaktion geworden. Von seiner verhängnisvollen Rolle<br />

zeugen die Tausende und Abertausende von Kämpfern, von Sozialisten, Anarchisten<br />

und parteilosen Arbeitern und Bauern, die der russische Bolschewismus durch Gefängnisse,<br />

Verbannungslager, Torturen und Hinrichtungen seinem Willen untertänig<br />

machen will. Gegen diese Schändung des Sozialismus, gegen diese bolschewistische<br />

Ausartung der Oktoberrevolution haben in Rußland, zugleich mit den Anarchisten<br />

und Syndikalisten, nur die S.R. und Maximalisten die Fahne des kompromißlosen<br />

Kampfes erhoben. Und wir stellen heute vor der gesamten Arbeiterschaft der Welt


BEGRÜSSUNGEN DES II. KONGRESSES 73<br />

fest, daß es in Europa und Amerika nur eine Kraft gegeben hat, die mutig und überzeugt<br />

für die Befreiung der russischen Revolutionäre gekämpft hat und die, bei vollständiger<br />

Verwerfung der bolschewistischen Methuden, die Idee der Oktoberrevolution hochhielt.<br />

Und diese Kraft waren: die revolutionären Syndikalisten und die Anarchisten.<br />

Im Samen unserer in Rußland schmachtenden Genossen, im Namen tausend er parteiloser<br />

Kämpfer sprechen wir Ihnen für diese Solidarität mit der russischen Revolution<br />

den Dank aus.<br />

Genossen! Große Massen der Arbeiterschaft, die politisch organisiert sind, sehen<br />

noch heute hoffnungslos ihrer Zukunft entgegen. Sie pendeln noch zwischen den<br />

konterrevolutionären Sozialdemokraten und den scheinrevolutionären Bolschewiki. Und<br />

doch sind schon Anzeichen des Umschwunges auch dort zu erkennen, es kristallisiert<br />

sich immer mehr eine dritte, sozialistische evolutionäre Richtung der politischen Parteien,<br />

die einmal ihren eigenen, weder reformistischen noch bolschewistischen Weg<br />

gehen wird- Mit dieser Richtung stehen wir, linke S.R. und Maximalisten Rußlands,<br />

in enger Fühlung. Wir sind der Ueberzeugung, daß in den entscheidenden Kämpfen<br />

der Arbeiterklasse die revolutionär;Syndikalistischen und die links-sozialistischen<br />

Kräfte sich auf einer und derselben Kampflinie zusammenfinden werden.<br />

<strong>Die</strong>sem hohen Ziele, diesen entscheidenden Kämpfen wollen wir unsere ganze<br />

Kraft widmen. Auf diesem Wege gilt es zuvörderst, das Bewußtsein der Werktätigen<br />

von der Sklaverei, von den Fesseln der bürgerlichen, sozialdemokratischen und bolschewistischen<br />

Ideologie zu befreien. Auf diesem schwierigen Wege würden wir glücklich<br />

sein, mit Ihnen ein Reih und Glied gemeinsam zu marschieren. Im heutigen Rußland,<br />

wo es keine soziale Freiheit der Massen, keine Syndikate, keine Räte gibt, ist nur<br />

eine Propaganda des Syndikalismus, des freiheitlichen Rätesystems denkbar. Und diese<br />

Propaganda fällt notwendigerweise, wenn die Massen nicht wehrlos vor dem Despotismus<br />

bleiben sollen, den politischen Parteien und Verbänden zu.<br />

<strong>Die</strong> Oktoberrevolution ist von den Bolschewiki weht zu Tode geschlagen worden.<br />

Sie lebt in den Herzen der russischen Arbeiter und Bauern. <strong>Die</strong> Zeit, die der „roten"<br />

Tyrannei von der Weltgeschichte noch gegönnt ist, ist nicht allzu lang. Wir sind<br />

überzeugt, daß an dem Tage, an dem die Werktätigen Sowjetrußlands ihre Geschicke<br />

wieder in ihre Hand nehmen werden, auch die internationale Revolution einen mächtigen<br />

Anstoß erhalten wird. Und wir werden dann wie heute uns alle Mühe geben, daß in<br />

der Auferstehung der Oktoberrevolution die Ideen des russischen Narodniki-Sozialismus<br />

zugleich mit den unvergänglichen Ideen des revolutionären Syndikalismus zum<br />

Durchbruch gelangen sollen.<br />

Indem wir Ihnen nochmals unsere heißesten Wünsche der weiteren Entwicklung<br />

und Stärkung Ihrer Bewegung senden, rufen wir Ihnen zu:<br />

Hoch lebe die internationale sozialistische Revolution!<br />

Auslandsdelegation der Partei der linken S.R. und des S.R. Maximalistenverbandes.<br />

J. Steinberg.


74<br />

TÄTIGKEITSBERICHT DES SEKRETARIATS<br />

Tätigkeitsbericht des Sekretariats zum 2. Kongreß.<br />

Amsterdam, März 1925.<br />

Vom Januar 1923 bis Januar 1925.<br />

I. <strong>Die</strong> Organisation der I.A.A.<br />

a) Angeschlossene Organisationen.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong> Arbeiterassoziation trat Anfang 1923 ins Leben. Sie vereinigt<br />

die revolutionärsinternationale Bewegung aller Länder. <strong>Die</strong> syndikalistischen Gewerkschaften<br />

aller Länder mit revolutionärem Charakter sind ihr angeschlossen.<br />

Mitglied der I.A.A. sind in:<br />

Argentinien: Federacion Obrera Regional Argentina (F.O.R.A.) calle Constitution 3451,<br />

Buenos Aires.<br />

Chile: Industrial Workers of the World, Region Chile calle Nataliel 1057, Santiago.<br />

Deutschland: Freie Arbeiter-Union (Anarcho-Syndikalisten), F.A.U.D., Geschäftskommission<br />

Berlin O 34, Kopernikusstr. 25.<br />

Dänemark: Revolutionärt Arbejderforbund, Studiesträde 41, I, Kopenhagen K.<br />

Holland: Nederlandsch Syndicalistisch Vakverbond (N.S.V.), Ie Helmerstraat 73,<br />

Amsterdam.<br />

Italien: Unione Sindacale Italiana. Via Achille Mauri 8, Mailand.<br />

Mexiko: Confederacion General de los Trabajadores (C.G.T.) Plaza de Las Vizcainas 3,<br />

Mexiko D.F.<br />

Norwegen: Norsk Syndikalisk Federation (N.S.F.) Box 2003, Oslo G.<br />

Portugal: Confederacao General do Trabalho (C.G.T.) Galçada do Combro 38 A. II,<br />

Lissabon.<br />

Schweden: Sverges Arbetares Centraiorganisation (S.A.C.) Box 413, Stockholm I.<br />

Spanien; Confederacion Nacional del Trabajo (C.N.T.) calle San Pablo 95 interior<br />

Barcelona.<br />

Spitzbergen: Spitzbergens Syndikalistisk Federation (S.S.F.) Box 37, Tromsö.<br />

Uruguay: Federacion Obrera Regional Uruguaya (F.O.R.U.) calle Cuareim 1321,<br />

Montevideo.<br />

Oesterreich; Bund herrschaftsloser Sozialisten, Schießstättegraben 237, Klosterneuburg<br />

bei Wien.<br />

Das Sekretariat der I.A.A., gewählt auf dem I. Kongreß zu Berlin 1922, bestand aus:<br />

Rudolf Rocker, Augustin Souchy, Alexander Schapiro.<br />

Als erweitertes Verwaltungsorgan bestand der Ausschuß aus folgenden Mitgliedern:<br />

Borghi, Italien — Barwich, Deutschland — Besnard, Frankreich — Jensen, Schweden<br />

— Smith, Norwegen — Santillan, Argentinien — Lansink jun., Holland — Carbo, Spanien.<br />

<strong>Die</strong> übrigen Länder haben keinen Delegierten in den Ausschuß entsandt. In gewohnlichen<br />

Fällen faßte das Sekretariat die Beschlüsse allein. Bei wichtigeren Angelegenheiten<br />

erfolgte eine Abstimmung des Büros.<br />

b) Nahestehende Organisationen.<br />

Einige revolutionäre Gewerkschaftsorganisationen sind der I.A.A. nicht angeschlossen,<br />

stehen aber mit ihr in intimster Verbindung.<br />

<strong>Die</strong> Industrial Workers of the World (Vereinigte Staaten Nordamerika) korrespondieren<br />

mit dem Sekretariat der I.A.A. und mit den an die I.A.A. angeschlossenen Organisationen<br />

anderer Länder. <strong>Die</strong> italienische Sektion der I.W.W, unterstützte die syndikalistische<br />

Union Italiens mit Geldmitteln in der Periode faschistischer Reaktion. <strong>Die</strong><br />

I.W.W. sind bisher noch keiner <strong>Internationale</strong> angeschlossen, erklärten sich jedoch gegen<br />

die Rote Gewerkschaftsinternationale.<br />

Das Sekretariat der I.A.A. steht mit den revolutionären Gewerkschaftsorganisationen<br />

Cubas, Bolivias, Colombias, Ecuadors in Verbindung. Ein Anschluß dieser Länder<br />

ist bis heute noch nicht vollzogen. Das ist darauf zuückzuführen, daß in diesen Ländern<br />

zu wenig Propagandatätigkeit für die I.A.A. entfaltet wurde. Es wird notwendig sein,<br />

daß der 2. Kongreß der I.A.A. sich mit diesen Ländern eingehender beschäftigt.<br />

In Belgien herrscht nach Beendigung des Krieges die reformistische Gewerkschaftsbewegung.<br />

Der revolutionäre Syndikalismus hat hier ein sehr schweres Feld. Dennoch<br />

schlössen sich in der Provinz Lüttich die revolutionären Syndikalisten in der Union der


PROPAGANDATÄTIGKEIT DER I.A.A. 75<br />

Sekretariat nahm die Verbindung mit diesen Genossen auf, und es besteht Aussicht,<br />

daß die Kameraden Belgiens sich der I.A.A. anschließen. Dadurch würden wir in<br />

Belgien den Anfang haben, auf dem weiter fortgebaut werden kann.<br />

In Brasilien stand das Sekretariat mit der Arbeiter-Föderation Rio de Janeiros<br />

(Federacao Oberaha do Rio de Janeiro) in Verbindung, und es wäre auch zum Anschluß<br />

dieser Organisation an die I.A.A. gekommen. <strong>Die</strong> revolutionären Gewerkschaften<br />

Brasiliens, die in ihrer Majorität auf dem Boden des revolutionären Syndikalismus und<br />

Föderalismus stehen, standen vor einer Zusammenfassung über das ganze Land und<br />

wollten sich gemeinsam der I.A.A. anschließen. Da brach in Brasilien die politische<br />

Revolution aus und zerstörte die revolutionäre Arbeiterbewegung. Gegenwärtig sind<br />

fast alle Organisationen von der Reaktion vernichtet. Der „Allgemeine Arbeiter-Verband"<br />

der deutschen Arbeiter in Porto Alegre besteht auch heute noch und ist der<br />

I.A.A. angeschlossen.<br />

In Argentinien besteht außer der F.O.R.A. die Syndikalistische Union Argentiniens<br />

(U.S.A.), die mit dem Sekretariat in Verbindung trat, aber noch keiner <strong>Internationale</strong><br />

angeschlossen ist.<br />

Japan. Vor dem großen Erdbeben befanden sich in Japan starke Kräfte, die in verschiedenen<br />

syndikalistischen Organisationen vereinigt waren. Der I.A.A. nahe standen<br />

die Föderation der Metallarbeiter-Gewerkschaften mit 3500 Mitgliedern, die Arbeiter-<br />

Gewerkschaft Shibaura mit 2500 Mitgliedern und die Industrie-Föderation des graphischen<br />

Gewerbes mit 1200 Mitgliedern. <strong>Die</strong>se Gewerkschaften befanden sich in Tokio.<br />

Sie waren für den Anschluß an die LA.A. und es wäre unzweifelhaft dazu gekommen,<br />

wenn nicht höhere Mächte dazwischengetreten wären. Das Erdbeben führte eine Periode<br />

fürchterlicher Reaktion im Gefolge, und was nicht durch Naturgewalten zerstört wurde,<br />

das traf die rächende Hand der staatlichen Reaktion. Unser fähigster Vertreter in<br />

Japan, Osugi, und einige andere leitenden Kräfte wurden ermordet, andere ins Gefängnis<br />

gesetzt, so daß die syndikalistischen Gewerkschaften erst wieder aufbauen müssen,<br />

was zu Grunde gerichtet wurde. Genosse Nobushima befindet sich in Haft, und nun<br />

ist nur noch Kamerad Jamaga imstande, in europäischer Sprache mit uns zu korrespondieren.<br />

Aus den letzten Berichten ist zu entnehmen, daß die syndikalistischen Gewerkschaften<br />

sich langsam wieder erholen. <strong>Die</strong> Föderation der Gewerkschaften des graphischen<br />

Gewerbes gibt ihre Zeitungen immer noch heraus und veröffentlicht die Pressenachrichten<br />

der I.A.A. Sie tritt auch heute noch ein für den Anschluß an die<br />

I.A-A., und es ist sicher damit zu rechnen, daß die syndikalistischen Gewerkschaften<br />

Japans, wenn sie erst wieder auf die Beine gekommen sind, sich auch der I.A.A. anschließen.<br />

Kamerad Nobushima wurde zum 2. Kongreß der I.A.A. delegiert, er ist<br />

jedoch durch seine Inhaftierung am Erscheinen auf dem Kongreß verhindert. Der Kongreß<br />

wird guttun, den Kameraden Japans Solidaritätsgrüße zu übersenden.<br />

Auch mit China sind wir in Verbindung getreten. <strong>Die</strong> Arbeiter-Föderation<br />

Shanghais war bereit, einen Delegierten zum 2. Kongreß der I.A.A. zu senden. <strong>Die</strong><br />

Revolution, die inzwischen in China ausbrach, hat jedoch die Verbindungen abgebrochen.<br />

Es muß die Aufgabe der I.A.A. sein, nach ihrem 2. Kongreß den Anschluß aller<br />

ihr nahestehenden noch nicht angeschlossenen Organisationen in die Wege zu leiten.<br />

Zu diesem Zweck wird eine Propagandatätigkeit in Mittel- und Südamerika, in Asien<br />

und auch auf dem Balkan von großer Wichtigkeit sein. Auch die One Big Union<br />

Australiens steht in ihren Zielen und Kampfesmitteln der I.A.A. nahe. Erst dann, wenn<br />

die I.A.A. aus allen fünf Erdteilen die revolutionäre Arbeiterschaft in sich vereinigt,<br />

wird sie den Kampf, den sie aufgenommen hat, erfolgreich führen können.<br />

II. Propagandatätigkeit.<br />

a) Schriftliche Propaganda.<br />

<strong>Die</strong> Propagandatätigkeit der I.A.A. hatte von Anbeginn an einem großen Mangel<br />

finanzieller Mittel zu leiden. <strong>Die</strong> ersten Publikationen der I.A.A. bestanden in der Herausgabe<br />

der Resolutionen, Statuten und Aufrufe des 1. Kongresses in deutscher und<br />

französischer sowie englischer Sprache. Unsere norwegische Landesorganisation besorgte<br />

eine norwegische Ausgabe der Statuten der I.A.A., der Prinzipienerklärung und<br />

Resolutionen des ersten Kongresses. Außerdem wurden Prinzipienerklärung, Statuten<br />

und Aufrufe des 1. Kongresses in einer großen Anzahl spanischer Zeitungen in Argentinien,<br />

Spanien, Mexiko, Chile, Uruguay und in portugiesischer Sprache in Portugal<br />

und Brasilien veröffentlicht.


76 PROPAGANDATÄTIGKEIT DER I.A.A.<br />

Der Pressedienst der I.A.A.<br />

Um die angeschlossenen Landesorganisationen über die Ereignisse der Arbeiterbewegung<br />

der verschiedenen Länder auf dem laufenden zu halten, um die Mitteilungen<br />

und Botschaften der I.A.A. der gesamten Arbeiterschaft mitzuteilen, beschloß das<br />

Sekretariat die Herausgabc eines Pressedienstes, der erstens an alle der I.A.A. angeschlossenen<br />

Landesorganisationen und deren Publikationsorgane, zweitens an die<br />

Arbeiterpresse im allgemeinen geliefert wird. <strong>Die</strong> erste Nummer des Pressedienstes<br />

erschien am 1. April 1923. <strong>Die</strong>ser Pressedienst wurde nach Möglichkeit alle 14 Tage<br />

herausgegeben. Der Umfang war verschieden. Mitunter stand reichhaltiger Stoff zur<br />

Verfügung, zeitweise aber war er kurz. Am 1. Januar 1925 waren 42 Nummern herausgekommen.<br />

Verteilt man diese auf 21 Monate, dann fallen auf jeden Monat zwei<br />

Nummern, so daß also das 14tägigc Erscheinen durchschnittlich eingehalten wurde. Es<br />

war allerdings nicht möglich, regelmäßig alle 14 Tage den Pressedienst herauszubringen,<br />

da das Material unregelmäßig einläuft.<br />

Es erscheinen gegenwärtig eine deutsche, französische, englische und spanische<br />

Ausgabe des Pressedienstes. Es wurde auch der Versuch unternommen, eine Ausgabe<br />

in Esperanto herauszubringen. Januar 1925 sind zwei Nummern in Esperanto erschienen.<br />

Es stehen uns leider nicht genügend Mittel zur Verfügung, um den Pressedienst vollkommener<br />

auszugestalten. <strong>Die</strong> Schwierigkeit, bei unseren kargen Geldmitteln geeignete<br />

Uebersetzer zu finden, zwingt uns, an den Idealismus von sprachkundigen Kameraden<br />

zu appellieren. <strong>Die</strong>se Genossen müssen die Uebersetzungen nach der Zeit ihres Broterwerbes<br />

herstellen, und das hat zur Folge, daß die englischen, französischen und Esperanto-Ausgaben<br />

nicht immer rechtzeitig erscheinen können. An eine vollkommene Ausgestaltung<br />

des Pressedienstes der I.A.A., die keinerlei Tadel und keine Kritik zu<br />

Fürchten braucht, kann erst dann gedacht werden, wenn der technische Apparat der<br />

I.A.A. so ausgebaut wird, daß für alle Uebersetzungen und Böroarbeiten bezahlte<br />

Kräfte herangezogen werden. Unter den gegebenen Umständen wurde das Möglichste<br />

getan.<br />

Eine Verbesserung im Pressewesen der I.A.A. und in der Nachrichtenübermittelung<br />

könnte auch eintreten, wenn jede Landesorganisation einen ernsten und gewissenhaften<br />

Genossen als Korrespondenten der I.A.A. erwählt. Solange die Finanzen der<br />

I.A.A. beschränkt sind, kann sie ihre Aufgabe nur dann erfüllen, wenn das Sekretariat<br />

entlastet ist und die Arbeiten von der Peripherie selbst, insoweit dies möglich ist, getragen<br />

werden. Wenn das Sekretariat selbst mühselig die Zeitungen aller Länder und<br />

Sprachen genau durchlesen muß, um Auszüge für Nachrichtenübermittlung herzustellen,<br />

dann wird es nicht zu umgehen sein, Personen für diese Arbeit zu engagieren und zu<br />

bezahlen. Uebernehmen jedoch die einzelnen Landesorganisationen durch gute Auswahl<br />

eines Korrespondenten diese Aufgabe und unterrichtet dieser Korrespondent über<br />

wichtige Ereignisse regelmäßig das Sekretariat, dann wird die Arbeit dezentralisiert und<br />

die I.A.A. kann sich mit bescheideneren Mitteln behelfen. Außerdem entspricht diese<br />

Arbeitsverteilung am ehesten dem Prinzip des Föderalismus. Es ist die Aufgabe des<br />

Kongresses, die Vertreter der Landesorganisationen in diesem Sinne aufzuklären.<br />

Revue „<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong>".<br />

<strong>Die</strong> Innsbrucker Konferenz des Ausschusses der I.A.A. (Dezember 1923) faßte den<br />

Beschluß, das Sekretariat zu beauftragen, eine internationale Revue in mehreren Sprachen<br />

herauszugeben. <strong>Die</strong>ser Beschluß stieß bei seiner Verwirklichung auf finanzielle Schwierigkeiten.<br />

Es wurde die Herausgabe einer deutschen und einer spanischen Ausgabe ins<br />

Auge gefaßt. <strong>Die</strong> erste Nummer der deutschen Ausgabe erschien im April 1924 in einer<br />

Aurlage von 3000 Exemplaren. Bei den nächsten Nummern wurde die Auflage um<br />

500 Exemplare herabgesetzt. Bis Januar 1925 waren vier Nummern erschienen. Bei<br />

einer solch kleinen Ausgabe ist der Preis entsprechend hoch und es ist für den deutschen<br />

Arbeiter, dessen Verdienst sehr gering ist, sehr schwer, diesen Preis zu erschwingen.<br />

<strong>Die</strong> herrschende Arbeitslosigkeit trug dazu bei, daß die Anzahl der Interessenten, die<br />

sich die Revue anschaffen konnte, begrenzt blieb. Es ist anzunehmen, daß in Zukunft<br />

sich die Lage bessern wird und die Auflage wieder gesteigert werden kann.<br />

Von der spanischen Ausgabe der Revue ist bisher eine Doppelnummer erschienen,<br />

die an Umfang zwei Nummern der deutschen Auflage umfaßt. <strong>Die</strong> Reaktion, die in<br />

Spanien wütet, verzögerte die Herausgabe der ersten Nummer und trug dazu bei, daß<br />

die in Frankreich hergestellten Exemplare zurr. Teil gar nicht nach Spanien gelangen<br />

konnten. Von den 2000 Exemplaren der spanischen Revue konnte deshalb nur ein


PROPAGANDATÄTIGKEIT DER I.A.A. 77<br />

geringer Teil abgesetzt werden. <strong>Die</strong> Unkosten für die spanische Ausgabe betragen<br />

6000 französische Franken und sind bis heute noch nicht wieder vereinnahmt worden.<br />

Angesichts dieser durch die Reaktion in Spanien hervorgerufenen Umstände fand es das<br />

Sekretariat nicht ratsam, eine zweite Nummer der spanischen Revue herauszugeben.<br />

Das Sekretariat ist sich klar darüber, daß die redaktionelle Ausgestaltung der Revue<br />

noch zu wünschen übrig läßt. Soll die Revue allen Anforderungen entsprechen, allen<br />

Wünschen genügen, dann ist eine intensivere Mitarbeit der tätigen Genossen aller<br />

Länder erforderlich. <strong>Die</strong> Revue „<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong>" soll der Gesamtausdruck in theoretischer<br />

Hinsicht wie im praktischen Klassenkampf des revolutionären Syndikalismus<br />

der ganzen Welt sein.<br />

Veröffentlichungen der I.A.A. in den einzelnen Ländern.<br />

<strong>Die</strong> Nachrichten und Mitteilungen des Pressedienstes sowie Artikel aus der Revue<br />

der I.A.A. fanden in fast allen Ländern großen Anklang, und sie wurden in Zeitungen<br />

und Zeitschriften fast aller Sprachen veröffentlicht. Es ist sehr schwierig, allen Veröffentlichungen<br />

über die I.A.A. in den verschiedenen Ländern nachzugehen, wir wollen<br />

alphabetisch nur einige Länder anführen. Der Nachrichtendienst der I.A.A. wird regelmäßig<br />

oder zeitweise veröffentlicht in folgenden Ländern und Zeitungen:<br />

Argentinien: „La Protesta", „El carpintiero y aserrado".<br />

Belgien: „Travail".<br />

Chile: „El Scmbrador", „Accion directa", „Campana Nucva".<br />

Dänemark: „Solidaritet".<br />

Deutschland; „Der Syndikalist", „Der Freie Arbeiter", „<strong>Die</strong> Aktion", „Der proletarische<br />

Zeitgeist", „Junge Anarchisten", „<strong>Die</strong> Schiffspost".<br />

England: „Freedom".<br />

Frankreich: „Le Libertaire", „La Bataille Syndicaliste", „Le Proletaire", „Le Travailleur<br />

du Bâtiment", „Der Weckruf" (L'Alarm).<br />

Holland: „De Syndicalist", „De Arbeid", „De Vrije Sozialist", „De Vrije Samenleving",<br />

„De Arbeider".<br />

Italien: „Guerra di Classe", „Rassegna Sindacale".<br />

Japan: „Te Insatsu-Ko Rongo", „Rodo Unda Sha", „Kumiai Undo".<br />

Mexiko: „Humanidad", „Nuestra Palabra", „Horizonte libertario".<br />

Norwegen: „Alarm", „Revolt".<br />

Oesterreich: „Erkenntnis und Befreiung".<br />

Portugal: „A Batalha", „A Communa".<br />

Peru: „La Protesta".<br />

Rußland; „Rabotschy Putj" (erschien im Auslande).<br />

Schweden: „Arbetaren", „Brand".<br />

Spanien: „Solidaridad Proletaria", „Fructidor", ,Revista Bianca".<br />

Uruguay: „Solidaridad", „Hacia la libertad".<br />

Neu-Seeland: „One Big Union Herald".<br />

Nordamerika; „Il Proletario", „Industrial Solidarity", „Solidaridad", „Umanita Nova".<br />

Mündliche Propaganda.<br />

Vertretungen der I.A.A. auf Landeskongressen.<br />

Das Sekretariat der I.A.A. ließ sich auf Landeskongressen in folgenden Ländern<br />

vertreten:<br />

Frankreich: Kongreß der Confederacion Général du Travail Unitairc auf dem Kongreß<br />

in Saint-Etienne durch Armando Borghi.<br />

Holland: Kongreß des Nationalen Arbeits-Sekretariats in Amsterdam 1923 durch<br />

A. Souchy.<br />

Norwegen: Kongreß der Norsk Syndikalistisk Federation in Oslo 1924 durch A. Souchy.<br />

Außerdem waren Reisen nach Spanien, Portugal und Süd-Amerika vorbereitet, die<br />

Umstände ließen es jedoch noch nicht zu, diese Pläne zu verwirklichen. <strong>Die</strong> Diktatur<br />

Primo de Rivera in Spanien macht gegenwärtig die Entsendung eines Delegierten der<br />

I.A.A. nach Spanien zur Unmöglichkeit. Der Kongreß muß sich mit dieser Frage beschäftigen,<br />

um eine aktive mündliche Propaganda in den genannten Ländern zu entfalten.<br />

Es ist besonders in Südamerika notwendig, die vielen, aber zerstreuten Kräfte,<br />

die oft nichts voneinander wissen, zusammenzubringen und zu vereinigen.


78 PROPAGANDATÄTIGKEIT DER I.A.A.<br />

Propaganda- und Solidaritätsmarken.<br />

Auf der Innsbrucker Konferenz der I.A.A., Dezember 1923, wurde der Beschluß<br />

gefaßt, Propaganda-Solidaritätsmarken herauszugeben, die besonders in jenen Ländern<br />

Anwendung finden sollten, wo die Beiträge nicht regulär erhoben werden. Das ist<br />

hauptsächlich in Südamerika der Fall. In Ausführung dieses Beschlusses wurden<br />

gesandt: nach<br />

Mexiko 50 000 Solidaritäts; und Propagandamarken<br />

Portugal 42 000<br />

Spanien 40 000<br />

Argentinien . . . 55 000<br />

Frankreich . . . . 50 000<br />

Norwegen . . . . 5 000<br />

Nach den anderen Ländern wurden keine Marken gesandt. <strong>Die</strong> syndikalistische<br />

Landesorganisation in Schweden (S.A.C.) erklärte, daß das System der Marken in<br />

Schweden sich nicht bewähren würde, da die Landesorganisation selbst eine große<br />

Anzahl Marken für andere Zwecke herausgibt. Nichtsdestoweniger haben unsere schwedischen<br />

Kameraden sich ihrer Solidaritätspflicht nicht entzogen, sondern diese Pflicht<br />

aufs vorbildlichste in anderer Weise erfüllt.<br />

<strong>Die</strong> deutsche F.A.U.D. konnte keine Solidaritätsmarken entnehmen, weil die wirtschaftliche<br />

Lage der Arbeiterschaft es nicht zuließ. <strong>Die</strong> I.A.A. ward sogar gezwungen,<br />

an die angeschlossenen Organisationen zu appellieren, um den deutschen Kameraden<br />

zu Hilfe zu kommen. Es ist jedoch zu hoffen, daß auch unsere deutsche Sektion, wenn<br />

die Lage ihrer Mitglieder durch wirtschaftliche Erholung und Abnahme der Arbeitslosigkeit<br />

sich weiter bessert, auch ihre Pflicht der Solidarität durch Bezug von Marken<br />

erfüllen wird.<br />

Wir sind zur Feststellung gezwungen, daß die Herausgabe von Marken die in sie<br />

gesetzten Erwartungen nicht ganz erfüllt hat. Wenn die Propaganda der I.A.A. mehr<br />

belebt und die Solidarität in größerem Maße ausgeübt werden soll, dann müssen sich<br />

alle angeschlossenen Organisationen an diesem Werke beteiligen. <strong>Die</strong> Finanzierung<br />

der Propganda muß auf eine solide Basis gestellt und die Solidarität, die von<br />

einigen Landesorganisationen auf das beste und hochherzigste geübt wurde, muß<br />

von allen Organisationen gleich ernst genommen werden.<br />

III. Zur Tätigkeit des Sekretariats in Rußland und Indien.<br />

a) Rußland.<br />

Es ist bekannt, daß gerade in Rußland der Syndikalismus am meisten zu leiden hat.<br />

Unsere Kameraden wurden von der bolschewistischen Regierung ausgewiesen, und der<br />

größte Teil davon kam nach Berlin. Sie wollten ihre Tätigkeit für den Syndikalismus<br />

in Rußland auch in der Verbannung nicht aufgeben und suchten in Verbindung mit dem<br />

Sekretariat die Propaganda für Rußland wieder zu entfalten. Es wurde ein Komitee zur<br />

Verteidigung des Syndikalismus in Rußland gegründet. <strong>Die</strong>ses Komitee gab eine Zeitschrift<br />

„Rabotschy Putj" heraus, die etwa ein Jahr lang bestand. <strong>Die</strong>se Zeitschrift wurde<br />

unter den russischen Emigranten im Auslande verbreitet und unter sehr großen<br />

Schwierigkeiten auch nach Rußland hineingeschmuggelt. <strong>Die</strong> Kameraden hatten mit<br />

großer Gefahr zu rechnen, da die bolschewistischen Behörden schlimmer vorgehen als<br />

die Behörden kapitalistischer Staaten, wenn es sich um revolutionäre Propaganda<br />

handelt. Gerade diese strenge Zensur und die grausame Verfolgung der Empfänger von<br />

„Rabotschy Putj" in Rußland ließen es für unmöglich erscheinen, diese Arbeit weiter<br />

fortzusetzen. Das Komitee zur Verteidigung des Syndikalismus in Rußland fühlte sich<br />

gezwungen, seine begonnene Arbeit wieder einzustellen. Der Kongreß wird untersuchen<br />

müssen, ob die Möglichkeit vorhanden ist, für den Syndikalismus in Rußland<br />

heute schon etwas zu tun.<br />

b) Indien.<br />

Im Einverständnis mit indischen Kameraden, die sich in Berlin aufhielten, bildete<br />

sich ein indisches Komitee zur Propaganda des revolutionären Syndikalismus in Indien.<br />

Das Sekretariat unterstützte dieses Komitee und suchte alles daranzusetzen, um den<br />

revolutionären Syndikalismus in Indien ins Leben zu rufen. Das Komitee suchte Anschluß<br />

an die Arbeiterorganisationen Indiens, und es gelang auch, Verbindung herzustellen.<br />

Der Pressedienst der I.A.A. wurde in besonderer Bearbeitung für Indien in<br />

englischer Sprache nach Indien gesandt und sein Inhalt gelangte zum Abdruck in den<br />

Organen der Arbeiterorganisationen. Der erste „Erfolg", den wir in Indien zu ver-


KINDERHILFE DER I.A.A. 79<br />

zeichnen haben, bestand darin, daß die indische Regierung sämtliche Kommunikationen<br />

der I.A.A. für Indien verbot.<br />

Konferenz in Innsbruck.<br />

Nachdem der Anschluß der meisten syndikalistischen Landesorganisationen an die<br />

I.A.A. erfolgt war, hielt es das Sekretariat für notwendig, die Mitglieder des Verwaltungsbüros<br />

zu einer Vollversammlung einzuberufen, auf welcher der Tätigkeitsplan<br />

der I.A.A. festgestellt werden sollte. Das Sekretariat fühlte sich gezwungen, eine solche<br />

Vollversammlung des Büros zusammenzurufen, da das Gesamtbild der internationalen<br />

Lage und die zukünftige Tätigkeit der I.A.A. nur dann festgelegt werden konnte, wenn<br />

alle angeschlossenen Organisationen an einer solchen Aussprache teilnehmen.<br />

Das Sekretariat berief die Vollversammlung zum Dezember 1923 nach Innsbruck<br />

ein. Es wurde Innsbruck gewählt, weil Oesterreich bereits infolge der niedrigen Valuta<br />

zu den billigen Ländern Europas gehörte. Außerdem Wählte das Sekretariat einen Ort<br />

in der Mitte Europas, damit vor allem auch den Kameraden Südeuropas Gelegenheit<br />

geboten werden konnte, an der Vollversammlung teilzunehmen.<br />

<strong>Die</strong> Konferenz war vertreten von den syndikalistischen Landesorganisationen aus<br />

Deutschland, Italien, Schweden, Norwegen, Holland, außerdem vom Bund herrschaftsloser<br />

Sozialisten der Republik Oesterreich; Argentinien und Uruguay waren ebenfalls<br />

vertreten.<br />

<strong>Die</strong> Konferenz nahm Stellung zu der Situation in jedem Lande. Es wurden<br />

Resolutionen gefaßt über die Einheitsfront, über die Lage in Deutschland, in Holland,<br />

in Argentinien und Uruguay und Frankreich. Es wurde außerdem beschlossen, eine<br />

Revue in mehreren Sprachen durch das Sekretariat herauszugeben. Es wurde auch<br />

eine Resolution über die Lage in Mexiko angenommen, sowie eine Resolution zur Begrüßung<br />

der I.W.W. und eine Solidaritätserklärung für die italienischen Kameraden.<br />

<strong>Die</strong> Konferenz in Innsbruck mußte geheim stattfinden, und angesichts dieser Sachlage<br />

kann sie als gelungen bezeichnet werden. Sie gab dem Sekretariat neue Impulse<br />

und den angeschlossenen Organisationen die Gewißheil, daß ein weiterer Baustein gelegt<br />

wurde zur Errichtung des internationalen Gebäudes, an dem wir auf diesem Kongreß<br />

weiterbauen bis zu seiner endgültigen Vollendung. <strong>Die</strong>se Vollendung aber wird erst<br />

dann eintreten, wenn die Ausbeutung des Kapitalismus beseitigt, die Beherrschung durch<br />

den Staat ein Ende hat, die syndikalistische Bedarfswirtschaft etabliert und die Freiheit<br />

den Sieg davongetragen haben wird.<br />

IV. <strong>Die</strong> Kinderhilfe der I.A.A.<br />

a) Deutschland.<br />

Bei Eintreten der Geldinflation in Deutschland wurde die Lage unserer deutschen<br />

Kameraden immer unhaltbarer. Das Elend nahm zu, die Arbeitslosigkeit wurde immer<br />

größer, und gerade die Kinder der revolutionären Arbeiter mußten Hunger leiden.<br />

Bereits auf der Konferenz in Innsbruck, Dezember 1923, wurde ein Beschluß gefaßt, die<br />

I.A.A. möge eine Aktion zugunsten der notleidenden Kinder des revolutionären<br />

Proletariats in Deutschland unternehmen. In Uebereinstimmung mit diesem Beschluß<br />

wandte sich das Sekretariat der I.A.A. mit einem Aufruf an die Arbeiterschaft aller<br />

Länder.<br />

<strong>Die</strong>ser Aufruf fand einen starken Widerhall. <strong>Die</strong> Kameraden aus fast allen<br />

Ländern sammelten Gelder für die Kinderhilfe der I.A.A. Ein klares Bild über<br />

die Opferfreudigkeit der Kameraden in den einzelnen Ländern gibt die Kassenabrechnung,<br />

auf die wir hinweisen.<br />

Holland. Unsere Kameraden vom Nederlandsch Syndicalistisch Vakverbond<br />

haben sich bereiterklärt, Kinder unserer Kameraden aus dem Ruhrgebiete zu sich zu<br />

nehmen. Es sollten einige 100 Kinder in Holland untergebracht werden. Es ist jedoch<br />

nicht dazu gekommen, weil gerade in der warmen Jahreszeit der Textilarbeiterstreik<br />

in Holland alle Kräfte unserer Kameraden absorbierte. <strong>Die</strong>ser Streik dauerte mehrere<br />

Monate, und als er beendet war, war die Zeit nicht 'mehr geeignet für den<br />

Kindertransport. Unsere holländischen Kameraden schlugen daher vor, die Kinder<br />

unserer deutschen Kameraden ein Jahr später zu sich zu nehmen. <strong>Die</strong>ser Vorschlag<br />

fand die Zustimmung aller .daran Beteiligten.<br />

Norwegen. <strong>Die</strong> Kameraden der syndikalistischen Föderation Norwegens beantworteten<br />

den Appell der I.A.A. auf zweifache Weise; erstens durch Geldsammlungen,<br />

zweitens durch Uebernahme von deutschen Kindern. Es sind 20 Kinder von Berlin nach


80 KAMPF GEGEN DIE INTERNATIONALE REAKTION<br />

Norwegen gefahren, wo sie beste Unterkunft fanden und sich mehrere Monate lang<br />

bei guter Pflege sichtbar erholten.<br />

Portugal. <strong>Die</strong> C.G.T. Portugals veröffentlichte einen Aufruf in ihrem Organ „A<br />

Batalha", in welchem zur Sammlung aufgefordert wurde. Daraus entnahmen wir, daß<br />

Gelder und Kleidungsstücke eingekommen sind. <strong>Die</strong> Gelder sind an das Sekretariat<br />

der I.A.A. gesandt worden, von Kleidern haben wir jedoch nichts zu sehen bekommen.<br />

Schweden. <strong>Die</strong> Kameraden von S.A.C. veranstalteten eine großartige Sammlung,<br />

die 10 000 Kronen einbrachte. Um unnötige Reisekosten zu ersparen, machten die<br />

schwedischen Kameraden den Vorschlag, in Deutschland selbst ein Ferienheim für die<br />

unterernährten Kinder unserer Kameraden zu errichten. <strong>Die</strong>ser Vorschlag wurde angenommen,<br />

und gegen 150 Kinder, von denen die Hälfte aus dem Ruhrgebiete, die<br />

andere Hälfte aus Berlin zusammengekommen waren, fuhren auf die Dauer von zwei<br />

Monaten in ein Ferienheim nach Weilmünster in die Rheinpfalz. <strong>Die</strong> Kinder haben sich<br />

während dieses Ferienaufenthaltes alle gut erholt.<br />

Brasilien. Unsere Kameraden Brasiliens, besonders die vom Arbeiterverband der<br />

deutschen Arbeiter, sammelten für die Kinderhilfe der I.A.A. Gelder, die dem Sekretariat<br />

zu Händen gekommen sind.<br />

Das Sekretariat übergab alle Gelder dem Kinderhilfskomitee der FAUD., unserer<br />

deutschen Bruderorganisation, das die nötigen Maßnahmen ergriff, um die Solidaritäts-<br />

Felder den Kindern zukommen zu lassen. <strong>Die</strong> deutschen Kameraden haben alles getan,<br />

damit den elendsten Kindern geholfen wird. Das Sekretariat spricht im Namen unserer<br />

deutschen Kameraden allen denen seinen Dank aus, die durch ihre Opferwilligkeit zu<br />

diesem Werke internationaler Solidarität beigetragen haben.<br />

b) Italien.<br />

Außer der deutschen Kinderhilfe veröffentlichte das Sekretariat die Aufrufe<br />

unserer italienischen Kameraden, in denen Hilfe und Unterstützung für die Familien<br />

und Kinder der Kameraden gewünscht wurde, die in den Gefängnissen und Zuchthäusern<br />

des faschistischen Italiens leiden. <strong>Die</strong>se Aufrufe wurden von unseren Kameraden<br />

ebenfalls beantwortet, aus Argentinien und Schweden wurden Gelder an die<br />

syndikalistische Union Italiens zur Unterstützung der Inhaftierten und deren Familien<br />

geschickt.<br />

Wenn wir die Opferfreudigkeit der Kameraden aus den einzelnen Ländern vergleichen,<br />

so werden wir finden, daß in einigen Ländern etwas ganz Hervorragendes<br />

an Solidarität geleistet worden ist, während die Kameraden in anderen Ländern weit<br />

zurückgeblieben sind. Mögen diese die Solidaritätspflicht ernster nehmen als bisher.<br />

V. Kampf gegen die internationale Reaktion.<br />

Italien.<br />

Der grausame Terror mit Verfolgungen, Morden, jahrzehntelangen Kerkerstrafen,<br />

Zerstörung der Gewerkschaftshäuser, Arbeitsbörsen, Auflösung der Gewerkschaften,<br />

all dies trug dazu bei, daß die Unione Sindacale einen verzweifelt harten Stand hatte.<br />

Sie war bald gezwungen, die I.A.A. um Hilfe anzurufen, und das Sekretariat hat zu<br />

wiederholten Malen die angeschlossenen Landesorganisationen zu Solidaritätsaktionen<br />

für unsere italienischen Kameraden aufgefordert. Nach der Ermordung von Mateotti.<br />

als die Arbeiterbewegung ein wenig Atem schöpfte, setzten bald darauf Vorstöße des<br />

Faschismus ein. Das Sekretariat richtete folgenden Aufruf an alle Sektionen der I.A.A.:<br />

Genossen!<br />

Zum Kampf gegen den mörderischen Faschismus.<br />

<strong>Die</strong> syndikalistische Union Italiens hat uns auf dem laufenden gehalten über die<br />

Ereignisse, die sich in Italien anläßlich der rohen und grausamen Ermorderung Mateottis<br />

abgespielt haben. Es ist der letzte Tropfen, der den Leidensbecher des italienischen<br />

Proletariats zum Ueberlaufen brachte.<br />

Der so langersehnte Augenblick, wo der Faschismus durch seine zahllosen Verbrechen<br />

damit endete, die Erbitterung der unterdrückten Massen hervorzurufen, ist<br />

endlich gekommen.<br />

Nach der Zerstörung aller Freiheiten dos Proletariats haben selbst die demokratischen<br />

Elemente in der Politik, die den Faschismus in seiner ersten Phase unterstützt


KAMPF GEGEN DIE INTERNATIONALE REAKTION 81<br />

haben, sich geweigert, dem diktatorischen Regime die geringste Hilfe zu gewähren,<br />

das die Gelegenheit wahrnahm, sie mit allen Mitteln zu unterdrücken.<br />

Wir rufen in voller Uebereinstimmung mit unseren Kameraden in Italien die<br />

uns angeschlossenen und nahestehenden Landesorganisationen auf, in ihren Ländern<br />

Protestaktionen zu veranstalten gegen den italienischen Faschismus. Unser einstimmiger<br />

Ruf muß sein:<br />

Der Faschismus ist der Plagegeist des Proletariats, er ist der böse Geist der<br />

Menschheit!<br />

Unsere Aktion muß energisch, einheitlich und drohend sein. Sic muß hauptsächlich<br />

bestehen in:<br />

a) Anordnung von Protestversammlungen in jedem Lande,<br />

b) Manifestationen gegen alle Institutionen, die im Auslande Italien offiziell<br />

repräsentieren,<br />

c) die antifaschistische Agitation, die von unseren Kameraden in Italien und von<br />

italienischen flüchtigen Kameraden im Ausland geführt wird, moralisch und<br />

materiell zu unterstützen.<br />

Es wird immer durchsichtiger, daß das italienische Proletariat am Vorabend großer<br />

Ereignisse steht. <strong>Die</strong> Furcht vor dem Proletariat hält die Monarchie und die an den<br />

Faschismus angelehnten Klassen noch davon zurück, Mussolini zu stürzen. Das<br />

Ungeheuer ist aber geschlagen und sein fauler Kot verpestet die Atmosphäre.<br />

<strong>Die</strong> Umgebung des Diktators ist geopfert: <strong>Die</strong> einen entwischen ins Ausland, die<br />

andern enden im Gefängnis. Das italienische Proletariat fordert aber mehr. Es<br />

fordert, daß der Diktator selbst geht, daß die Monarchie verschwindet. Möge die<br />

Parole des Weltproletariats sein: Nieder mit dem Faschismus! Nieder mit der<br />

Monarchie! Zum Kampf für die Befreiung! Das Verwaltungsbüro der I.A.A:<br />

- - -<br />

Es ist dem Sekretariat nicht möglich, hier Bericht zu erstatten über die Aktionen,<br />

die auf Grund dieses Aufrufes in den einzelnen Ländern stattfanden. Es bleibt den<br />

angeschlossenen Organisationen vorbehalten, den Bericht des Sekretariats in diesem<br />

Teile zu ergänzen.<br />

Anläßlich der dreijährigen Wiederkehr der Besetzung der Fabriken in Italien ersuchte<br />

das Agitationskomitee der Unione Sindacale im Auslande das Sekretariat der<br />

I.AA. um Veröffentlichung eines Manifestes. Das Verwaltungsbüro der I.A.A schlug<br />

allen angeschlossenen Organisationen vor, während der drei Erinnerungswochen vom<br />

1. bis 20. September eine Propaganda auf folgende Weise zu entfalten:<br />

1. In allen Städten und besonders in den Hauptstädten Meetings zu veranstalten,<br />

zu dem Zwecke, sich mit dem italienischen Proletariat, das verfolgt wurde, zu solidarisieren<br />

und gegen den internationalen Faschismus zu protestieren.<br />

2. In allen Versammlungen, Konferenzen, auf Kongressen usw. dieselbe Frage aufzuwerfen,<br />

wenn sie auch nicht besonders für diesen Zweck einberufen sind.<br />

3. In der gesamten revolutionären Presse während dieser Zeit den Ereignissen in<br />

Italien und dem Kampfe gegen den Faschismus besondere Beachtung zu schenken.<br />

4. Den italienischen Gesandtschaften in den verschiedenen Ländern die Proteste<br />

des Proletariats zu überreichen.<br />

In einigen Ländern kam es zu einer größeren Propaganda in diesem Sinne.<br />

- - -<br />

Auch in der letzten Zeit ging es unseren Kameraden in Italien nicht besser. Das<br />

Sekretariat wandte sich nochmals Ende 1924 an alle Landesorganisationen, die ihr<br />

angeschlossen sind, in der Sache unserer italienischen Kameraden. Der Aufruf lautete:<br />

Genossen !<br />

Zur Unterstützung der Opfer des Faschismus!<br />

Das Exekutivkomitee der syndikalistischen Union Italiens teilt uns mit, daß die<br />

Prozesse für die gefangenen Kameraden ungeheure Kosten verschlingen, so daß die<br />

Gelder hierzu nicht aufzutreiben sind. Ein einziger Prozeß in Andria kostet<br />

40 000 Lire. Angesichts der schweren finanziellen Lage, in welcher die syndikalistische<br />

Union sich befindet, hervorgerufen durch die Reaktion des Faschismus, können diese<br />

Gelder bei weitem nicht in gehörigem Maße aufgebracht werden. Da vor einiger Zeit<br />

seitens der I.AA. zur Sammlung für einen Kinderfonds für die Kinder der gefangenen<br />

Kameraden gesammelt worden ist, gegenwärtig aber im Inhaftierten- und Prozeßfonds


82 KAMPF GEGEN DIE INTERNATIONALE REAKTION<br />

mehr Gelder gebraucht werden, ersucht die Unione Sindacale die Organisationen und<br />

Kameraden, die für den Kinderfonds geopfert haben, ihnen die Freiheit zu geben, aus<br />

dem Kinderfonds einen Teil des Geldes in den Inhaftierten- und Prozeßfonds überführen<br />

zu dürfen.<br />

Baldige Antwort ist dringend notwendig. Wir ersuchen, die Antworten entweder<br />

direkt an die syndikalistische Union Italiens oder an das Sekretariat der I.A.A mitzuteilen.<br />

Das Sekretariat der I.A.A.<br />

Rußland.<br />

<strong>Die</strong> Verfolgungen der Sowjetregierung gegen unsere Kameraden, gegen Revolutionäre<br />

aller Richtungen veranlaßte das Sekretariat, folgenden Aufruf an das Proletariat<br />

aller Länder zu richten:<br />

„Aufruf der I.A.A. für die gefangenen Revolutionäre in Rußland."<br />

Helft den gefangenen Revolutionären in Rußland.<br />

Kameraden! Wir rufen euch heute auf zu einer einheitlichen und weit angelegten<br />

internationalen Kampagne gegen die unerhörten Verfolgungen der Sozialisten und<br />

Revolutionäre in Rußland; zu einer allgemeinen und energischen Aktion für die Befreiung<br />

der Anarchisten, Syndikalisten, Sozialisten und aller parteilosen Revolutionäre,<br />

die in den zahlreichen Gefängnissen und Konzentrationslagern schmachten oder<br />

durch die Sowjetregierung in die Verbannung geschickt wurden.<br />

Es ist uns nicht unbekannt, daß zur Zeit die wildeste Reaktion in fast allen Ländern<br />

herrscht, daß die furchtbaren Verfolgungen, denen, unsere Kameraden überall ausgesetzt<br />

sind, ohne Zweifel ebenfalls eine Aktion zu ihren Gunsten erforderlich machen würden.<br />

Wir wissen auch, daß die revolutionäre Bewegung jedes Landes ihre eigenen Opfer und<br />

Märtyrer aufzuweisen hat, deren Schicksal ein dringendes Eingreifen nötig machen<br />

würde. <strong>Die</strong> Lage in Rußland ist aber in jeder Beziehung außergewöhnlich und unvergleichlich.<br />

<strong>Die</strong> Verfolgungen der Revolutionäre in den kapitalistischen und bürgerlichen<br />

Staaten gehören zur Natur der Dinge. Der Kampf für die Befreiung ist etwas selbstverständliches.<br />

<strong>Die</strong> russische Regierung aber gibt vor, eine „Arbeiter-Regierung und<br />

sozialistische Regierung" zu sein. Sie ist bekannt als die Vertreterin der „Diktatur des<br />

Proletariats". <strong>Die</strong> Verfolgung ihrer Gegner, die Vernichtung der Revolutionäre nur<br />

wegen deren Gesinnung, die nicht mit der ihrigen übereinstimmt, stellt die russische<br />

„Revolutionsregierung" heuchlerisch als Bekämpfung des Banditismus und der Konterrevolution<br />

hin. Große Teile des Proletariats in allen Ländern lassen sich durch diese<br />

Heuchelei, durch diesen Bluff einer durchaus revolutionären und skrupellosen Regierung<br />

irreführen. Dadurch ist der Kampf gegen diese Regierung außerordentlich erschwert.<br />

Das ist um so mehr der Fall, als der entsetzliche Terror, der von den Bolschewisten<br />

in Rußland ausgeübt wird, jeden Kampf dagegen unmöglich macht. So haben<br />

die verfolgten Sozialisten und Revolutionäre in Rußland keine Möglichkeit, sich zu<br />

verteidigen. <strong>Die</strong> verabscheuungswürdigen und verbrecherischen Frevel der russischen<br />

Regierung sind der werktätigen Bevölkerung aller Länder im allgemeinen noch unbekannt.<br />

Es ist daher an der Zeit, diese Freveltaten zu enthüllen und die an der Macht<br />

befindlichen Verbrecher zu entlarven. <strong>Die</strong> Pflicht erheischt es nun, die zahllosen Tatsachen<br />

offen an den Tag zu legen und sie dem Proletariat aller Länder zur Kenntnis<br />

zu bringen. Es muß endlich einmal ganz entschieden gebrochen werden mit dem<br />

gefährlichen Märchen von dem revolutionären Charakter und Idealismus der russischen<br />

Regierung und ihr wahrhaft reaktionärer und bürgerlicher Charakter aufgezeigt werden.<br />

<strong>Die</strong> Verfolgungen übersteigen gegenwärtig in Rußland die Grenzen jeder Einbildung.<br />

Es hat den Anschein, als wolle man sich durch radikale Vernichtung aller<br />

sozialistischen, anarchistischen revolutionären Elemente des Landes entledigen. Täglich<br />

kommen zahlreiche der besten Kameraden um. Jeder Tag bringt uns Nachrichten<br />

über neue Fälle dieser Art. <strong>Die</strong> Verhältnisse der Gefangenschaft und Verbannung im<br />

hohen Norden sind entsetzlich. Tötungen und Erschießungen für die geringsten Proteste<br />

gegen die unerträglichen Gefängnisordnungen werden zur Gewohnheit. <strong>Die</strong><br />

besten Kameraden sterben hin als Folge dieses Regimes. Selbstmorde kommen immer<br />

häufiger vor. . . . Tausende von Revolutionären leiden unter diesem furchtbaren Lose,<br />

sie sind ständig der Todesgefahr ausgesetzt, ohne den geringsten Schatten einer Anklage,<br />

nur durch die Willkür und das Gutdünken einer Regierung.


KAMPF GEGEN DIE INTERNATIONALE REAKTION 83<br />

Es ist deshalb hohe Zeit, sich energisch dafür einzusetzen, aus den Krallen der<br />

Henker die uns teuren Leben, die besten Kräfte der Revolution, die unschuldigen<br />

Opfer der roten Reaktion zu entreißen.<br />

1. <strong>Die</strong> Landeszentralen der revolutionärssyndikalistischen Organisationen werden<br />

aufgefordert, ein Aktionskomitee zu bilden. Zur Mitarbeit an diesem Komitee können<br />

auch die antiautoritären Gruppierungen innerhalb der Arbeiterbewegung jedes Landes<br />

herbeigezogen werden, wo solche vorhanden sind.<br />

2. <strong>Die</strong>ses Aktionskomitee setzt sich mit sämtlichen örtlichen Organisationen des<br />

Landes in Verbindung, um über das ganze Land eine Kampagne vorzubereiten. In<br />

allen größeren Städten können sich ähnliche Komitees bilden.<br />

3. <strong>Die</strong> erste Aufgabe dieses Komitees wird sein, das Material zu sammeln und die<br />

Arbeiterpresse damit zu versehen.<br />

4. <strong>Die</strong> Presse der I.A.A. und der freiheitlichen Arbeiterbewegung sollte von Stunde<br />

an die öffentliche Meinung aufklären durch Veröffentlichung der Tatsachen und des<br />

gesamten Materials und durch entsprechende Kommentare in zahlreichen Artikeln und<br />

eventuellen Sonderausgaben ihren Protest und ihre Entrüstung zu erkennen geben.<br />

5. <strong>Die</strong> allgemeine Kampagne sollte überall gleichzeitig den 20. April einsetzen<br />

und von da bis zum 1. Mai unaufhaltsam geführt werden. <strong>Die</strong> Forderung soll sein:<br />

Proteste gegen die Verfolgungen der Revolutionäre durch die russische Regierung und<br />

die Forderung der Freigabe der Anarchisten, Sozialisten, Syndikalisten und parteilosen<br />

Revolutionäre zum 1. Mai 1924.<br />

6. Es sollten überall öffentliche Protestversammlungen veranstaltet werden, in<br />

denen man die Tatsachen vorlegt und Protestresolutionen zur Annahme bringt gegen<br />

die Greueltaten der russischen Regierung. Darin sollte auch für den 11. Mai 1924 die<br />

Freigabe aller gefangenen und verschickten Revolutionäre sowie für die Ausgewiesenen<br />

das Recht der Rückkehr gefordert werden. Auch in Betriebsversammlungen und dergleichen<br />

sollten dieselben Resolutionen vorgelegt und abgestimmt, sowie das Resultat<br />

derselben in der Presse veröffentlicht werden. <strong>Die</strong> Resolutionen und das Material<br />

sollten soweit als möglich der gesamten Presse des Landes zur Verfügung gestellt<br />

werden.<br />

7. Sämtliche angenommenen Resolutionen sollten den russischen Konsulaten und<br />

Gesandtschaften zur Weiterbeförderung an die Sowjetregierung und eine Abschrift<br />

davon dem Sekretariat der I.A.A. zugestellt werden. Als ein noch wirksameres Mittel<br />

sollten Demonstrationen der Arbeiterschaft vor den sowjetrussischen Botschaften und<br />

Konsulaten mit Uebergabe von Protestresolutionen veranstaltet werden.<br />

Genossen! Wir erwarten von euch die Einsetzung aller eurer Kräfte, damit die<br />

Kampagne ein gutes Ergebnis zeitigt und dazu beitragen wird, die Befreiung unserer<br />

leidenden Kameraden in Rußland zu beschleunigen.<br />

Das Sekretariat der <strong>Internationale</strong>n Arbeiterassoziation.<br />

- - -<br />

<strong>Die</strong>ser Aufruf gelangte in fast allen Ländern zum Abdruck. <strong>Die</strong> der I.A.A. angeschlossenen<br />

Organisationen beantworteten den Aufruf und veranstalteten Protestaktionen.<br />

In Frankreich und in Deutschland wurden mächtige Versammlungen zum<br />

Protest gegen die inhaftierten Revolutionäre in Rußland abgehalten. <strong>Die</strong> Kamtraden<br />

in Holland haben an die russische Regierung eine Resolution gesandt, in welcher sie im<br />

Namen der russischen Revolution die Befreiung der Revolutionäre zum Weltfeiertag<br />

des Proletariats, 1. Mai, forderten. In ganz Südamerika wurde dieser Aufruf in zahllosen<br />

Exemplaren plakatiert, zur Verteilung gebracht und verbreitet. Auch in Norwegen<br />

fanden Protestversammlungen statt. Anschließend an diesen Aufruf wurde eine<br />

Reihe von Namen, gegen 150 an der Zahl, veröffentlicht von russischen Kameraden, die<br />

in den Gefängnissen der Sowjetrepublik schmachteten. Das Sekretariat hat nicht in<br />

Erfahrung gebracht, ob auf Grund seiner Protestaktion das Los der russischen Gefangenen<br />

erleichtert wurde. Auch heute befinden sich noch viele unserer Kameraden<br />

in den Gefängnissen und Verbannungen in Sowjetrußland, und es wird noch in Zukunft<br />

mehr getan werden müssen, um sie aus den Krallen der roten Diktatoren zu befreien.<br />

Das Sekretariat hat auch zu wiederholten Malen Depeschen an den russischen Rat<br />

der Gewerkschaften und an das Exekutivkomitee der R.G.I. gesandt, um in einigen<br />

Fällen, wie z. B. bei dem Genossen Mayr-Rubintschik, und anderen, die Befreiung<br />

durchzusetzen. Uns ist aber nicht bekannt, daß die genannten Körperschaften sich<br />

bei der russischen Regierung für die Befreiung von russischen Revolutionären einsetzten.


84<br />

KAMPF GEGEN DIE INTERNATIONALE REAKTION<br />

Spanien.<br />

Für unsere Kameraden in Spanien hat das Sekretariat sich mehr als einmal eingesetzt,<br />

wir bringen aber auch hier nur einige Aufrufe, die anläßlich besonderer<br />

Begebenheiten notwendig waren.<br />

<strong>Die</strong> dauernde Reaktion und Unterdrückung der Arbeiterschaft führte schließlich<br />

dahin, daß die verfolgten Revolutionäre in Spanien und die im Ausland lebenden<br />

Spanier ihr Leben aufs Spiel setzten, um den Versuch zu wagen, die Blutherrschaft<br />

des weißen Generals Riveras und des Königs Alfons zu stürzen. Es kam zu revolutionären<br />

Erhebungen in Barcelona und an der französisch-spanischen Grenze, als eine<br />

Anzahl Spanier versuchten, ihren kämpfenden Brüdern zu Hilfe zu eilen und von<br />

Frankreich aus die Grenze nach Spanien überschreiten wollten. <strong>Die</strong>ser Versuch<br />

von revolutionären Erhebungen Ende November 1924 wurde von allen politischen<br />

Parteien einschließlich der Kommunisten bekämpft. <strong>Die</strong> 3. <strong>Internationale</strong> hat sich<br />

besonders darum bemüht, die unglücklichen Revolutionäre, die leider das Opfer<br />

der Reaktion wurden, zu beschimpfen und zu verleumden. Der I.A.A. sah in den<br />

Kämpfern ihre Brüder, und wenn die revolutionären Erhebungen auch resultatlos vorlaufen<br />

waren, so lag gerade hierin für das internationale Proletariat ein Grund vor,<br />

den neuen Opfern zu Hilfe zu eilen. Ausgehend von dieser Erkenntnis richtete das<br />

Sekretariat folgenden Aufruf an das Weltproletariat:<br />

Kameraden! Zum Kampf gegen den weißen Schrecken in Spanien!<br />

„Das spanische Proletariat hat einen heroischen Kampf begonnen gegen die Blutherrschaft<br />

Primo de Riveras. In Barcelona, dem Mutterboden der spanischen Revolution,<br />

kam es zu Erhebungen der Arbeiterschaft, die zu blutigen Zusammenstößen mit<br />

der Militärkamarilla führten. <strong>Die</strong>se Kämpfe sind die Vorpostengefechte der spanischen<br />

Revolution, an deren Vorabend wir stehen.<br />

Der herrschende Militarismus hat diesmal noch den Sieg über das revolutionäre<br />

Proletariat davongetragen. Noch rauchen die Straßen Barcelonas von den stattgehabten<br />

Kämpfen, da saust die Rache der Despoten auf die mutigen Revolutionäre<br />

hernieder. Der weiße Schrecken hat eingesetzt und mäht die besten Söhne der proletarischen<br />

Revolution. <strong>Die</strong> Militärgerichtshöfe treten aufs neue unter Martinez Anido<br />

in Aktion. Summarische Todesurteile werden verkündet und unmittelbar ausgeführt.<br />

Schon sind bekannte und ergebene Vorkämpfer der Revolution in den Tod geschickt<br />

und vielen droht das gleiche Schicksal.<br />

<strong>Die</strong> französische Regierung, an deren Spitze der Pazifist und Sozialistenfreund<br />

Herriot steht, leistet dem verruchten Tyrannen Rivera Liebesdienste. <strong>Die</strong> spanischen<br />

Revolutionäre werden von den Polizeiknechten der kapitalistischen Republik Frankreich<br />

an der Grenze in den Pyrenäen aufgegriffen und der spanischen Blutherrschaft<br />

ausgeliefert.<br />

Wieder wird das spanische Proletariat auf den Leidensweg gedrängt, den es in<br />

den letzten Jahren, von der eisernen Rute der Reaktion getrieben, so oft und bitter<br />

wandern mußte. <strong>Die</strong> Blüte des revolutionären Proletariats Spaniens wird geknickt,<br />

die Hoffnung auf die revolutionäre Generation der Gegenwart wird erstickt.<br />

Proletarierblut wird vergossen, Gefängnisse, Zwingburgen, Kasematten werden gefüllt.<br />

Kerkermauern werden von Flüchen lebendig Begrabener widerhallen, Frauen und Kinder<br />

werden ihre Gatten und Väter beklagen.<br />

Proletarier aller Länder! Vernehmt diese Schmerzensrufe, höret die Mahnungen<br />

der so mutigen und unglücklichen Kämpfer!<br />

Noch ist der Kampf der Unterdrückten und Ausgebeuteten unter dem herrlichen<br />

Himmelsstrich jenseits der Pyrenäen nicht für immer eingestellt. Er wird wieder aufgenommen<br />

und so lange geführt werden, bis die fluchwürdige Unterdrückungsgewalt<br />

und Schreckensherrschaft zu Boden getreten ist.<br />

Heute ergeht der Ruf an euch! Laßt den Henker nicht ungestört sein grausames<br />

Bluthandwerk verrichten! Organisiert den Boykott gegen alle spanischen Produkte.<br />

Laßt kein Schiff in einen Hafen von Spanien einfahren! Produziert keine Waren für<br />

Spanien und laßt keinen Transport nach diesem Lande abgehen! Organisiert Massendemonstrationen<br />

überall, wo es möglich ist, zum Protest gegen die verbrecherischen<br />

Bluttaten, die gegen eure spanischen Klassenbrüder verübt werden. Demonstriert vor<br />

den spanischen Botschaften in eurem Lande. Sendet Resolutionen des Protests und


KAMPF GEGEN DIE INTERNATIONALE REAKTION 85<br />

Arbeiter Frankreichs! Laßt es nicht zu, daß die Regierung eures Landes die<br />

spanischen Klassenbrüder dem Henker Rivera in die Hände spielt. Zwingt die<br />

herrschende Bourgeoisie zur Freigabe der gefangenen Spanier und zur Wahrung des<br />

Asylrechtes! Sorgt dafür, daß kein spanischer Revolutionär in die Hände der<br />

spanischen Grenzbehörden kommt. Zeigt euch der Hoffnungen würdig, die eure<br />

Leidensbrüder vom Süden in euch setzen.<br />

Durch alle Länder muß der Ruf ertönen: Freiheit für unsere Brüder in Spanien!<br />

Nieder mit den blutigen Henkersknechten! Nieder mit der weißen Schreckensherrschaft!<br />

Das Sekretariat der I.A.A.<br />

Ende Juli 1923 traten die Transportarbeiter Barcelonas in einen großen Streik.<br />

Anläßlich dieser Aktion sandte das Sekretariat der I.A.A. an unsere spanischen<br />

Kameraden folgendes Schreiben:<br />

An die Confederacion National del Trabajo!<br />

„Kameraden! Mit großem Interesse und mit begeistertem Mitgefühl folgen wir der<br />

neuen Phase eures großartigen Kampfes, der sich immer mehr zuspitzt, und wie immer,<br />

durch die grausamen Verfolgungen gegen die Arbeiterklasse hervorgerufen ist.<br />

Der wunderbare Widerstand und die beispiellose Solidarität der Transportarbeiterschaft<br />

Barcelonas, die Geschlossenheit aller derjenigen, die durch eure glorreiche<br />

Confederacion zusammengefaßt sind, beweist aufs neue, welche befreiende Macht die<br />

Waffe des Streiks ist, um den Widerstand der Arbeiterklasse zu entwickeln und zu vertiefen.<br />

Das gibt uns, die wir euch als die unsrigen betrachten, in der freien und<br />

brüderlichen Vereinigung, Grund zum berechtigten Stolze.<br />

Kameraden Barcelonas und ganz Spaniens! Der wunderbare Widerstand, den ihr<br />

in diesem Augenblick leistet, ist bereits in die Seiten der Geschichte der <strong>Internationale</strong><br />

eingeschrieben. <strong>Die</strong> gesamte Weltreaktion wartet der Stunde, in der sie eure Niederlage<br />

feststellen kann; das Proletariat aller Länder aber will einen neuen Sieg ausrufen,<br />

der ein Sieg des Gesamtproletariats sein wird in einer Zeit der schwärzesten Reaktion<br />

und der internationalen Unterdrückung.<br />

Wir begrüßen von ganzem Herzen die Opfer des spanischen Faschismus.<br />

Wir begrüßen unsere Freunde und Brüder Pestana, Trilla und alle anderen Gefangenen<br />

in ihren Kerkern, und wir sind überzeugt, daß der Appell zum äußersten<br />

Widerstande, den die Eingekerkerten aus ihren Verließen an das Proletariat Barcelonas<br />

richteten, worin man sie warf in der Hoffnung, auf diese Weise die Streikbewegung zu<br />

brechen, einen begeisterten Widerhall in den Herzen aller Proletarier finden und die<br />

Reaktion zwingen wird, anzuerkennen, daß der Handstreich gegen unsere Kameraden<br />

ein eitles Unterfangen war.<br />

Kameraden Barcelonas und ganz Spaniens! Im Namen des Proletariats, das in der<br />

internationalen Arbeiterassoziation vereinigt ist, senden wir euch unseren Gruß und<br />

Kampfesruf: Vorwärts! Immer vorwärts für die Befreiung des Proletariats!<br />

Nieder mit dem Staat und seinen gemieteten Lakaien! Es lebe der Streik in<br />

Barcelona! Es lebe die <strong>Internationale</strong> Arbeiterconfederacion Spaniens!"<br />

VI. Eintreten der I.A.A. bei Streiks und Lohnkämpfen.<br />

<strong>Die</strong> I.A.A. hat sich in ihrer Prinzipienerklärung auf den Standpunkt gestellt, die<br />

Kämpfe der Arbeiterschaft für bessere Lebensbedingungen, höhere Löhne, kürzere<br />

Arbeitszeit zu unterstützen. <strong>Die</strong> Kampfesmittel der I.A.A., wie sie in der Resolution<br />

vom 1. Kongreß „Revolutionäre Taktik" anerkannt wurden, sind die direkte Aktion.<br />

Das Kräfteverhältnis der Arbeiterbewegung auf der einen Seite, die reformistische<br />

Taktik der Amsterdamer auf der anderen, machten es nicht immer möglich, selbständige<br />

Kämpfe mittels der direkten Aktion zu führen. Das Sekretariat der I.A.A. war jedoch<br />

immer bestrebt, diese Kämpfe zu unterstützen und den Arbeitern Mut und Hoffnungen<br />

zuzusprechen.<br />

Um nur ein Beispiel herauszunehmen, geben wir hier folgenden Aufruf zur<br />

Kenntnis: Deutschland.<br />

Als die Bergarbeiter Deutschlands im Mai 1924 in einen Streik traten, richtete<br />

das Sekretariat der I.A.A. an die Arbeiterschaft aller Länder folgenden Aufruf:<br />

„Helft den kämpfenden Bergarbeitern Deutschlands!<br />

<strong>Die</strong> Bergarbeiter Deutschlands stehen seit dem 7. Mai in einem Kampfe gegen die<br />

Verlängerung der Arbeitszeit und für die Erlangung auskömmlicher Löhne.


86<br />

KAMPF GEGEN DIE INTERNATIONALE REAKTION<br />

<strong>Die</strong>ser Kampf wurde den Bergarbeitersklaven von den Berggewaltigen aufgezwungen,<br />

nachdem die Bergarbeiter des Ruhrgebiets der Aufforderung der Grubenbesitzer,<br />

die Arbeitszeit unter Tage eine Stunde zu verlängern, nicht Folge geleistet haben,<br />

sondern nach siebenstündiger Arbeitszeit unter Tage die Gruben verließen. <strong>Die</strong>se Aktion<br />

der Bergarbeiter ist direkt auf den Einfluß der syndikalistischen Propaganda zurückzuführen.<br />

Selbst die reformistischen Bergarbeiterverbände konnten sich der Idee, nach<br />

siebenstündiger Arbeitszeit die Grube zu verlassen, nicht verschließen.<br />

Das Unternehmertum beantwortete diese Aktion der Bergarbeiter mit einer allgemeinen<br />

Aussperrung. Zurzeit befinden sich im Ruhrgebiet gegen 600 000 Bergarbeiter<br />

im Kampfe. <strong>Die</strong> Zahl der Arbeiter anderer Industrien, die durch diesen Kampf in<br />

Mitleidenschaft gezogen sind, ist fast ebenso hoch. Der Kampf beschränkt sich jedoch<br />

nicht auf das Ruhrgebiet, sondern dehnt sich aus auf den gesamten deutschen Kohlenbergbau.<br />

Als Vorwand zur Beseitigung des Achtstundentages unter Tage dient den deutschen<br />

Unternehmern der Vertrag mit der Micum. Sie wollen alle Lasten desselben auf die<br />

Arbeiterschaft abwälzen und benutzen diese Gelegenheit, um die Notwendigkeit darzutun,<br />

daß in Deutschland infolge des Vertrages von Versailles der Achtstundentag<br />

nicht möglich sei. Während auf der einen Seite die französische Bourgeoisie die<br />

schwere wirtschaftliche Lage des französischen werktätigen Volkes der Nichterfüllung<br />

des Versailler Vertrages durch Deutschland in die Schuhe schiebt, wird auf der<br />

anderen Seite gerade die Ausführung dieser Bestimmungen von den deutschen Kapitalisten<br />

dazu benutzt, um die Beseitigung des Achtstundentages zu rechtfertigen.<br />

<strong>Die</strong> Sozialdemokraten hüben wie drüben unterstützen diese Thesen des internationalen<br />

Kapitalismus. <strong>Die</strong> französischen Kapitalisten erklären, sie müßten auf der<br />

Ausführung des Sachverständigen-Gutachtens bestehen, und die deutschen Sozialdemokraten<br />

und reformistischen Gewerkschaften der Amsterdamer <strong>Internationale</strong> haben<br />

sich mit dem Schiedsspruch einverstanden erklärt, der die Verlängerung der Arbeitszeit<br />

anerkennt, auf 8 Stunden unter Tage für Bergarbeiter und auf 9—10 und noch<br />

mehr Stunden über Tage für fast die gesamte Arbeiterschaft bis zum 9. Juni 1925.<br />

So haben die Reformisten die Unterdrückung der Arbeiterschaft besiegeln helfen.<br />

<strong>Die</strong> Bergarbeiterschaft hat sich aber diesem Schiedsspruch nicht gebeugt, sondern<br />

es entrüstet von sich gewiesen, die Sklavenverträge anzuerkennen. So geht der<br />

Kampf weiter.<br />

Kameraden! Proletarier aller Länder! Fast eine Million Arbeiter steht im offenen<br />

Kampfe gegen internationalen Kapitalismus und Reformismus. War das deutsche<br />

Proletariat schon vorher ein Spielball der Willkür des raubgierigen Kapitalismus, so<br />

machen sich in diesem Kampfe die Folgen der Aushungerung und Unterernährung in<br />

erschreckendem Maße bemerkbar. Das Elend wächst von Stunde zu Stunde, der<br />

Hunger greift um sich. Aber noch steht fast eine Million Bergsklaven unerschüttert<br />

und entschlossen, diesen Kampf für menschliche Arbeitspflicht und Lebensbedingungen<br />

bis zum siegreichen Ende durchzuführen.<br />

Ein Erfolg kann den kämpfenden Bergsklaven nur dann beschieden sein, wenn<br />

ihre proletarischen Brüder in allen Ländern in größtem Maße Solidarität üben.<br />

Das Sekretariat der internationalen Arbeiterassoziation ruft die ihm angeschlossenen<br />

Organisationen, ruft das gesamte Proletariat aller Länder auf, die kämpfenden Berg-<br />

Arbeiter moralisch und materiell zu unterstützen.<br />

Nieder mit dem internationalen Ausbeutertum!<br />

Es lebe die Solidarität des Proletariats!<br />

Das Sekretariat der I.A.A.<br />

- -<br />

Gegen das Verbrechen der Besetzung.<br />

Wiederum erscheint das Gespenst des Krieges über dem Haupte des gedemütigten,<br />

zu Boden getretenen Proletariats.<br />

<strong>Die</strong> Millionen geopferter Menschenleben, die im großen Weltkriege verloren gingen,<br />

sind noch nicht genug, um die wilde und blutige Begehrlichkeit des unersättlichen<br />

Kapitalismus und die unsinnigen Gelüste des Militarismus zufriedenzustellen. Der<br />

Ruhm der siegreichen Revanche läßt den französischen Militarismus noch immer nicht<br />

zur Ruhe kommen, der gerade einen neuen Kreuzzug gegen das Proletariat in Deutschland<br />

eröffnet hat. <strong>Die</strong> französische Armee ist eingedrungen in die Kohlenregion des<br />

Ruhrdistriktes und hat die wichtigsten Punkte dieses reichen Teiles Deutschlands besetzt.


KAMPF GEGEN DIE INTERNATIONALE REAKTION 87<br />

Auf den Schultern des deutschen Arbeiters jenes Gebietes lastet gegenwärtig eine<br />

doppelte Bürde: von einer Seite die unerhörte Ausbeutung des deutschen Kapitalisten,<br />

unterstützt und gestärkt durch die Unterdrückung einer Regierung, die nicht nur weit<br />

davon entfernt ist, republikanisch zu sein, sondern deren ganze Tätigkeit sich auch<br />

in keiner Weise von der jeder monarchistischen Regierung unterscheidet; und von der<br />

anderen Seite die militärische Besetzung durch die siegreiche Bourgeoisie Frankreichs,<br />

die, nicht zufrieden damit, dem deutschen Volke durch den räuberischen, militaristischen<br />

und rachelüsternen Vertrag von Versailles alle Lebenskräfte aus den Adern<br />

pressen zu können, sich nunmehr anschickt, die deutsche Arbeiterklasse im Bunde<br />

mit den Kapitalisten ihres Landes vollends niederzuwerfen durch die Aneignung ihrer<br />

natürlichen Reichtümer und der proletarischen Arbeitskräfte, über die das deutsche<br />

Volk allein und nach seinem eigenen Ermessen verfügen sollte, um den Wohlstand<br />

für alle zu sichern.<br />

Arbeiter Frankreichs!<br />

Ihr werdet nicht zugeben, daß die imperalistische Bourgeoisie eures Landes die Bevölkerung<br />

noch mehr auf die Folter spannt, die sich ohnedies schon, von den Schrecken<br />

des Hungers geschlagen, unter den Händen seiner hundertjährigen Ausbeuter windet.<br />

Ihr werdet nicht nur die mächtige Stimme der organisierten Arbeiterschaft er?<br />

schallen lassen gegen die Politik der Besetzung und die Gewalt einer Bande interessierter<br />

Spekulanten und professioneller Menschenschlächter, ihr werdet auch vor allem<br />

eine klare Stellung einnehmen gegen diesen politischen und wirtschaftlichen Vandalismus,<br />

der eben im Begriffe ist, sich durchzusetzen, und den Schnapphähnen, die es<br />

wagen, im Namen des französischen Volkes zu sprechen, jede Solidarität verweigern.<br />

Ihr habt jetzt die Möglichkeit — ihr, die ihr in das Joch eines militärischen Systems<br />

und einer unersättlichen Tyrannei geschlagen seid, welche dem siegreichen Kriege für<br />

die Interessen eurer Ausbeuter entsprungen sind — Schulter an Schulter mit dem unterdrückten<br />

deutschen Proletariat das Banner der befreienden Revolution zu entfalten<br />

und der hundertjährigen Unterdrückung und Ausbeutung beider Länder den letzten<br />

Streich zu versetzen.<br />

Und ihr, Proletarier, eines durch die Truppen einer blutgierigen Bourgeoisie vergewaltigten<br />

Gebietes!<br />

Vergeßt nicht, daß die Soldaten, welche in diesem Moment in euren Straßen einhergehen,<br />

dieselben Ausgebeuteten und unglücklichen Sklaven sind, wie ihr selbst.<br />

Geschlagen von der Blindheit des Siegers haben sie sich vielleicht nicht Rechnung<br />

darüber abgelegt, daß dieser Sieger, als er die deutschen Arbeiter niederschlug, auch<br />

in derselben Zeit die französischen Arbeiter besiegt hat, sagt ihnen, daß das Proletariat<br />

sich nur dann wirklich in den Besitz der von ihm produzierten Reichtümer setzen<br />

kann, wenn ihr beide — jeder in seinem Lande — euch eure Ausbeuter vom Halse<br />

schafft, die sich im Grunde genommen gut zu verständigen wissen, trotz der äußeren<br />

Täuschungsmittel.<br />

Schließt eure Reihen, deutsche Arbeiter! Wir gehen mit Riesenschritten großen<br />

Ereignissen entgegen; das Bild der ersten Revolution vom November 1918 steigt wieder<br />

empor vor euren Augen. Es gilt zu einem zweiten Schlage auszuholen, zu einem entscheidenden<br />

Schlage gegen das Bollwerk des Kapitalismus, der eure beiden bitterernsten<br />

Feinde, Kapitalismus und Staat, zur Strecke bringen wird.<br />

Und in dieser neuen Revolution werdet ihr in derselben Reihe mit den französisehen<br />

Arbeitern marschieren, denn euer Ziel ist ihr Ziel, eure Bestrebungen sind ihre<br />

Bestrebungen, euer Kampf ist ihr Kampf.<br />

Arbeiter Frankreichs und Deutschlands!<br />

Trefft eure Vorbereitungen zum sozialen Generalstreik und begreift, daß der<br />

Proteststreik gegen die Besetzung unwiderruflich zu einer tiefen Umwälzung führen<br />

müßte, die euch mit einem Schlage von euren alten Widersachern befreien könnte.<br />

Seid sicher, daß in einem solchen gewaltigen Kampfe die Arbeiter der anderen Länder und<br />

ihre revolutionäreVorhut euch über alle Grenzen hinüber die Bruderhand reichen werden.<br />

Gegen den allweltlichen Kapitalismus!<br />

Nieder mit der wirtschaftlichen Ausbeutung und politischen Unterdrückung!<br />

Es lebe der Generalstreik!<br />

Es lebe der internationale Kampf der Arbeiter!<br />

Das Verwaltungsbüro der <strong>Internationale</strong>n Arbeiterassoziation.<br />

Den 10. Januar 1923.


88 AUFRUFE DER I.A.A.<br />

Aufrufe der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation.<br />

Das Sekretariat der I.A.A. hat zu verschiedenen Fragen, Ereignissen und geschichtlichen<br />

Gedenktagen folgende Aufrufe erlassen:<br />

Aufruf zum Tage der 10. Wiederkehr des Weltkrieges.<br />

Anläßlich der 60jährigen Wiederkehr der Gründung der I. <strong>Internationale</strong>.<br />

Nach dem 2. Kongreß der Roten Gewerkschafts-<strong>Internationale</strong>, ein Kongreß, der<br />

Beschlüsse gegen den Syndikalismus faßte.<br />

Aufruf der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation an das Weltproletariat.<br />

Zum Tag der 10. Wiederkehr des Weltkriegsausbruches.<br />

Genossen!<br />

Am 31. Juli sind 10 Jahre verflossen seit Ausbruch des Weltkrieges. In diesen<br />

10 Jahren haben die Werktätigen aller Länder und Zungen unsagbar viel gelitten.<br />

Während der 4 Jahre des Weltkrieges sind gegen 13 Millionen Menschen getötet,<br />

viele Millionen verwundet worden. Frauen und Kinder im Hinterlande wurden durch<br />

Seuchen und Hungersnöte weggerafft.<br />

<strong>Die</strong> Wunden, die der Weltkrieg dem Proletariat aller Länder geschlagen hat, sind<br />

heute noch nicht vernarbt, und schon beginnt der wilde Nationalismus, der beutegierige<br />

Kapitalismus und der unersättliche Imperialismus aller Länder, zu neuen<br />

Kriegen zu hetzen.<br />

Seit Beendigung des Weltkrieges haben Europa und die Welt keine Ruhe gefunden.<br />

Der Vertrag von Versailles bietet keine Friedensgarantie. Er ist ein Diktat der Siegermächte,<br />

ebenso wie der Friedensvertrag von Brest-Litowsk zwischen den siegreichen<br />

Mittelmächten und Sowjetrußland oder der Vertrag zu Bukarest der Triumph der<br />

siegreichen Soldateska gewesen ist. Gerade diese sogenannten Friedensverträge der<br />

kapitalistischen Staaten sind immer noch Ausgangspunkt neuer kriegerischer Verwickelungen<br />

gewesen, wie die Besetzung des Ruhrgebietes und die sich entwickelnde Revanchestimmung<br />

in Deutschland aufs neue beweisen.<br />

Trotz Verschiebung der Machtverhältnisse in Europa hat die Welt keine Ruhe<br />

gefunden. <strong>Die</strong> Kriegsrüstungen nehmen nicht ab, sondern zu. Heute stehen mehr<br />

Soldaten unter Waffen als vor dem Weltkriege. <strong>Die</strong> Entwicklung der Kriegschemie<br />

in den letzten Jahren hat neue Giftgase und Explosivstoffe hervorgebracht, die alle<br />

bisherigen Vernichtungsmittel an Furchtbarkeit weit in den Schatten stellen. <strong>Die</strong><br />

Rüstungen der Luftflotten nehmen gigantische Dimensionen an. Alles spitzt sich zu<br />

einem neuen Kriege zu.<br />

Hand in Hand mit der Steigerung der materiellen Kriegsvorbereitungen geht die<br />

Erstarkung des nationalistischen Geistes in den einzelnen Ländern. <strong>Die</strong> Niederlage<br />

der revolutionären Erhebungen in Italien und Deutschland, die Hilflosigkeit des Proletariats<br />

und dessen Unfähigkeit, den Massen zum Sozialismus und zu sichtbaren Erfolgen<br />

und Vorteilen zu verhelfen, haben einer neuen rechtsradikalen Bewegung Spielraum<br />

gegeben, die eine große Gefahr für die Arbeiterbewegung bedeutet. Abenteurerexistenzen,<br />

die der Krieg entwurzelt hat und die ein Landsknechtsleben weiterführen<br />

wollen, haben sich zu modernen Freischaren zusammengefunden, die von den herrschenden<br />

Klassen bewaffnet und unterhalten werden, um die revolutionäre Arbeiterschaft<br />

in Schach zu halten. So entstand in Italien der Faschismus, in Deutschland die Bewegung<br />

der Deutschvölkischen Partei, in Spanien die Diktatur Riveras, in Amerika der<br />

Ku-Klux-Klan.<br />

<strong>Die</strong> gewaltigen Ereignisse, die 1914 einsetzten, haben uns nicht Freiheit und Wohlstand<br />

gebracht, sondern die Reaktion gestärkt, den Militarismus vermehrt, die Lebenshaltung<br />

der Arbeiter herabgesetzt. Der- Kapitalismus, der allerdings auch großen Erschütterungen<br />

unterworfen war, hat sich behauptet, und heute übt er seine schamlose<br />

Ausbeutung rücksichtsloser aus denn jemals vorher.<br />

Das Werk der revolutionären Arbeiterbewegung muß es sein, das Proletariat der<br />

ganzen Welt vor einem neuen Krieg zu retten, der den Untergang der gesamten Kultur<br />

mit sich bringen würde.<br />

<strong>Die</strong> zehnjährige Wiederkehr des Kriegsausbruches ist als Gedenktag zu großen<br />

Protestaktionen geeignet. Das Proletariat müßte an diesem Tage in der ganzen Welt


AUFRUFE DER I.A.A. 89<br />

die Arbeit niederlegen, um durch einen eintägigen Generalstreik zu zeigen, daß es nicht<br />

gewillt ist, sich für die Interessen des Kapitalismus oder den Wahnsinn des Nationalismus<br />

aufzuopfern.<br />

Leider haben die Führer der reformistischen Arbeiterbewegung, dieselben, die<br />

während des Weltkrigees die Massen zum „Durchhalten" aufforderten und mit den<br />

kriegführenden Mächten ihres Landes einen Burgfrieden schlossen, in die Antikriegsaktion<br />

einen Keil getrieben und dadurch die gesamte hoffnungsvolle Bewegung zur Bedeutungslosigkeit<br />

verurteilt. Der <strong>Internationale</strong> Gewerkschaftsbund, Sitz Amsterdam,<br />

war der Meinung, daß der Tag des Versailler Vertrages besser zu Antikriegskundgebungen<br />

geeignet sei, weil nämlich an diesem Tage auch die Elemente an der Kundgebung<br />

teilnehmen würden, die sich gegen den Versailler Vertrag wenden. Das sind<br />

aber auch die Militaristen und Nationalisten der Staaten, die den Krieg verloren haben,<br />

die mit allen Mitteln den Rachekrieg vorbereiten! Aus Witterungsrücksichten kam<br />

man dann vom Tage des Versailler Vertrages (November) ab und wählte einen neutralen<br />

Tag im September.<br />

Wie schon so oft vorher, haben auch diesmal wieder die Sozialpatrioten die Massen<br />

entzweit, ihre Kräfte geschwächt und nationalen Belangen den Vorrang eingeräumt.<br />

Es ist klar, daß nun durch Zersplitterung der Antikriegskundgebungen auf den 3. August<br />

und 20. September die Kraft beider Kundgebungen eingedämmt wurde und der Kampf<br />

gegen den Krieg eine empfindliche Einbuße erlitten hat.<br />

<strong>Die</strong>se Schwächung des internationalen Kampfes des Proletariats gegen den Krieg<br />

wird noch weiter ausgedehnt durch das Verhalten der III. Kommunistischen <strong>Internationale</strong><br />

und ihren Ableger, die Rote Gewerkschaftsinternationale. <strong>Die</strong>se beiden Körperschaften<br />

sind nur Organe für die Außenpolitik der russischen Regierung. Keine Regierung<br />

kann auf die bewaffnete Macht und den Krieg als letztes Mittel, sich zu behaupten,<br />

verzichten. Aus diesem Grunde wenden sich die Moskauer <strong>Internationale</strong>n<br />

nicht gegen den Krieg schlechthin, sondern nur gegen den sogenannten imperialistischen<br />

Krieg. Dadurch wird auch der Teil der revolutionären Arbeiterschaft, der den Fahnen<br />

der Kommunisten folgt, von dem Kampfe gegen Krieg und Militarismus abgelenkt.<br />

<strong>Die</strong>se traurige Zersplitterung der Kräfte des Proletariats aller Länder hat einen<br />

Kräfteverfall des Kampfes gegen Reaktion und Kriegsgefahr zur Folge.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong> ArbeitersAssoziation steht in dieser Lage so gut wie einsam<br />

da in ihrem Kampfe gegen den Militarismus. Wir können nur noch mit den Antimilitaristen<br />

aller Länder und mit den gesunden Masseninstinkten rechnen, die sich uns<br />

zuwenden, wenn es eine Entscheidung gilt. Wir machen jedoch kein Hehl daraus, daß<br />

unsere Kräfte in Europa nicht zureichen, um das Gesamtproletariat zu Aktionen zu<br />

bringen. Leider ist der Einfluß der reformistischen Amsterdamer in Europa noch zu<br />

nachhaltig. Wir rufen die Arbeiterschaft aller Länder trotzdem auf, am zehnjähriegn<br />

Gedenktage des Kriegsausbruches durch Massenaufgebot ihren Willen kundzutun gegen<br />

jeden neuen Krieg, gegen die stehenden Heere, gegen jeden Militarismus.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiter müssen sich prinzipiell weigern, Kriegsmaterial herzustellen und jede<br />

Waffenerzeugung, welche dem organisierten Völkermord dienen soll, einstellen. Sobald<br />

ein Krieg droht, müssen die Grubenarbeiter die Kohlen- und Erzförderung brachlegen<br />

und die Transportarbeiter die Beförderung von Truppen unterbinden. Und den<br />

Soldaten, den Proletariern im Waffenrock, gilt es dann zu sagen, daß sie die Waffen,<br />

die man ihnen in die Hände gibt, vernichten, oder dieselben gegen diejenigen anwenden,<br />

die sie zur Schlachtbank führen wollen.<br />

Vor allem aber gilt es, die Mütter und Frauen des Volkes zu warnen vor neuen<br />

blutigen Auseinandersetzungen der Völker, die lediglich den Interessen kleiner privilegierter<br />

Minderheiten zugute kommen. Wollen sie den Mord ihrer Männer und Söhne<br />

verhindern, so müssen sie selbst in die Arena steigen und sich in Massen den Organisatoren<br />

und Förderern des Massenmordes entgegenwerfen. Krieg dem Kriege! das muß<br />

das Losungswort der Proletarierfrauen aller Länder werden. Nur unermüdliche Agitation<br />

und Vorbereitung zur Aktion kann die Welt vor neuen Anschlägen der Massenmörder<br />

und ihrer profitlüsternen Hintermänner bewahren.<br />

Proletarier! Wir stellen hier noch einmal vor dem Forum des Weltproletariatfest,<br />

daß die Verantwortung bei einer neuen Menschenschlächterei auf diejenigen fällt,<br />

die es aus irgendwelchen Gründen unterlassen, euch aufzurufen durch die eingreifende<br />

Tat, dieses grauenhafte Unglück zu verhindern; die euch von diesen Aktionen mit<br />

allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln abzuhalten suchen.


90 AUFRUFE DER I.A.A.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong> Arbeiterassoziation hat nichts unversucht gelassen und wird<br />

auch in Zukunft alles daransetzen, um einen neuen Krieg zu verhindern. <strong>Die</strong> Sache des<br />

Proletariats aller Länder ist es, unserm Ruf zu folgen und für die Befreiung durch<br />

direkten Einsatz jedes einzelnen zu kämpfen. Getreu dem Kampfesruf der I. <strong>Internationale</strong><br />

rufen auch wir dem Proletariat aller Länder zu:<br />

<strong>Die</strong> Befreiung der Arbeiterschaft muß das Werk der Arbeiter selbst sein!<br />

<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong> Arbeiter-Assoziation.<br />

- - -<br />

Zur 60jährigen Wiederkehr der Gründung der I. <strong>Internationale</strong>.<br />

Am 28. September sind 60 Jahre verflossen seit jener denkwürdigen Versammlung<br />

in Saint Martin's Hall in London, welche zur Gründung der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-<br />

Assoziation führte. Es war der erste große Versuch der europäischen Arbeiterklasse,<br />

alle Richtungen und Strömungen innerhalb der jungen Arbeiterbewegung aller Länder<br />

in einem mächtigen Bunde zu vereinigen, um die versklavte Arbeit vom Joche des<br />

Kapitalismus zu befreien.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong> war nicht das Ergebnis einiger findigen Köpfe, sie entsprang<br />

nicht der Idee einiger Auserwählten, sie wurde vielmehr aus dem gärenden Schoße der<br />

arbeitenden Massen geboren und formte -sich nach deren Wünschen und Bedürfnissen.<br />

Tatsache ist, daß der Gedanke an eine internationale Vereinigung der Arbeiter die<br />

proletarischen Organisationen Frankreichs und Englands bereits in den 30er und<br />

40er Jahren beschäftigte, aber der Staatsstreich Napoleons und die Reaktion, die nach<br />

den verlorenen Revolutionen von 1848—1849 überall einsetzte, drängten diese Pläne<br />

wieder in den Hintergrund. Als aber in der ersten Hälfte der 60er Jahre ein neuer<br />

Wind durch Europa wehte und die Arbeiterklasse sich wieder zu erholen begann von<br />

den schweren Schlägen, die sie erlitten hatte, da wurde auch der Gedanke an eine<br />

internationale Vereinigung der werktätigen Klassen wieder lebendig, bis er endlich 1864<br />

praktische Form und Gestalt annahm.<br />

In demselben Sinne vollzog sich auch die geistige Entwicklung der <strong>Internationale</strong>.<br />

Ihre reichen Quellen sprudelten nicht aus den Studierstuben der Gelehrten, sondern<br />

aus den praktischen Kämpfen des alltäglichen Lebens, aus den tausend Erfahrungen<br />

einer kampfreichen Gegenwart. Waren die Beschlüsse ihrer ersten Kongresse in Genf<br />

(1866) und Lausanne (1867) noch sehr unbestimmt und gemäßigt, so waren den Arbeitern<br />

die schweren Kämpfe der nachfolgenden Jahre die beste Schule, um ihnen zu<br />

zeigen, in welcher Richtung sich ihre endgültige Befreiung zu vollziehen habe. <strong>Die</strong><br />

Beschlüsse der Kongresse von Brüssel (1868) und Basel (1869) zeigen uns die <strong>Internationale</strong><br />

auf dem Höhepunkt ihrer geistigen Entwicklung. Auf dem Kongreß in Basel<br />

entwickelte der Belgier Hins den großen Gedanken von der politischen Einheit der<br />

Gemeinden und der wirtschaftlichen Reorganisation der Gesellschaft durch die Gewerkschaften.<br />

„Aus dieser doppelten Organisationsform der lokalen Arbeitervereinigungen<br />

und der allgemeinen Industrieverbände", sagte Hins, „würde sich einerseits<br />

die politische Verwaltung der Gemeinde und andererseits die allgemeine Vertretung<br />

der Arbeit und zwar regional, national und international ergeben. <strong>Die</strong> Räte der Berufsund<br />

Industrieorganisationen werden die heutige Regierung ersetzen und diese Vertretung<br />

der Arbeit wird ein für allemal die alten politischen Systeme der Vergangenheit<br />

ablösen."<br />

<strong>Die</strong>ser neue und fruchtbare Gedanke entsprang der Erkenntnis, daß jede neue<br />

Wirtschaftsform der gesellschaftlichen Organisation auch eine neue Form der politischen<br />

Organisationen nach sich ziehen muß, ja sich nur im Rahmen dieser verwirklichen<br />

läßt. Aus diesem Grunde müsse auch der Sozialismus eine besondere politische<br />

Ausdrucksform erstreben, innerhalb derer er ins Leben treten könne, und man glaubte<br />

diese Form im Rätesystem der Arbeit gefunden zu haben.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiter der romanischen Länder, in denen die <strong>Internationale</strong> ihren Hauptrückhalt<br />

fand, entwickelten ihre Bewegung auf der Basis der wirtschaftlichen Kampforganisation<br />

und der sozialistischen Propagandagruppen und wirkten im Sinne der<br />

Baseler Beschlüsse. Da sie im Staate den politischen Agenten und Verteidiger der<br />

besitzenden Klassen erkannten, so erstrebten sie keineswegs die Eroberung der politischen<br />

Macht, sondern die Ueberwindung des Staates und die Abschaffung der


AUFRUFE DER I.A.A. 91<br />

politischen Macht in jeder Form, in der sie mit sicherem Instinkt die Vorbedingung<br />

jeder Tyrannei und Ausbeutung erkannten. Aus diesem Grunde dachten sie nicht<br />

daran, der Bourgeoisie nachzuahmen, eine neue Partei zu gründen und damit einer<br />

neuen Klasse von Berufspolitikern die Wege zu ebnen. Ihr Ziel war die Eroberung<br />

des Grund und Bodens, der Werkstätten und Betriebe, und sie erkannten wohl, daß<br />

dieses Ziel sie grundsätzlich von dem Politikantentum der radikalen Bourgeoisie unten<br />

schied, dessen ganze Tätigkeit auf eine Eroberung der Regierungsgewalt eingestellt<br />

war. Sie begriffen, daß mit dem Monopol des Besitzes auch das Monopol der Macht<br />

fallen müsse, daß das ganze gesellschaftliche Leben auf neuen Grundlagen aufzubauen<br />

sei. Ausgehend von der Erkenntnis, daß die Herrschaft des Menschen über den<br />

Menschen ihre Zeit gehabt habe, suchten sie sich mit dem Gedanken an die Verwaltung<br />

der Dinge vertraut zu machen. So setzten sie der Regierungspolitik der Parteien<br />

die Wirtschaftspolitik der Arbeit entgegen. Man begriff, daß in den Betrieben<br />

und Industrien die Reorganisation der Gesellschaft im sozialistischen Sinne vorgenommen<br />

werden müsse, und aus dieser Erkenntnis heraus wurde der Rätegedanke<br />

geboren. In den Versammlungen, in der Presse, in der Broschürenliteratur des freiheitlichen<br />

Flügels der <strong>Internationale</strong>, der sich um Bakunin und seine Freunde scharte,<br />

fanden diese Ideen ihre Klärung und Vertiefung.<br />

<strong>Die</strong> freiheitliche Richtung innerhalb der <strong>Internationale</strong> begriff vollkommen, daß<br />

der Sozialismus von keiner Regierung diktiert werden könne, daß er sich vielmehr<br />

organisch von unten nach oben aus dem Schoße des arbeitenden Volkes entwickeln<br />

und daß die Arbeiter selber die Verwaltung der Produktion und Konsumtion in ihre<br />

Hände nehmen müßten. <strong>Die</strong>se Idee war es, welche sie dem Staatssozialismus aller<br />

Schulen und Richtungen entgegenstellten. Und diese inneren Gegensätze zwischen<br />

Zentralismus und Föderalismus, diese verschiedenen Auffassungen über die Rolle des<br />

Staates als Uebergangsfaktor. zum Sozialismus bildeten auch den Mittelpunkt des<br />

Streites zwischen Bakunin und seinen Freunden und Marx und dem Londoner Generalrat,<br />

welcher zur Spaltung des großen Arbeiterbundes führte. Es handelte sich in<br />

diesem Kampfe nicht um persönliche Gegensätze, wiewohl Marx und Engels gegen die<br />

sogenannten „Bakunisten" fast ausschließlich die gehässigsten persönlichen Verdächtigungen<br />

ins Feld führten. Nein, es handelte sich um zwei verschiedene Auffassungen<br />

des Sozialismus und ganz besonders um zwei verschiedene Wege, die zum Sozialismus<br />

führen sollten. Marx und Bakunin waren lediglich die hervorragendsten Vertreter<br />

in diesem Kampfe um fundamentale Prinzipien. Es war nicht der Gegensatz zwischen<br />

zwei Personen, in dem sich die Frage erschöpfte, sondern der Gegensatz zwischen zwei<br />

Ideenströmungen, der ihm seine Bedeutung gab und heute noch gibt.<br />

Der Arbeitersozialismus der <strong>Internationale</strong> kannte keine Grenzen zwischen Nation<br />

und Nation. Für die Internationalisten war der Sozialismus das Symbol einer neuen<br />

gesellschaftlichen Kultur, welche berufen ist, die Zivilisation des kapitalistischen Zeitalters<br />

abzulösen. Aus diesem Grunde kannten sie nur ein gemeinschaftliches Interesse<br />

der Arbeit dem Kapitalismus gegenüber, das von keinen Bedenken nationalistischer<br />

und politischer Art beeinflußt werden konnte. <strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong> sollte das Instrument<br />

sein, in dem das Interesse der organisierten Arbeit gegen die kapitalistische Welt<br />

seinen Ausdruck finden sollte.<br />

<strong>Die</strong>se große allgemeine Auffassung unterscheidet die alte <strong>Internationale</strong> ihrem<br />

ganzen Wesen nach von den modernen sozialistischen Arbeiterparteien, die sich in<br />

der sogenannten Zweiten oder Dritten <strong>Internationale</strong> zusammengefunden haben. <strong>Die</strong><br />

ganze Erfahrung der letzten fünfzig Jahre hat klar gezeigt, daß diese Körperschaften<br />

unter dem verhängnisvollen Einfluß der bürgerlichen Politik mehr und mehr Bestandteile<br />

der bestehenden nationalen Staaten geworden sind und in jeder kritischen Periode<br />

ihre Interessen mit denen ihrer respektiven Staaten zusammenwerfen. Von der Dritten<br />

<strong>Internationale</strong>, die ganz offenkundig ein Werkzeug der auswärtigen Politik des russischen<br />

Staates ist und zu diesem Zwecke eigens ins Leben gerufen wurde, ist in dieser<br />

Beziehung wenig zu reden, da die Tatsachen zu offenkundig auf der Hand liegen.<br />

<strong>Die</strong> Zweite <strong>Internationale</strong>, die an der obenerwähnten Tatsache des Hineinwachsens<br />

in den bürgerlichen Staat beim Ausbruche des Weltkrieges zugrunde ging und jetzt<br />

wieder notdürftig restauriert wurde, hat ebenfalls mit den alten Ueberlieferungen der<br />

Ersten <strong>Internationale</strong> nichts gemein. Dasselbe gilt von der R.G.I. und der <strong>Internationale</strong><br />

von Amsterdam, die zum größten Teile unter dem geistigen Protektorat der sozialistischen<br />

Arbeiterparteien stehen.


92 AUFRUFE DER I.A.A.<br />

Von unvergeßlicher Wichtigkeit ist die Tatsache, daß es die Frage der politischparlamentarischen<br />

Beteiligung war, welche die Erste <strong>Internationale</strong> gespalten hat und<br />

ihren stolzen Bau in Trümmer schlug. In dem Augenblicke, als die berüchtigte Londoner<br />

Konferenz den Beschluß faßte, die der <strong>Internationale</strong> angeschlossenen Föderationen<br />

und Sektionen obligatorisch zur parlamentarischen Betätigung zu verpflichten,<br />

in diesem Augenblick impfte man dem großen Arbeiterbund den Keim des Todes ein.<br />

Ein mahnendes Beispiel dafür, wie schon damals die Politik die Arbeiter nicht einte,<br />

sondern ein Element der Zersplitterung und der inneren Zersetzung war und bis auf<br />

den heutigen Tag geblieben ist.<br />

Aber die Ideen der alten Internatonale gingen nicht zugrunde. Sie finden auch<br />

heute wieder ihren Ausdruck in den Organisationen, welche in der neuen <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter-Assoziation eine Allianz gegen Lohnsklaverei und staatliche Bevormundung<br />

geschlossen haben. In diesem Sinne begrüßen wir den Gründungstag der<br />

alten <strong>Internationale</strong>. Es lebe die neue <strong>Internationale</strong> der wirtschaftlichen Kampforganisationen<br />

des arbeitenden Volkes.<br />

- - -<br />

An die Organisationen der I.A.A.!<br />

An die Arbeiter aller Länder!<br />

Das Verwaltungsbüro der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation hält es für seine<br />

Pflicht, die ihm angeschlossenen Organisationen und darüber hinaus die revolutionäre<br />

Arbeiterschaft auf den III. Kongreß der Roten Gewerkschaftsinternationale aufmerksam<br />

zu machen, der in Moskau abgehalten wurde. Auf diesem Kongreß wurden Beschlüsse<br />

gefaßt, die der revolutionären Arbeiterbewegung in allen Ländern zur Gefahr<br />

werden können, wenn wir uns nicht rechtzeitig dagegen zur Wehr setzen. War die<br />

bisherige Taktik der R.G.I. auf ihrem I. und II. Kongreß auf den Fang der freiheitlichen<br />

Arbeiterbewegung berechnet, so hat man auf dem III. Kongreß eine neue Kursrichtung<br />

eingeschlagen: der Anarcho-Syndikalismus soll auf das schärfste bekämpft werden.<br />

Daneben sucht man unter der Parole der „Einheitsfront" eine Annäherung an die<br />

reformistische Arbeiterbewegung und eine Vereinigung mit den reformistischen<br />

Amsterdamern, die man bisher als Verräter der Arbeiterbewegung bezeichnete.<br />

<strong>Die</strong> neue Taktik der Roten Gewerkschaftsinternationale ist also:<br />

Kampf den Anarcho-Syndikalisten und Vereinigung mit den Reformisten.<br />

Der Kampf gegen den Anarcho-Syndikalismus ist ein Kampf gegen die I.A.A.<br />

In dem von dem III. Kongreß der R.G.I. veröffentlichten Aufruf „Gegen den weißen<br />

Terror" entblödet man sich nicht, die Worte auszusprechen: „Der weiße Terror findet<br />

in den Sozialdemokraten und auch in den Anarcho-Reformisten aller Länder treue<br />

Verbündete." <strong>Die</strong>s sagen Leute, die ihre Existenz den Geldern der russischen Regierung<br />

verdanken, einer Regierung, die im eigenen Lande einen blutigen Ausrottungskampf<br />

führt gegen jede revolutionäre und sozialistische Regung, die die Abschlachtung Tausender<br />

Kronstädter Matrosen auf dem Gewissen hat, die mit dem italienischen Faschismus<br />

Verträge abschließt und den Gesandten Mussolinis in Moskau feierlich empfängt.<br />

Der III. Kongreß hat den Anhängern der R.G.I. vorgeschrieben, auf welche Weise<br />

der revolutionäre Syndikalismus bekämpft werden soll. Der Spanier Maurin erklärte,<br />

daß „die Erfahrung in Spanien ihn davon überzeugt habe, daß der Kampf gegen den<br />

Anarcho-Syndikalismus eine notwendige Vorbedingung sei."<br />

In der Resolution über die Aufgaben der Anhänger der R.G.I. in den skandinavischen<br />

Ländern heißt es, es sei erforderlich, „die anarcho-syndikalistischen Führer zu<br />

entlarven, ihren Verrat an der Sache der Arbeiter aufzudecken und alles daranzusetzen,<br />

um die Leitung der Gewerkschaften ihren Händen zu entreißen."<br />

Ueber die südamerikanischen Staaten wird in einer Resolution gesagt, daß dort<br />

„die Anarchisten infolge der aus Frankreich und Spanien übertragenen syndikalistischen<br />

Traditionen einen dominierenden Einfluß ausüben. Gegenwärtig jedoch befindet sich<br />

der Anarchismus in einer inneren Krise. So schufen seine Anhänger in Erkenntnis der<br />

Fruchtlosigkeit ihrer Bemühungen gemeinsam mit den Gelben eine Einheitsfront zum<br />

Zwecke des Kampfes gegen den Anschluß an irgendeine der bestehenden internatio-


AUFRUFE DER I.A.A. 93<br />

Nachdem unsere Kameraden in verleumderischer Weise angegriffen werden, entwirft<br />

man einen Plan, wie in Zukunft mit russischen Regierungsgeldern, die aus der<br />

ausgebeuteten russischen Arbeiterklasse herausgepreßt werden, in Südamerika gearbeitet<br />

werden soll. In diesem Plane heißt es: „Der Einfluß der Anarchisten ist besonders<br />

auch darauf zurückzuführen, weil es keine kommunistische Presse gibt, wohl aber<br />

werden die lateinischen Länder Amerikas mit anarchistischer Literatur überschwemmt,<br />

die sowohl in Spanien als auch an Ort und Stelle selbst herausgegeben wird. In Anbetracht<br />

all dieser Umstände beschließt der III. Kongreß der R.G.I. folgendes:<br />

1. <strong>Die</strong> im lateinischen Amerika erscheinende Presse der Anhänger der R.G.I. soll<br />

qualitativ verbessert, ihre Auflage vergrößert und nach Bedarf die Herausgabe neuer<br />

Zeitungen und Zeitschriften vorgesehen werden.<br />

2. Sämtliche Veröffentlichungen der R.G.I. sollen nach den lateinischen Ländern<br />

Amerikas in spanischer Sprache gesandt und an Ort und Stelle ein Monatsbulletin in<br />

spanischer Sprache mit einem den lateinischen Ländern Amerikas gewidmeten speziellen<br />

Teil herausgegeben werden.<br />

3. Es sollen Anstrengungen gemacht werden, um den Anschluß der Arbeiterföderation<br />

Perus an die R.G.I. und die Vereinigung aller Gewerkschaftsorganisationen<br />

Brasiliens in einer nationalen Arbeitsföderation durchzusetzen.<br />

4. <strong>Die</strong> Tätigkeit unter den Transportarbeitern, die den Verkehr zwischen den<br />

einzelnen Ländern in der Hand haben, soll intensiver gestaltet werden, wobei die<br />

Hauptaufmerksamkeit auf die Transportarbeiterverbände in Vera Cruz und Buenos<br />

Aires zu richten ist."<br />

Kameraden Südamerikas! Man will durch den rollenden russischen Rubel auch in<br />

eure freiheitliche Arbeiterbewegung den Zwiespalt und die Korruption hineintragen.<br />

Man will durch die Leninschen Methoden des „Verschweigens der Wahrheit, der Lüge"<br />

und dergleichen, auch die Arbeiterschaft Südamerikas vor den Wagen des Staatskapitalismus<br />

und des russischen Imperialismus spannen. Wir sind überzeugt, daß diese<br />

unheilvollen Methoden, die in Rußland zu einem roten Despotismus und zu einer vollständigen<br />

Knebelung der Arbeiterschaft führten, die in Europa eine vollständige Zersetzung<br />

der Arbeiterbewegung zur Folge hatten, ein abschreckendes Beispiel für euch<br />

sein werden und ihr der „neuen Botschaft" eure Herzen und Türen verschließen werdet.<br />

Was lehrt uns die Taktik der R.G.I. und was zeitigte sie für Erfolge?<br />

In Deutschland führte der andauernde Wechsel der Parolen der R.G.I. und der<br />

Kommunistischen <strong>Internationale</strong> zu einer heillosen Verwirrung der Arbeiterschaft.<br />

Einmal hieß es: Hinein in die reformistischen Gewerkschaften, dann wieder heraus<br />

aus denselben. Noch vor einem halben Jahre hieß es: Bildung von Industrieverbänden<br />

außerhalb der Amsterdamer Zentralgewerkschaften. Es wurden bereits alle Vorbereitungen<br />

für die Neugründung „kommunistischer Gewerkschaften", die sich der<br />

R.G.I. anschließen sollten, getroffen, dann aber beschloß der Hohe Rat zu Moskau<br />

anders, und die Arbeiter wurden wieder zum Kampf um die Aufnahme in die reformistischen<br />

Gewerkschaften und zur Eroberung derselben zurückgetrieben, bis sie zuletzt<br />

nicht mehr wußten, was sie überhaupt tun sollten.<br />

In Frankreich war es nicht besser. Während zuerst gerade durch die Wühlereien<br />

der Moskauer Spaltpilze die Arbtiterkonföderation gesprengt und dann auch in die<br />

Reihen der unitären Arbeiterkonföderation durch die Hetze der Kommunisten ein<br />

Riß getrieben wurde, sollen die Arbeiter, die sich Moskau angeschlossen haben, jetzt<br />

wieder für eine Vereinigung mit Amsterdam vorbereitet werden, wie der III. Kongreß<br />

der R.G.I. beschloß. Kein Wunder, daß die französischen Syndikalisten dieses widerwärtigen<br />

Spieles müde sind und die gewerkschaftlichen Organisationen verlassen.<br />

In Holland bohrte man derart innerhalb der revolutionär-syndikalistischen NAS.,<br />

daß die Anhänger der R.G.I. jede Tätigkeit der Organisation unmöglich machten,<br />

so daß schließlich eine Spaltung vollzogen werden mußte. <strong>Die</strong> eine Hälfte blieb der<br />

Grundsätzen des revolutionären Syndikalismus treu und schloß sich der I.A.A. an, die<br />

andere Hälfte kam vollständig unter die Kontrolle der Kommunistischen Partei. Und<br />

jetzt soll sie sich vereinen mit der reformistischen Gewerkschaftsorganisation, Richtung<br />

Amsterdam.<br />

Wohin wir blicken, überall hat die Taktik der R.G.I. die größten Verwüstungen<br />

innerhalb der Arbeiterbewegung angerichtet. Und trotz der unerschöpflichen Geldmittel,<br />

die angewendet wurden, um die internationale Arbeiterbewegung zu kaufen<br />

hat Moskau keinen Erfolg gehabt. <strong>Die</strong> Arbeiterschaft beginnt endlich, die Schauke-


94<br />

AUFRUFE DER I.A.A.<br />

politik Moskaus von sich zu weisen und wendet sich in immer größeren Scharen mit<br />

Abscheu von den Nutznießern der russischen Revolution ab. <strong>Die</strong> Moskauer Diktatoren<br />

merken, daß es immer einsamer wird um sie herum, daß ihr Einfluß schwindet und<br />

daß der Wechselbalg, den sie aus der russischen Revolution gemacht haben, dem Weltproletariat<br />

keine Begeisterung mehr einflößen kann.<br />

<strong>Die</strong> Anerkennung Sowjetrußlands von einer Reihe kapitalistischer Staaten hat den<br />

Arbeitern vollends die Augen geöffnet.<br />

In dieser verzweifelten Situation griffen die Moskauer Machthaber zu ihrem<br />

letzten Rettungsanker, sie gaben die Parole heraus: Einigung mit den reformistischen<br />

Amsterdamern. <strong>Die</strong> internationale Linie, die das Exekutivkomitee der R.G.I. noch vor<br />

einem halben Jahre als die allein richtige Taktik aufgestellt hat, wurde vollständig<br />

über Bord geworfen und das direkte Gegenteil gefordert. Das wurde auch auf dem<br />

III. Kongreß zu Moskau von dem deutschen Delegierten Schumacher offen ausgesprochen.<br />

Er sagte wörtlich:<br />

„Es wird sich herausstellen, daß die Massen der revolutionären Gewerkschaftsmitglieder<br />

vollständig verwirrt und kopfscheu gemacht werden. Ich glaube, wir<br />

haben in der revolutionären Gewerkschaftsbewegung schon allerhand gesündigt durch<br />

Resolutionen und Thesen, durch Zickzackkurse und Anwendung von allerlei Einheitsfront."<br />

Ueber die Einheitsresolution mit den reformistischen Amsterdamern, die der Kongreß<br />

angenommen hat und die einer Liquidierung der R.G.I. gleichkommt, sagt derselbe<br />

Schumacher:<br />

„Ich erblicke in der hier vorgeschlagenen Resolution die Liquidierung der R.G.I.<br />

mit all ihren Konsequenzen im nationalen und internationalen Sinne. Es entsteht die<br />

Frage, ob die R.G.I. jetzt oder zu einem späteren Zeitpunkt liquidiert werden soll."<br />

<strong>Die</strong> revolutionären Arbeiter, die bis heute noch geglaubt haben, durch eine Vereinigung<br />

oder Zusammenarbeit mit Moskau die Kraft der revolutionären Arbeiterbewegung<br />

zu stärken, werden jetzt endlich kuriert worden sein. Was wir von Anfang<br />

an behauptet haben, das hat sich jetzt bewahrheitet: <strong>Die</strong> Rote Gewerkschaftsinternationale<br />

war nichts anderes als eine Etappe über Moskau nach Amsterdam. <strong>Die</strong><br />

Wankelmütigkeit der Moskauer Hampelmänner kannte keine klare Zielsetzung, ihre<br />

Parolen richteten sich ganz und gar nach den Bedürfnissen der Außenpolitik der<br />

russischen Regierung.<br />

Kameraden! Bald wird der Moskauer Spuk verflogen sein. Wenn eine Vereinigung<br />

zwischen Moskau und Amsterdam zustande kommt, dann wird die gesamte autoritäre<br />

Richtung der Arbeiterbewegung wieder unter einem Hut versammelt sein, wie es vor<br />

dem Weltkriege gewesen ist. <strong>Die</strong>se Richtung ist eine Fortsetzung des marxistischen<br />

Flügels der Ersten <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation. Ihr gegenüber steht die Fort-<br />

Setzung des bakunistischen Flügels der Ersten <strong>Internationale</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong><br />

Arbeiter-Assoziation, die im Dezember 1922 ins Leben trat.<br />

Wie in der Ersten <strong>Internationale</strong> der marxistische Zentralismus zu einer Spaltung<br />

der gesamten Bewegung führte, die Arbeiterschaft zur parlamentarischen Ohnmacht<br />

verdammte und zur Gesetzesgläubigkeit erzog, so will auch heute der verderbliche<br />

Zentralismus, der in Moskau bis ins Groteske entwickelt wurde, die Arbeiterbewegung<br />

in seinen verhängnisvollen Bannkreis ziehen. Das revolutionäre Zentrum der Welt<br />

liegt heute aber nicht mehr im bolschewistischen Moskau, die revolutionären Zentren,<br />

die allein den Sturz des Kapitalismus und eine freie Gesellschaft herbeiführen können,<br />

liegen in der direkten Aktion der Arbeiterschaft in den Betrieben, in den Gruben, auf<br />

den Feldern, in den Werkstätten. <strong>Die</strong>se Aktionskraft wird nur gefördert durch den<br />

Föderalismus, der der freien Iniative Spielraum gibt. Moskau hat die Revolution ertötet.<br />

Moskau will die Arbeiterschaft dem Reformismus in die Arme treiben; die<br />

<strong>Internationale</strong> Arbeiter-Assoziation erweckt die revolutionären Traditionen zu neuem<br />

Leben und verkündet den Kampf gegen jeden Zentralismus und Reformismus, den<br />

Kampf gegen den Kapitalismus und Staat, für freie Bündnisse aller Schaffenden.<br />

Das Verwaltungsbüro der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation.


BERICHTE AUS DEN VERSCHIEDENEN LANDERN 95<br />

Berichte der<br />

Landesorganisationen der verschiedenen Länder.<br />

Wir bringen hier die Berichte der an die I.A.A. angeschlossenen Sonderorganisationen<br />

zum Abdruck. <strong>Die</strong>se Berichte bieten ein so reichhaltiges<br />

Material über den Charakter der revolutionären Bewegung in den verschiedenen<br />

Ländern, daß wir sie nicht warm genug zur Lektüre empfehlen können. Hier<br />

kommen vor allem auch diejenigen auf ihre Kosten, die den Wunsch verlauten<br />

ließen, die Revue der I.A.A. möge Geschichte und Wesen der syndikalistischen<br />

Bewegung anderer Länder behandeln. Wir empfehlen den Arbeiterblättern<br />

angelegentlichst den Abdruck dieser Berichte, wobei Quellenangabe nicht vergessen<br />

werden möge. <strong>Die</strong> Redaktion.<br />

ARGENTINIEN<br />

Bericht der „Federacion Obrera Regional Argentina" — „Regionale Arbeiterföderation<br />

Argentiniens" zum zweiten Kongreß der „<strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation"<br />

(I.A.A.)<br />

Kameraden!<br />

<strong>Die</strong> Tatsache eines internationalen<br />

Feldzuges durch die Mittel der Verleumdung<br />

und der Diskreditierung gegen unsere<br />

Föderation und die Leichtgläubigkeit,<br />

die von der anarchistischen und anderen<br />

Arbeiterpresse verschiedener Länder<br />

den Angaben einiger unverantwortlicher<br />

Kreise entgegengebracht wurde,<br />

nötigt uns, dem zweiten Kongreß der<br />

IAA. einen ebenso ausführlichen wie unwiderlegbaren<br />

Bericht über die revolutionäre<br />

Arbeiterbewegung in Argentinien zu<br />

unterbreiten.<br />

Wir bedauern zwar den Aufwand an<br />

Zeit und Kraft, den die Klärung unserer<br />

Angelegenheit von den Kongreßmitgliedern<br />

fordern wird, aber wir sind überzeugt,<br />

daß diese Arbeit bitter notwendig<br />

ist, denn nur von dieser Stätte aus kann<br />

der gute Ruf ausgehen, daß der gleiche<br />

brüderliche, solidarische Geist in der argentinischen<br />

Föderation rege ist wie in<br />

allen Organisationen, die der IAA. angeschlossen<br />

sind.<br />

Wir haben bis jetzt beobachten können,<br />

daß die revolutionäre Bewegung Argentiniens<br />

in Europa fast ganz unbekannt ist.<br />

Nicht nur in den germanischen und skandinavischen<br />

Ländern, sondern auch in den<br />

romanischen. Auf jeden Fall werden in<br />

Europa unsere Kämpfe nicht mit demselben<br />

Interesse verfolgt, wie wir alle<br />

Vorgänge, Kämpfe und idealen Bestrebungen<br />

unserer Schwesterorganisationen<br />

in Europa verfolgen.<br />

In bezug auf die germanischen und<br />

skandinavischen Länder können wir die<br />

Unkenntnis über unsere Bewegung in<br />

Argentinien durch mangelnde Kenntnis<br />

unserer Sprache erklären und entschuldig<br />

gen. Was aber die romanischen Länder<br />

betrifft, so scheint es uns, daß diese nur<br />

so viel Interesse unserer Bewegung entgegenbringen,<br />

als sie uns mehr als eine<br />

Quelle der materiellen Solidarität schätzen,<br />

mit deren Hilfe sie die Kämpfe in der<br />

heimischen proletarischen Bewegung auszufechten<br />

vermögen. Einige Beispiele<br />

mögen die mangelhafte Kenntnis über<br />

unsere Bewegung in Argentinien, wie sie<br />

bei den europäischen Kameraden vorherrscht,<br />

belegen. Da ist zunächst die<br />

günstige Aufnahme der von gewissenlosen<br />

Subjekten in der Arbeiter- und zum<br />

Teil anarchistischen Presse verübten verlogenen<br />

und feindseligen Schilderungen<br />

über uns und unsere Bewegung. Wie oft<br />

schenkten viele unserer europäischen<br />

Kameraden dunklen Elementen Glauben,<br />

die mit jesuitischen Mitteln und Methoden<br />

gegen unsere Föderation ankämpften.<br />

So haben wir z. B. in der Zeitung „Freedom",<br />

die in London erscheint, einen von<br />

W. C. Owen unterzeichneten Artikel über<br />

Argentinien gelesen, in dem unter ans<br />

deren Behauptungen folgendes gesagt<br />

wird:<br />

„<strong>Die</strong> anarchistische Bewegung war<br />

hier besonders aktiv und wurde während<br />

mehrerer Jahre von der „Protesta"<br />

geleitet, einer beachtenswerten Zeitung,<br />

Dann entwickelte sich parallel mit<br />

dieser Zeitung eine syndikalistische Bewegung,<br />

die „Federacion Obrera Regional<br />

Argentina" (Regionale Arbeiten<br />

föderation) — F.O.R.A. —, und jetzt<br />

scheinen beide, Organisation und<br />

„Protesta", sich in der Richtung Moskau<br />

entwickelt zu haben."


96<br />

Auch die spanischen Kameraden sind<br />

schlecht informiert, und sie scheinen sich<br />

auch nicht belehren zu lassen. Das hindert<br />

uns allerdings nicht, in unserer Presse<br />

eine Sammlung für die Opfer der spanischen<br />

Reaktion zu veranstalten und auch<br />

sonst alles denkbar Mögliehe zu tun, um<br />

unserer Solidarität mit dem spanischen<br />

Proletariat und seinen Kämpfen Ausdruck<br />

zu geben.<br />

In der in New-York erscheinenden russischen<br />

Zeitung „Amerikanskie Izwestie"<br />

konnten wir lesen, daß wir die Schüler der<br />

kommunistischen Tscheka sein sollen,<br />

weil einige Geschehnisse „als die Früchte<br />

der anarchistisch-syndikalistischen Ideologie"<br />

bezeichnet wurden.<br />

Aehnliches lasen wir auch in der französischen<br />

und italienischen Presse, und<br />

wir wissen, daß alle Organisationen der<br />

„<strong>Internationale</strong>n Arbeiterassoziation" und<br />

ihre bekanntesten Mitglieder Briefe<br />

und Zeitungen bekommen haben, worin<br />

wir in übelster Weise angegriffen werden.<br />

Es ist also im Namen der Brüderlichkeit<br />

und der Solidarität, die alle Mitglieder<br />

der <strong>Internationale</strong> untereinander verbinden<br />

soll, notwendig, daß der Kongreß<br />

unsere Gesamtdarlegungen auf ihre Richtigkeit<br />

und als im Einklang mit den<br />

Grundsätzen der l.A.A. stehend nachprüft.<br />

Wenn sich die geschilderten Unzulänglichkeiten<br />

in nächster Zeit wiederholen<br />

würden, könnten wir gar nicht anders<br />

handeln, wie wir bis jetzt gehandelt haben.<br />

<strong>Die</strong>se Notwendigkeit ergibt sich<br />

schon aus den folgenden Erklärungen,<br />

die für die harte Kritik unserer Gegner<br />

den Anlaß gaben. Wir können unsere<br />

Gesamthaltung getrost verantworten,<br />

denn sie ist der getreue Ausdruck der<br />

eigenen Geschichte dieses Landes und der<br />

von dieser Geschichte bedingten Propaganda-<br />

und Organisationsarbeit, wie wir<br />

sie entfalten.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiterbewegung in Argentinien<br />

reicht zurück in die Zeit der ersten <strong>Internationale</strong>.<br />

Es waren die freiheitlichen<br />

spanischen, italienischen, belgischen und<br />

französischen Propagandisten, welche ihr<br />

die ersten Impulse gäben, und deshalb<br />

darf unsere Föderation mit einigem Stolz<br />

von sich sagen, daß sie es verstanden hat,<br />

die Tradition der antiautoritären I. <strong>Internationale</strong><br />

zu erhalten, ohne die Notwendigkeiten<br />

des täglichen Lebens und Kampfes<br />

deshalb zu vernachlässigen.<br />

ARGENTINIEN<br />

<strong>Die</strong> Föderation und die Zeitung<br />

„La Protesta".<br />

In Argentinien erscheint eine anarchistische<br />

Tageszeitung, die bereits 28 Jahre<br />

ihre kritische Arbeit verrichtet. Seit ihrer<br />

Gründung im Jahre 1897 hat sie sich allmählich<br />

zu einer Art „offiziellen" Organs<br />

der revolutionären argentinischen<br />

Bewegung entwickelt. Ihre Geschichte<br />

ist eng verbunden mit der Geschichte der<br />

proletarischen Kämpfe des Landes überhaupt.<br />

Seit mehr als einem Vierteljahrhundert<br />

hat die Zeitung es verstanden,<br />

breite Massen der Arbeiterklasse aufzurütteln.<br />

Trotz sechs bis sieben erfolgter<br />

Versuche durch Gründung neuer Organe,<br />

ihren Einfluß zu schwächen, verficht<br />

„La Protesta" heute noch dieselben<br />

Grundsätze wie vor mehr als 25 Jahren.<br />

Als die argentinische Arbeiterföderation<br />

„F.O.R.A." 1901 gegründet wurde, fand sie<br />

in der „Protesta" das beste Mittel zur<br />

Propaganda, und fast alle Kongresse haben<br />

dieser Zeitung ihre Sympathie erklärt,<br />

eine Sympathie, welche sich im Laufe der<br />

vielen furchtbaren Verfolgungen, die über<br />

diesen unerschrockenen Kämpfer hereinbrachen,<br />

seither nur noch gesteigert hat.<br />

<strong>Die</strong> Harmonie zwischen der „Protesta"<br />

und der F.O.R.A. bekundet zur Genüge<br />

den starken Stützpunkt für das Gedeihen.<br />

Anderseits erfreut sich die „Protesta"<br />

unter den Mitgliedern der F.O.R.A. höchster<br />

Wertschätzung wie auch des materiellen<br />

Beistandes, wodurch die Existenz<br />

der Zeitung sichergestellt ist. <strong>Die</strong> Bedeutung<br />

dieser ebenso fruchtbaren wie natürlichen<br />

Harmonie zwischen „Protesta"<br />

und Arbeiter-Föderation ist der Reaktion<br />

wohlbekannt. Sie verteilt abwechselnd<br />

ihre Angriffe auf beide Institutionen, auf<br />

die Zeitung und auf die Organisation, da<br />

(für Anarchisten selbstverständlich) beide<br />

ihre selbständige Organisation haben. Natürlich<br />

sind unsere Gegner nicht darüber<br />

im Zweifel, daß die F.O.R.A. und „La<br />

Protesta" in ihrer Wirksamkeit unzertrennliche<br />

Kameraden sind, eine Binsenweisheit,<br />

die unsere Gegner oft zur Verwendung<br />

erbärmlichster Kampfmittel verleitet.<br />

Aus alledem geht hervor, wie<br />

segensreich die kameradschaftlichen<br />

Wechselbeziehungen zwischen unserer<br />

Organisation und dem Organ „La Protesta"<br />

für das Gedeihen beider wirken.<br />

Aus dieser Tatsache erklärt sich auch der<br />

dauernd rege Geist, der die Organisation<br />

und Zeitung miteinander verbindet. Und<br />

aus dieser inneren Geschlossenheit rcsul-


tiert auch die feste Ueberzeugung,<br />

daß die eine oder die andere sich kaum<br />

ihrer Gegner erwehren, geschweige gedeihen<br />

könnte.<br />

<strong>Die</strong> F.O.R.A. als Gegnerin der Sozialdemokratie<br />

und der bürgerlichen Parteien.<br />

Ursprünglich war die F.O.R.A. immer<br />

eine syndikalistische Organisation, mit<br />

ausgesprochener anarchistischer Tendenz,<br />

wie die Juraföderation, wie die spanische<br />

Föderation der <strong>Internationale</strong> usw. Und<br />

es ist sehr charakteristisch, daß in Argentinien<br />

niemals die anarchistische Idee<br />

ohne syndikalistische Tendenz hat aufkommen<br />

können, wie wir heute Vergleichsweise<br />

in Italien, in Frankreich, in den<br />

skandinavischen und germanischen Ländern<br />

beobachten, wo ausgesprochen anarchistische<br />

Organisationen bestehen, die<br />

sich nach unserm Dafürhalten mangels<br />

dieser Geschlossenheit vielfach ihre Wirksamkeit<br />

in der Gesamtarbeiterbewegung<br />

beeinträchtigt haben. <strong>Die</strong> F.O.R.A. entwickelte<br />

sich gesund bis zu rein anarchistischer<br />

Weltanschauung, weil ihre Mitglieder<br />

teils gefestigte Anarchisten, teils<br />

mit dem Anarchismus sympathisierende<br />

Arbeiter waren. Dadurch erklärt sich die<br />

Tatsache, daß seit wenigen Jahren die<br />

ganze anarchistische Bewegung, dargestellt<br />

durch die Syndikate, die Gruppen, die<br />

Presse usw., ein harmonisches, ineinandergreifendes<br />

Ganzes bilden und ein<br />

brüderliches Milieu darstellen, ohne<br />

sichtbare Linien der Trennung. <strong>Die</strong><br />

F.O.R.A. betrachtet die ganze, durch freiheitliche<br />

Ideen genährte Bewegung wie<br />

ihre eigene Ausstrahlung. <strong>Die</strong> Grenzen<br />

zwischen den Syndikaten, den Gruppen<br />

und den Einzelmitgliedern, die alle den<br />

Anarchismus als Endziel betrachten, sind<br />

kaum erkennbar. Hier mögen einige Beispiele<br />

der proletarischen Geistesverfassung<br />

in Argentinien folgen:<br />

Zwischen der antiautoritären Bewegung<br />

einerseits und der Sozialdemokratie und<br />

den bürgerlichen Parteien anderseits bestand<br />

eine natürliche Trennungslinie. <strong>Die</strong><br />

unfruchtbare Polemik innerhalb der Opposition<br />

gegen die autoritären Tendenzen<br />

veranlaßte uns, den unwesentlichen Trennungspunkten<br />

zwischen den einzelnen Anarchisten<br />

nachzuforschen. Wir können<br />

versichern, daß jetzt Argentinien einer<br />

der ersten Sieger ist unter jenen Ländern,<br />

wo die marxistische Irrlehre im Kampfe<br />

gegen den Anarchismus die größten Niederlagen<br />

erlitten hat. Als ums Jahr 1900<br />

die Sozialdemokraten versuchten, Eingang<br />

in die Massen der Arbeiter zu gewinnen.<br />

ARGENTINIEN 97<br />

trat gegen diese Versuche ein Gegner<br />

hervor von der Wucht eines Pietro Gori.<br />

In den öffentlichen Versammlungen, in<br />

den Theatern und in der Presse erlitten<br />

die Sozialdemokraten Niederlagen, von<br />

denen sie sich nicht wieder erholten. Als<br />

später unter der Vormundschaft der Sozialdemokratie<br />

die Theorie des Sydikalismus<br />

in dem Geiste auftrat, wie er in<br />

Frankreich nach der Deklaration von<br />

Amiens erschien, befleißigte sich die<br />

F.O.R.A. natürlich einer reinigenden Opposition<br />

dieser neuen Richtung gegenüber,<br />

die dann auch im Lande keinen Fuß fassen<br />

konnte. So verfolgen wir geschiehtlich-sachlich<br />

die freiheitliche Entwicklung<br />

in Argentinien nach der Richtung der<br />

I. <strong>Internationale</strong> ganz antiautoritär.<br />

Abgesehen von dieser Bewegung, die<br />

ausgesprochen ihre geistige Nahrung aus<br />

den geraden Richtlinien der „Protesta"<br />

bezog, entstanden spontan jene individualistischen<br />

Grüppchen, die jedwede Organisationspflicht<br />

ablehnten, eine Erscheinung,<br />

wie sie in allen Ländern bekannt ist, und<br />

bei denen von irgendwelchem Einfluß auf<br />

die Massen schon gar nicht die Rede sein<br />

kann.<br />

Das Spiel des Strebertums.<br />

Wie jede mächtig aufflammende Bewegung,<br />

hatte auch die unsrige periodisch<br />

starken Zulauf von jenen Elementen,<br />

denen es heiliger Ernst damit ist, ihr<br />

eigenes persönliches Süpplein an dem Begeisterungsfeuer<br />

innerhalb der Organisation<br />

zu kochen. Es konnte deshalb auch<br />

nicht ausbleiben, daß sich derartige Spekulanten<br />

in unserer Organisation einfanden,<br />

ein gewisses Maß von Vertrauen zu<br />

erschleichen wußten und dann die gewonnene<br />

Popularität als Sprungbrett benutzten<br />

um an staatlichen oder bürgerlich-parteipolitischen<br />

Stellen gutbezahlte<br />

Pfründen zu erwischen.<br />

So finden wir auch in der bürgerlichen<br />

Presse Argentiniens eine Reihe unzulänglicher<br />

Köpfe, die im Laufe der Jahre als<br />

Redakteure und Mitarbeiter der „Protesta"<br />

tätig waren und im Bordell kapitalistischer<br />

Journalistik versanken, als das<br />

bißchen revolutionäre Strohfeuer der<br />

Jugend verflackert war.<br />

Auch in den reformistischen Gewerkschaften<br />

dieses Landes fand mancher<br />

dieser Kastranten den ersehnten gedeckten<br />

Tisch, so der Ex-Anarchist F. Garcia in<br />

der Organisation der Matrosen, so der Ex-<br />

Anarchist Mansilla in der Organisation<br />

der Eisenbahner, beides Organisation-


98 ARGENTINIEN<br />

gebilde, die jedes revolutionären Geistes<br />

bar und bloß sind.<br />

Durch schmerzliche Erfahrungen gewitzigt,<br />

haben sich seither die Organisationen<br />

der F.O.R.A. und die Redaktion<br />

der „La Protesta" gegenüber spekulativen<br />

Elementen mit einem soliden Mißtrauen<br />

gepanzert, wodurch Wiederholungen nach<br />

Möglichkeit vorgebeugt wird. Immerhin,<br />

wir haben bittere Enttäuschungen erlebt mit<br />

vielen überlauten Lippenrebellen, die unseren<br />

Reihen den Rücken kehrten, sobald<br />

sie ein sicheres und angenehmeres Leben im<br />

Bürgertum oder der Staatsbürokratie fanden,<br />

sich als die raktionärsten und skrupellosesten<br />

Gegner ihrer früheren Kameraden<br />

zeigten und die die Ideenwelt, in<br />

der sie früher gelitten und gestritten, mit<br />

den infamsten Mitteln zu erniedrigen<br />

suchten. Ich glaube nicht, daß die bürgerliche<br />

Presse je schamlosere und verleumderischere<br />

Artikel veröffentlichte, als<br />

jene aus der Klaue unserer desertierten<br />

früheren Kameraden. Es ist klar, daß<br />

die Erinnerung an solche schmerzhaften<br />

Erfahrungen ein wenig das Vertrauen<br />

jener schwächte, die verantwortungsvolle<br />

Posten in der Propaganda und in der Organisation<br />

der Bewegung innehatten.<br />

Ganz instinktiv waren wir genötigt, eine<br />

schärfere Kontrolle auszuüben, und dieses<br />

scharfe Vorgehen im Interesse der Selbsterhaltung<br />

veranlaßte viele Träger von<br />

Strebergelüsten in unseren eigenen Reihen,<br />

sich jenseits der Barrikade zurückzuziehen.<br />

Eine Gruppe von Dissidenten.<br />

Wir wollen nun einige Worte einer<br />

Gruppe von Dissidenten widmen, die<br />

keine geringeren Ziele hatten, als den Verlag<br />

der Zeitungen und die Redaktion der<br />

„La Protesta" sowie auch den Föderal-<br />

Rat-) der F.O.R.A. unter ihren Einfluß<br />

zu bringen.<br />

<strong>Die</strong> Gruppe bildete sich in der Stadt<br />

Rosario aus einigen Genossen, unter<br />

denen die fähigsten: Garcia, Thomas und<br />

Fernando Gonzalo (J. M. Suarez) waren.<br />

Sie tauchten in unseren Reihen nach der<br />

großen Reaktion von 1910 auf. Der letztere,<br />

damals ein junger Student, wurde<br />

infolge seiner regen Propaganda 1911 nach<br />

Usuhaia deportiert. Ohne besondere<br />

Nachfrage ihres Vorlebens, wurden sie<br />

brüderlich im anarchistischen Lager empfangen<br />

und genossen in kurzer Zeit eine<br />

-) <strong>Die</strong> einzelnen Berufs- oder Industriefoderalionen<br />

senden je einen Vertreter In einen Ausschuß,<br />

der die Gesamtorganisation fürs ganze Land repräsentiert.<br />

<strong>Die</strong>ser Ausschuß wird ,,F ö d e r a l r a t"<br />

genannt.<br />

relative Popularität. Nach seiner Rückkehr<br />

von Usuhaia begann Fernando Gonzalo<br />

mit den liberalen Politikern zu liebäugeln,<br />

bekam auch ein öffentliches Amt.<br />

Er entging bald jeder Beargwöhnung dank<br />

der Protektion verschiedener einflußreicher<br />

Personen, unter ihnen des Deputierten<br />

Cabarello und kam so um den<br />

größten Teil des Vertrauens in unseren<br />

Kreisen. Trotzdem konnte dieser Mensch<br />

auffälligerweise noch eine Zeitlang in unserer<br />

Zeitung schriftstellerisches Interesse<br />

für unsere Sache heucheln. Eine Toleranz,<br />

die sich später bitter für uns fühlbar<br />

machte. Fernando Gonzalo wurde dann<br />

wegen verschiedener Verfehlungen in<br />

Rosario verfolgt und entzog sich den zu<br />

erwartenden Folgen durch die Flucht.<br />

Wurde dann vom Unterrichtsminister<br />

Amavet (ob diesem die Vergangenheit<br />

seines Schützlings bekannt war, sei dahingestellt)<br />

als Lehrer an einer der besten<br />

Schulen angestellt, wodurch ihm die<br />

sichere Verhaftung erspart blieb. <strong>Die</strong> letzten<br />

vier Jahre war Fernando Gonzalo in<br />

der Provinz Tucuman beamtet. — Wir<br />

überlassen es dem Kongreß, aus den kautschukelastischen<br />

Wandlungen dieses<br />

Mannes Schlüsse auf dessen Motive und<br />

Charakter zu ziehen. Wir sagen schlicht:<br />

Ein Mensch, der mit solcher Gewandtheit<br />

von einem öffentlichen Amt in das<br />

andere zu schlüpfen weiß und sich zudem<br />

noch der Protektion der politischen Parteien<br />

zu sichern versteht, ein solcher<br />

Mensch hat weder in den Funktionärstellen<br />

der F.O.R.A. noch in der Redaktion<br />

und Verwaltung der „Protesta" das geringste<br />

mehr zu suchen.<br />

Ein weiterer Vorgang:<br />

Aus der erwähnten Gruppe wurde eines<br />

ihrer Glieder in unserer Zeitung „La Protesta"<br />

als Administrator eingeschwärzt.<br />

Nach kurzer Zeit hatte dieser Wackere<br />

nicht nur radikal abgewirtschaftet, sondern<br />

hinterließ zur Erinnerung noch eine<br />

Schuldenlast von etwa 10000 Pesos. <strong>Die</strong><br />

kritiklose Vertrauensseligkeit unserer Kameraden<br />

gegenüber dieser Gruppe Fernando<br />

Gonzalo, Garcia Thomas und Konsorten<br />

verkehrte sich erst in ihr gesundes<br />

Gegenteil, als man entdeckte, daß diese<br />

Individuen die bewußten Werkzeuge eines<br />

anonymen Konzerns waren, der durch<br />

einen systematischen Verleumdungsfeldzug<br />

unsere besten Genossen zu schädigen<br />

versuchte und mit denselben meuchlerischen<br />

Mitteln der Redaktion von „La<br />

Protesta" das Leben und die Arbeit sauer<br />

machte. Daß zwischen rechtschaffenen


Genossen und solchen Elementen das<br />

Tischtuch für immer zerschnitten werden<br />

muß, erfordert das elementarste Reinlichkeitsgefühl<br />

unserer Organisationen und<br />

ihrer Mitglieder.<br />

<strong>Die</strong> russische Revolution.<br />

Das Echo der russischen Revolution<br />

entfachte in diesem Lande eine lodernde<br />

Begeisterung. <strong>Die</strong> F.O.R.A. stand auch<br />

hier, wie in allen Perioden revolutionärer<br />

Vorstöße im Zentrum der ganzen Bewegung.<br />

Ihr Einfluß stieg von Tag zu Tag.<br />

Eine Organisation, die sich 1915 gebildet<br />

hatte, um unserer Organisation den Rang<br />

abzulaufen, bekannt unter dem Namen<br />

"F.O.R.A des neunten Kongresses", mußte<br />

gar bald ihre eigene Ohnmacht einsehen<br />

und war zur Zeit des „Kongresses de la<br />

Plata", im Februar 1921, bereits der Auflösung<br />

verfallen. Ihre Einzelgruppen erklärten<br />

sich entweder autonom oder sie<br />

schlossen sich unserer Föderation an.<br />

Als der Bolschewismus blitzschnell die<br />

Gemüter für sich einnahm, bekundete<br />

„La Protesta" dieser Erscheinung gegenüber<br />

zwar lebhafte Sympathie, bewahrte<br />

aber in ihrer Stellungnahme von vornherein<br />

eine kühle Reserve und beobachtet<br />

in nüchterner Ruhe die weitere Entwicklung<br />

der russischen Revolution. <strong>Die</strong>se<br />

Haltung entsprach aber durchaus nicht<br />

der Auffassung der Dissidentengruppe.<br />

<strong>Die</strong>se ging sofort ans Werk, eine anarchobolschewistische<br />

Zeitung neben der „La<br />

Protesta" herauszugeben. <strong>Die</strong> neue Tageszeitung<br />

„La Bandera Roja" (<strong>Die</strong> Rote<br />

Fahne) nutzte die Situation geschickt aus<br />

und brachte es in kurzer Zeit zu einer<br />

Auflage von 20 000 Exemplaren. Es ist<br />

jedoch ein beredtes Zeichen für den Geist<br />

innerhalb der F.O.R.A., daß auch die Auflage<br />

der „La Protesta" gleichzeitig um das<br />

Doppelte und das Dreifache in die Höhe<br />

schnellte.<br />

Im Januar 1919 erlebten wir die sogenannte<br />

„blutige Woche" in Buenos-<br />

Aires, der eine revolutionäre Erhebung<br />

vorausging, die in der ersten Phase zu<br />

siegen und die Herren der Hauptstadt zu<br />

werden schien. Es kam anders. Eine der<br />

brutalsten Unterdrückungen setzte ein,<br />

der Tausende von Arbeitern zum Opfer<br />

fielen und in deren Verlauf nach Angaben<br />

der bürgerlichen Presse 1500 Tote und<br />

4000 Verwundete aus beiden Lagern auf<br />

der Strecke blieben. Dann wütete, wie<br />

gewöhnlich, die finsterste Reaktion. Unsere<br />

Lokale wurden geschlossen, das Versammlungsrecht<br />

aufgehoben. Deportationen<br />

und Verhaftungen wurden mit<br />

ARGENTINIEN 99<br />

äußerster Rücksichtslosigkeit gehandhabt,<br />

entschieden härter wie im Jahre 1910.<br />

Unsere Presse wurde sofort verboten, die<br />

Druckereien militärisch besetzt. <strong>Die</strong><br />

Männer um „La Bandera roja", im Wahne<br />

mit ihren Anhängern die organisierte Gewalt<br />

durch Gegengewalt übertrumpfen zu<br />

können, unternahmen den törichten Versuch,<br />

dem Verbot zu Trotz ihre Zeitung<br />

erscheinen zu lassen, was ihre Prozessierung<br />

und zudem erneute Deportationen<br />

nach Usuhaia zur Folge hatte.<br />

Vier Monate später erschien „La Protesta"<br />

wieder auf dem Plan. <strong>Die</strong> Arbeiterlokale<br />

öffneten sich und die Propaganda<br />

arbeitete energischer als vor der unvergeßlichen<br />

blutigen Woche des Januar.<br />

<strong>Die</strong> Erinnerung an gemeinsames Leid<br />

zeitigte dann das Bedürfnis nach Aussöhnung<br />

aller Klassengenossen, ohne Unterschied<br />

des Bekenntnisses, zu gemeinsamer<br />

Arbeit. So aussichtslos dies Beginnen auf<br />

die Dauer erscheinen mußte, soviel an uns<br />

lag, hat keine Richtung ehrlicher dazu die<br />

Hand geboten als wie die Organisation der<br />

F.O.R.A.<br />

Der „Streik der Bomben".<br />

Gelegentlich der Erneuerung des<br />

Rates der F.O.R.A., Ende des Jahres 1919,<br />

meldeten sich bei uns zwei junge Leute<br />

zur Aufnahme, die auch aufgenommen<br />

wurden. Sie waren zwar Neulinge in<br />

unserer Ideenwelt, erwiesen sich aber als<br />

anstellig und rednerisch begabt. Sie<br />

hießen A. A. Gonzalvez und Sebastian<br />

Ferrer und wurden bald als Sekretär und<br />

Vizesekretär des Föderal-Rates verwendet.<br />

Gleichzeitig hegten sie aber hehre<br />

Sympathie für die Diktatur des Proletariats<br />

im Busen und hatten deshalb auch<br />

Fühlung mit den Leuten von der „Bandera<br />

roja" (Roten Fahne), von denen<br />

mehrere noch in Usuhaia waren. Durch<br />

diesen Mangel reinlicher organisatorischer<br />

Scheidung wurde es möglich, daß Mitglieder<br />

der erwähnten Dissidentengruppe<br />

in verantwortungsvolle Posten der<br />

F.O.R.A. gelangen konnten. Hier benutzten<br />

sie ihren Einfluß, um die Kräfte der<br />

F.O.R.A. in gemeinsamer Front zugunsten<br />

der Befreiung der Deportierten mit den<br />

Kreisen der „Roten Fahne" zu bringen.<br />

Gegen diesen Zweck wäre an sich nichts<br />

einzuwenden gewesen, wenn alles in Aufrichtigkeit<br />

zugegangen wäre. Aber daran<br />

fehlte es. So kam es, daß versucht wurde,<br />

unsere Mittel der direkten Aktion mit<br />

dem Bombast der Politiker zusammenzukuppeln,<br />

wonach das Mißtrauen der<br />

F.O.R.A von vornherein als gerechtfertigt<br />

erschien.


100<br />

Unter solch verworrenen Zuständen<br />

kam im März 1920 der Generalstreik zugunsten<br />

der Befreiung der politischen Gefangenen<br />

zustande. Entgegen aller Erfahrung<br />

und allen Regeln marxistischer<br />

Taktik wurde dieser Streik mit dem bekannten<br />

großen Maul und mit der Drohung<br />

angekündigt, daß eventuell Bomben<br />

in der Hauptstadt der Republik explodieren<br />

würden. Bei den Vorbereitungen zum<br />

Streik zeigten zudem auch die im proletarischen<br />

Kampf bewährten Genossen eine<br />

gereizte Haltung, die man sich nicht mit<br />

Gewißheit erklären konnte, die aber zahlreiche<br />

Verhaftungen zur Folge hatte. <strong>Die</strong><br />

anerkanntesten Mitglieder der F.O.R.A.<br />

beobachteten deshalb mit kühler Ruhe und<br />

Mißtrauen die Vorbereitungen zum Generalstreik.<br />

<strong>Die</strong> Redaktion von „La Protesta"<br />

weigerte sich entschieden, sich und<br />

die Sache des Anarchismus in dieser<br />

kopflos inszenierten Bewegung zu kompromittieren.<br />

Half alles nichts! Der inzwischen<br />

gewählte Generalrat der F.O.R.A.<br />

proklamierte den Generalstreik, während<br />

die Diskussionen über diesen folgenschweren<br />

Schritt noch eifrig weiter plätscherten.<br />

Dem wüsten Durcheinander der Vorbereitungen<br />

entsprach dann auch das Endresultat:<br />

Ein absoluter Reinfall für unsere<br />

Organisation, der dem Fluch der Lächerlichkeit<br />

anheimfiel. <strong>Die</strong> angekündigten<br />

berühmten Bomben, die Tod und Verderben<br />

speien sollten, fielen alle in die Hände<br />

der Polizei. Unsere Kameraden, die sich<br />

im guten Glauben an den Vorbereitungen<br />

des Streiks beteiligt hatten, wurden alle<br />

verhaftet. Nur die geistigen Urheber<br />

dieses mehr als fragwürdigen Spektakel-<br />

Stücks wurden ganz und gar nicht belästigtl<br />

Natürlich! Denn einige Monate<br />

später stellte sich heraus, daß dieser Streik<br />

durch das Polizeidepartement mit Hilfe<br />

seines Agenten (Juan Portas) inspiriert<br />

worden war. <strong>Die</strong>se schofelste aller Kreaturen<br />

hatte das unverdiente Glück, 1923<br />

eines natürlichen Todes zu sterben. Einen<br />

hoffentlich dauernden Vorteil hatte diese<br />

Tragikomödie aber doch im Gefolge: Geeignete<br />

Kontrollmaßnahmen, die in Zukunft<br />

das Einschwärzen zweideutiger<br />

Elemente an verantwortlichen Stellen verhindern<br />

werden.<br />

Der außerordentliche Kongreß der<br />

F.O.R.A.<br />

Während der letzten September- und<br />

ersten Oktobertage 1920 tagte in Buenos-<br />

Aires ein außerordentlicher Kongreß der<br />

F.O.R.A. Daran nahmen teil: Etwa 400<br />

ARGENTINIEN<br />

Organisationen, die der Föderation der<br />

F.O.R.A. angeschlossen waren, 56 autonome<br />

Organisationen und 192, die mit den<br />

Grundsätzen der F.O.R.A. sympathisierten.<br />

<strong>Die</strong>se Gesamtvertreter boten ein Bild<br />

hoffnungsvoller Stärke. Fast einstimmig<br />

bekannten sich die Teilnehmer zum kommunistischen<br />

Anarchismus. Eine Ent-<br />

Schließung, die sich vollständig mit der<br />

Entschließung des Kongresses von 1905<br />

deckte. Zwar traten in den vorher gepflogenen<br />

Diskussionen Neigungen zur<br />

parteikommunistischen „Diktatur des Proletariats<br />

zutage, die sich jedoch nach<br />

stündlichem Meinungsaustausch reibungslos<br />

verflüchtigten.<br />

<strong>Die</strong>sen Entschließungen reihten sich<br />

noch zwei weitere an, die sich auf die<br />

Bildung einer <strong>Internationale</strong> der Anarchisten-Syndikalisten<br />

bezogen und nach<br />

den Grundsätzen der I. <strong>Internationale</strong><br />

gestaltet werden sollte.<br />

Um die Wiederkehr aussichtsloser Fusionsanträge<br />

herabzumindern, wurde nach<br />

eingehender Diskussion eine weitere Resolution<br />

angenommen, wonach derartige<br />

Anträge nur dann zur Beratung gelangten,<br />

wenn sie nicht im Widerspruch mit den<br />

Grundlagen der F.O.R.A. stehen.<br />

Zudem akzeptierte der Kongreß eine<br />

von der F.O.R.A. des neunten Kongresses<br />

aufgestellte Forderung, die sich mit der<br />

Befreiung von wegen Teilnahme an sozialen<br />

Kämpfen verurteilten Gefangenen<br />

befaßt, unausgesetzten Kampf gegen reaktionäre<br />

Gesetzgebung und absolute Freiheit<br />

für die gesamte Arbeiterpresse<br />

fordert.<br />

Das Problem der Einigung.<br />

Gestützt auf die Resolutionen eines<br />

außerordentlichen Kongresses und im<br />

guten Glauben betrieben wackere Genossen<br />

die Zusammenfassung aller Arbeiterassoziationen<br />

in eine einzige zentralistische<br />

Organisation. Das waren die gutgläubigen<br />

Nachläufer der „Bandera Roja". Urheber<br />

waren die Macher dieses Blattes, denen<br />

die Deportation nach Usuhaia die Märtyrerkrone<br />

eingebracht hatte, von dem<br />

Präsidenten der Republik, dem Schlaumeier<br />

Irigoyen, aber bald amnestiert wurden,<br />

um sie als wirkungsvolle Maultrommeln<br />

gelegentlich der bevorstehenden<br />

Wahlen an Seinen seinem Wagen ziehen<br />

zu lassen. Und in diese plumpe Falle<br />

verirrten sich auch Genossen aus unseren<br />

eigenen Reihen. Trotz eifrigem Tamtam<br />

seitens jener Genasführten kamen die


hypnotisierten Angehörigen der F.O.R.A.<br />

aber bald dahinter, daß sie lediglich als<br />

Stimmvieh mißbraucht werden und den<br />

Troß der Parteipolitiker vermehren helfen<br />

sollten. Gegen diesen Riesenbetrug hatte<br />

sich „La Protesta" sowohl während ihres<br />

heimlichen Erscheinens (in der Unterdrückungsperiode),<br />

wie auch in ihrem offis<br />

ziehen „Ersatzblatt" jener Zeit, der „Tribuina<br />

Obrera" — Arbeitertribüne — mit<br />

aller Entschiedenheit gewehrt. So dämmerte<br />

unter den betrogenen Arbeitern bald die<br />

Erkenntnis, daß der ganze Einigungsrummel<br />

nur den Zweck verfolgte, die<br />

Massen von den Mitteln der „direkten<br />

Aktion" abzulenken und sie der Fuchtel<br />

gewissenloser Politikanten auszuliefern.<br />

Damit waren die Illusionen der „Einigung"<br />

für diesmal verflogen. Es gibt aber Verlogenheiten,<br />

die man zehnmal erschlagen<br />

kann und die nach kurzer Zeit wieder in<br />

aller Munterkeit und Unverfrorenheit auftreten.<br />

In diesem Lande vielleicht noch<br />

mehr, wie in andern Ländern, wie aus den<br />

weiteren Darlegungen noch oft zu ersehen<br />

sein wird.<br />

Zum besseren Verständnis des Mißtrauens<br />

unserer besten Kameraden gegen<br />

alle Einigungsversuche müssen wieder die<br />

Erfahrungen der Vergangenheit herangezogen<br />

werden.<br />

<strong>Die</strong> F.O.R.A. wurde, wie bereits erwähnt,<br />

im Jahre 1891 von ausgesprochen<br />

anarchistischen und einigen geistesverwandten<br />

anderen Syndikalisten gegründet,<br />

die sich der sozialdemokratischen Partei<br />

nicht länger unterwerfen wollten. Der<br />

kritische Geist des Anarchismus war von<br />

vornherein in der neuen Organisation uneingeschränkt<br />

bestimmend bis zum 2. Kongreß<br />

der F.O.R.A., im Jahre 1902, der klare<br />

Richtschnuren in bezug auf Streik, Boykott,<br />

Sabotage und Antimilitarismus aufstellte.<br />

Hier weigerten sich die noch von<br />

sozialdemokratischen Ideen beeinflußten<br />

Syndikate, diese Richtlinien anzuerkennen,<br />

mit der sattsam bekannten Begründung,<br />

solche Richtlinien müßten als verfrüht bezeichnet<br />

werden. <strong>Die</strong>se Syndikate zogen<br />

sich zurück und gründeten im Juni eine<br />

„Union General de Trabajadores" —<br />

Allgemeine Arbeiter-Union —U.G.T.<br />

Als dieser Verbindung im Jahre 1905<br />

ob des Mangels idealer Werbekraft der<br />

Atem auszugehen drohte, schlug sie der<br />

F.O.R.A. den Abschluß eines Solidaritäts-<br />

Übereinkommens vor. <strong>Die</strong> F.O.R.A. ließ<br />

sich aber darauf nicht ein und lehnte den<br />

Vorschiaß der U.G.T. rundweg ab.<br />

ARGENTINIEN 101<br />

Im Jahre 1906 wurde jener Versuch seitens<br />

der U.G.T. erneuert, und jetzt beschloß<br />

die F.O.R.A., eine Kommission zu<br />

bilden, welche einen gemeinsamen Kongreß<br />

mit der U.G.T. für März 1907 vorbereiten<br />

sollte. An diesem Kongreß erklärten<br />

sich 67 Delegierte für die Innehaltung<br />

der kommunistisch-anarchistischen<br />

Grundlage als Einigungsbasis, 9 Delegierte<br />

waren für die bedingungslose Einigung, und<br />

38 Delegierte enthielten sich der Abstimmung.<br />

Dadurch war die Einigung zunächst<br />

unmöglich. <strong>Die</strong> U.G.T. wiederholte ihre<br />

Versuche mit einer Zähigkeit, die schon<br />

im Jahre 1909 einen neuen Kongreß zur<br />

Einigungsfrage zeitigte. Aber auch dieser<br />

von einer Gruppe autonomer Syndikate<br />

einberufene Kongreß verlief resultatlos,<br />

weil die F.O.R.A. sich weigerte, den Einigungsbestrebungen<br />

auf Kosten ihrer anarchistisch<br />

- kommunistischen Grundsätze<br />

Konzessionen zu machen. <strong>Die</strong>se Festigkeit<br />

der F.O.R.A. gab verschiedenen autonomen<br />

Gruppen Veranlassung, die eigene<br />

„Autonomie" herauszukehren und sich<br />

der U.G.T. anzuschließen.<br />

Aus dieser unnatürlichen Paarung wurde<br />

dann die „Confederacion Obrera Regional<br />

Argentina" — Regionale Arbeiterföderation<br />

Argentiniens — geboren. <strong>Die</strong>ser organisatorische<br />

Wechselbalg unternahm den<br />

kläglichen Versuch, gegen die F.O.R.A. zu<br />

kämpfen, erhielt sich trotz dieser krankhaften<br />

Einbildung dem Namen nach auch<br />

tatsächlich einige Jahre, bis sie, mit allen<br />

unverkennbaren Merkmalen galoppierender<br />

Schwindsucht behaftet, im November<br />

1912 wieder mal vor dichtgeschlossenen<br />

Portalen der F.O.R.A. die ausgeleierten<br />

Walzen der Einigungsorgel quäken ließ<br />

und — vergnüglich ausgelacht wurde.<br />

Durch die wiederholten Fehlschläge der<br />

Einigungsversuche ernüchtert, und belehrt<br />

durch die wachsenden Sympathien, deren<br />

sich die anarchistisch-kommunistische<br />

F.O.R.A. auf Grund ihrer jahrzehntelangen<br />

Tradition erfreute, beschlossen die Führer<br />

der Einigungsversuche im Juni 1914, ihre<br />

Organisation aufzulösen und die Mitglieder<br />

der anarcho-kommunistischen F.O.R.A<br />

zuzuführen. <strong>Die</strong>se Handlung der Führer<br />

machte zunächst stutzig, bewog sie aber<br />

doch an ihrem 9. Kongreß 1915, mit der<br />

Mehrheit der Mitglieder sich der kommunistisch-anarchistischen<br />

F.O.R.A. anzuschließen.<br />

Aber dieser Zusammenschluß erwies<br />

sich als unecht. Denn kaum waren<br />

die Verhandlungen des Kongresses beendet,<br />

da beeilten sich die eben zur kom-


102 ARGENTINIEN<br />

munistisch-anarchistischen F.O.R.A. Uebergetretenen,<br />

zu versichern, daß ihrem<br />

marxistisch orientierten Organisationleben<br />

doch die nächste Zukunft gehöre<br />

und sie deshalb das Recht beanspruchten,<br />

den Namen F.O.R.A. weiterzuführen!<br />

<strong>Die</strong>sem Seiltänzerspiel gegenüber tat<br />

die alte (kommunistisch-anarchistische)<br />

F.O.R.A. das, was sie nach Lage der<br />

Dinge und logischerweise auch nur<br />

tun konnte: Sie warf kurzerhand die mit<br />

den Marxisten heimlich liebäugelnden Elemente<br />

zum Tempel hinaus und faßte alle<br />

Propagandakräfte zur Stärkung ihrer<br />

eigenen Organisation zusammen.<br />

Seit jenen Tagen von 1915 gab es also<br />

in Argentinien zwei Organisationen, die<br />

den Namen F.O.R.A. führen. Hier die<br />

unterscheidenden Merkmale: <strong>Die</strong> marxistische<br />

orientierte F.O.R.A., beruft sich<br />

auf die Ergebnisse des neunten Kongresses,<br />

während die alte kommunistisch-anarchistische<br />

F.O.R.A. unentwegt auf der<br />

vom fünften Kongreß geschlossenen<br />

Grundlage wieder arbeitet.<br />

Dabei sei in Erinnerung gerufen, daß<br />

der bekannte Ex-Anarchist Garcia Thomas<br />

von Rosario einer der allerflinksten<br />

unter denen war, die sich mit affenartiger<br />

Geschwindigkeit an die Futterkrippen der<br />

marxistischen F.O.R.A. drängten.<br />

<strong>Die</strong>ser offensichtlichen, spekulativen<br />

Streberei entsprach denn auch das spätere<br />

Verhalten Garcias gegenüber seinen<br />

früheren anarchistischen Kameraden und<br />

deren Organisationen. Aus den Rohheiten<br />

und Verlogenheiten seiner schriftlichen<br />

und mündlichen Ausschleimungen hört<br />

jeder halbwegs gebildete Mensch die<br />

krampfhaften Anstrengungen dieses Renegaten<br />

heraus, sich der Anklagen seines<br />

eigenen Gewissens zu erwehren.<br />

<strong>Die</strong> Mitglieder der F.O.R.A. erklären sich<br />

gegen die Einigung.<br />

Im Februar 1921 tagte in der Stadt La<br />

Plata ein Kongreß, der von der marxistischen<br />

F.O.R.A. einberufen wurde.<br />

<strong>Die</strong> Beteiligung war schwach, löste nur<br />

geringes Interesse in der Arbeiterschaft<br />

des Landes aus. <strong>Die</strong> Einberufer dieses<br />

Kongresses hielten es für angebracht, auch<br />

uns, die alte F.O.R.A., einzuladen, einen<br />

Delegierten an ihren Verhandlungen teilnehmen<br />

zu lassen. Wir nahmen an und<br />

sandten als Delegierte den Sekretär und<br />

den Untersekretär unserer Organisation<br />

A. A. Gonzalvcz und 5. Ferrer. Der<br />

erstere beschränkte sich aber nicht auf<br />

beobachtende Teilnahme, sondern schlug<br />

überraschenderweise ganz persönlich<br />

wieder die Fusion der zwei F.O.R.A. vor.<br />

<strong>Die</strong>se Stellungnahme war die erste Enttäuschung<br />

für die Gegner jeder Fusion<br />

mit den syndikalistischen Marxisten und<br />

den Befürwortern der Einigung um jeden<br />

Preis. Der Föderalrat sah sich deshalb<br />

genötigt, ein Rundschreiben zu publizieren,<br />

in dem er die Stellungnahme seines Sekretärs<br />

verurteilte. <strong>Die</strong> willkürliche Haitung<br />

von Gonzalvez veranlaßte den marxistischen<br />

Kongreß von La Plata, ein Konmitee<br />

für die Einigung der Arbeiter zu<br />

wählen und lud die F.O.R.A. ein, durch<br />

Delegierte an diesem Komitee teilzunehmen.<br />

<strong>Die</strong>se Einladung konnte nicht ohne<br />

weiteres zurückgewiesen werden, weil im<br />

Kongreß September-Oktober 1920 eine<br />

diesbezügliche Resolution gefaßt war. Deshalb<br />

wurde von uns ein Zirkular versandt,<br />

mit der Einladung, sich zu der vom ersten<br />

Sekretär verschuldeten Situation zu<br />

äußern. Inzwischen hatte aber der Föderalrat<br />

unserer Föderation die Kongreßgelegenheit<br />

benutzt, um die neue F.O.R.A.<br />

zu einer gemeinschaftlichen Aktion zugunsten<br />

der Streikenden in Forestal einzuladen,<br />

die durch Regierungstruppen und<br />

Polizei furchtbar bedrängt wurden. <strong>Die</strong>ser<br />

unvergeßliche Streik forderte blutige<br />

Opfer aus den Reihen der Arbeiter, die<br />

bereits beträchtliche Verluste an Toten<br />

und Verwundeten zu beklagen hatten.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiter von Forestal und die aus<br />

Chao in der Provinz Santafe zählten<br />

etwa 20 000 Streikende und gehörten fast<br />

durchweg keiner Föderation an. Unsere<br />

Föderation schlug eine gemeinsame direkte<br />

Aktion vor für den 5. April. Am 10. des<br />

Monats antworteten die syndikalistischen<br />

Marxisten erst in einer vagen unbestimmten<br />

Weise, wodurch die Zeit ungenutzt<br />

verging. <strong>Die</strong> Arbeiter wurden niedergemetzelt<br />

und das Proletariat verhielt<br />

sich abwartend, wie die definitive Resolution<br />

der Syndikalisten ausfallen würde.<br />

Am 1. Mai 1921 gab es in Gualegayohu in<br />

der Provinz EntretRios Mord und Totschlag,<br />

wozu die Arbeiter provoziert wurden<br />

durch die Banden der „patriotischen<br />

Liga", den argentinischen Faschismus.<br />

<strong>Die</strong> Opfer waren Mitglieder der marxistischen<br />

F.O.R.A. und Arbeiter, die mit<br />

dieser Föderation sympathisierten. Unsere<br />

Föderation beeilte sich, wieder eine gemeinschaftliche<br />

direkte Aktion zur Abwehr<br />

oder auch zum sofortigen Angriff<br />

vorzuschlagen; die Einladung wurde am<br />

6. Mai zugestellt, aber erst am 12. des<br />

Monats in dem Sinne beantwortet, daß die<br />

Angelegenheit einer gemeinschaftlichen


Aktion „beraten" würde. Wieder vergingen<br />

zwei Wochen und immer noch warteten<br />

wir auf Antwort .... Am 26. Mai<br />

überfielen die patriotischen Banden plötzlich<br />

das Lokal der Heizer und Maschinisten<br />

von Buenos-Aires, töteten einen Kameraden<br />

und verwundeten mehrere andere.<br />

<strong>Die</strong>se feige Bluttat entfesselte eine<br />

außerordentliche Empörung in den Reihen<br />

der Arbeiter. Man empfand allgemein,<br />

daß es auf diesen Ueberfall keine andere<br />

Antwort geben konnte als den Generalstreik.<br />

Der Föderalrat unserer F.O.R.A.,<br />

der sich den Resolutionen des Kongresses<br />

zu unterwerfen hatte, schlug sofort wieder<br />

eine gemeinsame Aktion gegen die faschistischen<br />

Banden vor. An demselben Tage<br />

kamen unsere Kameraden mit denen der<br />

neuen F.O.R.A. zusammen und beschlossen<br />

eine Sitzung für den folgenden Tag, den<br />

27. Mai. An diesem Tage raffte man sich<br />

nach unendlichen Diskussionen dazu auf,<br />

ein gemischtes Komitee zu ernennen. <strong>Die</strong><br />

Delegierten der neuen F.O.R.A. verlangten<br />

ein Referendum um Gewißheit<br />

über die Beteiligung am Generalstreik zu<br />

haben. Wie sahen bald ein, daß sie gar<br />

nicht gesonnen waren, eine durchschlagende<br />

Bewegung zu entfachen, obwohl<br />

die Massen fieberhaft auf das Zeichen<br />

warteten, die Arbeit niederzulegen, da zu<br />

dem bei den Heizern und Maschinisten des<br />

Hafens von Buenos-Aires ein durch die<br />

Faschisten provozierter heftiger Streik bestand.<br />

Unsere Kameraden drängten mit<br />

aller Kraft und allen guten Gründen zur<br />

direkten Aktion, aber umsonst. Nach<br />

ewigen Debatten beschloß man, „eine Note<br />

an den Präsidenten der Republik" zu senden<br />

und sich am folgenden Tage zu versammeln,<br />

um das Resultat dieses Gesuchs<br />

zu erfahren, das von den Föderalräten der<br />

marxistischen Föderation unterzeichnet<br />

worden war. Ums gleich zu sagen: Der<br />

Herr Präsident der Republik war gescheit<br />

genug, das Gewinsel gar nicht zu beantworten.<br />

Inzwischen wurde tagelang diskutiert,<br />

bis die Kastraten der neuen F.O.R.A.<br />

auf die geniale Idee verfielen, daß alle<br />

Maßnahmen „im Einverständnis mit dem<br />

Polizeichef" geschehen müßten. Das schlug<br />

dem Faß der Geduld unsererseits den Boden<br />

aus.<br />

Am 30. Mai entschlossen sich die unsrigen<br />

auf eigenes Risiko den Generalstreik<br />

zum 31. Mai zu proklamieren. Während in<br />

dieser Richtung sofort Vorbereitungen getroffen<br />

wurden, ohne sich weiter um die<br />

marxistischen Herrschaften zu kümmern,<br />

intervenierte die Polizei und verhaftete<br />

ARGENTINIEN 103<br />

180 Arbeiter der verschiedensten Richtungen,<br />

unter ihnen die Delegierten aller<br />

Syndikate. Alle unsere Lokale wurden<br />

geschlossen, ebenso die Räume der „La<br />

Protesta". Trotzdem riefen wir zum Generalstreik<br />

auf und nach zwei Tagen<br />

mußte die neue F.O.R.A. auf Drängen<br />

ihrer Leute daran teilnehmen, obwohl auch<br />

ihre Führer in der Nacht des 30. Mai<br />

verhaftet worden waren. Doch das Gift<br />

unfruchtbarer und böswillig heraufbeschworener<br />

Debatten legte sich wie ein<br />

Reif auf die ursprüngliche Begeisterung<br />

der Massen. Vom 31. Mai bis zum 6. Juni<br />

gab es so viel schmerzliche Enttäuschung<br />

gen daß Jahre vergehen dürften, bevor die<br />

F.O.R.A. sich entschließen könnte, wieder<br />

Aktionen mit andern Organisationen zu<br />

beraten und zu beschließen. (Hier fügen<br />

wir ein Exemplar des Organs der Arbeiterorganisation<br />

vom Mai 1922 bei, in dem<br />

wir diese Ereignisse in allen Einzelheiten<br />

schildern).<br />

Seit dieser neuen Reihe trüber Erfahrungen<br />

in den Tagen von Ende Mai bis<br />

Anfang Juni erschien nun ein ersprießliches<br />

Zusammengehen mit der marxistisch<br />

angekränkelten Organisation dauernd<br />

ausgeschlossen.<br />

Und doch ist es bei der Anziehungskraft,<br />

die der kommunistische Anarchismus<br />

in diesem Lande auf die Massen<br />

ausübt, zu verstehen, daß gemäßigtere<br />

Richtungen von ihren Mitgliedern immer<br />

wieder gedrängt werden, Verbindungen<br />

mit unserer Föderation zu suchen. Denn<br />

obwohl „La Protesta" aus guten Gründen,<br />

wie wir wiederholt gesehen haben, sich<br />

gegen alle Einigungsversuche mit Entschiedenheit<br />

aufbäumte, machte die mehrfach<br />

erwähnte Dissidentengruppe kurze<br />

Zeit nach den geschilderten Vorgängen erneut<br />

den Versuch, zu vereinigen, was<br />

sieh nun mal nicht vereinigen läßt. <strong>Die</strong>se<br />

Unmöglichkeit sollte jetzt durch Herausgabe<br />

einer neuen Zeitung möglich gemacht<br />

werden, von der sich jene Gruppe die<br />

heißersehnte Einigung versprach. <strong>Die</strong>. Zeitung<br />

erschien unter dem versönlich anmutenden<br />

Titel „EI Trabajo" (<strong>Die</strong> Arbeit),<br />

setzte sich aber gleich mit dieser schönen<br />

Devise in Widerspruch durch Angriffe<br />

gegen die F.O.R.A. und ihre Verfechter.<br />

Eine Tatsache, die wahrlich nicht geeignet<br />

war, das erloschene Vertrauen zu den<br />

neuen Einigungsaposteln und dem unverkennbar,<br />

hinter ihnen auftauchenden<br />

Drahtzieher Garcia Thomas, Fernando<br />

Gonzalo und Konsorten wieder zu entfachen.<br />

Der hinterlistige Pferdefuß wurde


104<br />

bald auch in der eigenen Lesergemeinde<br />

der neuen Zeitung erkannt und das Blatt<br />

verschwand wenige Wochen nach seiner<br />

Geburt, trotz beträchtlicher, materieller<br />

Hilfsmittel, die seitens der autonomen<br />

Gruppen zur Erhaltung der Zeitung aufgebracht<br />

wurden.<br />

Reinliche Scheidungen in der<br />

<strong>Internationale</strong>.<br />

<strong>Die</strong> Unklarheiten vieler Kameraden bezüglich<br />

internationaler Zugehörigkeit und<br />

intriganter Werbegelüste der Bolschewisten<br />

machten Maßnahmen einschneidender<br />

Natur notwendig. <strong>Die</strong> meisten Mitglieder<br />

der Gruppe „frente unido" (Für<br />

die Einigkeit) aus dem Proletariat waren<br />

eifrige Anhänger der bolschewistischen<br />

Politik. Dem Sekretariat unserer Organisation<br />

standen immer noch die Genossen<br />

A. A. Goncalvez und S. Ferrer vor. <strong>Die</strong>se<br />

fühlten sich veranlaßt, im Namen der Organisation<br />

eine Delegation zum Moskauer<br />

Kongreß abzuordnen, ohne vorher mit den<br />

Genossen des Gesamtvorstandes die geringste<br />

Fühlung zu nehmen. Bezeichnend<br />

für diese Eigenmächtigkeit war, daß der<br />

in Aussicht genommene Delegierte in der<br />

Bewegung der F.O.R.A. wenig bekannt war<br />

und daß den Sekretären, die in unseren<br />

Reihen vorherrschende Abneigung gegen<br />

den Bolschewismus nicht unbekannt sein<br />

konnte. Denn zweifellos wäre eine Delegation<br />

unsererseits nach Moskau unterblieben,<br />

wenn die Entscheidung darüber<br />

der Föderation anheimgestellt worden<br />

wäre. Verschleiert wurde die Eigenmächtigkeit<br />

der Sekretäre noch durch ein geschickt<br />

in Szene gesetztes Gerücht, wonach<br />

die Delegation nach Moskau tatsächlich<br />

ordnungsgemäß von der F.O.R.A.<br />

beschlossen sei. <strong>Die</strong>se Legende wurde<br />

aber bald in ihrer ganzen Nichtigkeit aufgedeckt,<br />

worauf eine Delegiertenversammlung<br />

der F.O.R.A. die nachstehende Erklärung<br />

veröffentlichte:<br />

1. Der Föderalrat der F.O.R.A., autorisiert<br />

durch die Konferenz der Landesföderation<br />

am 20. August 1921, stellt<br />

fest, daß in unsere Organisation Elemente<br />

an verantwortliche Stellen gekommen<br />

sind, die sich unter bolschewistischem<br />

Einfluß gegen die klaren<br />

Grundsätze unserer Organisation vergangen<br />

haben.<br />

2. Als solche klagen wir die Sekretäre<br />

Julio R. Barcos, Nemesio Canales,<br />

Jesus M. Suarez (Fernando Gonzalo),<br />

Alejandro Alba (Silvetti). Enrique Garcin<br />

Thomas. Antonio Goncalvez und<br />

ARGENTINIEN<br />

Sebastian Ferrer an, willkürlich ihre<br />

Stellung mißbraucht zu haben, um Bestrebungen<br />

zu unterstützen, die den<br />

Grundsätzen unserer Organisation diametral<br />

zuwider laufen. Da die dieser<br />

zugrundeliegenden Tatsachen sehr delikater<br />

Natur sind, wird der Föderalrat<br />

allen Mitgliedern eine Darlegung<br />

aller Einzelheiten zugehen lassen.,<br />

die das Vorgehen der am 20. August<br />

1921 versammelten Delegierten der Landesföderation<br />

erklären und rechtfertigen.<br />

Es liegt im Interesse unserer Bewegung,<br />

solche Verstöße gegen unsere Grundsätze<br />

vor den Angehörigen unserer revolutionären<br />

<strong>Internationale</strong> aufzudecken,<br />

um den guten Ruf der F.O.R.A. Argentiniens<br />

zu schützen.<br />

Das war das einzig mögliche Mittel, um<br />

jedwede moskaufreundlichen Anwandlungen<br />

mit der Wurzel auszurotten und<br />

unsere Organisation rein zu erhalten.<br />

(Wir fügen hier ein Exemplar dieses<br />

Rundschreibens bei). <strong>Die</strong> Mehrzahl der<br />

Syndikate der F.O.R.A., die nach Angaben<br />

des gemaßregelten Vizesekretärs Sebastian<br />

Ferrer etwa 600 Mitglieder zählten, waren<br />

mit der Stellungnahme der regionalen<br />

Konferenz am 20. August in Buenos-Aires<br />

einverstanden.<br />

<strong>Die</strong> Unlauterkeit dieser seitherigen Vertrauensleute<br />

der F.O.R.A. wird wohl unwiderleglich<br />

durch die Tatsache bewiesen,<br />

daß einige von ihnen sofort nach ihrem<br />

Ausschluß aus der F.O.R.A. in den Staatsdienst<br />

traten, so Julio R. Barcos als Inspektor<br />

in der Nationalschule und J. M.<br />

Suarez als Beamter in die Regierung von<br />

Tucuman.<br />

<strong>Die</strong> Tragödie der Einigungsversuche<br />

fand auf diese Weise wieder mal ihren<br />

Abschluß.<br />

Das an die Syndikate versandte Rundschreiben<br />

ergab nachstehendes Resultat:<br />

Zum bestimmten Termin antworteten<br />

nur 139 Sydikate. Von diesen erklärten<br />

sich 110 für eventuelle Fusion unter der<br />

Bedingung der Anerkennung des Kommunistischen<br />

Anarchismus. 26 verwarfen<br />

den Inhalt des Rundschreibens, ohne abei<br />

ihre Verwerfung zu begründen. Auf Grund<br />

dieser Antworten konnte die Landeskonferenz<br />

logisch schlußfolgern, daß die überwiegende<br />

Mehrheit der F.O.R.A. den<br />

Standpunkt erteilt, daß das Grundprinzip<br />

des kommunistischen Anarchismus jede<br />

Möglichkeit der Einigung mit anderen Organisationen<br />

ausschließt.<br />

Es ist unmöglich, alle Anpöbelungen aufzuzählen,<br />

womit wir seit Abschluß dieser


Phase beehrt wurden. Der billige Spottname,<br />

der kurze Zeit die Vertreter der Gedankenlosigkeit<br />

amüsierte, lautete: „<strong>Die</strong><br />

reinen Anarchisten." Eine Selbstironie, die<br />

ihnen bald nachher sauer genug aufstoßen<br />

sollte.<br />

<strong>Die</strong> von der F.O.R.A. ausgeschlossenen<br />

Zweiseelenherbergsväter traten zusammen<br />

unter dem Taufmantel „Neuer Anarchismus."<br />

Alle diese Versuche scheiterten,<br />

wie bisher alle derartigen „Neuerungen"<br />

im amerikanischen Anarchismus gescheitert<br />

sind. Seit jener Zeit war der Einfluß<br />

einer Reihe gewissenloser Drahtzieher<br />

lahmgelegt und Werbekraft wie Gedeihen<br />

der Organisationen konnten sich eine<br />

Zeitlang ungestört entwickeln.<br />

Der Kongreß der Einigung.<br />

Im März 1922 fand endlich der Kongreß<br />

der vereinigten Arbeiterschaft statt,<br />

der drei internationale Richtungen verkörperte:<br />

eine Majorität, die nach<br />

Amsterdamer, und zwei Minderheiten,<br />

deren eine kommunistisch und deren<br />

andere anarcho-bolschewistisch gefärbt<br />

war. <strong>Die</strong> anarcho-bolschewistische Richtung<br />

war vertreten durch die gemaßregelten<br />

Individuen der F.O.R.A. und<br />

einige ihrer Freunde. Wie bestimmt<br />

vorauszusehen, war die einzige mögliche<br />

Einigung, die der F.O.R.A. neuster<br />

Prägung mit einigen autonomen Syndikaten.<br />

Ein geschickter Versuch, die mit<br />

dem Tode ringende syndikalistisch-reformistische<br />

Organisation notdürftig auf die<br />

Beine zu helfen. Wir weigerten uns natürlich<br />

an diesem Kongreß teilzunehmen,<br />

obwohl wir in dieser Gemeinschaft die<br />

erdrückendste Majorität gehabt hätten.<br />

Das wäre ein Selbstbetrug gewesen, nach<br />

allen Erfahrungen, die wir bereits hinter<br />

uns hatten. Da war zunächst die durch<br />

und durch reformistische Richtung von<br />

Amsterdam, die Gegnerin jeder direkten<br />

Aktion, dann die Kommunistische und<br />

die pseudo-anarchistische. Unsere europäischen<br />

Kameraden mögen beurteilen,<br />

ob bei ihnen zu Lande mehr Hoffnung besteht,<br />

diese verschiedenen Tendenzen je<br />

in einem Aktionsrahmen zusammenzufassen.<br />

An diesem, aus den widerstrebenden<br />

Elementen zusammengesetzten Kongreß<br />

war es auch nur zu natürlich, daß in den<br />

Verhandlungen die grauesten Theorien<br />

zur Erörterung gelangten, womit die Redner<br />

der verschiedenen Richtungen sich<br />

gegenseitig zu überzeugen oder auch den<br />

Wind des eigenen Erfolgs aus den Segeln<br />

zu nehmen suchten. Eine ebenso<br />

ARGENTINIEN 105<br />

unfruchtbare wie zeitraubende Betätigung,<br />

die R. Rocker in Heft 4 der „<strong>Internationale</strong>",<br />

Seite 7 Absatz 2 ebenso<br />

kurz wie zutreffend und erschöpfend mit<br />

nachstehenden Sätzen charakterisiert:<br />

„Theorien haben nur dann eine Bedeutung,<br />

wenn sie dem praktischen<br />

Leben entspringen und die alltäglichen<br />

Erfahrungen, wie die Schlüsse, die daraus<br />

zu ziehen sind, sozusagen in kristalisierter<br />

Form wiedergeben. Aber<br />

Theorien, die in den luftleeren Räumen<br />

rein abstrakter Vorstellungen erzeugt<br />

werden, sind wertlos, auch wenn<br />

sie allen Regeln der sogenannten Logik<br />

entsprechen."<br />

Jene theoretischen Erörterungen des<br />

Kongresses konnten deshalb nur aufs<br />

neue die Richtigkeit der Erfahrungen bestätigen,<br />

wie wir sie zu wiederholten<br />

Malen mit jenen offenen oder versteckten<br />

Gegnern jeder direkten Aktion gemacht<br />

haben. Das war der Fall bei den<br />

Unterhandlungen zwischen uns und der<br />

aus dem neunten Kongreß geborenen<br />

neuen F.O.R.A. und traf auch zu bei<br />

dem Bemühen der später entstandenen<br />

„Allgemeinen Arbeiter - Union Argentiniens".<br />

Konnte man auch etwas anderes erwarten<br />

von Organisationsbildungen, die seit<br />

1901 bis 192i mit den Mitteln sozialdemokratisch-bürgerlicher<br />

Theorien und Praktiken<br />

erzogen haben?<br />

Auch die Tatsache hat vielleicht viele<br />

ausländische Genossen bei der Bewertung<br />

argentinischer Organisationen irregefuhrt,<br />

daß die Funktionärstellen jener<br />

Organisationen wieder anarcho-bolschewistisch<br />

orientierten Elementen in die<br />

Hände fielen. Anarchismus und Bolschewismus<br />

schließen sich gegenseitig<br />

aus wie Feuer und Wasser und<br />

wenn diese unüberbrückbare Trennungslinie<br />

von vielen Mitgliedern jener<br />

Organisationen nicht klar erkannt wurde,<br />

und sie trotz dieses Widersinns an Geschlossenheit<br />

innerer Kräfte glaubten, so<br />

war diese Selbsttäuschung lediglich auf<br />

die demagogisch-agitatorische Geschicklichkeit<br />

der Moskauer Agenten zurückzuführen,<br />

deren Gewissenlosigkeit wohl<br />

den Anarchisten und Syndikalisten aller<br />

Länder genügend bekannt sind. Sowohl<br />

die Führer der Moskauer, wie die der<br />

Amsterdamer Richtung wissen, daß der<br />

Sieg des Anarcho-Syndikalismus das<br />

Ende ihrer Herrschaft bedeutet. Es geht<br />

um ihre Existenz und so ist es verständlich,<br />

daß sie vor den verworfensten Mit-


106 ARGENTINIEN<br />

teln nicht zurückschrecken, wenn es gilt,<br />

die F.O.R.A., die älteste und folge richtigste<br />

Organisation dieses Landes zu bekämpfen.<br />

Daß sie bei diesen Versuchen<br />

immer wieder auf Granit beißen, sollte<br />

ihnen, sowohl wie dem Zwittergebilde<br />

und ihren Anhängern, dem „Neuen<br />

Anarchismus" doch zum Bewußtsein<br />

kommen. An dem festen Gefüge werden,<br />

wie bisher, so auch in Zukunft alle<br />

Spaltungsgelüste zerschellen. Man erinnere<br />

sich doch, daß unsere entschieden<br />

revolutionäre Bewegung auf eine Tradition<br />

von mehr als 40 Jahren zurückblicken<br />

kann und das wir Syndikate<br />

haben, die schon 1885 von Malatesta gegründet<br />

wurden. Daß diese Organisationen<br />

nicht von reformistischen Tendenzen<br />

beeinflußt werden können, diese<br />

Tatsache sollte doch dem blindesten Fanatiker<br />

unserer rückständigen Klassengenossen<br />

sonnenklar sein.<br />

Als man im Lande die Unmöglichkeit<br />

erkannte, unsere Werbekräfte zu brechen,<br />

mußte wieder mal das bekannte Mittel<br />

internationaler Verleumdung herhalten.<br />

Man sandte Flugblätter, Zeitungen und<br />

Briefe ins Ausland, an bekannte und unbekannte<br />

Kameraden, wie auch an alle<br />

revolutionären Organisationen. In<br />

sprachverwandten Ländern, wie zum Beispiel<br />

in Spanien, hat diese verleumderische<br />

Propaganda scheinbar schon ein<br />

Echo gefunden. <strong>Die</strong>selben Genossen, die<br />

gestern die Mitgliederzahl der F.O.R.A.<br />

vom Sekretariat aus auf 200 000 bis 250 000<br />

schätzten, (siehe im „Der Svndikalist",<br />

Berlin, No. 24, 1921, ein Brief, unterschrieben<br />

von Sebastian Ferrer und A. A.<br />

Goncalvez, ehe sie aus der Organisation<br />

ausgeschlossen wurden) diese selben damaligen<br />

Genossen erklärten später, daß<br />

unsere F.O.R.A. nicht mehr existiere, daß<br />

ihr Einfluß „ganz unbedeutend" sei und<br />

daß es diesem „kristallisierten Anarchismus"<br />

„unmöglich" sei, sich in den Anforderungen<br />

der modernen Zeit zu entwickeln,<br />

womit offenbar gemeint war,<br />

die Moskauer Diktatoren würden den<br />

Anarchismus-Syndikalismus aufsaugen.<br />

Noch einiges mehr über die Anarcho-<br />

Bolschewisten.<br />

Es muß gesagt werden, daß die Absicht<br />

der Anarcho-Bolschewisten, unsere<br />

F.O.R.A. nach Moskau auszuliefern, von<br />

Gesellen ausging, die früher als wackere<br />

Kameraden in unseren Reihen standen<br />

und als frühere Mitarbeiter in der revolutionären<br />

Presse, wie als fähige Redner be­<br />

kannt waren. Nach dem bekannten Mißtrauensvotum<br />

gegen Garcia Thomas, Fernando<br />

Gonzalo und Konsorten trennten<br />

sich auch alle literarischen Streber und<br />

Möchte-gern-Führer von uns, die gegenüber<br />

unserem Reinlichkeitsprinzip ihre<br />

spekulativen Felle davonschwimmen<br />

sahen. <strong>Die</strong>se Ex-Anarchisten, etwa 30 bis<br />

40 an der Zahl, leisteten sich dann 1922<br />

die Gründung einer neuen Organisation,<br />

der sie das Etikett „Allianza Libertaria<br />

Argentina" (Freiheitliche Allianz Argentiniens)<br />

aufklebte. <strong>Die</strong>se „Allianza-Libcrtarda<br />

Argentina (A.L.A.) und ihr Einfluß<br />

auf die Arbeiterschaft dieses Landes ist<br />

gleich Null. <strong>Die</strong> U.S.A. (Syndikalistische<br />

Union Argentiniens) hält sich zwar von<br />

jeder Verbindung mit jener Zwergorganisation,<br />

der A.L.A., fern, hatte aber doch<br />

zwei Vertrauensleute unter sich, die<br />

gleichzeitig Vertrauensleute jener A.L.A.<br />

waren. <strong>Die</strong>se „Allianza Libertaria Argentina"<br />

gebärdet sich in ihrem alle vierzehn<br />

Tage oder auch nur monatlich erscheinenden<br />

Blättchen gegenüber der Arbeiterpresse<br />

Europas als die Organisation der<br />

Anarchisten dieses Landes. <strong>Die</strong>se Zeitung<br />

fristet ihre Existenz mit Verleumdüngen<br />

gegen uns, gegen die älteste Arbeiterorganisation<br />

Argentiniens. Man<br />

kann dieses noble Blättchen fast auf allen<br />

Redaktionstischen der Arbeiterpresse<br />

Europas finden. Nur in dem Lande, wo<br />

es erscheint, in Argentinien, muß man, in<br />

jeder Hand eine Laterne, mühevoll suchen,<br />

um mal ein Exemplar zu zwischen.<br />

Im Jahre 1923 wurden zwei Mitglieder<br />

der „Allianza", Julio Amor und David<br />

Valdes als Polizeiagenten entlarvt.<br />

Zwei Biedermänner, von denen der eine<br />

in der „Allianza" (man höre und staune),<br />

einen Sekretärposten für internationale<br />

Angelegenheiten bekleidete, und der<br />

andere Redakteur der Zeitung dieser<br />

Gruppe war. Selbstverständlich mußten<br />

diese Herrschaften nachher aus der<br />

„Allianza" hinausgeworfen werden. Aber<br />

es ist doch charakteristisch, daß die<br />

Polizei ihre Agenten an einer Stelle<br />

der „Allianza" hatte, die ganz Europa<br />

mit verleumderischen Schwindeinachrichten<br />

versorgte und am Erscheinungsort<br />

so gut wie unbekannt ist. Man<br />

erinnere sich an den anläßlich des Generalstreiks<br />

geschilderten „Streik der Bomben",<br />

man erinnere sich besonders jenes<br />

mit den jesuitischen Mitteln geführten,<br />

absolut erfolglosen Feldzuges gegen unsere<br />

F.O.R.A. und gegen unser Organ ,.La Protesta",<br />

um die Genugtuung zu ermessen.


die uns beim Aufdecken dieses Sündenpfuhls<br />

bewegte. Oktober 1924 stellten sich<br />

in der unter Ausschluß der Oeffentlichkeit<br />

vegetierenden „Allianza Libertaria<br />

Argentina" Liebesneigungen zur Moskauer<br />

Diktatur ein, was einen mächtigen Sturm<br />

im organisatorischen Wasserglas dieser<br />

Gruppe verursachte. Ein Teil der Mitalieder<br />

klagte die andern an, und dabei<br />

behauptete jedes Grüpplein, aus lauter<br />

wahrer Jaköbe grundsätzlicher Treue zu<br />

bestehen, während die Gegenpartner als<br />

rabenschwarze Verräter gebrandmarkt<br />

wurden. Bei solchen Gelegenheiten stellte<br />

sich unter den Mitgliedern der F.O.R.A.<br />

das Gefühl hoher Befriedigung ein, solche<br />

Elemente rechtzeitig aus der anarchistischen<br />

Bewegung hinausgeworfen zu haben.<br />

Weitere Einzelheiten dieser unerquicklichen<br />

Vorgänge können unerörtert bleiben.<br />

Für uns resultiert daraus die Nutzanwendung,<br />

wie notwendig es ist, allen<br />

von dieser Seite ausgehenden Einigungsversuchen<br />

fest und bestimmt die Tür zu<br />

weisen. Denn eine Erfahrung nach der<br />

andern sollte auch dem Versöhnlichsten<br />

unter uns beweisen, daß alle derartigen<br />

Versuche stets zum Nachteil der eigenen<br />

Organisation ausschlagen.<br />

Noch eine andere Dissidentengruppe.<br />

Mit der Schilderung dieser Organisationsbildung<br />

können wir uns kurz fassen.<br />

<strong>Die</strong> Mitglieder gruppierten sich um den<br />

Verlag ,.Antorcha" (<strong>Die</strong> Fackel) der,<br />

unter anderem Namen, schon 1910 unter<br />

der geistigen Leitung T. Antilli und R. G.<br />

Pacheco bestand.<br />

Nach längeren Auseinandersetzungen<br />

über die Hungersnot in Rußland und einem<br />

von der F.O.R.A. inszenierten Boykott,<br />

sah sich unsere Organisation und mit ihr<br />

„La Protesta", in den ersten Monaten<br />

1924 genötigt, die „Antorcha" daran zu<br />

erinnern, in ihrem Organ gleichen Namens<br />

bei der Polemik doch mehr Verantwortlichkeitsgefühl<br />

zu bekunden und auf<br />

bessere Formen zu halten. Seit dem Tode<br />

Antillis 1923 stand C. Pacheco allein an<br />

der Leitung, als Repräsentant der gemäßigt<br />

anarchistischen Richtung. Sowohl<br />

der verstorbene T. Antilli, wie auch G.<br />

Pacheco waren vor Begründung der „Antorcha"<br />

Redakteur in „La Protesta", sie<br />

vermochten aber an dieser Stelle die Leser<br />

nicht zu befriedigen. In der „Antorcha"<br />

hatten sie später nur lose Verbindungen<br />

mit der Arbeiterbewegung, entwickelten<br />

aber eine eifrige Tätigkeit im Vertrieb<br />

guter Bücher, Flugblätter und Zeitungen<br />

des Auslandes. Obwohl sich sowohl<br />

ARGENTINIEN 107<br />

T. Antilli wie G. Pacheco seit 1911 kommunistische<br />

Anarchisten nannten, gaben<br />

sie seitdem mehrfach Zeitungen individuell-anarchistischer<br />

Tendenz heraus, wobei<br />

die frühere kommunistisch-anarchistische<br />

Ueberzeugung wohl zugunsten der<br />

letzteren entschiedene Wandlungen erfahren<br />

haben mag, woraus sich die spätere<br />

Unduldsamkeit G. Pachecos gegenüber<br />

der unentwegten kommunistisch-anarchistischen<br />

von „La Protesta" und der<br />

F.O.R.A. erklären läßt. — Durch die Notwendigkeit<br />

schärfster Angriffe gegen zersetzende<br />

Einflüsse des Anarchobolschewismus<br />

in den Spalten der „La Protesta"<br />

fühlten sich einige unklare Köpfe aus unseren<br />

Reihen zum Austritt bewogen und<br />

suchten bei dem Fähnlein „La Antorcha"<br />

Anschluß. Hier und in einigen Syndikaten<br />

der F.O.R.A. ergingen sie sich in absurdesten<br />

Angriffen gegen „La Protesta" und<br />

die F.O.R.A., warfen uns Diktaturgelüste<br />

vor und ruhten nicht, bis sich „La Antorcha"<br />

entschloß, als Tageszeitung zu erscheinen.<br />

Und hier setzte statt sachlicher<br />

Argumente eine der gewöhnlichsten Verleumdungskampagnen<br />

gegen „La Protesta"<br />

ein.<br />

Dazu gab sich die „Antorcha" her, ein<br />

Blatt, das stets entschieden für das Recht<br />

der freien Kritik eingetreten war, dem<br />

aber unsere sachliche Kritik an den ebenso<br />

widerspruchsvollen wie unehrlichen<br />

anarcho-bolschewistischen Kopflosigkeiten<br />

nicht behagte. Den ernsten widerlegungen<br />

in „La Protesta" gegenüber, nannten<br />

sie uns in unfreiwilliger Wahrhaftigkeit<br />

die „Reinen Anarchisten", womit zugleich<br />

zugegeben wurde, daß die „Antorcha"<br />

auf die Reinlichkeit ihres eigenen Anarchismus<br />

keinen Anspruch zu erheben<br />

schien. Aus der ganzen Polemik war unschwer<br />

das mangelnde Verständnis gegenüber<br />

den Stirner'schen Schriften ersichtlich,<br />

woraus die „Antorcha" nicht mehr<br />

als eine der plattesten Schimpfkanonaden<br />

gegen den idealen Siegeszug des kommunistischen<br />

Anarchismus zu destillieren vermochte.<br />

Darin gipfelte das Resultat der<br />

Auseinandersetzungen mit der „Antorcha"<br />

und ihrer Gefolgschaft.<br />

Dann stellte sich ein tragischer Zwischenfall<br />

ein. Vier unserer Genossen<br />

wandten sich an den General Fico in<br />

La Pampa, um bestimmte Auskunft über<br />

die Verleger der „Pampa libre" (Freie<br />

Pampa) zu erhalten, die aus der Druckerei<br />

der F.O.R.A. hervorging. <strong>Die</strong>se Zeitung<br />

richtete in ihrer individuell-anarchistischen<br />

Tendenz die wütendsten Angriffe


108<br />

gegen „La Protesta" und unsere Organisation.<br />

Auf dem Wege zur Druckerei begegneten<br />

sie auf der Straße dem Redakteur<br />

jener Zeitung, mit dem sich eine lebhafte<br />

Aussprache zu entwickeln begann. Kaum<br />

hatte diese begonnen, als aus dem Lokale<br />

der Druckerei ein Revolverfeuer auf<br />

unsere Kameraden eröffnet wurde, das<br />

dem Kameraden Dinayo den sofortigen<br />

Tod brachte. Dann entbrannte ein Kampf<br />

zwischen hüben und drüben, wobei es sieben<br />

Tote und mehr oder weniger Verwundete<br />

gab. <strong>Die</strong>s blutige Drama löste<br />

bei uns tiefes Bedauern aus, und ließ bestehende<br />

Differenzen in den Hintergrund<br />

treten, die die Untersuchungsabsicht unserer<br />

Genossen hervorgerufen hatten.<br />

Dennoch wurde dieser Vorfall seitens unserer<br />

Gegner so verdreht dargestellt, als<br />

ob unsere eigenen Kameraden die Drukkerei<br />

der „La Pampa" mit Aufgebot von<br />

20 bis 30 Mann zu später Stunde überfallen<br />

hätten. Statt auf beiden Seiten die<br />

Gemüter zu beruhigen, betätigten unsere<br />

Gegner das Gegenteil, was zur Folge<br />

hatte, daß jene Gruppe von einer am<br />

30. August 1924 einberufenen, regionalen<br />

Konferenz in Buenos-Aires ausgeschlossen<br />

wurde.<br />

Mit diesen Dissidenten vereinigten sich<br />

einige Syndikate der F.O.R.A., die dann<br />

aus der Organisation ausgeschlossen wurden.<br />

Es muß bemerkt werden, daß die<br />

Zahl der ausgeschlossenen Mitglieder eine<br />

sehr geringe war und daß die F.O.R.A. mit<br />

diesem Ausschluß durchaus keine Qualitätsmänner<br />

verlor. Dagegen führte die<br />

strenge Wahrung anarchistischer Grundsätze<br />

seit dem 30. August bis zum November<br />

1924 unserer Organisation nicht<br />

weniger wie zehn neue Syndikate zu.<br />

<strong>Die</strong> Eigenbrödler-Gruppe der „Antorcha"<br />

konnte im Lande keinerlei Anhang<br />

gewinnen. Sie folgte den Spuren der<br />

Anarcho-Bolschewisten und versuchte<br />

nachher aus der internationalen Bewegung<br />

einen „Gerichtshof" zusammenzufinden,<br />

der uns in Acht und Bann erklären sollte.<br />

Auch diese ,,Antorcha"sGruppe fand in<br />

einigen Ländern Europas mit ihren verlogenen<br />

Schilderungen über argentinische<br />

Arbeiterorganisationen Eingang in die<br />

Presse, deren Ergebnisse unsere Delegation<br />

dem Kongreß mündlich darlegen<br />

wird, wenn es notwendig werden sollte.<br />

Hier mag nur nochmals festgestellt sein,<br />

daß unsere Bewegung mit ihrer reinlichen<br />

Trennung von der Gruppe „La Antorcha"<br />

nicht nur nichts verloren, sondern sowohl<br />

moralisch wie an Mitgliederstärke ent-<br />

ARGENTINIEN<br />

schieden gewonnen hat. Ganz abgesehen<br />

von der Tatsache, daß wir dem verwirrenden<br />

Stirner-Kultus in Argentinien endgültig<br />

den Boden abgegraben haben.<br />

Allgemeiner Ueberblick.<br />

Ueber die Aktionen der F.O.R.A. Argentiniens<br />

in der Zeit vom 1. Januar 1923 bis<br />

1. Januar 1925.<br />

<strong>Die</strong> Tätigkeit der F.O.R.A. stützte sich<br />

auf die vom internationalen Anarchismus<br />

allgemein anerkannten Kampfmittel und<br />

läßt sich wie folgt zergliedern.<br />

Lokalstreiks — Generelle Streiks einzelner<br />

Berufe — Generalstreiks — Solidaritätsbetätigung<br />

— Proteste — Propaganda<br />

in Wort und Schrift.<br />

<strong>Die</strong> Lokalstreiks bilden einen Permanenzzustand<br />

in diesem Lande. Es erübrigt<br />

sich deshalb, statistische Zahlreihen paradieren<br />

zu lassen, womit in zentralistisch<br />

beherrschten Organisationen jongliert<br />

wird. In unseren Organisationen lodert<br />

der Kampfwille täglich aus freiester Entschließung<br />

aller Beteiligten auf, in allen<br />

Kämpfen, von der keinsten bis zur größten<br />

Betriebsstelle.<br />

Solidaritätsbetätigung.<br />

Das System organisch geregelter materieller<br />

Streikunterstützung besteht in der<br />

F.O.R.A. nicht. Wir erblicken die ausschlaggebende<br />

Bedeutung der Solidarität<br />

darin, den im Kampf liegenden Kameraden<br />

dadurch den Rücken zu decken, daß wir<br />

mit allen Mitteln Streikbrecher und<br />

Streikbrechergelüste und in Einzelfällen<br />

die Verüber in der Achtung der Gesamtarbeiterschaft<br />

zu isolieren wissen, wie man<br />

etwa einen Pestkranken isoliert. So wird<br />

der Kämpfer auf sich selbst gestellt, wird<br />

aber von seinen Kameraden in freiwilliger<br />

Selbstverständlichkeit nebst Angehörigen<br />

vor materieller Not geschützt, wo und<br />

wielange diese Notwendigkeit durch die<br />

Dauer der Kämpfe geboten ist.<br />

Zur Illustrierung der lokalen Streikbewegungen<br />

lassen wir hier die Kämpfe innerhalb eines<br />

einzigen Monats im April 1923 folgen:<br />

Buenos-Aires.<br />

Reinigungsbetriebe für Bronzen, Automobile<br />

usw. in 12 Betriebsstätten<br />

Gummiarbeiter . . „ 2 „ „<br />

Kellner und Hilfskeilner<br />

. . . . „ 1


Naphthabetrieb . . in 1 Betriebsstätte<br />

Vereinigte Oelindustrie<br />

arbeiter — „ „<br />

Kartonnagens und verw.<br />

Berufe — „ „<br />

Metallindustries<br />

Arbeiter — „ „<br />

Arbeiter aller Berufe . 1<br />

Wagenfabriken .... 1<br />

Föderation der Textilarbeiter<br />

1<br />

Syndikat der Schuhindustrie<br />

3<br />

Bauarbeiterstreik in<br />

Tigre Viktoria und<br />

San Fernando .... —<br />

Mosaikarbeiter 1<br />

Chauffeure 3<br />

Föderation der Likörindustrie-Arbeiter<br />

. . —<br />

Brauerei Biekert ... —<br />

Kunsttischler und<br />

Tischler 1<br />

Bäckereiarbeiter in<br />

San Fernando ... 7<br />

Arbeiter der Waschund<br />

Plättanstalten 1<br />

Klempner in Avellaneda 2<br />

Eisenarbeiter 2<br />

Bauarbeiter in Resistenzia,<br />

Chace, Villa Maria,<br />

Cordoba, La Plata,<br />

Buenos Aires und<br />

Bäcker in Bregado und<br />

Xandil . — „ „<br />

Buenos Aires .... — „ „<br />

Tischler, Polierer und<br />

verw. Berufe in Cordoba<br />

— „<br />

Leder- und. Portefeuillearbeiter<br />

und -arbeiterinnen<br />

in Rosario<br />

Das sind die bedeutenderen Streiks im<br />

April 1923, Kämpfe von kurzer Dauer,<br />

sowie eine Reihe Streiks, die uns nicht<br />

gemeldet, sondern allein ausgefochten wurden,<br />

sind vorstehend nicht aufgeführt. <strong>Die</strong><br />

Dauer der einzelnen Streiks schwankt zwischen<br />

wenigen Tagen und Wochen. Der<br />

Metallarbeiterstreik nahm mehrere Monate<br />

in Anspruch.<br />

Auch die Resultate der Einzelkämpfe<br />

sind sehr verschieden doch können wir bestimmt<br />

versichern, daß die überwiegende<br />

Mehrzahl aller Streiks mit vollem Erfolg,<br />

ein geringer Teil mit relativem Erfolg endeten,<br />

während nur sehr wenige Streiks<br />

erfolglos abgebrochen und auf gelegenere<br />

Zeit verschoben wurden.<br />

ARGENTINIEN 109<br />

Streiks im Monat April 1924.<br />

BuenosiAires:<br />

Vereinigte Metallarbeiter<br />

in 1 Betriebsstätte<br />

Naphthaarbeiter<br />

Schuhmacher 2 „<br />

Kunsttischler und<br />

Tischler „3 „<br />

Wagner „3<br />

Chauffeure ,, Avellaneda<br />

Teigwaren „ 1 Betriebsstätte<br />

Vereinigte Oelarbeiter ,, 1 „<br />

Konditoreiarbeiter . . „ 1 „<br />

Chauffeure „2 „<br />

Textilarbeiter (mehr als 15 000 Arbeiter).<br />

Zu diesen Streiks in der Hauptstadt<br />

können wir aus demselben Zeitraum (April<br />

1924) noch folgende Kämpfe im Lande anführen:<br />

Arbeiter der Eisenbahnwerkstätten in<br />

Salta und Chile<br />

Ziegeleiarbeiter in La Plata (27 Tage)<br />

Föderation von Lomas de Zamorra<br />

Eisenbahnwerkstättenarbeiter in Tafi<br />

Viejo.<br />

<strong>Die</strong> Bewegung verschiedener Distrikte<br />

von Sirras Bajas<br />

Bäcker in Junin<br />

Wachsarbeiter in Rosario<br />

Minenarbeiter in Famatina<br />

Bäcker in Mercedes<br />

Mosaikarbeiter und verwandte Berufe in<br />

Lomas.<br />

Generalstreik einzelner Berufsgruppen<br />

in<br />

Jujuy: Proteststreik gegen Polizeiwillkür.<br />

Buenos-Aires: Streik der Ziegeleiarbeiter.<br />

Buenos-Aires: Streik der Mosaikarbeiter.<br />

Buenos-Aires: Streik der vereinigten<br />

Maler.<br />

Buenos-Aires: Streik der Eisenindustriearbeiter.<br />

Lomas: Streik der Mosaikarbeiter und verwandter<br />

Berufe.<br />

San Fernando: Streik der Wagenführer.<br />

Streik der Textilarbeiter und -arbeiterinnen<br />

gegen ein geplantes reaktionäres Sozialversicherungsgesetz,<br />

das dann auch<br />

von der Regierung zurückgezogen wurde.<br />

Generalstreiks.<br />

1. Von 7. bis 9. Juni 1923, als Protest<br />

gegen die Ausweisung unseres Kameraden<br />

Sylveyra aus Uruguay La Union Sindical<br />

Argentina — U.S.A. die sindikalistische<br />

Union Argentiniens, forderte in<br />

der bürgerlichen Presse das Proletarit<br />

auf, diesen Proteststreik zu sabotieren.


110 ARGENTINIEN<br />

2. Vom 16.—22. Juni 1923 gegen die Ermordung<br />

des Genossen Kurt Wilckens im<br />

Nationalgefängnis, eine der imposantesten<br />

Kundgebungen, die Argentinien erlebte.<br />

<strong>Die</strong> F.O.R.A. führte die Erhebung durch<br />

trotz der verräterischen Gegenaktion der<br />

U.S.A., deren Versuch, den Generalstreik<br />

abzuwürgen, an der Begeisterung der<br />

Massen scheiterte. Es gab zwischen ihnen<br />

und uns blutige Zusammenstöße unter<br />

Verlust von Toten und Verwundeten aus<br />

beiden Lagern. (Nach Schluß des General-<br />

Streiks die üblichen zahlreichen Verhaftungen.)<br />

Hier dürften die Ursachen dieses<br />

Generalstreiks und seine Begleiterscheinungen<br />

den europäischen Genossen in<br />

Erinnerung zu bringen sein:<br />

Am 25. Januar 1923 tötete Genosse<br />

Kurt Wilckens den Oberstleutnant Varela<br />

aus Buenos-Aircs. <strong>Die</strong>ser Mann war Chef<br />

der Expedition, die 1921 gegen die streikenden<br />

Arbeiter in Patagonien mobil gemacht<br />

wurde. Varela wurde bekanntlich<br />

beschuldigt, bei dieser Gelegenheit 1500<br />

Arbeitern den Tod gebracht zu haben.<br />

<strong>Die</strong> Verhaftung des Rächers jener getöteten<br />

Arbeiter des Kameraden Kurt<br />

Wilckens, rief sofort in unsern angeschlossenen<br />

Organisationen eine Aktion auf den<br />

Plan, um die Verteidigung vor dem Gerieht<br />

sicherzustellen und brachte zu<br />

diesem Zwecke in vier Monaten die<br />

Summe von nahezu 10 000 Pesos zusammen.<br />

<strong>Die</strong> Popularität des Kameraden<br />

Wilckens veranlaßte die U.S.A. auch<br />

ihrerseits eine Sammlung zu jenem Zwecke<br />

einzuleiten.<br />

Kamerad Wilckens gab dann dem ausdrücklichen<br />

Wunsche Ausdruck, das von<br />

der U.S.A. aufgebrachte Geld im Interesse<br />

aller Inhaftierten unserm Komitee<br />

zu überweisen.<br />

<strong>Die</strong> U.S.A. widersetzte sich aber dem<br />

Wunsche Wilckens und und benützte die<br />

für Wilckens Verteidigung eingegangenen<br />

Beträge zu einem Propagandafeldzug gegen<br />

unsere Organisation.<br />

3. Vom 3. bis 8. Mai 1924 der dritte<br />

Generalstreik gegen die obligatorische<br />

Einführung des reaktionären Sozialversicherungsgesetzes.<br />

(Wie gewöhnlich trat<br />

auch hier wieder der verräterische Charakter<br />

der U.S.A. zutage. Sie wandte sich<br />

gegen unsere Aktion und brachte es<br />

fertig, sich zu diesem Zwecke mit dem<br />

Polizeichef und dem Präsidenten der Republik<br />

in Verbindung zu setzen.<br />

<strong>Die</strong>se Verkommenheit der U.S.A. erscheint<br />

in diesem Lande geradezu als berechnete<br />

Liebedienerei. Denn die Angst<br />

der Kapitalisten sowohl wie der Regierung<br />

von unsern immer mehr wachsenden<br />

Erfolgen in der Generalstreikpropaganda<br />

ist so groß, daß sie sich entschlossen.<br />

jede Aktion der F.O.R.A. einfach gesetzlich<br />

zu verbieten. Eine Maßnahme, von der<br />

hierzulande noch nie eine Partei oder<br />

wirtschaftliche Interessengruppe betroffen<br />

wurde. Doch können solche Mittelchen<br />

unsere Bewegung nur äußerlich für kurze<br />

Zeit hemmen, während solche Repressalien<br />

in Wirklichkeit erfahrungsgemäß nur die<br />

innere Festigkeit und Angriffslust, sowie<br />

den bestimmenden Einfluß auf die Arbeitermassen<br />

unaufhörlich steigern.<br />

Weitere beachtliche Tatsachen.<br />

Im September 1923 ereigneten sich in<br />

Villa Laza, in der Provinz Buenos-Aires.<br />

in einer größern Arbeiterversammlung<br />

blutige Zusammenstöße zwischen Mitgliedern<br />

der U.S.A. und unsern Kameraden,<br />

die zwei Arbeitern das Leben kostete.<br />

Hinterher beschuldigten die in der Mehrzahl<br />

anwesenden U.S.A.-Leute uns, den<br />

Zusammenstoß verschuldet zu haben,<br />

während zweifelsfrei festgestellt wurde,<br />

daß in dem Tumult Angehörige der U.S.A.<br />

unter sich hart aufeinandergestoßen sind<br />

und ihre eigenen Kameraden zusammengeschlagen<br />

haben. <strong>Die</strong>se Tatsachen hinderten<br />

natürlich nicht, daß Denunzianten.<br />

Polizei und Arbeitgeber die Gelegenheit<br />

benutzten, die verhaßten Anarchisten aufs<br />

Korn zu nehmen. Verhaftungen, Entlassungen<br />

aus den Betrieben folgten rasch<br />

aufeinander, in deren Verlauf einem<br />

wackern Kameraden der Prozeß gemacht<br />

wurde, der mit seiner Verurteilung zu<br />

10 Jahren Gefängnis endete.<br />

Am 23. Januar unternahm der Genosse<br />

Desiderio Funes ein zwar erfolgloses<br />

Attentat gegen den Faschistcn-Chef in<br />

Argentinien: Manuel Charles, den man als<br />

den intellekuellten Urheber des an dem<br />

Genossen Kurt Wilckens verübten Mordes<br />

hielt. <strong>Die</strong>ser rachedurstige Attentäter<br />

wurde zu 8 Jahren Gefängnis verurteilt.<br />

Ende Juni 1923 veröffentlichte das<br />

Komitee der F.O.R.A. für Inhaftierte und<br />

Deportation eine Statistik, wonach im<br />

Laufe eines einzigen Jahres nicht weniger<br />

als<br />

3100 Kameraden verhaftet wurden.<br />

Ohne Einzelheiten aufzuzählen, können<br />

wir uns auf die europäischen Genossen<br />

der Länder Rußlands, Italiens, Spaniens<br />

berufenen, denen wir ununterbrochen in<br />

materieller Solidarität helfend zur Seite<br />

gestanden haben.


Dafür wird man uns die Anerkennung<br />

um so weniger versagen, wenn wir an<br />

die tatkräftige Unterstützung der Opfer<br />

der Reaktion in dem Lande unseres<br />

eigenen Aufenthaltes erinnern. <strong>Die</strong><br />

Ehrenpflicht, unseren Inhaftierten und<br />

deren Angehörigen gegenüber gilt uns<br />

heilig. Ohne die geringste Uebertreibung<br />

können wir den Aufwand nach dieser<br />

Richtung auf durchschnittlich<br />

30 000 bis 40 000 Pesos in einem Jahre<br />

berechnen. Ueber dieser ständigen Solidaritätsbeteiligung<br />

vergessen wir nicht, die<br />

Propaganda in den südamerikanischen<br />

Ländern außerhalb Argentiniens nach<br />

Kräften zu fördern, durch moralische, wie<br />

materielle Unterstützung.<br />

Wir haben uns durch die Beschlüsse<br />

des neunten Kongresses einmütig in der<br />

Aufgabe zusammengefunden, in allen amerikanischen<br />

Ländern mit spanisch sprechen:<br />

der Bevölkerung mit Nachdruck in Wort<br />

und Schrift die Propaganda einzusetzen.<br />

Wenn wir auf diesem Gebiete noch<br />

nicht alle Energien einsetzen konnten in<br />

der kurzen Zeit, so halten uns die Pflichten<br />

innerhalb Argentiniens und die internationale<br />

Reaktion davon in beträchtlichen<br />

Hemmungen ab.<br />

Für mündliche Propaganda in Argentinien<br />

steht uns ein Stab gefestigter<br />

Redner und organisatorisch geschulter<br />

Kräfte zur Seite, da wir der Propaganda<br />

sofort neue Organisationsbildungen folgen<br />

lassen, wozu sowohl kleinere wie größere<br />

Versammlungen und Manifestationen allgemeiner<br />

Beteiligung die besten und<br />

schnell aufeinanderfolgenden Gelegenheiten<br />

bieten.<br />

Unsere Presse.<br />

In der schriftlichen Propaganda werden<br />

die Bestrebungen der F.O.R.A. außer<br />

der „La Protesta" und ihren Wochenbeilagen<br />

noch durch mehr als zwanzig Gewerkschaftsorgane<br />

unterstützt, deren Erscheinungsweise<br />

verschieden ist. <strong>Die</strong><br />

regelmäßig erscheinenden und gelesensten<br />

Organe sind „El obrero panadero" (Der<br />

Bäckergeselle) begründet 1896 und „El<br />

cerpintero" (Der Tischler) begründet 1901.<br />

Ferner verfügen über eigene Organe:<br />

<strong>Die</strong> Metallarbeiter, die Heizer und Maschinisten,<br />

die Automobil-Garagen-Arbeiter,<br />

die Köche, Kellner, Schuhmacher,<br />

Ziegeleiarbeiter, Bauarbeiter und andere<br />

mehr.<br />

Ziffernmäßige Mitgliederliste der F.O.R.A.<br />

Im Allgemeinen wird die Stärke<br />

unserer Organisationen nicht nach Ergeb-<br />

ARGENTINIEN 111<br />

nissen statistischer Zahlenreihen bemessen,<br />

Wir beurteilen und empfinden unsere<br />

Stärke mehr nach tatsächlichen Erfolgen<br />

und nach der Suggestivkraft, die unsere<br />

Organisationen und ihre revolutionären<br />

Handlungen auf die breiten Massen der<br />

Arbeiterschaft in Perioden hochgradiger<br />

Erregung ausüben. Wenn der Föderalrat<br />

der F.O.R.A. sich dennoch der Arbeit<br />

statistischer Feststellungen bezüglich unserer<br />

Mitgliederbestände unterzogen hat,<br />

so war das lediglich die Folge von Beschlüssen,<br />

die auf Kongressen und in Konferenzen<br />

gefaßt wurden.<br />

Daß auf diesem für uns neuen und<br />

ungewohnten Tätigkeitsgebiet nur langsam<br />

greifbare Fortschritte zu verzeichnen<br />

sind, erklärt sich aus dem noch unentwickelten<br />

Eifer in den Kreisen der Mitglieder,<br />

ohne den es dem Föderalrat<br />

schwer gemacht wird, die übertragenen<br />

statistischen Aufgaben rascher und befriedigender<br />

zu erfüllen. Doch kann man<br />

in allernächster Zeit auf diesem Gebiet<br />

bessere Resultate erwarten, weil in weiten<br />

Kreisen der Organisationen die Einsicht<br />

wächst, daß jene Arbeiten unerläßlich<br />

sind, um auch unsern europäischen Kameraden<br />

ein klares und übersichtliches Bild<br />

von der F.O.R.A. innerhalb der argentinischen<br />

Arbeiterbewegung zu unterbreiten<br />

Kann in dieser Beziehung in vorstehendem<br />

Bericht noch nicht viel geboten<br />

werden, so können wir auf einen andern<br />

für die Bewertung der F.O.R.A. höchst<br />

wichtigen Gebiete mit Unterlage aufwarten,<br />

woraus die unvcrsicglichc Opfer-<br />

Willigkeit, Angriffslust und brüderliche<br />

Solidarität zu erkennen sind, von denen<br />

die Mitglieder der F.O.R.A. bis auf den<br />

letzten Mann beseelt sind.<br />

Aus nachstehenden, wenn auch nur<br />

summarisch zusammengestellten Daten<br />

mögen die Kongreßteilnehmer ein Bild gewinnen,<br />

daß die Anarchisten neben der<br />

internationalen Solidaritätspflicht auch<br />

das Unterstützungswesen im eigenen<br />

Lande in durchaus freiwilliger Brüderlichkeit<br />

zu pflegen und lebendig zu gestalten<br />

wissen.<br />

Als Organe dieser Beteiligung sind die<br />

Komitees zu betrachten, wie sie sich in<br />

den einzelnen Städten und Provinzen gebildet<br />

haben und in den Ueberschriften<br />

bezeichnet sind.<br />

Dabei muß ausdrücklich bemerkt werden,<br />

daß die eingegangenen Beträge das<br />

Resultat eines einzigen Jahres (1924) sind,<br />

ein Jahr, in dessen Verlauf die Bewegung<br />

in relativ ruhigem Tempo arbeitete.


112 ARGENTINIEN<br />

Komitee BuenossAires.<br />

Aus Schenkungen, Ueberschlissen<br />

festlicher Veranstaltungen<br />

und Sammlungen,<br />

aus Einnahmen<br />

bei Festlichkeiten aller<br />

Art wurden zusammengebracht<br />

39 717,70 Pesos<br />

<strong>Die</strong> Ausgaben beliefen sich<br />

etwa auf . . . . . . 37111,88 „<br />

Einzelleistungen.<br />

An inhaftierte Kameraden 3 566,— Pesos<br />

An deren Familien . . . 3 993,85 „<br />

Beköstigung Inhaftierter u.<br />

Prozeßkosten . . . . 2 375,— „<br />

Für Rechtsschutz . . . . 8983,— „<br />

Unterstützung Verfolgter<br />

und deren Rechtsschutz 18 694,28 „<br />

Der Monat Januar 1924.<br />

wies in BuenossAires nachstehende Straf-<br />

Verfolgungen auf:<br />

12 Fälle Gefängnis oder Zuchthaus,<br />

13 „ Uebertretung,<br />

13 „ Freispruch,<br />

6 „ Deportation nach Usuhaia,<br />

3 „ Deportation nach Sierra Chica,<br />

5 „ Zuchthaus,<br />

7 „ Nationalgefängnis,<br />

3 „ Untersuchungshaft,<br />

3 „ Polizeigefängnis.<br />

Unter den im Nationalgefängnis eingesperrten<br />

Kameraden befindet sich Desiderio<br />

Funes, der (erfolglos) ein Attentat<br />

gegen den Chef der „Patriotischen Liga"<br />

(argentinische Faschisten) unternahm.<br />

Im Monat September<br />

hatte das Komitee Buenos-Aires für Unter-<br />

Stützung zu sorgen in:<br />

3 Fällen Festung Usuhaia,<br />

3 „ Sierra Chica,<br />

7 „ Nationalgefängnis,<br />

8 „ Zuchthaus,<br />

9 „ Untersuchungs- und Polizeihaft.<br />

<strong>Die</strong> übrigen zehn Monate 1924 gaben<br />

ein mehr oder minder „abweichendes Bild"<br />

wie das der rigorosen Strafverfolgungen<br />

der Monate Januar und September.<br />

Komitee für Avellaneda.<br />

Eingegangene Beiträge 1924 868,55 Pesos<br />

Einzelleistungen:<br />

An inhaftierte Kameraden . 369,— Pesos<br />

An deren Familien . . . . 126,65 „<br />

Rechtsschutz . . . . . . 372,— „<br />

Komitee für Bahia Bianca.<br />

Eingegangene Beiträge 1924 4081,27 Pesos<br />

Einzelteistungen:<br />

An Inhaftierte und deren<br />

Angehörige 2629,— Pesos<br />

Rechtsschutz 1160— „<br />

Komitee für Santa Rosa (La Pampa).<br />

Eingegangene Beiträge . . . 3230,— Pesos<br />

Einzelleistungen:<br />

An inhaftierte Kameraden 1280,— Pesos<br />

An deren Familien . . . . 750,— „<br />

Rechtsschutz 1200,— „<br />

Komitee der Provinz Santa Fe.<br />

Eingegangene Beiträge . . 930,— Pesos<br />

Einzelleistungen:<br />

An inhaftierte Kameraden . 600,— Pesos<br />

Rechtsschutz 330,— „<br />

Komitee für Corral de Bustos.<br />

Eingegangene Beiträge . . 532,20 Pesos<br />

Ueberwiesen an das Komitee<br />

Buenos-Aires 412,20 „<br />

Ueberwiesen an das Komitee<br />

Santa Fe 12,— „<br />

Komitee für Necochea.<br />

Eingegangene Beiträge . . 285,— Pesos<br />

Komitee für Mendoza.<br />

Eingegangene Beiträge . . 800,— Pesos<br />

Verausgabt für Rechtsschutz,<br />

inhaftierte Kameraden<br />

und deren Familien 800,— „<br />

Komitee der Bäckereiarbeiter von<br />

Buenos Aires.<br />

Im Laufe des Jahres wurden<br />

18 Kameraden prozessiert,<br />

für deren Rechtsschütz<br />

und Unterstützung<br />

an die Gefangenen und<br />

deren Angehörige aufgebracht<br />

und verausgabt<br />

wurden insgesamt . . . 7797,70 Pesos<br />

Komitee der Bäckereiarbeiter von Talleres,<br />

Lomas und Quilmes.<br />

Eingegangene Beiträge . . 6188,— Pesos<br />

Einzelleistungen:<br />

Für inhaftierte Kameraden 1910,— Pesos<br />

Für deren Familien . . . 2300,— „<br />

Rechtsschutz 1878,— „<br />

Komitee in San Juan.<br />

Eingegangene Beiträge . . 108,05 Pesos<br />

Einzelleistungen:<br />

An inhaftierte Kameraden . 23,75 Pesos<br />

Für deren Familien . . . . 34,50 „<br />

Rechtsschutz 30,— „<br />

Ueberweisungen an andere<br />

Komitees 20,— „


Komitee in Tandil.<br />

Für inhaftierte Kameraden<br />

und deren Familien sowie<br />

für Rechtsschutz wurden<br />

aufgebracht und verausgabt<br />

400,— Pesos<br />

Vorstehende Unterstützungsaktionen,<br />

die, wie bereits bemerkt, mangels erst im<br />

Werden begriffener Statistik auf Vollständigkeit<br />

keinen Anspruch machen<br />

BRASILIEN 113<br />

können, sind wohl dennoch geeignet, den<br />

Geist der Solidarität zu erkennen, der in<br />

den Reihen der Organisationen der<br />

F.O.R.A. Argentiniens lebendig wirksam<br />

ist.<br />

Im Namen des kommunistischen<br />

Anarchismus Argentiniens sendet den<br />

Kongreßteilnehmern brüderliche Grüße<br />

Der Föderalrat der F.O.R.A.<br />

I. A.: Der Sekretär J. M. Acha.<br />

BRASILIEN<br />

Bericht der Federacáo Operaria (Arbeiter-Föderation) von Rio Grande do Sul.<br />

An die Kameraden des zweiten inters<br />

nationalen Kongresses der I.A.A.<br />

zu Amsterdam.<br />

Zuerst übermittle ich an die anwesenden<br />

Delegierten im Namen der Arbeiter-<br />

Föderation Rio Grande do Sul die besten<br />

Grüße. Wir wünschen, daß es den Delegierten<br />

vergönnt sein möge, eine Basis<br />

zu finden, auf welcher alle antiautoritären<br />

Revolutionäre eine internationale Kampfesfront<br />

bilden können. Das ist der<br />

einzige Wunsch, welchen wir diesem<br />

Kongreß als Antrag übermitteln.<br />

Kameraden! Von heute ab könnt ihr<br />

uns als Mitglieder der I.A.A. betrachten.<br />

<strong>Die</strong> ArbeitersFöderation (F.O.R.G.S.)<br />

Brasiliens hat in ihrer am 8. Februar 1925<br />

stattgefundenen Delegiertensitzung, nachdem<br />

diese Frage bereits in einigen<br />

Sitzungen diskutiert worden war. einstimmig<br />

diesen Anschluß an die I.A.A.<br />

beschlossen. An die F.O.R.G.S. sind angeschlossen<br />

die Federacäo Operaria<br />

Porto Alegre, mit 600 Bäckern, 200<br />

Schuhmachern, 100 Gastwirtsgehilfen, 60<br />

Angehörigen verschiedener Berufe, 40<br />

Mitgliedern der deutschen Sektion, 200<br />

Bergarbeitern in Sao Jeronimo, 200 Mitgliedern<br />

der Liga Operaria Pelotas, 200<br />

Mitgliedern der Allgemeinen Arbeiter-<br />

Union Rio Grandes, U.G.d.F. de Bage 300<br />

Mitglieder, Union der Landarbeiter und<br />

Kleinbauern von Boa Vista und Umg. 400<br />

Mitglieder, deutsche Kolonisten und Arbeiter<br />

von Jjinhy (Gruppe freie Arbeiter)<br />

80 Mitglieder. Im ganzen 2380 Mitglieder.<br />

Außer diesen kommen noch einige<br />

Gruppen deutscher Kolonisten hinzu. <strong>Die</strong><br />

Zahl der Mitglieder sowie der Syndikate<br />

in Porto Alegre und im ganzen Staat sind<br />

durch die nun schon zwei Jahre währende<br />

politische Futterkrippen-Revolution und<br />

die damit verbundene Reaktion bedeutend<br />

verringert worden, doch hoffen wir, in der<br />

kürzesten Zeit wieder mit anderen Zahlen<br />

rechnen zu können.<br />

Kameraden! Im vorigen Jahre hatten<br />

wir bereits beschlossen, mit den übrigen<br />

Anarchisten und Anarcho-Syndikalisten<br />

von Brasilien in der Person des Kameraden<br />

Carlos Diaz einen Delegierten zu<br />

dem Kongreß zu senden, aber dann setzte<br />

der Militäraufstand in Sao Paulo ein, von<br />

welchem sich auch ein Teil, sonst sehr<br />

besonnener Anarcho-Syndikalisten blenden<br />

ließ. Sie glaubten, in diesem Faschisten-Aufstand<br />

den Anbeginn der sozialen<br />

Revolution zu erblicken. Das Resultat<br />

ist Euch bekannt. <strong>Die</strong> Faschisten<br />

verloren dieses Mal das Spiel, und die<br />

ganze Wut der Regierungskanaille tobt<br />

sich an unseren geblendeten Kameraden<br />

sowie an allen, die sich Anarchisten oder<br />

Anarcho-Syndikalisten nennen, aus. Unzählige<br />

unserer Kameraden wanderten ins<br />

Gefängnis, andere wurden ausgewiesen.<br />

<strong>Die</strong> Presse wurde verboten oder unter<br />

Zensur gestellt, jede direkte Verbindung<br />

von uns mit den Kameraden von Paolo,<br />

Rio de Janeiro war unterbrochen. Erst<br />

nach und nach fanden sich andere Wege.<br />

Aus diesen Gründen ist es es dieses Mal<br />

nicht möglich, einen Delegierten zum<br />

Kongreß zu senden.<br />

Schamlos, wie nicht anders zu erwarten,<br />

ist das Verhalten der Herren Bolschewiki.<br />

Sie werden nicht von den Regierungsorganen<br />

geknebelt. Man läßt sie sich<br />

frei austoben, und da benutzen sie die<br />

jetzige Zeit, um ihr Schäfchen ins<br />

Trockne zu bringen. Mit allen, auch den<br />

gemeinsten Mitteln arbeiten sie gegen uns,<br />

wenn auch ohne großen Erfolg. <strong>Die</strong><br />

einzigen Zeitungen, welche eben hier<br />

unsere Idee vertreten, sind der in deutscher<br />

Sprache erscheinende „Der Freie<br />

Arbeiter" und „La Trabalho" in portugisischer<br />

Sprache. Es ist jedoch damit zu<br />

rechnen, daß diese Zeitung, von der erst<br />

eine Nummer erschien, in Bälde wieder<br />

verboten wird.


114 COLUMBIEN<br />

„Der Syndikalist" erscheint ab 1. März<br />

1925 wieder hier in Porto Alegre in<br />

portugiesischer Sprache. <strong>Die</strong> F.O.-Portos<br />

Alegre ist dem international-antimilitaristischen<br />

Büro angeschlossen.<br />

Kameraden! Wir halten nicht viel von<br />

papiernen Protesten, unsere Genossen<br />

wünschten jedoch, daß der Kongreß seine<br />

Stimme erhebt gegen die unmenschliche<br />

Behandlung, der unsere eingekerkerten<br />

Genossen ausgesetzt sind.<br />

Wir glauben Euch, Kameraden, durch<br />

diese wenigen Worte einen Einblick in die<br />

Verhältnisse der hiesigen Organisation<br />

und die unnormale Situation gegeben zu<br />

haben und zeichnen<br />

Mit revolutionären Grüßen<br />

Porto Alegre, 8. 2. 1925.<br />

I.A.: Fr. Kniestedt.<br />

COLUMBIEN<br />

Bericht der Gruppe „Anarcho Libertaria" an das <strong>Internationale</strong> Büro der I.A.A. über<br />

Stand der Arbeiterbewegung in Columbien.<br />

Ursprung der Tätigkeit. Bis zum Jahre<br />

1924 war eine gewerkschaftliche Bewegung<br />

der Arbeiter in Columbien fast<br />

gänzlich unbekannt und beschränkte<br />

sich auf einige kleine Kreise<br />

in verschiedenen Punkten der Republik,<br />

hauptsächlich in der Hauptstadt, die sich<br />

in Vereinen zusammentaten und deren<br />

ganze Tätigkeit in gegenseitigen Hilfsleistungen<br />

ihren Ausdruck fand. Im Jahre<br />

1923 ergriffen einige Elemente die Initiative,<br />

um eine allgemeine Verbreitung<br />

der gewerkschaftlichen Organisationen ins<br />

Leben zu rufen, aber diese Versuche<br />

scheiterten meistenteils an der Unwissenheit<br />

der Arbeiter, die von den regierenden<br />

Klassen systematisch aufrechterhalten<br />

wird. Gegen Ende des Jahres trat die<br />

entwickelste Gruppe der Hauptstadt für<br />

die Einberufung eines nationalen Arbeiterkongresses<br />

ein, um die verstreuten proletarischen<br />

Kräfte zu einer einheitlichen<br />

Aktion zusammenzufassen und sie über<br />

das ganze Land hin zu organisieren. <strong>Die</strong>se<br />

Idee wurde von den Arbeitern, die bereits<br />

in Vereinen verbunden waren, und von<br />

einigen ganz kleinen Kreisen sogenannter<br />

Sozialisten, die der politischen Betätigung<br />

der Arbeiter das Wort redeten, enthusiastisch<br />

begrüßt.<br />

Am 1. Mai 1924 trat in Bogota, Columbierns<br />

Hauptstadt, der Kongreß zusammen,<br />

der sich Arbeiterkongreß nannte und auf<br />

dem das Element, das von den politischen<br />

Parteien gesandt wurde, das vorherrschende<br />

war. <strong>Die</strong>ses Element hatte<br />

es von vornherein darauf abgesehen, die<br />

Tätigkeit derjenigen zu lähmen, die mit<br />

ehrlichem Willen und gutem Glauben<br />

hierher gekommen waren. Auf diese<br />

Weise konnte es nicht ausbleiben, daß die<br />

Arbeiten des 'Kongresses, welcher sich<br />

unter den Schutz der Regierung gestellt<br />

hatte, die ihm alle lokalen Begünstigungen<br />

gewährte — so konnte der Kongreß im<br />

nationalen Coliseum tagen, und bei der<br />

Eröffnung war der Präsident der Republik,<br />

umgeben von einer ganzen militarischen<br />

Gefolgschaft, anwesend, — unfruchtbar<br />

blieben und sich durch ihre Unzulänglichkeit<br />

auszeichneten. Nach einer<br />

Sitzungszeit von fünfzehn Tagen, wobei<br />

man der Regierung und den katholischen<br />

Prälaten die Grüße des Kongresses übermittelte,<br />

während man für das internationale<br />

Proletariat nicht soviel Aufmerksamkeit<br />

aufbrachte, löste sich der Kongreß<br />

in Wohlgefallen auf, nachdem er es<br />

vorher nicht unterlassen hatte, einen<br />

absurden Organisationsplan vorzuschlagen<br />

und einen Ausschuß ernannt hatte,<br />

den man „Föderation" taufte, und dem<br />

man die Aufgabe übertrug, diesen Plan<br />

in Wirklichkeit umzusetzen.<br />

<strong>Die</strong> F.O.C. (Federacion Obrera Colombiana).<br />

Arbeitcr-Föderation Colombias.<br />

Einige Monate nach diesem unglücklichen<br />

Arbeiterkongreß, während die Initiatoren<br />

dieser Vereinigung noch damit beschäftigt<br />

waren, den Plan ihrer Organisation zu<br />

entwickeln, konnte man bereits die Gründung<br />

zahlreicher gewerkschaftlicher Organisationen,<br />

besonders in Bogota, um<br />

sich greifen sehen, die der wachsame Enthusiasmus<br />

einer kleinen Anzahl überzeugter<br />

Arbeiter ins Leben gerufen hatte, und<br />

zwar nicht nach dem Plane des oben erwähnten<br />

Kongresses, sondern vielmehr<br />

im Widerspruch mit den Arbeiten desselben.<br />

Um jene Zeit existierte in der<br />

Hauptstadt eine Körperschaft, die sich<br />

„Zentralausschuß der Arbeiter" nannte.<br />

In dieser Körperschaft waren je zwei Delegierte<br />

der Genossenschaft für gegenseitige<br />

Hilfe vertreten, wie auch Vertreter<br />

der gewerkschaftlichen Organisationen, die


sich von den anderen etwas unterschieden,<br />

indem sie eine gewisse Tätigkeit entwickelten<br />

zur Verteidigung der Arbeiter, welche<br />

vom Staate und vom Unternehmertum<br />

unterdrückt werden. Sobald nun die<br />

„Tätigkeit" der F.O.C. einsetzte, löste<br />

sich diese einzige Körperschaft auf, in<br />

welcher die Arbeiter eine Vertretung<br />

fanden, um sich der fortgesetzten Demütigungen<br />

und Unterdrückungsmaßregeln<br />

derjenigen zu erwehren, welche die Gesetze<br />

bestimmen. Nach der Auflösung<br />

des „Zentralausschusses der Arbeiter" erklärte<br />

sich die F.O.C. als einzige berechtigte<br />

Arbeiterbewegung Columbiens. Sie<br />

beschränkte das Feld ihrer Tätigkeit<br />

hauptsächlich auf die Hauptstadt, wo sie<br />

einige Gewerkschaften ins Leben rief und<br />

die Aufseher verschiedener Betriebe zu<br />

Präsidenten erwählte, ohne sich durch die<br />

Proteste der Arbeiter beirren zu lassen,<br />

die darauf hinwiesen, daß diese Aufseher<br />

nicht nur kein Interesse daran hätten,<br />

die Sache der Arbeiter zu vertreten,<br />

sondern diese Sache durch ihre Handlungen<br />

direkt in den Kot zogen. Es ist leicht<br />

zu verstehen, daß bei einem solchen Stand<br />

der Dinge, welcher den Arbeitern durch<br />

die Föderation aufgezwungen wurde, die<br />

Aktion der Gewerkschaften gelähmt werden<br />

mußte, so daß sie nicht imstande<br />

waren, die Aufgaben zu erfüllen, die ihnen<br />

eigentlich oblagen.<br />

Aktion der F.O.C. Gegen Ende Oktober<br />

vergangenen Jahres entstand zwischen<br />

einer der neuorganisierten Gewerkschaften<br />

und den Unternehmern ein Streik, wobei<br />

man sich auch um Hilfe an die F.O.C.<br />

wandte. Es vergingen einige Wochen und<br />

die Arbeiter warteten vergeblich auf das<br />

Ergebnis der Schritte, welche die Einheits-<br />

Organisation unternommen hatte, um den<br />

Konflikt zu einem Ende zu bringen. Da<br />

geschah es, daß dieselbe Organisation, die<br />

sich ihrer Unfähigkeit noch rühmte, soweit<br />

ging, daß der Präsident der F.O.C.<br />

in verräterischer Weise an die Unternehmer<br />

eine Note schickte, in welcher<br />

er denselben seine Hilfe gegen die Gewerkschaft<br />

anbot. <strong>Die</strong> Folge war, daß<br />

die Unternehmer, welche durch dieses<br />

Anerbieten in ihrer Stellung gegen die<br />

Arbeiter nur bestärkt wurden, trotz der<br />

Solidarität der damals bereits existierenden<br />

Syndikate, des Streikes Herr wurden<br />

und es sogar soweit brachten, daß sich die<br />

Gewerkschaft der Elektriker, die in den<br />

Kampf verwickelt war, auflöste. <strong>Die</strong>se<br />

„Vermittlung" der F.O.C. begünstigte indirekt<br />

ein Gesetz, welches die Regierung<br />

COLUMBIEN 115<br />

vor kurzem den Arbeitern aufzwang, um<br />

die Streiks zu regeln und welches natürlich<br />

nur den Zweck hat, dieselben zu verhindern<br />

und fruchtlos zu machen.<br />

Als die italienische Regierung beschlossen<br />

hatte, das Schiff „Italia" nach<br />

allen Häfen Amerikas zu schicken, um die<br />

faschistische Propaganda zu fördern, eine<br />

Propaganda, welche die schärfste Verurteilung<br />

herausrufen mußte, entblödete sich<br />

die F.O.C. nicht, der Mannschaft des<br />

Schiffes wie auch der italienischen Regierung<br />

ihre Grüße zu entbieten, die eines<br />

solchen Zweckes würdig waren.<br />

Als Calles zum Präsidenten von<br />

Mexiko erwählt wurde, beehrte ihn die<br />

F.O.C. mit ihrer Gratulation und nannte<br />

ihn den Bannerträger der Freiheitsideen<br />

des Volkes. Eine ähnliche Aufmerksamkeit<br />

erwies dieselbe Organisation einige<br />

Zeit später Samuel Gompers anläßlich des<br />

panamerikanischen Arbeiterkongresses in<br />

Mexiko.<br />

Union Sindical Colombiana. Infolge des<br />

Fiaskos der F.O.C. und ihrer absurden<br />

und komödienhaften Bestrebungen, die<br />

sich ohne weiteres gegen die Organisationen<br />

der Arbeiter richteten, forderte die<br />

Gruppe „Antorcha" zur Gründung der<br />

U.S.C. auf. Ihre Aufforderung wurde nicht<br />

bloß von den Gewerkschaften der Hauptstadt<br />

günstig aufgenommen, sondern fand<br />

auch im Lande selbst ein lebhaftes Echo.<br />

<strong>Die</strong> Folge war, daß sich in einer Zusammenkunft<br />

dreizehn Syndikate der Hauptstadt<br />

zusammenschlössen und eine Kommission<br />

erwählten, deren Aufgabe es war,<br />

die gemeinschaftlichen Grundlagen auszuarbeiten,<br />

die wir später hier entwickeln<br />

werden. <strong>Die</strong>se Grundlagen wurden mit<br />

einigen kleinen Veränderungen von den<br />

vereinigten Syndikaten angenommen, die<br />

jedoch die theoretischen Fundamente nicht<br />

berührten. <strong>Die</strong> der U.S.C. angeschlossenen<br />

Syndikate sind: die Gewerkschaft der<br />

Straßenbahner, das zentrale Arbeitersyndikat,<br />

die Gewerkschaft der Zeitungsverkäufer,<br />

die Gewerkschaft der Bierbrauer,<br />

die Gewerkschaft der Bäcker, die Gewerkschaft<br />

der Elektriker (neuerdings wieder<br />

reorganisiert) die Gewerkschaft der<br />

Tuchwirker, das Syndikat der Typographen,<br />

die Gewerkschaft der Eisenbahner<br />

des Südens, die Gewerkschaft<br />

der Phosphorindustrie, das Syndikat der<br />

Handwerker und Proletarier, die Gewerkschaft<br />

der Zement arbeit er und die Gruppe<br />

„Antorcha".<br />

Gegenwärtiger Stand der Bewegung. Der<br />

Anfang, der hier gemacht wurde, eröffnet


116<br />

uns gute Aussichten für die Zukunft und<br />

hat vorläufig unsere Arbeit insofern belohnt,<br />

als die Gewerkschaften, die sich<br />

uns angeschlossen haben, einen wirklich<br />

revolutionären Charakter tragen. Nicht<br />

etwa, daß alle Arbeiter, die sich uns anschließen,<br />

von Anfang an bewußte Revolutionäre<br />

sind, was ja in Anbetracht der<br />

ungeheueren Unwissenheit, in welcher<br />

die herrschenden Klassen dieses Landes<br />

die Arbeiter erhalten haben, ganz ausgeschlossen<br />

ist. Aber der revolutionäre<br />

Charakter unserer Organisation gibt sich<br />

in ihrer erzieherischen Wirkung kund, indem<br />

wir ununterbrochen bemüht sind, die<br />

den Arbeitern anerzogenen Vorurteile zu<br />

zerstören und sie durch eine unermüdliche<br />

prinzipielle Propaganda zum Bewußtsein<br />

ihrer Klassenlage, bringen. Mit<br />

einem Worte, unsere Arbeit ist in erster<br />

Linie erzieherischer Natur, wie es unter<br />

den gegebenen Umständen nicht anders<br />

zu erwarten ist. <strong>Die</strong> Mehrheit der existierenden<br />

Gewerkschaften haben noch Statuten,<br />

die noch nicht entfernt den Anforderungen<br />

einer modernen Kampforganisation<br />

entsprechen und keineswegs als<br />

freiheitlich bezeichnet werden können.<br />

Aber mit Hilfe eines Kreises prinzipiell<br />

eingestellter Kräfte, der bereits zahlreich<br />

ist, hoffen wir dem Geiste der wahren<br />

Befreiung Bahn zu brechen. Im Januar<br />

dieses Jahres entwickelte dieser Kreis<br />

eine erfolgreiche Tätigkeit unter den Arheitern,<br />

um ihnen das Unzulängliche der<br />

Wahlbeteiligung vor Augen zu führen und<br />

ihnen zu zeigen, daß der Parlamentarismus<br />

ein Hindernis für jede revolutionäre Arbeiterbewegung<br />

ist. Zu diesem Zwecke<br />

war eine wirkungsvolle Agitation in den<br />

Organisationen nötig, die sich durch<br />

öffentliche Versammlungen, Verbreitung<br />

von Flugschriften und Maueranschlägen<br />

bemerkbar machte. <strong>Die</strong>se Propaganda beschränkte<br />

sich nicht nur auf Bogota, sondern<br />

erstreckte sich über alle Teile des<br />

Landes. Sie bildete den ersten Triumph der<br />

revolutionären Ideen in Columbien und<br />

brachte es mit sich, daß die Bourgeoisie<br />

unseres Landes nun den Gewerkschaften<br />

den Krieg bis aufs Messer erklärt hat. Aber<br />

diese Kriegserklärung verstärkte nur die<br />

Empörung derjenigen, die bereits von uns<br />

gewonnen waren und half uns, diejenigen<br />

zu gewinnen, die uns vorher fernstanden<br />

oder nur halb ergeben waren. So waren<br />

denn die Herren gezwungen, sich mit<br />

uns zu beschäftigen und eine bürgerliche<br />

Zeitung brachte am 31. Januar, am<br />

Vorabend vor den Wahlen, eine längere<br />

COLUMBIEN<br />

Beschreibung unserer Arbeit von der Redaktion<br />

selber. Das alles zeigt uns, daß<br />

eine intensive Propaganda hier in allererster<br />

Linie nötig ist.<br />

<strong>Die</strong> U.S.C. hat sich die Aufgabe gestellt,<br />

Gewerkschaften mit freiheitlicher Einstellung<br />

im ganzen Lande zu organisieren und<br />

wird zu diesem Zwecke von den ihr bereits<br />

angeschlossenen Gewerkschaften und<br />

von denen, die ihre Bestrebungen anerkennen,<br />

finanziert. Da diese Arbeit gut<br />

vorwärts schreitet, werden wir jetzt eine<br />

allgemeine Agitation in Angriff nehmen,<br />

um die Arbeiter aufzurütteln und der Revolution<br />

vorzuarbeiten. Außerdem suchen<br />

wir jede Aktion intensiver zu gestalten,<br />

die uns die Möglichkeit bietet, für unsere<br />

Ideen zu wirken.<br />

Ideologische Gruppierungen. Solche<br />

existierten bis vor kurzem überhaupt nicht;<br />

heute bestehen mit unserer Gruppe drei<br />

solcher Vereinigungen: <strong>Die</strong> Gruppe „Tierra<br />

y Libertad" in Barranquilla, die<br />

Gruppe „Libertario" in Santa Marta und<br />

unsere Gruppe in der Hauptstadt. Wie<br />

es scheint, hat die Gruppe in Barranquilla<br />

letztens einen Gegenstoß erlitten<br />

und mußte infolgedessen ihre Tätigkeit<br />

etwas beschränken.<br />

Aussichten. Wir wir sehen, hat sich die<br />

F.O.C. entschlossen, ihre Organisation wieder<br />

aufleben zu lassen. Zu diesem<br />

Zwecke will sie einen zweiten<br />

Arbeiterkongreß einberufen, um die<br />

verlorenen Elemente zurückzugewinnen.<br />

Wir von unserer Seite arbeiten<br />

dieser Absicht mit allen Mitteln<br />

entgegen und suchen die Arbeiter zu bewegen,<br />

keine Delegierten zu jener Zusammenkunft<br />

zu senden. Wir hoffen, daß<br />

unsere Tätigkeit auch in dieser Hinsicht<br />

von Erfolg gekrönt sein wird. In derselben<br />

Zeit bereiten wir sobald als möglich<br />

den ersten Gewerkschaftskongreß<br />

vor, von dem wir gute Früchte erwarten.<br />

Bestrebungen. Bisher haben sich vier<br />

verschiedene Richtungen in unserem<br />

Lande entwickelt, welche behaupten, die<br />

Befreiung des Proletariats zu erstreben:<br />

die gelben Gewerkschaften, die freiheitlichen<br />

Syndikalisten, die Kommunisten<br />

und die Sozialisten. Von den letzteren<br />

kann man schon fast nicht mehr reden.<br />

<strong>Die</strong> Kommunisten geben sich Mühe, die<br />

Arbeiter zu gewinnen und führen zu diesem<br />

Zwecke eine verborgene Propaganda,<br />

seit Luis Tejada und ein Russe namens<br />

Savisky sich für diese Art der Tätigkeit<br />

einsetzten und behaupteten, damit bessere<br />

Ergebnisse zu erzielen. Unserer Mei-


nung nach ist ihre Auffassung falsch begründet.<br />

Wir sehen, daß der revolutionäre<br />

Syndikalismus mehr und mehr an Boden<br />

gewinnt. Aus diesem Grunde suchen wir<br />

die Arbeiter in unsere Syndikate hineinzuziehen,<br />

um sie dort zu bewußten Kampfern<br />

zu erziehen. Nach allem, was wir<br />

beobachten konnten, haben es die Kommunisten<br />

darauf angelegt, die bereits organisierten<br />

Arbeiter zu spalten, um auf diese<br />

Weise Anhänger zu erlangen und sie<br />

unterlassen kein Mittel, um diesen Zweck<br />

zu erreichen. Sie haben dieselben Methoden<br />

in Argentinien angewendet, aber das<br />

soll uns eine Lehre sein, ähnliche Dinge<br />

bei uns zu verhindern.<br />

<strong>Die</strong> Bourgeoisie, welche bemerkte, daß<br />

die Arbeiter sich ihrer Ausbeutung zu<br />

entziehen trachten, gründete schnell eine<br />

neue Partei, die sie Sozialdemokratie<br />

nannte, mit deren Hilfe sie die Arbeiter<br />

wieder einzufangen gedachte. Wir haben<br />

natürlich kein Mittel unversucht gelassen,<br />

um ihr dieses Spiel zu vereiteln.<br />

Mit der Absicht, die Arbeiter des ganzen<br />

Landes zu organisieren, haben wir uns<br />

darauf eingestellt, an den einzelnen Orten<br />

Gruppen von überzeugten und prinzipienfesten<br />

Kameraden zu gründen, welche den<br />

Namen „Vanguardia Obrera" (Arbeiter-<br />

Vorhut) tragen. Auf diese Weise sind wir<br />

imstande, unsere Propaganda intensiver<br />

zu gestalten und die besten Ergebnisse<br />

zu zeitigen.<br />

DÄNEMARK 117<br />

Mit großem Vergnügen senden wir Euch<br />

die Nummern unseres Blattes „La Vou Popular"<br />

und alle anderen Publikationen,<br />

die wir veröffentlicht haben, sowie Berichte<br />

über alle Vorkommnisse in unserer<br />

Bewegung.<br />

Unseren herzlichsten Dank für Euer<br />

Anerbieten, uns alle Eure spanischen Ausgaben,<br />

sowie spanische Uebersetzungen<br />

aus „<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong>" senden zu<br />

wollen, die uns zur Information unserer<br />

Leser sehr willkommen sind.<br />

Wir wünschen den Arbeiten Eures Kongrosses<br />

den besten Erfolg und hoffen, daß<br />

er fruchtbar wirken möge auf die Arbeiterbewegung<br />

der ganzen Welt. In diesem<br />

Sinne begrüßen wir die revolutionäre<br />

Zusammenkunft und all ihre Delegierten.<br />

Zusammen mit Euch für die baldige<br />

Befreiung, empfangt, liebe Kameraden,<br />

unsere brüderlichen und revolutionären<br />

Grüsse.<br />

Im Auftrage<br />

der Gruppe „Antorcha Libertaria"<br />

Charlos J. León.<br />

Kameraden! <strong>Die</strong> Eile, mit welcher dieser<br />

Bericht geschrieben wurde, erlaubte mir<br />

nicht, mehr Punkte anzuführen. Mit der<br />

nächsten Post folgt Brief und die Prinzipienerklärung<br />

der U.S.C. León.<br />

DÄNEMARK<br />

Bericht des „Revolutionären Arbeiterverbandes Dänemarks" über die Entwicklung der<br />

revolutionären Arbeiterbewegung Dänemarks in den letzten Jahren.<br />

Im Jahre 1921 ging die syndikalistische<br />

Arbeiterbewegung Dänemarks, die unter<br />

dem Namen „Zusammenschluß der Fachopposition"<br />

bestanden hat, ein Föderationverhältnis<br />

ein mit der Kommunistischen<br />

Partei Dänemarks. Der anarcho-syndikalistische<br />

Flügel trat aus der Organisation<br />

„Zusammenschluß der Fachopposition"<br />

(F.S.) aus und gründete eine neue Organisation<br />

unter dem Namen „Syndikalistischer<br />

Propagandaverband". <strong>Die</strong>ser<br />

syndikalistische Propagandaverband bestand<br />

jedoch nur ein halbes Jahr und ging<br />

ein auf Grund der Angriffe durch die<br />

früheren Mitglieder der „F.S.", die jetzt<br />

in der Kommunistischen Partei standen.<br />

Es dauerte nicht lange, da zeigte es sich,<br />

daß die Bildung einer Föderation mit der<br />

Kommunistischen Partei ein Fehler war.<br />

<strong>Die</strong> Kommunistische Partei Dänemarks<br />

wurde immer schwächer, nahm an Mitgliedern<br />

und Einfluß ab, und die syndikalistischen<br />

Kameraden öffneten zu spät die<br />

Augen und sahen erst als es zu spät war<br />

ein, daß sie einen Fehler begangen hatten.<br />

Sie bildeten eine Opposition innerhalb der<br />

Kommunistischen Partei Dänemarks und<br />

die Folge war, daß die Führer dieser Opposition<br />

nach und nach aus der Partei und<br />

der III. <strong>Internationale</strong> ausgeschlossen wurden.<br />

Einige von diesen Ausgeschlossenen bildeten<br />

gemeinsam mit einem Teile von<br />

jenen, die aus der Partei freiwillig austraten,<br />

einen neuen Zusammenschluß nach<br />

der Art der früheren Fachopposition. Man


118<br />

knüpfte langsam die Verbindung mit den<br />

früheren Kameraden im ganzen Lande an<br />

und auf Wunsch der Kameraden der Provinz<br />

wurde eine Landeskonferenz nach<br />

Veile im November 1923 einberufen. Auf<br />

dieser Konferenz waren 6 Städte vertreten.<br />

<strong>Die</strong> Konferenz faßte den Beschluß, eine<br />

neue Landesorganisation zu gründen unter<br />

dem Namen „Zusammenschluß der gewerkschaftlichen<br />

Klubs". Es wurden auch<br />

ein Programm und Statuten ausgearbeitet<br />

und angenommen.<br />

Innerhalb der Kommunistischen Partei<br />

bildete sich eine Fraktion der kommunistischen<br />

Studenten heraus unter dem Namen<br />

„<strong>Die</strong> neue Studentengesellschaft", die<br />

sich für die III. <strong>Internationale</strong> erklärte. <strong>Die</strong><br />

Mehrzahl der Mitglieder stand noch in<br />

der Kommunistischen Partei, und deren<br />

Wochenblatt „Pressen" wurde von der Leitung<br />

der K. P. zensuriert. <strong>Die</strong> Kommunistische<br />

Partei Dänemarks weigerte sich,<br />

einige Studenten als Mitglieder aufzunehmen<br />

und dadurch kam es zu einer<br />

Sprengung. <strong>Die</strong> Studenten griffen nun die<br />

Leitung der Kommunistischen Partei heftig<br />

an, um mit dem „Zusammenschluß der gewerkschaftlichen<br />

Klubs" zusammen<br />

arbeiten zu können. Mit dem früheren<br />

Führer der Syndikalisten Christian Christensen<br />

als Zwischenperson wurden Verhandlungen<br />

zwischen den Studenten und<br />

dem „Zusammenschluß der gewerkschaftlichen<br />

Klubs" geführt über die Uebernähme<br />

des Organes der Studenten<br />

„Pressen". <strong>Die</strong>se Verhandlungen scheiterten<br />

jedoch. Glücklicherweise traten an<br />

die Spitze des „Zusammenschluß der gewerkschaftlichen<br />

Klubs" Männer, die<br />

früher in dem „Zusammenschluß der Fachopposition"<br />

waren, aber mit den Kommunisten<br />

nicht in Arbeitsgemeinschaft treten<br />

wollten. Dadurch bekam die Bewegung<br />

einen mehr syndikalistischen Charakter.<br />

Nun wurde eine neue Landeskonferenz<br />

vorbereitet, die am 20. April 1924 in Kopenhagen<br />

stattfand. Außer Kopenhagen<br />

waren 8 Provinzstädte vertreten. Auf dieser<br />

Landeskonferenz schlug die „Neue<br />

Studentengesellschaft" wieder eine Arbeitsgemeinschaft<br />

auf einer sehr zweifeihaften<br />

Grundlage vor. <strong>Die</strong> Konferenz<br />

lehnte nach einer heißen Diskussion den<br />

Vorschlag über Arbeitsgemeinschaft mit<br />

den Studenten ab, nahm jedoch eine Resolution<br />

an, in der ausgedrückt wurde, daß<br />

die Studenten als Mitglieder unserer Bewegung<br />

willkommen seien. Daraufhin ver-<br />

DÄNEMARK<br />

ließen die Studenten und mit ihnen ein<br />

Teil der Provinzdelegierten die Konferenz.<br />

Danach tagte die Konferenz weiter und<br />

beschloß, den Namen der Bewegung in<br />

„Revolutionärer Arbeiterverband Dänemarks"<br />

umzuändern. Es wurden auch ein<br />

Programm und Statuten ausgearbeitet und<br />

vorgelegt. Eine Urabstimmung bestätigte<br />

dann den neuen Namen, die angenommenen<br />

Statuten und die prinzipielle<br />

Grundlage.<br />

<strong>Die</strong> „Neue Studentengesellschaft" ging<br />

kurze Zeit danach samt ihrem Organe<br />

„Pressen" zugrunde, sie hat aber doch in<br />

der Provinz, wo die Studenten ständig agitatorisch<br />

tätig waren, genügend Verwirrung<br />

geschaffen. <strong>Die</strong>s war ihnen auch deshalb<br />

möglich, weil ein Agitator, den wir<br />

ins Land schickten, für die Studenten agitierte.<br />

Wir verloren dadurch die Fühlung<br />

mit der Provinz und beschlossen, alle<br />

Kräfte zu konzentrieren, um in Kopenhagen<br />

unsere Bewegung wieder aufzubauen. <strong>Die</strong><br />

Bewegung in Kopenhagen setzte sich bisher<br />

aus Kommunisten, Syndikalisten und anderen<br />

Elementen zusammen. Nach und<br />

nach wurden jedoch die Kommunisten herausgedrängt<br />

oder zogen sich selbst zurück,<br />

und die Bewegung bekam ein rein Syndikalistisches<br />

Gepräge. Es gelang uns auch<br />

wieder, unser Organ „Solidaritet" herauszugeben.<br />

<strong>Die</strong>ses Organ kam in den guten<br />

Zeiten des „Zusammenschluß der Fachopposition"<br />

täglich heraus, ging dann in die<br />

Hände der Kommunisten über, schließlich<br />

konnten diese es auch nicht halten und es<br />

ging ein. Jetzt erscheint „Solidaritet" vorläufig<br />

wieder einmal monatlich.<br />

Dem „Revolutionären Arbeiterverband<br />

Dänemarks" sind sieben gewerkschaftliche<br />

Klubs angeschlossen, und es besteht die<br />

Möglichkeit, in naher Zukunft mehrere<br />

Organisationen zu gründen. <strong>Die</strong> Prinzipienerklärung,<br />

die wir angenommen haben,<br />

befindet sich in voller Uebereinstimmung<br />

mit den Grundsätzen der I.A.A. Der Anschluß<br />

an die I.A.A. wurde einstimmig<br />

vollzogen. <strong>Die</strong> Bewegung ist zwar gegenwärtig<br />

nicht sehr stark, sie verlor einen<br />

Teil unklarer Elemente, dies ist jedoch<br />

kein Verlust, da sie dadurch an Klarheit<br />

gewann und jetzt leichter in der Lage ist,<br />

unter den Arbeitermassen neue Anhängerschaft<br />

zu gewinnen. Wir sind davon überzeugt,<br />

daß der Syndikalismus in Dänemark<br />

wieder zu neuem Leben kommen wird<br />

durch den „Revolutionären Arbeiterverband".<br />

Martin Jensen.


DEUTSCHLAND 119<br />

DEUTSCHLAND<br />

Bericht der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Anarcho-Syndikalisten) für den<br />

II. Kongreß der <strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation<br />

1. Aufbau der Organisation.<br />

<strong>Die</strong> F.A.U.D. setzt sich zusammen aus<br />

Berufs- resp. Industriearbeiter-Föderationen<br />

und solchen Vereinen, für die<br />

eine Föderation noch nicht vorhanden<br />

ist. D. h.: <strong>Die</strong> Berufs- oder Industriearbeiter<br />

der besonderen Produktionszweige<br />

organisieren sich an ihren Wohnorten zu<br />

einem Berufs- resp. Industrieverein. <strong>Die</strong><br />

gleichgearteten Ortsvereine schließen sich<br />

über das ganze Land zu einer Föderation<br />

zusammen. Sie wählen auf ihren eigenen<br />

Landes-Konferenzen eine Geschäftsleitung,<br />

Heren vornehmste Aufgabe darin besteht,<br />

in Wort und Schrift nach innen und außen<br />

den Organisationsgedanken zu pflegen<br />

und die materielle wie geistige Solidarität<br />

unter den Fach- und Industriearbeitern<br />

ihrer speziellen Föderation aufs höchste<br />

zu entwickeln. An Orten aber, wo aus<br />

irgendwelchem Grunde die Bildung solcher<br />

Spezialvereine noch nicht möglich ist,<br />

schließen sich die Arbeiter der verschiedensten<br />

Berufe zu einer „Vereinigung aller<br />

Berufe" zusammen. Aufgabe dieser letzteren<br />

aber ist es, den Teil der Mitglieder,<br />

der in nennenswerter Zahl einem besonderen<br />

Beruf obliegt, oder in einer Industrie<br />

gemeinsam beschäftigt ist, als Industrieoder<br />

Berufssektionen zu gliedern und diese<br />

der zuständigen Föderation anzuschließen.<br />

Berufs- resp. Industriearbeiter-Föderationen<br />

bestehen in der F.A.U.D. heute:<br />

1. <strong>Die</strong> Föderation der Bergarbeiter, 2. der<br />

Bauarbeiter, 3. der Holzarbeiter, 4. der<br />

Metalhlndustriearbeiter, 5. des Bekleidungsund<br />

Verkehrsgewerbes. <strong>Die</strong>se Föderationen<br />

umfassen etwa zwei Drittel der vornandenen<br />

Ortsvereine, während das übrige<br />

eine Drittel noch aus „Vereinen aller Berufe"<br />

besteht. <strong>Die</strong> Gesamtzahl der bestehenden<br />

Ortsvereine betrug am 1. Februar 1925<br />

über das ganze Land 375. (Dreihundertfünfundsiebenzig).<br />

<strong>Die</strong> Gesamt-Mitgliederschaft<br />

zählte an demselben Tage etwa<br />

25 000. Jedoch muß hierbei bemerkt werden,<br />

daß diese Zahl nicht bestimmt feststeht,<br />

weil die Geschäftskommission sich<br />

bei der Feststellung der Mitgliederschaft<br />

nur nach dem von den Ortsvereinen bezogenen<br />

„Syndikalist" (das obligatorische<br />

Organ der F.A.U.D.) richten kann. Einen<br />

anderen Mitgliederzahlenmesser besitzt sie<br />

nicht.<br />

<strong>Die</strong> Ursache des Rückganges der Mitgliederschaft<br />

ist mehrfacher Natur. Wenn<br />

noch auf dem 14. Kongreß 1922 in Erfurt<br />

weit über 70 000 Mitglieder vertreten<br />

waren, so ist zu beachten, daß gerade in<br />

den letzten drei Jahren sich in Deutschland<br />

auf politischem und wirtschaftlichem<br />

Gebiete Dinge abgespielt haben, von denen<br />

die Arbeiter anderer Länder mehr oder<br />

weniger verschont geblieben sind.<br />

<strong>Die</strong> Besetzung des Rheinlandes und des<br />

industriellen Westfalens durch den<br />

Entente - Militarismus, die von deutscher<br />

Seite mit Hilfe der gewerkschaftlichen<br />

Arbeitsgemeinschaftler durchgeführte<br />

passive Resistenz im besetzten Gebiet und<br />

der dadurch einsetzenden Finanzpolitik<br />

der deutschen Regierung brachten den Arbeitern<br />

den vollständigen Ruin. <strong>Die</strong> Goldmark<br />

verflüchtete sich auf eine Billion<br />

Papiermark. <strong>Die</strong> Arbeiter erhielten aber<br />

für dir ganze Woche nur soviel Lohn,<br />

daß sie sich höchstens ein Brot und ein<br />

halbes Pfund Margarine dafür kaufen<br />

konnten. Und wenn der Lohn nicht täglich<br />

gezahlt wurde, dann war das Geld am<br />

Ende der Woche überhaupt nichts mehr<br />

wert. Während der Zeit der strengsten<br />

Handhabung des passiven Widerstandes<br />

waren aber die Arbeiter der besetzten<br />

Zone alle in den Betrieben, oder, wenn das<br />

nicht der Fall war, erhielten sie vom Staat<br />

und den Kommunen Unterstützungen an<br />

Geld oder Naturalien, so daß sie nicht<br />

Hungers starben. Angesichts eines<br />

solchen Zustandes war an ein Zahlen der<br />

Beiträge für die Organisation nicht zu<br />

denken und konnten auch keinerlei Ausgaben<br />

für die Organisation, Zeitung und<br />

andere Literatur von den Arbeitern gemacht<br />

werden. Dazu kam dann noch der<br />

Ausnahmezustand, der auf Grund des<br />

„Ermächtigungsgesetzes" von der Regierung<br />

verhängt und vom Reichswehrministerium<br />

durchgeführt wurde. Eine Reihe<br />

Wehrkreiskommandos verboten auch<br />

unsere Ortsvereine in den Provinzen<br />

Westfalen, Hannover, Mecklenburg und<br />

Pommern, im Freistaat und Provinz<br />

Sachsen und ganz Bayern. Der Mehrzahl<br />

der betreffenden Ortsvereine wurden<br />

auch sämtliche Vereinsutensilien, Bibliotheken<br />

usw. beschlagnahmt. Einige auch,<br />

weil sie die Organisation illegal weiterführten,<br />

wurden unter Anklage gestellt.


120 DEUTSCHLAND<br />

Mit der sogenannten Stabilisierung der<br />

„Rentenmark", nachherigen „Reichsmark"<br />

und der Aufhebung des passiven Wider-<br />

Standes, dazu die Aufhebung der „Micumverträge"<br />

usw. setzte in Deutschland<br />

die Arbeitslosigkeit ein.<br />

Von den Bergarbeitern, Metallarbeitern<br />

und allen davon abhängigen Gewerben<br />

wurden Hunderttausende entlassen. Sie<br />

sind verurteilt, allein von einer sehr minimalen<br />

Erwerbslosenunterstützung ihr Leben<br />

zu fristen und können gar nicht daran<br />

denken, irgendeinen Pfennig für Organisationszwecke<br />

herzugeben. Angesichts<br />

eines solchen Zustandes ist es begreiflich,<br />

daß, wie alle anderen, auch die syndikalistische<br />

Bewegung in Deutschland an<br />

Mitgliedern verlor.<br />

Gewiß werden noch weit mehr Mitglieder<br />

in den Ortsvereinen vorhanden sein,<br />

als die oben angegebenen 25 000, sie können<br />

aber nicht für jedes Mitglied die<br />

Zeitung beziehen und geben sie vorläufig<br />

von Hand zu Hand, bis wieder bessere<br />

Zeiten kommen.<br />

2. Beitragspflichten.<br />

Den Beitrag, welchen jedes Mitglied,<br />

wenn es in Arbeit steht, wöchentlich an<br />

die Gewerkschaft zu entrichten hat,<br />

setzen diese in ihren Generalversammlungen<br />

selbst fest. <strong>Die</strong>ser soll, nach den<br />

bisherigen Kongreßbeschlüssen, nicht unter<br />

1 Prozent des Wochenlohnes betragen.<br />

Nach den Wochenbeiträgen richtet sich<br />

dann auch laut Kongreßbeschluß der Anspruch<br />

der Mitglieder auf Unterstützung<br />

bei Streiks, Aussperrungen und Maßregelungen.<br />

<strong>Die</strong>ser soll im Höchstfall den<br />

fünffachen ordentlichen Wochenbeitrag<br />

pro Tag nicht übersteigen.<br />

3. Materielle Solidarität.<br />

Bei Streiks, Aussperrungen und Maßregelungen<br />

ist zunächst jeder Ortsverein<br />

verpflichtet, seine Streikenden zwei<br />

Wochen selbst zu unterstützen. Wo dies<br />

jedoch nicht möglich ist, hat er sich<br />

wegen Beihilfe zunächst an seine zuständige<br />

Föderationsgeschäftsleitung zu wenden<br />

und hat diese dann sämtliche Mitgliedschaften<br />

ihrer Föderation zur Solidarität<br />

aufzurufen. Sind auch diese erschöpft,<br />

dann tritt auf Anruf der Geschäftskommission<br />

die Gesamtheit der F.A.U.D. mit<br />

ihren Mitteln für die Kämpfenden ein.<br />

Ortsvereine aber, die einer Berufs- resp.<br />

Industrie-Föderation noch nicht angeschlossen<br />

sind, also die „Vereinigungen aller<br />

Berufe", treten im Notfall direkt an die<br />

Geschäftskommission heran und diese<br />

sucht durch Aufruf die nötigen Mittel zur<br />

Unterstützung derselben von der Gesamtheit<br />

einzuholen. Auf diese Weise ist es<br />

bis heute, seit dem Bestehen der Freien<br />

Arbeiter-Union Deutschlands (vom Juli<br />

1897) in normalen Zeiten noch immer möglich<br />

gewesen, alle Kämpfe so zu unterstützen,<br />

daß sie niemals wegen Mangel<br />

an finanziellen Mitteln aufgegeben oder<br />

abgebrochen werden mußten.<br />

Bei einem solchen Unterstützungs-<br />

System ist es aber nicht möglich, daß die<br />

Geschäftskommission angeben kann,<br />

welche Summen überhaupt für Zwecke<br />

der Solidarität von der Gesamtbewegung<br />

im Jahre aufgebracht werden, weil nur<br />

ein ganz geringer Bruchteil davon durch<br />

ihre Hände resp. Kasse geht. Will sie<br />

diese genau feststellen, dann hat sie<br />

entweder an jedem Jahresschluß oder vor<br />

jedem Kongreß alle Landesföderationen<br />

und Ortsvereine anzufragen, welche Summen<br />

sie für Solidarität für die eigenen<br />

Kämpfe ausgegeben und für die Genossen<br />

im Lande außerdem aufgebracht haben.<br />

Das ist bisher vor jedem stattgefundenen<br />

Kongreß geschehen,, war aber für den<br />

15. Kongreß, der Ostern in Dresden stattfand,<br />

angesichts der furchtbaren Zeit,<br />

welche die Arbeiterschaft Deutschlands<br />

im allgemeinen, und die Mitgliedschaften<br />

der F.A.U.D. im besonderen in den verflossenen<br />

letzten Jahren durchgemacht<br />

haben, nicht möglich.<br />

4. Arbeitsbörsen.<br />

Bilden den ersten Teil des Aufbaues<br />

der F.A.U.D. die Industrie-Föderationen,<br />

so ist der zweite Teil, die Arbeitsbörsen,<br />

gleich wichtig. <strong>Die</strong> deutschen Syndikalisten<br />

lehnen das Autoritätsprinzip auch<br />

für den Produktionsprozeß und die Verteilung<br />

in jeder Hinsicht ab. <strong>Die</strong> Industrieverbände<br />

(Föderationen) haben nach<br />

unserer Ansicht die Aufgabe, die Produktion<br />

in jeder Beziehung in ihre Hände zu<br />

nehmen sowie die Gewinnung und Zufuhr<br />

der Rohprodukte zu organisieren und die<br />

Fertigwaren an die Bedarfsstellen zu befördern,<br />

während den Arbeitsbörsen die<br />

Aufgabe zufällt, den Bedarf festzustellen,<br />

die verschiedenen Produktionszweige mit<br />

Aufträgen zu versehen und die fertigen<br />

Produkte gerecht an die Bedürftigen zu<br />

verteilen. Ist dies auch zunächst ein Zukunftsplan,<br />

so muß doch schon heute dazu<br />

der Grundstein gelegt werden. Das geschieht<br />

heute schon seitens der Syndikalisten<br />

in Deutschland. Sie bilden an jedem<br />

Orte, wo mehrere Ortsvereine der<br />

verschiedenen Berufe resp. Industrien be-


stehen, eine Arbeitsbörse. <strong>Die</strong>se hat zunächst<br />

die Aufgabe, alle Dinge, welche<br />

die Gesamtheit am Orte betreffen, gemeinsam<br />

zu besprechen und wenn möglich,<br />

bessernd einzugreifen. Sie haben<br />

weiter für die Ausbildung der Kameraden<br />

auf allen Wissensgebieten zu wirken,<br />

wobei die höheren Kulturabgaben, welche<br />

den Arbeitern zugänglich gemacht werden<br />

müssen, nicht an letzter Stelle stehen. <strong>Die</strong><br />

Pflege des solidarischen Geistes und tatkräftigen<br />

Füreinander-Eintretens ist ihre<br />

Hauptaufgabe. <strong>Die</strong>se Ortsbörsen sind<br />

schon in verschiedenen Landesteilen zu<br />

Kreis- und Provinzbörsen zusammengefaßt<br />

und ist die Zeit schon abzusehen,<br />

daß diese neben den Landesföderationen<br />

der Industrien, sich auch über das ganze<br />

Land zu einer Landes-Arbeitsbörse zusammenschließen.<br />

Schon in der letzthin verflossenen Zeit<br />

hat sich gezeigt, daß die Provinzbörsen<br />

in einigen Landesteilen auf dem Gebiete<br />

der Pflege der Solidarität ganz Außerordentliches<br />

geleistet haben, so daß sie<br />

Kämpfe um bessere Löhne und Arbeitszeit<br />

usw. ohne die Hilfe anderer Landesteile<br />

anzurufen, ganz allein finanziert<br />

haben. Welche Aufgaben den beiden<br />

Organisationen zufallen, in der heutigen<br />

kapitalistischen Gesellschaftsordnung und<br />

für die Zukunft, das ist in der Prinzipienerklärung<br />

der F.A.U.D. und in ihrem organisatorischen<br />

Aufbau gründlich umschrieben.<br />

<strong>Die</strong> Finanzierung der Börsen<br />

geschieht durch die Ortsvereine der Industriearbeiter<br />

aller Kategorien.<br />

5. <strong>Die</strong> Geschäftskommission.<br />

Den antizentralistischen, also antiautoritären<br />

Grundsätzen .getreu, hat auch die<br />

F.A.U.D. keinen Zentralvorstand, sondern<br />

eine Geschäftskommission, welche keinerlei<br />

autoritäre Rechte besitzt. <strong>Die</strong>se Kommission,<br />

die aus neun Mitgliedern<br />

besteht, wird auf jedem stattfindenden<br />

ordentlichen Kongreß neugewählt.<br />

Jedoch können die bisherigen<br />

Mitglieder immer wieder gewählt<br />

werden, wenn diese sich zur Wahl stellen.<br />

Von den neun Mitgliedern bestimmt der<br />

Kongreß den Vorsitzenden, den Kassierer<br />

und den Redakteur, welche letzteren besoldet<br />

werden. <strong>Die</strong> Geschäftskommission<br />

ist die oberste ausführende Instanz der<br />

F.A.U.D. Sie hat die Pflicht, die Ideen des<br />

Syndikalismus in Wort und Schrift zu verbreiten<br />

und zu vertiefen; den organisatorischen<br />

Zusammenhalt der Vereine zu<br />

pflegen; bei Streiks und Aussperrungen<br />

DEUTSCHLAND 121<br />

das solidarische Zusammenwirken aller<br />

der F.A.U.D. angeschlossenen Organisationen<br />

untereinander zweckdienlich zu<br />

vermitteln und im Bedarfsfalle die hierfür<br />

notwendigen Unterstützungssummen<br />

von den angeschlossenen Gewerkschaften<br />

einzufordern und den streikenden Genossen<br />

zuzustellen. <strong>Die</strong> Geschäftskommission<br />

hat im Interesse der „Freien Arbeiter-Union<br />

Deutschlands" über die bei<br />

ihr eingehenden Gelder zu verfügen; sie<br />

hat das Organ „Der Syndikalist" herauszugeben<br />

und darin alle Bekanntmachungen,<br />

die Gesamtbewegung betreffend, allen Gewerkschaften<br />

zur Kenntnis zu bringen.<br />

Außerdem unterhält die Geschäftskommission<br />

einen umfangreichen Buchhandel.<br />

Im Verlage der Geschäftskommission ist<br />

sämtliche syndikalistische und anarchistische<br />

Literatur in deutscher Sprache vorhanden,<br />

teils von ihr selbst verlegt, teils<br />

im Sortiment.<br />

6. <strong>Die</strong> Beitragsregelung an das Büro<br />

der I.A.A,<br />

Laut Beschluß des ersten Kongresses der<br />

<strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation hat<br />

jede Landesorganisation von jedem Beitrag<br />

ihrer Mitglieder ½ Prozent an die<br />

I.A.A. abzuführen. Da nun die Ortsvereine<br />

der F.A.U.D. auch in bezug auf Beitragserhebung<br />

ihr Selbstbestimmungsrecht<br />

haben, also die Geschäftskommission hierüber<br />

nichts zu bestimmen hat und auch<br />

eine Zentralkasse nicht besteht, hat die<br />

Geschäftskommission Marken anfertigen<br />

lassen. <strong>Die</strong>se Marken tragen die Aufschrift<br />

„10 Pfennig. I.A.A.." <strong>Die</strong> Marken<br />

werden allvierteljährlich den Ortsvereinen<br />

übersandt und die Mitglieder haben die<br />

Pflicht, eine solche von dem zuständigen<br />

Kassierer zu entnehmen und ihrem Mitgliedsbuche<br />

einzuverleiben. Auf Grund<br />

dieser Einrichtung ist es möglich gewesen,<br />

daß die Geschäftskommission für das<br />

Jahr 1924 an das Büro der LA.A. die<br />

Summe von 2125,— Mark (Zweitausendeinhundertfünfundzwanzig<br />

Goldmark) abführen<br />

und noch einen Teil von dem Ertrage<br />

ihrem Agitationsfonds zuführen<br />

konnte.<br />

Außerdem hat die Geschäftskommission<br />

„<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong>, Organ der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter-Assoziation" in deutscher<br />

Sprache in Gemeinschaft mit dem Sekretariate<br />

der I.A.A. in einer Auflage von je<br />

2500 Exemplaren herstellen lassen und das<br />

Exemplar für 0,60 Mark vertrieben.<br />

- - -


122<br />

<strong>Die</strong> syndikalistische Bewegung in<br />

Deutschland hat mit großen Schwierigkeiten<br />

zu rechnen, die ihren Einfluß auf<br />

die Arbeiterschaft sowohl geistig wie organisatorisch<br />

sehr behindern. Das deutsche<br />

Volk ist mehr wie jedes andere autoritär<br />

und militaristisch verseucht. Der strengste<br />

Zentralismus, wie ihn der Staat in seiner<br />

höchsten Potenz verkörpert, ist von der<br />

gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterbewegung<br />

übernommen worden. Neben<br />

drei verschiedenen marxistischen,<br />

politischen Parteien bestehen die zentralistischen<br />

Gewerkschaftsverbände, von<br />

denen der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund<br />

allein 6 Millionen Handund<br />

Kopfarbeiter und -arbeiterinnen umfaßt.<br />

Dazu kommen noch die christlichen<br />

und bürgerlichen (Hirsch-Duncker) Gewerkvereine<br />

und die polnischen Berufsvereine.<br />

<strong>Die</strong>se vier genannten bilden in sich<br />

eine Arbeitsgemeinschaft und stehen mit<br />

dem Unternehmertum gemeinsam in einer<br />

Arbeitsgemeinschaft. Sie betrachten sich<br />

selbst schon als Staatseinrichtungen und<br />

versuchen jeden Andersorganisierten teils<br />

mit Hilfe des Unternehmertums in ihre<br />

Organisationen hineinzuzwingen. So haben<br />

vorwiegend die Syndikalisten unter dem<br />

Terror beider, der Organisierten der Arbeitsgemeinschaftler<br />

und des Unternehmertums.<br />

schwer zu kämpfen und zu leiden.<br />

Es gehört daher schon eine tiefe<br />

Erkenntnis des Klasseninteresses und<br />

starke revolutionär-syndikalistische Ueberzeugung<br />

dazu, den syndikalistischen Organisationen<br />

anzugehören und diesen in jeder<br />

Lebenslage treu zu bleiben. Sehr oft<br />

kommt es vor, daß unsere syndikali-<br />

DEUTSCHLAND: JUGEND<br />

stischen Kameraden dem Terror und den<br />

Maßregelungen zum Opfer fallen, weil sie<br />

ihrer Organisation und Ueberzeugung treu<br />

bleiben. <strong>Die</strong>se Verfolgungen werden sowohl<br />

von den Staatsbehörden, dem Unternehmertum<br />

und vorwiegend von den<br />

Arbeitern ausgeübt.<br />

Neben diesen hier genannten Arbeiter-<br />

Organisationen bestehen aber noch eine<br />

Reihe antiautoritäre Gewerkschaftsgebilde,<br />

die, wenn sie auch mehr oder weniger mit<br />

den Syndikalisten sympathisieren, so doch<br />

sich nicht entschließen können, mit ihnen<br />

eine Einheitsorganisation zu bilden. Es<br />

sind das mehrere Allgemeine Arbeiter-<br />

Unionen, die jede noch ihre eigenen Stekkenpferde<br />

reiten. Unter diesen steht die<br />

A.A.U. (E.) Allgemeine Arbeiter-Union<br />

Einheitsorganisation) unserer Bewegung<br />

noch am nächsten. Sie kann aber ebenfalls<br />

den Anschluß an die F.A.U.D. nicht finden.<br />

Von einer Zielklarheit und Einheits-<br />

Organisation ist freilich auch bei der letzteren<br />

nicht viel zu merken, haben sie es<br />

doch bis heute nicht fertig gebracht, die<br />

noch bestehenden Ortsvereine zu einer<br />

Landesföderation zusammenzufassen.<br />

Trotz all dieser Widerstände und<br />

Schwierigkeiten, mit denen unsere Bewegung<br />

zu kämpfen hat, sehen wir doch<br />

hoffnungsfreudig in die Zukunft. Sind<br />

auch die denkenden Arbeiter nicht alle in<br />

der F.A.U.D. umfaßt, so ist doch der Geist<br />

des revolutionären Syndikalismus schon<br />

heute in die weitesten Kreise des Proletariats<br />

Deutschlands eingedrungen und<br />

es wird unsere Sorge und Aufgabe sein,<br />

diesen in Wort und Schrift noch mehr zu<br />

verbreiten und zu vertiefen.<br />

<strong>Die</strong> SyndikalistischiAnarchistische Jugend Deutschlands.<br />

Deutschland, das klassische Land des<br />

Kommißstiefels, ist wohl das Land, in<br />

dem die ungünstigsten Wachstumsverhältnisse<br />

für freie sozialistische Ideengänge<br />

vorhanden sind. <strong>Die</strong> jetzt lebende erwachsene<br />

Generation wurde geboren in<br />

einer Zeit, in der die Lehre der notwendigen<br />

und bedingungslosen Unterordnung<br />

unter einen bestimmten Zentralwillen,<br />

dem werdenden Menschen schon im Leibe<br />

der Mutter als Erbe der Vergangenheit<br />

geschenkt wurde. Das freie Wollen ist<br />

darum diesen Menschen unbekannt. <strong>Die</strong><br />

staatlichen Erziehungsmethoden taten<br />

noch ein übriges und sorgten dafür, daß<br />

auch die geringsten freiheitlichen Regungen<br />

im Keime verderben mußten. Da<br />

nun aber diese künstlich entmannten Wesen<br />

wieder Kinder erzeugten, denen sie<br />

das Erbe der Vergangenheit auch wieder<br />

schenkten, wurde schon die junge Generation<br />

von dem alten Sklavengeist angefressen.<br />

Vor dem Kriege gab es in Deutschland<br />

keine freiheitlich-sozialistische Jugendbewegung.<br />

<strong>Die</strong> wenigen anarchistischen<br />

Freiheitskämpfer hatten in ihren Reihen<br />

wohl manchen jungen Feuerkopf (und<br />

diese Leute waren oft nicht die schlechtesten),<br />

aber Werbekraft unter der fernstehenden<br />

Jugend konnten diese jungen<br />

Kämpfer nicht entfalten.<br />

<strong>Die</strong> deutsche Jugend hatte andere<br />

„Ideale", für die sie sich begeisterte.


Deutschlands Jugend stand in den militaristischen<br />

Formationen, die sich unter<br />

den Fittichen des schützenden Staates<br />

üppig entwickelten, und ließ sich für kommende<br />

Kriege drillen. Auf der anderen<br />

Seite erstarkten die staatssozialistisch<br />

eingestellten Jugendorganisationen und<br />

sammelten Zehntausende um ihre Banner.<br />

Der Krieg brachte in all diese Jugendbestrebungen<br />

neues Leben. <strong>Die</strong> allgemeine<br />

Kriegsbegeisterung ergriff auch die Jugendkreise.<br />

<strong>Die</strong> militaristischen Jugendformationen<br />

wuchsen ins Riesenhafte. Den<br />

zwanzig- bis vierzigjährigen Brüdern und<br />

Vätern gleich, übten sich die jungen<br />

Leute im grausamen Kriegshandwerk und<br />

die sozialistischen Kreise, wohlgemerkt,<br />

die staatssozialistischen Kreise, stellten<br />

für diese militaristischen Formationen<br />

einen nicht geringen Prozentsatz ihrer<br />

Mitglieder. Der Kriegstaumel verlor aber<br />

für die Jugendkreise seinen berauschenden<br />

Inhalt. Damit treten auch die jungen,<br />

staatsverneinenden sozialistischen Elemente<br />

auf den Plan. Da der herrschaftslose<br />

Sozialismus der konsequenteste und<br />

erbarmungsloseste Feind eines jeden, wie<br />

auch immer gearteten Militarismus ist<br />

und der Krieg den Militarismus in seiner<br />

krassesten Form zutage treten ließ, ein<br />

Kampf gegen den Krieg", darum vor allem<br />

ein Kampf gegen den Militarismus sein<br />

mußte, bekannten sich größere Teile für<br />

die herrschaftslos-sozialistischen Ideengänge.<br />

Nach dem Kriege entwickelte<br />

sich dann die erste deutsche anarchistische<br />

Jugendbewegung, Hand in Hand mit dem<br />

breiteste Kreise des deutschen Proletariats<br />

erfassenden Anarcho-Syndikalismus.<br />

Auf mehreren Reichskonferenzen bildete<br />

sich die Jugend eine feste Organisation.<br />

<strong>Die</strong> erste Konferenz, die 292/ in Düsseldorf<br />

stattfand, zeigte noch die typischen<br />

Merkmale einer formlosen Gärung. <strong>Die</strong><br />

zweite Reichskonferenz, die in Erfurt<br />

stattfand, führte schon eine bessere Organisation<br />

durch. In jenem Jahre wurde<br />

auch die Frage, wie sich die Jugendorganisation<br />

zu den bestehenden Organisationen<br />

der freien Arbeiter-Union<br />

Deutschlands (Anarcho-Syndikalisten) und<br />

der Föderation der kommunistischen<br />

Anarchisten Deutschlands zu verhalten<br />

habe, endgültig geklärt. Auf dem 14. Kongreß<br />

der F.A.U.D. auf dem die Jugendfrage<br />

zur Behandlung kam, setzte die<br />

Jugend durch, daß die F.A.U.D. die Jugendbewegung<br />

als gleichberechtigte Organisation<br />

neben der F.A.U.D. und der<br />

Föderation der kommunistischen Anar-<br />

DEUTSCHLAND: JUGEND 123<br />

chisten anerkannte. Auf der dritten<br />

Reichskonferenz, Pfingsten 1923, in Magdeburg,<br />

schuf sich die Syndikalistisch-<br />

Anarchistische Jugend Deutschlands ein<br />

festes Organisations-Fundament und bildete<br />

sich damit endgültig. <strong>Die</strong> in ihr organisierten<br />

Jugendlichen sprechen sich<br />

für eine freie Organisation aus, in der<br />

klaren Erkenntnis, daß die organische Zusammenfassung<br />

der Kräfte die beste Gewähr<br />

für eine schlagkräftige Aktion und<br />

Agitation ist. Ihr können alle jungen<br />

Menschen angehören, die revolutionären<br />

Klassenkampf auf der Basis des Syndikalismus<br />

im Sinne des kommunistischen<br />

Anarchismus zu führen bereit sind. In<br />

ihrem organisatorischen Aufbau gliedert<br />

sie sich in Orts-, Kreis- und Bezirksgruppen,<br />

die sich zur Reichsföderation zusammenschließen.<br />

Das ausführende und<br />

repräsentative Organ der Gesamtföderation<br />

ist die Reichsinformationsstelle.<br />

Augenblicklich gehören zirka 120 Orrsgruppen<br />

der Föderation der Syndikalistisch-<br />

Anarchistischen Jugend Deutschlands an.<br />

Das Organ der Syndikalistisch-Anarchistischen<br />

Jugend „Junge Anarchisten"<br />

erscheint in einer Auflage von 5000<br />

Exemplaren.<br />

Weihnachten 1924 fand der fünfte Kongreß<br />

der S.A.J.D. in Hannover statt, auf<br />

dem zirka 100 Delegierte anwesend waren,<br />

die gegen 2500—3000 Mitglieder vertraten.<br />

Auf diesem Kongreß bekannte sich die<br />

Jugend von neuem zum revolutionären<br />

Klassenkampf, dem sie schon so manches<br />

Opfer gebracht hat. An allen revolutionären<br />

Erhebungen der vergangenen Jahre<br />

hat die S.A.J.D. aktiven Anteil genommen.<br />

Einige der besten Kameraden sind<br />

bei den revolutionären Kämpfen erschossen<br />

worden, während andere verwundet<br />

wurden oder noch im Zuchthaus schmachten.<br />

Ganze Ortsgruppen befanden sich<br />

zeitweise monatelang auf der Flucht.<br />

Augenblicklich sind wieder Polizeiaktionen<br />

im Gange. Gegen die Mitglieder der<br />

Reichsinformationsstelle schwebt ein Verfahren<br />

wegen Aufforderung zum Hochverrat.<br />

— <strong>Die</strong> Syndikalistisch-Anarchistische<br />

Jugend Deutschlands läßt sich<br />

aber durch nichts von ihrem Ziele abbringen:<br />

in immer breitere Kreise der Jugend<br />

den Geist der Rebellion zu tragen-<br />

Fest und ernsten Sinnes, harten Willens<br />

schreiten wir den Stunden entgegen, die<br />

der Dawesplan dem deutschen Proletariat<br />

bescheren wird, und in denen wir unseren<br />

Willen zur Revolution beweisen werden.<br />

Paul Albrecht.


124 FRANKREICH<br />

FRANKREICH<br />

Bericht der Föderativen Union selbständiger Gewerkschaften Frankreichs über die<br />

syndikalistische Bewegung Frankreichs zum 11. Kongreß der l.A.A.<br />

Seit dem letzten Kongreß der I.A.A. hat<br />

sich die Lage des Syndikalismus in Frankreich<br />

bedeutend geändert. Der Kongreß in<br />

Bourges, der Mitte November 1923, ungefähr<br />

einen Monat vor der internationalen<br />

Konferenz zu Innsbruck stattfand, war<br />

durch eine Schwächung der syndikalistischen<br />

Kräfte gekennzeichnet, die in<br />

ihrem eigenen Schöße in zwei Strömungen<br />

gespalten waren: In das „Komitee zur<br />

Verteidigung des Syndikalismus" und die<br />

„Revolutionär syndikalistischen Gruppen".<br />

<strong>Die</strong> kommunistischen Elemente bildeten<br />

in Bourges eine große Mehrheit innerhalb<br />

des unitarischen Gewerkschaftsbundes<br />

(C.G.T.U.). Ihr Erfolg auf diesem Kongreß<br />

war unbestreitbar und wurde immer<br />

noch größer bis zur letzten Spaltung. Dabei<br />

muß aber gesagt werden, daß dies oft<br />

durch die Fehler der Syndikalisten begünstigt<br />

wurde.<br />

Nach dem Kongreß von Bourges warfen<br />

die Kommunisten in der C.G.T.U. ihre<br />

Masken ab und zeigten ihr wahres Antlitz.<br />

Nach und nach eroberten sie die Departemental-Unionen,<br />

und nur die Union des<br />

Rhône-Departements entging ihren Fangarmen.<br />

Auch die Industrie-Föderationen<br />

fielen den Kommunisten in die Hände,<br />

mit Ausnahme der Bauarbeiter-Föderation,<br />

die übrigens seit dem Bauarbeiterkongreß<br />

im Dezember 1924, der über die<br />

Köpfe der Föderationsleitung der Bauarbeiter<br />

von der C.G.T.U. einberufen<br />

worden ist, stark angegriffen wird. Zwar<br />

hat es der Minorität innerhalb der<br />

C.G.T.U. nicht an Gelegenheiten gefehlt,<br />

die kommunistische Offensive zu hemmen,<br />

aber sie hat diese Gelegenheit nicht<br />

zu rechter Zeit auszunutzen verstanden.<br />

In Bourges hatte die Minorität sich nach<br />

den Erklärungen Monmousseaus, des<br />

Führers der Moskauer, der im Namen der<br />

Kommunistischen <strong>Internationale</strong> sprach,<br />

zurückziehen können noch che gegen<br />

die Statuten auf so flagrante Weise verstoßen<br />

wurde. <strong>Die</strong> Minorität verstand<br />

aber nicht die Situation auszunutzen und<br />

verblieb in der C.G.T.U.<br />

<strong>Die</strong> C.G.T.U. zog daraus ihren Nutzen,<br />

beschleunigte ihre Propaganda, um die<br />

Kräfte zu zerstören, die nur noch einen<br />

schwachen Widerstand leisteten. Der<br />

Widerstand wurde hauptsächlich von der<br />

Bauarbeiter-Föderation getragen und diese<br />

alte revolutionäre Organisation war bald<br />

den stärksten Angriffen ausgesetzt. Auch<br />

sie verstand es nicht, zur rechten Zeit<br />

und stark genug dagegen zu reagieren<br />

und diese unklare Stellung wurde von den<br />

Gegnern ausgenutzt. Heute ist die Bauarbeiterföderation<br />

zweigeteilt. <strong>Die</strong> meisten<br />

großen Gewerkschaften sind immer noch<br />

in der Bauarbeiter-Föderation, und die<br />

Vereinigte Bauarbeiter-Gewerkschaft des<br />

Seine-Departements (S.U.B.) hat den Angriff<br />

aushalten können, indem sie als erste<br />

sich selbstständig machte. <strong>Die</strong> Erdarbeiter<br />

der Departements Seine und Seine<br />

und Oise, die stärkste französische Organisation,<br />

sind von fürchterlichen Kämpfen<br />

zerrissen, und es besteht wohl kein Zweifel,<br />

daß die Kommunisten den Sieg davontragen<br />

werden.<br />

Angesichts der Zerrissenheit der revolutionären<br />

Syndikalisten mußte das Komitee<br />

der Minorität sich schließlich unter<br />

dem Druck einer starken Strömung für<br />

Selbstständigmachung entschließen, eine<br />

Konferenz zum 1. und 2. November 1924<br />

einzuberufen. Wenn diese Konferenz, an<br />

welcher eine große Anzahl von Gewerkschaffen<br />

aus Paris und aus der Provinz<br />

teilnahmen, nicht ein Muster an Klarheit<br />

war, wenn die Diskussionen, die dort geführt<br />

wurden, die Stellung der revolutionären<br />

Syndikalisten nicht mit der genügenden<br />

Klarheit darstellten, so wurde<br />

dennoch ein wichtiger Beschluß gefaßt.<br />

<strong>Die</strong> Konferenz beschloß, die zerstreuten<br />

syndikalistischen Kräfte des ganzen Landes<br />

zusammenzufassen. Es wurde die Föderative<br />

Union selbständiger Gewerkt<br />

schaffen Frankreichs (U.F.S.A.) geschaffen.<br />

Sie ist das Band, das die Gewerkschaften<br />

des ganzen Landes miteinander<br />

verbündet und sie zu gemeinsamer Arbeit<br />

zusammenbringt, sowohl in propagandistischer,<br />

beruflicher wie auch in sozialer<br />

Hinsicht.<br />

Das provisorische Exekutivkomitee, das<br />

auf der Konferenz ernannt wurde, hat sich<br />

unverzüglich an die Arbeit gemacht und<br />

trotz der obengenannten Schwierigkeiten<br />

ist es in der Lage, konstatieren zu können,<br />

daß seine Anstrengungen nicht vergebens<br />

waren.<br />

<strong>Die</strong> Gaue, wo die Propaganda der<br />

U.F.S.A. am meisten Früchte trug, sind:<br />

die Departements Rhône, Bouches-du-<br />

Rhone, die Gironde, Finistere und die<br />

Pariser Region. Unsere Mitgliederzahlen


sind zur Zeit schwer anzugeben. <strong>Die</strong> Mitgliedskarten<br />

für das Jahr 1925 (in Frankreich<br />

werden die Mitgliedskarten jedes<br />

Jahr erneuert) sind noch lange nicht vollständig<br />

ausgegeben, und es bilden sich<br />

tagtäglich einige neue Organisationen.<br />

<strong>Die</strong> Bauarbeiterföderation verhält sich bis<br />

zu ihrem kommenden Kongreß, der im<br />

Juni stattfinden wird, abwartend. Wenn<br />

der Kongreß beschließt, sich der U.F.S.A.<br />

anzuschließen, wie wir es hoffen, dann<br />

würde unsere Mitgliederzahl sich auf<br />

50 000 belaufen.<br />

Im Laufe dieses Jahres wird die U.F.S.A.<br />

einen Kongreß einberufen, auf welchem<br />

die Organisationsform und Struktur endgültig<br />

beschlossen wird. <strong>Die</strong>ser Kongreß<br />

wird natürlich auch die Frage der internationalen<br />

Verbindung ins Auge fassen<br />

müssen. Schon jetzt hat das Exekutivkomitee<br />

das Mandat erhalten, mit der<br />

I.A.A. in Verbindung zu treten und mit<br />

ihr die internationalen Ereignisse zu verfolgen.<br />

.<br />

Das Ziel der U.F.S.A. besteht zunächst<br />

darin, alle Kräfte zu vereinigen, die sich<br />

aus den beiden Gewerkschaftsbünden zurückgezogen<br />

haben, und den revolutionärssyndikalistischen<br />

Geist zu neuem Leben<br />

zu erwecken, der jetzt fast vollständig<br />

verschwunden ist.<br />

Wenn nach diesem Plane gearbeitet<br />

wird, dann kann die Arbeiterbewegung<br />

Frankreichs wieder zu neuem Leben erweckt<br />

werden. <strong>Die</strong>se Arbeit erfordert<br />

natürlich Zeit, und wir wissen wohl, daß<br />

wir sie so schnell nicht beenden können.<br />

Unsere Gegner sind noch sehr stark, die<br />

Ereignisse, die der Arbeiterklasse ihre<br />

Irrtümer zeigen werden, sind noch zu<br />

weit entfernt, als daß wir hoffen können,<br />

daß unser Standpunkt und unsere Methoden<br />

endgültig zum Siege gelangen, ehe<br />

eine Zeit verstreicht. <strong>Die</strong>se Zeit wird<br />

aber trotz alledem kommen, und wir<br />

hoffen, daß die französische Arbeiterklasse<br />

vielleicht schneller als man allgemein<br />

glaubt, ihr wahres Klassenbewußtsein<br />

wiederfinden und die Tradition der<br />

Vergangenheit wieder aufnehmen wird.<br />

In bezug auf die Einheit der Arbeiterbewegung<br />

verhält sich die U.F.S.A. natürlich<br />

abwartend. Wir müssen hier erklären,<br />

daß sämtliche Arbeiter Frankreichs<br />

— wir sprechen allerdings nicht<br />

von den Führern und Generalstäblern der<br />

Arbeiterschaft — die Einheit mit allen<br />

Kräften und von ganzem Herzen wünschen.<br />

Sie sehen in der Verwirklichung der Einheit<br />

der Arbeiterbewegung zuerst auf<br />

FRANKREICH 125<br />

nationalem und dann auf internationalem<br />

Gebiete die einzige Möglichkeit, dem<br />

Weltkapitalismus Widerstand zu leisten<br />

und der Gefahr zu entgehen, die für sie<br />

die Annahme des Dawesplanes für ganz<br />

Europa, Rußland inbegriffen, bedeutet.<br />

Wenn wir noch nicht in die laufenden<br />

Verhandlungen eingreifen, die den nahen<br />

Eintritt der C.G.T.U. in den alten Gewerkschaftsbund<br />

(C.G.T.) zum Ziele<br />

haben, so glauben wir doch, daß wir uns,<br />

bei Gefahr, von der Bildfläche zu verschwinden,<br />

von diesen Verhandlungen<br />

nicht fernhalten können, wenn dieser<br />

Schritt verwirklicht wird. Wenn ein Kongreß<br />

stattfindet, der der Einigung geweiht<br />

ist, nachdem die C.G.T.U. in die C.G.T.<br />

eingetreten ist, dann müssen wir an demselben<br />

teilnehmen.<br />

Auf einer der letzten Ausschußsitzungen<br />

des <strong>Internationale</strong>n Gewerkschaftsbundes<br />

wurde folgender Beschluß gefaßt:<br />

„Der vom 5. bis 7. Februar 1925 in<br />

Amsterdam tagende Ausschuß des <strong>Internationale</strong>n<br />

Gewerkschaftsbundes,<br />

nachdem er Kenntnis genommen hat<br />

von der Korrespondenz zwischen dem<br />

I.G.B. und dem All-Russischen Gewerkschaftsrat,<br />

beauftragt den Vorstand des I.G.B.,<br />

dem AllsRussischen Gewerkschaftsrat<br />

mitzuteilen, daß der I.G.B, sich bereiterklärt,<br />

den AllsRussischen Gewerkschaftsrat<br />

zuzulassen, wenn dieser<br />

Wunsch geäußert wird;<br />

er erklärt sich ebenfalls bereit, sobald<br />

die russischen Gewerkschaften diesen<br />

Wunsch zum Anschluß an den I.G.B.<br />

zur Kenntnis gebracht haben, auf Ersuchen<br />

in Amsterdam eine Konferenz<br />

mit dem russischen Gewerkschaftsrat<br />

abzuhalten zwecks gegenseitigen Gedankenaustausches.:<br />

<strong>Die</strong>sen Beschluß kommentiert Jouhaux<br />

auf folgende Weise:<br />

„<strong>Die</strong> russischen Gewerkschaften haben<br />

also Gelegenheit, nun deutlich zu sagen,<br />

ob sie in den <strong>Internationale</strong>n Gewerkschaftsbund<br />

eintreten wollen oder<br />

nicht. Sie wissen auch, daß sie die<br />

Rote Gewerkschafts-<strong>Internationale</strong> draußen<br />

lassen müssen, und daß von dem<br />

Ersatzmittel der „Einheitsfront", das<br />

der Vorschlag des Einheits - Weltkongresses<br />

der Arbeiterschaft sein soll,<br />

nicht die Rede sein kann."<br />

(„Peuple" vom 15. II. 25.)<br />

Es wird hier also eine recht rasche Auflösung<br />

der R.G.I. angenommen. Es besteht<br />

wohl auch kein Zweifel, daß die


126 HOLLAND<br />

Russen schon seit langem mit dem Gedanken<br />

vertraut waren, daß die Einigkeit<br />

mit Amsterdam nur möglich ist auf diese<br />

Weise. Es deutet übrigens alles darauf<br />

hin, daß es so weit kommen wird, und,<br />

wenn wir recht informiert sind, wurde ein<br />

Sekretär der C.G.T.U. dieser Tage dringend<br />

nach Moskau gesandt, um diesen<br />

Beschluß Amsterdams zu beraten.<br />

<strong>Die</strong> Anhänger der R.G.I. in Frankreich<br />

glauben übrigens, daß sie numerisch stärker<br />

sind als ihre Gegner, und deshalb<br />

werden sie den Vorschlag annehmen.<br />

Nach unserer Meinung sind sie im Irrtum,<br />

und die C.G.T. wird fiktiv oder wirklich<br />

die Mehrheit zu erreichen wissen. <strong>Die</strong><br />

C.G.T. hat übrigens ihre Mitgliederzahl<br />

bedeutend erhöht, und der Anschluß der<br />

Beamtenorganisation wird ihr gewiß die<br />

Majorität sichern. <strong>Die</strong> Strategie der R.G.I.<br />

und der Komintern wird noch einmal auf<br />

der falschen Fährte sein.<br />

Wir haben noch keinerlei Richtlinien<br />

aufgestellt zu den Ereignissen, die wir<br />

voraussehen, wir werden aber zweifellos<br />

bald in diese Lage versetzt werden. Und<br />

sicherlich werdet auch Ihr selbst einer<br />

solchen Lage auf internationalem Gebiete<br />

nicht indifferent gegenüberstehen<br />

können. Es wäre gut, wenn wir Euren<br />

Standpunkt in dieser Sache kennen lernen<br />

würden.<br />

Seid Ihr entschlossen, national und inters<br />

national dieser Vereinigung fernzubleu<br />

HOLLAND<br />

ben oder an ihr teilzunehmen, wenn der<br />

Eintritt der R.G.I. in die Amsterdamer<br />

<strong>Internationale</strong> sich vollzieht?<br />

Das ist für uns eine wichtige Frage, und<br />

wir möchten gern die Meinung der I.A.A.<br />

hierüber wissen.<br />

<strong>Die</strong> U.F.S.A. würde es sehr gern sehen,<br />

wenn die Frage der internationalen Einigung<br />

auf die Tagesordnung des Amsterdamer<br />

Kongresses gestellt werden würde.<br />

Sie wagt zu hoffen, daß der Kongreß in<br />

Anbetracht der Bedeutung der Verhandlungen,<br />

die wir dargelegt haben, Beschlüsse<br />

faßt, die dem Interesse des Proletariats<br />

aller Länder Rechnung tragen.<br />

Das ist die Lage, die Euch zur Kenntnis<br />

zu bringen wir als unsere Pflicht betrachten.<br />

Das sind die Ereignisse, die wir<br />

voraussehen, und unsere Ansichten darüber.<br />

Wir bitten das Verwaltungsbüro dringend,<br />

unseren Bericht zur Kenntnis des<br />

Kongresses zu bringen, und wir appellieren<br />

an den Kongreß, seine Aufmerksamkeit<br />

auf die wesentlichen Punkte, die wir dargelegt<br />

haben, zu lenken.<br />

Für die<br />

Föderative Union selbständiger Gewerkt<br />

schaffen Frankreichs (U.F.S.A.)<br />

Der internationale Sekretär:<br />

Pierre Besnard.<br />

Bericht des syndikalistischen Gewerkschaftsverbandes der Niederlande.<br />

Als Ende 1922 die I.A.A. in Berlin gegründet<br />

wurde, waren die Anhänger der<br />

syndikalistischen Gewerkschaftsbewegung<br />

Hollands noch alle in dem alten Nationalen<br />

Arbeitssekretariat vereinigt, und es<br />

bestand noch nicht der der I.A.A. angeschlossene<br />

„Nederlandsch Syndicalistisch<br />

Vakverbond".<br />

Nach dem <strong>Internationale</strong>n Kongreß in<br />

Berlin wurde im N.A.S. der Kampf zwisehen<br />

den Anhängern der kommunistisehen<br />

„Roten Gewerkschaftsinternationale"<br />

und unseren Genossen aufs schärfste<br />

fortgesetzt.<br />

Ostern 1923 tagte in Amsterdam der<br />

entscheidende Kongreß des N.A.S., welcher<br />

die Frage „Moskau oder Berlin" entscheidend<br />

lösen sollte. <strong>Die</strong> Anhänger vor:<br />

Moskau waren in sehr großer Anzahl auf<br />

Von B. Lansink jun.<br />

dem Kongreß vertreten. Kleinen Ortsvereinen,<br />

welche nicht aus eigenen Mitteln<br />

einen Delegierten schicken konnten, wurden,<br />

im Falle sie für Moskau waren, die<br />

finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt<br />

aus den von Kommunisten geführten Föderationskassen,<br />

damit sie an dem Kongreß<br />

teilnehmen konnten.<br />

Als der Hauptpunkt der Tagesordnung<br />

angeschnitten wurde, erklärten unsere<br />

Genossen, daß sie nicht mehr an den<br />

Debatten teilnehmen würden und nur<br />

noch bereit wären, eine Erklärung abzugeben.<br />

In dieser Erklärung, welche von<br />

etwa 50 Delegierten unterschrieben war.<br />

wurde gesagt, daß die revolutionären Syndikalisten<br />

nicht bereit waren, im Falle der<br />

Kongreß den Anschluß an die R.G.I. von<br />

Moskau beschließen würde, diesen Be-


schluß anzuerkennen, und daß sie nur die<br />

I.A.A. als die <strong>Internationale</strong> anerkennen<br />

welcher das N.A.S. beitreten würden<br />

könnte.<br />

Nach der Abgabe dieser Erklärung, und<br />

als noch die Anhänger Moskaus leidenschaftliche<br />

Reden abgehalten hatten,<br />

wurde mit etwa 5 oder 6 Stimmen Majorität<br />

der Anschluß an Moskau beschlossen.<br />

Nachdem fand noch eine Urabstimmung<br />

statt, und mit sehr vielen künstlerischen<br />

Manipulationen bekam Moskau dabei eine<br />

Majorität von etwa 800 Stimmen.<br />

Weil die Kommunisten überzeugt waren,<br />

daß die Minorität den Siegesgang<br />

nach Moskau nicht mitmachen werde, eröffneten<br />

sie nach der Urabstimmung<br />

"Kompromißverhandlungen". Während<br />

dieser Verhandlungen spielten die Kommunisten<br />

ihre Rolle nach Moskauer<br />

Muster weiter. Obwohl sie erklärten,<br />

daß sie „loyal" und „kameradschaftlich"<br />

mit uns zusammen arbeiten wollten, konnten<br />

wir während dieser Verhandlungen<br />

konstatieren, daß sie uns nochmals eine<br />

Nase drehten. Der Sekretär des N.A.S.,<br />

ein sehr fanatischer Anhänger der R.G.I.,<br />

erklärte namentlich, daß sie das Kompromiß<br />

einstimmig angenommen hätten,<br />

obwohl er wußte, daß das eine Lüge war.<br />

Als seine Genossen ihn darauf aufmerkmachten,<br />

sagte er: „Nun ja, das können<br />

wir sagen, in Zukunft werden wir doch<br />

wohl fertig werden mit den Berliner<br />

Burschen!" Nach dieser moralischen<br />

Moskauer Aeußerung haben wir sofort die<br />

Kompromißverhandlungen abgebrochen.<br />

Anfang Juni 1923 wurde von vielen unserer<br />

Genossen beschlossen, eine Landes-<br />

Konferenz in Utrecht einzuberufen, welche<br />

am 24. Juni tagte.<br />

Auf dieser Konferenz waren 21 Organisationen<br />

von: Bauarbeitern, Metallarbeitern,<br />

Zigarrenmachern, Fabrikarbeitern,<br />

Textilarbeitern, Schneidern und Transportarbeitern<br />

vertreten.<br />

Nach eingehender Beratung wurde die<br />

Frage, müssen und können wir im N.A.S.<br />

bleiben oder müssen wir eigene Wege<br />

gehen und eine neue syndikalistische Zentrale<br />

auf dem Boden der I.A.A. gründen,<br />

in diesem Sinne gelöst, daß das letztere<br />

mit allen Stimmen beschlossen wurde.<br />

<strong>Die</strong> erste Föderation, welche den An-<br />

6chluß an die I.A.A. beschloß, war die<br />

Föderation der Bergarbeiter. <strong>Die</strong> zweite<br />

war die Niederländische Vereinigung der<br />

Seeleute in Rotterdam. Nachdem kamen<br />

die Fabrikarbeiter und weiterhin die Text<br />

titarbeiter. Zigarrenmacher, Schneider,<br />

HOLLAND 127<br />

Metallarbeiter und Eisenbahner. Neue<br />

Föderationen wurden gegründet von Bauarbeitern<br />

und Transportarbeitern. <strong>Die</strong>ses<br />

letztere war notwendig, weil in den Föderationen<br />

der Bauarbeiter und Transportarbeiter,<br />

welche dem N.A.S. angeschlossen<br />

waren, eine künstliche Majorität für Moskau<br />

von den bolschewistischen Föderationsführern<br />

fabriziert worden war.<br />

Eine schreckliche Hetze setzte von Moskau<br />

gegen uns ein. <strong>Die</strong> finanziellen Mittel,<br />

welche die Föderationen der Fabrikarbeiter,<br />

Textilarbeiter, Schneider und Zigarrenmacher<br />

auf ihrem Girokonto hatten,<br />

wurden mit Hilfe der bürgerlichen Gerichte<br />

sofort von Moskau beschlagnahmt,<br />

obwohl keine der Föderationen auch nur<br />

einen Augenblick daran dachte, ihren<br />

finanziellen Pflichten gegenüber dem<br />

N.A.S. nicht nachkommen zu wollen. <strong>Die</strong><br />

Föderation der Metallarbeiter in Rotterdam<br />

mit etwa 2500 Mitgliedern wurde auf<br />

Antrag des N.A.S.-Vorstandes vom Gericht<br />

für bankrott erklärt. Das Büro und<br />

die Büroausstattung wurden später öffentlich<br />

durch Gerichtsbeschluß versteigert.<br />

Wir müssen gestehen, daß durch diese<br />

Taktik von Moskau unsere Lage sehr<br />

kritisch wurde, besonders weil in jener<br />

Zeit die Reaktion von Staat und Unternehmern<br />

am schärfsten wütete. Wie<br />

überall im Auslande, standen auch die<br />

holländischen Unternehmer in fester<br />

Front den Arbeitern gegenüber bei dem<br />

Abbau des Achtstundentages und Herabsetzung<br />

der Löhne. Sie wurden dabei<br />

selbstverständlich von Staat, Gemeinde<br />

und den Behörden kräftig unterstützt.<br />

Eine scharfe Reaktion, sowohl auf wirtschaftlichem<br />

wie auf politischem Gebiete<br />

setzte ein. Tausende von Arbeitern waren<br />

erwerbslos und liefen mit unzureichenden<br />

Unterstützungen herum. An vielen Orten<br />

wurden die Löhne um 10 und 15 % herabgesetzt.<br />

Als der erste Sieg der Unternehmer<br />

vorüber war, eröffneten sie sofort<br />

wieder eine neue Offensive. Sie forderten<br />

nicht nur Lohnabzug und Arbeitszcitverlängerung,<br />

sondern auch vollständigen<br />

Abbau der sozialen Gesetzgebung. Arbeitslosenunterstützung,<br />

öffentlichen Gesundheitsdienst,<br />

Invaliden- und Alters-<br />

Unterstützung, Arbeiterwohnungsbau —<br />

an Arbeiterwohungen war großer Mangel<br />

—, Unterricht der Volkskinder in der<br />

Schule usw., das hießen sie alle für viel<br />

zu kostbar und viel zu teuer. Und die<br />

Regierung folgte den Forderungen der<br />

kapitalistischen Machthaber. <strong>Die</strong> Kapitalisten<br />

forderten ihre „Rechte", das heißt:


128 HOLLAND<br />

einerseits reaktionäre Maßnahmen gegen<br />

die Arbeiterschaft und andererseits ihre<br />

imperialistischen Kolonialbelange.<br />

Obwohl die „christliche Regierung" die<br />

Löhne und Arbeitsverhältnisse der Arbeiter<br />

und kleinen Beamten im Staatsdienst<br />

und in den Staatsbetrieben, wie Post,<br />

Telegraph, Telephon und Eisenbahnen,<br />

verschlimmerte und die Last der direkten<br />

und indirekten Steuern schwer drückten,<br />

die noch fortwährend erhoben werden,<br />

damit die Regierung das Staatsbudget ins<br />

Gleichgewicht bringen kann, kam diese<br />

Regierung im Herbst 1923 mit einem<br />

Kriegsflottenplan, der etwa 400 Millionen<br />

Gulden kostete.<br />

<strong>Die</strong> holländische Arbeiterschaft war<br />

schwer zu Boden gedrückt von dieser<br />

wirtschaftlichen und politischen Reaktion.<br />

Durch die große Arbeitslosigkeit und den<br />

niedrigen Stand der Konjunktur gingen<br />

fast alle Abwehraktionen und Streiks<br />

verloren. Als aber die Regierung mit<br />

ihrem Vorschlag des Kriegsflottenplanes<br />

kam, erhob sich die Arbeiterschaft an<br />

vielen Orten, und eine kräftige Protestaktion<br />

setzte ein.<br />

In den ersten Monaten seines Lebens<br />

war der N.S.V. also gezwungen, diese<br />

Aktion mitzumachen. Zusammen mit den<br />

anderen freiheitlichen sozialistischen und<br />

anarchistischen Organisationen und Gruppen<br />

wurde ein revolutionäres Komitee<br />

eingesetzt. Am 23. September wurde in<br />

Rotterdam eine große Demonstration<br />

für das ganze Land einberufen, zum Protest<br />

gegen den Kriegsflottenplan der Regierung.<br />

Etwa 100 Ortsvereine waren vertreten<br />

und 2000 Arbeiter und Arbeiterfrauen<br />

erhoben ihre Stimme gegen diese<br />

Kriegsvorbereitung.<br />

<strong>Die</strong> sozialdemokratischen und reformistischen<br />

Gewerkschaften waren in<br />

Amsterdam versammelt. Das N.A.S. hielt<br />

zusammen mit der Kommunistischen Partei<br />

Hollands eine Demonstration ab. <strong>Die</strong><br />

bürgerlichen neutralen Gewerkschaften<br />

hielten ihre Demonstrationen im Haag ab.<br />

Unter dem Druck dieser direkten<br />

Massenaktion stimmte das holländische<br />

Parlament den Kriegsflottenplan der Regierung<br />

nieder. Zehn katholische Abgeordnete<br />

stimmten mit den „demokratischen"<br />

Elementen dagegen, natürlich<br />

nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern<br />

aus taktischen Motiven.<br />

Der N.S.V. und die mit ihm verbündeten<br />

freiheitlichen Organisationen und Gruppen<br />

führten ihre Protestaktion auf prin-<br />

zipiell antimilitaristischer und antikapitalistischer<br />

Basis. Deswegen lehnten wir<br />

das Zusammengehen mit Kommunisten<br />

und Sozialdemokraten zielbewußt ab.<br />

Kaum war diese Aktion beendet, als<br />

der große Streik der Textilarbeiter in<br />

Twente (Osten des Landes) einsetzte. <strong>Die</strong><br />

Arbeitgeber wollten die Löhne um 10 %<br />

herabsetzen oder die Arbeitszeit verlängern.<br />

Sämtliche Arbeiterorganisationen<br />

lehnten dies ab, und die christlichen und<br />

reformistischen Organisationen proklamierten<br />

einen Teilstreik für eine Fabrik.<br />

Weil etwa 23 000 Arbeiter in dem ganzen<br />

Industriebezirk an diesem Lohnabzug<br />

teiligt waren, machte die bei dem N.S.V.<br />

angeschlossene Textilarbeiter-Föderation<br />

den Vorschlag, man sollte auf der ganzen<br />

Linie in den Ausstand treten. <strong>Die</strong>ser<br />

Vorschlag wurde von den anderen Organisationen<br />

abgewiesen. Und so wurde<br />

ein Streik für 150 Arbeiter proklamiert<br />

für eine Sache, an welcher 23 000 Arbeiter<br />

interessiert waren. Unter diesen Umständen<br />

lehnte die Föderation der Textilarbeiter<br />

die Verantwortung für solch eine<br />

Streikbewegung ab. Unsere Föderation<br />

wurde deshalb von dem N.A.S. scharf bekämpft.<br />

Nach einigen Wochen gingen die Arbeitgeber<br />

zum allgemeinen Angriff über,<br />

indem sie die Aussperrung für den ganzen<br />

Bezirk proklamierten, wodurch 23 000<br />

Arbeiter ausgesperrt wurden. <strong>Die</strong>ser<br />

Kampf hat 34 Wochen gedauert, bis die<br />

Arbeiter ihre Niederlage erlitten. Samtliehe<br />

Knechte des Kapitalismus standen<br />

den Arbeitern gegenüber: <strong>Die</strong> Behörden,<br />

Gerichte und Polizei, die christlichen Gewerkschaften,<br />

der Pastor und die Streikbrecher.<br />

<strong>Die</strong> Regierung hatte sogar Maschinengewehre<br />

nach dem Brennpunkt des<br />

Kampfes — Enschede — geschickt.<br />

<strong>Die</strong> kämpfende Arbeiterbevölkerung<br />

wurde brutal terrorisiert. Bis in ihre<br />

Wohnungen wurden sie von den Weißgardisten<br />

mißhandelt.<br />

Am 5. Mai 1924 öffneten die Fabrikbesitzer<br />

die Fabriken wieder, weil sie mit<br />

den christlichen Gewerkschaften zu einem<br />

Vergleich kamen, wodurch der Lohnherabsetzung<br />

um 7 % und einer bedeutenden<br />

Arbeitszeitverlängerung zugestimmt<br />

wurde.<br />

Durch diesen Verrat wurde die Arbeiterfront<br />

durchbrochen, aber in Enschede und<br />

einigen kleineren Orten beantworteten die<br />

Arbeitermassen die Wiedereröffnung der<br />

Fabriken mit Streik. Anstatt in die Fabriken<br />

hineinzugehen, proklamierten sie


den Streik, an welchem nur in Enschede<br />

die gesamte Arbeiterschaft teilnahm.<br />

Auch die reformistisch Organisierten, obwohl<br />

die Führer dieser Organisationen<br />

während der Aussperrung schon viele<br />

Konzessionen an die Arbeitgeber gemacht<br />

hatten. Nach einigen Wochen mußten<br />

aber auch diese Arbeiter kapitulieren,<br />

weil die christlichen Gewerkschaften und<br />

die Streikbrecher alles daran setzten, die<br />

streikenden Arbeiter zu besiegen.<br />

Der N.S.V. war an diesem Kampf mit<br />

etwa 700 Mitgliedern beteiligt, die reformistische<br />

Organisation mit etwa 2500 und<br />

das N.A.S. nur mit 7 Mitgliedern. Der<br />

N.S.V. brachte für finanzielle Unterstützung<br />

der kämpfenden Kameraden<br />

etwa 100000 Gulden durch freiwillige<br />

Sammlung auf.<br />

Neben diesem Kampf in der Textilindustrie<br />

war der N.S.V. bei verschiedenen<br />

Kämpfen von geringerem Umfang und<br />

Bedeutung gegen Lohnherabsetzung und<br />

Arbeitszeitverkürzung beteiligt, wie im<br />

Baugewerbe, der chemischen Industrie,<br />

Metallindustrie, Kleiderindustrie, Nahrungsmittelindustrie,<br />

bei den Hafen- und<br />

Transportarbeitern.<br />

1924 wurden vom N.S.V. an ausländische<br />

Kameraden, welche aus politischen Gründen<br />

nach Holland flüchteten, etwa 500<br />

Gulden an finanzieller Unterstützung ausgegeben.<br />

Auf politisch-ökonomischem Gebiete<br />

setzte die Reaktion 1924 weiter fort. <strong>Die</strong><br />

Regierung kam mit Gesetzentwürfen, wobei<br />

die indirekten Steuern — Einfuhrtarife<br />

— um 10% erhöht wurden. Außerdem<br />

wurden noch sonstige Lebensmittel<br />

mit Extrasteuern belastet. Um die<br />

Staatskassen zu füllen, wurde eine neue<br />

Steuer auf Fahrräder von 3 Gulden pro<br />

Fahrrad erhoben. <strong>Die</strong>se Steuer soll pro<br />

Jahr etwa 5 Millionen Gulden einbringen.<br />

Unter dem Druck der Unternehmerreaktion<br />

wurde die Arbeitslosenunter-<br />

Stützung verschlechtert. <strong>Die</strong> wöchentlichen<br />

Beiträge, die von den Arbeitern zu zahlen<br />

sind, wurden vielfach erhöht. Es gibt Arbeitslosenkassen,<br />

an die die Arbeiter einen<br />

Wochenbeitrag von 50 Cent bis zu einem<br />

Gulden bezahlen müssen. Der Unterstützungsbetrag<br />

wurde dagegen bedeutend<br />

herabgesetzt und die Zeit, in der der<br />

Arbeitslose „Recht" auf Unterstützung<br />

hat, bedeutend gekürzt.<br />

Auch auf dem Gebiete der Volksschulbildung<br />

setzte eine schwarze Reaktion<br />

ein. <strong>Die</strong> Ausgaben für die Volksschulen<br />

HOLLAND 129<br />

wurden herabgesetzt. Viele Lehrer wurden<br />

entlassen und auf sogenannte „Wartegelder"<br />

gesetzt. Unterstützungen für<br />

Kunst und Wissenschaft wurden einfach<br />

eingezogen. Anstatt sieben Schuljahre<br />

für das Arbeiterkind wurden sechs Schuljahre<br />

gesetzt.<br />

Nicht nur die „christliche" Regierung<br />

und die Arbeitgeber schürten diese Reaktion,<br />

sondern auch die sozialdemokratischen<br />

Stadtverwalter in Amsterdam<br />

und sonstigen Orten beteiligten sich hieran.<br />

In Amsterdam setzte der Sozialdemokratische<br />

Stadtrat, unter dessen Departement<br />

die Gemeindebetriebe standen, die<br />

Löhne der Gemeindearbeiter herab und<br />

schaffte den Achtstundentag ab. <strong>Die</strong> reformistischen<br />

Gewerkschaften, die der<br />

Amsterdamer <strong>Internationale</strong> angeschlossen<br />

und der Sozialdemokratischen Partei<br />

Hollands untergeordnet sind, verteidigten<br />

diese sozialdemokratische reaktionäre Politik.<br />

Als aber in einer Mitgliederversammlung<br />

dieser Organisationen die Reaktion<br />

von den Arbeitern mit großer<br />

Majorität abgewiesen wurde, wurde eine<br />

Woche darauf noch einmal eine Mitgliederversammlung<br />

einberufen, und dort<br />

wurde mit gewandten Kunstgriffen seitens<br />

der reformistischen sozialdemokratischen<br />

Gewerkschaftsführer auf die Arbeiter<br />

„eingeredet", so daß die Lohnherabsetzungen<br />

und die Arbeitszeitverlängerung akzeptiert<br />

wurden.<br />

<strong>Die</strong> Kommunistische Partei Hollands, mit<br />

der das N.A.S. in vielen Aktionen zusammen<br />

auftrat, treibt eine sehr demagogisch-politische<br />

Aktion. Bei diesen Aktionen<br />

wird immer auf die schlechten<br />

Charaktereigenschaften der schwer betroffenen<br />

Arbeiter spekuliert. Uebrigens<br />

hat diese Partei sehr wenig Bedeutung.<br />

.Sic hat in fünf Jahren eine Mitgliederzahl<br />

von etwa 1200 erreicht. Ihre politische<br />

Existenz ist auf die annormalen Nachkriegsverhältnisse<br />

aufgebaut. In den<br />

Reihen der Arbeiterschaft, wo die Lebensverhältnisse<br />

etwas besser sind als die<br />

allerschlechtesten, hat die Partei außerordentlich<br />

wenig Anhang.<br />

<strong>Die</strong> anarchistische Bewegung Hollands<br />

bietet kein schönes Bild. Sie ist verzweiflungsvoll<br />

zersplittert, und ein großer<br />

Teil steht der Gewerkschaftsbewegung im<br />

allgemeinen und auch dem N.S.V. sehr<br />

feindlich gegenüber. In bezug auf die<br />

praktischen Lebensfragen und Lebensverhältnisse<br />

stellt man sich auf einen negativen<br />

und nur destruktiven Standpunkt.<br />

<strong>Die</strong> Richtung, die sich dem „Vrye So-


130 HOLLAND<br />

cialist" angliedert, nimmt dem N.S.V.<br />

gegenüber einen mäßig sympathischen<br />

Standpunkt ein.<br />

Neben der anarchistischen Bewegung<br />

existiert die antimilitaristische Vereinigung,<br />

deren Führer leider außerhalb der<br />

Arbeiterbewegung stehen. Sie hat etwa<br />

1500 Mitglieder und gibt ein monatliches<br />

Organ „De Wapens neder" heraus, das in<br />

kleineren Städten und Dörfern sehr viel<br />

gelesen wird.<br />

Außerdem gibt es in Holland eine freiheitlich-sozialistische<br />

Partei, die freiheitlich-sozialistische<br />

Prinzipien propagiert und<br />

sich an den Parlamentswahlen beteiligt.<br />

Sie gibt ein Wochenblatt heraus „Recht<br />

voor Allen". Von 1919 bis 1922 hatte sie<br />

einen einzigen Abgeordneten in der zweiten<br />

Kammer, bei den Wahlen 1922 fiel er<br />

durch. Nach der Anzahl der Mitglieder<br />

gerechnet, hat diese Partei wenig zu bebedeuten,<br />

sie führt aber Propaganda für<br />

die freiheitlich-sozialistischen Prinzipien.<br />

<strong>Die</strong> Sozialdemokratische Partei hat<br />

großen Einfluß. Sie hat etwa 50000 Mitglieder,<br />

gibt zwei Tageszeitungen heraus,<br />

wovon eine mit Geldern des Herrn Julius<br />

Barmat, als er in Holland war, gegründet<br />

wurde. Sie hat 23 Abgeordnete in dem<br />

holländischen Parlament und viele Hundert<br />

Vertreter in den Gemeinderäten. An<br />

vielen Orten hat sie „Machtpositionen" in<br />

der Stadtverwaltung besetzt. In bezug<br />

auf die 7925 kommenden Parlamentswahlen<br />

ist sie in der letzten Zeit bestrebt,<br />

mit den „demokratischen" katholischen<br />

Elementen einen Regierungsblock zu bilden.<br />

Auch in der ersten Kammer (Senat)<br />

hat sie etwa 10 Abgeordnete. Zum Teil<br />

sind die Abgeordneten in der ersten und<br />

zweiten Kammer Führer der reformistischen<br />

Gewerkschaften. 1924 hat die Partei<br />

3000 Mitglieder verloren.<br />

<strong>Die</strong> evangelische Gewerkschaftsbewegung<br />

unterhält Beziehungen mit der Konterrevolutionären<br />

Partei (protestantischchristlich),<br />

die katholischen Gewerkschaften<br />

mit der katholischen Staatspartei<br />

und die „neutralen" Gewerkschaften mit<br />

der bürgerlich-radikalen Partei.<br />

<strong>Die</strong> Staatsschuld betrug:<br />

1. Januar 1914 . . 1 148 380 000 Gulden<br />

1. Januar 1922 . . 2 502 086 000 Gulden<br />

1. Januar 1925 . . 2 929 433 000 Gulden.<br />

Der bürokratische Apparat zur Tilgung<br />

der Staatsschulden forderte<br />

1913 38 000 000 Gulden<br />

1922 193 000 000 Gulden<br />

1924 186 433 000 Gulden.<br />

Für „Krieg" und „Marine" wurden ausgegeben:<br />

1913 53 000 000 Gulden<br />

1922 113 000 000 Gulden<br />

1924 107 800000 Gulden.<br />

In diesen drei Jahren wurden also für<br />

Verwaltung der Staatsschulden und für<br />

Krieg und Marine zusammen 691233 000<br />

Gulden aus den arbeitenden Massen der<br />

Niederlande herausgezogen.<br />

In den gleichen Jahren wurden für die<br />

sozialen Angelegenheiten des Arbeitsdepartements<br />

nur 163500000 Gulden und<br />

für Unterricht, Kunst und Wissenschaft<br />

nur 344 250 000 Gulden herausgegeben.<br />

Für Krieg, Marine und Staatsschuld also<br />

zusammen 691233 000 Gulden, und für<br />

Arbeit und geistige Ausbildung 507 750000<br />

Gulden.<br />

<strong>Die</strong>se Zahlen zeigen deutlich die hiesige<br />

reaktionäre Lage in Holland, sowohl<br />

in wirtschaftlicher wie in politischer Hinsicht.<br />

Am 25. und 26. November 1923 tagte<br />

der erste Kongreß des N.S.V. zu Utrecht.<br />

Vertreten waren 8 Industrie/Föderationen,<br />

9 Arbeiterbörsen und 65 Ortsvereine<br />

durch 122 Delegierte. Der Kongreß befaßte<br />

sich mit der Feststellung der Prinzipienerklärung<br />

und der Statuten, welche<br />

sich vollständig mit der Ideologie der<br />

I.A.A. decken. Aus dem Bericht des Sekretärs<br />

ging hervor, daß zur Zeit 11 Föderationen<br />

mit 142 Ortsvereinen und 7250<br />

Mitgliedern und acht einfache Ortsvereine<br />

mit 750 Mitgliedern, zusammen 750 Ortsvereine<br />

mit 8000 Mitgliedern angeschlossen<br />

waren. An 75 Orten existierten<br />

Arbeiterbörsen. Ohne Diskussion wurde<br />

einstimmig der Anschluß an die I.A.A.<br />

beschlossen.<br />

Mitgliederzahl des N.S.V. während 1924.<br />

1.1. 1.4. 1.6. 1.10. 31.12.<br />

Bauarbeiter 490 501 510 509 530<br />

Fabrikarbeiter 585 600 615 625 635<br />

Kleidermacher 295 290 293 297 306<br />

Landwirtschaft 55 58 50 50 45<br />

Metallarbeiter 2170 2150 7975 7905 1900<br />

Zigarrenmacher 1245 1233 1250 1273 1295<br />

Eisenbahner 75 80 73 70 70<br />

Kommunalarbeiter 610 — — — —<br />

Textilarbeiter 1190 1190 1210 1320 1350<br />

Transportarbeiter 486 496 497 450 430<br />

Seeleute 680 700 7/7 7/5 765<br />

Holzarbeiter 180 171 165 155 165<br />

Bergarbeiter 50 40 42 48 48<br />

Total 8110 7509 7397 7425 7539<br />

Am 31. Dezember 1925 waren dem<br />

N.S.V. 79 Arbeiterbörsen angeschlossen.


In den sechs Gewerkschaftszentralen<br />

Hollands waren während 1924 organisiert:<br />

Richtung 1. Januar 1. Juli 1. Oktober<br />

N V. V. (Amsterdamer) 182 893 188642 186 965 Mitgl.<br />

R.K.V (Katholisch) 101 110 99 242 97 050 .<br />

C.N.V. (Evangelisch) 53 967 51888 51129 „<br />

A,N V. (Neutral) 32 222 31606 31123 ..<br />

S.A.S. (Moskau) 13 643 13911 14 024<br />

M.S.V. (I.A.A.) 8110 7397 7 425 „<br />

Nach der Volkszählung 1920 waren am<br />

31. Dezember 1920 in Holland gegen Lohn<br />

oder Gehalt beschäftigt:<br />

In der Industrie . . . 804 150 Personen<br />

In der Landwirtschaft . 424550<br />

Im Handel und Verkehr 338 500<br />

In öffentlichen <strong>Die</strong>nsten 330400<br />

In übrigen Berufen . . 294 800<br />

Total: 2 192 400 Personen.<br />

Am 1. Januar 1924 waren im Ganzen<br />

517 900 im Lohnverhältnis stehende Personen<br />

organisiert, von welchen 385 300<br />

den Gewerkschaftszentralen angeschlossen<br />

waren.<br />

Streiks und Aussperrungen kamen vor:<br />

1922; 325 in 3371 Betrieben mit 44 000<br />

Arbeitern und 1 108 300 verlorenen Arbeitstagen.<br />

1923: 289 in 1455 Betrieben mit 56 400<br />

Arbeitern und 3 986 500 verlorenen Arbeitstagen.<br />

1924: 237 in 1108 Betrieben mit 25791<br />

Arbeitern.<br />

Es wurden Tarifverträge abgeschlossen:<br />

1922: 725 für 20900 Betriebe mit 257 600<br />

Arbeitern.<br />

1923: 670 für 16 900 Betriebe mit 238 000<br />

Arbeitern.<br />

1924: 809 für 16 500 Betriebe mit 285 000<br />

Arbeitern.<br />

Es bestanden Arbeitslosenunterstützungskassen:<br />

1. Januar 1923: 100 mit 334 000 Mitgliedern.<br />

1. Januar 1924: 101 mit 280700 Mitgliedern.<br />

1. Januar 1925: 103 mit 278700 Mitgliedern.<br />

Unfälle kamen vor in:<br />

1922: total 94800, durchschnittlich 309<br />

pro Tag.<br />

HOLLAND 131<br />

1923: total 93 200, durchschnittlich 304<br />

pro Tag.<br />

1924: total 107 600, durchschnittlich 349<br />

pro Tag.<br />

Außer dem N.S.V. existiert die Syndikalistische<br />

Föderation von Arbeitern in<br />

öffentlichen Betrieben (Gemeinde und<br />

Staat), welche den Anschluß bei dem<br />

N.S.V. noch nicht vollzogen hat, weil in<br />

die Statuten der N.S.V. nicht die Bestimmung<br />

aufgenommen ist, daß Personen, die<br />

einer parlamentarisch-politischen Partei<br />

angehören, nicht als Mitglied zugelassen<br />

werden können. In den Statuten der<br />

N.S.V. ist wohl die Bestimmung enthalten,<br />

daß Personen, die einer parlamentarisch-politischen<br />

Partei angehören, nicht<br />

Mitglied des Vorstandes des N.S.V. sein<br />

können.<br />

<strong>Die</strong>se Bestimmung genügte der Syndikalistischen<br />

Föderation nicht, und infolgedessen<br />

blieb sie bisher außerhalb des<br />

N.S.V.<br />

<strong>Die</strong>se Föderation zählt etwa 800 Mitglieder.<br />

Zum Schluß geben wir der Hoffnung<br />

Ausdruck, daß wir dem dritten Kongreß<br />

der I.A.A. berichten können, daß auch<br />

diese Föderation sich der N.S.V. angeschlossen<br />

hat.<br />

Denn wenn es einmal in der Geschichte<br />

des proletarischen Klassenkampfes einen<br />

Moment gegeben hat, in welchem der Zusammenschluß<br />

von allen revolutionären<br />

Syndikalisten ein Gebot war, dann ist das<br />

in diesem Moment der kapitalistischen<br />

und staatlichen Reaktion der Fall.<br />

Unter den hiesigen Verhältnissen dürfen<br />

wir um kleinere Meinungsdifferenzen<br />

nicht gespalten bleiben, wenn man wenigstens<br />

in den großen Hauptfragen einig<br />

ist. Mit der grausamen Weltreaktion vor<br />

Augen, darf nur ein Gebot für uns revolutionäre<br />

Syndikalisten gelten; nämlich<br />

ein kräftiges Zusammehalten von geschlossenen<br />

Reihen.<br />

<strong>Die</strong> holländische Delegation:<br />

A. Rousseau: C. Wolff; G. Blamken;<br />

A. van den Berg; H. Huve; O. Vomk;<br />

A. J. P. Hooze; J. Dekker jr.; B. Lansink<br />

jun.<br />

Amsterdam, den 23. Febr. 1925.


132 ITALIEN<br />

ITALIEN<br />

Bericht der Syndikalistischen Union Italiens zum II. Kongreß der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter-Assoziation.<br />

In den zwei Jahren, die seit dem 1. Kongreß<br />

unserer I.A.A. verstrichen sind, hat<br />

sich unsere Lage in Italien in keiner Beziehung<br />

besonders verändert. <strong>Die</strong> Reaktion<br />

hat nicht aufgehört, sondern setzt ihre<br />

terroristischen Attentate und Gewaltsamkeiten<br />

fort, wenn diese auch nicht mehr so<br />

häufig vorkommen. <strong>Die</strong> Handlungen, die<br />

von den Faschisten ausgeführt wurden,<br />

ehe sie an die Regierungsmacht kamen,<br />

wurden nach Besitzergreifung der Macht<br />

durch Mussolini ebenso wie früher, jetzt<br />

mit Verantwortlichkeit der Regierung,<br />

fortgesetzt. Gerade zwei Monate nach<br />

dem ersten Kongreß der I.A.A. ergriffen<br />

die Faschisten die Macht. Der Staatsfaschismus<br />

will den Terror, den er ausübte,<br />

che er an die Regierung kam, d. h.<br />

seit 1920—1922, jetzt gesetzlich weiter<br />

fortsetzen. <strong>Die</strong> Unterdrückung aller Freiheiten,<br />

wie der Pressefreiheit, Ver-<br />

Sammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit, genügt<br />

der faschistischen Regierung nicht,<br />

sie organisiert noch besondere Unterdrückungsmaßnahmen,<br />

so daß der Verlust<br />

der obenerwähnten Freiheit als normaler<br />

Zustand betrachtet wird.<br />

Man wird leicht verstehen, daß wir<br />

unter diesen Umständen mit unerhörten<br />

Schwierigkeiten zu kämpfen haben.<br />

Unsere syndikalistische Union Italiens<br />

(U.S.I.) mußte ihre Tätigkeit auf ein sehr<br />

begrenztes Gebiet einschränken. Trotzdem<br />

beschäftigt sie sich mit wichtigen<br />

Problemen, sowohl wirtschaftlichen Gewerkschaftsfragen<br />

als auch allgemeinen<br />

sozialen Problemen, wobei sie die Direktiven<br />

ihrer Kongresse niemals überschritt.<br />

Angesicht der gegebenen Sachlage bestand<br />

die vornehmste Aufgabe der U.S.I.<br />

während der letzten zwei Jahre in der<br />

Organisierung und Aufrechterhaltung<br />

eines Roten Kreuzes für die Gefangenen<br />

und ihre Familien, besonders für deren<br />

Kinder. Es wurde ein besonderes Komitee<br />

für die Kinder unserer gefangenen Kameraden<br />

gebildet. Es ist fast unmöglich, die<br />

Anzahl unserer Gefangenen, Verbannten<br />

und flüchtigen Kameraden anzugeben.<br />

Es ist bekannt, daß die Regierung<br />

Mussolinis eine Amnestie erließ, wie sie<br />

größer und bedingungsloser nicht gedacht<br />

werden kann für alle Verbrechen, aber<br />

nur für jene, die für nationale Ziele<br />

begangen wurden. <strong>Die</strong> Amnestie er-<br />

streckte sich also nur auf die Faschisten<br />

selbst, die unter den Regierungen von<br />

Giolitti, Bonomi und Facta sich gegen die<br />

Gesetze vergangen hatten. Wenn es der<br />

Zufall wollte, daß einige unserer Kameraden<br />

durch Anwendung irgendeines<br />

untergeordneten Artikels des Amnestieerlasses<br />

befreit wurden, dann wurden diese<br />

von den Schwarzhemden (das ist der populäre<br />

Name der Faschisten) in ihrem<br />

Heimatsorte erwartet und mit Gewalt<br />

gezwungen, das Land zu verlassen. Das<br />

geschah natürlich aus Furcht, ihre Anwesenheit<br />

könnte bei der Arbeiterschaft<br />

Sympathien auslösen, denn man sah in der<br />

Tat bei einigen Prozessen Manifestationen<br />

zugunsten unserer Kameraden. Kamerad<br />

Modugno, einer der wenigen, die nach<br />

einem großen Prozeß freigesprochen<br />

wurden, wurde in der Stadt, wo er Sekretär<br />

der Arbeiterbörse der U.S.I. gewesen<br />

ist, mit Sympathiekundgebungen von<br />

Tausenden von Arbeitern empfangen.<br />

<strong>Die</strong> U.S.I. hat auch in dieser schwierigen<br />

Lage die eigentlichen Aufgaben der<br />

gewerkschaftlichen Bewegung nicht vernachlässigt.<br />

<strong>Die</strong> Tätigkeit mußte im geheimen<br />

geführt werden, und dabei handelt<br />

es sich um Dinge, die in allen anderen<br />

Ländern der Welt ganz selbstverständlich<br />

sind. Wir haben es schließlich fertiggebracht,<br />

mit den wenigen Kameraden, die<br />

in ihrem Wohnorte bleiben konnten, die<br />

Verbindung aufrechtzuerhalten oder<br />

mit denen in Verbindung zu kommen, die<br />

die Möglichkeit hatten, mittels irgendeines<br />

Vorwandes ihren Wohnort aufzusuchen.<br />

In den Betrieben, in den Dörfern und<br />

unter den Bauern wurden Gruppen gebildet<br />

und alle diese Gruppen standen mit<br />

dem Zentrum der U.S.I. in Mailand in<br />

Verbindung. Es war ein Keim unter der<br />

Erde, der bis zur Ermordung Mateottis,<br />

Juni 1924, am Leben blieb.<br />

Das Verbrechen gegen Mateotti war<br />

der letzte Tropfen, der den Kelch der<br />

Unzufriedenheit zum Ueberlaufen brachte.<br />

Mateotti war Kammerdeputierter der<br />

„Unitären", wie man die Richtung Turati,<br />

das heißt die rechtssozialistische Richtung<br />

in Italien nennt. <strong>Die</strong>se Partei war am<br />

meisten dazu geneigt, oder vom Schicksal<br />

dazu bestimmt, die Nachfolgerschaft der<br />

Macht nach Mussolinis Sturz anzutreten;<br />

es gab allerdings auch noch eine andere<br />

Möglichkeit, die das vorhergehende nicht


ausschloß, und das war die Arbeitsgemeinschaft<br />

mit dem Faschismus. Es gab tatsächlich<br />

zwei Tendenzen in der Partei, der<br />

Mateotti angehörte: die Tendenz von Mateotti<br />

selbst, der eine Arbeitsgemeinschaft<br />

mit dem Faschismus unter alten Umständen<br />

ablehnte und eine bürgerliche Koalitionsregierung<br />

als Nachfolgerin des Faschismus<br />

abwartete; dann auf der anderen<br />

Seite die Richtung von einigen Führern<br />

des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes<br />

Italiens (Richtung Amsterdam), die keinen<br />

Hehl daraus machte, daß es notwendig<br />

sei, das fait accompli anzuerkennen,<br />

und da die Regierung in den Händen<br />

Mussolinis nun einmal war, mit ihm zusammen<br />

zu arbeiten. Der Grund, weshalb<br />

man Mateotti los werden wollte, lag<br />

darin, daß er gegen jedes Einvernehmen<br />

mit einer Regierung war, die die Frage<br />

der Arbeitsgemeinschaft in folgenden<br />

Worten zusammenfaßte: „Ihr könnt nicht<br />

wählen zwischen mir und einem anderen<br />

Ministerium, denn ich halte euch<br />

an der Gurgel und unterwerfe mich nicht<br />

den Abstimmungen des Parlaments;<br />

wenn Ihr also mit mir zusammenarbeitet,<br />

dann halte ich euch immer noch an der<br />

Gurgel und pfeife auf die parlamentarische<br />

Majorität."<br />

Es muß hier erwähnt werden, daß die<br />

reformistischen Führer des Allgemeinen<br />

Gewerkschaftsbundes selbst unter diesen<br />

Bedingungen für die Zusammenarbeit<br />

mit der Regierung Mussolinis waren, und<br />

es war der Generalsekretär des Allgemeinen<br />

Gewerkschaftsbundes, der unrühmliche<br />

d'Aragona, selbst, der nach einer<br />

Diskussion mit Mateotti im Mussolinisehen<br />

Parlamente im Jahre 1924 sehr<br />

durchsichtig den Willen zur Zusammenarbeit<br />

zu verstehen gab. Das möge jenen<br />

zu bedenken geben, die eine Einigkeit mit<br />

diesen Leuten à la d'Aragona für möglich<br />

halten.<br />

In den Tagen, als Mateotti verschwand,<br />

schien die Seele der italienischen Volkes<br />

unfähig, sich zu erheben, und doch erhob<br />

sich das Volk sodann plötzlich. Es waren<br />

damals die kleinbürgerlichen Parteien<br />

selbst, die ihre Abneigung gegen den<br />

Faschismus zum Ausdruck brachten, dem<br />

sie zu seinem Marsch nach Rom verhalfen.<br />

Der Faschismus aber hat ihren Appetit,<br />

an der Macht teilzunehmen, nicht<br />

befriedigt. Auf der anderen Seite stieg<br />

in jenen Tagen ein wahres Gefühl von<br />

Gerechtigkeit und Menschlichkeit, eine<br />

Woge von Mitleidsgefühlen hoch, da<br />

man damals noch nicht wußte, ob der<br />

ITALIEN 133<br />

unglückliche Abgeordnete tot, verwundet<br />

oder ein Gefangener des Faschismus —<br />

oder was die Phantasie des Volkes in den<br />

Augenblicken hochgehender Leidenschaft<br />

sonst noch ausmalte — sein mochte.<br />

Man weiß, daß Mussolini in jenen Tagen<br />

zitterte. Das Proletariat war aber<br />

damals schon ohne jede Widerstandskraft.<br />

Man kann den Sieg des Faschismus<br />

nur verstehen, wenn man weiß, daß<br />

der Faschismus nur zur Macht kommen<br />

konnte, weil das Proletariat seine organisierten<br />

Kräfte bereits vorher zugrunde<br />

richtete durch die Arbeitsgemeinschaft<br />

mit dem Kapitalismus im allgemeinen<br />

und dem damit in Zusammenhang stehenden<br />

Terror. Wäre dies nicht der<br />

Fall gewesen, dann hätte der Faschismus<br />

gar nichts oder nur sehr wenig erreichen<br />

können. Das Proletariat, das die einzige<br />

Kraft war, das die allgemeine Unzufriedenheit<br />

gegen den Faschismus auszunutzen<br />

in der Lage gewesen wäre, war zu<br />

Boden geschlagen. <strong>Die</strong> parlamentarische<br />

Opposition des Bürgertums hätte nur auf<br />

parlamentarischem Boden etwas gegen<br />

den Faschismus unternehmen können.<br />

Sie zog sich auch tatsächlich auf den<br />

Aventin (ein Hügel Roms) zurück, um<br />

dort das Parlamentieren fortzusetzen.<br />

Mussolini, der zwar durch diese Ereignisse<br />

außerordentlich an Einfluß verlor,<br />

scherte sich nicht im geringsten um diese<br />

parlamentarische Opposition. Auf dem<br />

Gebiete des Parlamentarismus war der<br />

Faschismus nicht zu überwinden, den<br />

Kampf aber auf ein anderes Gebiet überzuleiten,<br />

wagte jedoch die Bourgeoisie<br />

nicht, aus Furcht vor den unbekannten<br />

Kräften des Proletariats, die sich dann<br />

entfalten könnten. Das demokratisch eingestellte<br />

Bürgertum fühlt sich in jedem<br />

Fall Herr der wirtschaftlichen Macht und<br />

ist ängstlich darauf bedacht, das Proletariat<br />

an der Anwendung der Wirtschaftlichen<br />

Machtmittel zu verhindern. Das<br />

Proletariat hätte in seinem Kampfe selbstverständlich<br />

auf den Generalstreik im<br />

Transportwesen und in der Industrie zurückgreifen<br />

müssen. Das aber war für<br />

die italienische Bougeoisie nach der Besetzung<br />

der Betriebe, Herbst 1920, ein abschreckendes<br />

Beispiel, dem sie um jeden<br />

Preis ausweichen wollte. Sic setzte daher<br />

ihre Hoffnungen auf Finanzoperationen<br />

und glaubte, Mussolini durch Bankmanöver<br />

besiegen zu können. Eins war jedenfalls<br />

für das Bürgertum klar, die „proletarische<br />

Bestie" sollte nicht losgelassen<br />

werden.


134<br />

Es war notwendig, auf diese Ereignisse<br />

zurückzugreifen, um die letzte Niederlage<br />

des demokratischen Bürgertums zu<br />

verstehen gegenüber der faschistischen<br />

Woge, die jetzt wieder alle Kräfte der<br />

Opposition überflutet und damit auch das<br />

vernichtete, was das Proletariat langsam<br />

und mühselig wieder aufgebaut hatte.<br />

Und hier darf auch nicht vergessen werden,<br />

daß das Proletariat wohl oder übel<br />

in den letzten Tagen seines Widerstandes<br />

gegen den Faschismus selbst nach zwei<br />

Jahren des Kampfes bis auf den letzten<br />

Moment seinen Kampfeswillen gegen den<br />

Faschismus durch revolutionäre Aktionen<br />

kundtat. Das wurde durch Streiks bewiesen,<br />

wovon der letzte Generalstreik im August<br />

1922, zwei Monate vor dem Marsch der<br />

Faschisten nach Rom, Zeugnis gibt. Im<br />

Januar 1925 aber, als der Faschismus seinen<br />

letzten Schlag führte und das Proletariat<br />

vollständig darniederlag, lag die Verteidigung<br />

gegen den Faschismus fest in<br />

den Händen der früheren Alliierten<br />

Mussolinis, der Kriegsheroen und früheren<br />

Schwarzhemden, die sich vom Faschismus<br />

trennten. Und so kam es diesmal<br />

soweit, daß die Verbrechen, die sich<br />

früher gegen das Proletariat allein richteten,<br />

diesmal gegen die bürgerlichen Oppositionellen<br />

geführt wurden. <strong>Die</strong>smal<br />

fielen Freimaurerlogen, demokratische<br />

Zirkel und Zeitungen usw. der Zerstörung<br />

anheim. Und doch empörte sich diesmal<br />

niemand, und die „Ordnung"<br />

wurde nicht gestört. <strong>Die</strong> bürgerlichen<br />

Demokraten waren sicher, daß die wenigen<br />

freiheitlichen und revolutionären Kräfte,<br />

über die das Proletariat in Italien noch<br />

verfügte, sich in dem Kampfe gegen den<br />

Faschismus zur Verfügung stellen werde,<br />

obzwar die demokratische Bourgeoisie den<br />

Faschismus nicht allein ließ, sondern ihn<br />

nach Kräften unterstützte, als er gegen<br />

das Proletariat seine Schläge führte. Jedenfalls<br />

war die Lage infolge der Mateotti-Affärc<br />

für uns weniger pessimistisch,<br />

als man glauben konnte. Das Proletariat<br />

war zwar zerrissen, aber nicht besiegt,<br />

wie der Faschismus uns weiß machen<br />

wollte. In diesem Zusammenhang muß<br />

gesagt werden, daß die U.S.I. in keine Koalition<br />

mit der sogenannten Opposition<br />

eingetreten ist, weil sie an diese bürgerliche<br />

Opposition nicht glaubte. <strong>Die</strong> Kommunisten<br />

haben sich ebenfalls nicht an<br />

dieser Opposition beteiligt, das verhinderte<br />

jedoch nicht, daß ihre Stellung dem<br />

Faschismus gegenüber mehr als zweideutig<br />

war auf Grund der Forderungen der<br />

ITALIEN<br />

russischen Regierung, die mit Mussolini<br />

einen Vertrag einging, denn Mussolini<br />

war der erste Staatsmann, der die russische<br />

Regierung anerkannte. <strong>Die</strong> Stellung<br />

der U.S.I. war für die Arbeitermassen<br />

sehr sympathisch, für die Politikanten<br />

aber und für die Regierung selbstverständlich<br />

ein Dorn im Auge.<br />

-<br />

<strong>Die</strong> Tätigkeit der U.S.I. resultierte in<br />

einigen örtlichen Streiks, die unter dem<br />

Einfluß unserer Kameraden ausbrachen.<br />

So brach z. B. während der politischen Krisis,<br />

die anläßlich der Ermordung Mateottis<br />

einsetzte, in Bari ein Generalstreik<br />

aus. <strong>Die</strong> Politikanten, einschließlich der<br />

Kommunisten, wollten den Arbeitermassen<br />

nicht helfen. <strong>Die</strong> Bergarbeiter Elbas<br />

unterstützten die Streikenden. <strong>Die</strong> Metallarbeiter<br />

der Lombardei setzten sich<br />

mit der Ortsgruppe Mailand von der U.S.I.<br />

in Verbindung und man faßte eine Agitation<br />

unter den Landarbeitern ins Auge.<br />

<strong>Die</strong> letzten Ereignisse haben aber diese<br />

Tätigkeit unterbunden.<br />

Das Organ der U.S.I. „Guerra di Classe"<br />

ist immer noch verboten. In letzter Zeit<br />

wurde das Organ durch eine Monatsrevue<br />

„Rassegna Sindicale" ersetzt. <strong>Die</strong><br />

letzte reaktionäre Welle hat aber auch<br />

diese Monatsrevue verboten.<br />

<strong>Die</strong> U.S.I. hat sich mit besonderer Hingabe<br />

für eine allgemeine Amnestie der<br />

politischen Opfer eingesetzt. Zur Verwirklichung<br />

dieser Aktion verbanden sich<br />

alle Kräfte der proletarischen Avantgarde.<br />

Nur die reformistischen Zentralgewerkschaften<br />

und die Polikanten des Aventin<br />

machten nicht mit. Sie sagten, Mussolini<br />

würde durch eine Agitation für die<br />

Amnestie Nutzen ziehen, um dadurch<br />

auch eine Amnestie für die Angeklagten<br />

im Prozeß Mateotti zu erreichen. Wir<br />

waren der Meinung, daß Mussolini, solange<br />

er an der Macht ist, schon dafür<br />

sorgen würde, daß die Angeklagten im<br />

Mateotti-Falle nicht zu kurz kämen. Das<br />

Proletariat aber müsse trotz alledem eine<br />

Agitation für die Befreiung der Opfer der<br />

politischen Revolutionäre führen. <strong>Die</strong><br />

Grundlage der Wiederauferstehung der<br />

freiheitlichen Kräfte in Italien ist die Verstärkung<br />

des Proletariats und deshalb ist<br />

die Freigabe unserer Gefangenen eine notwendige<br />

Vorbedingung, abgesehen von<br />

den Gründen der Gerechtigkeit und der<br />

Solidarität.<br />

-<br />

Wir haben bereits über den letzten reaktionären<br />

Schlag gegen die U.S.I. be-


ichtet. Im Januar dieses Jahres wurden<br />

unsere U.S.I. und ihr Exekutivkomitee<br />

aufgelöst. Man schloß unser Büro, welches<br />

seit 1920 schon zweimal zerstört<br />

worden war. <strong>Die</strong> U.S.I. ist aber trotzdem<br />

immer noch am Leben. Wir haben<br />

diesen Schlag vorausgesehen und uns<br />

darauf vorbereitet. <strong>Die</strong> italienischen Kameraden<br />

im Auslände wirken in vollständigem<br />

Einverständnis mit der U.S.I. Italiens.<br />

<strong>Die</strong> Mitgliedskarten für das Jahr<br />

1925 sind ausgegeben worden. (In Italien<br />

werden, wie auch in Frankreich, die<br />

Mitgliedskarten jedes Jahr erneuert.) <strong>Die</strong><br />

Beziehungen zwischen den Mitgliedern<br />

der U.S.I. in Italien und im Auslande sind<br />

wieder aufgenommen worden. Unsere<br />

Beziehung zur I.A.A. wird trotz alledem<br />

aufrechterhalten, und wir wollen hier noch<br />

einmal bestätigen, daß die I.A.A. uns moraiisch<br />

und materiell unterstützt hat.<br />

Zurzeit wird in Italien viel von der Einheit<br />

der Arbeiterbewegung gesprochen.<br />

Wie immer, ist es auch diesmal so: je<br />

mehr man von der Einheit spricht, desto<br />

mehr arbeitet man für die Spaltung. <strong>Die</strong><br />

aus der reformistischen Gewerkschaftsbewegung,<br />

Richtung Amsterdam, ausgeschlossenen<br />

Kommunisten arbeiten auf<br />

die Spaltung hin. <strong>Die</strong> reformistischen<br />

Führer der Amsterdamer Gewerkschaften<br />

Italiens fühlen sich gezwungen, den<br />

Kommunisten gegenüber streng aufzutreten,<br />

um für die „Demokratie des Aventin"<br />

in gutem Lichte dazustehen. <strong>Die</strong><br />

Kommunisten müssen sich von ihrer<br />

schlimmsten Seite zeigen, um die Hoffnungen<br />

Moskaus zu erfüllen. <strong>Die</strong> Spannung<br />

innerhalb der reformistischen Gewerkschaften<br />

wird also immer größer und<br />

die Ausschlüsse der Kommunisten können<br />

zu einem größeren Bruch führen. Für<br />

unsere U.S.I. hat diese Angelegenheit in-<br />

MEXIKO 135<br />

sofern Bedeutung, als die Kommunisten,<br />

wenn die Fahne der U.S.I. nicht weiter<br />

bestünde, wenn niemand in unserem Namen<br />

sprechen würde, sich unseres Banners<br />

bemächtigen und das Ansehen unserer<br />

Organisation bei den Arbeitermassen<br />

ausnutzen würden zugunsten der diktatorischen<br />

Interessen. Unsere U.S.I. ist<br />

aber immerdar vorhanden und erfüllt<br />

ihre Pflicht. Bereits auf der Konferenz<br />

in Innsbruck wurde von unserer Delegation<br />

erklärt, daß die Aufgabe der U.S.I.<br />

in Frankreich, wo die meisten unserer<br />

flüchtigen italienischen Kameraden sich<br />

aufhalten, bedeutend erleichtert wäre,<br />

wenn unsere französischen Kameraden uns<br />

besser verstehen würden. Zu allem Unglück<br />

ist die Situation für unsere Kameraden<br />

in Frankreich derart verwirrt, daß<br />

unsere Arbeit unter den italienischen Kameraden<br />

sehr erschwert ist. Wir hoffen<br />

jedoch auf eine Besserung unserer Bewegung<br />

in Frankreich.<br />

Ende 1924 war eine Landeskonferenz der<br />

U.S.I. nach Mailand anberaumt. <strong>Die</strong>se<br />

Konferenz wäre erfolgreich gewesen, da<br />

aus allen Teilen Italiens Delegationen zugesagt<br />

haben. Wichtige Beschlüsse für<br />

das Gedeihen der U.S.I. hätten gefaßt<br />

werden sollen. Durch die Auflösung unsercr<br />

Organisation war die Abhaltung diescr<br />

Konferenz unterbunden. <strong>Die</strong>ser Zustand<br />

kann jedoch nicht lange anhalten.<br />

Der Tag kann nicht mehr fern sein, an<br />

dem uns die Freiheit winkt. Dann aber<br />

werden wir weiter fortschreiten, als man<br />

heute glaubt. Wir werden unsere Arbeit<br />

dort fortsetzen, wo wir vor 4 Jahren<br />

enden mußten.<br />

Für das Exekutiv-Komitee der<br />

syndikalistischen Union Italiens:<br />

Armando Borghi.<br />

MEXIKO<br />

Information der „Confederacion General de Trabajadores de Mexico" an den<br />

II. Kongreß der I.A.A.<br />

Liebe Kameraden!<br />

<strong>Die</strong> mexikanische Sektion der I.A.A.,<br />

die Allgemeine Arbeiterkonföderation<br />

Mexikos, C.G.T., berichtet hier über die<br />

gegenwärtige Situation der mexikanischen<br />

Landbevölkerung, damit man hieraus das<br />

System der Knechtschaft erkenne, dem<br />

die „Peone" Mexikos unterworfen sind, und<br />

Kenntnis erhalten von den Verrätereien,<br />

Das Landproblem in Mexiko.<br />

deren Opfer sie waren. Möge das Welt-<br />

Proletariat sehen, wie die autoritären Parteien,<br />

die in die „Bewegung der Landarbeiterschaff<br />

für die Eroberung des<br />

Bodens" eindrangen, diese Bewegung verwandelt<br />

haben in eine legale Verlogenheit<br />

im Schlepptau der Regierungen und Gesetzgebungen,<br />

so daß die Landarbeiter<br />

sich heute wieder in den Händen der


136 MEXIKO: DAS LANDPROBLEM<br />

Großgrundbesitzer und Hazienderos befinden,<br />

die ihre Positionen in der Hitze<br />

der letzten Kämpfe um die Macht wieder<br />

befestigt haben.<br />

<strong>Die</strong> Kleinbürokratie aus der vorrevolutionären<br />

Zeit (die sogenannten „Bewaffneten<br />

Bürger") und jene, die sich in<br />

den Jahren 1910—15 die „Intellektuellen"<br />

in der Arbeiterbewegung nannten, haben<br />

sich zu einer politischen Partei, der „Nationalen<br />

Agrarpartei" konstituiert, deren<br />

Aufgabe Verteidigung und Schutz der<br />

neuen und alten Landbesitzer und Hazienderos<br />

ist und die bald vermittels der<br />

Comission Nacional Agraria (Nationalen<br />

Agrarkommission, eine Regierungsinstanz,<br />

die geschaffen wurde zum Zwecke der<br />

Landaufteilung) Verordnungen erläßt,<br />

bald den kleinen Grundbesitz schützt. So<br />

wie der Staat, wenn er sich an die Arbeiter<br />

wendet, ihnen den Eintritt in die<br />

„Confederacion Regional Obrere Mexicane<br />

(C.RO.M.), Regionale Arbeiterkonföderation<br />

Mexikos, empfiehlt, empfehlen<br />

Staat und Grundbesitzer der Landbevölkerung<br />

den Beitritt zur „Nationalen<br />

Agrarpartei". <strong>Die</strong>se Empfehlungen lassen<br />

auf das klarste die offiziell anerkannte<br />

Position erkennen, welche jene einnehmen,<br />

in deren Händen der größte Teil<br />

der organisierten Landarbeiterschaft sich<br />

befindet.<br />

<strong>Die</strong> Confederation General de Trabajadores,<br />

Allgemeine Arbeiterkonföderation<br />

Mexikos (C.G.T), muß bekennen, bis zum<br />

heutigen Tage hat sie Kämpfe zugunsten<br />

der Landarbeiterbevölkerung nicht nur<br />

vergessen, sondern gradezu unbeachtet<br />

gelassen; bis zum heutigen Tage dachte<br />

sie nicht daran, eine eigene Landarbeiterbewegung<br />

zu begründen; sie begnügte sich<br />

damit, ihre anarchistischen Prinzipien inmitten<br />

der Landbevölkerung zu propagieren,<br />

griff aber nicht direkt in ihre täglichen<br />

Kämpfe ein. Der Beitritt von Landarbeiterorgnisationen<br />

in die C.G.T. vollzog<br />

sich spontan und viele hiervon figurierten<br />

und figurieren nur als platonische<br />

Anhänger unserer C.G.T.<br />

Der III. Kongreß der C.G.T. hat dieses<br />

Problem ernsthaft zu behandeln, denn ein<br />

starker Block von Landarbeitern aus dem<br />

Staate Veracruz erklärte sich für den Beitritt<br />

und forderte, daß man den täglichen<br />

Kämpfen der Landarbeiterschaft große<br />

Aufmerksamkeit widmen solle; unglücklicherweise<br />

verursachte der jetzt beendete<br />

Aufstand unter Führung von De la<br />

Huerta, daß dieser Block von Landarbeitern<br />

auf dem Kongreß nicht vertreten<br />

sein kann.<br />

<strong>Die</strong> C.G.T. wünscht, daß noch vor<br />

Uebergabe der Schlußanträge an den<br />

IV. Kongreß, man im kommenden Mai<br />

Gelegenheit nehmen solle, den Delegierten<br />

des Kongresses in Amsterdam eine ausreichend<br />

breite Information über die Situation<br />

der Landarbeiter und über die Landarbeiterbewegung<br />

in Mexiko zu geben.<br />

<strong>Die</strong> Lage vor dem Jahre 1910.<br />

Elisé" Reclus schrieb bezüglich Mexiko:<br />

„Der Krieg um die Unabhängigkeit vertrieb<br />

die Spanier, aber das System des<br />

Großgrundbesitzers, das sie eingeführt<br />

heften, blieb bestehen. <strong>Die</strong> Haziendas sind<br />

keine Güter, sondern ganze ausgedehnte<br />

Landstrecken, welche die Größe eines Kant<br />

tons oder eines Departements haben; eine<br />

mittelmäßige Hazienda umfaßt 88 Quadratkilometer<br />

Fläche, aber im Norden der<br />

Republik gibt es solche, die sich über eine<br />

Fläche ausdehnen, die 100mal größer ist<br />

wie ein französisches Departement. Der<br />

Boden von Saltillo bis Zacatecas, eine<br />

Fläche von 300 Kilometern, gehört nur<br />

drei Eigentümern."<br />

Wahr ist es, daß dieses System sich<br />

erhalten hat; es erneuert und befestigt<br />

sich mit jeder Militärrevolte und jedem<br />

politischen Aufstand. Generäle und Politikanten<br />

erhalten unverändert das Recht<br />

auf den von Fernando Cortez ererbten<br />

Bodenbesitz. Sowohl vor der Revolution<br />

im Jahre 1910 wie später waren Gesetze,<br />

die das Landproblem lösen sollten, nur<br />

dazu angetan, die Eroberer des Grund und<br />

Bodens zu schützen und zu protegieren.<br />

Wenn es nach dem Jahre 1910 das Gesetz<br />

über die Gemeindetriften war, das<br />

die großen Landeroberer beschützte, so<br />

war es aus dem Jahre 1910 das Gesetz<br />

über unbebaute Ländereien, welches<br />

genau das gleiche tat. „Jeder Mexikaner",<br />

so sagte man, hat das Recht auf den<br />

Boden; es genügt, unbewohntes Land anzuzeigen,<br />

um es als Besitz zugesprochen zu<br />

bekommen." Bis zum Jahre 1899 sind auf<br />

diese Weise 38 249 373 Hektar Land vermittels<br />

64 Eigentumstitel an 28 Personen<br />

übertragen worden. (Statistik des Sekretariats<br />

für Unterricht und Künste, 1910,<br />

S. 73). Wenn jeder Mexikaner das Recht<br />

auf Bodenbesitz hat, wie kommt es dann,<br />

daß 38 Millionen Hektar Ländereien unter<br />

28 Personen verteilt werden? Staatsmänner,<br />

Militär und der Klerus bildeten<br />

große Landvermessungsgesellschaften, mit<br />

deren Hilfe sie ganz einfach die legale<br />

und gerichtliche Zuerkennung erzielten.<br />

Jede legale Zuerkennung umfaßte Tausende<br />

von Hektaren; es genügt, hier dar-


auf hinzuweisen, daß eine einzige Gesellschaft<br />

im unteren Kalifornien sieben Millionen<br />

Hektar Land zugesprochen bekommen<br />

hat. In den meisten Fallen zugesprochener<br />

Ländereien waren Höfe, Ansiedlungen<br />

und Dörfer einbegriffen; auf<br />

diese Weise hatten die Bewohner, denen<br />

es gelungen war, ein kleines Stückchen<br />

Land für sich zu retten, dasselbe weder<br />

abzutreten an die Gesellschaften, die das<br />

Gesetz über unbewohnte Ländereien<br />

praktizierten. Höfe, Ansiedlungen und<br />

Dörfer wurden eingeschlossen von den<br />

Grenzen der neuen Großgrundbesitzer.<br />

Schwach, sehr schwach erhob sich der<br />

Protest von einigen Landleuten gegen<br />

dieses Manöver. Den Glücklichsten gelang<br />

es, an die neuen Großgrundbesitzer<br />

zu verkaufen: ihre Parzelle Land, ihre<br />

Tiere, ihre Hütten, und zuletzt ihre<br />

Körper. Das war der Beginn jenes furchtbaren<br />

Peon-Systems, das in den ersten<br />

Jahren unseres Jahrhunderts mehr und<br />

mehr Schreckensformen annahm. Zu<br />

diesen Ausgeburten, die durch das „Gesetz<br />

über unbewohnte Ländereien" geschaffen<br />

wurden, gesellte sich das System furchtbarster<br />

Ausbeutung und Unterdrückung<br />

des mexikanischen Landarbeiters.<br />

Nach Statistiken aus dem Jahre 1910<br />

betrug die Anzahl der Landarbeiter<br />

3 130 400 und die Anzahl der Grundbesitzer<br />

und Hazienderos nur 834. <strong>Die</strong>ser<br />

Anzahl von Peonen entspricht einschließlich<br />

Frauen und Kindern eine Bevölkerung<br />

von acht Millionen, von der etwa die<br />

Hälfte gezwungen ist, zu arbeiten, nicht<br />

nur um ihr Leben zu fristen, sondern<br />

zu arbeiten unter dem Zwange der Sklaverei;<br />

der Peon war gezwungen, nicht<br />

nur seine eigene Arbeitskraft zu verkaufen,<br />

sondern auch noch die seiner<br />

Familie, seiner Kinder und Eltern.<br />

<strong>Die</strong> Hazienderos teilten die Peone in<br />

zwei Klassen ein: in Tagelöhner und<br />

solche, die für ein ganzes Jahr im Lohn<br />

waren; auf diese Weise glaubte man genügendermaßen<br />

die Lage des Landarbeiters<br />

zu erklären; es war die Form<br />

vor der „zivilisierten Welt", die in den<br />

Ländereien von Mexiko herrschende Barbarei<br />

zu rechtfertigen. Der Durchschnitts-Tagelohn<br />

betrug, je nach dem<br />

Besitzer, einen Peso. Der Tagelöhner<br />

wurde vier Monate des Jahres beschäftigt,<br />

so erhielt er also im Jahre<br />

120 Peso (mexikanisches Geld). Aber<br />

um die andauernde Arbeitslosigkeit zu<br />

verhüten und auch, um den Arbeiter in<br />

den übrigen acht Monaten zu beschützen,<br />

gestattete man den Peonen. daß sie in<br />

MEXIKO: DAS LANDPROBLEM 137<br />

der Hazienda wohnten; die 120 Peso für<br />

ihre Arbeit erhalten sie jährlich. Das<br />

war die Erklärung, die Regierung und<br />

Hazienderos der „zivilisierten Welt"<br />

gaben. Ein oberflächlicher Betrachter<br />

könnte meinen, daß nichts zu wünschen<br />

übrigbleibe. Trotzdem veröffentlichte<br />

Herr Mathias Romero, Gesandter der<br />

mexikanischen Regierung in den Vereinigten<br />

Staaten, im Jahre 1910 folgende<br />

Tabelle über Tagelöhne der Peonen in den<br />

verschiedenen Regionen des Landes:<br />

Aguascalientes . . . . 18¾ Centavos<br />

Chiapas 25<br />

Coahuila . . . . 37<br />

Hidalgo . . . . 12%<br />

Michoacan . . . . 15%<br />

Sonora 30<br />

Tabasco 37%<br />

Nach Herrn Romero betrug der Durchschnittstagelohn<br />

des mexikanischen Landarbeiters<br />

37 Centavos. Wir haben hinzuzufügen,<br />

daß Personen, die über denselben<br />

Gegenstand Statistiken aufstellten,<br />

gezeigt haben, daß der Tagelohn vor dem<br />

Jahre 1910 nicht über 17 Centavos betrug;<br />

vielleicht aber hat man diese Statistiken<br />

zusammengestellt mit dem Vorsatz, den<br />

Durchschnittstagelohn von 35 Centavos,<br />

den der Landarbeiter gegenwärtig erhält,<br />

zu rechtfertigen.<br />

Das soeben Angeführte beleuchtet hinreichend<br />

die plumpe Lüge über den<br />

Durchschnittstagelohn von einem Peso<br />

und dessen Konsequenzen, der Einteilung<br />

in Tagelöhner und Jahreslöhner.<br />

Aber, sei der Lohn, wie immer er sei:<br />

empfängt der Peon ihn denn überhaupt?<br />

Nein, denn die Gebiete der Hazienderos<br />

sind dem freien Handel verboten; statt<br />

dessen sieht der Peon sich gezwungen,<br />

seine Lebensmittel, Kleider usw. in den<br />

Magazinen einzukaufen, die von den Hazienderos<br />

für diesen Zweck angelegt<br />

wurden. Aber das ist noch nicht alles:<br />

die Hazienderos hielten den Gebrauch von<br />

Geld überhaupt nicht für nötig, da das<br />

heute ausgezahlte Geld morgen ja doch<br />

auf allen Haziendas praktizierte, um die<br />

Sklaverei der Peone zu vervollständigen.<br />

Alle Peone hatten immer Schulden an die<br />

Hazienda. Und wie konnten sie dieselben<br />

bezahlen, wo sie doch niemals in Metall<br />

bezahlt wurden? Das war aber gerade das,<br />

was die Grundbesitzer wollten; nie sollten<br />

die Schulden bezahlt werden und am<br />

besten sollten sie auf die Familie und die<br />

Nachkommen der Schuldner übergehen.<br />

Während der Revolution im Jahre 1910<br />

fand man in den Geschäftsbüchern einer


138 MEXIKO: DAS LANDPROBLEM<br />

Hazienda der Gebrüder Gurza in Durango,<br />

daß dort Peone in Arbeit standen,<br />

die noch Schulden hatten, die von ihren<br />

Vorfahren aus der Zeit vor dem Jahre<br />

1890 stammten.<br />

<strong>Die</strong> Landarbeiter, die in solcher Weise<br />

versklavt waren, konnten nicht nach<br />

einem andern Orte übersiedeln, ohne vorher<br />

ihre Schulden zu bezahlen. Alles,<br />

was sie unternehmen konnten, war ein<br />

Abenteuer jener Art, das sie unweigerlich<br />

unter Anklage des Raubes stellte und in<br />

Haft nach Tlapixquera führte. Um die<br />

Peone zu bewachen, verfügten die Hazienderos<br />

nicht nur über die gewöhnlichen<br />

Regierungsmittel; sie waren es,<br />

welche die politischen Führer ernannten;<br />

und natürlicherweise ernannten sie hierzu<br />

ihre ergebensten <strong>Die</strong>ner. <strong>Die</strong> ländlichen<br />

Körperschaften wurden nur unter den<br />

Gesichtspunkten der Interessen der Hazienderos<br />

und Grundbesitzer gebildet.<br />

Wir halten es für überflüssig, an dieser<br />

Stelle noch einmal über die blutigen,<br />

schon so oft angeführten Methoden zu<br />

berichten, die im Innern der Haziendas<br />

angewandt wurden, um die Peone gefügig<br />

zu erhalten.<br />

<strong>Die</strong>se allgemeine Uebersicht soll genügen,<br />

um die Situation der Landarbeiter<br />

vor dem Jahre 1910 zu kennzeichnen; nun<br />

wollen wir von den letzten Jahren der<br />

Revolution sprechen.<br />

<strong>Die</strong> Revolution.<br />

Trotz der furchtbaren Unterdrückungsmethoden,<br />

die gegen die Landarbeiterschaft<br />

angewendet wurden, trotz der Isolierung,<br />

in die man die Dörfer hineingezwungen<br />

hat, trotz der blutigen Niederlagen<br />

der Landarbeiteraufstände von Tomochic<br />

und Yaqui, trotz der Deportationen<br />

von ganzen Dörfern nach Regionen<br />

des Südostens der Republik, mußte der<br />

ewige Kampf zwischen Freiheit und Autorität<br />

wieder aufflammen.<br />

<strong>Die</strong> ersten aufständischen Bewegungen<br />

der Landarbeiter gingen verloren.<br />

Aktionen, die auf einigen Haziendas in<br />

Chihuahua, Durango, Nayarit usw. unternommen<br />

wurden, sind auf das grausamste<br />

niedergeschlagen worden; vielleicht wären<br />

alle Hoffnungen erstickt worden, wäre es<br />

nicht gelungen, den Aktionen einen revolutionären<br />

Sinn zu geben!<br />

Ricardo Flores Magon und der freiheitliehen<br />

Partei Mexiko fiel diese Aufgabe<br />

zu. Unglückseligerweise aber verlor dieso<br />

Bewegung sich bald in einen Intellek-<br />

tualismus. Wir haben in diesen letzten<br />

Jahren konstatieren können, daß Parteien,<br />

gleichgültig, ob sie autoritären oder freiheitlichen<br />

Charakters sind, die vorgeben,<br />

eine intellektualistische Richtung oder<br />

Orientierung den Volksbewegungen aufzupfropfen,<br />

einen groben Fehler begehen:<br />

Entfernung von der Masse. Das war<br />

auch der Fehler, den die Anarchisten im<br />

Jahre 1915 gegenüber zwei großen Fraktionen,<br />

der von Carranza und der von<br />

Zapata, begingen.<br />

In demselben Maße, in dem die freiheitliche<br />

Partei Mexikos sich dem Intellektualismus<br />

näherte, entfernte sie sich mehr<br />

und mehr von der wirklichen Bewegung<br />

der Arbeiter und Landarbeiter. <strong>Die</strong> freiheitliche<br />

Partei Mexikos erwies sich unfähig,<br />

ein wahrhaftes Gefühl für Freiheit<br />

unter den Landarbeitern zu erwecken;<br />

und so kam es, daß sie nur den Antiautoritären<br />

nützten, die seit jener Zeit<br />

bis zum heutigen Tage die Landarbeiterbewegung<br />

beherrschen.<br />

<strong>Die</strong> Erhebungen in Valle Nacional<br />

(1906) beleuchteten den bedauernswerten<br />

Zustand der Bevölkerung, aber da diese<br />

Bewegungen örtlich begrenzt waren, war<br />

die Regierung imstande, sie sehr bald zu<br />

unterdrücken. In der Gegend von Yaqui<br />

waren Volkserhebungen eine dauernde<br />

Erscheinung.<br />

So kam das Jahr 1910, und der Fraktion<br />

Madero, der freiheitlichen liberalen Partei,<br />

gelang es durch Zusammengehen mit der<br />

spontanen Volksbewegung, die politische<br />

Macht an sich zu reißen. Nun marschierten<br />

die drei Fraktionen der freiheitlichen<br />

Partei, Magon, Madero und Zapata<br />

gemeinsam. <strong>Die</strong> erste hatte Einfluß<br />

in verschiedenen Gruppierungen im<br />

ganzen Lande und im gesamten Norden;<br />

die zweite hatte Einfluß in den stärksten<br />

Arbeiter- und Landarbeitergruppierungen<br />

im Zentrum Mexikos; die dritte stützte<br />

sich auf die Landarbeiter im Süden der<br />

Republik. <strong>Die</strong> drei Fraktionen verlangten<br />

die Verwirklichung des Programms der<br />

freiheitlichen Partei; ihr Losungsruf war:<br />

„Land und Freiheit!" Nach und nach<br />

schrumpfte die Macht von Magon und<br />

Zapata auf kleine Bereiche zusammen,<br />

während die von Madero große Massen<br />

der Landarbeiterschaft umfaßte; aber<br />

diese Bewegung hatte kein klares Ziel,<br />

und so sah sie in der Arbeiterbewegung<br />

ein Instrument zur Eroberung der Macht.<br />

In ihrem Programm von San Luis Potosi<br />

ging sie daran „Wiedergutmachungen für<br />

die Landarbeiter zu skizzieren unter Aufhebung<br />

des Peonsystems und der Ver-


kaufshäuser der Hazienderos; hinsichtlich<br />

der Eroberung des Bodens neigten sie<br />

einer Gemeindepolitik zu, aber ohne dabei<br />

den Interessen der Hazienderos und Großgrundbesitzer<br />

zu nahe zu treten.<br />

Der Partei Madero gelang es, die Macht<br />

und gleichzeitig die bedeutendsten Landarbeiterformationen<br />

Mexikos zu erobern;<br />

Zapata, der an die Regierungsresolutionen<br />

glaubte, strich sofort seine Segel; der Anhang<br />

der liberalen Partei Mexikos in Los<br />

Angeles, Californien, setzte den Kampf<br />

fort in dem Bewußtsein, daß die Regicrung<br />

Madero nicht besser als irgendeine<br />

andere Regierung sei und das Landproblem<br />

nicht lösen würde, das im Grunde<br />

ein Problem der Freiheit ist. Aber wie<br />

löste die Regierung Madero selbst das<br />

Problem der Gemeindepolitik? Wie es<br />

natürlich ist, bedeutete es für den Maderismus<br />

eine große Gefahr, die Besitzungen<br />

der Großgrundbesitzer und Hazienderos<br />

anzurühren; darum dekretierten<br />

sie den Ankauf von Boden von Privatbesitzern,<br />

um denselben zu günstigen<br />

Zahlungsbedingungen an Landarbeiter zu<br />

verkaufen. Einige wenige Monate, die<br />

nach diesem Uebereinkommen vergangen<br />

waren, genügten, um vermittels der vollziehenden<br />

Agrarkommission zu deklarieren<br />

(März 1912): „<strong>Die</strong> Idee, daß die<br />

Regierung die Absicht hegte, einige<br />

Grundbesitze zu erwerben, genügte, um<br />

eine Menge von Spekulanten auf die Beine<br />

zu bringen, die keinen Moment versäumten,<br />

die Krisis auszunützen, die unser<br />

Land durchzumachen hat und die den<br />

Wert von unproduktiven Ländereien, die<br />

nur eine Belastung für ihre Besitzer darstellten,<br />

mindestens verdreifachten; jene,<br />

die sie anbieten, träumen davon, ihre<br />

Kassen mit Bergen von Geld zu füllen,<br />

die dem Volksvermögen und den Darlehenskassen<br />

entstammen, zwei Quellen, die<br />

unter den gegenwärtigen Zuständen sehr<br />

leicht auszubeuten sind. Und wert ist es;<br />

anzuzeigen, daß keine guten Ländereien<br />

angeboten werden, mit denen die gegenwartigen<br />

Besitzer zufrieden sind, sondern,<br />

daß mit Ausnahme von Haziendas in Mos<br />

relos, die gegenwärtig sehr zerrüttet sind,<br />

es nur unproduktive Landstriche sind."<br />

Das war anfangs die Agrarpolitik der<br />

maderistischen Regierung und danach<br />

waren auch die Resultate derselben.<br />

Gegenüber diesem Vorgehen des Maderismus<br />

erhoben auf der anderen Seite die<br />

Zapatisten sich von neuem; auf der<br />

anderen Seite waren es die Landarbeiter<br />

im Norden des Landes, die, angeregt<br />

durch den Flügel der freiheitlichen Par-<br />

MEXIKO: DAS LANDPROBLEM 139<br />

tei, ihre Reihen stärkten und sich zu einer<br />

ernsthaften Gefahr für den Staat und die<br />

Grundbesitzer auswuchsen.<br />

Von dieser Zeit an ging die maderistische<br />

Regierung daran, ihr Agrar-<br />

Programm zu „revolutionieren." Ende 1912<br />

schlug sie vor: 1. Aufnahme des Prinzips<br />

der Expropriation auf breiterer Basis<br />

in der Gesetzgebung; und zwar aus Gründen<br />

öffentlicher Zweckmäßigkeit. 2. Errichtung<br />

eines landwirtschaftlichen Büros<br />

zum Zwecke der Erfassung von Ländereien<br />

und zur Verteilung derselben in Parzellen,<br />

Inspizierung der einzelnen Privatbesitze<br />

zwecks Durchführung der im Interesse<br />

der Landwirt schaff notwendigen<br />

Arbeiten. (Das landwirtschaftliche Büro<br />

hatte die richtige Verteilung von Ländereien<br />

zu leiten und über sie ging der Instanzengang<br />

von Gesuchen aller derjenigen,<br />

die um Ueberschreibung ihres Stückchen<br />

Landes eingekommen waren. <strong>Die</strong>se<br />

Ueberschreibung ging unter gewissen Methoden<br />

vor sich und war mit verschiedenen<br />

Verpflichtungen verbunden, um sich<br />

fruchtbar zu erweisen. <strong>Die</strong> Landbebauer<br />

konnten sich zu Landwirtschaftskammern<br />

zusammenschließen, die unter besonderen<br />

Schutzgesetzen standen.) 3. Errichtung<br />

einer staatlichen Landwirtschaftsanleihe,<br />

vermittels Zertifikate, die durch die Regierung<br />

ausgegeben werden. 4. Reform<br />

des Zivilgesetzes, hinsichtlich der Mitbeteiligungskontrakte,<br />

welche die rechtliche<br />

Lage der Teilhaber verbessern und dieselben<br />

den Eigentümern mehr gleichstellen<br />

sollte. 5. Errichtung eines Aufwertungssystems<br />

des ländlichen Eigentums.<br />

6. Schaffung eines Gesetzes über Familienerbschaften<br />

mit dem Zwecke, das Eigentum<br />

einer Gruppe dem Eigentum des einzelnen<br />

Individuums gegenüber vorzuziehen.<br />

<strong>Die</strong>ses „revolutionäre und erlösende"<br />

Regierungsprogramm konnte nicht bis zu<br />

Ende durchgeführt werden; die Unzufriedenheit<br />

unter den Landarbeitern<br />

nahm zu; im Norden des Landes vermehrten<br />

sich die bewaffneten Banden, die<br />

von wahrhaften freiheitlichen Gefühlen<br />

getragen waren; im Süden war es der<br />

Zapatismus, der sich als eigene Bewegung<br />

formierte, der „sich selbst genügte" und<br />

unter den Losungsrufen von ländlichen<br />

Sozialisten marschierte; auf der anderen<br />

Seite wurde die Regierung Madero von<br />

einer Gruppe Militärs gestürzt.<br />

<strong>Die</strong> aufständische Landarbeiterschaft<br />

ging daran, die sofortige Expropriation<br />

durchzuführen; Haziendas und Kornspeicher<br />

wurden von den Landarbeitern


140 MEXIKO: DAS LANDPROBLEM<br />

genommen. Bewaffnete Banden bewachten<br />

das Eroberte, entwarfen die Umrisse der<br />

neuen Dörfer und proklamierten den<br />

Sieg ihres Losungsrufes: „Freiheit und<br />

Land!" Eine neue Partei erhob sich jedoch,<br />

die die Errichtung einer „Revolutionären<br />

Arbeiter- und Bauernregierung,"<br />

forderte, die eine denkbar breite Gesetzgebung,<br />

um das Recht auf den Boden zu<br />

garantieren, schaffen sollte. <strong>Die</strong> bürgerlichen<br />

und militärischen Führer der neuen<br />

Partei waren zu jeder Konzession bereit,<br />

um die Kontrolle über die umstürzlerischen<br />

Elemente zu bekommen. Ein<br />

Theoretiker der neuen Partei stellte die<br />

Situation derselben in jener Zeit folgendermaßen<br />

dar: „Einige Führer und provisorische<br />

Regierungsmänner erließen vorläufig<br />

einige Agrarreformen; andere okkupierten<br />

großen Haziendas und gaben vor,<br />

dieselben parzellieren zu wollen; noch<br />

andere studierten die Form der Expropriation<br />

und okkupierten vorläufig einige<br />

Latifundien; einige Dorfbevölkerungen<br />

wurden bei den militärischen Befehlshabern<br />

vorstellig und baten, daß man<br />

ihnen die besetzten Ländereien übergeben<br />

solle; in gewissen Staaten wurden Gesetze<br />

geschaffen, die einen Mindestlohn<br />

festlegten und die Peone schuldenfrei erklärten.<br />

Gleichzeitig wurde der Achtstundentag<br />

eingeführt und besondere<br />

Strafen für den Besitzer, der seine Peone<br />

schlägt; kurz: man erließ alle möglichen<br />

Gesetze, so verschiedenartig wie die<br />

Fähigkeit und Ernsthaftigkeit des Führers<br />

war, der in der Gegend regierte."<br />

Nur im Süden der Republik hielt der<br />

Zapatismus seinen Plan von Ayala aufrecht;<br />

Carranza, der Führer der neuen<br />

Partei, anerkannte den Zapatismus und<br />

vor allen die revolutionären Formierungen,<br />

die sich im Norden des Landes ihre<br />

Unabhängigkeit bewahrten; er hielt es für<br />

notwendig, sein Programm zu erweitern<br />

und die größten Konzcssionen zu machen,<br />

um dadurch die Unterordnung der verschiedenen<br />

Gruppen unter seine Partei<br />

zu garantieren; die wirtschaftlichen Forderungen<br />

verschiedener Gegenden zuzusammenfassend,<br />

sogar die allerweitest<br />

gehenden, gelang es ihm, ein Einheitsprogramm<br />

aufzustellen, eine Art „ländlicher<br />

Wiedergutmachung", die nicht nur<br />

die Landarbeiter beschützte, sondern auch<br />

die Kämpfer der Partei, vor allem die<br />

Anführer der bewaffneten Gruppen;cr ging<br />

darauf hinaus, die neue Kaste, die sich<br />

bildete, zu bevorzugen, genau wie in der<br />

Zeit des Porfirismus. der das "revolutio-<br />

näre" Gesetz schuf im Gegensatz zu dem<br />

reaktionären „Gesetz über unbewohnte<br />

Ländereien". So kam es zu dem Gesetz<br />

des 6. Januar 1915, das bis zum heutigen<br />

Tage den Ausgangspunkt für die revolutionär-sozialistisch-agrarische<br />

Gesetzgebung<br />

geblieben ist.<br />

<strong>Die</strong> herrschende Partei versetzte dem Zapatismus<br />

mit diesem Gesetz einen schweren<br />

Schlag, denn sie erweiterte die Versprechungen,<br />

„realisierte" die Forderungen<br />

der Revolution und hatte viel weiter<br />

gehende Schlußfolgerungen, auch bemühte<br />

sie sich um die Bildung einer freiheitlichen<br />

Bewegung; sie vermengte eigene<br />

und fremde Ideen, und der Losungsschrei<br />

von Carranza bei seiner Ankunft in Veracruz,<br />

„die soziale Revolution ist gekommen",<br />

war dazu angetan, die Herzen sowohl<br />

des Land- wie des Stadtproletariats<br />

zu erobern.<br />

Wir wollen hier einige der Hauptsätze<br />

aus der Einführung zum Gesetz des<br />

6. Januar zitieren:<br />

„Eine der Hauptursachen des Niederganges<br />

und der Unzufriedenheit der<br />

Landbevölkerung ist der Raub des kommunalen<br />

Grundeigentumes gewesen, die<br />

Aufteilung desselben, welche die Kolonialregierung<br />

zugelassen hat als Mittel, die<br />

Existenz der Eingeborenen zu sichern.<br />

Man findet in allen Teilen der Republik<br />

Bevölkerungsschichten, die sich<br />

zu sogenannten Brüderschaften, Kommunen<br />

oder Siedlungen zusammengeschlossen<br />

haben, welche ihren Ursprung<br />

in irgendeiner oder in einigen Familien<br />

haben, die mehr oder weniger große Ländereien<br />

im gemeinsamen Besitz hatten,<br />

welche sie verschiedene Generationen<br />

hindurch aufrechterhielten; oder andere<br />

Teile der Einwohnerschaft ließen sich,<br />

einer alten und allgemeinen Sitte folgend,<br />

an günstigen Orten, um gemeinsame<br />

Wasserplätze herum, nieder.<br />

Nachdem die eingeborenen Dorfbewohnerschaften<br />

ihrer Länder, Wasserplätze<br />

und Berge beraubt worden sind und der<br />

ländliche Besitz des restlichen Landes in<br />

wenigen Händen konzentriert war, blieb<br />

der großen Masse der Landbevölkerung<br />

kein anderer Ausweg offen, wie ihre Arbeitskraft<br />

zu niedrigem Preise an die<br />

Großgrundbesitzer zu verkaufen, was als<br />

unausbleibliche Folge einen Zustand des<br />

Elends, des Niedergangs und der Sklaverei<br />

nach sich zog, in welchem diese ungeheure<br />

Masse von Arbeitern lebte und<br />

heute noch lebt."


Das ist, wie schon gesagt, die Einführung<br />

zum Gesetz vom 6. Januar 1915.<br />

Wir wollen jetzt seine Schlußfolgerungen<br />

betrachten:<br />

1. Rückgabe des durch Uebertretung<br />

des Gesetzes vom 25. Juli 1856 enteigneten<br />

Bodenbesitzes; NulU und Nichtigerklärung<br />

der Veräußerung aller Ländereien,<br />

die man Ende Dezember 1876 illegalerweise<br />

an sich gerissen und okkupiert hat, ebenso<br />

alle Abmachungen betreffs illegaler Okkupation<br />

von Gemeinde: oder kommunalen<br />

Ländereien.<br />

(Das war der Schlag gegen die „revolutionäre"<br />

Errichtung des Porfirismus.<br />

Auf dem Gebiete der Landwirtschaft:<br />

das Gesetz über unbewohnte Ländereien.)<br />

2. Ungültigerklärung aller Besetzungen<br />

von Wasserplätzen und Bergen, die auf<br />

dieselbe illegale Weise wie die der<br />

Ländereien vorgenommen worden war.<br />

3. Gründung von neuen Ansiedlungen<br />

und Fundierung neuer Ortschaften. 4. Formierung<br />

der nationalen Agrarkommission<br />

(die durch die Volksgewalt zu ernennen<br />

ist); Bildung von Lokalkommissionen<br />

(von den Regierungen eines jeden Staates<br />

zu ernennen); außerdem Bildung von besonderen<br />

Vollzugskomitees in ländlichen<br />

Gegenden, in denen solche notwendig<br />

sind 5. <strong>Die</strong> Rückgaben sind nicht durch<br />

Justizmittel durchzuführen. 6. Jeder<br />

Landbewohner, der glaubt, das Recht auf<br />

eine Gemeindetrift zu haben, macht eine<br />

Eingabe an den Staatsgouverneur, welcher,<br />

nachdem er Auskunft bei der lokalen<br />

Agrarkommission eingeholt hat über<br />

die Berechtigung, über Notwendigkeit<br />

und Ausdehnung der Konzession, das Gesuch<br />

zu genehmigen und im Falle günstiger<br />

Entschließung eine provisorische<br />

Uebertragung des betreffenden Landes an<br />

die Interessierten auszufertigen hat. 7. Alle<br />

Uebertragungen von Gemeindetriften<br />

werden provisorisch vorgenommen, bis die<br />

Nationale Agrarkommission über Notwendigkeit,<br />

Berechtigung und Modifizierung<br />

aller Anträge unterrichtet ist<br />

und angesichts derselben die Vollzugsgewalt,<br />

die entsprechenden Rechtstitel<br />

ausgibt.<br />

Das ist eine kurze Uebersicht über das<br />

Argrarprogramm der herrschenden Partei.<br />

Weiter unten werden wir über seine Resultate<br />

sprechen, die keine anderen sein<br />

können, wie die, die alle Gesetze ohne<br />

Ausnahme mit sich bringen. Jetzt wollen<br />

wir die Haltung der Landarbeiter betrachten,<br />

und zwar nicht nur gegenüber diesem<br />

Gesetz, sondern auch gegenüber<br />

allem, das noch folgte.<br />

MEXIKO: DAS LANDPROBLEM 141<br />

Gegenüber dieser ..revolutionären"<br />

Verwirklichung kapitulierte der größte<br />

Teil der Landarbeiter im Norden und im<br />

Zentrum des Landes; nur die Anhänger<br />

des Zapatismus kämpften weiter. Das<br />

was die Partei Carranzas zu allererst erstrebte,<br />

war die Neutralisierung der Elemente<br />

der Landarbeiterschaft, um so die<br />

größeren Streitkräfte nicht nur des Zaparismus,<br />

sondern auch die anderen Funktionen,<br />

die von Generalen und Politikern<br />

aller Schattierungen gebildet worden<br />

waren, kaltzustellen. <strong>Die</strong> Richtung Francisco<br />

Villa bildete für Carranza die größte<br />

Gefahr; als einmal die Landarbeiter in<br />

jenen Regionen, in denen Villa operierte,<br />

neutralisiert waren, blieb nur noch übrig,<br />

auch die Arbeiter in den Städten zu gewinnen,<br />

eine Aufgabe, die auf keine<br />

großen Schwierigkeiten stieß und vermittels<br />

der Elemente des Hauses der<br />

Arbeiter der Welt in wenigen Wochen<br />

schon erfüllt war. <strong>Die</strong> neue Eroberung<br />

Carranzas beschränkte sich nicht auf die<br />

Neutralisierung der städtischen Arbeiter;<br />

wie bekannt, griff das Proletariat der<br />

ganzen Welt mit ein, um die Waffe der<br />

Zusammenarbeit mit den von Arbeitern<br />

gebildeten roten Bataillonen in Anwendung<br />

zu bringen. So kam es dann, daß die<br />

Arbeiter auf der einen Seite standen und<br />

die Landarbeiter auf der anderen; beinahe<br />

zwei Jahre dauerte der furchtbare<br />

unaufhörliche Kampf zwischen Arbeitern<br />

und Landarbeitern, die einen auf Seiten<br />

Carranzas, die anderen auf Seiten Zapatas.<br />

Während im zentralen Mexiko dieser<br />

Kampf stattfand, organisierten die Landarbeiter<br />

im äußersten Süden, auf der<br />

Halbinsel Yucatan, sich außerordentlich<br />

schnell. Der Genral Salvador Alvarado,<br />

Gouverneur von Yukatan, ein georgistischer<br />

Wüterich, präsidierte in der Organisation,<br />

die eine „Schutzwehr der revolutionären<br />

Regierung" darstellten sollte.<br />

Alvarado schuf das Vorbild der offiziellen<br />

Landarbeiterorganisation, die heute noch<br />

besteht; durch seine Agenten ließ er in<br />

Cuba und in den Vereinigten Staaten<br />

verbreiten, daß jene Tatsache ein Beweis<br />

dafür sei, daß man in Mexiko die soziale<br />

Revolution durchführe; er lud die Georgisten<br />

und Sozialisten der Vereinigten<br />

Staaten ein, an dieser Arbeit proletarischer<br />

Organisation teilzunehmen; bald<br />

antworteten die also Eingeladenen auf den<br />

auf so falchen Füßen stehenden Aufruf<br />

und aktive Elemente beider Parteien<br />

führten die ihnen von Alvardo übertragene<br />

Aufgabe zu Ende. Aber gleichzeitig<br />

machten einige argentinische und


142 MEXIKO: DAS LANDPROBLEM<br />

italienische Anarchisten Fortschritte in<br />

der Organisation; es gelang denselben,<br />

die Landarbeiterbewegung in freiheitlichem<br />

Sinne zu beeinflussen; es folgten dann<br />

von Seiten der Regierung Unterdrückungsmaßnahmen,<br />

aber auch Alvarado fiel, von<br />

Carranza der Förderung jener umstürzlerischen<br />

Bewegung beschuldigt; diese<br />

Bünde zählten bis zu 55 000 Anhänger.<br />

<strong>Die</strong>se Bünde stellten den offiziellen Typ<br />

der Landarbeiterorganisationen dar. Jeder<br />

Gouverneur eines Staates hatte solche<br />

Verteidigungsliga zu bilden. Hieraus<br />

gingen die bekannten Li gas der Landgemeinschaft<br />

hervor, die gegenwärtig die<br />

Basis für die Nationale Agrarpartei<br />

stellen.<br />

Carranza führte die Landarbeiterbewegung<br />

in Regierungsformen, während<br />

seine bewaffneten Kräfte unter der direkten<br />

Hilfe der städtischen Arbeiter und<br />

an den Eisenbahnlinien entlang unter indirekter<br />

Hilfe der Landarbeiter vordrangen<br />

und während der Zapatismus,<br />

der schon im Zeichen des Intellektualismus<br />

stand, sich als aufrührische, spontane<br />

und allgemeine Macht erhob.<br />

<strong>Die</strong> gegenwärtigen Zustände.<br />

Nachdem die Uebergangszeit, die vorkonstitutionelle<br />

Periode, wie die Partei Carranza<br />

sie nannte, vorüber war, erwies es<br />

sich notwendig, die Verbesserungen der<br />

Landarbeiterschaft legalerweise zu formulieren,<br />

dem Gemeindewesen und den<br />

neuen Formen der Agrarfrage waren nun<br />

konstitutionelle Körperschaften zu geben;<br />

der Friede und die öffentliche Ordnung<br />

waren zu garantieren, die Landarbeiter<br />

die eine Gefahr für das Privateigentum<br />

darstellten, waren zu entwaffnen, die<br />

neuen Grundbesitzer und die ausländischen<br />

Hazienderos, die sich beschwerten<br />

und mit Interventionen drohten,<br />

waren zu beschützen: aus diesen Gründen<br />

nahm die Konstituante im Jahre 1917<br />

den Artikel 27 in die Nationale Konstitution<br />

auf.<br />

Das Gesetz vom 6. Januar 1915, das in<br />

Tagen der Revolution diktiert wurde,<br />

ging hinaus, ohne von den offiziellen Kreisen<br />

anerkannt zu werden. Aber der Artikel<br />

27 der Konstitution konnte eine<br />

große Gefahr in sich bergen, falls die<br />

Landarbeiter sich Rechenschaft darüber<br />

ablegten, daß sie viel von dem eroberten<br />

Land wieder abgeben mußten; in Wirklichkeit<br />

gaben sie sich keine Rechenschaft<br />

darüber, daß in einer Uebergangszcit alle<br />

Volkseroberungen notwendigerweise auch<br />

ein Uebergang sein müssen. . . Carranza<br />

schickte Hunderte von Agenten durch das<br />

Land und bezahlte eine große Anzahl von<br />

Journalisten und Schreibern, um die Unzufriedenheit<br />

der Landwirtschaft zu vermindern.<br />

Sie alle argumentierten folgendermaßen:<br />

Es sei notwendig, das Land<br />

wirtschaftlich von neuem aufzubauen, und<br />

zwar müsse man mit der Mitarbeit von<br />

einigen Grundbesitzern rechnen, das aber<br />

erfordere, daß man denselben ein wenig<br />

Vertrauen entgegenbringe; das Vertrauen,<br />

das Carranza ihnen zeigte, war<br />

der Artikel 27 der Konstitution.<br />

Der Artikel 27 der Konstitution war der<br />

letzte Sieg der verwirklichten Revolution.<br />

Ehe wir über die Wirkungen berichten,<br />

welche des Gesetz vom 6. Januar in den<br />

ländlichen Gebieten auslöste, che wir uns<br />

mit den Resultaten des neuen konstitutionellen<br />

Artikels befassen, halten wir es<br />

für notwendig, Aufschluß über die wesentlichen<br />

Punkte des erwähnten Artikels<br />

27 zu geben.<br />

1. Ueber die Etablierung des Ursprungs<br />

des Eigentums ist zu sagen, daß der<br />

Boden und die Wasserplätze im Anfang<br />

der Nation gehörten, welche das<br />

Herrschaftsrecht über dieselben übermittelte<br />

und noch übermittelt an die<br />

einzelnen Personen, damit dieselben<br />

das Privateigentum konstituieren.<br />

2. Auflichtung des Prinzips, daß die<br />

Nation dem Eigentum eine Form<br />

geben kann, wie es das Allgemeininteresse<br />

erfordert — gleichmäßige<br />

Verteilung des Eigentums. In anderen<br />

Worten: Erweiterung des Begriffes<br />

Allgemeininteresse in Beziehung zur<br />

alten Konstitution.<br />

3. Bestimmungen über Begrenzung der<br />

Latifundien. Der Staat hat entsprechende<br />

Gesetze zu erlassen, die<br />

verkauften Teile zu bezahlen und die<br />

Schulden der Besitzer mit besonderen<br />

Gutscheinen zu decken.<br />

4. Wiedereinziehung der Ländereien,<br />

Wälder und Wasserplätze, die gegen<br />

das Gesetz vom 25. Juni 1856 okkupiert<br />

worden sind, so daß das Gesetz<br />

vom 6. Januar 1915 in konstitutioneller<br />

Form rechtskräftig ist. <strong>Die</strong> Wiedereinziehung<br />

hat auf administrativem<br />

Wege vor sich zu gehen.<br />

5. <strong>Die</strong> Möglichkeit ist zu schaffen, daß<br />

die neuen Dörfer genügend Boden<br />

haben durch Ueberschreibung von<br />

Gemeindetriften, welche die Nation<br />

zu übertragen hat.<br />

6. Alle seit dem Jahre 1876 ausgestellten<br />

Kontrakte und Konzessionen, die<br />

in ihrer Folge die Akkumulation von


Bodenflächen und Wasserplätzen der<br />

Nation in die Hand einzelner Personen<br />

nach sich zogen, sind zu revidieren<br />

und falls sie ernsthaften<br />

Schaden für das Allgemeininteresse<br />

bedeuten, sind sie durch die Exekution<br />

ungültig zu erklären.<br />

7. Für Ausländer wird das Recht, Ländereien<br />

und Wasserplätze der Nation<br />

zu erwerben, beschränkt: wenn solche<br />

Land besitzen wollen, müssen sie als<br />

Ausländer hierzu um das Recht einkommen.<br />

Auf eine Strecke von 100<br />

Kilometer Entfernung von der<br />

Grenze und 50 Kilometer Entfernung<br />

von der Küste ist den Ausländern der<br />

Erwerb von Ländereien und Wasserplatzen<br />

verboten.<br />

8. Für religiöse Gemeinschaften, Wohltätigkeitsinstitutionen<br />

und Aktiengesellschaften<br />

ist die Möglichkeit,<br />

Liegenschaften zu erwerben, beschränkt."<br />

Wir haben bis hierher die vorherrschende<br />

Situation auf dem Lande vor dem<br />

Gesetz des 6. Januar beschrieben. <strong>Die</strong><br />

Landarbeiter, die sich zur Besserung ihrer<br />

Lage des direkten Weges bedienten, des<br />

Weges der Revolution, bemächtigten sich<br />

des Bodens. <strong>Die</strong> Haziendas wurden genommen,<br />

das Korn verteilt, die Landarbeiter,<br />

nachdem sie die Uebernahme<br />

vollzogen hatten, gingen innerhalb und<br />

außerhalb der Haziendas wieder an die<br />

Arbeit; keine Einteilung des Landes würde<br />

vorgenommen. Von dieser Situation, und<br />

mit dem Gesetz vom 6. Januar rechnend,<br />

dekretierte die Regierung, daß alle übernommenen<br />

Länder sofort wieder zurückgegeben<br />

werden sollen, bis sie legalerweise<br />

übergeben wurden. Es muß noch<br />

hinzugefügt werden, daß nach erwähntem<br />

Gesetz nur die Zentralgewalt das Recht<br />

hatte, Eigentumstitel zu verteilen. In<br />

einigen Gegenden, in denen die Landarbeiter<br />

auf die Weiterbesetzung der<br />

okkupierten Ländereien bestanden, wurden<br />

von der Regierung Militärs zu den Verwaltern<br />

der großen Haziendas ernannt,<br />

auf denen sie dann die „Garantien der<br />

Revolution bewachten". So kam es, daß<br />

seit jener Zeit die Verwalter, die Haziendas,<br />

bewachten, dieselben gleichzeitig zu<br />

ihrem eigenen Nutzen ausbeuten.<br />

Nachdem die „Nationale Agrarkommission"<br />

in Betrieb war, stellte sie fest, daß<br />

etwa 5000 Dörfer der Republik zirka<br />

2 735 000 Hektar Boden für den Anbau<br />

ihrer Gemeindetriften brauchten. Bis<br />

MEXIKO: DAS LANDPROBLEM 143<br />

zum Jahre 1919 lagen der Kommission<br />

1102 Gesuche um Ueberweisung von Gemeinetriften<br />

vor; nur 170 Gesuchen um<br />

Ueberweisung und 50 Gesuchen um Rückgabe<br />

von Boden konnte nähergetreten<br />

werden. Das Resultat war folgendermaßen:<br />

Gesuche um Ueberweisung von<br />

Gemeinedetriften: 130 günstig, 40 negativ;<br />

Gesuche um Rückgabe von Gemeindeland:<br />

9 günstig, 41 negativ beschieden.<br />

Das heißt mit anderen Worten, daß die<br />

Landarbeiter Mexikos 4 Jahre nach Verwirklichung<br />

der Uebernahme des Landes<br />

nur 111065 Hektar Land erhalten konnten.<br />

Während verschiedene tausend Landarbeiter<br />

während 4 Jahren 111 065 Hektar<br />

Land erhielten, empfingen einige wenige<br />

Generale "einige tausend Hektar als Entschädigung<br />

für „<strong>Die</strong>nste, die sie der Revolution<br />

geleistet hatten." Der General<br />

Manuel M. <strong>Die</strong>guez erhielt in dem Staat<br />

Jalisco 15 000 Hektar. Der General<br />

Candido Aguilar erhielt einige andere<br />

Tausend von Hektar in Sonora. Der<br />

General Alvaro Obregon erhielt weitere<br />

tausende von Hektaren in Sonora. Der<br />

General Pablo Gonzales erhielt die Hazienda<br />

de Coapa im Werte von 5 000000<br />

Pesos. So könnten wir Hunderte von<br />

Fällen anführen. Das aber soll genügen,<br />

um den Werdeprozeß der neuen Grundbesitzer<br />

zu charakterisieren.<br />

An der Seite der neuen Grundbesitzer<br />

und Hazienderos erhoben sich zwei Klassen<br />

auf dem Lande: <strong>Die</strong> Kleinbesitzer<br />

und die „Medieros"; wenn auch diese<br />

Klassen vor der Revolution bestanden,<br />

so waren sie fast doch absorbiert von den<br />

Großgrundbesitzern; die Revolution erst<br />

gab ihnen die Möglichkeit, sich als Klasse<br />

zu konstiturieren. Es war jedoch nicht<br />

möglich, die Anzahl weder der einen<br />

noch der anderen Kategorie festzustellen;<br />

hauptsächlich haben sie sich im Norden<br />

und im Osten des Landes entwickelt. In<br />

den Staaten Sonora und Sinaboa unter dem<br />

Monopol des Generals Obregon haben die<br />

„Medieros" ihre höchste Blüte erreicht.<br />

„Medieros" nennt man jene Landbewohner,<br />

die Pachtland kultivierten und die Hälfte<br />

der Produkte, die sie gewinnen, an die<br />

Grundbesitzer abliefern. In Sonora und<br />

Sinaloa liefern sie nicht nur die Hälfte<br />

des Ertrages an die Grundbesitzer, sondern<br />

den Rest ihrer Erträgnisse haben sie<br />

an das Monopol des Generals Obregon<br />

abzuliefern. Im Staate Chihuahua zum<br />

Beispiel ist der Kleinbesitz sehr gefördert<br />

worden: die Latifundie von Luis Terrazas


144 MEXIKO: DAS LANDPROBLEM<br />

wurde beispielsweise von der Regierung<br />

aufgekauft und der Boden Kleinbesitzern<br />

übertragen, soweit er nicht durch den<br />

Gouverneur dieser Provinz an nordamerikanische<br />

Gesellschaften, vorzüglich an<br />

William Randolph Hearst verschachert<br />

wurde.<br />

Ende 1922 teilte der Präsident der Republik<br />

mit, daß zu der bis zum Jahre 1919<br />

verteilten Grundfläche von 111065 Hektar<br />

in den drei folgenden Jahren nur<br />

60 000 Hektar aufgeteilten Landes hinzuzufügen<br />

waren. Gegenüber dieser unglücklichen<br />

Information entschloß die Agrarkommission<br />

sich, ein Zirkular an die Landbevölkerung<br />

herauszugeben bezüglich der<br />

direkten Uebernahme des Bodens unter<br />

Reservierung der Erreichungen von Gesuchen,<br />

zwecks Abgabe oder Wiederzurückgabe<br />

von Gemeindetriften; dieses<br />

Zirkular aber war nichts weiter wie eine<br />

Provokation, um Unterdrückungsmaßnahmen<br />

zu rechtfertigen. <strong>Die</strong> Landarbeiter<br />

verschiedener Gegenden gingen daran, das<br />

Land an sich zu nehmen. <strong>Die</strong>se Haltung<br />

genügte für die Regierung, ihr Zirkular zu<br />

verlängern und bewaffnete Kräfte gegen<br />

die Landarbeiter zu schicken; in Durango<br />

wurden die Landarbeiter auf das grausamste<br />

niederkartätscht; in Nayarit ermordete<br />

man die Genossen Gongora und<br />

Laureles; in Puebla verwendete man das<br />

Heer gegen die soeben begründete Landarbeiter-Konföderation,<br />

die der CGT. angeschlossen<br />

war. <strong>Die</strong> Regierung autorisierte<br />

die Bildung „sozialer Verteidigungskörperschaften",<br />

welche die Stelle der<br />

alten „ländlichen Körperschaften" übernahmen<br />

und vom Porfirismus geschaffen<br />

waren zum Schutze der Großgrundbesitzer.<br />

<strong>Die</strong> sozialen Verteidigungskörperschaften<br />

hatten nach der Regierung keine andere<br />

Aufgabe, als für die Erfüllung des Artikels<br />

27 der Konstitution zu sorgen.<br />

Und nun wollen wir noch ein anderes<br />

Vorgehen zur „Erfüllung des Gesetzes"<br />

betrachten. Noch während der Präsident<br />

der Republik selbst Eigentumstitel auf die<br />

Gesuche um Boden verlieh, hatten die<br />

Großgrundbesitzer das Recht, bei den<br />

gerichtlichen Autoritäten um Schutz vor<br />

Besitzlosigkeit nachzusuchen. Es war erklärlich,<br />

daß alle Großgrundbesitzer von<br />

dieser Falle Gebrauch machten. Und da,<br />

wie wir alle wissen, die Richter sich für<br />

einiges Geld kauten lassen, wird man das<br />

Resultat dieses Schutzes verstehen. Ein<br />

Fall, den wir hier anführen, soll zur Illustration<br />

genügen: <strong>Die</strong> Landarbeiter von<br />

Tepatitlan und Jalisco reichten Gesuche<br />

um die Ueberschreibung von Boden ein.<br />

<strong>Die</strong> lokale Agrarkommission des Staates<br />

Jalisco schickte einen Monat nach<br />

Empfang des Gesuches (20. Dezember 1922)<br />

einen Ingenieur, um das Land zu vermessen.<br />

Der Ingenieur brauchte einen Monat zu<br />

dieser Arbeit. Nach beinahe 6 Monaten<br />

erhielten die Landarbeiter von der lokalen<br />

Agrarkommission (am 3. Juni 1923) Antwort,<br />

die besagte, daß das Gesuch um<br />

Land berechtigt sei und dasselbe an den<br />

Staatsgouverneur weitergegeben sei, damit<br />

derselbe das provisorische Besitzrecht<br />

erteile. Einige Tage später erschien eine<br />

Kommission der „Liga der Agrarkommission<br />

von Jalisco" um die Landarbeiter<br />

besagten Städtchens zu organisieren,<br />

sowohl zum Zwecke, das Land zu erhalten,<br />

um auch dafür dem Kandidaten derselben<br />

Liga, die der „Nationalen Agrarpartei"<br />

zugehört, in der Juniwahl zu einem Mandat<br />

zu helfen. Im Oktober erhielten die<br />

Landarbeiter das Land provisorisch zugesprochen<br />

(12. Oktober 1923) und fünfzehn<br />

Tage später erhielten sie Mitteilung,<br />

daß die Besitzer des Landes, die Herren<br />

Cuellar, um gerichtlichen Schutz nachgesucht<br />

hätten, der ihnen zunächst provisorisch<br />

zugesagt worden sei und später<br />

definitiv werden würde. Vermittelst der<br />

Nationalen Agrarpartei wandten die Landarbeiter<br />

von Tepatitlan sich an den<br />

Obersten Gerichtshof, doch bis zum<br />

heutigen Tage haben sie noch kein Ergebnis<br />

gehabt. Inzwischen sind die Landarbeiter<br />

von Körperschaften der „Sozialen<br />

Verteidigung" von den Ländereien vertrieben<br />

worden, die laut des konstitutionellen<br />

Artikels ihnen zustehen und die<br />

die Regierung ihnen provisorisch übertragen<br />

hat.<br />

<strong>Die</strong>ser Fall ist kein Einzelfall, dasselbe<br />

kommt täglich vor. Aber die Agrarpartei<br />

als Komplice der Großgrundbesitzer,<br />

hütet sich, diese Fälle an die Oeffentlichkeit<br />

zu bringen.<br />

Nun wollen wir diese Information noch<br />

etwas erweitern hinsichtlich der gegenwärtigen<br />

Löhne. In den meisten Gegenden<br />

des Landes übersteigen die Löhne nicht<br />

40 Centavos; die Verkaufsläden existieren<br />

noch immer, nur in etwas verschiedener<br />

Form. 50 Prozent des Lohnes wird in<br />

Korn bezahlt, die restlichen 50 Prozent<br />

in Metall. Auch wenn die Peone heute<br />

nicht mehr gezwungen sind, in diesen Verkaufsläden<br />

einzukaufen, so müssen sie das<br />

doch tun, denn jeder Handel, der nicht<br />

unter der Kontrolle der Hazienderos<br />

steht, ist isoliert.


<strong>Die</strong> Landarbeiter, denen der Boden zugewiesen<br />

oder wiedergegeben wurde,<br />

müssen, um denselben bearbeiten zu<br />

können, Anleihen wagen, die sie aufnehmen,<br />

den Großgrundbesitzern nicht<br />

nur Bodenfläche, sondern auch ihre Produktion<br />

überlassen: es ist so, daß das Korn<br />

dieser Landleute die sich nun emanzipiert<br />

glaubten, direkt in die Speicher der Haziendas<br />

fließt.<br />

Größtes Elend herrscht unter den Landarbeiten:<br />

die Unterdrückung, der sie ausgesetzt<br />

sind, ist furchtbar. <strong>Die</strong> C.G.T.<br />

fühlt mehr wie je die Pflicht, ihre freiheitlichen<br />

Ideen auf dem Lande zu verbreiten,<br />

um die Landarbeiter Mexikos für die Revolution<br />

und den anarchistischen Kommunismus<br />

zu gewinnen.<br />

Organisation.<br />

<strong>Die</strong> Landarbeiter Mexikos haben ihre<br />

besondere Organisation geschaffen, die<br />

Dörfer sowohl wie die Gemeinden. Frauen<br />

Männer und Kinder sind in diese Organisationen<br />

einbezogen.<br />

Sogar in den Dörfern und Gemeinden,<br />

die der Agrarpartei angeschlossen sind,<br />

besteht allen Autoritäten gegenüber der<br />

warme Wunsch, ja beinahe eine Bewegung<br />

für Autonomie, sowohl in den ländlichen<br />

wie in den zentralen Orten. Aber hauptsächlich<br />

die Agrarpartei ist es die dieser<br />

sich erhebenden Bewegung, die zu einer<br />

starken Bewegung zugunsten der Freiheit<br />

der Gemeinden getrieben werden kann,<br />

sich entgegenstemmt. Dos einzige, was<br />

sie bis heute erreichte, ist die Entfaltung<br />

der Zahlung von Kontributionen an den<br />

Staat in einigen Teilen des Landes.<br />

Auf der anderen Seite zeigt die Organisationsform<br />

in den Gegenden der Eingeborenen<br />

verschiedenerlei Charakter, aber<br />

die kommunale Organisationsform herrscht<br />

ror. Der Boden wird in den Gegenden von<br />

Jalisco, Nayarit, Sinaloa, Oaxaca, Michoacan<br />

und Guerrero gemeinschaftlich bearbeitet.<br />

<strong>Die</strong> Landarbeiterbewegung umfaßt in<br />

Mexiko 250000 Mitglieder, von denen<br />

125 000 der Nationalen Agrarpartei angeschlossen<br />

sind, 25 000 der Nationalen<br />

Agrarkonföderation, 30 000 dem Allgemeinen<br />

Gewerkschaftsverband CGT, der<br />

Rest untersteht direkt den verschiedenen<br />

Provinzialregierungen, ohne irgendwie<br />

einer Landesorganisation angeschlossen zu<br />

sein.<br />

Unter diesen letzten sind die Landarbeiter,<br />

die im Staate Veracruz die Liga<br />

lendwirtschaftlicher Gemeinden bilden,<br />

MEXIKO: DAS LANDPROBLEM 145<br />

die direkt unter dem Gouverneur des<br />

Staates stehen, und die sich der sogenannten<br />

Moskauer Landarbeiterinternationale<br />

angeschlossen haben. Notwendig ist<br />

es, die Form anzuzeigen, in der die gegenwärtigen<br />

Herrscher des Kremls diesen Teil<br />

Arbeiter, den einzigen, den sie in Mexiko<br />

gewonnen haben, für sich eroberten. Der<br />

Hauptmann Adalbert Tejada, Gouverneur<br />

des Staates Veracruz, schickte den Hauptmann<br />

Geruh Galvan, Präsident der erwähnten<br />

Liga und gleichzeitig Präsident<br />

der „Lokalen Agrarkommission" des<br />

Staates, auf eine „Studienreise" nach<br />

Moskau. Im Dezember 1924 hielt die „Liga<br />

landwirtschaftlicher Gemeinden" einen<br />

Kongreß ab, auf dem der Hauptmann<br />

Tejada präsidierte; auf diesem Kongresse<br />

berichtete Galvan über seine Reise nach<br />

Rußland, wo er, wie er anführte, die Liga<br />

repräsentierte. Nach seinem Bericht ersuchte<br />

er die Versammlung, daß die „Liga<br />

landwirtschaftlicher Gemeinden" sich an<br />

die „Rote Landarbeiter <strong>Internationale</strong>"<br />

anschließen möge, was dann auch auf Antrag<br />

des Gouverneurs Tejada „por aclamacion"<br />

getan wurde. Und wie die Männer<br />

vom Kreml mit solcher Art Beitrittserklärung<br />

prahlen!<br />

Weiter oben haben wir im Verlaufe<br />

unseres Berichtes ausgeführt, daß dasjenige,<br />

was die „Nationale Agrarpartei"<br />

bildet, eine Regierungsagentur auf der<br />

einen Seite, und ein Verbündeter der alten<br />

und neuen Großgrundbesitzer auf der<br />

andern sei. Das ist eine Partei, die nach<br />

einer kurzen Karriere von Abenteuern<br />

verantwortlich ist für Hunderte von Betrügereien<br />

und Verräterreien des Land-<br />

Proletariats. Für alle diese .„Eroberungen"<br />

ist diese sogenannte „Nationale Agrarkommission",<br />

die im Parlament die Früchte<br />

genießt . . Regierungsagentur.<br />

Der linke Flügel der „Nationalen<br />

Agrarpartei" ist die „Nationale Agrar<br />

Konföderation", die von einer Gruppe<br />

landwirtschaftlicher Theoretiker, die aus<br />

der Agrarpartei hervorgegangen ist, gebildet<br />

wurde. <strong>Die</strong> Konföderation hat in<br />

ihrem Programm mit der NAP. folgende<br />

beiden Punkte gemeinsam: „Kampf gegen<br />

den Kleinbesitz und direkte und wirksame<br />

Nationalisierung des Bodens". <strong>Die</strong> Arbeit<br />

der Konföderation ist beschränkt auf die<br />

Landarbeiterformationen in Michoacen<br />

Morelos und Mexiko.<br />

Schlußbetrachtungen.<br />

<strong>Die</strong> Confederacion General de Trabajadores<br />

(CGT.) hat, wie wir schon ausgeführt<br />

haben, ihrerseits das Landproletariat


146 NORWEGEN<br />

vergessen, sie will jedoch dem II. Kongreß<br />

der IAA. und ihrem IV. Landeskongreß<br />

im kommenden Mai folgende Konklusionen<br />

vorlegen:<br />

a) <strong>Die</strong> CGT. hält es für notwendig, die<br />

Landarbeiter Mexikos in ihrer freiheitlichen<br />

Organisation aufzunehmen, sowie<br />

Gruppen, Zellen oder abgesonderte<br />

Gruppen weiter bestehen zu<br />

lassen, nicht nur, um die Landarbeitergruppen,<br />

die sich im Gefolge der<br />

„Nationalen Agrarpartei" befinden,<br />

zu den kommunistisch-anarchistischen<br />

Prinzipien zu bekehren, sondern auch,<br />

um mit der soliden Organisation freiheitlicher<br />

Landarbeiter Mexikos zu<br />

Vereinbarungen zu kommen, damit<br />

eine unabhängige Bewegung begründet<br />

werden könne.<br />

b) <strong>Die</strong> CGT. erachtet es für notwendig,<br />

die Tendenzen der Landarbeiterbewegung<br />

zu fördern, die für die öko-<br />

nomische und politische Selbständigkeit<br />

der Gemeinden eintritt, weil dieselbe<br />

für jede Regierung eine destruktive<br />

Bewegung und ein Beginn der<br />

sozialen Revolution darstellt.<br />

c) <strong>Die</strong> CGT. erachtet es für ihre Sache,<br />

daß sie genau wie in den Kämpfen<br />

des städtischen Proletariats, die Pflicht<br />

hat, die Landarbeiter in ihren Tageskämpfen<br />

zu begeistern und zwar in der<br />

Richtung der sofortigen Uebernahme<br />

des Bodens, für gemeinsame Bearbeitung<br />

desselben und für eine Regelung<br />

des Verbrauchs im anarchistischen<br />

Sinne.<br />

Mit brüderlichen Grüßen<br />

Für das Sekretariat der CGT.<br />

J. C. Valades.<br />

R. Aguirre M. Guerreo<br />

Mexiko, im Februar 1925.<br />

NORWEGEN<br />

Bericht der syndikalistischen Föderation Norwegens.<br />

Nach einer Arbeit von mehreren Jahren<br />

durch eine kleine aber energische Anzahl<br />

Kameraden kann man jetzt das Ergebnis<br />

der syndikalistischen Propaganda sehen.<br />

Es ist in Norwegen recht schwierig, die<br />

Arbeiterschaft zur Einsicht zu bringen,<br />

daß sie ihre alten Methoden und ihre alte<br />

Taktik der Sozialdemokraten und Moskowiter<br />

über Bord werfen muß und<br />

die neuen und wirksameren Kampfmittel<br />

des Syndikalismus anzuwenden hat.<br />

Wenn die Arbeiterklasse ihren sozialen<br />

Krieg siegreich führen will, genügt es<br />

nicht, die Angriffe der Gegner abzuwehren,<br />

sondern sie muß den Kapitalismus<br />

in allen seinen Formen vernichten. <strong>Die</strong><br />

Richtigkeit unserer Weltanschauung<br />

dringt in allen Fabriken und auf allen<br />

Werkstätten in ganz Norwegen immer<br />

mehr durch. Und das ist das Verdienst<br />

der syndikalistischen Föderation Norwegens<br />

(N.S.F.).<br />

Wenn man sich eine Meinung bilden<br />

will über den Klassenkampf, der in den<br />

letzten Jahren hier geführt wurde, so muß<br />

man auch den Hintergrund betrachten,<br />

wo die Syndikalisten ihre Propaganda betrieben<br />

haben. Im Jahre 1924 wurden besonders<br />

schwere Kämpfe geführt. <strong>Die</strong><br />

Metallarbeiter, die Bauarbeiter, die Seeleute<br />

und die Arbeiterschaft in der<br />

Papierindustrie befand sich in heißen<br />

Kämpfen. Dazu kam noch der Lockout<br />

(Aussperrung) der Unternehmer, und dadurch<br />

wurden die reformistischen Führer<br />

der norwegischen Gewerkschaftsorganisationen<br />

vor Aufgaben gestellt, denen sie<br />

nicht gewachsen waren. <strong>Die</strong> reformistische<br />

Gewerkschaftsorganisation Norwegens, die<br />

ganz und gar auf Verhandlungen und<br />

nicht im geringsten auf Kampf eingestellt<br />

ist, wurde plötzlich zu einer wirklichen<br />

Aktion getrieben.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiter wurden verhandlungsmüde<br />

und traten über die Köpfe ihrer Führer<br />

hinweg in Streiks. <strong>Die</strong>se Streiks haben<br />

die Arbeiterschaft davon überzeugt, daß<br />

es notwendig ist, syndikalistische<br />

Kampfesmittel anzuwenden, wenn sie den<br />

Kapitalismus besiegen wollen. <strong>Die</strong><br />

Kämpfe von 1924 haben große Teile der<br />

Arbeiterschaft zur Klarheit gebracht, daß<br />

die reformistische Taktik bankrott gemacht<br />

hat. <strong>Die</strong> einzige Organisation, die<br />

imstande gewesen wäre, die Kämpfe siegreich<br />

zu führen, war die N.S.F.<br />

Unsere N.S.F. tat, was in ihren Kräften<br />

stand, um den Streikenden sowohl finanziell<br />

wie moralisch Hilfe zu leisten.<br />

Unsere Agitatoren wurden mehrfach von<br />

den reformistisch organisierten Arbeitern<br />

zu ihren Streikversammlungen eingeladen,<br />

um Vorträge zu halten über den Syndikalismus<br />

und seine Kampfesmittel; und<br />

es kann im allgemeinen festgestellt wen<br />

den. daß von Seiten der Syndikalisten


während der Kämpfe Außergewöhnliches<br />

geleistet wurde.<br />

<strong>Die</strong> N.S.F. war durch einen großen Teil<br />

ihrer Mitglieder an diesen Streiks beteiligt<br />

gewesen und geht aus diesen<br />

Streiks gestärkt hervor. Dagegen sieht es<br />

in der reformistischen Gewerkschafts-<br />

Organisation des Landes nicht so glänzend<br />

aus. Ein Teil der Führer beschuldigt den<br />

anderen Teil des Verrates und wirft ihm<br />

vor, den Kapitalismus unterstützt zu<br />

haben, wodurch die Kämpfe ergebnislos<br />

verliefen. <strong>Die</strong> Mitglieder in den reformistischen<br />

Gewerkschaften dagegen verlangen<br />

von ihren Organisationen und<br />

deren Führern die Anwendung der syndikalistischen<br />

Taktik. Aus all diesem ergibt<br />

sich ein Anwachsen des Syndikalismus.<br />

Im September 1924 fand der Landeskongreß<br />

unserer N.S.F. statt. <strong>Die</strong>ser Kongreß<br />

zeigte die breite Grundlage und die<br />

klaren Linien, auf denen unsere örtlichen<br />

Gewerkschaftsorganisationen aufgebaut<br />

sind und kämpfen. Es besteht auch in<br />

der reformistischen Gewerkschaftsorganisation<br />

Norwegens eine syndikalistische<br />

Opposition, die erst kürzlich ins Leben<br />

trat. Es ist jedoch noch fraglich, ob diese<br />

Opposition für unsere Ideen etwas ausrichten<br />

kann. Ein Fehler der Opposition<br />

bestand darin, daß man es verabsäumte,<br />

mit der N.S.F. in Arbeitsgemeinschaft zu<br />

treten. Wir haben jedoch Hoffnung, daß<br />

dies in Zukunft geschehen wird.<br />

Der wirtschaftliche Niedergang, der im<br />

vergangenen Jahre in Norwegen eintrat,<br />

hat auch unserer Organisation einigen<br />

Abbruch getan. Nichtsdestoweniger haben<br />

wir das Terrain im allgemeinen behauptet<br />

und noch den Gewinn davongetragen, daß<br />

die klassenbewußten Arbeiter sich syndikalistisch<br />

orientieren.<br />

Unser Organ „Alarm" trägt viel zur<br />

Propagierung unserer Ideen bei, und wir<br />

sind in der glücklichen Lage, berichten<br />

PORTUGAL 147<br />

zu können, daß die Auflage dieser Zeitung<br />

doppelt so groß ist wie unsere Mitgliederzahl.<br />

<strong>Die</strong> N. S. F. gehört zu den ersten, die<br />

sich an die Spitze der antimilitaristischen<br />

Aktion stellten, die seit den letzten Monaten<br />

betrieben wird. Es ist deshalb nicht<br />

verwunderlich, daß die Regierung unsere<br />

Mitglieder mit großem Eifer verfolgt.<br />

Mehrere von unseren Genossen mußten<br />

ins Gefängnis wandern. So wurde auch<br />

unser Redakteur Genosse C. O. Tangen<br />

wieder unter Anklage gestellt, obzwar er<br />

schon vor einigen Monaten inhaftiert war.<br />

Mit all diesen Verfolgungen erreicht die<br />

Regierung aber das Gegenteil von dem,<br />

wonach sie strebt, nämlich die Vernichtung<br />

unserer N.S.F. <strong>Die</strong>se Verfolgungen<br />

führen uns näher zueinander<br />

und beweisen, daß wir auf dem rechten<br />

Wege sind.<br />

<strong>Internationale</strong> Solidarität. <strong>Die</strong> N.S.F.<br />

arbeitete als Sektion der I.A.A. in Uebereinstimmung<br />

mit ihren Grundsätzen. <strong>Die</strong><br />

Propaganda der Prinzipien der I.A.A. ist<br />

gerade deshalb hier in Norwegen von Bedeutung,<br />

weil innerhalb der reformistischen<br />

Gewerkschaftsbewegung der<br />

Kampf zwischen Amsterdam und Moskau<br />

nicht entschieden ist und immer noch<br />

weiter geht. Wir haben die Prinzipienerklärung<br />

und Statuten der I.A.A. auf<br />

Norwegisch übersetzt und in einer<br />

Broschüre herausgegeben. <strong>Die</strong> N.S.F. beantwortete<br />

alle Aufrufe der I.A.A. Sie<br />

sammelte Gelder für die deutschen Kameraden,<br />

sammelte für die Kinderhilfe der<br />

I.A.A. und nahm einen Transport von<br />

Kindern unserer deutschen Kameraden zur<br />

Erholung nach Norwegen. Wir haben somit<br />

alles getan, was in unseren Kräften<br />

steht zum Siege unserer Ideen.<br />

Für die syndikalistische Föderation<br />

Norwegens.<br />

P. Smits.<br />

PORTUGAL<br />

Bericht des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes Portugals (C.G.T.) an den<br />

II. Kongreß der l.A.A.<br />

Als Ende 1922 die <strong>Internationale</strong> Arbeiter-Assoziation<br />

sich in Berlin konstituierte,<br />

hat die C.G.T. Portugals bereits<br />

einen Bericht über die Arbeiterbewegung<br />

Portugals gegeben. Und wenn wir heute<br />

zum II- Kongreß der I.A.A. wieder einen<br />

Bericht abgeben, dann wollen wir eine<br />

Wiederholung des ersten Berichtes vermeiden.<br />

Wir halten es für notwendig, einen<br />

Ueberblick über den revolutionären Syndikalismus<br />

in Portugal, über die Bestrebungen<br />

und Kräfte, die ihn beleben, zu<br />

geben. Es soll auch auf die Entwicklungsmöglichkeiten<br />

unserer Organisation sowie<br />

auf die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen<br />

des Landes, aus denen unsere<br />

Bewegung entspringt, hingewiesen werden.


148 PORTUGAL<br />

Nur so werden wir das portugiesische Proletariat<br />

und seinen Freiheitsdrang verstehen<br />

lernen.<br />

Unsere Entwicklung hat keinen allzu<br />

tiefen Ursprung. Wären die Bedingungen<br />

besser, dann ließe sich auch mehr tun, jedoch<br />

bei einer Bevölkerung, die 75 Prozent<br />

Analphabeten zählt, ist es schwer<br />

möglich, die Ziele unserer Bestrebungen<br />

allzuweit zu stecken-<br />

<strong>Die</strong>se Lage hält die Arbeiterklasse nieder<br />

und macht es der Bourgeoisie, die sich<br />

der wirtschaftlichen und moralischen Gesellschaftsentwicklung<br />

nicht bewußt ist,<br />

möglich, eine Gewaltherrschaft aufrecht<br />

und das Proletariat in Abhängigkeit zu<br />

erhalten. Dabei besitzt die Bourgeoisie<br />

selbst nicht die Fähigkeiten, die wirtschaftlichen<br />

Kräfte und Reichtümer des<br />

Landes gehörig und rationell zu organisieren,<br />

sie wendet alle ihre Macht nur zu<br />

dem Zwecke an, dem Proletariat eine<br />

schwere Ausbeutung aufzuzwingen, während<br />

die natürlichen Reichtümer und<br />

Quellen des Landes unbenutzt bleiben<br />

und das Land verarmt.<br />

Das sind aber nicht die einzigen traurigen<br />

Ergebnisse der Unfähigkeit der<br />

Bourgeoisie. Bedroht von der ausländischen<br />

Konkurrenz und Industrie, die weit<br />

fortgeschrittener ist, sucht sich die portugiesische<br />

Industrie nicht durch Verbesserung<br />

und Entwicklung ihrer Industrie zu<br />

helfen, sondern indem sie Zollgrenzen errichtet,<br />

wodurch das Volk in einen Kreislauf<br />

wirtschaftlicher Stagnation hineinkommt,<br />

der zwar der Bourgeoisie zum<br />

Nutzen, dem werktätigen Volke jedoch<br />

zum Schaden gereicht.<br />

Auf diese Weise kam die allgemeine<br />

wirtschaftliche Lage des Landes in einen<br />

Zustand der Günstlingswirtschaft, der<br />

zwar an der Oberfläche geordnet erscheint,<br />

in Wirklichkeit aber vollständig fiktiv ist.<br />

Portugal ist in seiner ganzen Länge vom<br />

Atlantischen Meere umspült und wird<br />

wesentlich als Agrarland betrachtet. Trotzdem<br />

aber gibt es zahlreiche Gaue, die<br />

unbebaut sind, und die Getreideernte<br />

reicht nur für einen Verbrauch von<br />

5 Monaten. Eine Unzahl von kleinen und<br />

größeren Flüssen durchquert das Land,<br />

und an den Ufern dieser Flüsse ist der<br />

Boden für eine äußerst fruchtbare Kultur<br />

geeignet. Und dennoch werden fast die<br />

gesamten Lebensmittel, die im Lande verbraucht<br />

werden, eingeführt, und die Industrie<br />

ist nur in Gang zu halten, wenn<br />

Rohstoffe und Werkzeuge eingeführt<br />

werden. Dazu kommt noch, daß Verkehrs-<br />

wege und Eisenbahnlinien nur ungenügend<br />

vorhanden sind, die Häfen und die<br />

Handelsmarine sind in einem beklagenswerten<br />

Zustande.<br />

Auf finanziellem Gebiete ist die Lage<br />

ebenso darnieder. Man lebt von Krediten,<br />

die zum größten Teil von England gegeben<br />

werden, das dadurch profitiert und das<br />

Land als seinen Vasallen betrachtet. Das<br />

werktätige Volk begreift zwar, daß es in<br />

einem chaotischen Zustande lebt, da es<br />

sich aber in Unwissenheit befindet, und<br />

da es selbst keinen Ausweg aus diesem<br />

Chaos weiß, hat es sein Selbstbewußtsein<br />

noch nicht in einer genügend starken Organisation<br />

zum Ausdruck gebracht, die<br />

die Lebensbedingungen zu verbessern und<br />

zu heben in der Lage wäre.<br />

Aus all diesen Gründen sind die klassenbewußten<br />

proletarischen Kämpfer nicht<br />

sehr zahlreich, und sie verfügen nicht über<br />

eine Kultur, die notwendig ist, damit das<br />

Werk, das unsere Organisation sich vorgenommen<br />

hat, vollendet werden kann.<br />

<strong>Die</strong> Avantgarde des Proletariats hat sich<br />

indes von der Unzulänglichkeit, in der sich<br />

das Proletariat im allgemeinen befindet,<br />

überzeugt, und ist sich klar darüber, daß<br />

hierin ein Hindernis für die syndikalistische<br />

Organisation und die Wirtschaftliche<br />

wie moralische Verbesserung der<br />

Arbeiterklasse liegt. <strong>Die</strong> revolutionären,<br />

klassenbewußten Elemente sind sich klar<br />

darüber, daß gegen derartige Anomalien<br />

angekämpft werden muß, und sie wenden<br />

alle ihre Kräfte auf und scheuen keine<br />

Opfer, um die Widerstände zu überwinden.<br />

Es soll hier gezeigt werden, wie wir<br />

in Portugal den Kampf aufnehmen, vorher<br />

ist es aber notwendig, die Arbeiterbewegung<br />

Portugals ein wenig zu beleuchten,<br />

da die opportunistischen Strömungen,<br />

die zur Zeit in der Arbeiterbewegung anderer<br />

Länder vorhanden, auch in Portugal<br />

nicht fremd sind.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiterbewegung Portugals zur Zeit<br />

der I. <strong>Internationale</strong>.<br />

Als die I. <strong>Internationale</strong> gebildet wurde,<br />

bestand in Portugal — schon seit 1832 —<br />

eine Arbeiterbewegung. <strong>Die</strong> Tätigkeit<br />

dieser Bewegung war freilich noch sehr<br />

primitiv, demokratisch-liberal, mutualistisch<br />

und später beruflich, und auf diese<br />

Weise ging es weiter fast ohne jede<br />

weitere Beeinflussung bis zur Zeit der<br />

Pariser Kommune. Von dieser Zeit ab<br />

und anläßlich der Revolution in Paris<br />

wurde die Bewegung mutiger. 1872<br />

kamen nach Portugal die spanischen


Kameraden Mora, Morazzo und Lorenzo,<br />

die durch ihre klare und zielbewußte Propaganda<br />

der portugiesischen Arbeiterbewegung<br />

neue Impulse und Ideen gaben.<br />

Zu jener Zeit bildeten sich zwei Organisationen,<br />

von denen eine die Arbeiterbrüderschaff<br />

war, eine geheime Gesellschaft,<br />

die mit der Allianz der<br />

sozialen Demokratie in Beziehung stand<br />

und später in Porto unter dem<br />

Titel Union der Sozialen Demokratie<br />

an die Oeffentlichkeit trat. <strong>Die</strong>se Bewegung,<br />

die in ihren Zielen nicht ganz<br />

klar, war. bildete die portugiesische Sektion<br />

der I. <strong>Internationale</strong>, die Lafargue<br />

auf dem Kongreß im Haag 1872 repräsentierte.<br />

<strong>Die</strong>se Zeit kann als Beginn der eigentlichen<br />

Gewerkschaftsorganisation in<br />

Portugal betrachtet werden.<br />

Nach langen Polemiken zwischen den<br />

Elementen der Arbeiterbrüderschaft und<br />

der beschützten Assoziation der Nationalen<br />

Arbeit endeten die Polemiken mit der<br />

Vereinigung beider in der Arbeiter-Assoziation<br />

Portugals (1872).<br />

Seit dieser Zeit haben das Genossenschaftswesen<br />

und der Mutualismus sich<br />

stark entwickelt, und gleichzeitig damit<br />

wurde durch letzeren die Entwicklung der<br />

sozialistischen Partei begünstigt. Gleichzeitig<br />

hiermit entwickelten sich die Berufsverbände,<br />

besonders unter dem Druck<br />

der Bakunistischen Allianz der sozialen<br />

Demokratie, deren Tätigkeitsgebiet sich<br />

immer weiter entfaltete und das Proletariat<br />

dem Geiste des Klassenkampfes<br />

näher und näher brachte. <strong>Die</strong> sozialistische<br />

Partei schwang sich dennoch zur<br />

Herrschaft über die Gewerkschaftsbewegung<br />

auf, das dauerte jedoch nur einige<br />

Jahre, denn die Mehrzahl der Antiautoritären<br />

stemmte sich dagegen an. Der portugiesische<br />

Arbeiter hat sich niemals sehr<br />

für die politische Partei interessiert und<br />

leistete den parlamentarischen Bestrebungen<br />

keine Gefolgschaft. Das mag<br />

wohl auch in psychologischen Gründen<br />

seine Erklärung finden, da der Geist der<br />

Unabhängigkeit schon seit dem 3. Jahrhundert<br />

im portugiesischen Volke erwacht<br />

war. Das Proletariat konzentrierte seine<br />

ganze Aufmerksamkeit auf den Klassenkampf.<br />

Es kam schon sehr früh zu Streiks<br />

und direkten Aktionen. Im Jahre 1852<br />

konnte der erste Streik in das Buch der<br />

Geschichte geschrieben werden. Im Jahre<br />

1872/73 gab es gegen 20 Streiks. In der<br />

Zeit von 1873 bis 1900 hat sich indessen<br />

die Lage nicht bedeutend verändert, was<br />

wohl auf den Einfluß der Genossen-<br />

PORTUGAL 149<br />

schaften, der Mutualisten und der Reformisten<br />

und nicht zum mindesten auf die<br />

schwache Entwicklung der Industrie zurückzuführen<br />

ist.<br />

Das Genossenschaftswesen und der<br />

Mutualismus haben die Aufmerksamkeit<br />

der Arbeiterschaft ebenfalls für einige<br />

Jahre abgelenkt. <strong>Die</strong> Mehrzahl der Gruppen<br />

sind jedoch verschwunden, während<br />

andere sich von ihrem Ziele entfernten,<br />

was dazu beitrug, daß die Arbeiter den<br />

Glauben an die Organisation verloren<br />

und in ihrer Unwissenheit und Unaufgeklärtheit<br />

die Organisationen verließen.<br />

Das änderte sich erst, als die syndikalistische<br />

Bewegung auftrat. Sie gab dem<br />

Arbeiter den Glauben an seine eigene<br />

Aktion und an den Wert seiner Gewerkschaft<br />

wieder.<br />

<strong>Die</strong> syndikalistische Bewegung.<br />

Nach 1900 trat die Arbeiterbewegung<br />

Portugals in eine Periode des Fortschritts.<br />

Der Geist der revolutionären Gewerkschaften<br />

machte den Anarchisten eine<br />

klare Stellungnahme zur Arbeiterbewegung<br />

möglich, und eine große Anzahl Gewerkschaften<br />

nahm eine klare und eindeutige<br />

Stellung ein.<br />

Streiks folgten immer öfter aufeinander,<br />

und der Geist der direkten Aktion belebte<br />

diese Bewegungen selbst noch ehe die<br />

Formulierung der direkten Aktion bewußt<br />

auftrat. Einer dieser Streiks, z. B.<br />

der allgemeine Solidaritätsstreik, der zugunsten<br />

der Textilarbeiter Portos 1902<br />

ausbrach, hatte einen rein revolutionären<br />

Charakter. Es waren aber immer noch die<br />

Reformisten, die einer großen Anzahl<br />

von Gewerkschaften ihren geistigen<br />

Stempel aufdrückten, obzwar diese Gewerkschaften<br />

schon eine beachtenswerte<br />

Macht darstellten. In dieser Zeit kam es<br />

zu einem Arbeiterkongreß. Durch Vermittlung<br />

der Arbeiterföderation Lissabons<br />

organisierte die sozialistische Partei diesen<br />

Kongreß im Jahre 1909, der noch vom<br />

Geiste des Reformismus durchsetzt war.<br />

Es kam aber doch schon in einigen Teilen<br />

des Landes in den Gewerkschaften zu<br />

Reibungen, die schließlich zu Spaltungen<br />

führten auf Grund der reformistischen<br />

Bevormundung. <strong>Die</strong> Gruppierungen, die<br />

sich abspalteten, waren revolutionär und<br />

sie beriefen einen neuen Kongreß ein, auf<br />

welchem die Methoden und die Taktik<br />

des revolutionären Syndikalismus angenommen<br />

wurden. Es wurde eine Vollzugskommission<br />

gewählt, die die neue<br />

Organisation vertreten sollte. Als im<br />

Jahre 1910 die Republik proklamiert wurde,<br />

hatte zwar die neue svndikalistische


150<br />

Organisation unter den allgemeinen<br />

Wirren zu leiden; die Arbeit, die bisher<br />

schon geleistet worden war, hatte aber im<br />

portugiesischen Proletariat Wurzeln geschlagen.<br />

Streiks brachen aus und wurden<br />

auf breiter Basis und erfolgreich geführt.<br />

Im Jahre 1911 fand der //. syndikalistische<br />

Kongreß statt, der bedeutend<br />

stärker als der erste war und auch die<br />

syndikalistischen Grundsätze weit klarer<br />

herausschälte. <strong>Die</strong> Beschlüsse, die auf<br />

diesem Kongreß gefaßt wurden, erstreckten<br />

sich auf ein weites prinzipielles und<br />

praktisches Gebiet. In diesem einen<br />

Jahre fanden allein 124 Streiks statt, von<br />

denen 48 nicht spontan ausbrachen, sondern<br />

bewußt organisiert waren. Das<br />

war im Vergleich zu den bisherigen<br />

Kämpfen schon ein großer Fortschritt.<br />

<strong>Die</strong> Bewegung ging auf dem einmal beschrittenen<br />

Pfade der direkten Aktion<br />

weiter und rief die junge bürgerliche<br />

Republik auf den Plan, die mit Verfolgungen<br />

gegen die revolutionär-syndikalistische<br />

Arbeiterbewegung einsetzte. Ein<br />

Streik der Landarbeiter im Jahre 1912<br />

mündete in einen Generalstreik aus, der<br />

zuerst in Lissabon einsetzte und sich dann<br />

rasch über eine Anzahl weiterer Industrie-<br />

Zentren verbreitete. In Lissabon allein<br />

wurden 800 Personen beiderlei Geschlechts<br />

verhaftet und die Bewegung<br />

scharf unterdrückt. Anderen Bewegungen<br />

ging es nicht besser. Im Jahre 1913<br />

wurden ebenfalls zahlreiche Kameraden<br />

9 Monate lang eingekerkert. In dieser<br />

Zeit berief die Arbeiterföderation Lissabons,<br />

die einen reformistischen Charakter<br />

trug, einen Kongreß nach Tomar fürs<br />

Jahr 1914 ein. Auf diesem Kongreß war<br />

die Mehrzahl der Gewerkschaften Portugals<br />

vertreten, auch diejenigen, die bisher<br />

abseits standen.<br />

Auf diesem Kongreß kam es zu einer<br />

Einigung zwischen den verschiedenen<br />

Strömungen. Man gründete eine Einheits-<br />

Organisation unter dem Namen Nationale<br />

Arbeiter-Union (für die deutschen Leser<br />

sei bemerkt, daß das Wort National<br />

nichts mit Nationalistisch zu tun hat; es<br />

bedeutet nur die Vereinigung aller Arheiter<br />

des ganzen Landes in einer einzigen<br />

Organisation), die jeder geistigen<br />

Richtung vollständige Unabhängigkeit gewährleistete.<br />

<strong>Die</strong> Ideen und die Aktion<br />

des revolutionären Syndikalismus gewannen<br />

jedoch immer mehr an Boden, so daß<br />

auf der Landeskonferenz im Jahre 1917<br />

die Ideen eines Pelloutier, Pouget, Grifhueles,<br />

Ivetot usw. anerkannt wurden.<br />

PORTUGAL<br />

Seit dieser Zeit ist die Arbeiterbewegung<br />

Portugals von den sozialdemokratischen<br />

Ideen befreit, und das Klassenbewußtsein<br />

der organisierten Arbeiter hat sich<br />

mit der direkten Aktion vertraut gemacht,<br />

dagegen die Ideen der Klassengemeinschaft<br />

mit der Bourgeoisie verworfen.<br />

Im Jahre 1918 kam es zu Streiks und<br />

Aufstandsbewegungen, die jedoch noch<br />

kein positives Ergebnis hatten. Ein Jahr<br />

darauf, im Jahre 1919, fand der konstituierende<br />

Kongreß des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes<br />

(C.G.T.) statt, der die Gesamtarbeiterschaft<br />

des Landes vereinigte.<br />

Der Name wurde umgeändert in den eben<br />

erwähnten, und die Grundsätze des revolutionären<br />

Syndikalismus wurden in den<br />

Statuten verankert. Wir geben einige<br />

Stellen aus den Statuten wieder:<br />

„Der Allgemeine Gewerkschaftsbund<br />

hat sich mit folgenden Zielen vor Augen<br />

gebildet: Alle Arbeiter des Landes auf<br />

einer föderativen und unabhängigen<br />

Grundlage zusammenzufassen zwecks Verteidigung<br />

ihrer wirtschaftlichen, sozialen<br />

und beruflichen Interessen und zur Besserstellung<br />

ihrer moralischen, materiellen und<br />

physischen Lage. — Abseits von allen<br />

politischen Schulen oder religiösen Lehren<br />

die Fähigkeiten des organisierten Arbeiters<br />

zu entwickeln, damit er imstande ist, den<br />

Kampf zu führen zur Beseitigung der<br />

Lohnherrschaft und des Unternehmertums<br />

und zur Besitzergreifung der Produktionsmittel.<br />

— Mit den gewerkschaftlichen Landesorganisationen<br />

der andern Länder<br />

engste Verbindung aufrechtzuerhalten<br />

zwecks Verwirklichung der gegenseitigen<br />

Hilfe und zur Befolgung eines Zieles, das<br />

die Arbeiter der ganzen Welt zur vollständigen<br />

Befreiung von der kapitalistischen<br />

Bevormundung führt, die sie unterdrückt<br />

und ausbeutet."<br />

Stellung der portugiesischen Arbeiter-<br />

Organisationen innerhalb der internationalen<br />

Arbeiterbewegung.<br />

Nach dem Verschwinden der I. <strong>Internationale</strong><br />

ist die portugiesische Arbeiterbewegung<br />

ohne internationale Verbindungen<br />

gewesen.<br />

<strong>Die</strong> Bildung des <strong>Internationale</strong>n Gewerkschaftsbundes<br />

(Amsterdam) hat auch<br />

die portugiesische Arbeiterorganisation<br />

beschäftigt und dazu geführt, daß ein<br />

Delegierter zum konstituierenden Kongreß<br />

des <strong>Internationale</strong>n Gewerkschaftsbundes,<br />

der im Jahre 1919 stattfand, gewählt<br />

wurde, dieser Delegierte kam jedoch<br />

nicht dazu, den Kongreß zu besuchen.


Im Jahre 1921 wurde wiederum ein<br />

Delegierter erwählt, der auf dem Gründungskongreß<br />

der Roten Gewerkschafts-<br />

<strong>Internationale</strong> teilnehmen und gleichzeitig<br />

die Verhältnisse des russischen Proletariats<br />

studieren sollte. Da dieser Delegierte jedoch<br />

nicht zur rechten Zeit abreiste,<br />

unterblieb die Reise. Das ersparte dem<br />

portugiesischen Gewerkschaftsbunde jedes<br />

Kompromiß. <strong>Die</strong> Lage in der internationalen<br />

Arbeiterbewegung, die die gesamte<br />

Arbeiterschaft aller Länder beschäftigte,<br />

ist uns nicht unbekannt geblieben. Wir<br />

kennen das gegenseitige Vertrauensverhältnis<br />

zwischen der R.G.I. und der Komintern,<br />

und als auf unserm Kongreß<br />

zu Covilha ein Antrag eingebracht wurde,<br />

die portugiesische C.G.T. möge sich der<br />

R.G.I. anschließen, wurde dieser Antrag<br />

abgelehnt. Zu dieser Zeit war man in<br />

Portugal bereits über die Arbeiten der<br />

internationalen Konferenz der revolutionären<br />

Syndikalisten in Berlin informiert,<br />

und man wußte, daß diese Konferenz die<br />

Unabhängigkeit der Arbeiterorganisationen<br />

von allen politischen Parteien, ganz gleich,<br />

welcher Art diese auch sein mögen, forderte.<br />

Und gerade diese Stellung nahm<br />

auch die C.G.T. Portugals seit 1914 ein.<br />

Aus diesem Grunde wurde auf dem Kongreß<br />

zu Covilha der Antrag des Genossen<br />

Clement Vieira dos Santos mit großer<br />

Mehrheit angenommen, der den Anschluß<br />

an das internationale Büro der revolutionären<br />

Syndikalisten vorschlug. In der<br />

Roten Gewerkschaftsinternationale dagegen<br />

sah der Kongreß eine Organisation,<br />

die an eine politische Partei gebunden<br />

ist und Bestrebungen vertritt, die<br />

den Grundsätzen des revolutionären Syndikalismus<br />

zuwiderlaufen.<br />

Seit diesem Kongreß zu Covilha begannen<br />

wieder Tendenzkämpfe einzusetzen,<br />

Kämpfe, die wir seit 1909 nicht<br />

mehr gekannt haben und die deshalb die<br />

Organisation auf dieses frühere Stadium<br />

zurückwarfen.<br />

Da der Kongreß zu Covilha seinen Anschluß<br />

nur an das <strong>Internationale</strong> Büro der<br />

revolutionären Syndikalisten vollzogen<br />

hatte, aus dem dann die I.A.A. hervorging,<br />

nahm die C.G.T. Portugals im Einverständnis<br />

mit den Beschlüssen ihres<br />

Kongresses von Covilha eine Urabstimmung<br />

unter ihren Mitgliedschaften über<br />

den Anschluß an die I.A.A. vor. Das<br />

Ergebnis war, daß sich die überwältigende<br />

Majorität für den Anschluß an die I.A.A.<br />

aussprach, wie bereits bekannt sein dürfte.<br />

Alsdann wurde auf allen Kongressen der<br />

PORTUGAL 151<br />

einzelnen Industrieföderationen die Frage<br />

der internationalen Orientierung behandelt,<br />

und auf allen diesen Kongressen,<br />

mit Ausnahme der Föderation der Seeleute,<br />

wurde der Anschluß an die I.A.A.<br />

mit absoluter Einstimmigkeit oder mit<br />

starker Majorität bestätigt.<br />

<strong>Die</strong> Argumente, die von den Anhängern<br />

der R.G.I. ins Feld geführt werden, die<br />

unaufhörlich die Grundsätze des revolutionären<br />

Syndikalismus bekämpfen, sind<br />

dieselben, wie in allen andern Ländern,<br />

deshalb ist es unnötig, dieselben hier zu<br />

wiederholen.<br />

Nach dem Kongreß von Covilha.<br />

<strong>Die</strong> Moskauer Anhänger setzten ihre<br />

Werbearbeit fort. Sic gerieten jedoch in<br />

einen fundamentalen Widerspruch. Auf<br />

der einen Seite sind sie mit den<br />

Grundsätzen und den Statuten der<br />

C.G.T. Portugals einverstanden, auf<br />

internationalem Gebiete aber verteidigen<br />

sie einen Standpunkt, der das gerade<br />

Gegenteil davon verkündigt.<br />

Zwar wurde ihr Standpunkt, wie bereits<br />

erwähnt, von der Majorität des Kongresses<br />

und der Mitgliedschaft verworfen,<br />

es besteht aber dennoch seit dieser Zeit<br />

eine geistige Spaltung zwischen den leitenden<br />

Genossen und also auch in den Mitgliedschaften<br />

selbst, da diese bisher gewohnt<br />

waren, innerhalb der Gesamtorganisation<br />

unter allen Genossen Einigkeit zu<br />

finden. Durch diesen geistigen Zwiespalt<br />

hat der Skeptizismus zum Teil Eingang<br />

in unserer Organisation gefunden.<br />

<strong>Die</strong> Anzahl der Gewerkschaften schmolz<br />

zusammen, bald aber entstanden wieder<br />

andere, und so wurde der Rückgang<br />

wieder wettgemacht, ein Beweis dafür,<br />

daß die Arbeiterschaft den Wert und die<br />

Notwendigkeit der wirtschaftlichen Organisation<br />

und des wirtschaftlichen<br />

Kampfes einsieht und begriffen hat. <strong>Die</strong><br />

Propaganda für die Ziele des Syndikalismus<br />

war aber in den letzten beiden Jahren<br />

stärker als in den vorhergehenden Jahren.<br />

In den letzten beiden Jahren haben<br />

7 Föderationskongresse von Industrieföderationen<br />

stattgefunden, die der C.G.T. angeschlossen<br />

sind. Außerdem hielt die<br />

C.G.T. selbst zwei Landeskonferenzen ab:<br />

1. eine Landeskonferenz der Gewerkschaftsunionen<br />

(Gewerkschaftskartelle)<br />

und 2. eine Landeskonferenz der gesamten<br />

Industrieföderationen. <strong>Die</strong>se Zusammenkünfte<br />

haben viel zur geistigen Klärung<br />

über die revolutionären Ziele sowie zur<br />

Stärkung des Klassenkampfgedankens beigetragen.


152 PORTUGAL<br />

Der organisatorische Aufbau der C.G.T.<br />

(Allgemeiner Gewerkschaftsbund).<br />

Nach diesem kurzen und bescheidenen<br />

Ueberblick über die Arbeiterbewegung<br />

in Portugal wollen wir kurz darlegen, wie<br />

unsere Organisation funktioniert:<br />

Der Allgemeine Gewerkschaftsbund<br />

(C.G.T.) setzt sich zusammen: aus den<br />

Industrieföderationen, den allgemeinen Int<br />

dustriegewerkschaften, den Unionen der<br />

örtlichen Gewerkschaften (Gewerkschaftskartelle)<br />

und aus Gewerkschaften, für die<br />

es noch keine Industrieföderationen gibt,<br />

und die an einem Orte isoliert sind oder<br />

wo es keine Unionen der örtlichen Gewerkschaften<br />

gibt, sowie aus Gewerkschaften,<br />

die zwar einer Föderation angehören,<br />

wo die Föderation selbst aber<br />

nicht an die C.G.T. angeschlossen ist und<br />

schließlich aus Gewerkschaften, die durch<br />

ihre Sonderstellung der Union der Gewerkschaften<br />

eines Ortes nicht beitreten<br />

können. Alle Konföderierten (angeschlossenen<br />

Gewerkschaften) haben die Be-<br />

Schlüsse, die von der Gesamtheit gefaßt<br />

werden, durchzuführen, sofern diese Beschlüsse<br />

sich mit den Zielen der C.G.T.<br />

im Einklang befinden, wobei jedoch das<br />

Prinzip beachtet werden muß, daß das Individuum<br />

unabhängig in seiner Gewerkschaft,<br />

die Gewerkschaft unabhängig in<br />

ihrer Industrieföderation und die Industrieföderation<br />

unabhängig in der C.G.T.<br />

bleibt.<br />

Sektionen.<br />

Der Gewerkschaftsbund (Confederaçao)<br />

zerfällt in zwei Sektionen: 1. <strong>Die</strong> Sektion<br />

der Indutrieföderationen und allgemeinen<br />

isolierten Gewerkschaften; 2. <strong>Die</strong> Sektion<br />

der Unionen der örtlichen Gewerkschaften.<br />

<strong>Die</strong> Landeskonferenz<br />

(Rat des Gewerkschaftsbundes).<br />

<strong>Die</strong> Landeskonferenz wird gebildet<br />

durch eine Versammlung der Delegierten<br />

der beiden Sektionen. Jede Organisation<br />

ist in ihrer respektiven Sektion durch<br />

zwei Delegierte vertreten: einen ordentlichen<br />

und einen Ersatzmann. Das Mandat<br />

des Delegierten ist jederzeit durch<br />

seine Organisation widerruflich, sobald<br />

ein motivierter Grund dazu vorliegt.<br />

Der Bundesausschuß<br />

(Konföderales Komitee).<br />

Der Gewerkschaftsbund (Konföderation)<br />

hat einen Bundesausschuß (konföderales<br />

Komitee), das aus 7 Mitgliedern besteht,<br />

denen die Verwaltungsarbeiten des Bun-<br />

des obliegen. <strong>Die</strong>ser Bundesausschuß entscheidet<br />

über dringende Fragen, die dann<br />

einer der Sektionen, die für die zur Behandlung<br />

stehenden Fragen in Betracht<br />

kommen oder auch, wenn es der Charakter<br />

der Fragen erfordert, der Landeskonferenz<br />

zur Bestätigung vorgelegt werden.<br />

Der Bundesausschuß hat ferner die Beschlüsse<br />

der Landeskonferenz auszuführen,<br />

wenn diese einen allgemeinen Charakter<br />

tragen, außer wenn eine besondere Kommission<br />

für besondere Fälle vom Bundesrat<br />

eingesetzt wird usw.<br />

Gegenwärtige Stärke der C.G.T.<br />

Zurzeit sind an die C.G.T. angeschlossen:<br />

18 Unionen der örtlichen Gewerkschaften,<br />

10 Industrieföderationen, 3 allgemeine<br />

Gewerkschaften und 8 einzelne<br />

Gewerkschaften. <strong>Die</strong>se Organisationen<br />

sind in der Landeskonferenz (Rat des Gewerkschaftsbundes)<br />

durch 48 Delegierte<br />

vertreten, die eine Mitgliedschaft von<br />

80 000 Mitgliedern repräsentieren. Davon<br />

sind jedoch nur gegen 35 000 Mitglieder<br />

als zahlende Mitglieder zu betrachten,<br />

ein Verhältnis, das seit Gründung der<br />

C.G.T ungefähr gleich blieb. Und da die<br />

größeren Gewerkschaften sich auf Grund<br />

der elenden wirtschaftlichen Lage des<br />

Landes in einer schwierigen finanziellen<br />

Lage befinden, wird dies auch nicht so<br />

leicht zu ändern sein.<br />

Propaganda.<br />

Wie bereits gesagt worden ist, hat<br />

Portugal keine Großindustrie, und die<br />

kleine Industrie, die im Lande vorhanden<br />

ist, befindet sich keineswegs in einem<br />

vollkommenen Zustande. Infolgedessen<br />

ist das Industrieproletariat nicht sehr<br />

zahlreich, und das Proletariat ist weit von<br />

der sozialen Bewegung und dem Geiste des<br />

Klassenkampfes entfernt. Oft ist es die<br />

freiheitliche Tradition des Volkes und das<br />

Temperament des Südländers, die das<br />

werktätige Volk ständig zu Kämpfen um<br />

die Verteidigung seiner Rechte und die<br />

Eroberung neuer Positionen führt.<br />

<strong>Die</strong>se Lage macht eine ständige Propaganda<br />

notwendig, die andauernd die<br />

Massen anfeuert. In den ersten Tagen des<br />

Kampfes nehmen die Massen voller Hingabe<br />

an dem Leben der Organisation teil,<br />

später aber, nach einigen Monaten etwa,<br />

verlassen sie die Reihen, die sie später,<br />

jedesmal wenn es sich um neue Kämpfe<br />

handelt, die sich ein bestimmtes Ziel<br />

stecken und von der Notwendigkeit diktiert<br />

sind, wieder füllen.


<strong>Die</strong>ser Stand der Dinge verpflichtet die<br />

Organisation dazu^ ständig Propagandisten<br />

auf der Tour zu halten. Im Jahre 1922<br />

sandte die C.G.T. mehr als 120 Propagandisten<br />

in die Provinzen des Landes, die<br />

mehr als 11000 Escudos kosteten. Im<br />

Jahre 1924 wurden 134 Agitatoren hinausgesandt,<br />

die der Organisation 16 000 Escudos<br />

kosteten. Außerdem machen die<br />

Industrieföderationen noch auf ihre eigenen<br />

Kosten Propaganda, und auch sie<br />

geben Tausende für diesen Zweck aus.<br />

<strong>Die</strong> Propaganda wird fast vollständig<br />

mündlich gemacht. Besonders in den<br />

letzten Jahren ist die schriftliche Propaganda<br />

durch Zeitungen und Bücher weniger<br />

angewandt worden. Dagegen ist in<br />

den Jahren 1909 bis 1916 die mündliche<br />

Propaganda von der schriftlichen Propaganda<br />

in weitem Maße unterstützt worden.<br />

Es wurden zahlreiche Broschüren<br />

teils von portugiesischen Verfassern, teils<br />

von ausländischen herausgegeben. Um<br />

einige Namen zu nennen, seien folgende<br />

erwähnt: Pouget, Fabri, Malatesta, Kropotkin,<br />

E. Reclus, Emilio Costa, Beno<br />

Vasco, Jose Prat, Ricardo Mella und andere.<br />

<strong>Die</strong>se Epoche war die ruhmvollste<br />

des revolutionären Syndikalismus in Portugal.<br />

In diese Zeit fällt auch die Gründung<br />

der Landarbeiterorganisation, die<br />

im späteren Verlauf sich außerordentlich<br />

rasch und machtvoll entwickelte.<br />

Kongresse im Jahre 1923.<br />

In diesem Jahre fand der Kongreß der<br />

Angestellten statt, auf dem 12 000 organisierte<br />

Angestellte vertreten waren, von<br />

denen etwa tausend dem Allgemeinen<br />

Gewerkschaftsbunde angeschlossen sind.<br />

Außerdem hatten die Lehrer ebenfalls<br />

einen Kongreß. <strong>Die</strong> Lehrer stehen jedoch<br />

der Arbeiterbewegung fremd gegenüber,<br />

und diejenigen, die dem Gewerkschaftsbund<br />

sympathisch gegenüberstehen, sind<br />

nicht sehr zahlreich.<br />

Kongresse im Jahre 1924.<br />

In diesem Jahre fanden die meisten<br />

Kongresse statt. Zunächst der Kongreß<br />

der Metallarbeiterföderation, auf welchem<br />

4000 Mitglieder durch 10 Lokalgewerkschaften<br />

vertreten waren. In der gesamten<br />

Metallindustrie Portugals sind etwa<br />

40 000 Arbeiter beschäftigt. <strong>Die</strong> wichtigsten<br />

Beschlüsse befaßten sich mit der<br />

Frauen- und Kinderarbeit in der Industrie,<br />

mit der Bildung von Industriegewerkschaften<br />

anstatt Berufsverbänden und<br />

mit der Schaffung von Betriebsräten (Fa-<br />

PORTUGAL 153<br />

brikkomitees). Dann fand der Kongreß<br />

der Bauarbeiterföderation statt, auf dem<br />

12 000 Mitglieder durch 26 Gewerkschaften<br />

vertreten waren. Im ganzen gibt es<br />

im Lande gegen 150 000 Bauarbeiter. Der<br />

Kongreß beschäftigte sich mit Ausarbeitung<br />

und Regelung der Solidarität sowie<br />

mit Vorbereitungen zu revolutionären<br />

Aktionen und anderen Fragen zweiter<br />

Ordnung. Im Oktober desselben Jahres<br />

fand der 3. Kongreß der Föderation der<br />

Seeleute statt, auf dem 15 000 Mitglieder<br />

durch 42 Gewerkschaften vertreten<br />

waren. Im ganzen gibt es gegen 40 000<br />

Seeleute im Lande. Der Kongreß beschäftigte<br />

sich mit Ausarbeitung beruflicher<br />

Fragen und der internationalen<br />

Situation. Im November fand der<br />

4. Kongreß der Korkarbeiterföderation<br />

statt, auf welchem die anwesenden Delegierten<br />

8000 Mitglieder vertraten, bei einer<br />

Gesamtarbeiterschaft in dieser Industrie<br />

von 14 000. Es wurden Thesen über die<br />

Entwicklung der Industrie und Maßnahmen<br />

zur Verteidigung der Arbeiter<br />

angenommen sowie die internationale<br />

Situation behandelt. In demselben Monat<br />

fand auch der Kongreß der Föderation<br />

der Leders und Häutearbeiter statt, auf<br />

dem 13 Gewerkschaften mit einer Mitgliedschaft<br />

von 8000 Arbeitern vertreten<br />

waren, bei einer Gesamtarbeiterschaft in<br />

dieser Industrie von 30 000. <strong>Die</strong>ser Kongreß<br />

beschäftigte sich neben Fragen des<br />

Berufes, der Arbeiterhygiene und der<br />

industriellen Entwicklung auch mit der<br />

Vorbereitung revolutionärer Aktionen.<br />

Zuletzt fand noch der Kongreß der<br />

Arbeiter in der Konservenindustrie statt,<br />

auf welchem die Föderation der Konservenarbeiter<br />

gegründet wurde. Es waren im<br />

ganzen 12 Gewerkschaften mit 5000 Mitgliedern<br />

vertreten. Im ganzen sind in<br />

dieser Industrie gegen 13 000 Arbeiter beschäftigt.<br />

Der Kongreß billigte die<br />

Föderationsstatuten sowie die Vorschläge<br />

über Arbeitszeit, Kampfsolidarität, Hygiene<br />

usw.<br />

<strong>Die</strong> Föderationskongresse sollen statutenmäßig<br />

jedes Jahr zusammentreten, die<br />

wirtschaftliche Lage und die damit verknüpften<br />

Schwierigkeiten ließen dies<br />

jedoch im Jahre 1923 nicht zu, so daß den<br />

im vergangenen Jahre abgehaltenen Kongressen<br />

eine wichtige Bedeutung zukommt.<br />

Einige Föderationen haben ihren Kongreß<br />

auch jetzt noch nicht abhalten können.<br />

Das war der Fall mit der Föderation der<br />

Landarbeiter, der Föderation der Möbeltischler,<br />

der Föderation der Buch- und


154 PORTUGAL<br />

Zeitungsindustrie und der Handelsangestellten,<br />

die alle der C.G.T. angeschlossen<br />

sind.<br />

Außerdem zeigen die in den Jahren 1923<br />

und 1924 abgehaltenen Kongresse, daß die<br />

Zahl der dortselbst vertretenen Arbeiter<br />

nur 18 % der in den Industrien beschäftigten<br />

Arbeiter ausmacht, während die Zahl<br />

der organisierten Arbeiter Portugals 9%<br />

nicht übersteigt.<br />

Im Januar 1924 fand auf Initiative der<br />

C.G.T. eine Landeskonferenz der Sekretäre<br />

der Unionen der Gewerkschaften statt;<br />

auf dieser Konferenz wurden die Statuten<br />

für die Unionen bestätigt. Ende April<br />

fand eine Landeskonferenz der Föderationsleitungen<br />

statt, wo man die Arbeiten<br />

ins Auge faßte, die zur Vervollkommnung<br />

der Industrie und der Produktionsmöglichkeiten<br />

im allgemeinen in Betracht<br />

kommen. Alle diese Arbeiten tragen einen<br />

vorbereitenden Charakter, sie sollen<br />

die Arbeiter mit dem Gedanken vertraut<br />

machen, die Industrie und Produktion<br />

einmal selbst zu übernehmen. Außerdem<br />

traten noch die Union der Gewerkschaften<br />

Lissabons und andere Körperschaften<br />

der Gewerkschaften in Lissabon<br />

zu wichtigen Besprechungen und Beratungen<br />

zusammen.<br />

Solidarität.<br />

Vor dem Kongreß zu Covilha wurden<br />

die eingekerkerten oder verfolgten Kameraden<br />

von besonderen Gruppen unterstützt,<br />

die sich zu diesem Zwecke bildeten.<br />

<strong>Die</strong>se Solidarität war jedoch etwas<br />

Ungewisses und brachte ein Nachlassen der<br />

Solidaritätsbetätigung mit sich. Aus diesem<br />

Grunde beschäftigte sich der Kongreß in<br />

Covilha damit und beschloß, die Solidarität<br />

durch die C.G.T. selbst zu regeln.<br />

Nach diesem Beschluß hatte jedes Mitglied<br />

der ganzen C.G.T. 6 Centavos zu entrichten.<br />

Das ergab in den Jahren 1923<br />

und 1924 die Summe von 100000 Escudos,<br />

eine beachtliche Summe, die voll und ganz<br />

für Unterstützung der Gefangenen und<br />

Verfolgen des eigenen Landes sowie auch<br />

ausländischer Kameraden, insbesondere<br />

spanischer, verwendet wurde. Auch deutsche<br />

und Österreichische Kameraden wurden<br />

dieser Solidarität teilhaftig, die freilich<br />

nicht sehr bedeutend war, da die<br />

Identität der Kameraden nicht immer einwandfrei<br />

festgestellt werden konnte.<br />

Soziale Bewegung.<br />

Auf die Besetzung des Ruhrgebietes<br />

antwortete die C.G.T. Portugals mit einer<br />

erhöhten Agitation, die in ihrer Tageszeitung<br />

„A Batalha" in einer antimilitaristischen<br />

Kampagne zum Ausdruck kam. <strong>Die</strong><br />

C.G.T. interessierte sich ebenfalls für die<br />

deutschen unterernährten Kinder und für<br />

die russische Hungerkatastrophe. <strong>Die</strong><br />

Diktatur Primo de Riveras wird in Wort<br />

und Schrift scharf angegriffen. In den Gewerkschafen<br />

wie auch außerhalb derselben<br />

verfolgen wir unsere Aktion zugunsten<br />

unserer spanischen und italienischen Kameraden.<br />

Wir protestierten gegen die<br />

Verfolgungen von Sacco und Vanzetti und<br />

aller anderen Opfer der Reaktion in allen<br />

Ländern.<br />

In Anbetracht der sozialen Lage des<br />

Landes haben wir versucht, einer noch<br />

schlimmeren Situation vorzubeugen. Wir<br />

bekämpften alle Politikanten und es gelang<br />

uns auch, die diktatorischen Gelüste einer<br />

Clique zunichte zu machen. Wer unsere<br />

Presse beobachtet, wird konstatieren können,<br />

daß wir mit Beharrlichkeit kämpften,<br />

ohne jedoch dabei die Fundamentalprinzipien<br />

des Syndikalismus aufzugeben. <strong>Die</strong><br />

Gefahr einer Diktatur durch die reaktionären<br />

Kräfte des Landes ist auch heute<br />

noch nicht gebannt. Das liberale Bürgertum<br />

verliert von Tag zu Tag an Boden, so<br />

daß gesagt werden kann, daß die Arbeiterschaft<br />

die einzige revolutionäre Kraft<br />

ist, die den Kampf gegen die reaktionären<br />

Mächte aufnehmen kann. Es ist nicht<br />

leicht, vorauszusehen, wie dieser Kampf<br />

enden wird, wie dem aber auch sei, die<br />

Existenz der revolutionären Arbeiterbewegung<br />

verpflichtet sie, den ausbeuterischen<br />

Kapitalismus rücksichtslos zu bekämpfen.<br />

Und um diese Mission niemals<br />

zu verraten, kämpfen wir bis zum Siege. . .<br />

Der Sieg" liegt in der Zukunft, und die<br />

Zukunft gehört uns!<br />

Lissabon, im März 1925.<br />

Der Delegierte der portugiesischen C.G.T.<br />

auf dem II. Kongreß der I.A.A.<br />

Silva do Campos.


SCHWEDEN 155<br />

Bericht der Syndikalistischen Jugend Portugals.<br />

Liebe Kameraden!<br />

<strong>Die</strong> prekäre finanzielle Lage der Föderation<br />

junger Syndikalisten Portugals verhindert<br />

uns, einen Delegierten zum<br />

II. Kongreß zu senden, wie es unser<br />

Wunsch ist. Wir wollen es aber nicht<br />

unterlassen, Euch unseren moralischen<br />

Anschluß dieser wichtigen Tagung mitzuteilen,<br />

und wir senden Euch unsere herzlichsten<br />

Grüße sowie gleichzeitig einen zusammengefaßten<br />

Bericht unserer Organisation.<br />

Zurzeit hat die Föderation junger Syns<br />

dikalisten Portugals 2500 Mitglieder, die<br />

sich auf 22 Ortsgruppen verteilen. <strong>Die</strong>se<br />

Zahl wird jedoch bald größer werden, da<br />

sich einige Organisationen der jungen<br />

Syndikalisten noch im Werden befinden.<br />

<strong>Die</strong> jungen Syndikalisten Portugals haben<br />

eine unverhüllt freiheitliche Tendenz.<br />

Zwischen der Organisation der Jungen<br />

und den syndikalistischen Gewerkschafts-<br />

Organisationen bestehen die herzlichsten<br />

Beziehungen.<br />

In kurzer Zeit wird der II. Kongreß der<br />

syndikalistischen Jugend stattfinden, auf<br />

dem auch unter anderen Fragen die internationalen<br />

Beziehungen diskutiert werden.<br />

Es ist unsere Absicht, mit der syndikalistischen<br />

Jugend der ganzen Welt in Verbindung<br />

zu treten, um unter anderem auch<br />

den Versuch zu unternehmen, einen internationalen<br />

Kongreß der syndikalistischen<br />

Jugend abzuhalten- Auf diesem Kongreß<br />

sollte neben der Entfaltung der internationalen<br />

Propaganda auch die Gründung<br />

einer Syndikalistischen Jugendinternatio-<br />

nale ins Auge gefaßt werden. Wie gesagt,<br />

wird unser Kongreß, der im August dieses<br />

Jahres stattfindet, sich mit dieser Frage<br />

befassen.<br />

<strong>Die</strong> I.A.A. hat uns in einem Schreiben<br />

mitgeteilt, daß diese Frage auch auf dem<br />

II. Kongreß der I.A.A. diskutiert werden<br />

wird, was uns zur besonderen Freude gereicht.<br />

Wir setzen in die Beschlüsse des<br />

Kongresses unser volles Vertrauen, und<br />

Ihr könnt im voraus auf unsere Einstimmung<br />

rechnen, sofern unsere einzige Bedingung<br />

erfüllt wird und diese ist: <strong>Die</strong><br />

Syndikalistische Jugendinternationale muß<br />

absolut dezentralistisch und antiautoritär<br />

sein.<br />

Indem wir hiermit unsere Meinung und<br />

unser Wollen ausgedrückt haben, wollen<br />

wir noch bemerken, daß der Grund, weshalb<br />

wir keinen eingehenderen Bericht<br />

geben können, darin liegt, daß wir erst<br />

vor kurzem unser Lokal bezogen haben<br />

und die Rückkehr unserer Delegierten erwarten,<br />

der sich auf einer Propagandareise,<br />

die sich über das ganze Land erstreckt,<br />

befindet. Nach seinem Berichte<br />

werden wir dann einen vollständigen Bericht<br />

ausarbeiten und denselben unverzüglich<br />

der I.A.A. senden, um Euch eine Vorstellung<br />

von der syndikalistischen Jugend<br />

Portugals zu geben.<br />

Mit revolutionärssyndikalistischem Gruß<br />

Manuel Vieges Carravealao<br />

Vorsitzender.<br />

Antonio Suso<br />

Sekretär für internationale Beziehungen.<br />

SCHWEDEN<br />

Bericht der Zentralorganisation der schwedischen Arbeiter zum II. Kongreß der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter-Assoziation.<br />

Seit dem letzten Berichte, der von<br />

unserer Organisation zur Konferenz in<br />

Innsbruck, im Dezember 1923, gegeben<br />

wurde, haben besonders nennenswerte<br />

Kämpfe nicht stattgefunden. Auf „beiden<br />

Seiten der Barrikaden" ist verhältnismäßig<br />

Ruhe. <strong>Die</strong> Depression der<br />

Nachkriegszeit ist noch nicht ganz überwunden,<br />

die Verhältnisse nähern sich<br />

aber dennoch dem Normalen. Eine revolutionäre<br />

Lage war und ist nicht vorhanden.<br />

Immerhin ist die Arbeitslosig-<br />

keit insbesondere unter unserer Mitgliedschaft<br />

groß, wenn sie auch schon in<br />

letzter Zeit gesunken ist. <strong>Die</strong> Kämpfe,<br />

die unsere Organisation am meisten in<br />

Mitleidenschaft gezogen haben, sind bei<br />

den Waldarbeitern und den Eisenbahnbauarbeitern<br />

geführt worden.<br />

Angriffe der reformistischen<br />

Gewerkschaften.<br />

Ernster war der Kampf, den unsere<br />

Organisation auszufechten hatte mit den


156 SCHWEDEN<br />

reformistischen Gewerkschaften, die anfangs<br />

1924 eine starke Offensive gegen<br />

den Syndikalismus begannen. Sowohl<br />

unsere Organisation (S.A.C.) als auch<br />

der Syndikalismus überhaupt sollten vernichtet<br />

werden. Man stellte den Syndikalisten<br />

das Ultimatum, entweder den<br />

reformistischen Gewerkschaftsorganisationen<br />

beizutreten oder ihre Arbeit zu<br />

verlieren. Den Syndikalisten wurde jede<br />

Möglichkeit, Arbeit zu erhalten, unterbunden,<br />

und es kam sogar vor, daß die<br />

reformistischen Gewerkschaften Streik erklärten,<br />

um die Mitglieder syndikalistischer<br />

Organisationen zu zwingen, die Arbeit<br />

niederzulegen, wenn sie sich weigerten,<br />

den reformistischen Organisationen<br />

beizutreten. Dadurch entstanden viele<br />

erbitterte Konflikte. Der reformistische<br />

Zentralgewerkschaftsbund stachelte die<br />

einzelnen Verbände zum Kampf auf und<br />

die Führer taten, was in ihrer Macht<br />

stand. Es muß jedoch anerkannt werden,<br />

daß die Mitglieder in den reformistischen<br />

Gewerkschaften nicht dieselbe Feindschaft<br />

an den Tag legten, und an vielen Orten<br />

sprachen sie sich in Beschlüssen gegen<br />

die Taktik ihrer Führer aus. Jetzt ist der<br />

reformistische Angriff abgeebbt. Weder<br />

der Syndikalismus noch unsere S.A.C.<br />

gingen zugrunde. Unsere Organisation<br />

hat nicht nur ihre Stellung behauptet,<br />

sondern außerdem an Mitgliedern zugenommen,<br />

dank der Gegenoffensive, die in<br />

Form einer syndikalistischen Propagandakampagne<br />

vorgenommen wurde.<br />

Mitgliederzahl.<br />

<strong>Die</strong> Zahl unserer Mitglieder betrug<br />

am 1. Oktober 1924: 37 500 gegen 33 000<br />

am 1. Oktober 1923. Wir hatten also einen<br />

Zuwachs von 3500 Mitgliedern. Im Laufe<br />

des Jahres meldeten sich allerdings 11 000<br />

neue Mitglieder an, durch eine umfassende<br />

Arbeitslosigkeit ist aber ein großer Verlust<br />

eingetreten, so daß der tatsächliche<br />

Zuwachs nicht mehr als oben angegeben<br />

ist.<br />

Agitation.<br />

<strong>Die</strong> mündliche Propaganda wurde durch<br />

eine große Anzahl Propagandatouren in<br />

allen Teilen des Landes betrieben. — Im<br />

Jahre 1924 wurden zwei Gratisbroschüren<br />

herausgegeben, eine sechzehnseitige gegen<br />

Krieg und Militarismus und eine vierundzwanzigseitige<br />

über die syndikalistische<br />

Organisation. Beide wurden zu je 200 000<br />

Exemplaren im ganzen Lande verbreitet.<br />

Im ganzen wurden 120 000 Kronen für<br />

Propaganda ausgegeben.<br />

<strong>Internationale</strong> Solidarität.<br />

Auf Ersuchen der I.A.A. wurde im<br />

Jahre 1924 die Summe von 10 000 Kronen<br />

zur Hilfe der Kinder der deutschen Kameraden<br />

gesammelt, 2000 Kronen wurden<br />

aus unserer Kasse zur Hilfe der italienischen<br />

Kameraden entnommen und diesen<br />

überwiesen- Ein Gesuch der I.A.A., die<br />

Propagandamarken der I.A.A. zum 1. Mai<br />

zu verkaufen, hatte das Ergebnis, daß wir<br />

den Beschluß faßten, ein Drittel des Reinertrages<br />

der Maimarken an die I.A.A. abzugeben,<br />

die unsere Organisation nach<br />

alter Tradition alljährlich verkauft. <strong>Die</strong>s<br />

brachte für die I.A.A. die Summe von<br />

430 Kronen ein. Außerdem wurden bei<br />

verschiedenen Gelegenheiten noch 550<br />

Kronen für internationale Hilfe ausbezahlt,<br />

so daß insgesamt 13 000 Kronen<br />

für internationale Solidarität verausgabt<br />

wurden.<br />

<strong>Die</strong> Aufforderung, die Erzeugnisse aus<br />

Kalifornien zu boykottieren, hat noch<br />

nicht befolgt werden können. Unsere<br />

S.A.C. suchte die übrigen Arbeiterorganisationen<br />

für einen Boykott zu gewinnen,<br />

das Ergebnis war aber bisher noch nicht<br />

zufriedenstellend. An unsere eigenen<br />

Ortsgruppen wurde ein Rundschreiben<br />

gesandt, um ausfindig zu machen, in<br />

welchem Maße unsere Organisation allein<br />

einen Boykott durchführen könne. Wir<br />

sind der Meinung, man sollte keinen Boykott<br />

verhängen, wenn man nicht die Aussicht<br />

hat, daß derselbe auch wirksam werden<br />

wird. Wir arbeiten jedoch in dieser<br />

Richtung weiter und hoffen, in naher Zukunft<br />

zu einem Ergebnis zu kommen.<br />

Der Bolschewismus.<br />

Unsere Organisation ist im großen und<br />

ganzen von den inneren Reibungen verschont<br />

geblieben, die der Bolschewismus<br />

sonst mit seiner „Einigungsarbeit" hervorgerufen<br />

hat. <strong>Die</strong> fruchtlosen Anstrengungen<br />

der Bolschewisten sind in der<br />

Regel von uns ignoriert worden. In zwei<br />

Fällen hat man jedoch eingreifen müssen.<br />

Es handelte sich um zwei kommunistische<br />

Redakteure in Nordschweden, denen Protokollfälschung<br />

und Intrigen nachgewiesen<br />

werden konnten, die sie mit der Absicht<br />

unternahmen, die Organisation unter das<br />

Joch Moskaus zu bringen. Trotz aller<br />

Toleranz war man doch der Meinung, dies<br />

nicht dulden zu können. Beide Redakteure<br />

wurden von der lokalen Organisation<br />

ausgeschlossen, und der Ausschluß<br />

wurde von der Distriktskonferenz bestätigt<br />

<strong>Die</strong> S.A.C. ist nicht gewillt, die


syndikalistische Bewegung in Schweden<br />

durch die Moskauer Herren sabotieren zu<br />

lassen.<br />

Hier muß eine andere charakteristische<br />

Episode erwähnt werden. <strong>Die</strong> bolschewistische<br />

Partei spaltete sich in zwei Hälften.<br />

Eines Nachts besetzten etwa 50 Mitglieder<br />

der moskautreuen Richtung Redaktion<br />

und Druckerei des Hauptorgans in Stockholm<br />

und warfen das oppositionelle Redaktionspersonal<br />

hinaus. <strong>Die</strong>se Richtung,<br />

die eine eigene „kommunistische Partei"<br />

bildete, war jetzt ohne Organ. Wir betrachteten<br />

diese Handlung als ein Verbrechen<br />

gegen das Recht der freien Meinungsäußerung<br />

und gaben den Kommunisten<br />

eine Lehre, wie das freie Wort respektiert<br />

werden müsse. Wir sagten zu<br />

beiden kommunistischen Richtungen: Wir<br />

wissen, daß ihr beide Feinde des Syndikalismus<br />

seid, im Namen der freien Meinungsäußerung<br />

überlassen wir eine Seite<br />

unserer Tageszeitung dem Teile, der mit<br />

Gewalt zum Schweigen gezwungen wurde,<br />

bis er ein eigenes Organ hat. Während<br />

einer Woche überließ „Arbetaren" eine<br />

Seite. So traten wir gegen unsere Feinde<br />

mit geistiger Ueberlegenheit auf.<br />

Unsere Presse.<br />

<strong>Die</strong> S.A.C. gibt ständig ihre Tageszeitung<br />

„Arbetaren" heraus, deren Lage<br />

sich nun stabilisiert. Während die Unterbilanz<br />

7923 bis 116 000 Kronen betrug,<br />

ist sie 1924 nur 100 000 Kronen. <strong>Die</strong><br />

Grundauflage hat sich von 10 000 auf<br />

12 000 Exemplare erhöht- Bei besonderen<br />

Gelegenheiten kann sie auf 20 000 steigen.<br />

Außerdem geben zwei Industrieföderationen<br />

eigene Organe heraus: „Der Holzindustriearbeiter"<br />

mit einer Auflage von<br />

6000 und der „Bauindustriearbeiter" in<br />

einer Auflage von 4000 Exemplaren.<br />

Eine neue Zeitung wird in Nordschweden<br />

herausgegeben werden, da die kommunistische<br />

Presse eine allzu vorherrschende<br />

Stellung dortselbst einnimmt.<br />

Zunächst soll diese Zeitung zweimal<br />

wöchentlich erscheinen, alles ist zur Herausgäbe<br />

bereit, es muß jedoch noch ein<br />

Beschluß hierüber von unserem Kongreß<br />

gefaßt werden; der Kongreß findet im<br />

Mai d. J. statt. Aehnliche Organe werden<br />

in verschiedenen anderen Teilen des Landes<br />

vorbereitet, und einige davon werden<br />

bereits in diesem Jahre herausgegeben<br />

werden.<br />

Studientätigkeit.<br />

Um den Horizont der Mitglieder zu erweitern<br />

und ihre Geistestätigkeit zu entwickeln,<br />

sucht man innerhalb der S.A.C.<br />

SCHWEDEN 157<br />

Studienzirkel zu bilden für die Verbreitung<br />

von Kenntnissen über die syndikalistische<br />

Ideologie und Bewegung, über<br />

Gesellschaftslehre und allgemeine Bildungsstoffe.<br />

1923 wurden 53 solcher Studienzirkel<br />

gebildet. Für das Jahr 1924<br />

liegen die Zahlen noch nicht vor.<br />

Das „Register".<br />

Es handelt sich hier um ein Kampfesmittel,<br />

das unter dem Namen „Register"<br />

von unserer Organisation in großem Ausmaße<br />

angewendet wird. Es ist ein Mittel<br />

zur Kontrolle von Arbeitszufuhr, wonach<br />

niemand eine Arbeit unter den von der<br />

lokalen Organisation festgesetzten Löhnen<br />

annimmt. Dadurch hat man in großem<br />

Maße die Löhne steigern können. Ueber<br />

dieses Kampfesmittel wird ein besonderer<br />

Bericht ausgearbeitet und der l.A.A. zugestellt<br />

werden, zur Veröffentlichung in<br />

dem Organ der I.A.A.<br />

Einige Zahlen.<br />

Im Jahre 7924 wurden 265 000 Kronen<br />

für Kampfessolidarität aus einer Kampfeskasse<br />

ausbezahlt, die von den lokalen Organisationen<br />

freiwillig aufrechterhalten<br />

wurde. Es wurde jedoch durch Urabstimmung<br />

beschlossen, ab 1. Juli 1924<br />

diese Kampfeskasse obligatorisch einzuführen.<br />

Für die Agitation wurden 120 000 Kr.<br />

ausgegeben, für die Studientätigkeit 2500<br />

Kronen, zur Bekämpfung der Offensive<br />

der reformistischen Gewerkschaften gegen<br />

unsere Organisation 10 000 Kronen, für<br />

Prozeßkosten für Kameraden, die mit der<br />

bürgerlichen „Gerechtigkeit" in Konflikt<br />

gerieten, 6000 Kronen.<br />

<strong>Die</strong> Einnahmen und Ausgaben der Zeitung<br />

„Arbetaren" balancieren mit 515 000<br />

Kronen für das Jahr 1924. <strong>Die</strong> eigene<br />

Druckerei unserer Organisation hatte<br />

einen Umsatz von 429 000 Kronen, der<br />

Buchverlag unserer Organisation balancierte<br />

mit einer Summe von 76 000 Kronen.<br />

Bei der Redaktion und Expedition der<br />

Zeitung sind angestellt 24 Personen, bei<br />

der Druckerei 29, im Buchverlag 2, im<br />

<strong>Die</strong>nste der Hauptorganisation und der<br />

Industrieföderationen zusammen 9 Personen.<br />

Außerdem befinden sich an etwa<br />

70 Orten angestellte Expedienten, die<br />

teils von der Zeitung und teils von der<br />

Lokalorganisation des Ortes freigestellt<br />

sind.<br />

Stockholm, im Februar 1925-<br />

Für die Zentralorganisation<br />

der schwedischen Arbeiter:<br />

Albert Jensen.


158 SPANIEN<br />

SPANIEN<br />

Bericht zum II. Kongreß der I.A.A. über die Lage in Spanien.<br />

Confederacion Nacional del Trabajo.<br />

Bei Ausbruch des Weltkrieges befand<br />

sich Spanien in einer eigenartigen Situation.<br />

Während vorher Spanien stets importiert<br />

hatte, wurde es jetzt zu einem<br />

Exportlande. Eine Periode der Prosperität<br />

setzte ein. Es gab nicht genug Arme<br />

zum Schaffen. <strong>Die</strong> industrielle Produktion<br />

dehnte sich in einem bisher noch nicht<br />

dagewesenen Maße aus. <strong>Die</strong> Arbeiterschaft<br />

zog daraus Nutzen und trat in den<br />

Kampf für höhere Löhne und größere<br />

Rechte. Es kam zu Konflikten zwischen<br />

Unternehmern und Arbeitern, die immer<br />

nur kurze Zeit andauerten und für die<br />

Arbeiterschaft günstig endeten.<br />

<strong>Die</strong>se Tätigkeit war zurückzuführen<br />

auf das energische Eingreifen der revolutionären<br />

Minoritäten innerhalb der<br />

Arbeiterbewegung. <strong>Die</strong> anarchistischen<br />

Gruppen und die klassenbewußten Syndikalisten<br />

entfalteten eine außergewöhnliche<br />

Tätigkeit, insbesondere in Katalonien, wo<br />

stets der Mittelpunkt gewesen ist, in dem<br />

sich die bedeutendsten Kämpfe abspielten.<br />

An einem einzigen Abend wurden allein<br />

Barcelona 40 Propagandaversammlungen<br />

abgehalten, und jede von ihnen war sehr<br />

zahlreich besucht.<br />

<strong>Die</strong> gewerkschaftlichen Organisationen<br />

wurden immer stärker. Ihre Kampfestätigkeit<br />

nahm von Tag zu Tag zu. Tagtäglich<br />

zeigten sich Manifestationen, die<br />

von einem revolutionären Geiste zeugten.<br />

Das Klassenbewußtsein der Arbeiterschaft<br />

nahm zu. <strong>Die</strong> revolutionären Elemente<br />

verstanden es, den Arbeitern klarzumachen,<br />

daß sie bei Anwendung derselben<br />

Begeisterung und durch ein wenig größere<br />

Anspannung ihre Befreiung ebenso leicht<br />

erringen könnten wie einige Wirtschaftliche<br />

und moralische Verbesserungen,<br />

wenn sie nur von dem rechten Wollen<br />

beseelt seien. Man machte es den Arbeitern<br />

klar, daß die einzige wahre positive<br />

und wirkliche Errungenschaft in der<br />

Abschaffung der Lohnherrschaft bestünde.<br />

<strong>Die</strong>se tägliche Propaganda und die Umstände,<br />

unter welchen sie geführt wurde,<br />

erzeugten im Laufe von zwei Jahren vollständig<br />

revolutionäre Bestrebungen. <strong>Die</strong><br />

revolutionären Organisationen sahen, daß<br />

der Augenblick für sie günstig ist, und<br />

wollten daraus Nutzen ziehen. Sie stellten<br />

ein Einverständnis her mit der reformistischen<br />

Gewerkschaftsorganisation des<br />

Landes (U.G.T., Union General del Trabajadores,<br />

Allgemeine Arbeiter-Union)<br />

und diese zeigte sich damals geneigt, an<br />

einer allgemeinen Bewegung teilzunehmen.<br />

Es würde zu weit führen, die Gründe darzulegen,<br />

die die revolutionäre Organisation<br />

der C.N.T. veranlaßte, mit den Reformisten<br />

zusammenzugehen.<br />

Um diese Zeit kam es zu dem Versuche<br />

von 1917, der zu einer Niederlage führte<br />

auf Grund des feigen Verhaltens von<br />

einigen Individuen der sozialistischen<br />

Partei, der die U.G.T. ständig unterworfen<br />

war.<br />

Nachdem diese Bewegung niedergeschlagen<br />

wurde, setzte eine furchtbare<br />

wilde Reaktion ein, die mitleidlos die Arbeiterorganisationen<br />

und die tätigen Revolutionäre<br />

traf. <strong>Die</strong>ser würdelose Kreuzzug<br />

gegen den revolutionären Geist, der<br />

das spanische Proletariat belebte, war der<br />

Anfang der großen Offensive, deren letzte<br />

Etappe der Putsch vom 13. Sept. 1923 war,<br />

der Primo de Rivera zur Macht brachte.<br />

Man suchte mit allen Mitteln die Arbeiterorganisationen<br />

vollständig zu zerstören.<br />

<strong>Die</strong> Behörden stellten die Arbeiterorganisationen<br />

außerhalb des Gesetzes<br />

und glaubten, auf diese Weise die Gefahr<br />

zu beschwören, die der Stabilität der<br />

heutigen sozialen Ordnung durch diese<br />

Organisationen drohte. Das glückte jedoch<br />

nicht, sondern die Willkür, denen<br />

die Organisationen unterworfen waren,<br />

verstärkte den Geist, den man zu erlöschen<br />

hoffte. Das Verhalten der Herrschenden,<br />

die es nicht verhindern konnten,<br />

daß die Gewerkschaften im geheimen<br />

weiterfunktionierten, erhöhte die Gefühle<br />

des Hasses und der Rache. <strong>Die</strong> Verfolgungen<br />

hatten nicht das Ergebnis, das<br />

man in der Regierung davon erhoffte. Im<br />

Gegenteil, sie begünstigten das schnelle<br />

Aufblühen des revolutionären Geistes.<br />

An dem Tage, als der revolutionäre Versuch<br />

von 1917 niedergeschlagen war,<br />

wurde die Regierung in Spanien von der<br />

Militärkamarilla ausgeübt.<br />

Nach einem Jahre verhältnismäßiger<br />

Ruhe hatte unsere Organisation sich vollständig<br />

erholt. Es entstanden aufs neue<br />

kleine Konflikte, die zwar ohne größere<br />

Bedeutung waren, aber immer häufiger<br />

auftraten. Unter diesen Kämpfen ist ein


Kampf besonders hervorzuheben, der bekannt<br />

ist unter dem „Konflikt Canadiense".<br />

Canadiense ist der Name des<br />

Elektrizitätswerkes von Barcelona. <strong>Die</strong>ser<br />

Kampf ist eine der schönsten Seiten in<br />

der Geschichte des Klassenkampfes, den<br />

das spanische Proletariat gegen die Bourgeoisie<br />

und die Staatsmacht führt. <strong>Die</strong><br />

Willkür, der vier Arbeiter zum Opfer<br />

fielen, gab Anlaß zur proletarischen Mobilisierung,<br />

wie sie noch niemals besser sowohl<br />

in Spanien als auch anderswo gesehen<br />

worden ist.<br />

Es kam nicht gleich zu einem Generalstreik,<br />

die Gewerkschaften Barcelonas,<br />

unter der Leitung der C.N.T., erklärten<br />

aber, wenn innerhalb 24 Stunden ihre Forderungen<br />

nicht erfüllt seien, dann würde<br />

die Gewerkschaft in der Nahrungsmittelindustrie<br />

zu einem Teile die Arbeit verlassen.<br />

<strong>Die</strong> Forderungen der Arbeiter<br />

wurden nicht erfüllt, und Barcelona war<br />

ohne Milch, ohne Brot usw. <strong>Die</strong> Transportarbeiter-Gewerkschaft<br />

erklärte den<br />

Solidaritätsstreik, und die Stadt war ohne<br />

Fleisch, ohne Gemüse, ohne Fische, kurz<br />

ohne irgendwelche Lebensmittel, während<br />

sich im Hafen die Waren zu Tausenden<br />

von Tonnen aufstauten.<br />

Wie bereits gesagt, waren die Militärs<br />

die Regierenden, und sie glaubten, die<br />

Ordnung wiederherstellen zu können, indem<br />

sie ein „Exempel statuierten", die<br />

Aufhebung der konstitutionellen Garantien<br />

erschien ihnen ungenügend, und sie erklärten<br />

den Belagerungszustand. <strong>Die</strong> Gewerkschaft<br />

des graphischen Gewerbes<br />

verhängte sofort die rote Zensur. <strong>Die</strong><br />

höchsten Militärbehörden konnten ihren<br />

Erlaß, in welchem sie den Kriegszustand<br />

erklärten, überhaupt nicht veröffentlichen.<br />

<strong>Die</strong> Zeitungen, ohne Unterschied der politischen<br />

Richtung, waren von den graphischen<br />

Gewerkschaften der Zensur unterworfen,<br />

und diese verboten die Veröffentlichung<br />

irgendwelcher Erlasse, die von den<br />

Militärbehörden kamen. Der höchstkommandierende<br />

General berief die Herausgeber<br />

der Zeitungen zu sich und bedrohte<br />

sie mit schweren Sanktionen, wenn sie<br />

nicht sofort seine Order befolgten. Das<br />

nutzte jedoch nichts, denn die Arbeiter-<br />

Organisationen gaben nicht nach.<br />

Dazu kam noch der Streik der städtischen<br />

Arbeiter. <strong>Die</strong> Stadt Barcelona, über<br />

die der Belagerungszustand verhängt war,<br />

war ohne Wasser, ohne Straßenbahn,<br />

ohne Elektrizität, ohne Licht. <strong>Die</strong> Arbeiter<br />

wurden militärisch mobilisiert, aber<br />

auch dies war nutzlos. Im Laufe von<br />

SPANIEN 159<br />

36 Stunden weigerten sich sämtliche mobilisierten<br />

Arbeiter, irgendeine Arbeit zu<br />

verrichten. Kein Arbeiter gehorchte den<br />

Befehlen der militärischen Machthaber.<br />

Mehr als 1500 Arbeiter wurden in die<br />

Festung Montjuich eingesperrt. Nachdem<br />

die Militärs sich darüber klar wurden,<br />

daß sie durch den Belagerungszustand<br />

eine Niederlage erlitten hatten, nachdem<br />

es sich herausstellte, daß es nicht möglich<br />

war, durch einige hundert Soldaten das<br />

öffentliche Leben aufrechtzuerhalten und<br />

da tagtäglich in den Kasernen disziplinwidrige<br />

Handlungen vorkamen, beschloß<br />

die Regierung, das Elektrizitätswerk „Canadiense"<br />

zu besetzen. Das gab Anstoß<br />

zu einer weiteren Verschärfung des Konfliktes.<br />

<strong>Die</strong> Regierung, die bereits Herr des<br />

Elektrizitätswerkes gewesen ist, wollte<br />

mit den Gewerkschaften verhandeln. Sie<br />

war gezwungen, einen Unterstaatssekretär<br />

vom Ministerrate ins Gefängnis nach<br />

Barcelona zu entsenden und Konzessionen<br />

zu machen, durch welche die öffentliche<br />

Macht der organisierten Arbeiterklasse<br />

zu Füßen gelegt wurde, zum größten Aerger<br />

der Militaristen, die dagegen Protest<br />

einlegten. <strong>Die</strong> Furcht vor einem Aufruhr<br />

in den Kasernen beherrschte in dieser<br />

Zeit die Politik der Regierung. <strong>Die</strong> Regierung<br />

wußte, daß wir noch wirksamere<br />

Mittel in der Reserve hatten. Sie war<br />

auch darüber informiert, daß die Bankangestellten<br />

und die an der Börse Beschäftigten<br />

ebenfalls bereit waren, die<br />

Arbeit niederzulegen, sobald die übrigen<br />

Streikenden dies von ihnen gefordert hätten.<br />

Selbst die Kinderwärterinnen, Krankenpfleger,<br />

Ammen und Aerzte waren<br />

bereit, mit in die Aktion zu treten.<br />

<strong>Die</strong> Panik war unbeschreiblich. Alles<br />

drängte zu einer Entscheidung, und kurze<br />

Zeit darauf, am 19. März 1918, war der<br />

Konflikt beendet, nachdem er 2 Monate<br />

gedauert hatte.<br />

Eine der Bedingungen zur Beilegung<br />

des Konfliktes war die Freigabe sämtlicher<br />

gefangenen Kameraden. <strong>Die</strong>se Bedingung<br />

wurde aber nicht voll und ganz<br />

von den Behörden eingehalten.<br />

Einige Kameraden, etwa 5 bis 6 an der<br />

Zahl, wurden in Haft behalten, da ihnen<br />

Widersetzlichkeit zur Last gelegt wurde.<br />

<strong>Die</strong> Militärbehörden versicherten, daß es<br />

sich nur um einige Tage handele, daß sie<br />

aber ihre Formalitäten erfüllen müßten.<br />

Am selben Abend demonstrierten 30000<br />

Arbeiter und faßten den Beschluß, den


160 SPANIEN<br />

Generalstreik zu erklären, wenn folgenden<br />

Montag noch ein einziger Kamerad im<br />

Gefängnis verblieb.<br />

Tatsächlich brach Montag, den 24. März,<br />

der Generalstreik aus. <strong>Die</strong> Arbeiterklasse<br />

antwortete auf die Herausforderung, die<br />

von den Militaristen provoziert wurde.<br />

<strong>Die</strong>ser Generalstreik dauerte 14 Tage<br />

und kostete viel Blut und Tränen. Der<br />

Beschluß zum Generalstreik wurde gefaßt,<br />

obzwar die verantwortlichen Kameraden<br />

davor warnten. Alle Anstrengungen<br />

jedoch, die unternommen wurden,<br />

um den Ausbruch des Generalstreiks<br />

zu verhindern, waren erfolglos. Und doch<br />

haben die klarsehenden Kameraden die<br />

schweren Konsequenzen kommen sehen,<br />

die dann tatsächlich auch eintrafen. Seit<br />

1914 war dieser Generalstreik vielleicht<br />

der schwerste Irrtum, der gemacht worden<br />

ist.<br />

Jetzt setzte wieder eine verhältnismäßig<br />

ruhige Zeit ein. <strong>Die</strong> spanische Bourgeoisie,<br />

und besonders die von Katalonien,<br />

ist äußerst despotisch und blutdürstig.<br />

Sie hatte uns in Gemeinschaft mit den<br />

militärischen Vereinigungen einen Krieg<br />

auf Leben und Tod geschworen. Sie<br />

wollte die revolutionäre Arbeiterbewegung<br />

austilgen, und es- war daher verständlich,<br />

daß sie diesen Zustand der<br />

Ruhe ausnutzte, um neue Niederträchtigkeiten<br />

vorzubereiten. <strong>Die</strong> Nutzlosigkeit<br />

der Kanonen, Gewehre und Gefängnisse<br />

einsehend, glaubten sie durch größte<br />

Verelendung der Massen ihr Ziel erreichen<br />

zu können. Sie hofften, daß die<br />

Arbeiterschaft sich durch Brotlosmachung<br />

unterwerfen würde. Ende 1919<br />

wurde die Arbeiterschaft in allen Industrien<br />

Barcelonas ausgesperrt. <strong>Die</strong> Absicht<br />

ging dahin, die Aussperung auf das<br />

ganze Land auszudehnen, wenn sie in<br />

Barcelona Erfolg gehabt hätte. 150 000<br />

Arbeiter hatten unter der Aussperrung<br />

zu leiden. <strong>Die</strong>se Aussperrung dauerte<br />

14 Wochen. Nach dem Verlauf von zwei<br />

Monaten mußten die Unternehmer sich<br />

überzeugen, daß die Arbeiter sich zur<br />

Wiedereinstellung nicht einfanden, und<br />

sie ließen bekanntmachen, wer sich nicht<br />

bis zum nächsten Montag wieder zur Arbeit<br />

meldet, würde entlassen werden.<br />

Von den gesamten 150 000 Ausgesperrten<br />

fand sich kein einziger Arbeiter ein. Resultat:<br />

Sieg der Arbeiterschaft, die<br />

Mehrzahl der Arbeiter bekam die Hälfte<br />

der Zeit der Aussperrung bezahlt.<br />

Im Verlauf dieser Ereignisse erhöhte<br />

unsere Organisation (C.N.T.) ihren Mit-<br />

gliederbestand auf eine Million 282 000.<br />

Als sie ihren Kongreß in Madrid 1920 abhielt,<br />

erklärte sie allen Einschüchterungen<br />

des Bürgertums, der Militaristen und Behörden<br />

zum Trotze, daß ihr Endziel der<br />

freiheitliche Kommunismus sei.<br />

Es ist klar, daß man die Energiequellen<br />

der Arbeiterschaft nicht andauernd benutzen<br />

kann, ohne daß dieselben sich erschöpfen.<br />

Während die Regierenden als<br />

gefügige Instrumente des Kapitalismus<br />

tagtäglich neuen Grund zur Steigerung<br />

des Hasses gaben und die gereizte Arbeiterschaft<br />

ihrem Zorn durch individuelle<br />

Terrorakte Luft machte, zog die Arbeiterorganisation<br />

ihre Kräfte zusammen<br />

zu einem entscheidenden Angriff und<br />

arbeitete einen Plan zum wirtschaftlichen<br />

Aufbau aus. Es wurden Statistiken ausgearbeitet<br />

über die Produktionsfähigkeit<br />

der Industrie und Landwirtschaft sowie<br />

Mittel vorgeschlagen zur Steigerung der<br />

landwirtschaftlichen Ergiebigkeit und der<br />

Ausnutzung von Brachland, zur Verbesserung<br />

des Transportwesens und dergleichen<br />

mehr. Gleichzeitig wurden andere<br />

vorbereitende Arbeiten in Angriff<br />

genommen zur Durchführung der sozialen<br />

Revolution.<br />

Andererseits hielt man es auch für notwendig,<br />

noch ehe der entscheidende<br />

Schlag geführt wurde, alle jene Elemente<br />

heranzuziehen und die Sympathien von<br />

jenen zu gewinnen, die an dem Zustand<br />

der ständigen Unruhe und Ungewißheit<br />

kein Interesse hatten. Wir wollten uns<br />

das Vertrauen jener Intellektuellen und<br />

Techniker erwerben und waren dafür<br />

auch bereit, einige Ideen aufzugeben, die<br />

für die Arbeiterschaft der Industrie und<br />

Landwirtschaft nur ein nebensächliches<br />

Interesse hatten. Ein Beispiel wird die<br />

Sache klarer darstellen. Man schlug die<br />

Bildung eines analytischen Laboratoriums<br />

vor, um den skrupellosen Kaufleuten<br />

die Möglichkeit zu nehmen, die Nahrungsmittel<br />

zu verfälschen. <strong>Die</strong>ser Vorschlag<br />

wurde von allen Gesellschaftschichten<br />

ohne Unterschied unterstützt. Man<br />

wollte damit verhindern, das Stärkewasser<br />

als Milch und verdorbenes Fleisch bei der<br />

Wurstfabrikation sowie ein chemisches<br />

Produkt bei Gelbeipräparaten an Stelle<br />

des Eies verkauft wurden. Auf diese Art<br />

wäre die Oeffentlichkeit eines schönen<br />

Tages durch einen originellen und ganz<br />

eigenartigen Streik überrascht worden.<br />

Man stelle sich vor, daß die Bäcker in den<br />

Ausstand träten. Welcher Art sind ihre


Forderungen? Sie fordern nichts für sich<br />

selbst, sondern weigern sich ganz einfach,<br />

bei der Brotfabrikation verdorbenes Mehl<br />

zu verwenden, das 25 Prozent Gips enthält.<br />

Man war bereit, auf dieselbe Art<br />

die künstliche Preissteigerung bei allen<br />

Konsumartikeln zu verhindern.<br />

Es ist unnötig, die Wirkung zu beschreiben,<br />

die dieser Plan unserer C.N.T.<br />

bei jenen verursachte, die ihre Gegner<br />

waren. <strong>Die</strong> Bourgeoisie, von einem<br />

panischen Schrecken erfaßt, forderte<br />

neue Unterdrückungsmaßnahmen gegen<br />

alle aufrührerischen Elemente. Sie selbst<br />

hatte während des Krieges nicht einmal<br />

ihre mächtigen Profite zur Verbesserung<br />

und zum Ausbau ihrer Betriebe<br />

verwendet. Als der Krieg beendet war,<br />

war die spanische Industrie ebenso rückständig<br />

und ohnmächtig, ihre Produkte<br />

zu exportieren. Sie versuchte dieses wettzumachen<br />

durch Herabsetzung der Löhne.<br />

Zu diesem Zwecke aber mußten die Arbeiterorganisationen<br />

vollständig zerstört<br />

und die leitenden Männer beseitigt werden.<br />

So setzte nun also eine wilde und<br />

blutige Verfolgung ein, wie man sie in<br />

Spanien, dem klassischen Lande der Unterdrückungen,<br />

seit einem Jahrhundert<br />

nicht gesehen hat. Ich muß hier verzichten,<br />

auf die fürchterlichen Verbrechen,<br />

die während der zweijährigen<br />

Dauer der Verfolgungen verübt wurden,<br />

einzugehen.<br />

- -<br />

Hier ist ein Hinweis auf das schände<br />

liehe Verhalten der Führer der reformistischen<br />

Gewerkschaftsbewegung Spaniens<br />

(U.G.T. Union General del Trabajadores)<br />

am Platze.<br />

Unsere C.N.T. wußte, daß die Regierung<br />

zahlreiche Deportierungen nach der<br />

Insel Fernando Po, im Golf von Guinea<br />

vorbereitete. Um diese Vorbereitungen<br />

zu verhindern, wurde zwischen<br />

unserer C.N.T. und der reformistischen<br />

U.G.T. ein Pakt unterschrieben. <strong>Die</strong>ser<br />

Pakt wurde zwar von den Arbeitern in<br />

allen größeren Städten wie Valencia, Saragossa,<br />

Barcelona, Sevilla bekämpft, da<br />

sie aus den Ereignissen ihre Lehre gezogen<br />

haben und keine Beziehungen mit den<br />

Komödianten der reformistischen Organisation<br />

von Madrid haben wollten, die<br />

Herrschenden mußten jedoch damit rechnen,<br />

daß schwerwiegende Ereignisse eintreten<br />

würden, wenn sie nicht von einigen<br />

ihrer Vorhaben Abstand nehmen.<br />

<strong>Die</strong> Regierung versicherte, daß nach<br />

Fernando Po niemand verschickt werden<br />

SPANIEN 161<br />

würde. General Martiniz Anido, der<br />

blutdürstigste von allen, forderte jedoch<br />

tagtäglich die Verschickungen. Kurze<br />

Zeit darauf war die Regierung jedoch<br />

sicher davon unterrichtet, daß unsere<br />

C.N.T. allein blieb, wenn sie irgendetwas<br />

unternahm und so wagte sie es, 35 von<br />

den im Vordergrund stehenden Kameraden<br />

auf die Burg Isabella II. von Mahon<br />

auf den Inseln von Baleares zu versenden.<br />

Als Antwort erklärte unsere C.N.T. den<br />

Generalstreik. <strong>Die</strong> Politikanten der reformistischen<br />

U.G.T. weigerten sich, ihre<br />

Mitgliedschaften zum Solidaritätskampfe<br />

aufzurufen, trotzdem sie den Pakt unterzeichnet<br />

hatten. Während also die Behörden<br />

ihre wilden Verfolgungen ausübten,<br />

wurde von der U.G.T. alles geduldet.<br />

So wurde die Stimme unserer besten<br />

Kameraden erstickt. Sie wurden ins Gefängnis<br />

geworfen, in die Verbannung geschickt<br />

oder hingemordet. Unsere Zeitungen<br />

wurden unterdrückt, die Beitragsleistung<br />

in den Gewerkschaften wurde als<br />

Prellerei verfolgt. <strong>Die</strong> Sozialdemokraten<br />

hatten uns gegenüber bedeutende Vorteile.<br />

Sie konnten ihre Propaganda weiterführen<br />

und nutzten es aus, gegen uns<br />

vorzugehen, als wir uns nicht verteidigen<br />

konnten; sie verleumdeten unsere Organisationen<br />

und Kameraden. Unter diesen<br />

Umständen war es ihnen möglich,<br />

einige Tausend neue Mitglieder zu gewinnen.<br />

<strong>Die</strong> Katastrophe für uns war<br />

groß. <strong>Die</strong> Feinde der Arbeiterschaft<br />

waren obenauf. Sie frohlockten und<br />

sagten, unsere C.N.T. sei verschwunden,<br />

sei nur noch eine Mythe, ein Phantom,<br />

ein Schatten! Es würde nicht mehr möglich<br />

sein, den übriggebliebenen Rest neu<br />

zu beleben. <strong>Die</strong> Züchtigung hat ihnen<br />

zum Wohle gereicht. Jetzt konnten sie<br />

ruhig leben, die Unternehmer waren wieder<br />

die absoluten Herren. <strong>Die</strong> Gewerkschaften<br />

sind endgültig vernichtet. <strong>Die</strong><br />

während zweier Jahre ihren Triumph auszuspielen<br />

glaubten, indem sie sich im<br />

Blute ihrer Opfer badeten, behaupteten,<br />

der revolutionäre Geist der Arbeiterschaft<br />

sei mit den Organisationsformen<br />

selbst zugrunde gegangen.<br />

So vergingen einige Monate, dann begann<br />

die Reorganisation einzusetzen. <strong>Die</strong><br />

Arbeiterklasse kam wieder zu sich selbst<br />

und bekam neuen Mut. Man hielt Umschau,<br />

zählte die Toten, die Verwundeten<br />

und die in der Verbannung Umgekommenen.<br />

Es war ein schreckenerregendes<br />

Ergebnis. Der Geist aber lebte noch und<br />

war weiter tätig. <strong>Die</strong> Gewerkschaften


162 SPANIEN<br />

begannen ihren Wiederaufbau und die<br />

Arbeiterschaft konnte nun wieder die<br />

Forderungen stellen, die ihr während der<br />

Unterdrückungsperiode entwunden wurden.<br />

<strong>Die</strong> Propaganda setzte aufs neue<br />

ein, es kam wieder zu täglichen Kämpfen.<br />

Wir bekamen unsere alte Kraft wieder,<br />

der Tod unserer C.N.T. war nur ein<br />

Scheintod, Barcelona wurde, was es immer<br />

gewesen ist. Noch rann das vergossene<br />

Blut, noch waren die Wunden<br />

nicht geheilt und doch dachte man schon<br />

an neue Kämpfe. Barcelona ist die Seele<br />

und die Energiequelle unsere C.N.T.<br />

Während das Bürgertum mit seinen<br />

Verbündeten staunend diese Wiedergeburt<br />

betrachtete, vollführte das Proletariat<br />

die Transportarbeiterbewegung, die<br />

ein bewundernswürdiges Beispiel an Solidarität<br />

ohne gleichen, an Opferwilligkeit<br />

und Kampfesmut darstellt. Noch einmal<br />

zeigte sich die Unterdrückungstaktik wirkungslos!<br />

. . . <strong>Die</strong> Bourgeoisie, unfähig<br />

zu verstehen, daß es unmöglich ist etwas<br />

zu zerstören, was unzerstörbar ist, ließ<br />

sich von den Militaristen aufs neue Mut<br />

einflößen und nach 15 Monaten relativer<br />

Ruhe setzte eine neue Unterdrückungsperiode<br />

ein. So kam es zu dem Staatscoup<br />

am 13. September 1923, der Primo<br />

de Rivera zur Macht brachte.<br />

<strong>Die</strong> hier gemachten Darlegungen über<br />

die Ereignisse, die sich seit 1914 in Spanien<br />

abspielten, haben gezeigt, daß die<br />

Brutalität bei den Verfolgungen mit dem<br />

Prozeß der Entwicklung innerhalb der<br />

revolutionären Tendenzen parallel lief.<br />

<strong>Die</strong> C.N.T. bildete für die Herrschenden<br />

eine Gefahr, die um jeden Preis zerstört<br />

werden mußte. Das versuchten die Militaristen<br />

zu verwirklichen, das Militärdirektorium<br />

hatte sich jedoch überzeugen<br />

müssen, daß dieses Unternehmen auf<br />

große Schwierigkeiten stieß. Um alle<br />

Hoffnungen und den Geist der Revolution<br />

im Proletariat zu ersticken, mußte man<br />

mit den Soldaten rechnen. <strong>Die</strong> Soldaten<br />

aber waren seit dem Konflikt im Elektrizitätswerk<br />

Canadiense und der Meuterei<br />

in der Carmen-Kaserne zu Saragossa nicht<br />

mehr verläßlich. Um mit allen aufrührerischen<br />

Erscheinungen ein Ende zu<br />

machen, keineswegs, um die politische<br />

Verwaltung des Landes zu ändern, ergriff<br />

Primo de Rivera die Macht. <strong>Die</strong>ser Diktator<br />

steht weit unter einem Durchschnittsmenschen.<br />

Was durch die Intelligenz<br />

nicht erreicht wird, soll durch den<br />

konservativen Instinkt ersetzt werden.<br />

<strong>Die</strong> Geschichte von Mateu und Nicolau<br />

spricht mit großer Beredsamkeit. Daß<br />

sie nicht hingerichtet, sondern zu lebenslänglichem<br />

Gefängnis „begnadigt" wurden,<br />

ist nicht eine großzügige Handlung,<br />

die man bei einem Subjekt mit den moralischen<br />

Qualitäten eines Primo de Rivera<br />

nicht voraussetzen kann.<br />

Es ist selbstverständlich, daß die gegenwärtige<br />

militärische Diktatur für unsere<br />

Bewegung im allgemeinen und die C.N.T.<br />

im besonderen von sehr schlechtem Einfluß<br />

gewesen ist. Wenn die C.N.T. das<br />

Ende der Diktatur überleben kann, dann<br />

ist es möglich, sogar gewiß, daß sie nach<br />

dem Sturz der Diktatur zu einer Bedeutung<br />

gelangen wird, die sie bisher noch<br />

niemals erreicht hat. Allen Anzeichen<br />

nach neigt die Diktatur ihrem Ende zu.<br />

Sie hat in jeder Beziehung und auf allen<br />

Gebieten kläglich bankrott gemacht. <strong>Die</strong><br />

Armee ist zerrissen, die Monarchie und<br />

der König selbst sind mehr denn je verhaßt.<br />

<strong>Die</strong> wahren Gründe der letzten<br />

Verfolgungen sind ans Tageslicht gekommen.<br />

Das Direktorium kann sich nur<br />

noch auf einige reaktionäre Elemente<br />

stützen. Es ist Lüge, wenn es behauptet,<br />

die öffentliche Meinung hinter sich zu<br />

haben. <strong>Die</strong> Presse, die Arbeiterklasse,<br />

die Intellektuellen, der Mittelstand und<br />

selbst ein großer Teil der Bourgeoisie, ja<br />

sogar Militärs, erklären sich offen gegen<br />

das Direktorium. Wenn die Zeitungen<br />

nicht unter der Zensur stehen würden,<br />

dann würde in 24 Stunden eine unmögliche<br />

Atmosphäre für die Militärdiktatur<br />

vorhanden sein. Man spricht bereits<br />

jetzt offen mit Verachtung vom Direkterium.<br />

<strong>Die</strong> Handlungen des Direktoriums<br />

auf dem Gebiete der Wirtschaft, der Finanzen<br />

und des Schulwesens, sind derart<br />

zerfahren und widerspruchsvoll, daß demgegenüber<br />

die größten Irrtümer und<br />

Dummheiten des sogenannten früheren<br />

Regimes glänzend erscheinen. <strong>Die</strong> öffentlichen<br />

Gelder sind niemals auf solche unverschämte<br />

Weise wie jetzt gestohlen<br />

worden.<br />

<strong>Die</strong> Offiziere verrichten jetzt einen Teil<br />

unserer Arbeit, indem sie den Soldaten<br />

täglich Beispiele von Indisziplin geben,<br />

worüber wir uns nicht beklagen.<br />

Man wird sicher die Frage stellen,<br />

warum wir mit der Diktatur kein Ende<br />

machen, da diese doch keine Anhängerschaft<br />

hinter sich hat!<br />

Wir haben uns mit verschiedenen politischen<br />

Elementen verbunden, um eine<br />

revolutionäre Bewegung ins Leben zu<br />

rufen, die nicht nur mit dem Direktorium,<br />

sondern auch mit der Monarchie ein Ende<br />

macht. Wir haben mit ihnen gemeinsam


gearbeitet, da unsere eigenen Mittel zur<br />

Zeit noch ungenügend sind. Wenn nun<br />

die Revolution noch nicht ausgebrochen<br />

ist, so ist dies darauf zurückzuführen, daß<br />

viele sich noch vor dem Sprung ins Leere<br />

fürchten, wo wir uns jetzt bereits befinden<br />

und weil jene niemals an etwas anderes<br />

gedacht haben, als an eine einfache<br />

Veränderung der politischen Institutionen,<br />

wodurch die wirtschaftlichen Privilegien<br />

nicht angerührt werden, und das<br />

Prinzip der Autorität respektiert wird,<br />

und weil sie noch von der Idee des Volkes<br />

mit Waffen in- den Händen auf den<br />

Straßen beherrscht sind. <strong>Die</strong>se Herren<br />

finden die Diktatur abgeschmackt, schamlos,<br />

brutal, erniedrigend, verhaßt und unerträglich,<br />

sie ziehen sie jedoch der Gefahr<br />

vor, die sie von unserem Eingreifen<br />

in die Revolution fürchten.<br />

Es war dem Unterzeichneten vorbehalten,<br />

im Namen der C.N.T. mit einigen<br />

leitenden Personen und Vertretern der<br />

verschiedenen politischen Parteien zu verhandeln.<br />

<strong>Die</strong>se Verhandlungen zeigten<br />

die unbeschreibliche Furcht, die in gewissen<br />

Kreisen vor der C.N.T. besteht.<br />

Es kann hier versichert werden, daß in<br />

dem Augenblick, wo wir mit Waffen versehen<br />

sind, die Vertreter der organisierten<br />

Gewalt oder des Staates es mit der<br />

Angst zu tun kriegen. Es ist wohl unerläßlich,<br />

daß wir uns bewaffnen, es ist aber<br />

auch sehr wahrscheinlich, daß wir unsere<br />

Waffen nicht anzuwenden brauchen, weil<br />

die Panik durch die Gegenwart unserer<br />

bewaffneten Scharen in den Straßen von<br />

vornherein jeden Widerstand erlahmen<br />

läßt.<br />

Der gegenwärtige Wirrwar ist nach Angaben<br />

der Kommunisten nicht auf die<br />

Brutalitäten der Militärdiktatur, sondern<br />

auf die Irrtümer der Führer der C.N.T.,<br />

auf das „blinde Sektierertum" der Anarchisten<br />

zurückzuführen. <strong>Die</strong>se Behauptungen<br />

kann man tagtäglich in der kommunistischen<br />

Presse Spaniens und des<br />

Auslandes lesen.<br />

Wie haben allerdings die autoritären<br />

Richtungen und deren Tätigkeit durchaus<br />

nicht begünstigt; wir haben auch der<br />

Diktatur des Proletariats keinerlei Sympathie<br />

gezollt; wir haben der winzigen<br />

Kommunistischen Partei keine Scharen<br />

zugeführt. Trotz des Abfalls einiger Elemente<br />

an die Moskowiter, bedauern wir<br />

dies keineswegs und betrachten den Abfall<br />

der Moskauanhänger als Mittel natürlicher<br />

Auslese; wir hatten die notwendige<br />

Kraft, um durch unsere Propaganda und<br />

unsere täglichen Aktionen den kommu-<br />

SPANIEN 163<br />

nistischen Einfluß zu neutralisieren. Alle<br />

Anstrengungen, die von der Kommunistischen<br />

Partei unter Aufwendung großer<br />

Kosten unternommen wurden, um sich<br />

zum Herren unserer revolutionären Organisation<br />

zu machen, waren vergebens. Wir<br />

haben die Moskauer überwunden. <strong>Die</strong><br />

wütenden Anstrengungen der Moskauer,<br />

durch ganz gleich welche Mittel zur Herrschaft<br />

zu gelangen, einsehend, hat die<br />

C.N.T. sowohl durch die Macht ihrer Anhängerschaft,<br />

die sie morgen aufs neue<br />

haben wird, wie durch ihre Schlagkraft,<br />

ihre Geschichte und durch den unbestreitbaren<br />

moralischen Einfluß, den sie auf<br />

die gesamte Bevölkerung des lateinischen<br />

Amerikas ausübt, ihre Kräfte gesteigert,<br />

um ein solides Bollwerk zu errichten zwischen<br />

der Arbeiterklasse und den bezahlten<br />

Vertretern der sogenannten Diktatur<br />

des Proletariats.<br />

Das Ergebnis dieser unserer Tätigkeit<br />

war, daß das Proletariat die bezahlten<br />

Vertreter der Diktatur überhaupt nicht<br />

mehr anhören will- Folgender Einzelfall,<br />

den wir herausgreifen, möge dies beleuchten:<br />

Auf einer Vollversammlung der Region<br />

Kataloniens, wo 48 Organisationsvertreter<br />

anwesend waren, trat eine der<br />

bekanntesten Persönlichkeiten der spanischen<br />

Kommunistischen Partei, der Redakteur<br />

der kommunistischen Zeitung<br />

„La Bataille", ein Liebling Moskaus, Korrespondent<br />

der französischen Zeitung<br />

„Humanité" und Mitarbeiter der „La Vie<br />

ouvrière" auf. Alle 48 Delegierte weigert<br />

ten sich einstimmig, dieser Person das<br />

Wort zu erteilen. Und das ist nicht ein<br />

Einzelfall. Der Kommunismus in Spanien<br />

ist nichts anderes als ein großer Bluff. Es<br />

existiert keine Kommunistische Partei<br />

daselbst.<br />

Das spanische Proletariat ist zur Zeit<br />

fest entschlossen, die Revolution durchs<br />

zuführen, weil es in ihr allein das Mittel<br />

sieht, die ihm die Eroberung aller politischen<br />

Freiheiten und Rechte geben kann,<br />

die man ihm nahm. Es will unter keinen<br />

Umständen, daß man auf irgendeinem<br />

Prinzip oder irgendeiner Notwendigkeit<br />

eine neue Herrschaft auf den Trümmern<br />

der alten aufbaut. Aus diesem Grunde<br />

hat auch die Sozialistische Partei, der die<br />

Mehrzahl der Kommunisten angehörte, in<br />

Spanien niemals mehr als 10000 Mitglieder<br />

gehabt. Und jetzt hat die Sozialistische<br />

Partei sich organisch mit den reformistischen<br />

U.G.T. verschmolzen, um sich<br />

den Anschein zu geben, etwas darzustellen.<br />

<strong>Die</strong>se Verschmelzung, ein reines<br />

Abenteuer, bedeutet nicht die Aufsau-


164 EINGELAUFENE DRUCKSCHRIFTEN<br />

gung der Partei durch die C.G.T., sondern<br />

die Einverleibung der reformistischen Arbeiterorganisation<br />

in die Partei.<br />

* * *<br />

Wir, die C.N.T., wollen die Erben und<br />

Nachfolger der Federacion Regional Espanol<br />

(Spanische Regionföderation) sein, die<br />

unvertilgbare Spuren in den Annalen der<br />

I. <strong>Internationale</strong> hinterlassen hat und die<br />

von unseren Vorgängern Blunas, Fargas,<br />

Ernesto Alvarez, Salvoches, Lorenzo befruchtet<br />

wurde. Wie sie wollen .ch wir,<br />

daß unsere C.N.T. in ihrer Tätigkeit und<br />

in ihren Zielen von den anarchistischen<br />

Grundsätzen inspiriert sei, wir wollen<br />

aber dennoch nicht behaupten, die C.N.T.<br />

sei anarchistisch. Eine anarchistische Organisation,<br />

die dieses Namens würdig sein<br />

will, muß eine Ideengemeinschaft zur<br />

Grundlage haben und nicht Wirtschaftliche<br />

Interessenorganisationen, wie Gewerkschaften<br />

es sind.<br />

Wenn die geistigen Richtlinien der Arbeiterbewegung<br />

nicht getragen sind von<br />

einem gesellschaftsumwälzenden Ideal,<br />

wenn die Arbeiterbewegung nicht danach<br />

strebt, die Herrschaft des Menschen über<br />

den Menschen zu beseitigen, sondern sich<br />

ausschließlich mit den Forderungen der<br />

Gegenwart beschäftigt, nicht das Bedürfnis<br />

empfindend, der jahrhundertelangen<br />

Tyrannei ein Ende zu bereiten, die unsere<br />

Sklaverei und unser Elend sowie die<br />

heutigen Privilegien aufrechterhält, wenn<br />

sie endlich in ihrer Unwissenheit und<br />

Blindheit nicht sieht, daß der Staat und<br />

Kapitalismus, die sich gegenseitig ergänzen,<br />

die einzige Ursache unserer Versklavung<br />

sind, dann wird eine solche Arbeiterbewegung<br />

ein schädliches Gegengewicht,<br />

eine gefährliche Macht des Konservatismus<br />

für unsere gesamte zukünftige<br />

Aktion sein.<br />

Ich möchte jedoch nochmals betonen,<br />

daß man den Anarchismus und Syndika-<br />

Emma Goldman: My Disillusionment<br />

in Rußla und My further Disillusionment<br />

in Russia 1924, beide Bände<br />

werden nur zusammen abgegeben.<br />

Alexander Berkman: The Bolshevik<br />

Myth 1925, gebunden; dazu „Ant-Climax".<br />

Frans Severin: Är Syndikalismen statsfiendlig?<br />

En undersökning angående syndikalismus<br />

ställning till staten. Federativs<br />

Förlag, Stockholm 1925.<br />

Eingelaufene Druckschriften<br />

lismus nicht vermengen darf, da der eine<br />

wie der andere seine besonderen Funktionen<br />

zu erfüllen hat. Und deshalb müssen<br />

wir danach streben, den Einfluß unserer<br />

Anschauungen und Ziele auf die gesamte<br />

Arbeiterbewegung ständig zu erhöhen, eine<br />

materielle Oberherrschaft der anarchistischen<br />

Gruppen über die proletarischen<br />

Wirtschaftsorganisationen aber ablehnen.<br />

Eine große Anzahl unserer Kameraden,<br />

die entweder voll und ganz Syndikalisten<br />

oder in den Arbeiterorganisationen tätig<br />

sind, legen auf ihre Umgebung, auf<br />

die Lage des Landes, auf den Stand<br />

der Industrie, auf die gemeinsamen Bedürfnisse<br />

und die wirtschaftlichen Erschein<br />

nungen zu wenig Wert; dadurch nimmt<br />

ihre Propaganda einen ausschließlich<br />

idealistischen Charakter an und entfernt<br />

sich infolgedessen ein wenig von den<br />

wirklichen Dingen. Andere hingegen sind<br />

von dem Geiste der puren Arbeiterbewegung,<br />

den wirtschaftlichen Fragen und<br />

den gegenwärtigen Verhältnissen derart<br />

durchdrungen, daß ihre Propaganda einen<br />

ausschließlich materialistischen Charakter<br />

ohne eine idealistische Beimischung trägt.<br />

Beide Tendenzen sind rein negativ, die<br />

erste, weil sie die Macht und den Einfluß<br />

der gegenwärtigen Verhältnisse unterschätzt<br />

und sich auf einem rein abstrakten<br />

Boden bewegt, die andere, weil<br />

sie den unbestreitbaren Einfluß der Ideen<br />

auf die Erscheinungen des sozialen Lebens<br />

unterschätzt und uns nach und nach<br />

zu den Widersprüchen des marxistischen<br />

Fatalismus führt.<br />

* * *<br />

Ich bedaure, daß diese interessanten<br />

Fragen hier nur skizziert werden konnten.<br />

Würden wir diesen Fragen unsere volle<br />

Aufmerksamkeit widmen und sie gewissenhaft<br />

prüfen, dann könnten wir einen<br />

Teil unserer Irrtümer ablegen.<br />

Eusebio C. Carbo.<br />

Rudolf Rocker: Hinter Stacheldraht und<br />

Gitter. Erinnerungen aus der englischen<br />

Kriegsgefangenschaft. Verlag „Der Syndikalist",<br />

Berlin 1925.<br />

Armando Borghi: L'Italia tra due Crispi,<br />

Cause e Conseguenze di una rivoluzione<br />

mancata. Parigi Edizioni della Libreria<br />

Internazionale 14, rue Petit (19 éme arr.)<br />

Alle diese Werke sind zu beziehen von,<br />

Buchhandlung Fritz Kater, Berlin O 34<br />

Kopernikusstr. 25.


DIE<br />

INTERNATIONALE<br />

ORGAN DER INTERNATIONALEN ARBEITER-ASSOZIATION • BERLIN<br />

2.JAHRG. JANUAR 1926 NR.6


DIE INTERNATIONALE<br />

ORGAN DER INTERNATIONALEN ARBEITER-ASSOZIATION - BERLIN<br />

DEUTSCHE AUSGABE / HERAUSGEGEBEN VOM SEKRETARIAT DER I.A.A.<br />

2. JAHRG. | JANUAR 1926 | NR. 6<br />

<strong>Die</strong> internationale Lage des Syndikalismus.<br />

Unsere Stellung zur Einheit der Arbeiterbewegung.<br />

Im Jahre 1918 war in Europa die Situation revolutionär. Damals prophezeite<br />

Lenin den Durchbruch der Weltrevolution. In Deutschland war eben<br />

die Monarchie zusammengestürzt, der Nationalitätenstaat Oesterreich war<br />

zusammengebrochen, das Herz Europas stand in Flammen. <strong>Die</strong> Offensive<br />

des Proletariats hielt auch noch im Jahre 1919 an und ging bis ins Jahr<br />

1920 hinein.<br />

Der revolutionäre Syndikalismus befand sich im Aufstieg. Im Mai 1919<br />

stand Frankreich am Vorabend des Generalstreiks. <strong>Die</strong> anarcho-syndikalistische<br />

Confederacion Nacional del Trabajo Spaniens hatte ihre Glanzperiode.<br />

In Düsseldorf vollzog sich im Herbst 1919 die Einigung des Ruhrproletariats<br />

auf revolutionärssyndikalistischer Grundlage. <strong>Die</strong> syndikalistische<br />

Union Italiens wagte die Kraftprobe der Besetzung der Betriebe.<br />

Alles schien auf die soziale Revolution eingestellt zu sein. Auch die internationale<br />

Zusammenschließung der revolutionären Wirtschaftsorganisationen<br />

des Proletariats wurde erstrebt zu dem Zwecke der Uebertragung der sozialen<br />

Revolution von Land zu Land.<br />

Doch die Weltrevolution blieb aus. Und dann kam die Reaktion. <strong>Die</strong>se<br />

Reaktion dauert noch an. Der Faschismus siegte nicht nur in Italien, sondern<br />

auch in andern Ländern. Das Proletariat wurde in die hintersten Verteidigungsstellungen<br />

gedrängt. Seine Organisationen wurden zerstört, seine<br />

Wortführer gefangengesetzt, aus dem Lande getrieben und auf alle Weise<br />

verfolgt. Viele wurden getötet. Der Faschismus in Italien, die weiße Diktatur<br />

in Spanien, die rote Diktatur in Rußland herrschen fort.<br />

Der Aufgabenkreis des internationalen Syndikalismus wurde jetzt ein<br />

anderer. Es handelte sich in erster Linie darum, die von der Reaktion<br />

getroffenen Organisationen zu unterstützen, den verfolgten Genossen zu<br />

helfen, die Existenz der revolutionären Zentren in jedem Lande aufrechtzuerhalten,<br />

den Kampf gegen die internationale Reaktion zu organisieren,<br />

die wirtschaftlichen Verschlechterungen, die der politischen Reaktion im<br />

Kielwasser folgten, abzuwehren.<br />

Mitten in diese Lage und in diesen Aufgabengürtel fällt die Geburt der<br />

<strong>Internationale</strong>n Arbeiterassoziation (I.A.A.). Vom ersten Tage an war<br />

sie eine Schicksalsgemeinschaft, eine Kampfgenossenschaft von Leidensbrüdern.<br />

Mehr als jemals vorher war die Arbeiterklasse der ganzen Welt<br />

an ein gemeinsames Schicksal gebunden, und jeder Schlag, der gegen einen<br />

Teil der Arbeiterklasse geführt wird, wird von der gesamten Klasse gefühlt<br />

Gegenwärtig gibt es keine Kämpfe zwischen dem Kapitalismus und der<br />

Arbeiterschaft, die durch eine künstliche Grenze der Regierungen abgeschlossen<br />

werden könnten. Alle Erscheinungen sind miteinander verkettet.<br />

Das Ereignis in Bosnien im Sommer 1914 zog alle Regierungen und alle Völker<br />

der ganzen Welt in den mörderischen Abgrund des Krieges, und heute kann<br />

ein Bürgerkrieg, ein größerer Streik und ähnliches in einem Lande das Proletariat<br />

der anderen Länder in Mitleidenschaft ziehen.


2 <strong>Die</strong> internationale Lage des Syndikalismus<br />

<strong>Die</strong>se Lage führt ernsthafte Verpflichtungen für die Arbeiterschaft nach<br />

sich. Jede syndikalistische Landesorganisation ist eine Art Seismograph, der<br />

die kleinste soziale Erschütterung, in welcher Entfernung sie auch stattfinden<br />

möge, anzeigen und unmittelbar seinen Alarmruf ertönen lassen müßte, damit<br />

alles mögliche geschieht, um den Hilfebedürftigen solidarisch zur Hilfe zu<br />

eilen. <strong>Die</strong> Rolle der I.A.A. und der ihr angeschlossenen Organisationen ist<br />

damit gegeben. <strong>Die</strong> I.A.A. empfängt alle Signale von den Erscheinungen<br />

des revolutionären Klassenkampfes und sie organisiert die Hilfe.<br />

Das ist heute die Aufgabe der I. A. A.<br />

Es ist einleuchtend, daß der Kampf gegen die internationale Reaktion<br />

von der I.A.A. allein nicht geführt werden kann. Denn wenn auch die I.A.A.<br />

in den romanischen Ländern überwiegenden Einfluß hat, so gibt es doch auch<br />

Länder, in denen die I.A.A. gar nicht vertreten ist. <strong>Die</strong> organisierte<br />

Arbeiterschaft Englands und die Mehrzahl der gewerkschaftlich organisierten<br />

Arbeiter Deutschlands sind mit ihren gemäßigten Gewerkschaften der<br />

Amsterdamer und die russischen Gewerkschaften der Moskauer Gewerkschaftsinternationale<br />

angeschlossen. <strong>Die</strong> American Federation of Labor ist<br />

vollständig selbständig. Eine wirklich internationale Aktion kann nur durch<br />

Zusammenwirken aller drei Gewerkschaftsinternationalen zustande kommen.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiterschaft der ganzen Welt muß daran teilnehmen. <strong>Die</strong> I.A.A. war<br />

stets zu einem internationalen Zusammenwirken bereit, und sie ist es auch<br />

heute noch. <strong>Die</strong> Bereitwilligkeit der I.A.A. allein genügt aber nicht. Amsterdam<br />

und Moskau müssen mit dabei sein. <strong>Die</strong>se aber wollen nicht ein Zusammenarbeiten<br />

aller selbständigen Kräfte des Proletariats zum Kampf gegen<br />

die Reaktion, sie wollen Unterwerfung unter ihr Diktat. Sie wollen allein<br />

maßgebend sein und die anderen beherrschen. Daran scheitert jeder Versuch<br />

einer internationalen Aktion des Proletariats. Und wenn schon für<br />

internationale Aktionen kein gemeinsamer Boden gefunden werden kann,<br />

dann ist eine internationale Einigung, über die man zwischen Amsterdam<br />

und Moskau konferiert, erst recht nicht möglich. Man wird sich nicht zu<br />

wundern brauchen, wenn diese Einigungskomödie in einer neuen Spaltung<br />

endet. <strong>Die</strong> Rolle der englischen Gewerkschaften in dieser Frage berechtigt<br />

voll und ganz zu dieser Annahme.<br />

Angesichts der Verhandlungen, die zwischen Amsterdam und Moskau<br />

über die internationale Einigung geführt wurden, ist es angebracht, die Frage<br />

zu stellen: Wie stellt sich die I.A.A., d. h. der internationale Syndikalismus,<br />

zu einer solchen Einigung?<br />

Der internationale Syndikaiismus ist der Meinung, daß eine internationale<br />

Einigung allerdings wünschenswert und erstrebenswert sei, wenn die Voraussetzungen<br />

hierfür gegeben sind. <strong>Die</strong>se Voraussetzungen sind: einiges<br />

Wollen, einiges Streben, ein einheitliches Ziel und einheitliche Taktik. Sind<br />

diese Elemente bei allen Richtungen, die eine Einigung und Einheit wollen,<br />

vorhanden, dann kann die Einigung ohne Schwierigkeiten vollzogen werden.<br />

Das ist aber hier nicht der Fall. Jede der drei bestehenden Gewerkschaftsinternationalen,<br />

I.G.B., R.G.I. und I.A.A. hat ein besonderes Ziel und eine<br />

besondere Taktik.<br />

Der <strong>Internationale</strong> Gewerkschafts-Bund (I.G.B.) steht auf dem Boden<br />

der Arbeitsgemeinschaft mit der kapitalistischen Gesellschaft. Seine Tätigkeit<br />

erschöpft sich damit, für die Hebung der Lage der Arbeiterschaft durch<br />

soziale Gesetzgebung in internationalem Maßstabe einzutreten. In diesem<br />

Bestreben trifft er sich mit der „Sozialistischen Arbeiter-<strong>Internationale</strong>", der<br />

internationalen Vereinigung der Sozialdemokraten, deren vornehmstes Ziel<br />

die Besteigung von Regierungsämtern in der kapitalistischen Gesellschafts-<br />

Ordnung ist.


<strong>Die</strong> internationale Lage des Syndikalismus 3<br />

<strong>Die</strong> Rote Gewerkschaftssinternationale (R.G.I.) hat kein selbständiges<br />

Ziel und führt auch keinen selbständigen Kampf. Sie unterordnet sich in<br />

jeder Beziehung der Kommunistischen <strong>Internationale</strong> (Komintern). <strong>Die</strong><br />

Komintern will die Eroberung der Staatsmacht und die Errichtung der Diktatur,<br />

die sie zwar Diktatur des Proletariats nennt, die aber in Wirklichkeit<br />

eine Diktatur der Kommunistischen Partei ist. Da diese Bestrebungen im<br />

Widerspruch zu den sozialdemokratischen Parteien stehen, und der I.G.B,<br />

sich mit den letzteren einverstanden erklärt in Ziel und Weg, kann auch<br />

zwischen I.G.B, und R.G.I. keine Einigung zustande kommen.<br />

Außer diesen grundsätzlichen Verschiedenheiten kommen noch taktische<br />

hinzu, vor allem die Spaltungstaktik Moskaus, die den Amsterdamern schwer<br />

im Magen liegt.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong> Arbeiter - Assoziation (I.A.A.) ist vollständig unabhängig<br />

von jeder politischen Partei. Sie will die Arbeiter aller Länder in<br />

revolutionäre Wirtschaftsorganisationen zusammenfassen, die selbständig für<br />

bessere Lebensbedingungen und sofortige Hebung der Arbeiterklasse, gegen<br />

den Kapitalismus und Staat, für Beseitigung des Lohnsystems und Abschaffung<br />

des Staates sowie für Errichtung einer freien kommunistischen<br />

Gesellschaft kämpfen.<br />

<strong>Die</strong>se Gegenüberstellung zeigt uns, daß jede der drei <strong>Internationale</strong>n<br />

besondere Ziele hat, die sich nicht vereinigen lassen, ohne die eigene Grundeinstellung<br />

aufzugeben. Amsterdam will Arbeitsgemeinschaft mit der<br />

Bourgeoisie und soziale Gesetzgebung der heutigen Staaten im nationalen<br />

wie internationalen Maßstabe; Moskau will die Gewerkschaften zu Unterabteilungen<br />

der kommunistischen Parteien machen, sie sollen der Partei bei<br />

der Machteroberung und Machtausübung behilflich sein; beide, Moskau und<br />

Amsterdam, schließen einander aus. Berlin will jede Regierung — sowohl die<br />

bürgerliche wie angeblich proletarische — beseitigen, die Lohnsklaverei abschaffen,<br />

die Produktion auf den Bedarf einstellen. Damit fällt jede Regierungspolitik,<br />

Gesetzgebung — soziale wie reaktionäre — Steuererhebung und<br />

Privateigentumsschutz weg. <strong>Die</strong> Berliner <strong>Internationale</strong> schließt also beide<br />

vorhergehenden aus. Eine Einigung dieser drei Richtungen ist bei<br />

Aufrechterhaltung der Grundsätze aller drei nicht möglich. Wenn Moskau<br />

ständig die „Einheit und Einigung der Arbeiterschaft" im Munde führt, so<br />

ist das ein Sophismus. Moskau will am wenigsten von seinen vorgefaßten<br />

Meinungen und seinen Doktrinen abtreten. Moskau will im Gegenteil durch<br />

geschickte Bearbeitung der anderen und durch langdauernde Unterhandlungen<br />

Spaltung in die anderen <strong>Internationale</strong>n tragen, um die Massen an sich heranzuziehen<br />

und für seine Ziele zu gewinnen. Würde es sich um ideenlose<br />

Massen handeln oder befänden wir uns am Anfang der Entwicklung der<br />

sozialen Schulen, etwa in dem Zeitalter der großen französischen Revolution,<br />

dann könnte die Einigung unter einen Hut stattfinden. Heute aber handelt<br />

es sich bei den drei <strong>Internationale</strong>n um grundsätzlich verschiedene Weltanschauungen,<br />

um Ueberzeugungen, zu denen sich die denkenden und<br />

kämpfenden Massen und ihre Führer — insofern sie ehrlich sind — durchgerungen<br />

haben. Soll eine wirkliche Vereinigung stattfinden, dann setzt<br />

diese voraus, daß die Massen wie die Einzelnen ihre bisherigen Ansichten<br />

und Anschauungen zugunsten einer anderen aufgeben. Das kann aber nicht<br />

von heute auf morgen geschehen, sondern es erfordert einen längeren Entwicklungsprozeß.<br />

Siegreich wird schließlich die Richtung bleiben, die am<br />

fortschrittlichsten ist. Bis dahin wird keine Richtung darauf verzichten<br />

wollen, für sich selbst zu werben und die Massen zu sich heranzuziehen. Wenn<br />

irgendeine gemeinsame Basis für eine zeitweilige und vorübergehende Verständigung<br />

im täglichen Klassenkampfe gegen den gemeinsamen Feind, den<br />

Kapitalismus, überhaupt zustande kommen soll, dann muß die Integrität<br />

und absolute Selbständigkeit jeder Richtung respektiert werden.


4<br />

<strong>Die</strong> internatiorale Lage des Syndikalismus<br />

Ohne Zweifel werden die Massen einmal einsehen, daß sie von ihren gewählten<br />

Führern in Parlamenten, Ministerien und Regierungen nichts zu<br />

erwarten haben. Man kann mit Sicherheit damit rechnen, daß die Wahrheit<br />

sich doch einmal Bahn brechen wird: die direkte Aktion allein kann die<br />

Arbeiterschaft befreien. Sind wir doch heute schon so weit, daß alle Sozialisten,<br />

Marx inbegriffen, zugeben, daß die freie Gesellschaft nur bei Abwesenheit<br />

des Staates möglich sei. <strong>Die</strong>se theoretische Erkenntnis in die Praxis umzusetzen<br />

und zum Leitfaden des täglichen Kampfes zu machen, haben bis<br />

jetzt nur Anarchisten und revolutionäre Syndikalisten den Mut gehabt. Es<br />

wird aber der Tag kommen, an dem auch die großen Massen sich zu diesem<br />

Mut aufraffen. <strong>Die</strong>ser Tag ist der Sieg der sozialen Revolution.<br />

Mit diesen unseren Ansichten als Grundlage sind wir der Meinung, daß<br />

die sofortige nationale wie internationale Einigung in organisatorischer wie<br />

ideeller Hinsicht eine bloße Phrase, eine Unmöglichkeit ist. Moskau hat<br />

dieses Schlagwort aufs Tapet gebracht, nachdem alle anderen Versuche, die<br />

Massen zu den alleinseligmachenden Ideen des Staatskommunismus zu bekehren,<br />

gescheitert sind. <strong>Die</strong>s ist der letzte Versuch, der letzte Bluff, die<br />

anderen Richtungen und auch die Massen zu düpieren. Doch auch dieser<br />

Versuch ist zum Scheitern verdammt. Schon haben die Amsterdamer erklärt,<br />

daß eine Vereinigung mit den Russen nur als Eintritt der russischen Gewerkschatten<br />

in die Amsterdamer <strong>Internationale</strong> unter Anerkennung der jetzigen<br />

Statuten denkbar ist. Aus einem sogenannten Einheitskongreß wird also<br />

nichts. Nun haben sich die Russen an die englischen Gewerkschaften herangemacht,<br />

und es hat den Anschein, als ob die Engländer sich für die Ideen<br />

der Russen gewinnen lassen. Das würde letzten Endes zu einer Abspaltung<br />

der englischen Gewerkschaften von der Amsterdamer <strong>Internationale</strong> führen,<br />

d. h. das Resultat der Einigungskomödie wäre die — Spaltung.<br />

Nach diesen allgemeinen Erörterungen wollen wir die Lage in den einzelnen<br />

Ländern ein wenig beleuchten.<br />

In Frankreich kam es zur Spaltung des Allgemeinen Gewerkschafts-<br />

Bundes (C.G.T.). <strong>Die</strong>se Spaltung vollzog sich im Namen der Einheit! <strong>Die</strong><br />

Abgespaltenen bildeten einen neuen Gewerkschaftsbund, dem sie den Namen<br />

„Vereinigte" (Unitaire) gaben, um die Spaltung zu verdecken. Seit dem Bestehen<br />

dieses abgespaltenen Gewerkschaftsbundes (C.G.T.U.), seit den Tagen,<br />

an denen die Kommunisten sich an dessen Spitze befinden, haben sie nicht<br />

aufgehört, überall Spaltungen und innere Kämpfe hervorzurufen und dadurch<br />

die Schwächung der Widerstandskraft der Arbeiterklasse zu begünstigen. Es<br />

wird so weit kommen, daß unsere Freunde, die revolutionär-syndikalistische<br />

Minderheit, es im „Einheitsladen" nicht mehr aushalten können und ihn verlassen<br />

müssen. Leider haben auch sie sich vom Einigungstaumel der Kommunisten<br />

mitreißen lassen und nun gehen sie mit dem Ziele um, eine neue<br />

Einheit wieder herzustellen. <strong>Die</strong> Einheitskomödie wird fortgesetzt, obwohl<br />

deren Verkünder wohl wissen, daß die derzeitigen Verhältnisse die Einheit<br />

unmöglich machen. Den Reformisten im alten Gewerkschaftsbunde (C.G.T.)<br />

ist an der Einheit gar nichts gelegen; sie ziehen es vor, in Ruhe gelassen zu<br />

werden, sie fürchten sich vor dem vielen Geschrei, denn dann könnte ihr<br />

Ansehen als nette Kerle gegenüber der besitzenden Klasse Schaden leiden.<br />

<strong>Die</strong> C.G.T. ist eine mehr oder weniger schüchterne Filiale der Regierung, und<br />

ihre Führer haben sich aus Furcht vor Wiederkehr einer Rechtsregierung<br />

blindlings der Regierung des Linksblocks in die Arme geworfen, da sie unfähig<br />

sind, selbst einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden.<br />

In Portugal, wo die Einheit der Arbeiterbewegung tatsächlich besteht, wo<br />

die Arbeiter des ganzen Landes in einem einzigen Gewerkschaftsbunde organisiert<br />

sind, der an die I.A.A. angeschlossen ist, lassen die Kommunisten kein<br />

Wort von der Einheit hören und propagieren die Spaltung, indem sie bald


<strong>Die</strong> internationale Lage des Syndikalismus<br />

hier und bald da eine Gewerkschaft von dem Gewerkschaftsbunde loslösen<br />

und aus vollem Halse über ihren Spaltungserfolg schreien.<br />

In Spanien organisierten die Kommunisten am Vorabend der Diktatur<br />

Primo de Riveras innerhalb der revolutionärssyndikalistischen Landesorganisation<br />

(C.N.T.) „revolutionärssyndikalistische Komitees", die in eine bisher<br />

vollkommen einheitliche Bewegung die Spaltung hineintragen. Und die<br />

Amsterdamer? Sie finden für ihren Geist der Klassengemeinschaft mit dem<br />

Bürgertum nichts besseres als die Arbeitsgemeinschaft mit dem reaktionären<br />

Monstrum, das durch das Direktorium Primo de Riveras dargestellt wird.<br />

In Deutschland befinden sich die Zentralverbände und strammen Amsterdamer,<br />

stolz über die vielen Millionen Mitglieder, nur im Nachschub der<br />

Sozialdemokratie eines Ebert und Noske, obzwar sie numerisch viel stärker<br />

sind als die letztere. <strong>Die</strong> Zentralverbände verraten tagtäglich die Arbeiters<br />

klasse, deren einzige Vertretung sie zu sein sich anmaßen; sie haben sich aufs<br />

engste mit der Politik einer Partei verbunden, die stets nur darauf wartet, zur<br />

Macht zu kommen und in Ministerzimmern und Parlamenten wie zu Hause ist.<br />

Und die Kommunisten? Was haben die nicht für Bärentänze in den Gewerkschaften<br />

aufgeführt! Erst hieß es: Eroberung der Gewerkschaften, dann<br />

kam eine neue Order von Moskau: Hinaus aus den Gewerkschaften, Bildung<br />

von selbständigen, „revolutionären Gewerkschaften kommunistischer<br />

Färbung", die Hand- und Kopfarbeiter-Union, die Bergarbeiter-Union Gelsenkirchen,<br />

der Verband der ausgeschlossenen Bauarbeiter (Chemnitzer Richtung)<br />

traten ins Leben. Ein Jahr später hieß es wieder: Auflösung der selbständigen<br />

kommunistischen Gewerkschaften, hinein in die konterrevolutionären,<br />

zentralistischen Gewerkschaften. Parteimitglieder, die dieser Parole<br />

nicht Folge leisteten, wurden aus der Partei ausgeschlossen. Ein größerer<br />

Wirrwarr, eine vollständigere Kopflosigkeit als die kommunistische Gewerkschaftstaktik<br />

in Deutschland läßt sich überhaupt nicht denken. Jetzt heißt<br />

wieder mal zur Abwechslung die Parole: gewerkschaftliche Einheit. Dabei<br />

gibt es in Deutschland gar kein Einheitsproblem, da die Einheit tatsächlich<br />

innerhalb der großen Zentralverbände besteht und die Kommunisten keine<br />

selbständigen Gewerkschaften haben, wie beispielsweise in Frankreich. Als<br />

Ergebnis der kommunistischen Taktik in den Gewerkschaften kann noch<br />

erwähnt werden, daß die kommunistische Bergarbeiter-Union (Richtung<br />

Gelsenkirchen) bei ihrer Gründung 80 000 Mitglieder zählte, im Laufe von<br />

drei Jahren sich aber bis auf knapp 8000 heruntergewirtschaftet hat, so daß<br />

nichts anderes übrig blieb als die Auflösung.<br />

In Italien kam es gerade durch die unselige Taktik des reformistischen<br />

Amsterdamer Gewerkschaftsbundes seinerzeit zur Niederlage bei der Besetzung<br />

der Betriebe und zur Reaktion des Faschismus, die sich in erster Linie<br />

gegen die revolutionäre Syndikalistische Union richtete. Später aber schlugen<br />

die Faschisten auch die reformistischen Amsterdamer. Deren Führer,<br />

d'Aragona usw., die unfähig waren zu jeder selbständigen Aktion, stellten<br />

sich stets auf die Seite des geringsten Widerstandes. Trotz ihrer großspurigen<br />

Erklärungen, die sich mit ihren Kongreßbeschlüssen in Widerspruch befinden,<br />

sind sie bereit, einen Boden der Verständigung mit dem Herzog Mussolini,<br />

dem Mann mit den irren Augen, zu finden, der das Schicksal des Landes<br />

regiert. Und die Kommunisten werden nicht müde, den Eintritt in diese<br />

famose Gewerkschaft der Amsterdamer zu propagieren.<br />

Man könnte mit der Aufzählung der einzelnen Länder fortfahren, aber<br />

das würde zu lang werden. Das hier Gesagte genügt, um zu zeigen, daß diejenigen,<br />

die von Einheit sprechen, ihre wahren Feinde sind und daß sie unter<br />

dem Deckmantel der Einheit die Arbeiterbewegung in ihren Besitz bringen<br />

wollen zugunsten einer politischen Partei und einer Staatsdiktatur.<br />

5


6<br />

<strong>Die</strong> internationale Lege des Syndikalismus<br />

Sollen wir etwa mit allen diesen die Einigung vollziehen, die wie Caballero<br />

in Spanien sich im Schlepptau des Direktoriums, wie d'Aragona in Italien im<br />

Schlepptau des Faschismus und Jouhaux im Schlepptau der Demokratie befinden?<br />

Es genügt die Frage zu stellen, um sie ebenso zu beantworten wie<br />

die Einigung à la Lenin-Trotzki-Monmousseau: Nein, fort mit dieser Einigung!<br />

Sind wir also gegen die Einigung?<br />

Wenn wir frank sein wollen, werden wir antworten: Ja gegen die<br />

Einigung, wenn sie befürwortet wird von den diktatorischen Kommunisten<br />

oder von den Reformisten der Arbeitsgemeinschaft der Klassen. Gegen die<br />

Einigung, wenn sie um den Preis unserer Prinzipien, unserer Taktik, unserer<br />

Befreiung selbst erkauft werden soll.<br />

Für die Einigung, wenn diese von den Arbeitern selbst vollzogen wird, um<br />

die Reihen des Proletariats zu stärken, damit es zur Zerstörung von Kapitalismus<br />

und Staat, zur Vernichtung der politischen Unterdrückung und wirtschaftlichen<br />

Ausbeutung schreiten kann.<br />

Wie aber können wir zu einer solchen Einigung kommen?<br />

Es bleibt uns nur ein Mittel: unsere eigenen Kampfesorganisationen auszubauen,<br />

unsere eigene revolutionäre Phalanx, die keiner Partei, keiner Clique<br />

und keiner Regierung einverleibt sein darf, zu organisieren; mit einem Worte:<br />

unser eigenes Haus zu errichten, anstatt sich zu bemühen, mehr oder weniger<br />

willkommene Mieter bei einem mürrischen Eigentümer zu werden.<br />

Ueberau wo dieses Gebäude sich errichtet, wird der Kampf des Proletariats<br />

gegen den Kapitalismus ernsthafter und prägnanter.<br />

In Schweden spielt die syndikalistische Landesorganisation, die annähernd<br />

40000 Mitglieder umfaßt, eine nicht unbedeutende Rolle in den Wirtschaftlichen<br />

Kämpfen des Landes, obzwar sie zahlenmäßig schwächer ist als die<br />

zentralverbändlerische Organisation. Ihre Tageszeitung „Arbetaren" ist nicht<br />

mehr genügend und zwei andere Tageszeitungen werden bald in verschiedenen<br />

Teilen des Landes erscheinen.<br />

In Norwegen, wo unsere syndikalistische Organisation zahlenmäßig sehr<br />

schwach ist, hat sie nichtsdestoweniger in den letzten Streiks, die in Nord-<br />

Norwegen ausbrachen, eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt und so<br />

durch die Aktion bewiesen, daß die revolutionäre Taktik auch einer kleinen<br />

Anzahl weit günstigere Ergebnisse für das Proletariat zeitigt, als die Untätigkeit<br />

einer großen Masse. Hierbei muß noch bemerkt werden, daß die reformistischen<br />

Zentralverbände Norwegens sich von der Amsterdamer <strong>Internationale</strong><br />

trennten, und sich die Zeit nahmen, um sich von dem Unwert der<br />

Moskauer <strong>Internationale</strong> zu überzeugen und sich ihr nicht anzuschließen. <strong>Die</strong><br />

syndikalistische Föderation Norwegens hat also ein weites Gebiet der Propaganda<br />

für die Idee des revolutionären Syndikalismus.<br />

In Holland, wo die Zahl der gewerkschaftlichen Landesorganisationen im<br />

umgekehrten Verhältnis zur Größe des Landes steht, wurde die Lage des<br />

revolutionären Syndikalismus innerhalb der Moskauer Organisation unerträglich<br />

(inzwischen ist das alte N.A.S. parlamentarisch und politisch geworden)<br />

und unsere Genossen waren gezwungen, das N.A.S. zu verlassen und ihre<br />

eigene syndikalistische Organisation zu bilden. <strong>Die</strong> 8000 oder 9000 Mitglieder<br />

dieser Organisation entfalten eine aktive antiparlamentarische, antimilitaristische,<br />

revolutionäre Klassenpropaganda, die sie nicht hätten entfalten<br />

können, wenn sie in der alten Organisation geblieben wären, wo sie sich<br />

ständig herumzanken mußten.<br />

Es ist nicht notwendig, die Liste aller Länder aufzuzählen, es ist aber klar,<br />

daß der geschichtliche Kampf, der schon vor 50 Jahren innerhalb der ersten<br />

<strong>Internationale</strong> ausgekämpft wurde, ein Kampf, der die Rolle der Arbeiter-


<strong>Die</strong> internationale Lage des Syndikalismus 7<br />

klasse in der Revolution zum Gegenstand hat, immer noch weitergeht. Damals<br />

waren es Bakunin und Marx, heute die föderalistisch antistaatliche<br />

Arbeiterbewegung und die Bewegung, die den Staatssozialismus zu ihrer<br />

Grundlage hat. Es kann natürlich eine zeitweise Verständigung getroffen<br />

werden, wenn es sich um einen reinen Lohn- oder Berufskampf handelt. Es<br />

kann aber keine Verständigung geben, wenn der Kampf sich auf rein revolutionärem<br />

Boden bewegt.<br />

Und wir befinden uns in einer revolutionären Periode, denn die dunklen<br />

Schatten, die über den Ländern der Reaktion lagern, wie es der Fall ist in<br />

Spanien oder Italien, sind nur Anzeichen eines künftigen Sturmes, und wenn<br />

die Arbeiterklasse wünscht, daß dieser Sturm ihr zum Wohle gereicht, und<br />

das Terrain reinigt von den Ungerechtigkeiten, die ein Primo de Rivera<br />

oder ein Mussolini während ihrer unseligen Herrschaft angehäuft haben,<br />

dann ist es notwendig, daß die Arbeiter wissen, was sie wollen und was<br />

sie erstreben. In solchen Perioden kann eine einheitliche Arbeiter-Organisation,<br />

die stark ist in ihren revolutionären Auffassungen, von großem<br />

Werte sein und mehr bedeuten, als eine Arbeiterorganisation, wie groß sie<br />

auch sein möge, die im kritischen Moment an dem Felsen entgegengesetzter<br />

Anschauungen und Taktiken zerschellt.<br />

Das Ziel der IAA. ist es gerade, einheitliche Organisationen zu bilden,<br />

und die momentan durch die Reaktion in Bann geschlagenen Organisationen,<br />

wie USI. und CNT. — wie schwach sie zurzeit auch sein mögen — sind<br />

innerhalb der IAA. von großer Bedeutung. Denn von dem Bestehen dieser<br />

Organisationen hängt der Gang der revolutionären Bewegung der italienischen<br />

und spanischen Arbeiterklasse ab. Sie waren es, die allein das<br />

Banner der Unabhängigkeit und der Arbeiterorganisation auf föderalistischer<br />

Grundlage hochhielten, sie werden es sein, die an dem Tage des Zusammensturzes<br />

der Reaktion, den wir ungeduldig erwarten, das Banner aufs neue<br />

entfalten und den Weg weisen werden, den das revolutionäre Proletariat<br />

zu gehen hat. <strong>Die</strong>ses Banner zu vergessen oder es bei den Reformisten<br />

unterbringen zu wollen, die es verstecken und verstauben lassen, das<br />

bedeutet, ein Verbrechen an der Revolution zu begehen und den Erfolg an<br />

der Revolution selbst zu gefährden.<br />

Wenn bei der flüchtigen Wanderung durch die syndikalistische Bewegung<br />

Europas Rußland nicht erwähnt wurde, so liegt das daran, daß dort<br />

die marxistische Reaktion mehr als je herrscht. Jede Aeußerung, die sich<br />

nicht mit den Ukasen der kommunistischen Partei Rußlands identifiziert,<br />

wird brutal unterdrückt; keine Woche vergeht ohne neue Verhaftungen<br />

unter allen Schichten der Bevölkerung, besonders aber unter den Arbeitern<br />

und Bauern, und unsere verhafteten oder verbannten Kameraden leiden<br />

außer den gewöhnlichen Martern noch ernstere Qualen, denn selbst der<br />

Briefwechsel mit Freunden im Ausland gilt als Verbrechen.<br />

<strong>Die</strong> Ueberzeugung jedoch, daß eines Tages auch in Rußland die Sonne<br />

wieder aufgehen wird, gibt uns Hoffnung, und wir können versichert sein,<br />

daß dann nur eine kurze Zeit vergehen wird, und das russische Proletariat<br />

wird seine revolutionärssyndikalistische Bewegung haben. Der Samen des<br />

Anarchosyndikalismus ist gesät und an einem Frühlingsmorgen wird er aufgehen.<br />

An diesem Tage aber wird, so hoffen wir, der internationale Kommunismus<br />

zugleich mit dem internationalen Reformismus sein Schwanenlied<br />

singen können. <strong>Die</strong> Arbeiterbewegung wird sich von allen bürgerlichen und<br />

diktatorischen Staatspolitikern befreit haben, und die Einheit der revolutionären<br />

Arbeiterschaft für einen gemeinsamen Kampf gegen jeden Kapitalismus<br />

und jeden Staat wird erstehen im Sinne des Wortes:<br />

<strong>Die</strong> Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiter<br />

selbst sein.


8<br />

<strong>Die</strong> revolutionär-syndikalistische Bewegung in Rußland.<br />

<strong>Die</strong> revolutionärssyndikalistische Bewegung<br />

in Rußland.<br />

Kurze Uebersicht von Maximoff.<br />

a) <strong>Die</strong> vorgeschichtliche Epoche der Gewerkschaftsbewegung.<br />

<strong>Die</strong> russische Gewerkschaftsbewegung ist im Vergleich mit der westeuropäischen<br />

noch sehr jung. Auf Grund der späten industriellen Entwicklung ist<br />

auch ein eigentlich industrielles Proletariat eine verhältnismäßig junge Erscheinung<br />

in Rußland. Kurz nach der Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft<br />

(1861) hat Rußland sich schnell kapitalisiert und proletarisierte so den Handwerker<br />

und die Bauern. Seit dieser Zeit beginnt das Proletariat sich zusammenzuschließen<br />

als Klasse. <strong>Die</strong> Lage des Proletariats, das sich teils aus Handwerkern,<br />

teils aus Bauern ohne Kultur und Schule zusammensetzt, das unterdrückt<br />

war, schreckliches Unrecht erdulden mußte und selbst nur primitive<br />

Bedürfnisse hatte, war trostlos: der aufstrebende Kapitalismus, der unter dem<br />

Schutz der absoluten Monarchie stand, betrieb eine räuberische Ausbeutung.<br />

<strong>Die</strong> Lage des Proletariats kann kurz folgendermaßen charakterisiert werden:<br />

Absolute Rechtlosigkeit! Unbegrenzte Willkür der Fabrikverwaltungen! Der<br />

Arbeitstag ausgedehnt bis auf 16 und 17 Stunden! Entlohnung nicht einmal für<br />

eine Hungerexistenz ausreichend! In Mietskasernen unausdenkbarem Schmutz<br />

und Nässe ausgesetzt! Gesteigerte räuberische Ausbeutung von Frauen- und<br />

Kinderarbeit! Abwesenheit von Kampf Organisationen der Arbeiterklasse!<br />

Selbstverständlich konnte man auch in dieser vorgeschichtlichen Periode<br />

der russischen Gewerkschaftsbewegung (bis 1905) nicht ohne Streiks auskommen,<br />

die oft elementar ausbrachen und stürmisch verliefen und immer<br />

von der militärischen Macht niedergeschlagen wurden. Wohl gab es schwache<br />

und teilweise Versuche, Organisationen zu bilden. In den Fabriken bildeten<br />

sich vor, während und nach den Streiks gesetzlich erlaubte und unerlaubte<br />

Komitees, auch wurden Versuche unternommen, Konsumgenossenschaften zu<br />

organisieren. Während dieser Periode war der hauptsächlichste organisierende<br />

Faktor der Kapitalismus mit seinen Folgen, Elend und Rechtlosigkeit. <strong>Die</strong><br />

revolutionäre Propaganda außerhalb der Betriebe war schwach. Immerhin hatte<br />

die Propaganda dank der nihilistischen und der „In's Volk"-Bewegung, die von<br />

der Partei „Semlja i Wolja'' unter dem Einfluß Bakunins und seiner Ideen ausging,<br />

nicht nur auf den Dörfern, sondern auch in den Fabriken einen gewichtigen<br />

Einfluß. Bald nachher fanden die Ideen von Karl Marx in Rußland<br />

Eingang. Doch die Partei der „Semlja i Wolja" und ihre anarchistische<br />

Fraktion „Tscherny Peredel" sind zerfallen und untergegangen. An Stelle von<br />

„Semlja i Wolja" bildete sich die Partei „Narodnaja Wolja", welche allmählich<br />

politisch und zentralistisch wurde. In dieser Zeit ging die Jugend unmittelbar<br />

unter die Arbeiter, so z. B. der Kammerpage „Seiner Hoheit des<br />

Zaren", der zukünftige Theoretiker des Anarchismus, P. A. Kropotkin, der<br />

sich abends Arbeiterkleider anzog und unter dem Namen Borodin Propaganda<br />

in den Arbeitervierteln machte. Das war eine allgemeine Erscheinung<br />

jener Zeit.<br />

<strong>Die</strong> Arbeit der Befreiungsbewegung jener Zeit brachte es nicht zu gewerkschaftlichen<br />

Organisationen, immerhin aber wirkte sie in diesem Sinne<br />

und bereitete eine derartige Arbeit vor. So lagen die Dinge bis zum Jahre 1881,


<strong>Die</strong> revolutionär-syndikalistische Bewegung in Rußland. 9<br />

bis zur Ermordung des Zaren, d. h. bis zum Abbau der Partei „Narodnaja<br />

Wolja". Von diesem Momente an begann eine ungeheure Reaktionsperiode,<br />

die sich des Regimes Arokschejew und Nikolaus I. nicht zu schämen hatte.<br />

Von da an wie auch nach der Befreiung der Bauern war das Proletariat sich<br />

selbst überlassen. In den neunziger Jahren bildeten sich letzten<br />

Endes Gruppen; ihre Zusammenarbeit jedoch war sehr schwach. So<br />

z. B. verlief eine allgemeine Streikbewegung in Südrußland im<br />

Jahre 1902, die ihren Anfang in Baku hatte, ohne Mitwirkung der<br />

politischen Parteien und Gruppen. Von dieser Zeit an begann der Einfluß der<br />

politischen Parteien, insbesondere der der Sozialdemokratie, in den Reihen<br />

der Arbeiterschaft zuzunehmen. <strong>Die</strong> Arbeiterbewegung nahm mehr und mehr<br />

eine sozialdemokratische Färbung an. <strong>Die</strong> Sozialdemokratie stellte sich an die<br />

Spitze der Arbeiterbewegung. Das Bestreben der Arbeiterschaft, sich in revolutionären<br />

Organisationen zusammenzuschließen, war so stark, daß die Regierung<br />

ihrerseits versuchte, die Arbeiterschaft mit Hilfe ihrer Agenten<br />

(Sabatoff) im Sinne der absoluten Monarchie, Kirche und Patriotismus zu<br />

organisieren. <strong>Die</strong>ser Versuch, der in der Geschichte unter den Namen Sabatoffschina<br />

und Polizeisozialismus bekannt ist, scheiterte jedoch bald. <strong>Die</strong> vorgeschichtliche<br />

Periode der Gewerkschaftsbewegung endete mit dem tragischen<br />

Ereignis des 9. Januar im Jahre 1905, mit der Erschießung von Arbeitern, die<br />

mit friedlich patriotischen Zielen unter Führung des Geistlichen Gapon sich<br />

dem Winterpalais näherten, in dem sich der Zar befand.<br />

b) <strong>Die</strong> geschichtliche Epoche der Gewerkschaftsbewegung.<br />

1. <strong>Die</strong> illegale Periode.<br />

<strong>Die</strong> heutige Gewerkschaftsbewegung beginnt nach dem 9. Januar 1905;<br />

bis zur Revolution 1917 wurde sie praktisch und ideell ausschließlich von den<br />

Sozialdemokraten, hauptsächlich von den Menschewiki, geführt. <strong>Die</strong> Sozialdemokraten<br />

gründeten die gewerkschaftlichen Organisationen nach deutschem<br />

Muster: zentralistisch, parlamentaristisch, neutral, arbeitsgemeinschaftlich,<br />

Tarifvertragspolitik, Achtstundenarbeitstag, staatliche Arbeiterversicherung,<br />

Krankenkassen, Kampf für Tagesinteressen, politischer Kampf usw. Das ist<br />

ihr Inhalt und Programm. <strong>Die</strong> ersten Organisationen bildeten sich in Moskau<br />

im Frühjahr 1905, und zwar bestanden diese aus kaufmännischen Angestellten<br />

und städtischen Arbeitern; im Juni desselben Jahres bildete sich in Petrograd<br />

eine Organisation der Arbeiterschaft im graphischen Gewerbe, so bildeten<br />

sich auch in der Provinz halb ungesetzliche Vereinigungen von Angestellten,<br />

Drogisten und Uhrmachern. So ging es weiter bis zu den „Befreiungstagen",<br />

17. Oktober 1905. Von dieser Zeit an beginnt die zweite Periode der Gewerk-<br />

Schaftsbewegung: die Periode schnellen spontanen Wachsens.<br />

2. <strong>Die</strong> Gründungsperiode.<br />

<strong>Die</strong> Oktoberbefreiungen gaben der Gewerkschaftsbewegung großen Antrieb;<br />

die Arbeiter beeilten sich, sich zu organisieren; allein in Petrograd<br />

bildeten sich im Oktober und November ungefähr 40 Organisationen. <strong>Die</strong> Organisationen<br />

umfaßten beinahe alle Berufe. <strong>Die</strong> Aufrufe zur Bildung von Organisationen<br />

fanden eifrig Förderung, die Arbeiterversammlungen waren überall<br />

überfüllt. Alles stand im Zeichen der Idee gewerkschaftlichen Zusammenschlusses;<br />

sogar die Schornsteinfeger und auch die Wäscherinnen organisierten<br />

sich. In diesem Tempo ging es weiter bis zum Monat Dezember. Im Dezember<br />

ging die Regierung zum Angriff über. Organisationen wurden aufgelöst, Ver-<br />

Sammlungen wurden verboten; trotzdem lebte im Januar die Bewegung wieder<br />

auf. Nun setzte die dritte Periode ein.<br />

3. <strong>Die</strong> Periode der Organisationen.<br />

Das Gesetz vom 4. März 1906 in Anwendung bringend, ging die Mehrzahl<br />

der Organisationen dazu über, sich auf gesetzlichen Boden zu stellen; sie kon-


10 <strong>Die</strong> revolutionär-syndikalistische Bewegung in Rußland.<br />

statuierten sich und arbeiteten bestimmte Organisationsformen aus. Nun hatten<br />

die Organisationen auf konstitutioneller Basis die Möglichkeit, in engere<br />

Fühlung mit den Massen der Arbeiterschaft zu kommen. Der ursprüngliche<br />

Enthusiasmus war jedoch nicht mehr vorhanden. Immerhin dehnten sich die<br />

Organisationen weiter aus; eine (sozialdemokratische) Gewerkschaftsliteratur<br />

wurde neben Organisationsblättern gedruckt und verbreitet.<br />

<strong>Die</strong> Reaktion wurde aggressiver und im Juli unternahm die Regierung<br />

ihren zweiten Angriff auf die Gewerkschaften; doch diese waren jetzt schon<br />

zu stark, um völlig vernichtet werden zu können. <strong>Die</strong> Gewerkschaften widerstanden<br />

dem Angriff der Regierung und die Bewegung trat ein in die vierte<br />

Periode ihrer Existenz.<br />

4. <strong>Die</strong> halbgesetzliche Periode.<br />

Das Gesetz vom 4. März 1906 blieb bestehen, nur war es unmöglich, es<br />

in die Praxis umzusetzen. Trotzdem die Vereine gesetzlich zugelassen waren,<br />

waren sie gezwungen, halb geheim, oder sogar ganz geheim zu arbeiten und ihre<br />

Tätigkeit flaute immer mehr ab. <strong>Die</strong> Last dieser Periode hatte eine Verhältnismäßig<br />

kleine Anzahl organisierter Arbeiter zu tragen. <strong>Die</strong> breite Masse blieb<br />

unbeteiligt und passiv. So ging es weiter bis zu den Ereignissen in „Lena".<br />

Das war zu jener Zeit, als in dem ausgedehnten Sibirien der Kommandeur<br />

Trestschenkow friedliche Streikende der Goldgruben erschießen ließ. Das<br />

war am 4. April 1912.<br />

<strong>Die</strong>se Ereignisse brachten das Proletariat zum Erwachen. <strong>Die</strong> Gewerkschaften<br />

lebten wieder auf; eine Welle von Proteststreiken, die von ökonomischen<br />

Streiks gefolgt waren, fegte übers Land. <strong>Die</strong> Arbeiter eroberten<br />

zurück, was sie vorher verloren hatten: das Gesetz von den Krankenkassen,<br />

Versicherungskasse usw. <strong>Die</strong> Streikbewegung ging weiter und erreichte<br />

ihren höchsten Punkt im Jahre 1914. Am Tage der Kriegserklärung dehnte<br />

sich die Bewegung soweit aus, daß in Petersburg beinahe Barrikaden gebaut<br />

wurden. <strong>Die</strong> Regierung war jedoch noch stark genug, um die Aktion zu<br />

unterdrücken.<br />

Während des Krieges trat die Bewegung in eine neue Phase.<br />

5. <strong>Die</strong> Kriegsperiode 1914—1917.<br />

<strong>Die</strong> Regierung benutzte den Krieg zur Stärkung ihrer reaktionären<br />

Politik; sie mobilisierte das Industrieproletariat, dessen Stelle von der ländlichen<br />

Bevölkerung übernommen wurde. So standen der Industrie keine<br />

qualifizierten Arbeiter mehr zur Verfügung, die alle zum Kriegsdienst eingezogen<br />

worden waren. <strong>Die</strong> Arbeiter wurden dann jedoch zum Teil als<br />

Soldaten in die Industrie zurückgeführt. <strong>Die</strong> Belegschaft der Betriebe bestand<br />

aus Soldaten, Bauern, Kleinbürgern, teils aus kleinen Fabrikanten, Frauen<br />

und Kindern, die so alle die Möglichkeit hatten, sich dem direkten Kriegsdienst<br />

zu entziehen. Das Proletariat war als kompakte Masse im Zerfall begriffen.<br />

Hierzu kam, daß sich im Schutze der industriellen Bourgeoisie eine<br />

sozialdemokratische Richtung unter Gwosden („Gwosdentzy") entwickelte,<br />

die für den Krieg eintrat und in den kriegsindustriellen Komitees mitarbeitete.<br />

1917 trat eine Aenderung ein. <strong>Die</strong> Unzufriedenheit der Arbeiterschaft<br />

machte sich in einer riesenhaften Streikbewegung Luft, welche letzten Endes<br />

in die Revolution ausmündete.<br />

6. <strong>Die</strong> Periode der Gewerkschaftsbewegung in der bürgerlich-sozialistischen<br />

Epoche der Revolution.<br />

Es handelt sich hier nicht um eine detaillierte Schilderung der Geschichte<br />

und des ideellen Inhaltes der russischen Gewerkschaftsbewegung wie der<br />

Unsere Aufgabe ist eine rein informatorische; es gilt für uns besonders jene<br />

Unsere Aufgabe ist eine rein informatorische; es gilt für uns besonders, jene<br />

Momente hervorzuheben, die sich als rein anarcho-syndikalistische kenn-


<strong>Die</strong> revolutionärssyndikalistische Bewegung in Rußland. 11<br />

zeichneten und die der Ausdruck einer Minderheit waren. Wie die Revolution<br />

selbst, so trug auch die Arbeiterbewegung einen durchaus spontanen<br />

Charakter und verlor ihren rein gewerkschaftlichen Charakter; sie stützte<br />

sich hauptsächlich auf die Betriebsräte und deren Vereinigung in Petrograd.<br />

Obzwar das russische Proletariat vollständig unbekannt war mit den<br />

Methoden des revolutionären Syndikalismus und trotz des ungeheuren Eins<br />

flusses der Sozialdemokratie und ihrer Literatur, entwickelte sich die Arbeiterbewegung<br />

auf den Wegen der Dezentralisation, nahm instinktiv die Formen<br />

eines eigentümlichen revolutionären Syndikalismus an. <strong>Die</strong> anarchossyndikalistische<br />

Bewegung zählte zur Zeit nicht einhundert aktiver wahrer<br />

Repräsentanten. Hauptsächlich waren es früher ausgewanderte Arbeiter, die<br />

aus den Vereinigten Staaten wieder in die Heimat zurückgekommen waren,<br />

und wo sie alle zu der I.W.W.-Bewegung gehörten. Bis Januar, d. h. bis zum<br />

ersten allrussischen Kongreß der Gewerkschaften, segelte die Bewegung<br />

unter der Fahne der Betriebsräte, welche einen heftigen Kampf gegen die Bourgeoisie<br />

einerseits und gegen einen Umfall der Gewerkschaften andrerseits<br />

zu führen hatte. Ueberhaupt bildete sich nach der III. Allrussischen Konferenz<br />

eine tiefe Kluft zwischen dem Ziel und der Taktik der Gewerkschaften und<br />

Betriebsräte; die letzteren schlössen sich zunächst in Petrograd zusammen<br />

und später in ganz Rußland; sie bildeten Zentralorgane und gaben innerhalb<br />

der Bewegung den Ton an. <strong>Die</strong> Anarcho-Syndikalisten nahmen an der Arbeit<br />

sowohl in den Betriebsräten wie auch in den Gewerkschaften aktiven Anteil.<br />

Aber in den Reihen der Anarcho-Syndikalisten herrschte in bezug auf die<br />

Bevorzugung der Betriebsräte keine Einigkeit. Beispielsweise wurde die von<br />

Maximoff in „Golos Truda" vertretene Richtung lange Zeit hindurch nicht<br />

anerkannt. Auch die Bolschewiki stimmten mit dieser Richtung nicht übers<br />

ein. Losowsky z. B. hatte auf einer Städtekonferenz diese Richtung scharf<br />

kritisiert. Letzten Endes bevorzugten die Anarcho-Syndikalisten jedoch die<br />

Organisierung von Betriebsräten und konzentrierten ihre Kräfte in dieser Richtung.<br />

Sie betätigten sich in zahlreichen Betriebsräten, im Zentralbüro der<br />

Betriebsräte Petrograds und Umgegend und in dem Allrussischen Zentralbüro<br />

derselben; sie übten einen großen Einfluß in den Konferenzen aus; das Organ<br />

der Betriebsräte „Nowy Putj" war beispielsweise ziemlich syndikalistisch<br />

gefärbt.<br />

<strong>Die</strong> bürgerliche Presse 1<br />

) vergaß vollständig, gegen die anarcho-syndikalistischen<br />

Tendenzen zu reagieren. <strong>Die</strong> Sozialdemokraten aber gaben ein<br />

Organ heraus „Der Arbeitergedanke", das hauptsächlich die Aufgabe hatte,<br />

den Anarcho-Syndikalismus in den Reihen des organisierten Proletariats zu<br />

bekämpfen; es war aber alles vergeblich. Durch die Losung der „Arbeiters<br />

kontrolle" gewannen die Anarcho-Syndikalisten die breiten Massen, um sie zur<br />

Besetzung der Fabriken zu bewegen. Eine sehr starke Wirkung übte diese Losung<br />

aus auf die Broschüre „Praktische Anleitung zur Durchführung der Arbeiters<br />

kontrolle" innerhalb der Betriebsräte Petrograds, welche auf dem I. Allrussischem<br />

Kongresse der Gewerkschaften starke Angriffe seitens der Bolschewiki<br />

und Menschewiki auszustehen hatte. 2<br />

) <strong>Die</strong> Anarcho-Syndikalisten arbeiteten<br />

in dieser Periode gruppenweise außerhalb der Gewerkschaften; sie gaben<br />

folgende Zeitungen heraus: „Golos Truda", Petersburg, „Rabotschaja Mysl",<br />

Charkow, „Sibirsky Anarchist", Krasnojarsk, außerdem das revolutionärsyndikalistische<br />

Organ „Rabotschaja Schisn" und andere. <strong>Die</strong> Mitglieder der<br />

Gruppen betätigten sich in den Betriebsräten. Eine große Anzahl unserer<br />

1<br />

) „Djen", „Nowaja Schisn", „Izwestia Petrogradskogo Obschtschestwa Sawodtschikow<br />

i fabrikantow", „Izwestia zentralnogo ispolnitelnogo komiteta Sowjeta rabotschick<br />

i soldatskich deputatow", „Rabotschaja Gazeta"— Organs.-d. Menschewiki und andere.<br />

2<br />

) Siehe: „Der erste Allrussische Kongreß der Gewerkschaften" — stenographischer<br />

Bericht, ebenso A. Losowsky: „<strong>Die</strong> Arbeiterkontrolle" (russische Epoche).


12 <strong>Die</strong> revolutionär-syndikalistische Bewegung in Rußland.<br />

Kameraden vertrat den Standpunkt, ausschließlich innerhalb der Betriebsräte<br />

zu wirken und diesen eine rein anarcho-syndikalistische Färbung zu geben.<br />

Bis zur Zeit des I. Allrussischen Gewerkschaftskongresses war es dem Syndikalisten<br />

Konajew schon gelungen, die Bergarbeiter des Debalzevschen Kohlengebietes<br />

(25 — 30 000 Mann) auf der Grundlage der I.W.W, zu organisieren.<br />

Aber Kosakenprogrome, die den Tod Konajews und dann den Bürgerkrieg im<br />

Gefolge hatten, zerstörten, was im Aufbau begriffen war. Dasselbe ereignete<br />

sich auch bei den Schächten von Tscherenschowo und fand seinen Abschluß<br />

mit dem tschechoslowakischen Aufstand. In Jekaterinodar stand die Bewegung<br />

des gesamten Gouvernements auf rein anarcho-syndikalistischer Basis. 3<br />

)<br />

In Moskau war die Vereinigung der Parfümarbeiter rein syndikalistisch aufge-<br />

baut. 4<br />

) Es läßt sich mehr oder weniger nachweisen, daß auf dem I. All-<br />

russischen Kongreß der Gewerkschaften die Vertreter der Anarcho-Syndikalisten,<br />

Sozialrevolutionäre, Maximalisten und Sympathisierenden 25 Mann<br />

zählten; mehr als 88 250 Arbeiter hatten diese 25 Mann vertreten.<br />

7. <strong>Die</strong> Periode der Diktatur des Proletariats.<br />

Auf dem I. Kongreß, der nach der Oktoberrevolution stattfand, waren<br />

die Bolschewiki und die linken Sozialrevolutionäre in der Mehrheit (Regierungskoalition).<br />

Hier endete der Kampf der Betriebsräte mit den Gewerkschäften,<br />

und er endete mit einem Sieg der letzteren. <strong>Die</strong> Bolschewisten<br />

unterordneten die föderalistischen und anarchistischen Betriebsräte den<br />

zentralisierten Gewerkschaften. Auf diese Weise eroberten die Bolschewisten<br />

die Gewerkschaften und ihre Zentralorgane übten hierdurch die Macht aus<br />

und beseitigten letzten Endes ihren eigentlichen Charakter. In der Periode<br />

des Jahres 1918—1919 wurden die Gewerkschaften noch nicht so stark terrorisiert<br />

und wir können die Entwicklung der anarcho-syndikalistischen Ideen<br />

in den Gewerkschaften der Bäcker von Moskau, Kiew 5<br />

) und Charkow, sowie der<br />

Post- und Telegraphen-Beamten beobachten, auf deren Allrussischen Kongreß 6<br />

)<br />

die Anarcho-Syndikalisten einen außerordentlich starken Einfluß ausübten<br />

und beinahe die Hälfte des Kongresses auf ihrer Seite hatten. <strong>Die</strong> Petersburger<br />

Sektion dieses Allrussischen Post- und Telegraphen-Vereins segelte<br />

unter syndikalistischen Fahnen und gab ihr eigenes Organ heraus „Nachrichten<br />

der Post- und Telegraphenangestellten". Ein ähnliches Bild ergibt<br />

auch die Vereinigung der Seeleute und Transportarbeiter des Wolgaer Gebietes,<br />

wo dank der Arbeit des Kameraden Anossow das Organ „Baken" 7<br />

)<br />

die Vereinigung in rein anarcho-syndikalistischem Sinne gehalten wurde.<br />

Das alles wurde von den Bolschewisten zerstört. Das Prinzip, sich nach<br />

Produktionszweigen zu organisieren, wurde in den Händen der Bolschewisten<br />

eine gute Waffe gegen die Anarcho-Syndikalisten. <strong>Die</strong> Bolschewisten halfen<br />

derartige Vereinigungen organisieren und später drückten sie es durch, daß<br />

die aktivsten Genossen, die mit der bolschewistischen Politik nicht einverstanden<br />

waren, von Stelle zu Stelle, wo der bolschewistische Einfluß stärker<br />

war, versetzt wurden. So gingen anarcho-syndikalistisch gestimmte Vereinigungen<br />

zugrunde, beispielsweise die Vereinigung der Posts und Telegraphenangestellten<br />

in Petrograd, die der Parfümeriearbeiter in Moskau, die<br />

3<br />

) An der Spitze der Jekaterinodarer Bewegung stand die Genossin Gorbowa.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiter sind hauptsächlich Zementfabrikarbeiter und Befrachter.<br />

der Betriebsräte verbreitete sich auch auf Noworossiysk.<br />

<strong>Die</strong> Tätigkeit<br />

4<br />

) <strong>Die</strong> Arbeit wurde hauptsächlich von den Genossen Preferansow, Lebedew,<br />

Kritzkaja und anderen durchgeführt.<br />

5<br />

) Hier wurde die Arbeit vom Genossen A. Baron durchgeführt.<br />

6<br />

) Am tätigsten im Verein der Post- und Telegraphenbeamten waren unsere Genossen:<br />

Michalew, Bondarew und Grigorjew (die beiden letzten sind jetzt Bolschewiki);<br />

siehe „Stenographischer Bericht des Allrussischen Kongresses in Moskau 1918".<br />

7<br />

) Hier (Kasan) wurde die Arbeit vom Genossen Anossow durchgeführt.


<strong>Die</strong> revolutionär-syndikalistische Bewegung in Rußland. 13<br />

der der Waffenarbeiter in Kasan und einigen Eisenbahnknoten, z. B. Moskau—<br />

Kursk, wo Genosse K. Kawalewitsch besonderen Einfluß hatte, und andere.<br />

Dank der straffen Zentralisation, der Wahlmachinationen, lokaler Repressionen,<br />

fiel die gesamte Macht der Verwaltungsorgane in die Hände<br />

der Kommunisten. Der II. Allrussische Kongreß der Gewerkschaften (1919)<br />

bietet ein anschauliches Beispiel hierfür. Auf diesem Kongreß zählten die Anarcho-Syndikalisten,<br />

Maximalisten und Sympathisierende nur 15 Delegierte,<br />

die 52950 Mann repräsentierten, trotzdem die Sympathie der Arbeitermassen<br />

gegenüber den Anarcho-Syndikalisten gewachsen war. Durch die Reglementierung<br />

des Kongresses ist auch dieser Opposition noch das Wort genommen<br />

worden. Auf dem folgenden, dem III. Kongreß (1920) zählten die Anarcho-<br />

Syndikalisten und Sympathisierenden nur noch 10 Delegierte, die 53300 Mann<br />

repräsentierten. <strong>Die</strong>se Kongresse geben ein Bild der Taktik der Bolschewisten,<br />

die in allen syndikalistischen Vereinigungen eine zersetzende Rolle spielten.<br />

<strong>Die</strong>se Kongresse haben die ganze Ohnmacht der Taktik des „Golos Truda"<br />

im Jahre 1917 gezeigt, auf dessen Wort alle Anarcho-Syndikalisten Rußlands<br />

gelauscht hatten. 8<br />

) Das Nichtvorhandensein selbständiger revolutionärer<br />

Gewerkschaften hat den Untergang der anarchistischen und syndikalistischen<br />

Bewegung beschleunigt, weil die Kräfte, die in den bolschewistischen Verbänden<br />

zerstreut waren, keinen Widerstand leisten konnten und in die eiserne<br />

Klemme der Politik der „Diktatur des Proletariats" gedrängt wurden.<br />

Anfang 1920 hat sich dank der energischen Arbeit des Anarcho-Syndikalisten<br />

Pawlow — (der später seine Freiheit durch öffentliche Anerkennung<br />

der Ohnmacht der anarchistischen Tätigkeit in der gegenwärtigen Zeit erkauft<br />

hat) 9<br />

) — und der Sozialrevolutionären Maximalisten Kamischew und Nüschonkow<br />

unter dem Einfluß des Anarcho-Syndikalismus nur ein Moskauer Bäckerverband<br />

befunden. Auf dem zweiten Allrussischen Kongreß dieses Verbandes<br />

gab es eine Fraktion der „Föderalisten" von etwa 10—15 Mitgliedern, welche<br />

ein Drittel des Kongresses für sich hatte. Hier auf dem selben Kongreß<br />

wurde ein erster Versuch gemacht (Maximoff, Nüschonkow, Pawlow) innerhalb<br />

des Verbandes der Nahrungsmittelarbeiter die anarcho-syndikalistischen<br />

und anderen föderalistischen Elemente zu organisieren. <strong>Die</strong>se Organisation<br />

sollte der Anfang der Schöpfung einer allgemeinen Arbeiterkonföderation<br />

(Anarcho-Syndikalisten) Rußlands sein. Jedoch konnte das Komitee von<br />

obengenannten Personen, welches auf einer Sitzung der Fraktion der<br />

„Föderalisten" desselben Kongresses gewählt worden war, angesichts der kurz<br />

darauf einsetzenden Verhaftungen und Unterdrückungen seine Arbeit nicht<br />

anfangen. Es war nun mehr oder weniger offen der Kampf des Anarcho-<br />

Syndikalismus um eine Existenz innerhalb der russischen Arbeiterbewegung.<br />

Das Programm der russischen Gewerkschaftsbewegung bekennt sich<br />

zum Zentralismus, zur Zwangsmitgliedschaft, welche seit der Durchführung<br />

der N.E.P. (Neue Oekonomische Politik) abgeschafft wurde, zu Disziplins<br />

gerichten, Militarisierung der Arbeit, Arbeitszwang, Unterstellung unter das<br />

Diktat der politischen Partei, Nationalisierung der Produktion, d. h. Uebergang<br />

als Eigentum zum Staat, die Verwaltung der Industrie durch Beamte,<br />

Arbeitslohn nach Rang (17 Lohnstufen) für Arbeiter, 30 für Angestellte), Anwendung<br />

des Schwitzsystems, Arbeiterarmee, Taylorsystem, Akkordarbeit,<br />

Prämiensystem, Verzicht auf Kontrolle der Produktion und Arbeiterfabrikverwaltung<br />

usw. Im allgemeinen werden Programm und Taktik den Gewerkschaften<br />

von der „kommunistischen" Regierung vorgeschrieben. <strong>Die</strong> Gewerkschaften<br />

wie ihre Verwaltungszentren, von den niedrigsten bis zu<br />

den höchsten, haben seit langem schon nichts mehr gemein mit den<br />

arbeitenden Massen. <strong>Die</strong> Gewerkschaften spiegelten und spiegeln die<br />

8<br />

) Der Verfasser war einer von den Mitarbeitern des „Golos Truda", jedoch<br />

dieser Umstand hält ihn nicht ab, die Fehler, welche gemacht wurden, anzuerkennen.<br />

9<br />

) Es war im September 1921.


14<br />

<strong>Die</strong> revolutionär-syndikalistische Bewegung in Rußland.<br />

Politik der Regierung wieder und führten deren gesamte Forderungen<br />

zuungunsten der Arbeiterklasse aus. Ihrerseits werden alle Arten terroristischer<br />

Mittel angewendet, um jede Opposition zu unterdrücken. Strenge<br />

Strafen für das Ueberschreiten jeder dem Proletariat auch schädlichen Bestimmung,<br />

ohne auch die Mitarbeit der staatlichen Straforgane zu scheuen:<br />

Tscheka, Volksgericht, Desertierkomitee und andere. Der einzelne bedeutet<br />

nichts. Folgender Vorfall möge hier als typisches Beispiel angeführt sein: 10<br />

)<br />

Ein Arbeiter, der sich drei Tage lang von seiner Arbeitsstätte entfernte, um<br />

Verwandte auf dem Lande zu besuchen, wurde bestraft — in 10 Tagen<br />

5000 Pud Kohlen abzuladen — in den freien Stunden nach seiner üblichen<br />

täglichen Arbeit. Ein anderer Arbeiter wurde ähnlich bestraft, weil er auf<br />

kurze Zeit die Fabrik verlassen hatte. Solche und ähnliche „Verbrechen"<br />

kommen häufig vor. Viele Arbeiter werden mit schwerer Zwangsarbeit bestraft.<br />

<strong>Die</strong> Untersuchung einer sanitär-technischen Inspektion des Hintermoskauer<br />

Kohlengebiets ergab ein Bild, vor dem jede kapitalistische Arbeiterwillkür<br />

erbleichen würde. 11<br />

) (<strong>Die</strong>se Inspektion war von der Regierung unternommen<br />

worden). Im Namen des „gesellschaftlichen" Wohles, d. h. des<br />

Staates, wohnten die Arbeiter hier einige Kilometer entfernt von den Schächten<br />

in leichten Holzbaracken mit zerbrochenen Scheiben und Türen, eine Grube<br />

bildete das allgemeine Klosett. <strong>Die</strong> Löhne waren aufs äußerste unzureichend.<br />

<strong>Die</strong> Essenportionen betrugen 200 Gramm Brot täglich, und das nur bei Erfüllung<br />

bestimmter Produktionsbedingungen. Ueberstundenarbeit für ein<br />

Mittag. Arbeiter, die ihr Pensum nicht zur bestimmten Zeit fertigkriegten,<br />

wurden von den Schächten nicht herausgehoben, bis sie es endlich geschafft<br />

hatten. Derartige Tatsachen sind besonders häufig im Ural anzutreffen, wo<br />

hauptsächlich Trotzki und Pjatäkow das Regime führten, aber auch das übrige<br />

Rußland ist reichlich genug hiermit gesegnet. In der Idakewschen Fabrik beispielsweise<br />

wurde der anarchistische Arbeiter Gordejew, weil er sich der<br />

Fabrikdisziplin nicht unterwerfen wollte, erschossen. (Siehe „Golos Russie",<br />

1. Hälfte des Jahres 1922). In Jekaterinaburg hat man Arbeiter wegen Störung<br />

der Arbeiterdisziplin zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.<br />

<strong>Die</strong> in der Gewerkschaftsbewegung tätigen Anarcho-Syndikalisten<br />

konstatierten: <strong>Die</strong> Regierung ist ein Feind des Proletariats. Hieraus folgt,<br />

daß die erste Aufgabe der Gewerkschaft sein muß, sich freizumachen von<br />

der Regierung und die Wirkung der Gewerkschaften zu heben. <strong>Die</strong> Gewerkschatten,<br />

die ihrem Charakter nach unparteiisch sind, haben sich auf die<br />

Grundlage des Wirtschaftskampfes zu stellen und sich von der Leitung der<br />

<strong>Die</strong>ner des Staates, d. h. der politischen Parteien, zu befreien. Durch Mitarbeit<br />

mit der Regierung berauben die Gewerkschaften sich ihres<br />

bedeutendsten Rechtes, des Rechtes des Aufstandes. In demselben Maße,<br />

in dem sie Regierungsorgane geworden sind, entfremdeten sie sich dem<br />

Proletariat und seinen Interessen. Und so ist es gekommen, daß gegenwärtig<br />

das Proletariat nur formell, faktisch aber völlig unorganisiert ist. Von<br />

dieser Erkenntnis ausgehend, forderten die Anarcho-Syndikalisten folgendes:<br />

a) Wiederherstellung des Streikrechtes, b) Fühlungnahme mit dem Proletariat.<br />

c) Keine zwangsmäßige Organisierung des Proletariats, d) Umwandlung<br />

des zentralistisch-bürokratischen Organisationsprinzipes in ein<br />

föderalistisches, e) Durchführung der Revolution innerhalb der Gewerkschaften,<br />

d. h. Umwandlung der Gewerkschaften in industrielle Organisationen<br />

auf Grund der Föderation der Betriebsräte. Weiter, sich auf die<br />

Erfahrung stützend, behaupten die Anarcho-Syndikalisten folgendes: <strong>Die</strong><br />

10<br />

) Siehe „Krasny-Nabat" („Roter Alarm"), „Uralsky Rabotschiy" („Der Uraler<br />

Arbeiter").<br />

11<br />

) Aus einem Bericht der Aerzte-Inspektoren, die die Untersuchung durchführten.<br />

<strong>Die</strong>sen Bericht (von 1920) kann man im Archiv der Arbeiterschutzabteilung des<br />

Volksarbeitskommissariats finden.


<strong>Die</strong> revolutionär-syndikalistische Bewegung in Rußland. 15<br />

Praxis beweist, daß die Vereinigung der Arbeiterschaft auf der Grundlage<br />

der Produktion aufgebaut werden muß, und daß sie sich auf die Föderation<br />

der Fabrikkomitees (Betriebsräte) stützen muß. Derartige Produktionsvereinigungen<br />

haben das größte Interesse, die größte Einsicht und Uebersicht über Verwaltung<br />

und Hebung der Produktion. Aufgabe dieser Arbeitervereinigungen<br />

ist es, die industrielle Republik zu gründen, die Regierung zu stürzen und<br />

beinahe alle politischen Funktionen der Gesellschaft auszuüben. In den<br />

meisten Fällen sind die politischen Gründungen unnötige und teuere, und nur<br />

zeitweilig unbedingt notwendige, d. h. solche, deren Bestehen durch die Bedingungen<br />

der Uebergangsperiode zu einer herrschaftslosen Gesellschaft hervorgerufen<br />

werden. Eine der wichtigsten und notwendigsten Bedingungen,<br />

um das vorher Gesagte verwirklichen zu können, ist nicht: Beteiligung der<br />

Gewerkschaften in den Produktionsorganen, sondern Expropriation des<br />

Staates, Uebernahme aller ökonomischen Funktionen desselben, ohne welche<br />

derselbe nicht weiter existieren kann. Nur eine solche Aktion öffnet den<br />

Weg zu einer Gesellschaft der Freiheit, Gerechtigkeit und Herrschaftslosigkeit.<br />

Hauptbedingungen für schnelles Erreichen des Zieles sind folgende:<br />

a) Selbstständigkeit gewerkschaftlicher Organisationen, Einigkeit im Wollen<br />

und Handeln, Einigkeit in der Angriffstaktik.<br />

b) Selbstbewußtseinsentwicklung des Proletariats zur Erreichung seines<br />

Ziels.<br />

c) Vollständige Ablehnung von Schiedssprüchen und Reglementierungen<br />

der Streiks usw.<br />

d) Anerkennung des Prinzips, daß die Arbeiter auf niemand sonst, als auf<br />

sich selbst zu hoffen haben.<br />

e) Erkenntnis dessen, daß die ökonomische Abhängigkeit, in diesem Falle<br />

der Staat, die Quelle aller Knechtschaft ist.<br />

f) <strong>Die</strong> ökonomische Befreiung der Arbeiterschaft ist das Hauptziel; diesem<br />

Ziel hat die politische Bewegung sich unterzuordnen.<br />

g) <strong>Die</strong> Produktionsgruppen der Arbeiterschaft müssen die Keimzellen der<br />

neuen sozialen Ordnung sein.<br />

h) Anerkennung der Tatsache, daß eine sozialistische Regierung unfähig ist,<br />

eine neue Gesellschaft auf freier Grundlage aufzubauen.<br />

i) <strong>Die</strong> Arbeiter selbst haben den ökonomischen Aufbau durchzuführen;<br />

während der Kampfperiode haben sie Gruppen entschlossener aktiver<br />

Minderheiten zu stellen, die die Initative zur Aktion ergreifen.<br />

k) Anerkennung der Notwendigkeit des Generalstreiks, der die Liquidation<br />

der bürgerlichen Ordnung wie auch der sozialkapitalistischen gegenwärtigen<br />

Gesellschaft erzwingt.<br />

1) Hebung der kulturellen und materiellen Lage der Arbeitermassen.<br />

Aus diesen Punkten ist ersichtlich, daß die Grundaufgaben der Gewerkschaften<br />

nicht im Zusammenarbeiten mit den gegenwärtigen wirtschaftlichen<br />

Organen im Sinne der Verwaltung und Regulierung der Industrien liegen,<br />

sondern daß die Gewerkschaften selbst die Stelle als Träger und Verwalter<br />

der Wirtschaft auf Grund des dezentralistischen Produktionsprinzipes einzunehmen<br />

haben. Zu diesem Zwecke haben sie sich unter dem Namen<br />

Rat für Volksarbeit, Wirtschaft und Kultur ein wissenschaftlich-technisches<br />

Organ zu bilden. <strong>Die</strong>ser Rat geht hervor aus der im folgenden geschilderten<br />

Struktur der freien arbeitenden Gesellschaft.<br />

a) Der Rat für Volksarbeit, Wirtschaft und Kultur ist das einzige<br />

Organ mit informierenden und statistischen Funktionen. Er stellt dasjenige<br />

Organ dar, das auf der Grundlage der Freiheit die Kräfte von<br />

Personen, produzierenden sowie anderen Organisationen zusammenfaßt.<br />

Personen sowie Organisationen schließen sich diesem Organ freiwillig an<br />

und bleiben in vollem Besitze ihrer Unabhängigkeit. <strong>Die</strong> Funktionen des


16 <strong>Die</strong> revolutionärssyndikalistische Bewegung in Rußland.<br />

Rates für Volksarbeit, Wirtschaft und Kultur sind folgende: Lösung der<br />

Probleme allgemeinen Charakters auf den Gebieten der Arbeit, der Nationalökonomie,<br />

der materiellen und geistigen Kultur.<br />

b) <strong>Die</strong> Produktionsvereinigungen und die Verbände der Arbeiter der<br />

geistigen Kultur<br />

sind die führenden und regulierenden Faktoren auf dem Gebiete<br />

ihrer jeweiligen Industrien und haben die Leitung bei der praktischen<br />

Ausführung der theoretischen Pläne des Rates für Volksarbeit. Ihre Funktion<br />

ist die Regulierung der Industrie, Verteilung der Rohmaterialien, Festsetzung<br />

der Produktion nach der Norm der Bedürfnisse.<br />

c) <strong>Die</strong> produzierenden Abteilungen.<br />

<strong>Die</strong>se haben dieselben Funktionen wie die vorher erwähnten Produktiv-<br />

Vereinigungen, nur in kleinerem Maßstabe in den Grenzen des Zweiges ihrer<br />

Produktion.<br />

d) <strong>Die</strong> Betriebsräte.<br />

<strong>Die</strong>se sind die fundamentalen, freiheitlichen, wirtschaftlichen Organe,<br />

die dank ihrer Föderationen alle vorher angeführten Organe in sich einbegreifen.<br />

<strong>Die</strong> Betriebsräte haben die Verwaltung der einzelnen Fabriken<br />

unter sich. Sie sind die ausführenden Organe der produzierenden, konsumierenden,<br />

exterritorialen, herrschaftslosen Fabrik-Kommunen.<br />

Das Grundprinzip in der Regulierung und Verwaltung der Industrie vom<br />

Betriebsrat bis zum Rat ist genossenschaftlicher Geist, Herrschaftslosigkeit<br />

und das Recht der Gesamtheit, die Delegierten jederzeit wieder abberufen<br />

zu können.<br />

In Anerkennung der Tatsache, daß die Produktiv-Vereinigungen aufs<br />

äußerste interessiert sind am Aufbau der Wirtschaft, ist ein diszipliniertes<br />

Militarisieren der Arbeit nicht nur nicht nötig, sondern sogar schädlich,<br />

denn wahrhafte Aufbau-Arbeit kann nur aus Freiwilligkeit und unter<br />

unmittelbarer Anteilnahme an der Organisation und Verwaltung der Produktion<br />

geleistet werden. Und eine solche Freiwilligkeit und Produktivität<br />

ist nur unter Bedingungen möglich, die wirtschaftlich und politisch grundsätzlich<br />

verschieden sind von den heutigen, d. h. unter den Bedingungen<br />

einer industriellen Republik.<br />

Um auf die Arbeitsarmeen zurückzukommen, ist historisch bewiesen, daß<br />

unfreiwillige Arbeit quantitativ und qualitativ nicht einmal ein Viertel dessen<br />

erreicht, was freiwillige Arbeit hervorbringt.<br />

<strong>Die</strong> Arbeitsarmee ist ganz im Gegenteil ein Faktor, der Energien vernichtet.<br />

In Beziehung auf den Arbeitszwang ist zu sagen, daß er unter den<br />

heutigen Zuständen eine Erscheinung rückschrittlicher aber nicht fortschrittlicher<br />

Art ist. Der Arbeitszwang fesselt die Arbeiter an den Staat und<br />

schafft den Zustand einer Hörigkeit in so ungeheuerlichem Maßstabe, wie er<br />

in der ganzen Geschichte der Leibeigenschaft nicht bestanden hat.<br />

Der Arbeitszwang unter den Bedingungen des Staates, unter denen es<br />

Unternehmer und Lohn gibt, bedeutet unzweifelhaft Leibeigenschaft. Das<br />

Proletariat verschwindet als ökonomische Kategorie und Klasse und sinkt<br />

zurück in Leibeigenschaft. Der Arbeitszwang muß in Freiwilligkeit umgewandelt<br />

werden, die in Uebereinstimmung steht mit Gesetzen der Natur und<br />

dem Wohl der Gesellschaft. Der Arbeitszwang unter den Bedingungen der<br />

politischen Diktatur — es sei nochmals wiederholt — ist Leibeigenschaft.<br />

<strong>Die</strong> Gewerkschaften haben zu bedenken, daß auch unter den Bedingungen<br />

der industriellen Organisierung der Gesellschaft die Produktion<br />

nicht zu heben ist, solange das Proletariat nicht genügend hierzu vorbereitet<br />

ist. <strong>Die</strong> Produktion steht im gleichen Maßstab zum kulturellen und materi-


<strong>Die</strong> revolutionär-syndikalistische Bewegung in Rußland. 17<br />

eilen Zustand der breiten Massen der Arbeiterschaft. Hebung des Lebensstandards<br />

der Arbeiterschaft ist darum eine wichtige Aufgabe der Gewerkschaften.<br />

Um diese Aufgabe vollends lösen zu können, haben die Gewerkschaften<br />

danach zu trachten, den gesamten Apparat der Produktion und<br />

Konsumtion in ihre Hände zu bekommen. Soweit das noch nicht möglich<br />

ist, müssen sie sich wenigstens das Maximum an Einfluß sichern, und für<br />

ein Lebensminimum, für Gleichheit der Entlohnung usw. eintreten. Um das<br />

kulturelle Niveau des Proletariats tatsächlich heben zu können, sind dem<br />

Staate die Funktionen der Volksbildung zu entwinden; die Arbeiterschaft<br />

selbst hat auf diesem Gebiete einen gewichtigen Einfluß auszuüben; sie hat<br />

allgemeine Bildungsinstitute, Schulen, technische, professionelle Kurse,<br />

Theater, Ausstellungen u. dergl. m. zu bilden.<br />

<strong>Die</strong> Beziehungen mit den auswärtigen imperialistischen Regierungen<br />

sind dergestalt auszunutzen, daß wir Rohmaterialien gegen Maschinen und<br />

Instrumente eintauschen, um so die Möglichkeiten unserer Industrie zu<br />

heben durch Zuziehung hauptsächlich revolutionärer westeuropäischer<br />

Arbeiter zu unseren Fabriken und Feldern, die auch befähigt sein sollten,<br />

die Fachkenntnisse unserer Arbeiter zu heben. <strong>Die</strong> Konzessionen, die jetzt<br />

und in Zukunft von der Sowjetmacht an Kapitalisten erteilt werden, sind<br />

keine historische Notwendigkeit; sie sind nur ein Resultat der autoritären,<br />

die schöpferische Initiative der schaffenden Massen lähmenden Wirksamkeit<br />

des Staates. Bei der Organisierung der Produktion durch industrielle<br />

Föderationen hätte eine solche Tatsache gar nicht eintreten können.<br />

<strong>Die</strong> Gewerkschaften müssen sich bemühen, den Ausbeutungsgeist los<br />

zu werden, tägliche Repressionen abzuschaffen und sich von allen bürgerlicher<br />

Prinzipien zu befreien, wie „vollständige Abhängigkeit des Lohnes von der<br />

Arbeitsproduktivität" und statt dessen das kommunistische Prinzip aufzustellen<br />

— „jeder nach seiner Leistungsfähigkeit und jedem nach seiner<br />

Bedürfnissen." — <strong>Die</strong> Gewerkschaften müssen auch die Löhne nach Tarif<br />

abschaffen, weil das Prinzip der „gleiche Lohn", so lange man nicht nach<br />

den Bedürfnissen belohnt werden kann, die schädliche Tätigkeit der Tarifkommissionen<br />

gänzlich unnötig macht. 12<br />

)<br />

Das ist in kurzen Zügen das Programm, welches die Anarcho-Syndikalisten<br />

den Kommunisten seinerzeit entgegengestellt haben. Hieraus kann<br />

der Leser sich eine klare Vorstellung machen von dem Wollen und den<br />

Zielen der russischen Anarcho-Syndikalisten und auch die Lügen, Verleumdungen<br />

und Beschimpfungen ermessen, die die Bolschewisten über den<br />

russischen Anarcho-Syndikalismus in die Augen des internationalen gewerks<br />

schaftlich organisierten Proletariats ausgestreut haben.<br />

8. <strong>Die</strong> Gewerkschaftsbewegung unter der Rückkehr<br />

zum Kapitalismus.<br />

Der durch tausend Formen von Entbehrungen gejagte, ausgehungerte,<br />

lusgeplünderte, terrorisierte, jeder freiheitlichen Kampforganisation beraubte<br />

russische Arbeiter ist von neuem der doppelten Ausbeutung durch das internationale<br />

Raubgesindel der Kapitalisten und seinen räuberischen Staat ausgesetzt.<br />

Formale rechtliche Garantien haben keine reale Bedeutung mehr.<br />

Weder die Regierung noch die gewerkschaftlichen Institutionen und Verwaltungszentren<br />

brachten die phrasenhaften Versprechungen und Rechte,<br />

die einst im Namen des Proletariats und für das allgemeine gesellschaftliche<br />

Wohl erlassen wurden. Zum Kapitalismus übergehend, hat die Regierung in<br />

Uebereinstimmung mit den Gewerkschaftsgrößen alle versklavenden in Leib-<br />

12<br />

) Siehe: Maximoffs Vortrag über „Aufgaben der Arbeiterindustrieverbände",<br />

welcher auf dem Allrussischen Kongreß des Nahrungsmittelverbandes in Moskau 1920<br />

gehalten wurde. „Statt Programm", Verlag Ausländisches Büro zur Schaffung der<br />

russischen Anarcho-Syndikalistischen Konföderation, Berlin 1922.


18<br />

<strong>Die</strong> revolutionär-syndikalistische Bewegung in Rußland.<br />

eigenschaft bindende Privilegien der „Diktatur des Proletariats" und der Periode<br />

des Kriegs-Kommunismus weiter bestehen lassen und hat das Proletariat<br />

hilflos an den Kapitalismus ausgeliefert. Der Arbeiter bekommt heute eine<br />

Löhnung, daß es nur zu drei Viertel der nackten Ernährung ausreicht.<br />

Dabei ist er des Streikrechtes beraubt. Konflikte zwischen Unternehmern<br />

und Arbeiterschaft werden durch paritätisch zusammengesetzte Schlichtungsausschüsse<br />

liquidiert. <strong>Die</strong> Entscheidung dieser Kommission ist für die Arbeiterschaft<br />

bindend. <strong>Die</strong> Ausbeutung kennt keine Grenzen. Der Rechtsschutz<br />

den die Arbeiter früher, wenn auch in einer noch so minimalen<br />

Form, durch Zur-Verantwortung-Ziehen von Unternehmern genossen haben,<br />

ist zu einer bloßen leeren Form, zu einer Verhöhnung der Arbeiterschaft<br />

geworden.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiter waren gezwungen, von ihren eigenen Kräften zu zehren.<br />

Das können wir durch Zahlen illustrieren. 13<br />

)<br />

Bis zur Revolution betrug der Aufwand des Arbeiters 3820 große Kalorien<br />

und im Jahre 1919 — 2680. d. h. der Arbeiter mußte sich täglich mit 30%<br />

weniger der Nahrung begnügen. Im Jahre 1922 betrug der Kalorienaufs<br />

wand des Arbeiters (bei weitem nicht aller) 2980. Ein erwachsener Mann<br />

verbraucht bei Bettruhe täglich 2000 große Kalorien als Minimum.<br />

Hieraus folgt, daß der Arbeiter in der Zeit bis zur Revolution für produktive<br />

Arbeit 1820 große Kalorien verbrauchte, die wir auf 100% veranschlagen<br />

wollen. Daraus ergibt sich, daß der Arbeiter für dieselbe Arbeit<br />

aufzuwenden hatte: 1919 nur 680 große Kalorien, d. h. 37,4 %, 1920 etwas mehr<br />

— 980 oder 54%.<br />

Stellt man sich nun vor, daß die Arbeiter nur 30—40% selbst von dieser<br />

geringen Nahrungsnorm ausgezahlt bekamen, so konnte der Arbeiter für<br />

produktive Arbeit nur gegen 16% aufwenden.<br />

So kam es, daß der „faule russische Arbeiter", als den die Herren Lenin,<br />

Trotzki, Kautsky und andere ihn stempelten, nur 67—64% der früheren Produktion<br />

leistete, durch verkürzte Arbeitszeit ging die Produktion auf nur<br />

50% zurück und seine normale Produktivität verringerte sich nur aus Mangel<br />

an gehöriger Nahrung auf 46%, ungeachtet verschiedener anderer Ursachen,<br />

wie Abnutzung von Werkzeugen, Mangel an Rohstoffen, an Heizmaterial,<br />

anhaltende Kälte durch vollständiges Fehlen jeglicher hygienischen Arbeitsbedingungen<br />

. . .<br />

<strong>Die</strong> jetzt bestehende Neue Oekonomische Politik („N.E.P.") bedeutet<br />

vollends den Niedergang des heldenhaften russischen Proletariats durch<br />

einen ungenügenden Lohn für halbverhungerte Existenzen, nun kommen<br />

noch andere Lasten, wie direkte und indirekte Steuern, Wohnung, Licht,<br />

Wasser und andere Abgaben, die vor Einführung der N.E.P. nicht vorhanden<br />

waren.<br />

<strong>Die</strong> Politik der „Roten kommunistischen Gewerkschaften'' ging sogar so<br />

weit, im Jahre 1921 das Projekt der Kollektivverträge anzuerkennen, welches<br />

von der provisorischen Kerenski;Rcgierung (Arbeitsministerium Skobelew-<br />

Gwosdew) ausgearbeitet worden war, das aber von der Oktoberrevolution<br />

1918 weggefegt wurde. <strong>Die</strong> kommunistischen Gewerkschaften begnügten sich<br />

jedoch nicht damit, sondern führten in dieses Projekt einige Bestimmungen<br />

ein, die an Rückständigkeit noch den Plan der Kerenski-Regierung übertrafen.<br />

Obzwar der Streik jetzt ebensowenig offiziell verboten ist wie in der Zeit<br />

13<br />

) <strong>Die</strong>se Zahlen sind aus einem Artikel des Statistikers Strumilin in Nr. 225 der<br />

„Ekonomitscheskaja Schisn", des offiziellen Organs des Obersten Volkswirtschaftsrats<br />

entnommen. Der Verfasser dieses Artikels arbeitete mit Strumilin zusammen in den<br />

russischen Gewerkschaften und ist von seiner wissenschaftlichen Aufrichtigkeit<br />

überzeugt.


<strong>Die</strong> revolutionär-syndikalistische Bewegung in Rußland.<br />

des „Kriegskommunismus", 14<br />

) werden durch Anwendung anderer Paragraphen,<br />

insbesondere in Staatsbetrieben streikende Arbeiter tatsächlich verfolgt. 15<br />

)<br />

<strong>Die</strong> Prozesse, die 1922/23 gegen viele Privatunternehmer gemacht wurden,<br />

waren nichts als eine Komödie, da die Gewerkschaften und der Staat, welche<br />

diese Prozesse anstrengten, selbst auf die Sünderbank zusammen mit den<br />

Privatunternehmern gehörten. Ohne Zustimmung der Gewerkschaften ist<br />

der Streik den Arbeitern unter Anwendung von schweren Strafen seitens der<br />

Gewerkschaften verboten.<br />

<strong>Die</strong>se wenigen Andeutungen sollen genügen; wir haben hier nicht nötig,<br />

lang und breit auszuführen, warum die russische Regierung und die allrussischen<br />

Gewerkschaften Feinde der Arbeiterschaft Rußlands sind. Einige<br />

Ziffern und die darin sich bergenden furchtbaren Tatsachen sollen diese<br />

Behauptung erhärten.<br />

Rußland allein, nicht die vereinigten Sowjetrepubliken, zählt heute etwa<br />

70 Millionen Einwohner. <strong>Die</strong> Kommunistische Partei zählte Mitte 1921<br />

700000 16<br />

) Mitglieder; sie stellte also 1% der Bevölkerung dar. <strong>Die</strong> Zahl<br />

der Arbeiter innerhalb der Partei beträgt 51% (1920), 17<br />

) d. h. etwas mehr<br />

als 8% 18<br />

) der Gesamtzahl des russischen Proletariats. 92% des Proletariats<br />

sind also unter die Botmäßigkeit eines kleinen Häufleins von Parteimitgliedern<br />

gestellt. Das organisierte Proletariat (63 Gouvernements-Gewerkschaften)<br />

wurde von 618 „gewählten" Beamten geführt, von denen 78,5%<br />

Kommunisten sind und der Rest den intellektuellen Ständen angehört.<br />

<strong>Die</strong>ses mag genügen; jeder mag aus obigen Ausführungen den hilflosen<br />

Zustand des Proletariats in Rußland selbst ermessen. <strong>Die</strong>ser Zustand, der<br />

mit Worten nicht zu beschreiben ist, wirft das russische Proletariat in die<br />

Arme illegaler Organisationen, in die Arme der Rechtssozialisten, die die<br />

Arbeiter vor den Wagen ihrer eigenen Interessen spannen. Ein Teil stößt<br />

auch zu dem Teil des Proletariats, der bisher unter den Fahnen des Anarcho-<br />

Syndikalismus marschierte.<br />

14<br />

) Der Verfasser war bis zu seiner Verhaftung und Ausweisung nach dem Auslande<br />

als Leiter der Abteilung der Statistik des Zentralkomitees des Allrussischen Verbandes<br />

der Metallarbeiter tätig, dessen Vorsitzender zurzeit Schlapnikow war, der sich<br />

einen bedauernswerten Ruhm eines unsteten „Führers" der sogenannten „Arbeiter-<br />

Opposition" erwarb. Und nun ist bemerkenswert, daß sogar in diesem „oppositionellen"<br />

Verbande die Versuche des Verfassers, eine regelrechte Statistik der Streiks zu führen,<br />

stets erfolglos endeten, weil erstens die Registratur der Streiks durch den Allrussischen<br />

Zentralrat der Gewerkschaften und das Arbeitervolkskommissariat verboten waren,<br />

und zweitens, in einem Staate, der vom Proletariat regiert wird, kann und darf<br />

kein Streik sein. Aber trotzdem kamen ziemlich oft zahlreiche Streiks vor, sie wurden<br />

aber als konterrevolutionäre Auftritte gestempelt und von den Kommunisten als Ränke<br />

der Weißgardisten erklärt, wobei die roten Gewerkschaften sich stets bemühten, einen<br />

Teil der Arbeiter gegen den anderen zu hetzen, und, um sich von den Anstiftern zu<br />

befreien, wandten sie sich an die Tscheka, wo viele von den Mitgliedern der Gewerk-<br />

Schaftsausschüsse tätig waren.<br />

15<br />

) Laut des Zeitungsberichtes („Izwestia") von der Tagung der III. Session<br />

Allruss. Zentr.-Exekutiv-Komitee Sowjets im Mai 1922, war bei Beurteilung des § 61<br />

des Kriminalkodex ein Punkt wegen Bestrafung gegen „Hetzerei zur Massenaufregung"<br />

eingetragen. <strong>Die</strong>ser Paragraph wird jetzt gegen die Streikenden angewendet.<br />

16<br />

) Jetzt beträgt die Mitgliederzahl der Kommunistischen Partei nur noch etwas<br />

über die Hälfte (472 000 Mitglieder und Kandidaten).<br />

17<br />

) Im Jahre 1923 : 44,9 Proz.; 1924: 45,75 Proz.<br />

18<br />

) Herr Stalin zählt jetzt nur 10 Proz., weil er die Zahl des sich verhältnismäßig<br />

zu den vorigen Jahren verringerten organisierten Proletariats annimmt, nämlich<br />

4 100 000 Mann. Bemerkenswert ist, daß nur 17 Proz. der Parteimitglieder in Fabriken<br />

als Arbeiter und die übrigen als verschiedene Beamte beschäftigt sind, z. B. 1. Gewerkschaftsbeamte:<br />

1923 waren 28000, (1924) 27 000 ; 2. Parteibeamte: 1923 : 26000,<br />

1924 : 23 000 ; 3. Genossenschaftsbeamte: 1923: 103000, 1924: 125000; 4. Staatsbeamte:<br />

1923: 1 500000, 1924: 1 200000; alle zusammen 1 580 000 (siehe „Prawda", Nr. 118).<br />

19


20 <strong>Die</strong> revolutionär-syndikalistische Bewegung in Rußland.<br />

Pflicht der russischen Kameraden ist heute mehr wie jemals vorher,<br />

nicht nachzulassen in aktiver Propaganda, in Wort und Schrift und Beispiel.<br />

Pflicht der internationalen revolutionären syndikalistischen Bewegung ist es,<br />

ihren russischen Brüdern beizustehen, um den Ideen des Anarcho-<br />

Syndikalismus in Rußland zum Siege zu verhelfen, damit das Proletariat<br />

dieses Landes den einzigen Ausweg aus dem Dunkel des heutigen Tages<br />

klar erkennt, was von ungeheurer Bedeutung für die gesamte revolutionäre<br />

syndikalistische Bewegung sein wird.<br />

- -<br />

-<br />

Nun ist mein Artikel zu Ende, aber ich möchte noch, bevor ich ihn<br />

unterzeichne, alles oben Erwähnte durch ein merkwürdiges Bild illustrieren.<br />

Es handelt sich um die Streikpolitik der russischen kommunistischen Gewerkschaften,<br />

also auch R.G.I.<br />

<strong>Die</strong>ses „Bildchen", veröffentlicht im Zentralorgan der roten Gewerkschaft<br />

„Trud" Nr. 237 vom 20. 10. 1923 und betitelt: „Der Streik in der<br />

Darmverwertungsindustrie" lautet:<br />

„Ende September entstand unter den Arbeitern der Darmindustrie<br />

der Stadt Omsk eine Gärung. <strong>Die</strong> Arbeiter waren unzufrieden mit dem<br />

Kollektivverträge, den das Zentralkomitee der Nahrungsmittelgewerkschaften<br />

mit dem staatlichen Zentralkomitee der Darmindustrie geschlossen hat.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiter verlangten eine Erhöhung der Grundlöhne, Festsetzung neuer<br />

Löhne, zweimal monatlich, am 1. und am 15., Erhöhung der Löhne in allen<br />

Lohnstufen, Herabsetzung der Mindestleistungen, Gewährung von Arbeitskleidung<br />

für den Beruf und dergl.<br />

erhöhung.<br />

Der Grund ihrer Forderungen war Lohn-<br />

<strong>Die</strong> Gouvernementsabteilung der Nahrungsmittelgewerkschaften schlug<br />

den Arbeitern vor, die Arbeit unter den früheren Bedingungen fortzusetzen<br />

und legte gleichzeitig Fürsprache ein bei dem Z.K. der Nahrungsmittelgewerkschaften<br />

zwecks Aenderung der Paragraphen des Lohnabkommens. <strong>Die</strong><br />

Arbeiter lehnten diesen Vorschlag ab und verließen die Arbeit. <strong>Die</strong> Zahl<br />

der Streikenden betrug 130 Mann. <strong>Die</strong> Streikenden setzten kein besonderes<br />

Streikkomitee ein, alle ihre Handlungen trugen einen unorganisierten Charakter.<br />

Es ist charakteristisch, daß die Arbeiter in der Darmverwertungsindustrie<br />

im Vergleich zu den anderen Arbeitern der Stadt Omsk einen<br />

50% höheren Lohn bekommen. 19<br />

)<br />

<strong>Die</strong> Anführer gingen von dem Gedanken aus, daß es in Omsk überhaupt<br />

keine Darmarbeiter gäbe und hofften diesen Vorzug auszunutzen. Besonders<br />

trieben die Arbeiter (81 Mann), die von der Gouvernementabteilung aus dem<br />

19<br />

) Ich halte es für nötig, die Leser auf den unterstrichenen Satz aufmerksam zu<br />

machen, denn aus diesem Satze ist die Taktik des Kampfes der Herren Kommunisten<br />

gegen den Streik klar zu ersehen. <strong>Die</strong>se Taktik besteht in der Mühe der Kommunisten,<br />

mit Lüge und Verleumdung alle anderen Arbeiter gegen die Streikenden zu hetzen.<br />

Ich besinne mich auf den gemeinen Kampf, den die Kommunisten im Jahre 1920<br />

gegen den Verband der Bäcker in Moskau führten, wo die Anarcho-Syndikalisten und<br />

sozial-revolutionäre Maximalisten sehr großen Einfluß gehabt haben. <strong>Die</strong> Moskauer<br />

Bäcker forderten drei Pfund Brot als Tagelohn (der Arbeitslohn wurde in jener Zeit<br />

in Geld und Naturalien ausbezahlt, da das Geld keinen Wert hatte und von dem<br />

Lohn in Bargeld reichte ein Monatsgehalt für etwa fünf Tage zur Existenz). <strong>Die</strong><br />

Herren Kommunisten haben diese Forderungen für ihre Zwecke benutzt, und der Vorsitzende<br />

des Moskauer Rates der Gewerkschaften, Herr Melnitschansky, zusammen<br />

mit dem Vorsitzenden des Zentralkomitees des Allrussischen Nahrungsmittelverbandes,<br />

Krol, haben auf allen Arbeiterversammlungen Moskaus gegen die Moskauer Bäcker und<br />

ihre Führer (Kamischew, Nüschenkow, Pawlow, die schließlich aus dem Verband aus-


<strong>Die</strong> revolutionär-syndikalistische Bewegung in Rußland. 21<br />

Woronescher Gouvernement herbeigeholt worden waren, zum Streik. Auf<br />

eine telegraphische Anfrage antwortete die Woronescher Gouvernementsabteilung<br />

der Nahrungsmittelgewerkschaften, daß die Arbeiter unter den<br />

Bedingungen des Mantelvertrages geschickt worden waren.<br />

Am 30. September auf der vereinigten Gesamtversammlung der Darmbearbeiter<br />

in Gegenwart der Vertreter der Gouvernementabteilung der<br />

Nahrungsmittelgewerkschaften und des Darmindustriebevollmächtigten über<br />

ganz Sibirien wurde vom Vorsitzenden der Gouvernementabteilung vorgeschlagen,<br />

das Z.-K. der Allrussischen Nahrungsmittelgewerkschaften und<br />

Darmindustrie um eine Erhöhung der laut Index festgesetzten Löhne um<br />

25% zu bitten. Der Bevollmächtigte der Darmindustrie unterstützte diesen<br />

Vorschlag auch, aber die Arbeiter waren nicht einverstanden und forderten:<br />

Monatslohn für einen Arbeiter der 9. Kategorie — 60 Goldrubel —, Antwort<br />

in drei Tagen.<br />

Der Ausschuß beurteilte diese Frage und beschloß, das Z.-K. der Allrussischen<br />

Nahrungsmittelgewerkschaften zu bitten, die Löhne zu erhöhen,<br />

den Darmarbeitern anheimzustellen die Arbeit aufzunehmen und im Falle<br />

ihrer Ablehnung das Komitee des Verbandes aufzulösen und eine Umregistrierung<br />

der Mitglieder vorzunehmen.<br />

Der Rat der Gouvernementabteilung der Allrussischen Gewerkschaften<br />

(die Vereinigung aller Gewerkschaften des angegebenen Gouvernement) hat<br />

diese Bestimmung bestätigt. <strong>Die</strong> Arbeiter fügten sich diesen Forderungen<br />

des Verbandes nicht und versuchten mit anderen Städten in Verbindung zu<br />

kommen und breitere Arbeitermassen zuzuziehen. <strong>Die</strong>ser Versuch wurde<br />

unterdrückt.<br />

Am 3. Oktober wurden die Komitees aufgelöst und neue Mitglieder in<br />

den Verband geworben. Schon am ersten Tage meldeten sich zur Umregistrierung<br />

55% der allgemeinen Zahl der Streikenden. Kurz darauf meldete<br />

sich im Verband eine Arbeiterdelegation, welche das Wort gab, daß die Arbeiter<br />

die Arbeit aufnehmen und geduldig die Entscheidung der Frage<br />

im Zentrum erwarten werden. Auf diese Weise war der Konflikt erledigt.<br />

Der Bericht und die Dokumente über den ganzen Streik wurden dem Z.-K.<br />

des Verbandes zugestellt mit der Bitte, die Löhne der Darmarbeiter zu<br />

erhöhen."<br />

Nach dieser Illustration, die selbst deutlich genug für sich spricht, kann<br />

ich endlich meinen etwas zu lang gewordenen Artikel schließen in der<br />

Ueberzeugung, daß der Leser sich ganz klar wurde darüber, was die kommunistischen<br />

Gewerkschaften und ihre <strong>Internationale</strong> vorstellen und was für<br />

einen Wert sie für das Proletariat haben.<br />

geschlossen wurden), auf die gemeinste Weise gehetzt. Um die Moskauer Bäcker, die<br />

unter dem Einfluß der Anarcho-Syndikalisten standen, in den Augen des Moskauer<br />

Proletariats vollständig zu mißkreditieren, hat Herr Melnitschansky in der monopolisierten<br />

Parteipresse („Izwestia", „Wetschernia Izwestia") einen abscheulichen Artikel<br />

veröffentlicht. In diesem Artikel nannte er die Moskauer Bäcker Haderlumpe und<br />

Forderte das Moskauer Proletariat auf, die Bäcker der Schande und der Verachtung<br />

preiszugeben.<br />

Wie, wehklagte dieser fett gewordene gewerkschaftliche Bonze, die Bäcker, welche<br />

während ihrer Arbeit zwei Pfund Brot verzehren, erkühnen sich, noch drei Pfund Brot<br />

als täglichen Lohn zu fordern, und das jetzt, wo alle übrigen Arbeiter Moskaus mit<br />

einer Ration von drei viertel Pfund zu existieren gezwungen sind. . . . Das Moskauer<br />

Proletariat kann nicht in seinen Reihen diese Haderlumpe dulden.


22 Der kommende Krieg gegen Asien.<br />

Der kommende Krieg gegen Asien.<br />

von Agnes Smedley, Amerika.<br />

Noch einmal wird die Welt einem neuen Krieg ins Auge sehen müssen,<br />

einem Unglück, zu dem im Vergleich der letzte Krieg unbedeutend<br />

erscheinen wird. Das amerikanische und das britische Weltreich, die beiden<br />

hauptsächlichsten wirtschaftlichen und politischen Mächte der Welt, die<br />

Stützpfeiler des imperialistisch-kapitalistischen Systems, das die Welt in<br />

seinen Krallen hält, werden diesen Krieg gegen Asien wagen.<br />

<strong>Die</strong> Vorbereitungen zu diesem Gemetzel beherrschen jede politische und<br />

wirtschaftliche Aktion dieser beiden Regierungen, angefangen bei der Rassenund<br />

Farbenpropaganda der Presse bis zu den Seemanövern im Großen<br />

Ozean, von der Gewährung neuer indischer Reformen bis zur Erbauung<br />

des großen Luft- und Flottenstützungspunktes in Singapur. <strong>Die</strong> Vorbereitungen<br />

sind beschleunigter und drohender geworden, weil die indische Nationalbewegung<br />

mächtig zunimmt, weil die chinesische Nationalbewegung gegen<br />

die imperialistischen Mächte stärker geworden ist, und weil Japan mehr und<br />

mehr der kommerzielle Nebenbuhler Englands und Amerikas in China<br />

geworden ist.<br />

Es ist zuerst nötig, einen Blick auf die politische und ökonomische<br />

Lage Asiens zu werfen, um die Kräfte, die hinter diesen Kriegsvorbereitungen<br />

stecken, zu verstehen. Vor allem ist Asien sowohl eine der Hauptquellen<br />

von Rohmaterialien für die europäische Industrie als auch ein Absatzgebiet<br />

für verarbeitete Waren. Ebenso bietet es ein weites Feld für die Anlage überflüssigen<br />

Kapitals. Was die Unterwerfung der asiatischen Völkerschaften<br />

durch das britische Weltreich anbetrifft, so ruht sie im einzelnen. Statt Rohmaterial<br />

zu sichern und es für einen ungeheuren Außenmarkt zu behalten,<br />

ist Indien vollständig unterworfen worden, politisch und wirtschaftlich. Und<br />

als dies einmal geschehen war, wurde Indien als Mittelpunkt benutzt, von<br />

dem aus ganz Asien, unter Einschluß von China und dem nahen Osten,<br />

unterworfen wurde. <strong>Die</strong> Bedeutung Indiens für das Weltreich ist am besten<br />

in einem Buch mit dem Titel „Amerika und das Wettrennen um die Weltherrschaft",<br />

von A. Demangeon, Professor an der Sorbonne in Paris, zusammengefaßt;<br />

dort sagt er:<br />

„Indien ist die typische Kolonie für Ausbeutung. Außerordentlich reich,<br />

sowie stark bevölkert, bietet es seinen Herren zugleich Reichtum und Verteidigung<br />

dar. Durch Indien sichert England sein Schicksal. Indien ist der<br />

Stützpunkt des britischen Handels für den fernen Osten. Indien liefert<br />

der Flotte Stützpunkte für ihre Seewege. Indien stellt der Armee Legionen<br />

intelligenter Soldaten; die eingeborene Bevölkerung kämpft für Großbritannien<br />

in China und Südafrika. Während des Weltkrieges stellte Indien<br />

mehr als eine Million Menschen, von denen über 100000 getötet wurden.<br />

Indien ist für Großbritannien ein Riesenmarkt; zwei Drittel seiner Einfuhr<br />

kommen aus England; es liefert 51 Proz. der Weizenproduktion des Weltreichs,<br />

58 Proz. Tee, 73 Proz. Kaffee und fast alle Baumwolle. Ungeheure<br />

englische Gelder sind in indischen Bergwerken, Fabriken, Pflanzungen,<br />

Eisenbahnen und Bewässerungswerken angelegt. Indien bezahlt die Zinsen<br />

für ungefähr 350 Millionen Pfund Sterling. Indien beschäftigt eine Armee<br />

britischer Beamter, deren Gehalt es bezahlt, und deren Ersparnisse alljährlich<br />

nach England wandern. Es ergießt die Zinsen seiner Staatsschulden, die


Der kommende Krieg gegen Asien. 23<br />

Pensionen alter Beamter, die Regierungsausgaben seiner Verwaltung in<br />

britische Kassen. Auf mehr als 30 Millionen Pfund Sterling jährlich schätzt<br />

man die Summen, die Indien im Vereinigten Königreich für seine Guthaben,<br />

seinen Aktionären und Beamten zahlt. Außerdem wissen wir nicht, wieviel<br />

es den Kaufleuten einbringt, die mit ihm handeln, und den Schiffern, die seine<br />

Waren befördern. Niemals wurde der Ausdruck Ausbeutung besser<br />

angewendet als hier."<br />

Der Weltkrieg verschärfte nur den Appetit der Riesenmächte auf Herrschaft<br />

und Macht. In den Vereinigten Staaten z. B. entstanden während des<br />

Krieges 23000 neue Millionäre. Das britische Weltreich verleibte seinem<br />

Gebiet 931000 Quadratmeilen afrikanischen Bodens ein — eine Landstrecke,<br />

die ungefähr ein Drittel der Vereinigten Staaten ausmacht. Ferner belegte<br />

es die reichen Euphratländer, Mesopotamien, Syrien, Palästina und die Ostküste<br />

des Roten Meeres mit Beschlag. Es schuf Schutzgebiete rund um<br />

Aegypten, so daß es sich leisten konnte, jenem alten Lande den Anschein<br />

politischer Selbständigkeit zu geben, und es doch unterworfen zu halten. Seine<br />

Handelswege nach Asien werden wie nie zuvor bewacht, zu Lande und zur<br />

See. <strong>Die</strong> britische Flagge ist die erste auf See.<br />

<strong>Die</strong>s sind ganz offene Beispiele von Räuberei, denen durch das Bündnis<br />

der Nationen der Stempel der Gesetzlichkeit und Moralität aufgedrückt<br />

worden ist. Hierzu kommt neuerdings die verfeinerte Technik des Imperialismus,<br />

in der Amerika Sachverständiger und England alter Meister ist. Das ist<br />

das System finanzieller Durchdringung, wie man es heute am besten in China<br />

sehen kann, ein System, dem nicht notwendigerweise die Besitznahme des<br />

Landes folgen muß, obgleich sich das oft daraus ergibt. In China haben die<br />

Weltmächte wirtschaftliche Zugeständnisse gesucht, ungeheure Anleihen<br />

einem schwachen Lande aufgezwungen und als Garantie dafür Bergwerke,<br />

Oelquellen und Zölle genommen. Sie haben das Land nicht annektiert; sie<br />

halten bloß seine Lebensbedingungen in tödlichen Krallen — und das ist weit<br />

bedeutender als das gesetzliche Recht auf Oberherrschaft. <strong>Die</strong> großen Mächte<br />

haben „Einfluß-Sphären", wie zum Beispiel Englands „Einfluß-Sphäre", die<br />

28 Proz. des gesamten chinesischen Landes bedeckt, unter Einschluß des<br />

reichen Yangtse-Tales, mit den gestohlenen britischen Territorien um Tibet<br />

an einem Ende und dem britischen Hafen Hongkong am andern.<br />

Während des Weltkrieges stärkte sich Japan in China. Seine berüchtigten<br />

21 Forderungen forderten sein „Recht" auf Rußlands frühere<br />

Besitzungen in der Mandschurei, auf Deutschlands Besitzungen in Schantung<br />

(die später China zurückgegeben wurden) und auf die reichsten Eisen- und<br />

Stahlwerke in Asien. Das verschaffte ihm fast eine Schutzherrschaft über<br />

jenes Land. Während des Weltkrieges erbeuteten japanische Kapitalisten<br />

50 Proz. des Baumwollmarktes, den England früher in China hatte. Sie<br />

gerieten bei jeder Gelegenheit mit amerikanischen Kapitalisten in Konflikt.<br />

<strong>Die</strong> führenden Mächte in China haben das unglückliche Land in<br />

beständiger Unruhe gehalten. Sie haben die verderbte Regierung in Peking<br />

aufrechterhalten und es durch sie erreicht, dem Lande ungeheure Anleihen<br />

aufzuzwingen und ihre Vergünstigungen und Aneignngen natürlicher Hilfsquellen<br />

gesetzlich zu machen. <strong>Die</strong> endlosen Bürgerkriege haben in dieser<br />

Politik ihren Ursprung.<br />

Nach Bertrand Russel, der im „New Leader" über diese Dinge schreibt, ist<br />

es nur eine Frage der Zeit, „bis England und Amerika gemeinsam ans Werk<br />

gehen werden, um eine ,gute Regierung' in China zum Zwecke der Ausbeutung<br />

aufzurichten", und um „einem Volke, das durch endlose Kriege zur Verzweiflung<br />

gebracht ist", Frieden zu bringen. Ein englischer Journalist, Herr<br />

John A. Brailsford, der aus Tokio einen Artikel in der Dezemberausgabe 1924<br />

der „Modern Review" in Kalkutta schreibt, berichtet von Vorgängen in China


24 Der kommende Krieg gegen Asien.<br />

und dem unverhüllten Haß der Chinesen gegen westliche imperialistische<br />

Mächte. Herr Brailsford spricht auch von dem Konflikt zwischen der revolutionären<br />

Regierung des inzwischen verstorbenen Dr. Sun Yat Sen im Süden<br />

und den britischen Behörden. Im August 1924 versuchte Dr. Sun Yat Sen einen<br />

Aufstand zu unterdrücken, der von Chan Lim Pak, dem obersten chinesischen<br />

Beamten der Hongkong- und Shanghai-Bank, des führenden britischen<br />

Finanzunternehmens in jenem Teil der Welt, angeführt wurde. Als der<br />

britische Konsul in Kanton drohte, Kanton mit Kanonen zu bombadieren,<br />

falls der Plan zur Ausführung käme, gab Dr. Sun Yat Sen sein berühmtes<br />

Manifest an das chinesische Volk heraus, das ein ziemlich klares Bild der<br />

in Frage kommenden Streitkräfte gibt, die in dem zukünftigen Kampf verwickelt<br />

sind. Ein Abschnitt des Manifestes lautet:<br />

„Ich sehe eine neue und unrechte Absicht in dieser Herausforderung<br />

des imperialistischen Englands. Wenn ich sie im Lichte der diplomatischen<br />

und moralischen Unterstützung und der Millionen von Wiedereinrichtungen<br />

und anderen Anleihen, die die imperialistischen Mächte über 12 Jahre<br />

beständig der Konterrevolution gegeben haben, besehe, so ist es unmöglich,<br />

diese Handlung des Imperialismus als etwas anderes als einen ausgeklügelten<br />

Versuch anzusehen, die Kuo-Ming-Tang-Regierung, an deren Spitze ich stehe,<br />

zu zerstören. Denn hier ist offene Empörung gegen diese Regierung, von<br />

einem vertrauten Agenten der mächtigsten Stütze des Imperialismus in China<br />

geleitet. Und eine sogenannte britische Arbeiterregierung droht, die chinesischen<br />

Behörden in Kanton niederzuschießen, wenn sie die einzige Art der<br />

Aktion ergreifen würden, die sie wirksam befähigen könnte, sich mit einer<br />

Bewegung zu messen, die nach ihrem eigenen Sturze strebt."<br />

Während des vergangenen Jahres ist die Spannung zwischen England<br />

und Amerika,einerseits und Japan andererseits größer geworden. Das Ausmaß,<br />

in dem Japan die beiden herrschenden Mächte der Welt im Händel<br />

eingeholt hat, kann man aus der rapiden Zunahme japanischer Firmen in<br />

einer einzigen Stadt — Shanghai — von 1914 bis zur Gegenwart beurteilen:<br />

Amerika<br />

England<br />

Japan<br />

1914<br />

71<br />

202<br />

117<br />

1923 1924<br />

165<br />

228<br />

1047<br />

216<br />

265<br />

1125<br />

Aus derlei Zahlen ersehen wir einen Teil der tieferen Gründe der angloamerikanischen<br />

Feindschaft gegen Japan.<br />

Eine der trockensten Angaben über den Interessenkonflikt in Asien und<br />

die Notwendigkeit der Kriegsvorbereitungen stammt von Herrn W. H. Gardiner,<br />

dem Vizepräsidenten des amerikanischen See-Bundes aus der<br />

Novembernummer der „Fortnightly Review" in London, wo er feststellt:<br />

„Es wird gut sein, sich zu erinnern, daß 1923 der Außenhandel der Britischen<br />

Inseln — wovon die meisten britischen Arbeiter direkt oder indirekt leben —<br />

sich fast auf zwei Billionen Pfund belief, von denen ungefähr die Hälfte<br />

auf dem Großen und Indischen Ozean befördert wurde, während im selben<br />

Jahre der Außenhandel der Vereinigten Staaten, der sich sehr schnell im<br />

Orient vermehrt hat, ungefähr vier Fünftel so groß war, wie der der<br />

Britischen Inseln. Da solche Ideale und Interessen auf dem Spiele stehen,<br />

könnte man es für das beste halten, daß der gangbare und friedliche Weg<br />

für Amerika und Großbritannien zur Aufrechterhaltung ihrer Macht, für<br />

jeden sein würde, seine Hauptstellung und die abhängigen Besitzungen im<br />

fernen Osten mit solch klarer Festigkeit innezuhalten, daß jeder Versuch von<br />

Seiten der Japaner, ihre südwärts gerichteten Marinepläne auszuführen,<br />

augenfällig geringfügig erscheint.<br />

Was für einem Idealismus Europa und Amerika bei sich zu Hause auch<br />

frönen mögen, die Tatsache bleibt bestehen, daß das moderne Asien


Der kommende Krieg gegen Asien. 25<br />

mindestens gerade so eine Stätte des Realismus ist, wie das vorkriegszeitliche<br />

Deutschland — eine Stätte war, wo praktische Anstalten von Amerika und<br />

England getroffen werden mußten, damit jedes seine Hauptstellung und<br />

abhängigen Besitzungen mit solch sichtbarer Festigkeit in die Hand nahm,<br />

daß jeder Versuch gegen sie bedeutungslos wurde."<br />

„<strong>Die</strong> amerikanische Flotte ist nicht so stark, wie sie eigentlich sein sollte ..<br />

<strong>Die</strong> britische Flotte hat keine angemessene und zulässige Grundlage im<br />

Stillen Ozean ... Es gehört augenscheinlich zum Interesse der Amerikaner<br />

als auch der Briten, daß die Herstellung eines solchen britischen Stützpunktes,<br />

wie der für Singapur geplante, so wenig wie möglich Verzögerung<br />

erleide."<br />

Ein Mitglied des amerikanischen Kongresses hat nun zu einer Konferenz<br />

der weißen Bevölkerung in den Ländern am Stillen Ozean aufgerufen, deren<br />

Zweck, wie man sagt, „besseres ökonomisches, kommerzielles und politisches<br />

Verständnis hervorzurufen und eine allgemeine Verteidigung gegen die Angriffe<br />

der gelben Rasse vorzubereiten" sei. Hinsichtlich solcher Entwicklungen haben<br />

China, Japan und Rußland zu einer Zusammenkunft aller asiatischen Völker<br />

aufgerufen, um Mittel und Wege zu diskutieren, ihre Freiheit zu gewinnen und<br />

aufrechtzuerhalten. Japan hat seine Politik China gegenüber, die 30 Jahre lang<br />

äußerst anmaßend war, plötzlich revidiert. Und nachdem Rußland und Japan<br />

hinter die Kriegsvorbereitungen des anglo-amerikanischen Bundes gekommen<br />

sind, haben sie einen Bündnisvertrag unterzeichnet, und mit ziemlicher<br />

Sicherheit kann man annehmen, daß China sich ihm anschließen wird, wenn<br />

dieses nicht schon geschehen ist. In diesem Vertrag sind Japan und Rußland<br />

übereingekommen, die Unverletzlichkeit Chinas zu schützen. Japan hat wertvolle<br />

wirtschaftliche Konzessionen gewonnen, unter Einschluß der großen<br />

Oelmagazine und 500 Millionen Tonnen Hartkohle auf der russischen Hälfte<br />

der Insel Sachalin, nördlich von Japan, der einzigen großen Kohlengegend an<br />

der gesamten Küste des Stillen Ozeans. Hierzu kommt in Japan selbst die<br />

Entdeckung einer unerschöpflichen Eisenerzquelle. Wir alle wissen, daß von<br />

allen Kriegsbedarfsartikeln Oel, Kohle und Eisen die wichtigsten sind. Der<br />

Zorn Englands und Amerikas über diese wirtschaftliche Entwicklung übersteigt<br />

jede Grenze, denn dadurch erreicht Japan plötzlich eine erschreckende<br />

militärische Macht, und ist in seiner Kohlen-, Eisen- und Oelwirtschaft vollkommen<br />

unabhängig von England und Amerika.<br />

In einer Diskussion über den russisch - japanischen Vertrag sagt<br />

Tschitscherin, Rußlands Außenminister:<br />

„Das Uebereinkommen mit Japan ist mehr als eine gewöhnliche Festsetzung<br />

von Streitfragen zweier Länder. Es befestigt den Einfluß der Sowjetregierung<br />

im fernen Osten und wirft ein ungünstiges Licht auf die verwickelten<br />

politischen Beziehungen der Welt."<br />

Durch diesen Vertrag sehen wir Rußlands Wiedereintritt als Macht in<br />

Asien. Ueber Rußlands Absichten können wir aus einer andern Feststellung<br />

Tschitscherins auf dem Kongreß der östlichen Völker, der in der ersten Märzwoche<br />

1924 in Baku abgehalten wurde, hören, wo er erklärt, daß es „Rußlands<br />

Politik ist, jede Spur des britischen Imperialismus in Asien zu zerstören".<br />

Es mag wohl sein, daß man plant, britische imperialistische Macht durch<br />

russische bolschewistische Macht zu ersetzen, obgleich das, wonach Asien<br />

strebt, die Zerstörung jeder Spur irgendwelcher Art von Imperalismus ist.<br />

Der russisch-japanische Vertrag hat durchgreifende Ergebnisse. Man<br />

muß ihn in Verbindung mit der russisch-türkischen Verständigung betrachten,<br />

die ein Verteidigungsbündnis darstellt. <strong>Die</strong> Türkei, Afghanistan und Persien<br />

sind gleichfalls durch Verteidigungsbündnisse vereinigt, und ihre Beziehungen<br />

zu Rußland sind sehr herzlich. So sehen wir in einer Front ganz Asien,<br />

angefangen bei der Türkei und Rußland hinüber bis zu Japan (mit Aus-


26 Der kommende Krieg gegen Asien.<br />

nahme des abgelegenen Indiens) einen asiatischen Block bilden, mit dem<br />

England und Amerika zu rechnen haben werden.<br />

Amerika berief eine neue Abrüstungskonferenz in Washington ein. Aber<br />

diese Konferenz dient, wie die 1921, nicht zur Entwaffnung, sondern ist nur<br />

ein Versuch, Japan zu entwaffnen. <strong>Die</strong>s gleicht den Haldane-Vorschlägen<br />

etwa drei Jahre vor dem Weltkrieg, als England versuchte, Deutschlands<br />

Marine einzuschränken.<br />

Amerika hat riesige Seemanöver im Stillen Ozean abgehalten — eine<br />

direkte Herausforderung zum Kriege — und Japan weigerte sich, ohne eine<br />

Erklärung abzugeben, die amerikanische Flotte aufzunehmen. Japan hielt<br />

Gegenmanöver ab, deren Aufgabe die Beschützung jeglichen Eingangs zu<br />

dem Inselkönigreich war. <strong>Die</strong> amerikanische Flotte führte 250 amerikanische<br />

Journalisten mit, „um dem amerikanischen Publikum zu zeigen, was die<br />

Regierung tut und zu tun versucht!"<br />

<strong>Die</strong> Erbauung des großen Luft- und Flottenstützpunkts in Singapur<br />

durch England hat keinen anderen Zweck als den der Vorbereitung zum<br />

Kriege. Britische Staatsmänner haben mit ihrer üblichen Heuchelei zu sagen<br />

versucht, daß jene Station nur eine Aufenthaltsstation sein solle. „<strong>Die</strong> Nation"<br />

(London, Dez. 1924) fragt: „Unter welchen Umständen denken wir, daß<br />

unsere Schlachtschiffe in fernen östlichen Gewässern gebraucht werden?<br />

Wir brauchen keine Schlachtschiffe, um unseren Handel vor Raubkreuzern<br />

oder Unterseebooten zu schützen."<br />

Gemäß dem Singapur-Plan heißt es, baue England acht neue Kreuzer.<br />

Aber diese neuen Kreuzer sind nur die öffentlichen Vorbereitungen. Es gibt<br />

weit unheilvollere geheime Vorbereitungen von denen wir einen Schimmer bekommen,<br />

wenn wir einen kürzlich erschienenen Artikel des Sonderkorrespondenten<br />

von „Le Journal" in Paris lesen, der nach Asien geschickt wurde, um<br />

sich von dem Stand der Dinge zu überzeugen. <strong>Die</strong>ser Schriftsteller sagt:<br />

„Nach der angekündigten Aufgabe der Erbauung der Station in Singapur<br />

durch die MacDonald-Regierung entstand mit großer Schnelligkeit und in<br />

voller Heimlichkeit ein neuer Flottenstützpunkt in der Bucht von Trinkomali<br />

auf der Insel Ceylon. In tiefem Wasser liegend, gegen die Wucht des Ozeans<br />

geschützt und von hohen Bergen umgeben, erfüllt er in hohem Maße seine<br />

Aufgabe, der englischen Flotte in jeder Art auf ihrem Wege nach Indien<br />

zu dienen. Eine strategische Eisenbahnlinie verbindet ihn durch Dschungeln<br />

und Reisfelder mit Colombo. Vor zweieinhalb Jahren weihte der Prinz<br />

von Wales diese Flottenstation ein, ohne daß die Welt das geringste davon<br />

hörte. Gegenwärtig schützt sie eine ganze Schwadron von acht Kreuzern.<br />

Im weiteren Verlauf der Reise hatten wir eine andere sehr interessante<br />

Ueberraschung. In der Straße von Malakka hört man plötzlich den Ruf<br />

„U-Boot in Sicht!" Und wir sahen tatsächlich halb über dem Wasser-<br />

Spiegel, seine große Kanone gegen uns gerichtet, ein prächtiges 1200-Tonnen-<br />

Unterseeboot, das gemäß den Erfahrungen des letzten Krieges hergestellt<br />

war, und dem England die Beschützung seiner Besitzungen anvertraut hat.<br />

<strong>Die</strong>se Begegnung ist bezeichnend. Sie bedeutet, daß trotz aller Parlamentsdebatten<br />

über die Befestigung von Singapur die britische Admiralität niemals<br />

in ihren fieberhaften Vorbereitungen innegehalten hat. Laßt uns zusammenfassen:<br />

Port Said, Suez, Perim und Aden sind die Wächter des Roten Meeres,<br />

Trinkomali beschützt den Weg nach Indien, Penang und Singapur bewachen<br />

die malaischen Seewege, und das letzte Glied der Kette liegt im Stillen Ozean,<br />

das geheimnisvolle Hongkong."<br />

Daß Singapur nicht nur gegen Japan gebaut wird, wie einige Leute feststellen,<br />

zeigt die Tatsache, daß es 3000 Meilen von Japan entfernt liegt und<br />

der große Stützpunkt in Südostasien ist, der die Bucht von Bengalen und<br />

Indien auf der einen Seite und das Südchinesische Meer mit Hongkong und<br />

dem Zutritt zu China auf der anderen Seite bewacht.


Der kommende Krieg gegen Asien. 27<br />

Welche Rolle England in diesem Kampf Indien zuerteilen will, geht klar<br />

aus dem letzten Kriege hervor. Aber wenn die indischen Söldlinge sich weigern,<br />

gegen Asien zu kämpfen, plant England, das Land zu guter Letzt ohnmächtig<br />

zu machen. Lord Reading, der Vizekönig von Indien, ist plötzlich zu einer<br />

Konferenz nach London berufen worden, deren Gegenstand unzweifelhaft<br />

war, neue Reformen für Indien auszuarbeiten und zu versuchen, eine große<br />

Anzahl indischer Führer für England zu gewinnen. Reformen können nur<br />

zwei oder drei Provinzen gewährt werden, und so wird das Nationalbewußtsein<br />

des Landes zerstört.<br />

Hierzu kommt die beständige Arbeit britischer Agenten, Aufstände<br />

zwischen den Hindus und Mohammedanern in Indien zu beschleunigen. <strong>Die</strong>se<br />

Lage der Dinge muß man im Licht der Ereignisse des nahen Orients betrachten.<br />

England versucht, eine halb unabhängige arabische Föderation unter britischem<br />

„Schutz" zu bilden, diese Föderation soll ein Bollwerk gegen die Türkei einerseits<br />

sein und andererseits die heiligen Stätten des Islam schützen und den<br />

Sitz des Kalifats (des Vatikans der Mohammedaner) bilden. <strong>Die</strong> indischen<br />

Mohammedaner sind sehr religiös, und England hofft, ihre Treue zum Kalifat<br />

zu befestigen, das ja nichts mehr und nichts weniger als eine politische Einrichtung<br />

der Engländer ist.<br />

In der Zwischenzeit werden die nordwestlichen Grenzgebiete Indiens<br />

befestigt und Flugstationen und Krankenhäuser dort gebaut. Das Luft-Budget<br />

Englands ist außerordentlich vergrößert worden, und der Leiter des britischen<br />

Flug-Ministeriums bereiste diesen Weltteil, um einen allbritischen Luftweg<br />

von England nach Indien, von Indien nach Singapur, Hongkong,<br />

Australien und Südafrika herzustellen. Wenn England Indien auf keine<br />

andere Art halten kann, so kann es doch, nach den Worten eines Mitglieds<br />

des Oberhauses, wenigstens das Land von der Luft aus zerstören.<br />

In Indien hat England plötzlich ein Gesetz zum Schutz einiger nationaler<br />

Industriezweige bewilligt. <strong>Die</strong> „Industrie- und Handelsrevue für Indien", die<br />

in Berlin veröffentlicht wird, stellt dieses Gesetz an den Pranger, in dem sie<br />

an einer Stelle sagt:<br />

„Der Stahl von Tata (Tata ist ein großer indischer Stahlkonzern) lieferte<br />

der britischen Regierung während des Weltkrieges Munition, und Tatas<br />

Eisenschienen halfen, nebst anderen Dingen, bei der Erbauung von Eisenbahnen<br />

in Mesopotamien, Englands ökonomische und politische Beraubung<br />

jenes Landes zu unterstützen. Und wir können nicht umhin, zu denken, daß<br />

der indische Stahl eine besondere Rolle in dem Kriege spielen wird, der im<br />

östlichen Asien nach einigen Jahren unvermeidlich ist. <strong>Die</strong> Bedeutung dieser<br />

Stahlproduktion in Indien darf in Hinsicht auf einen asiatischen Krieg nicht<br />

unterschätzt werden, und dieser neue Maßstab muß in Verbindung mit dem<br />

Flottenstützpunkt in Singapur und Englands Kriegsvorbereitungen gebracht<br />

werden. Und wenn der Krieg vorüber ist, werden wir begreifen, wie die<br />

britische imperialistische Politik gemacht wurde, um mit den Interessen der<br />

indischen Kapitalistenklasse übereinzustimmen."<br />

Seit Kriege nicht nur durch Waffen allein, sondern auch durch die Presse<br />

ausgefochten werden, können wir einen Vorbereitungsfeldzug in Europa und<br />

Amerika bemerken. <strong>Die</strong> „gelbe Gefahr" wird wieder verkündet; man nimmt<br />

Bezug auf Visionen von „asiatischen Raubeinfällen wie im dunklen Zeitalter."<br />

<strong>Die</strong> amerikanische Presse gibt den Japanern den Titel „Gelbe Hunnen<br />

des Ostens". Haß, Furcht, grausame Wollust werden erweckt, und Bücher,<br />

die diesem Zweck dienen, erfahren eine ungeheure Verbreitung. Eines der<br />

auffallendsten dieser Bücher ist „<strong>Die</strong> steigende Farbenflut", von Lothrop<br />

Stoddard, das die angelsächsische Welt aufruft, „die Fesseln des eingewurzelten<br />

Altruismus abzuschütteln, das eitle Phantom des Internationalismus<br />

beiseite zu setzen und den Rassenstolz und das Recht zu regieren, wieder<br />

auf ihre Fahne zu schreiben!"


28 Der kommende Krieg gegen Asien.<br />

Der kommende Kampf ist ein Kampf um den Besitz der Erde, ausgefochten<br />

von dem großen anglo-amerikanischen Kapitalistenbund. Englische<br />

und amerikanische Kapitalisten sind mächtig genug, um das Schicksal<br />

der Arbeiter ihrer Länder für den Schutz ihrer in Asien angelegten Vermögen<br />

zu verpfänden. Wie wir wissen, ist das kapitalistische System international,<br />

und wenn England und Amerika in Kriege verwickelt sind, muß<br />

notwendigerweise die ganze Welt daran teilnehmen. So verstehen wir Rassenund<br />

Farbenpropaganda in Deutschland, Holland und anderen Ländern, deren<br />

Absicht ist, diese Länder mit dem anglo-amerikanischen Bund zu vereinigen.<br />

Wegen anglo-französischer Feindseligkeiten in Afrika, dem nahen Orient<br />

und Indo-China, erwartet man von Frankreich nicht, daß es sich der<br />

sogenannten „weißen Welt" anschließt, und französische Arbeiter, deren<br />

Schlachtfeld nicht nur Indo-China, sondern auch Afrika, der nahe Orient<br />

und Europa ist, werden statt dessen zum Kampf gegen das anglo-amerikanische<br />

Bündnis aufgerufen. Heute sagt man den englischen, amerikanischen und<br />

deutschen Arbeitern, daß die Franzosen die „Verräter der weißen Welt"<br />

seien, und daß man nicht nur gegen sie kämpfen müsse, weil sie kein<br />

Farben-Vorurteil haben, sondern auch wegen der freundlichen Beziehungen<br />

zwischen der japanischen und französischen Regierung. Französischdeutscher<br />

Haß wird heute zu Flammen angefacht, um Deutschland in den<br />

mörderischen englisch-amerikanischen Hexenkessel hineinzuziehen, und noch<br />

einmal wird man die deutschen Arbeiter, die noch die Wunden des letzten<br />

Krieges tragen und die noch in wirtschaftlicher Abhängigkeit leben gegen<br />

französische, russische und asiatische Arbeiter aufrufen; und als Gegengabe für<br />

diesen Söldnerdienst werden vielleicht einige französische Kolonien in Afrika<br />

der herrschenden Klasse in Deutschland übergeben werden.<br />

<strong>Die</strong> holländischen Arbeiter werden direkt beteiligt sein — denn die<br />

Teilnahme Hollands auf englisch-amerikanischer Seite ist unvermeidlich,<br />

wenn Deutschland sich der Gruppe anschließt; in diesem Fall ist Holland<br />

in Europa gegen einen deutschen Angriff geschützt und Holländisch-Ostindien<br />

gegen einen englisch-amerikanischen. <strong>Die</strong> ruhmvollen holländischen<br />

Arbeiter sollen nicht nur ihre europäischen Brüder morden, sondern auch die<br />

protestierende Bevölkerung Holländisch-Ostindiens, woher soviel Wirtschaftlicher<br />

Wohlstand der holländischen Kapitalisten kommt.<br />

Das Ziel der internationalen Arbeiterbewegung rückt in weite Ferne,<br />

wenn dieser Krieg unternommen wird. Es wird die Einführung neuer Formen<br />

der Leibeigenschaft bedeuten, nicht nur für die asiatischen Völker, sondern<br />

für dieselben europäischen und amerikanischen Arbeiter, die den Krieg ausfechten.<br />

Wenn sie diesem Lauf des Kaiserreichs folgen, müssen sie auch<br />

den Preis für das Kaiserreich zahlen — doppelt, dreifach, tausendfach, mit<br />

Elend und Blut. Sie müssen darauf vorbereitet sein, wirtschaftliche Sklaverei<br />

und Armut als Besoldung zu empfangen. Sie müssen beiseite stehen in ihrer<br />

Armut, all die Wunden des unaussprechlichen Krieges tragen, und zusehen,<br />

wie die herrschende Klasse sich im Reichtum der Welt wälzt.<br />

Wenn sie dies nicht wollen, müssen sie sich international nicht nur<br />

gegen den kommenden Krieg, sondern auch für die soziale Revolution organisieren.<br />

Der kommende Krieg ist nur eine Nebensache im Kampf der ganzen<br />

Welt. Der grundlegende Kampf, der fortgeführt werden muß, bis er siegreich<br />

ist, ist der "der organisierten Arbeiterklasse um die Besitznahme und<br />

Kontrolle der Produktionsmittel und der Schaffung einer freien Gesellschaft.


Wandlungen in der schwedischen Sozialdemokratie 29<br />

Wandlungen in der schwedischen Sozialdemokratie.<br />

Vordringen syndikalistischer Erkenntnisse.<br />

Von Albert Jensen, Stockholm.<br />

In dem geistigen Zweikampf, der zwischen dem freiheitlichen und autoritären<br />

Sozialismus geführt wurde und noch fortgeht, kann nur die geschichtliche<br />

Erfahrung endgültig entscheidender Richter sein. <strong>Die</strong> letzten 10 Jahre<br />

haben in dieser Hinsicht eine Epoche gebildet. Eine bedeutende Menge geschichtlicher<br />

Erfahrungen hat Belege für die Richtigkeit des taktischen und<br />

prinzipiellen Standpunktes der freiheitlichen Richtungen im großen ganzen<br />

gebracht, gleichzeitig gab diese Erfahrung eine scharfe und unabweisbare<br />

Kritik dafür, daß die autoritären Richtungen in vielen Beziehungen sowohl<br />

in prinzipieller wie taktischer Hinsicht sich verrechnet haben. Welcher<br />

schwere Schlag war im Grunde nicht der Kriegsausbruch 1914 gegen die These<br />

des Parlamentarismus als sicherste Wahrnehmung der Interessen der Arbeiterklasse,<br />

eine Verrechnung, die mehrere 10 Millionen Menschenleben kostete und<br />

unermeßliches Elend und Leiden über das Proletariat brachte, um schließlich<br />

zu einer allweltlichen politischen Reaktion zu führen, die die Entwicklung um<br />

Jahrzehnte zurückwarf. Und welche Lehre ist nicht das russische Experiment<br />

betreffs der Doktrin von der Eroberung der Staatsmacht als grundlegenden<br />

Elements für die Schaffung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung! In<br />

welchem Maße hat sich nicht die politische Machtergreifung der Sozialdemokraten<br />

in Deutschland als soziale Ohnmacht erwiesen! Wie oft hat nicht der<br />

politische Machtbesitz der Sozialdemokraten in den verschiedensten bürgere<br />

liehen Ländern praktisch dargestellt, daß eine Regierung in einer bürgerlichen<br />

Gesellschaft im großen ganzen nichts anderes sein kann als eine Exekutive<br />

Für die wirtschaftlich und politisch herrschenden Klassen, die bürgerlichen<br />

Klassen, selbst wenn diese Regierung sich sozialistisch nennt und von einem<br />

guten Willen beseelt ist, ihr Bestes zu tun.<br />

Aber selbst wenn das letzte Jahrzehnt eine Epoche an Erfahrungen bildet,<br />

so ist damit nicht gesagt, daß diese Erfahrung sich sofort bemerkbar macht<br />

bei der praktischen Tätigkeit der verschiedenen Richtungen. Politische Bewegungen<br />

erkennen nur sehr schwer ihre Fehler, und die Notwendigkeit einer<br />

solchen Erkenntnis dringt nur langsam vorwärts, weil eine oft versteinerte<br />

Dogmatik oder eine noch schlimmere geistige Einstellung von korruptem<br />

Einfluß der bürgerlichen Gesellschaft vorherrscht. Aber die Wahrheit ist auf<br />

lern Marsch, und keine Macht kann ihr auf die Dauer widerstehen.<br />

In Schweden, hochoben auf der letzten Thule, ein Land, über welches man<br />

in südlicheren Ländern oft die wunderlichsten Auffassungen hegt, macht sich<br />

bei den Sozialdemokraten ein Streben bemerkbar, das Unabweisliche anzuerkennen,<br />

und das dürfte nicht ohne Interesse für einen internationalen<br />

Leserkreis sein. Zu diesem Verhältnis mag beigetragen haben, daß die Sozialdemokratische<br />

Partei teils an der Seite der Liberalen mitregiert hatte, teils<br />

alleiniger Inhaber der Regierungsfunktionen gewesen ist. Man hat eingesehen,<br />

daß der Besitz der Regierungsmacht nicht den Vorstellungen entspricht, die<br />

man sich machte, ehe man zur Macht kam. Der frohe und rosenrote Optimismus,<br />

der früher den Ansturm der sozialdemokratischen Bewegung zu den<br />

Regierungssitzen kennzeichnete, ist in gewisser Hinsicht von des Gedankens<br />

kranker Blässe abgelöst worden.


30<br />

Wandlungen in der schwedischen Sozialdemokratie<br />

<strong>Die</strong> schwedische Arbeiterbewegung im modernen Sinne des Wortes leitet<br />

ihre Ahnen auf den Beginn der achtziger Jahre zurück, die syndikalistische<br />

Bewegung trat als Organisation erst im Jahre 1910 auf. Sie wächst sachte<br />

und sicher, aber heute umfaßt sie noch nicht mehr als ein Zehntel aller gewerkschaftlich<br />

organisierten Arbeiter. <strong>Die</strong> reformistische — in Deutschland<br />

nennt man sie wohl gewöhnlich zentralistische — Gewerkschaftsbewegung<br />

stand die ganze Zeit und steht immer noch unter der geistigen Vormundschaft<br />

der Sozialdemokratie. Daraus kann man entnehmen, welchen vorherrschenden<br />

Einfluß die Sozialdemokratie auf die schwedische Arbeiterbewegung<br />

ausübte und ausübt.<br />

<strong>Die</strong> Auffassung, die bisher über die Bedeutung der gewerkschaftlichen<br />

und politischen Organisationen für den Sozialismus und dessen verschiedene<br />

Aufgaben im Klassenkampfe sowie für den Endsieg des Sozialismus herrschend<br />

war, ist folgende:<br />

Der Gewerkschaftsbewegung, selbst wenn sie geistig von den Sozialdemokraten<br />

beherrscht ist, wird nicht die geringste sozialistische Aufgabe<br />

beigemessen. Sie wurde darauf verwiesen, eine Kampforganisation zu sein,<br />

die innerhalb des Rahmens der bürgerlichen Gesellschaft die Interessen der<br />

Arbeiter gegenüber den Unternehmern wahrzunehmen hatte, für Verkürzung<br />

der Arbeitszeit, Erhöhung der Löhne, Verbesserung der Arbeitsverhältnisse<br />

im allgemeinen sowie auch für die Durchführung demokratischer Verhältnisse<br />

auf politischem Gebiete eintreten sollte. Alle diese Aufgaben lagen jedoch<br />

innerhalb des Rahmens der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse. Eine<br />

revolutionäre Aufgabe, sei es zur Niederringung des kapitalistischen Lohn-<br />

Systems, zum Aufbau eines neuen Produktionssystems oder einer neuen<br />

Gesellschaftsordnung, wurde der Gewerkschaftsbewegung nicht angewiesen.<br />

Im Gegenteil, derartige Bestrebungen wurden als etwas Schlechtes angesehen,<br />

als etwas, das der Natur der Gewerkschaftsorganisationen vollkommen<br />

fremd war.<br />

<strong>Die</strong> sozialistischen Aufgaben wurden von der sozialdemokratischen Partei<br />

ganz und gar monopolisiert. <strong>Die</strong> politische Abteilung dieser Arbeiterbewegung<br />

sollte sowohl den Kapitalismus niederreißen als auch die sozialistische<br />

Regierung durch ihre parlamentarische Tätigkeit aufbauen. Dabei wurde im<br />

allgemeinen jeder Gedanke an die Anwendung der revolutionären und außerparlamentarischen<br />

Methoden zurückgewiesen. Der Sozialismus sollte als Folge<br />

der allgemeinen demokratischen Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse<br />

auftreten. <strong>Die</strong> politische Vertretung in Staat und Kommune sollte sich<br />

so auswachsen, bis man durch friedlichen Parlamentsbeschluß zu einem<br />

operativen Eingriff gegen den Kapitalismus schreiten und nach und nach den<br />

Sozialismus unter der Form des Staatssozialismus verwirklichen konnte.<br />

In dieser Beziehung ist nun eine merkbare Veränderung eingetreten. Man<br />

beginnt an den alten Auffassungen zu rütteln. Man schwört nicht mehr mit<br />

derselben Sicherheit auf die Sesammacht der politischen Herrschaft, man<br />

beginnt an der Vortrefflichkeit des Staatssozialismus zu zweifeln und zu<br />

erkennen, daß den gewerkschaftlichen Organisationen eine konstruktive<br />

Aufgabe für die Verwirklichung des Sozialismus zugesprochen werden muß.<br />

Verschiedene von den alten reformistischen Gewerkschaftsorganisationen<br />

haben während der letzten Jahre ihre Aufgabe als zukünftige Schöpfer einer<br />

neuen Produktionsordnung, als Uebernehmer der Produktion nach Ablösung<br />

des Kapitalismus eingestanden. <strong>Die</strong> Grenze, die ihre Tätigkeit auf das Gebiet<br />

innerhalb des Rahmens der bürgerlichen Gesellschaft einschränkte, wird nun<br />

niedergerissen.<br />

Parallel mit der Erweiterung der Aufgaben, die den Gewerkschafts-<br />

Organisationen erteilt werden, tritt eine Tendenz zur Begrenzung innerhalb<br />

der politischen Abteilung der reformistischen Bewegung, innerhalb der<br />

Tätigkeit der Sozialdemokratie zutage.


Wandlungen in der schwedischen Sozialdemokratie 31<br />

Auf dem letzten Kongreß der Sozialdemokratischen Partei erklärte der<br />

verstorbene Führer Hjalmar Branting feierlich, man müsse zugeben, daß man<br />

die Bedeutung des Parlamentarismus bisher überschätzt habe. <strong>Die</strong>s war man<br />

gezwungen anzuerkennen, als man in den Besitz der Macht oder wenigstens<br />

der Regierung gekommen war. Bei einer anderen Gelegenheit gab derselbe<br />

Branting im Hauptorgan der Partei, „Sozialdemokraten", einen Ausspruch<br />

einer anderen sozialdemokratischen Zeitung mit seiner Zustimmung wieder,<br />

in welchem es heißt:<br />

„Das Problem des Sozialismus liegt nicht nur darin, daß die Arbeiterklasse<br />

die Macht erobert, sondern in noch höherem Maße darin, daß die<br />

Arbeiterklasse zur wirtschaftlichen Tauglichkeit erhoben wird, daß sie die<br />

Produktion wirksamer und gesellschaftsnützlicher übernehmen und leiten<br />

kann als die Kapitalisten. Solange dies nicht geschieht, ist vom Standpunkt<br />

der wirklichen wirtschaftlichen Gesellschaftsumwälzung der politische Machtbesitz<br />

in hohem Grade leerer Schein. Der beste Beweis ist Rußland, wo die<br />

absolute politische Macht der Bolschewisten den wirtschaftlichen Zerfall<br />

Rußlands nicht hindern konnte."<br />

Hier gibt man allerdings die Bedeutung des Parlamentarismus und der<br />

politischen Macht als gesellschaftsumwälzende Faktoren nicht auf, macht<br />

jedoch wichtige Einschränkungen. Man schiebt nicht nur den Staat als<br />

Organisator und Uebernehmer der sozialistischen Produktionsweise in den<br />

Vordergrund, man denkt sich die Arbeiterklasse als Uebernehmerin und<br />

Leiterin. Man anerkennt, daß der politische Machtbesitz nur ein „leerer<br />

Schein" ist, solange die Arbeiterklasse wirtschaftlich nicht reif zu dieser<br />

Umwälzung ist.<br />

Hjalmar Branting ist jetzt tot, aber sein Nachfolger auf dem Ministersessel,<br />

der Ministerpräsident Richard Sandler, setzt fort, Bekenntnisse zu<br />

machen. Neulich hielt er eine Rede, in welcher sich eine Stelle befand, die<br />

in dem Hauptorgan der Partei auf folgende Weise wiedergegeben wurde:<br />

„<strong>Die</strong> Arbeiterklasse kann die wirtschaftliche Mündigkeit, die der politischen<br />

entspricht, nicht voll erreichen, ohne daß die Ideen des Sozialismus<br />

die Produktion durchdringen. Der Redner warnte jedoch vor falschen Rückschlüssen<br />

von der Politik auf die Wirtschaft. Ein geachtetes Organ der<br />

Rechtsparteien schrieb neulich, daß eine sozialistische Produktionsweise in<br />

unserem Lande niemals auf parlamentarischem Wege durchgeführt werden<br />

kann, sondern daß die Arbeiterklasse zur Diktatur greifen müsse, um das<br />

Bestimmungsrecht in der Gesellschaft ausüben zu können. Der Redner bezeichnete<br />

diese Grundlegung für eine schwedische Diktaturtheorie als wirklichkeitsfremde<br />

Vorstellungen. <strong>Die</strong> erste These wäre richtig, damit ist aber<br />

keineswegs Raum bereitet für eine Diktaturlehre, sondern für die Einsicht,<br />

daß ein gesellschaftlicher Entwicklungsprozeß nicht darin bestehe, daß gewisse<br />

Beschlüsse durchgeführt werden. Keine parlamentarische Versammlung<br />

wäre imstande, die sozialistische Produktionsordnung zu beschließen, ebensowenig<br />

wie die kapitalistische Produktionsordnung dadurch zustande<br />

gekommen ist, daß jemand ihre Einführung beschlossen hat. Es ist jedoch<br />

klar, daß politische Verfügungen in einzelnen Punkten bei einem fortschreitenden<br />

wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß von Bedeutung sein<br />

können."<br />

Der Sozialismus kann nicht verwirklicht werden durch „einen Beschluß",<br />

auch nicht durch parlamentarische Tätigkeit oder durch politischen Machtbesitz.<br />

Das ist das Bekenntnis, das man macht.<br />

Wenn aber der Sozialismus durch parlamentarisch-politische Tätigkeit<br />

nicht Wirklichkeit werden kann, dann wird das Problem auf das außerparlamentarische<br />

Gebiet verwiesen, um dort seine Lösung zu finden. So weit<br />

erstrecken sich die Bekenntnisse der schwedischen Sozialdemokratie über<br />

die Ueberschätzung der parlamentarischen Tätigkeit und Uebertreibung der


32<br />

Wandlungen in der schwedischen Sozialdemokratie<br />

Hoffnungen, die an den Besitz der politischen Macht geknüpft worden sind.<br />

Man kann behaupten, daß diese Erklärungen sensationell sind, denn es sind<br />

Bekenntnisse darüber, daß die ganze sozialdemokratische, ja die ganze<br />

autoritär-sozialistische Ideologie im Begriff ist, zusammenzubrechen.<br />

Nun bleibt noch die interessante Frage, ob der „wirtschaftliche Entwicklungsprozeß",<br />

von welchem der Ministerpräsident Sandler spricht, mit<br />

einer Art fatalistischer Unumgänglichkeit zum Sozialismus fortschreitet, oder<br />

ob diese Entwicklung vom menschlichen Willen geleitet werden muß, einem<br />

Willen, der klar zum sozialistischen Ziele strebt. Im ersten Falle brauchen<br />

wir uns nicht anzustrengen, sondern können ruhig abwarten, bis der Sozialismus<br />

als eine Frucht der Entwicklung „fertig" ist, im letzteren Falle jedoch<br />

(und unsere Sozialdemokraten sind nicht einmal im marxistischen Sinne<br />

Fatalisten) muß man die Konsequenzen aus seinem Bekenntnis ziehen und die<br />

direkte Aktion anerkennen wie die Syndikalisten und Anarchisten. Man muß<br />

dann die wirtschaftlichen Kampfesorganisationen und den revolutionären<br />

Willen der Arbeiterklasse als entscheidende Faktoren für die Herbeiführung<br />

des Sozialismus anerkennen.<br />

Man kann nun die Frage stellen, ob man vor einem neuen Revisionismus,<br />

einem Revisionismus in revolutionärer Richtung innerhalb der Sozialdemokratie<br />

steht? Denn wenn die Sozialdemokratie auf diese Weise unter dem<br />

Druck der in der letzten Zeit gewonnenen Erfahrungen und praktischen<br />

Versuche die Untauglichkeit ihrer eigenen Methoden zur sozialistischen Neuschöpfung<br />

der Gesellschaft anerkennen muß, dann bleibt ihr zuletzt nichts<br />

anderes übrig, als entweder für die Methode der direkten Aktion und Abwendung<br />

vom Staatssozialismus einzutreten oder auch sich voll und ganz in<br />

die Arme der politischen Korruption zu werfen und offen anzuerkennen, daß<br />

die sozialdemokratische Politik nichts anders sein kann als bürgerliche<br />

Reformtätigkeit im Rahmen des Bestehenden und nicht zum Sozialismus<br />

führen kann.<br />

<strong>Die</strong>se Erscheinungen sind außerordentlich interessant. <strong>Die</strong> Politiker<br />

machen Sündenbekenntnisse über ihre Machtlosigkeit, während auf der<br />

anderen Seite die reformistische Gewerkschaftsbewegung die Grenzen niederreißt,<br />

in welchen sie eingeschlossen war.<br />

Unzweifelhaft war die syndikalistische Propaganda in Schweden ein<br />

Faktor, der zu dieser jetzt beginnenden Schwenkung beigetragen hat, man<br />

wäre aber wahrscheinlich nicht zu diesen Bekenntnissen gekommen, wenn<br />

nicht die Erfahrungen der letzten Jahre das Eingeständnis derselben gefördert<br />

hätten.<br />

<strong>Die</strong> reformistischen Bewegungen verändern sich jedoch nur äußerst langsam.<br />

Der Konservativismus liegt ihnen im Blute, und es dürfte noch lange<br />

dauern, ehe die Bewegung in ihrer Gesamtheit die Konsequenzen aus den<br />

gewonnenen Erfahrungen zieht. Wir können jedoch der Zukunft mit gutem<br />

Mute entgegensehen. <strong>Die</strong> schwedische Arbeiterklasse scheint allerdings nicht<br />

vom Syndikalismus auf diese Weise erobert zu werden, daß sie sich unseren<br />

Organisationen anschließt, selbst wenn diese mit starker Regelmäßigkeit<br />

wachsen. <strong>Die</strong> schwedische Arbeiterklasse scheint eher für den Syndikalismus<br />

auf die Weise gewonnen zu werden, daß unsere Ideen in deren eigene<br />

Festungen eindringen und sich zum Sieger machen.


<strong>Die</strong> dänische Arbeiterbewegung unter sozialdemokratischen Fittichen<br />

<strong>Die</strong> dänische<br />

Arbeiterbewegung unter sozialdemokratischen Fittichen.<br />

Von J. J. Ipsen, Kopenhagen.<br />

Der erste Arbeiterführer Dänemarks, der nach dem Fall der Pariser<br />

Kommune den Sozialismus in Dänemark proklamierte, stammte von der<br />

Bourgeoisie. Er hieß Louis Pio, war Postbevollmächtigter und Leutnant a. D.<br />

Er schrieb einstmals folgenden Satz: „Der Staat ist ein wahnsinniges Sammelsurium<br />

von veralteten Ideen", endete im Gefängnis und wurde schließlich<br />

nach Amerika ausgewiesen. Jetzt hat Dänemark eine sozialdemokratische<br />

Regierung, und deren hervorragendstes Mitglied, Sozialminister Borgbjerg,<br />

schrieb: „Wir erfahren täglich, daß der Eingriff des Staates gleichbedeutend<br />

ist mit Ordnung und einem vernünftigen Plan." Einer von diesen Arbeiterführern<br />

muß sich geirrt haben. In der Linie aber von Pio zu Borgbjerg liegt<br />

die Geschichte der gesamten dänischen Arbeiterbewegung; der Sozialismus<br />

endete bei uns im Staatssozialismus, und dieser ist nichts anderes als Staatskapitalismus.<br />

Hier wurde ein Verbrechen begangen, und die Schuld tragen<br />

zwei, erst die Bourgeoisie und danach die Arbeiter.<br />

<strong>Die</strong> Bourgeoisie, ein internationaler Name für das, was die dänischen<br />

Arbeiter ursprünglich mit „Großbürger" bezeichneten, nahm im Laufe der<br />

Jahre Arbeiterführer in ihre Reihen auf. Das ist schließlich kein Verbrechen,<br />

sondern nur Selbstverteidigung; denn daß das Land jetzt sozialdemokratische<br />

Minister hat, das ist in Wirklichkeit eine Versicherung für die Aufrechterhaltung<br />

des Lohnsystems und damit der Ausbeutung für lange Zeiten unter<br />

der Herrschaft des Staates und der besitzenden Klassen über die Besitzlosen.<br />

<strong>Die</strong>se Minister sind Blitzableiter, aufgestellt von den Kapitalisten. Im<br />

November 1918, als 38 kleine und große Fürsten bei unsern Nachbarn, den<br />

Deutschen, stürzten, saß ein früherer Arbeiter, Stauning, jetzt Ministerpräsident,<br />

in der Regierung der Bourgeoisie, und er verhinderte die elektrische<br />

Entladung, die über der dänischen Monarchie schwebte. <strong>Die</strong> Bourgeoisie verhielt<br />

sich sehr klug: Mach nur einen Sozialdemokraten zum Bourgeois, und<br />

du hast alles Revolutionäre von ihm genommen, denn er sägt den Ast nicht<br />

ab, auf dem er sitzt. Nein, die Verbrechen der Bourgeoisie sind ernster;<br />

sie schloß die Augen vor der Tatsache, daß sie von der Arbeit anderer lebt.<br />

Wenn jemand z. B. für 100 000 Kronen Schiffahrtsaktien besitzt, so ist er<br />

nichts anderes als ein Mensch, der tagtäglich 100 Seeleute und Hafenarbeiter<br />

dazu anhält, Zinsen und Dividenden sowie mehr Kapital für sich zusammenzuarbeiten,<br />

ohne daß er selbst es notwendig hat, mit seinen Füßen ein Schiff<br />

zu betreten. Wenn ein anderer 100 000 Kronen in Aktien einer Kreditgesellschaft<br />

besitzt, läßt er auf dieselbe Weise 100 Landarbeiter für sich schuften,<br />

während er selbst vielleicht Europas Landstraßen im Luxusauto durchstreift.<br />

Was ist nun die Strafe dafür, das nicht zu sehen, das nicht sehen zu wollen?<br />

In Rußland stand darauf die Todesstrafe. Es ist möglich, daß die Bourgeoisie<br />

in Dänemark und in den übrigen skandinavischen Ländern ihr Leben rettet —<br />

was für einen Nutzen hatte man wohl davon, die russische Bourgeoisie zu<br />

erschlagen? — Aber als ausbeutende Klasse ist die Bourgeoisie dem Untergang<br />

geweiht. Hoffentlich wird die Geschichte ihnen ein milderes Urteil<br />

fällen, als es in Rußland der Fall war.<br />

33


34<br />

<strong>Die</strong> dänische Arbeiterbewegung unter sozialdemokratischen Fittichen<br />

Das Verbrechen der Arbeiterklasse besteht darin, daß sie überhaupt<br />

nichts von dem Ganzen sieht. Sie befindet sich über ihre eigene Geschichte<br />

in Unwissenheit, sie weiß beispielsweise nicht, daß Louis Pio von den Franzosen<br />

beeinflußt war, daß dagegen der spätere Sozialismus unter der Führerschaft<br />

Borgbjergs rein deutscher Art ist. Während des Weltkrieges reisten<br />

unsere Arbeiterpolitikanten in Belgien herum als Gäste des großen General-<br />

Stabes Deutschlands. Dazu hatten sie natürlich Erlaubnis, sie schrieben für<br />

ihr Organ „Sozialdemokraten" nach Kopenhagen über „das lebhafte Volksleben<br />

in den Straßen Brüssels", und doch war dies eine bezahlte Lüge. Herr<br />

Borgbjerg, der nicht in Brüssel gewesen ist, schrieb begeistert von Berlin aus<br />

im Jahre 1916, daß die deutschen Arbeiter „die besten Soldaten" seien und<br />

daß der Parteigenosse Stegele aus Hamburg ihm sagte: „Es ist im großen<br />

Maße die 25jährige Gewerkschaftsorganisation, die den Krieg gewinnt." (!)<br />

So werden die unwissenden Arbeiter sowohl in Deutschland wie in Dänemark<br />

dumm gemacht. Da war doch Bebel weit ehrlicher, als er seinerzeit sagte,<br />

daß innerhalb der Sozialdemokratie die Qualität mit der Quantität nicht<br />

Schritt gehalten habe. Und der mit dem Nobelpreis belohnte Werner<br />

von Heidenstam aus Stockholm erklärte einmal die Sozialdemokratie für „die<br />

Partei der schlechten Köpfe". Bei uns hier in Dänemark sprach sich einmal<br />

Hermann Trier, ein alter Bürger, für den die Arbeiter unzähligemal gestimmt<br />

hatten, darüber wie folgt aus: „<strong>Die</strong> dänische Sozialdemokratie ist nichts<br />

anderes als eine bürgerliche Partei, und im Reichstage kann nicht ein einziger<br />

sozialistischer Vorschlag nachgewiesen werden. <strong>Die</strong> Vorschläge, die vors<br />

gelegt werden, sind meist alte Vorschläge der bürgerlichen Linkspartei; denn<br />

es ist das Verdienst der bürgerlichen Linken, unsere Sozialdemokratie zu<br />

einer bürgerlichen Partei gemacht zu haben. <strong>Die</strong> Sozialdemokratie ist nichts<br />

anderes als eine bürgerliche Linkspartei." Und das ist wahr; unsere Arbeiter<br />

sind parlamentarisch eingestellt.<br />

In gewerkschaftlicher Beziehung ist die Arbeiterbewegung in Dänemark<br />

gleich Null. <strong>Die</strong> ganze große reformistische Gewerkschaftsbewegung bewegt<br />

sich innerhalb eines Schlichtungsverfahrens mit dem Unternehmertum, das<br />

seit 1899 Gesetz geworden ist, und wonach keine Arbeitsniederlegung erfolgen<br />

darf ohne vorhergehende Inkenntnissetzung, Verhandlungen und Urteil des<br />

Schiedsgerichtes. So kommt es natürlich höchstens zu einem Kampfe wie der<br />

zwischen den zwei Zirkusclowns, von denen der Dumme darauf eingeht,<br />

nicht zurückzuschlagen, sobald der Pfiffige halt gerufen hat! <strong>Die</strong> Folge davon<br />

ist natürlich, daß immer der Dumme die Prügel bekommt. Genau so verhält<br />

es sich auf dem parlamentarischen Gebiete, wo die Verfassung ein kräftiges<br />

Halt ruft, und das Ganze wäre humoristisch, wenn es nicht gleichzeitig<br />

äußerst traurig wäre. Vom Generalstreik der Arbeiterschaft ist niemals die<br />

Rede. <strong>Die</strong>ser steht nämlich ganz außerhalb der Gesetze, und bei uns bewegt<br />

sich alles hübsch im Rahmen der Gesetze. Der Klassenkampf ist fast unbekannt,<br />

da die Arbeiter politisch wie gewerkschaftlich mit der Bourgeoisie<br />

koaliert sind. Außerdem ist der Klassenkampf unmöglich dort, wo ein<br />

revolutionärer Grundgedanke fehlt, und dieser ist hier total unbekannt. Hier<br />

gibt es nur Staatsidioten, die hin und wieder mal ins Wahlklosett gehen und<br />

dies als eine höchst revolutionäre Kraftanstrengung betrachten.<br />

<strong>Die</strong> Verhältnisse in der letzten Zeit waren für die Bourgeoisie wie für<br />

die Arbeiterschaft miserabel, aber keiner von beiden sieht klar die jetzige<br />

Lage, und dadurch wird das Ganze natürlich etwas pomadiger. <strong>Die</strong> Bourgeoisie<br />

weiß sehr gut, daß sie die Arbeiter nicht entbehren kann, daß sie<br />

aber von ihnen lebt, will sie nicht einsehen. <strong>Die</strong> Arbeiter haben ständig das<br />

Gefühl, daß sie ohne die Bourgeoisie nicht bestehen können, und das ist leider<br />

der Fall; das kann erst anders werden an dem Tage, wenn die Arbeiter sich<br />

ihrer eigenen Kraft oder richtiger ihrer Arbeitskraft bewußt werden. Jetzt<br />

wird die Arbeit als ein Schwächling betrachtet, die sich nur auf den Gesetzes-


<strong>Die</strong> dänische Arbeiterbewegung unter sozialdemokratischen Fittichen 35<br />

krücken bewegen kann; die gesamte Arbeiterklasse ist in die Staatsversorgung<br />

untergetaucht, ohne zu verstehen, daß sie zu guter Letzt diese Versorgung<br />

selbst bezahlen muß, und daß diese jedes Selbständigkeitsgefühl in ihnen<br />

ertötet. Der Begriff der Selbstorganisation ist unbekannt, und dabei liegt<br />

doch die Grundlage der Arbeit eines Menschen in dem Satze: Sei deines<br />

eigenen Glückes Schmied! Statt dessen haben wir aber eine Ueberorganisation<br />

bekommen; das Prinzip ist: die anderen werden mir helfen, und zuletzt versinkt<br />

alles in den großen Zwangsorganisationen: Staat, zentralistische Gewerkschaften,<br />

wobei die Persönlichkeit unterdrückt, die Gedanken uniformiert,<br />

die Arbeiter zu Soldaten und der Fortschritt zu einem Kommando<br />

vom großen Generalstab herabgewürdigt wird, der gerade durch den Sozias<br />

lismus abgeschafft werden sollte. <strong>Die</strong> Grundidee der französischen Revolution<br />

von 1789 war die Dezentralisation; die deutsche Revolution 1918 endete in<br />

dem alten Zentralisationsgedanken: — Mein Vaterland muß größer sein! Wir<br />

aber müssen uns vom Staate entfernen und zur Gemeinde zurück. Bismarcks<br />

Wahlspruch: Ich diene!, war Heuchelei für: Ich herrsche! Wenn der Sozialismus<br />

jemals in anderer Form als in seiner schlimmsten Art: dem sozialistischen<br />

Staat, Lenins Staat, Eberts Staat, Mussolinis Staat verwirklicht werden soll,<br />

dann kann dies nur geschehen durch die Abschaffung des Staates. <strong>Die</strong>sen<br />

Schritt aber sind die dänischen Arbeiter zur Zeit nicht imstande zu tun, denn<br />

sie sind die Schüler der Germanen.<br />

Nach dem Hauptorgan der dänischen Sozialdemokratie, „Sozialdemokraten"<br />

von Kopenhagen, ging die dänische Arbeiterschaft im letzten Jahre<br />

von Sieg zu Sieg. <strong>Die</strong> Sozialdemokraten machen sich die Sache sehr leicht,<br />

sie bilden sich ein, siegreich zu sein, und das nehmen die Arbeiter für bare<br />

Münze auf. Und da die Sozialdemokratie zurzeit sowohl mit der bürgerlichen<br />

„radikalen Partei", die ihr zur Regierung verholfen hat, als auch mit der<br />

bürgerlichen Linkspartei, die ihr zum Valutagesetz verhalf, in eine Koalition<br />

eingetreten ist, geht es ihr wie dem großen Unbekannten (dem Geist des<br />

Akkordes) im Henrik Ibsenschen Peer Gynt:<br />

„Das große Unbekannte erringt alles ohne Beschwerden,<br />

das große Unbekannte erringt alles, ohne zu kämpfen!"<br />

Bei den Verhandlungen, die zwischen Unternehmern und Arbeitern über<br />

die Tarifabkommen geführt werden, ist es aber schwierig, die Illusion aufrechtzuerhalten,<br />

daß die Proletarier in einer förmlichen Siegesallee vorwärts<br />

spazieren. Das Ergebnis wird in der Regel bescheiden „Abkommen" genannt,<br />

das sich nur im Rahmen des Schiedsverfahrens laut Gesetz von 1899 bewegt,<br />

außerdem ist die Arbeitslosigkeit außerordentlich groß. Allerdings sind die<br />

Löhne hier im allgemeinen höher als in Deutschland; seit aber der „Sozialismus"<br />

in Form der sozialdemokratischen Bewegung auf der Bildfläche erschien,<br />

sind die Löhne sogar zurückgegangen. Und das stimmt mit den Grundlagen<br />

der heutigen Gesellschaftsordnung überein: die Arbeiterklasse hat gerade<br />

soviel, um das nackte Leben aufrechtzuerhalten. Unsere Sozialdemokraten<br />

sind Reaktionäre. Rothschild aus Frankfurt sagte einmal, als das Gespräch<br />

auf den Weltuntergang kam: „Ich will mich in diesem Falle nach Cassel<br />

zurückziehen, dort ist man in jeder Hinsicht um ein halbes Jahrhundert rückständiger<br />

als andererorts." Er hätte Kopenhagen setzen können. Hier sind<br />

wir immer im Nachschub der Deutschen gelaufen, und jetzt warten wir wieder<br />

auf Berlin und auf die 50 Jahre Zugabe....


36<br />

<strong>Die</strong> Lage in Spanien<br />

<strong>Die</strong> Lage in Spanien.<br />

Von F. Carbo, Spanien.<br />

Ohnmacht und Feigheit der politischen Oppositionsparteien — Verrat der<br />

Linkspolitikanten — die Konföderation der Arbeit (CNT) — Das Direktorium<br />

macht den Weg frei für seine Nachfolgeschaft — <strong>Die</strong> Angeklagten des nichts<br />

stattgefundenen Attentates gegen Alphons den XIII. und Primo de Rivera.<br />

Von allen Tagesfragen beherrscht eine alle anderen, weil sie für die<br />

Oeffentlichkeit im allgemeinen und für die Arbeiterschaft im besonderen das<br />

größte Interesse hat: das ist die Frage nach dem, was die Politiker der Linken<br />

wollen, was sie tun können, und zu tun gedenken. Man wartet vergeblich<br />

darauf, daß sie ein für allemal ihre Stellung klarlegen. Man fragt sie vergeblich,<br />

es möglichst bald zu tun.<br />

Alle empfindsamen Geister, die nicht sektiererisch und unvoreingenommen<br />

sind, sind der Meinung, daß man durch ihren Fehler bedauerlicherweise<br />

zwei Jahre verloren hat, während welcher die Diktatur nicht nur einen<br />

Augenblick innehielt, sondern ihre Brutalitäten und Verbrechen vervielfachte.<br />

Es ist jedoch notwendig, unverzüglich zu wissen, woran man sich halten<br />

soll. Es ist erforderlich, zu wissen, mit wem man rechnen kann und mit<br />

wem man nicht rechnen kann. Genug des ungerechtfertigten Wartens.<br />

Genug der unverständlichen geschmacklosen und trüben Manöver. Es ist<br />

dringend notwendig, den verkleideten Feuerlöschern die Maske abzureißen,<br />

wenn sie eine haben. Wir haben es eilig, denn wir ersticken. Denn unser<br />

Fleisch und Blut und unsere Seele können die Ketten der Sklaverei nicht<br />

länger ertragen. Denn unsere Würde und unsere Lebensauffassung erfordern<br />

entscheidende Anstrengungen, um diese Ketten zu brechen.<br />

<strong>Die</strong> Zeit des ständigen Aufschubs, der übertriebenen Vorsicht und —<br />

sagen wir das rechte Wort — der kindischen Furcht, unwürdig derer, die<br />

unter den Schlägen des Tyrannen seufzen, ist vorüber. Alles dies führt die<br />

Arbeiterklasse erst zur Enttäuschung und dann zum gefährlichsten<br />

Skeptizismus.<br />

Wie ich es bereits oftmals gesagt habe, sind gewisse Linksparteien im<br />

reichlichen Besitze von unerläßlichen Mitteln zur Vorbereitung einer gemeinsamen<br />

Erhebung, ohne welche es unmöglich ist, das erzreaktionäre spanische<br />

Regime zu beseitigen. Sie haben immer noch formell versprochen, diese<br />

Mittel in den <strong>Die</strong>nst der Revolution zu stellen. Jedoch die Zeit vergeht<br />

und die fraglichen Mittel bleiben aus, obwohl die Umstände nicht günstiger<br />

sein können für den Erfolg des geplanten Unternehmens. Kann man hoffen,<br />

daß sie ihrem Versprechen Ehre erweisen? Warum haben sie es dann nicht<br />

schon getan? Worauf warten Sie? Wir kennen sie zu gut, um uns ihnen<br />

blind anzuvertrauen. Wir wissen durch schmerzliche Erfahrung, wessen<br />

sie fähig sind. <strong>Die</strong> Lehren der jüngsten Vergangenheit haben uns gezeigt,<br />

mit welcher Leichtfertigkeit sie ihre Verpflichtungen verletzten und das<br />

Gewehr auf der Schulter wechseln, wenn ihre Sonderinteressen es ihnen<br />

ratsam erscheinen lassen, die allgemeinen Interessen, die Interessen der<br />

Freiheit und den allgemeinen Wohlstand zurückzustellen. Gewöhnlich fürchten<br />

sie von einer Revolution mehr als von der blutigsten Diktatur. Man kann<br />

behaupten, daß zur Zeit sie die hauptsächlichsten Stützen de Riveras sind.


<strong>Die</strong> Lage in Spanien 37<br />

Der Augenblick ist gekommen, da man die ganze Wahrheit sagen kann.<br />

Wir können uns nicht damit abfinden, daß man fortfährt, das Volk zum<br />

Narren zu halten. Wenn die Parteien der Linken sich zum Mitschuldigen<br />

der Diktatur machen wollen, und wenn ihr Gewissen sie nicht hindert, dieses<br />

schmutzige Werk zu verrichten, dann um so schlimmer für sie. Wir aber<br />

wollen auf keinen Fall durch unser Schweigen Mitschuldige dieser Parteien<br />

werden. Wir glauben nicht mehr an ihre Aufrichtigkeit. Unsere letzte<br />

Hoffnung in ihr Tun hat sich verflüchtet.<br />

Der Verdacht des Proletariats ist wohlbegründet; die Parteien der Linken<br />

haben sich ihm genähert, um es besser kennenzulernen und um seiner<br />

revolutionären Initiative leichter an den Hals zu kommen. Es genügt, sie<br />

aus der Nähe zu beobachten, um sich davon zu überzeugen.<br />

Vor einem Jahre sagten sie: „Nicht mit Artikeln und mit Reden kann<br />

man dem Säbeldespotismus und der monarchistischen Schmach ein Ende<br />

bereiten." Und wir waren natürlich einig mit ihnen. Sie sprachen von der<br />

Erhebung als einzigem, würdigem und wirksamen Mittel. Was aber tun sie<br />

heute? Sie sabotieren, ganz gleich wie, selbst durch die schamlosesten<br />

Handlungen jede Möglichkeit, zur Erhebung zu kommen.<br />

Das ist die traurige und schmerzliche Wirklichkeit.<br />

Wenn die revolutionäre Bewegung sich mit der Errichtung der Republik<br />

begnügen würde, wenn die Politikanten sicher wären, daß der Elan des<br />

Proletariats, das das Herz voll heiligen Hasses hat und seinen Gerechtigkeitsdurst<br />

stillen will, nicht diese Grenze überschreitet, dann wäre die Revolution<br />

schon ausgebrochen. Sie wissen aber im Gegenteil, daß die spanische<br />

Arbeiterklasse, wenn der Augenblick gekommen ist, den Versuch machen<br />

wird, über den Kapitalismus und den Staat hinauszukommen.<br />

Und dennoch ist die Situation in allen Beziehungen offen revolutionär.<br />

Um den Nutzen daraus zu ziehen, der daraus zu ziehen ist, ist Energie erforderlich.<br />

Zivilcourage. Jedermann muß die Verantwortung auf sich<br />

nehmen. Jeder muß bereit sein, seinen Kopf in Gefahr zu begeben. Sind<br />

die Politikanten dazu fähig? Mitnichten. Das einzige, was sie tun wollen<br />

und tun können, das ist, die Rückkehr zur konstitutionellen Normalität zu<br />

erwarten, die von den Herren der Stunde gewährleistet wird, und Wahlen<br />

vorzunehmen. Und die Wahlen werden kommen, denn sie sind notwendig<br />

zum Gleichgewicht des Systems, das uns erdrückt. Und dann werden die<br />

Herren, die keinen Mut haben, etwas zu unternehmen, aller Heldentaten<br />

fähig sein . . .<br />

Aber — wird man sagen — nicht durch den Eingriff der Politiker darf<br />

eine revolutionäre Situation verdorben werden: Noch ist die CNT. da.<br />

Allerdings, sie ist ohne Zweifel da. Sie ist aber zerschlagen, zerrissen,<br />

blutend vernichtet. Was kann sie unter diesen Umständen tun? Was<br />

können ihre Führer tun, von denen ein Teil überall hin zerstreut und ein<br />

anderer Teil in den Gefängnissen ist? Andererseits muß auch in Betracht<br />

gezogen werden, daß zähe Hingabe, Energie, Tapferkeit nicht genügen. Man<br />

benötigt auch andere Mittel, finanzielle Mittel. Und diese besitzt die<br />

CNT. nicht.<br />

Gerade weil sie das Versprechen gaben, diese Mittel bereitzustellen,<br />

hat man die Mitarbeit der Politiker der Linken angenommen.<br />

Das Direktorium hat, obwohl es tagtäglich versichert, noch einige Jahre<br />

an der Macht zu bleiben, seine Nachfolgeschaft eröffnet. Es hat sich an die<br />

Intellektuellen — Universitätsprofessoren, Schriftsteller, Architekten,<br />

Ingenieure, Mediziner usw. — mit einem Appell gewandt und sie aufgefordert,<br />

die Regierung mit zu übernehmen. Es handelt sich natürlich darum, daß der<br />

Abgang der Diktatur, dank welcher Spanien ein negatives Element in dem


38 <strong>Die</strong> Lage in Spanien<br />

Konzert der zivilisierten Länder geworden ist, ohne Störungen der öffentlichen<br />

Ordnung und ohne Blutvergießen stattfinden kann. Welches Blutvergießen<br />

fürchtet man? Sicherlich nicht das unsrige. Noch niemals haben<br />

Gefühlsanwandlungen das Gewehrvisier bestimmt, wenn die Prätorianer die<br />

Gewehre gegen uns, gegen die Revolutionäre, gegen die Arbeiterklasse<br />

richteten.<br />

Welches ist die Partei, die Tendenz, die Organisation, die man im<br />

Besitze der erforderlichen Mittel und Tatkraft glaubt, um die öffentliche<br />

Ordnung zu stören? Welche Folgen können aus dieser Störung entstehen?<br />

Seit der letzten Reise des Königs nach Barcelona gab es in höchsten Kreisen<br />

eine fürchterliche Panik. Welches ist die Ursache hiervon? <strong>Die</strong> Ursache<br />

ist immer noch dieselbe. <strong>Die</strong> Sprache des Direktoriums gibt uns zu denken.<br />

Primo de Rivera weiß wohl, daß er mit seiner mitleidlosen und wilden<br />

Verfolgung unser Streben nach einem sozialen Gesellschaftszustand ohne<br />

Privilegien und ohne Ungerechtigkeiten nicht zerstören konnte. Der Diktator<br />

ist nicht im ungewissen darüber, daß unter dem Scheine der Einmütigkeit<br />

das Feuer der Rebellion glimmt.<br />

Der erwähnte Appell zeigt, daß der Verrat der Politiker Alphons XIII.<br />

und seiner Umgebung keine große Sicherheit gibt, woraus wir für uns gute<br />

Aussichten entnehmen.<br />

Zur Ehre der Intellektuellen kann gesagt werden, daß keiner von ihnen<br />

sich damit beschmutzen will, die Macht anzunehmen, die Primo de Rivera<br />

ihnen anbietet, und nun war er gezwungen, die Regierung selbst umzuformen.<br />

Tiefen Eindruck riefen die Strafen hervor, die der Staatsanwalt vor dem<br />

Kriegsgericht für die Angeklagten des nicht stattgefundenen Attentats gegen<br />

Alphons XIII. und Primo de Rivera forderte.<br />

Er will das Todesurteil für Marcel Perello, Jacques Compte, Joseph<br />

Garriga, Jacques Julia und Michel Badia und lebenslängliches Zuchthaus für<br />

Francols Farré, Pierre Civil, Antoine Argelagat und Raymond Fabreguet.<br />

Das ist fürchterlich, das ist schamlos. Es ist verbrecherisch. In der<br />

Geschichte der Kanaken findet man nicht Beispiele derartiger Grausamkeit.<br />

<strong>Die</strong> Welt muß es wissen, daß im zwanzigsten Jahrhundert in Spanien ein<br />

Staatsanwalt existiert, der auf Befehl fünf Männer morden und vier lebenslänglich<br />

ins Zuchthaus senden will, weil er annimmt, daß sie<br />

die Absicht gehabt haben, ein Attentat auf den König<br />

zu begehen. Das heißt also, daß man fünf Männer aufs Schafott<br />

schicken will, die ihren Kopf lassen sollen für ein Delikt, daß sie nicht<br />

begangen haben.<br />

Fünf Männer sollen in den Tod gehen, die nichts getan haben, denn<br />

nicht ein einziger Tropfen Blut wurde vergossen.<br />

Genügt dies nicht, um das Regime zu beurteilen, das der Diktator uns<br />

auferlegt hat? Rechtfertigt dies nicht unser Streben, diesem Regime so<br />

schnell wie möglich ein Ende zu bereiten?


<strong>Internationale</strong> Petroleumpolitik und Proletariat 39<br />

<strong>Internationale</strong> Petroleumpolitik und Proletariat.<br />

Von Th. A.<br />

Zum Wesen des Imperialismus gehört der illegitime Einfluß oft verhältnismäßig<br />

kleiner kapitalistischer Wirtschaftsfaktoren auf die Entscheidungen<br />

ihrer willfährigen Regierungen in außenpolitischer Hinsicht. So<br />

nahen um die Jahrhundertwende in Deutschland die marokkanischen<br />

Mannesmanninteressen dazu beigetragen, eine kriegshemmende Wirkung<br />

der Verständigungstendenzen pazifistischer Faktoren zu unterbinden.<br />

Wieviel größer muß der Einfluß jener Riesenkonzerne sein, die, wie die<br />

Standard Oil Co., der Rockefellertrust, groß geworden und gestählt sind im<br />

Kampf und durch die Niederringung der antitrustlichen Widerstände und<br />

Hemmungen ihrer noch kleinkapitalistisch beeinflußten Regierungen. <strong>Die</strong><br />

Standard Oil Co. machte vor dem Kriege schon durch ihre Agenten Außenpolitik,<br />

wie nur je die monarchischen Regierungen Alt-Europas durch ihre<br />

prinzlichen Sendlinge auf „verwaiste" Throne schwacher Länder. Rockefeller<br />

treibt heute durch sein Geld oder seine seit Kriegseintritt ihm völlig<br />

gefügige Regierung mit ähnlichen Genossen in Mittelamerika große Politik;<br />

macht Revolutionen der Prätendentenklüngel und aus den Prätendenten Präsidenten.<br />

In Südamerika nehmen die mächtigen, faschistisch gestimmten und<br />

durch gewisse Fäden namentlich dem deutschen Offizierselement verbundenen<br />

Offiziersjunten seine Weisungen entgegen.<br />

Aber der Krieg, der Amerikas Macht so ungeheuer gestärkt hat, war<br />

gerade seinen Petroleuminteressen doch keineswegs günstig. Er brachte<br />

nämlich eine gewaltige Stärkung der großen Petroleumkonzerne Englands,<br />

die sich nunmehr bis in die mächtigen Oelregionen Nord- und Mittelamerikas<br />

selbst vorgearbeitet haben.<br />

Einige technische Bemerkungen sind hier zum Verständnis der politischen<br />

Zusammenhänge und ihrer ökonomischen Voraussetzungen zweckmäßig.<br />

<strong>Die</strong> über ein halbes Jahrhundert alte Oelwirtschaft der Vereinigten<br />

Staaten ist durchaus Raubwirtschaft an dem üppigen Vorkommen in und<br />

außerhalb der Union; d. h. es wird aus den Bohrlöchern nur das aus besonders<br />

porösen Gesteinsarten frei abfließende Erdöl gefördert. <strong>Die</strong>se Bohrungsmethode<br />

erfaßt aber nur 1<br />

/ 5—⅓ der vorhandenen Oelmenge; der größere<br />

Rest, der mit Untertagebau förderbar ist, und schon bei den spärlichen<br />

deutschen Vorkommen unter dem Druck der Notwendigkeit wesentlich<br />

erfaßt wurde, bleibt zurück. Eine so extensive Oelförderung erschöpft<br />

selbst die immer noch ungeheuren Vorkommen der Union und Mexikos<br />

rasch. Dazu erhebt sich für die Imperien die Zwangslage der Umstellung der<br />

Großschiffahrt auf Oelfeuerung im weitesten Umfang sowie Befriedigung der<br />

Leichtölbedürfnisse des Flug- und Kraftwagenverkehrs. Militärpolitische<br />

Erwägungen würzen unter diesen Umständen noch den Wunsch nach einer<br />

systematischen Oelvorratspolitik. <strong>Die</strong>se führt dann dank ihrem militärischen<br />

Charakter weniger zu einer Intensivierung der Oelwirtschaft, (für die gewisse<br />

deutsche Verfahren, wie das Berginverfahren mit der leichtölerzeugenden<br />

„Anlagerung" komprimierten Wasserstoffs an Kohlenteer oder Schweröle<br />

und weiterhin die Ausnützung ölhaltiger Gesteinsschichten, namentlich des<br />

Oelschiefers,<br />

Weltmaßstab.<br />

grundlegend sind), sondern zur Petroleumexpansionspolitik im


40<br />

<strong>Internationale</strong> Petroleumpolitik und Proletariat<br />

Der wachsame englische Imperialismus, des amerikanischen Zwillingsbruder,<br />

hatte unmittelbar an der Entwicklung der privaten englischen Oelförderung<br />

teilgenommen; die toristischen Machthaber Fisher, Churchill und<br />

Curzon hatten schon vor dem Weltkriege wohl erkannt, daß das Oel der<br />

belebende Kraftstoff ihres Reichskörpers sei und in die Adern seiner sich<br />

polypenhaft ausdehnenden Glieder in kräftigen Dosen geleitet werden müsse,<br />

um sie elastisch zu erhalten. Ihre Hand war es, die leise die großen Konzernbildungen<br />

herbeiführte; die englische Shellgruppe verband sich mit der großen<br />

holländischen Royal Durch' und beide mit der Anglo Persian Co., deren<br />

unheilige Wiege im indischen Birma gestanden hatte. Nach dem Kriege nun<br />

kontrollierte, wie versichert wird, England ⅔ der bekannten Erdöldistrikte,<br />

während es vor dem Kriege nur ¼ beherrscht hatte, und zwar fand über<br />

⅓ des englischen Petroleumkapitals seine Anlage in der Oelwirtschaft der<br />

Vereinigten Staaten selbst. <strong>Die</strong> Mißstimmung des amerikanischen Geschäftsgeistes<br />

gegen Wilson hatte ja nicht zuletzt ihren Grund in der Ungeschäftlichkeit<br />

dieses moralpolitisch gerichteten Führers, der Ideenkonzeptionen<br />

heimbrachte, statt wirtschaftlicher Kompensationen. Im Jahre 1919 erst<br />

wurde die Oelpolitik der Regierung der Vereinigten Staaten dank der durch<br />

die Trusts wohlbearbeiteten, öffentlichen Meinung hochoffiziös und mit<br />

französischer Unterstützung sehr antienglisch und offensiv. <strong>Die</strong> historische<br />

Verwandtschaft der herrschenden Schichten beider Länder und ihre geschäftliche<br />

Kühle milderte aber bald die Konfliktstimmung; zwar sah noch das<br />

Jahr 1921 Tokio und Washington in Insulinde in einer Art Interessengemeinschaft.<br />

<strong>Die</strong> Erwartung mancher, namentlich nationalistischer, deutscher<br />

Außenpolitiker, die Oelinteressen würden England und Amerika trennen, ist<br />

aber gründlich unpsychologisch und unhistorisch. Vielmehr wird, wenn nicht<br />

alles trügt, in absehbarer Zeit ein Arrangement wahrscheinlich, das hier<br />

vorhandene Gegensätze ausgleicht und sozusagen nicht nur das Blut in den<br />

Adern der herrschenden anglosächsischen Oberschicht beider Länder, sondern<br />

auch das Oel in ihren „pipe lines" — so heißen die großen Oelüberlandleitungen<br />

— in einheitlichem Rhythmus pumpen wird. <strong>Die</strong> Anglosachsen<br />

sind nun einmal die Herren der Welt geworden; auch ihrer stärksten Erdölvorkommen.<br />

Den Franzosen hat England die polnischen Erdöldistrikte zur<br />

Kontrolle überlassen, nachdem es Frankreich aus dem Irak trotz der Clemens<br />

ceauverträge bis zu einem gewissen Grad herausmanövriert hat. Japans nun<br />

gesicherte Erdölbasis in Sachalin ist so schmal, daß sie neben der amerikanischen<br />

sich verflüchtigt, auch wenn man Japans mexikanische Oelinteressen,<br />

denen ja die marinepolitische Realität fehlt, in Betracht zieht. Bleibt<br />

als Erdölkontrolle großen Stiles nur Rußland mit seinen asiatischen Nachbarn.<br />

Es wird in Persien wie in Rumänien vom englischen Oelmonopol als ein<br />

fataler Nachbar empfunden. Auch das Mossuler Oelproblem hat eine nachbarlich-russische<br />

Note, da Rußland das überaus begehrliche England, das eben<br />

erst Italien die unbedeutenden albanischen Oelkonzessionen weggeschnappt<br />

hat und vor wenigen Jahren durch Invasionen und Scheinstaatengründungen<br />

Baku hat nehmen wollen, zweifellos in Asien überall stark behindern wird. Der<br />

Völkerbundkommission saß ein ungarischer Magnat, also ein typischer<br />

Turkophile vor, und sie schien ursprünglich zu wagen, eine wenig proenglische<br />

Entscheidung zu planen. Inzwischen hat es aber den Anschein gewonnen,<br />

daß das im Kampf gegen die Türkei und in der Unterstützung der konstantinischen<br />

Griechen und rebellierenden Kurden auffallend lahme England seine<br />

Irakölinteressen fester in die Hand nimmt und den in Mossul einbruchsgewillten<br />

türkischen Stier bei den Hörnern packen will. Rußland mit seinem<br />

ungeheuren Flächenraum und seinem neuen, bitter antienglischen, Freund,<br />

dem chinesischen Volk, besitzt zweifellos noch manche unerschlossenen Erdölgebiete.<br />

<strong>Die</strong> weltpolitische Gesamtsituation, die starke Konzentrationsalemente<br />

des imperialistischen anglosächsischen Blocks auf der einen, solche<br />

eines defensiven asiatischen Blocks der „kolonisierten" Nationen um Ruß-


<strong>Internationale</strong> Petroleumpolitik und Proletariat 41<br />

land herum auf der andern Seite zeigt, ist immerhin so charakteristisch<br />

bestimmt, daß sie und nicht primär die Divergenz der Erdölinteressen, wie<br />

der geistreiche G. E. Graf („Erdöl, Erdölkapitalismus und Erdölpolitik",<br />

Uraniaverlag, Jena) meint, die Gestalt des Kraftfelds der künftigen geopolitischen<br />

Kämpfe bestimmen wird. So wird das Mittel kaum zum Selbstzweck<br />

werden. Intensive Oelproduktion auf Grund technischer Neuerungen<br />

und neu zu erschließender Produktionsgebiete sowohl als auch einem kriegerischen<br />

Zusammenstoß vorauseilende Verschiebungen territoialer Art,<br />

besonders in Asien, vermöchten künftig sehr wohl den russischen Block mit<br />

einem von seiner Feudalklasse befreiten Japan von den anglosächsischen<br />

„Oelreichen" wirksam zu emanzipieren.<br />

<strong>Die</strong> Verwirrung und die balkanischen Kampfinstinkte der europäischen<br />

Militärkasten schwächen die Möglichkeiten selbst einer klaren Entscheidung<br />

der kontinental-europäischen Gruppen gemäß ihrem wohlverstandenen kapitalistischen<br />

Interesse innerhalb dieser Gruppierung und gestatten auch nicht<br />

vorauszusagen, welchen Platz das restaurierte Deutschland bei der Welterdölversorgung<br />

behaupten und einnehmen wird. Der Versuch, während der<br />

Inflationsperiode den Petroleumkonzern der Deutschen Bank und den der<br />

Diskontogesellschaft in der Schweizer JPH. zusammenzufassen, war für die<br />

Herren ein Fehlschlag. Denn alle organisatorische Geschicklichkeit und<br />

geschäftliche Gerissenheit der deutschen Petroleuminteressenten konnte ihnen<br />

ihre rumänischen und polnischen Oelfelder, also ihre Ausbeutungssubstanz,<br />

nicht zurückzaubern. Inzwischen beginnen deutsche Gesellschaften via<br />

Holland oder durch Anschlüsse an andere Auslandsinteressenten das Gewicht<br />

der deutschen Wirtschaftsmacht auch in der Oelproduktion wieder zu<br />

substanziieren. So hat sich Stinnes, in dem Schwarm der imperialistischen<br />

Aasgeier der deutschen Spezies stets die Spitze haltend, mit dem amerikanischen<br />

Sinclairkonzern zusammengetan, um in Oel „groß zu machen".<br />

Um den Schlüssel für das Treiben der internationalen Oelpolitiker in die<br />

Hände zu bekommen, tut es den proletarischen Massen not, das Gewebe<br />

der Ideologien zu zerreißen, mit denen die Profitsüchte sich hier umkleiden;<br />

ferner müssen sie den irrsinnigen Kreis durchschauen, indem die Machtbetriebe<br />

der großen imperialistischen Gewalthaber den technischen Mitteln<br />

zu ihrer Befriedigung nachjagen, ohne daß das Tempo und die räumliche<br />

Ausdehnung der technischen Entwicklung innerhalb der kapitalistischen<br />

Wirtschaftsperiode ihnen gestattete, ihre ungeheure Beute zu zählen und in<br />

Ruhe zu genießen, das Errungene also zu stabilisieren. <strong>Die</strong>ses ganz irrationale<br />

Tempo ist es, das die zufriedenen und schlauen „Realisten" im Lager der<br />

Kapitalisten und ihrer Zuhälter aus dem Lager der Ausgebeuteten so oft<br />

faktisch ins Unrecht setzt gegenüber den Ereignissen und den diese richtig<br />

in ihrem gesetzlichen Ablauf bewertenden „Utopisten". Der „Realismus"<br />

der zentralistischen Arbeiterführer entspringt einer vom Heute befriedigten<br />

und vor dem Morgen mit den parasitär benachbarten kapitalistischen Ausbeutern<br />

bangenden Sinnesart, ist aber in seiner Passivität und Schwächlichkeit<br />

vor dem Umfang und dem Bewegungstempo der Ausbeuterinteressen immer<br />

deutlicher zu entlarven.<br />

Daß diese beiden Gesichtspunkte, die ideologische Maske über der<br />

Räuberfratze und die Blöße der Räuber, die in ihrer bemerkenswerten<br />

Unfähigkeit liegt, die entfesselten Kräfte technischer, ökonomischer und<br />

politischer Natur zu stabilisieren, auch in der Oelfrage zu erkennen sind,<br />

ergeben Beobachtung und Ueberlegung. <strong>Die</strong> Mehrzahl der Oelfelder liegt<br />

auf dem Gebiet „farbiger" Bevölkerungen. In dem Maße, in dem sich<br />

spanisch-indianische Proletarier und asiatische Kulimassen gegen die<br />

ölindustrielle Ausbeutung wehren wollen, versucht das herrschende anglosächsische<br />

Element seine eigenen an sich keineswegs homogen zusammengesetzten<br />

Proletariermassen durch die Rassenideologie des Kampfes des<br />

„weißen Mannes" gegen die „minderwertigen Farbigen" dazu zu bringen,


42<br />

<strong>Internationale</strong> Petroleumpolitik und Proletariat<br />

„des weißen Mannes Bürde" auf sich zu nehmen, d. h. Kampfmaschinen zur<br />

Unterdrückung fremder Proletarier zu bauen und zu bedienen. Daß die<br />

anlgosächsischen Unterdrücker sich des deutschen Militarismus bei diesen<br />

Geschäften bedienen werden, Hegt für den Kenner der Mentalität und Geschichte<br />

dieser Gruppen auf der Hand. Deutsche Rassentheorien und englischamerikanische<br />

Rassenpraxis kommen notwendig zusammen und Coolidges<br />

Organ, die „Washington Post", regt alle Augenblicke die Wiederaufrichtung<br />

des Deutschen Reiches an, wie Chamberlain gegen das heterogene Rußland<br />

und gegen das in Dingen des „Rassestolzes" trotz seiner Kolonialpolitik<br />

unzuverlässige und geschäftlich ungenügend smarte Frankreich den neuen<br />

Luther gläubig nach Locarno zog. Sehr viel Honig kann aber der englischamerikanische<br />

Imperialismus aus der Tatsache ziehen, daß die Front der<br />

Unterdrückten, besonders im vorderen und fernen Asien durch 2 Militär-<br />

Staaten bösartigster Sorte flankiert wird, Türkei und Japan. Während wir<br />

Japan, das seine schmale ölpolitische Basis auf Sachalin durch die Sowjets zur<br />

Wut Amerikas garantiert erhalten hat, hier nur streifen wollen, steht der<br />

türkische Drang, sich in Mossuls Oel zu baden, um sein Gewaltsystem technisch<br />

zu unterbauen, wie der deutsche Märchenprinz seine Haut im Blut<br />

des Lindwurms stichfest macht, auf der Tagesordnung. <strong>Die</strong> Gefahr, daß die<br />

schamlosesten Rasseinstinkte, von denen weite Teile des namentlich amerikanischen<br />

Proletariats, wie die Negerfrage beweist, sich ergriffen zeigen und<br />

von denen sie vielleicht nicht so sehr durch Aufklärung als durch die harte<br />

Hand des geschichtlichen Ablaufs geheilt werden müssen, die Gefahr, daß<br />

diese tierischen Instinkte sich gierig auf die Rasseideologien der herrschenden<br />

Klassen, die prompt geliefert werden, stürzen und dann hinter einem Kampf<br />

gegen den japanischen Feudalismus, dessen restlose Vernichtung vom unterdrückten<br />

China, Korea und dem erstarkenden japanischen Proletariat her<br />

man nur dringend wünschen kann, sich verstecken, ist groß. Ganz verwandt<br />

ist die Gefahr einer mindestens ideologischen Verstrickung vorerst von<br />

Teilen des englischen, vielleicht auch des russischen Proletariats in der<br />

Mossulfrage. Hier müssen wir etwas weiter ausholen. In dem reichen, noch<br />

recht jungfräulichen Erdölbezirk von Mossul stießen unter der türkischen<br />

Herrschaft der primitive Feudalismus der kurdischen Stämme und arabisches<br />

Städter- und Beduinentum zusammen. Zwischen die kurdischen Räuberfeudalen<br />

und ihre nicht indogermanischen Hintersassen, war armenische<br />

industrielle Bevölkerung eingesprengt. Im Krieg wurde sie von den kurdischen<br />

Räubern und türkischen Gendarmen in ungeheuren Schlächtereien hier, wie in<br />

Nordostanatolien ausgetilgt. <strong>Die</strong> Mörder haben keine oder nur die ungenügendste<br />

Strafe erlitten. Eine Vernichtung der türkischen Staatsklasse, der<br />

schuldigen Effendi- und Militärklasse, wäre eine Forderung der irdischen Gerechtigkeit<br />

gewesen, ohne deren leidenschaftliches Begehren jedes Proletariat<br />

grundsätzlich des revolutionären Anstoßes und der siegreichen Wucht<br />

entbehren müßte. Aber alle die Ententeherren machten nach dem Sieg keine<br />

Miene, diese Mörder zu bestrafen; im Gegenteil, sie fühlten eine Art verwandtschaftlicher<br />

Sympathien mit der Furchtbarkeit der osmanischen Bestie<br />

und hemmten kaum ihre militärische Wiederaufrichtung. <strong>Die</strong> ganze humanistische<br />

Wilsonideologie erwies sich als Bluff in dem Maße, daß man den<br />

Neuauflagen der Armenierpogrome mit Ruhe zusah. Also war es mit der<br />

einheitlichen zivilisierten Welt, also mit der großen „Christenheit" und ihrer<br />

Solidarität bestellt. Sehr richtig saßt Russel, man respektiere in den<br />

herrschenden Klassen der „weißen" Welt Japans Staatsklasse um ihrer bösartigen<br />

Verdorbenheit willen. Real ist wirklich nur die Artverbundenheit der<br />

imperialistischen Unterdrücker jeder Farbe und Geschichtsphase. Andererseits<br />

haben Reste der Armenier sich auf benachbartes russisches und Irakgebiet<br />

geflüchtet. Insbesondere dürften sie auch in Mossul und Umgebung<br />

sitzen, wo beim Eindringen der kemalistischen Baschi-Bozuks ein qualvolles<br />

Ende die Aermsten erwartete. <strong>Die</strong> Araber, die den Grundstock der Mossuler


Aus der <strong>Internationale</strong> des Syndikalismus 43<br />

Bevölkerung bilden, lehnen die türkische Herrschaft nachdrücklich ab. Alle<br />

aber sind gelähmt durch das Entsetzen vor dem türkischen Militärterror, der<br />

mit dem bulgarischen und ungarischen eine besondere Verwandtschaft zeigt.<br />

Das möchte sich ganz leidlich hören, wenn man sich den Schutz dieser<br />

Menschen in Mossul als politisch und militärisch möglich vorstellt. Aber<br />

dieser Schutz liegt der Downing-Street nicht am Herzen; sie würden in strategischen<br />

Rückzügen die Mossuler dem türkischen Schwert preisgeben, wie<br />

es zu ewiger Schmach die französischen Militaristen mit den armenischen<br />

Flüchtlingen in Silizien taten.<br />

So tun sich, während die Räuber um die Beute der Oelschätze<br />

würfeln, für den international fühlenden Proletarier in typischer<br />

Weise schwere und allertiefste Abgründe der Entscheidung auf. Und<br />

er fragt sich, was tut das bolschewistische Rußland? Und was könnte<br />

es tun? Nun, es hat die türkischen Militärbestien à la Enver, Dschemal und<br />

Mustafa Kemal begünstigt wie die deutschen Nationalbolschewisten, und<br />

hat eingeborene tatarische Bevölkerungen Innerasiens in der Hungerperiode<br />

zugunsten von Russen ihres letzten Getreides beraubt. Seine Dichter preisen<br />

russische Bauern, die in der Steppe mit Kirgisen umspringen, wie australische<br />

Siedler mit Eingeborenen. Selten genug also ist auch heute die Realisierbarkeit<br />

einer moralisch tief gegründeten politischen Entscheidung. Grund zur<br />

Verzweiflung? Nein! Sondern zur Anspannung des Willens und zur Schärfung<br />

der Gewissen aller künftigen Situationen gegenüber! Gerade dem freiheitlichen<br />

Sozialismus auf föderativer Grundlage sind die Waffen in die Hand<br />

gegeben, das rassenverhetzende imperialistische Großsystem zu kritisieren<br />

und zu demoralisieren, um höherer Menschheitsziele willen. Th. A.<br />

Aus der <strong>Internationale</strong> des Syndikalismus.<br />

Im Jahre 1925 haben seit dem II. Kongreß<br />

der I.A.A. Landeskongresse oder<br />

Landeskonferenzen von vielen der I.A.A.<br />

angeschlossenen syndikalistischen Organisationen<br />

stattgefunden. Wir registrieren<br />

Kongresse in folgenden Ländern:<br />

Deutschland. Der 15. Kongreß<br />

der F.A.U.D, fand vom 10.—13. April 1925<br />

in Dresden statt. Den Bericht vom<br />

II. Kongreß der I.A.A. gab A. Souchy. <strong>Die</strong><br />

Beschlüsse des internationalen Kongresses<br />

wurden vom deutschen Kongreß gutgeheißen.<br />

Es wurde sodann ein Beschluß<br />

gefaßt, „in Anlehnung an die Resolution 7<br />

des II. Kongresses der I.A.A. die Bildung<br />

einer internationalen Aktionskommission,<br />

aus drei Personen bestehend, vom Kongreß<br />

zu erwählen". <strong>Die</strong>se Kommission hat<br />

die Aufgabe, die I.A.A. in den Massen<br />

der deutschen Arbeiter populär zu<br />

machen. <strong>Die</strong> Beitragsfrage an die I.A.A.<br />

wurde ebenfalls in Uebereinstimmung mit<br />

dem internationalen Kongreß gelöst durch<br />

Annahme folgenden Beschlusses: „Der<br />

15. Kongreß der F.A.U.D, beschließt, den<br />

Beitrag für die I.A.A. auf 10 Pfennig pro<br />

Mitglied und Vierteljahr festzusetzen. <strong>Die</strong><br />

geleisteten Beiträge werden durch die<br />

Syndikalistische Landeskongresse<br />

I.A.A.-Marke im Mitgliedbuch quittiert.<br />

<strong>Die</strong> Abführung der Beiträge erfolgt durch<br />

Vermittlung der Geschäftskommission an<br />

das Sekretariat der I.A.A.."<br />

Alle anderen Beschlüsse, die Prinzipien<br />

sowie die Tätigkeit der revolutionären<br />

Syndikalisten betreffend, wurden als Richtlinien<br />

angenommen.<br />

Schweden. Der VI. Kongreß der<br />

Zentralorganisation der schwedischen Arbeiter<br />

(S.A.C.) fand in Stockholm vom<br />

31. Mai bis 9. Juni statt. <strong>Die</strong> I.A.A. war<br />

vertreten durch A. Souchy. Den Bericht<br />

vom II. Kongreß der I.A.A. gab Albert<br />

Jensen. <strong>Die</strong> Berichterstattung wurde gutgeheißen<br />

und die Beschlüsse des internationalen<br />

Kongresses anerkannt. Der<br />

Kongreß war dafür, daß die syndikalistische<br />

Organisation sich eifriger mit<br />

der Jugend beschäftigen solle, diese mit<br />

den syndikalistischen Ideen bekannt<br />

machen und syndikalistische Jugendorganisationen<br />

bilden solle. <strong>Die</strong> Erhöhung<br />

des Beitrages an die I.A.A. wurd in Uebereinstimmung<br />

mit dem Beschlüsse des<br />

II. internationalen Kongresses beschlossen.<br />

Portugal. Vom 23.-29. September<br />

fand in Santarem der Kongreß der portu-


44<br />

Aus der Tätigkeit des Sekretariats der I.A.A.<br />

giesischen Gewerkschaften statt. Zum<br />

Kongreß wurden nur solche Gewerkschaften<br />

zugelassen, die dem Allgemeinen Gewerkschaftsbunde<br />

(C.G.T.) angeschlossen<br />

waren. Als Vertreter der I.A.A. war A.<br />

Borghi anwesend. Der Anschluß an die<br />

I.A.A. wurde mit großem Enthusiasmus<br />

bestätigt. Eine Mitarbeit am <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeitsamt, zu der Albert Thomas,<br />

der Präsident desselben, persönlich einlud,<br />

wurde abgelehnt. Der Bericht über<br />

den II. Kongreß der I.A.A., den Manuel<br />

da Silva Campos gab, wurde vom Kongreß<br />

einstimmig angenommen.<br />

Außer diesen Kongressen in Europa<br />

fanden syndikalistische Kongresse statt in<br />

Mexiko, Brasilien und ein panamerikanischer<br />

freiheitlicher Arbeiterkongreß in<br />

Panama. Von diesen Kongressen sind<br />

noch keine endgültigen Berichte einge-<br />

laufen. Alle diese Kongresse bestätigten<br />

den Anschluß an die I.A.A. Auf dem<br />

Kongreß der C.G.T. Mexikos wurde beschlossen,<br />

in Uebereinstimmung mit der<br />

Resolution über praktische Tageskämpfe<br />

auf dem II. Kongreß der I.A.A. eine<br />

energische Kampagne für den Sechsstundentag<br />

einzuleiten. <strong>Die</strong> Kämpfe für den<br />

Sechsstundentag sollen am 1. Mai 1926<br />

einsetzen. In Italien fand eine Landeskonferenz<br />

der Syndikalistischen Union<br />

statt, die angesichts der furchtbaren<br />

faschistischen Reaktion als gelungen bezeichnet<br />

werden kann. Der I.A.A. wurde<br />

treue Gefolgschaft zugesagt. Anfang September<br />

fand in Paris eine Konferenz der<br />

nach Frankreich ausgewanderten italienischen<br />

Syndikalisten statt, die für eine<br />

Sammlung der italienischen Syndikalisten<br />

im Ausland von Bedeutung war.<br />

Aus der Tätigkeit des Sekretariats der I.A.A.<br />

Solidarität.<br />

In der Zeit seit dem II. Kongreß der<br />

I.A.A. hat die I.A.A. teils aus ihrer<br />

eigenen Kasse, teils durch Aufrufe und<br />

Vermittlung der angeschlossenen Landesorganisationen<br />

der norwegischen und der<br />

italienischen Sektion Hilfe gewährt. <strong>Die</strong><br />

Höhe der Summe wird bei der Kassenabrechnung<br />

bekanntgegeben. An dem Unterstützungswerk<br />

haben sich die Genossen<br />

Argentiniens, Deutschlands, Hollands und<br />

Schwedens beteiligt. Auch den verfolgten<br />

bulgarischen Revolutionären, hauptsächlich<br />

Anarchisten, hat die I.A.A. Hilfe<br />

geleistet. Dabei ist keine bulgarische Organisation<br />

der I.A.A. angeschlossen. Das<br />

Hilfswerk für die verfolgten Bulgaren ist<br />

noch nicht abgeschlossen.<br />

Propaganda<br />

Das Plakat der I.A.A. ist erschienen.<br />

Es ist eine künstlerische Darstellung<br />

ersten Ranges. In einer Auflage<br />

von 10 000 Exemplaren mit Text in elf<br />

Sprachen wird es in vielen Ländern Europas<br />

und Amerikas für die I.A.A werben.<br />

Das Album der I.A.A. ist noch in<br />

Vorbereitung. Es dürfte Mitte nächsten<br />

Jahres erscheinen.<br />

Reisen. <strong>Die</strong> I.A.A. war auf den syndikalistischen<br />

Kongressen in Schweden,<br />

Portugal und Mexiko durch eigene Delegierte<br />

vertreten. Genosse Diaz unters<br />

nahm für die I.A.A. eine Propagandareise<br />

durch Mittel- und Südamerika.<br />

Aufrufe.<br />

Vom Sekretariat wurden aus verschiedenen<br />

Anlässen folgende Aufrufe veröffentlicht:<br />

Aufruf der I.A.A. gegen die Schreckensherrschaft<br />

in Bulgarien.<br />

An die Arbeiter aller Länder!<br />

<strong>Die</strong> bulgarische Geschichte der letzten<br />

Jahre wurde von den herrschenden Mächten<br />

mit dem Blute des Volkes geschrieben.<br />

<strong>Die</strong> Unterdrückungsmaßnahmen in Bulgarien<br />

standen den Grausamkeiten der<br />

italienischen Faschisten in nichts nach.<br />

Erstickung jeder freiheitlichen Regung,<br />

Unterdrückungswut, Grausamkeit und barbarische<br />

Schändlichkeiten, das ist die Regierungskunst<br />

der bulgarischen Regierungsbestie.<br />

<strong>Die</strong> furchtbaren Leiden, die dem bulgarischen<br />

Volke von seinen Regierungen<br />

zugefügt wurden, trieben die unterdrückten<br />

und unglücklichen Volksmassen zur<br />

Verzweiflung. <strong>Die</strong> Verzweiflung machte<br />

sich Luft in einem Attentat gegen die verantwortlichen<br />

Vertreter dieses Schandregimes.<br />

War der Terror vorher furchtbar,<br />

so wurde er jetzt entsetzlich und unerträglich.<br />

Verhaftungen, Verfolgungen, Erschießungen,<br />

Folterungen, Exekutionen ohne<br />

Gerichtsurteile, Verbannungen und Geisel-<br />

System, das alles gelangte im Riesenausmaß<br />

zur Anwendung: <strong>Die</strong> Inquisitionsmethoden<br />

des Mittelalters feiern düstere<br />

Wiederauferstehung! Keine Bevölkerungs-<br />

Schicht wird verschont: Arbeiter, Bauern,


Aus der Tätigkeit des Sekretariats der I.A.A. 45<br />

Intellektuelle, kurzum jeder, der von der<br />

Flamme der Freiheit erfaßt ist oder auch<br />

nur bescheidene Hoffnung des menschlichen<br />

Fortschritts zu äußern wagt, sie alle<br />

sind Beute und Opfer einer finsteren<br />

Reaktion.<br />

Am meisten haben die revolutionären<br />

Richtungen der Arbeiterbewegung zu<br />

leiden: Anarchisten und Kommunisten.<br />

Unsere Kameraden wurden zu Hunderten<br />

hingemäht, und mit ihnen wurde die<br />

Blüte der revolutionären Jugend, die Hoffnung<br />

der sozialen Revolution zu Grabe getragen.<br />

Väter, Mütter und Geschwister<br />

unserer Kameraden werden verbannt, als<br />

Geisel behalten oder den wilden Komitatschis<br />

Mazedoniens ausgeliefert.<br />

Kameraden! Arbeiter aller Länder!<br />

<strong>Die</strong> Schlachtopfer des Despotismus in Bulgarien<br />

schreien zu euch um Hilfe. Laßt<br />

die Henker am Balkan ihr grausames Werk<br />

nicht fortsetzen! Erhebt eure Stimme des<br />

Protestes gegen die gemeinen Missetaten!<br />

Demonstriert vor den diplomatischen<br />

Vertretungen Bulgariens und zeigt den<br />

grausamen Bütteln, daß eure Leidensbrüder<br />

in Bulgarien von euch nicht verlassen<br />

sind. Fordert Einstellung der Verfolgungen,<br />

Freigabe der Gefangenen, freie<br />

Bahn für den Fortschritt in Bulgarien.<br />

Sorgt dafür, daß das revolutionäre Proletariat<br />

dort unten von seinen Peinigern befielt<br />

wird und seinen Kampf für die soziale<br />

Revolution wieder aufnehmen kann.<br />

Helft den Verfolgten moralisch und<br />

finanziell! Bedenkt, daß ihr alle Brüder<br />

derselben proletarischen Familie seid,<br />

deren Kinder in allen Ländern verbreitet<br />

sind. <strong>Die</strong> Stimme der internationalen Arbeiterschaft<br />

allein vermag dem Wüten des<br />

grausamen Herrscherklüngels Einhalt zu<br />

gebieten! Möge durch die Arbeiterschaft<br />

aller Länder, in allen Orten und Städten<br />

der Ruf gehen:<br />

Nieder mit der bulgarischen Schreckensherrschaft!<br />

Hilfe für die unglücklichen Opfer des<br />

bulgarischen Volkes!<br />

Der Ausschuß der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter-Assoziation.<br />

* * *<br />

Das Marokko-Verbrechen.<br />

An die Arbeiterklasse Frankreichs und<br />

Spaniens!<br />

Kaum sind sechs Jahre ins Land gegangen,<br />

seit das große Völkermorden in<br />

Europa sein Ende gefunden. Ungeheuere<br />

lieh waren die Opfer, welche das werke<br />

tätige Volk aller Länder und besonders in<br />

den kriegführenden Staaten zu bringen<br />

hatte; ungeheuerlich sind die Nachwehen<br />

dieses Monsterverbrechens, deren wirts<br />

schaftliche und politische Folgen fast ausschließlich<br />

auf die Schultern der proletarischen<br />

Klassen fallen. Heute weiß jeder,<br />

daß all die schönen und ideal anmutenden<br />

Parolen, unter welchen der Krieg auf beiden<br />

Seiten geführt wurde, schamlose<br />

Lügen gewesen sind, die nur den Zweck<br />

verfolgten, die breiten Massen hinter das<br />

Licht zu führen, damit sie die imperialistische<br />

Raubmörderpolitik der Schwerindustrie,<br />

der Bank- und Börsenpiraten<br />

und anderer privilegierter Ausbeuterschichten<br />

nicht durchschauten. Millionen<br />

wurden in den Tod gehetzt, Millionen und<br />

aber Millionen wurden dem gräßlichsten<br />

Elend preisgegeben, einzig und allein, um<br />

die unergründlichen Taschen eines internationalen<br />

<strong>Die</strong>bskonsortiums zu füllen.<br />

Noch blutet die Welt aus unzähligen<br />

Wunden, welche ihr durch die imperialistische<br />

Gaunerpolitik der besitzenden<br />

Klassen geschlagen wurden, und schon<br />

zettelt das kapitalistische Raubrittertum<br />

hinter den Kulissen neue Verschwörungen<br />

an, die früher oder später zu neuen Kriegen<br />

führen müssen. In Marokko lodern<br />

bereits die Flammen des organisierten<br />

Massenmordes hoch zum Himmel empor<br />

und Tausende spanische und französische<br />

Soldaten fallen auf dem „Felde der Ehre",<br />

um das „Vaterland zu verteidigen" und<br />

das Prestige ihrer Regierungen zu schützen.<br />

Aber hinter all den gleißenden Redensarten,<br />

die dazu dienen sollen, um den<br />

nationalistischen Furor zu entfesseln, verbergen<br />

sich auch hier wieder dieselben<br />

wirtschaftlichen Interessen privilegierter<br />

Minderheiten, deren robustes Gewissen es<br />

ihnen erlaubt, aus dem Blute hingemordeter<br />

Menschen Gold zu prägen. In diesem<br />

Punkte trifft der große Widersacher<br />

der spanischen und französischen Armeen<br />

in Marokko, Abd-el-Krim, den Nagel auf<br />

den Kopf, wenn er in seinem Manifeste<br />

an die amerikanischen Völker erklärt:<br />

„Europa, durch den Weltkrieg demoralisiert<br />

und in Wut gepeitscht durch die<br />

imperialistischen Bestrebungen seines<br />

eigenen kapitalistischen Systems, hat jedes<br />

Recht verloren, seine Ideen und seinen<br />

Willen Völkern anderer Kontinente aufs<br />

zuzwingen, die von dem Wunsche beseelt<br />

sind, neue Kulturen zu entwickeln, welche<br />

in den Idealen des menschlichen Friedens<br />

und der sozialen Gerechtigkeit wurzeln.<br />

<strong>Die</strong> Völkerschaften der arabischen<br />

Stämme sind bestrebt, das Joch Englands,<br />

Frankreichs, Italiens und Spaniens abzuschütteln<br />

. . . Der ungesunde Patriotismus<br />

der militärischen und katholischen


46<br />

Aus der Tätigkeit des Sekretariats der I.AA.<br />

Kasten Spaniens hat das eigene Volk in<br />

einen unsinnigen und katastrophalen Krieg<br />

gestürzt, der aus Marokko einen Friedhof<br />

für seine Söhne und eine Grube ohne<br />

Boden für seine militärischen Ausgaben<br />

gemacht hat . . . Uns widerstrebt soviel<br />

Blutvergießen, und wir wünschen, daß<br />

Spanien von seinem unfruchtbaren Heroismus<br />

abstehen möge, Marokko zu erobern,<br />

wie es einst Amerika erobert hat . . ."<br />

Der ganzen marokkanischen Frage<br />

liegen rein kapitalistische Profitinteressen<br />

zugrunde, wie erst vor kurzem Professor<br />

Delaisi in Paris, ein gründlicher Kenner<br />

der Frage, in überzeugender Weise nachgewiesen<br />

hat.<br />

Daß Spanien seinen Einfluß im Rifgebiet<br />

überhaupt geltend machen konnte,<br />

hatte zwei Ursachen: erstens die Unterstützung<br />

Englands, das verhindern wollte,<br />

daß Frankreich, der „teure Verbündete",<br />

unter dessen Protektorat der Sultan von<br />

Fez steht, nicht Gibraltar gegenüber eine<br />

militärische Basis für Flugzeuge und Unterseeboote<br />

anlegen könne, durch welche<br />

die Meerenge leicht gesperrt und der Weg<br />

nach Indien gestört werden konnte. Trotzdem<br />

hätten sich die Spanier wohl schwerlich<br />

auf ein solches brotloses Abenteuer<br />

eingelassen, wenn man nicht in der Nähe<br />

von Melilla reiche Erzlager entdeckt hätte,<br />

die besonders den Präsidenten der liberalen<br />

Partei, den Grafen von Romanones,<br />

stark interessierten, denn er war der Chef<br />

der großen Metallwerke „Figuerva", die<br />

für Spanien dieselbe Bedeutung hat wie<br />

Creusot für Frankreich. In dieser Tatsache<br />

wurzelt die ganze spanische Marokkopolitik.<br />

Da aber eine mächtige französische<br />

Kapitalistengruppe an diesen Erzlagern<br />

ebenfalls interessiert war, so suchte man<br />

den Spaniern den Raub streitig zu machen<br />

und sie von einem weiteren Vordringen<br />

abzuhalten, indem man die Eingeborenen<br />

reichlich bewaffnete, wodurch diese überhaupt<br />

erst in der Lage waren, den spanschen<br />

Truppen ernstlichen Widerstand zu<br />

leisten. <strong>Die</strong>sem Umstand war es auch zu<br />

verdanken, daß die Spanier 1921 bei<br />

Anual blutig geschlagen wurden und mehr<br />

als 50 000 Mann an Toten, Verwundeten<br />

und Gefangenen verloren.<br />

Der Waffenschmuggel für die Rifkabylen<br />

wurde ein sehr einträgliches Geschäft,<br />

an dem sich Kapilalisten der verschiedensten<br />

Länder beteiligten. Vielfach<br />

kauften diese Herren den Regierungen<br />

alte Heeresbestände ab, um sie mit kolossalen<br />

Profiten nach Marokko zu verschieben.<br />

So fand man unter anderem<br />

auch zahlreiche Gras-Gewehre, die eine<br />

französische Firma in der Avenue de<br />

l'Opera in Paris den Kabylen geliefert<br />

hatte, und zwar mit der Erlaubnis der<br />

französischen Regierung, an deren Spitze<br />

damals Poincaré stand. Heute dienen dieselben<br />

französischen Gewehre den Kabylen<br />

dazu, französische Soldaten niederzuknallen.<br />

Welch eine herrliche Illustration<br />

für unsere kapitalistische Moral.<br />

Allein die frommen Spanier machten<br />

es durchaus nicht anders. Als die Truppen<br />

Primo de Riveras seinerzeit die alte<br />

Kampffront räumen mußten, wurde den<br />

spanischen Soldaten der Befehl gegeben,<br />

ihr gesamtes Kriegsmaterial zurückzulassen,<br />

das dann Abd-el-Krim mühelos in<br />

die Hände fiel. Der Zweck der Uebung<br />

war natürlich, zu verhindern, daß das aufgegebene<br />

Gebiet von Franzosen besetzt<br />

würde.<br />

Zum Unglück entdeckte man auch<br />

noch auf den Südabhängen des Rif zahlreiche<br />

Petroleumquellen, was dazu führte,<br />

daß General Lyautey mit der Erlaubnis<br />

Poincarés die ganze Gegend besetzte,<br />

ohne daß die Eingeborenen überhaupt gefragt<br />

wurden . . . <strong>Die</strong>s war die unmittelbare<br />

Ursache der gegenwärtigen Vorgänge<br />

in Marokko.<br />

Es ist also ganz klar, daß die Ursache<br />

des sogenannten MarokkosKrieges in den<br />

brutalen Interessen einer kleinen kapitalistischen<br />

Räuberclique zu suchen ist,<br />

deren Habsucht man heute Tausende<br />

spanischer und französischer Soldaten<br />

opfert. Nach den eigenen Angaben Primo<br />

de Riveras hat die spanische Armee bei<br />

ihrem Rückzug auf Tetuan 21250 Mann<br />

an Toten, Verwundeten und Vermißten<br />

verloren. Doch dürfte diese Zahl noch<br />

weit hinter der Wirklichkeit zurückbleiben.<br />

Und während man die Blüte des Volkes<br />

in Marokko für die egoistischen Interessen<br />

einer Handvoll kapitalistischer Räuber<br />

abschlachten läßt, lohnt man dem<br />

Volke damit, indem man ihm unter der<br />

Herrschaft einer brutalen Militärdiktatur<br />

seit Jahren alle politischen Rechte raubte<br />

und jeden Versuch des Widerstandes mit<br />

blutiger Faust unterdrückt. Während der<br />

Reaktion unter der Zivilregierung von<br />

1920 bis 1923 gab es in Spanien acht<br />

politische Hinrichtungen; unter der Militärdiktatur<br />

Primo de Riveras wurden in<br />

anderthalb Jahren sechzehn Personen hingerichtet,<br />

während die Gefängnisse mit<br />

politischen Gefangenen gefüllt sind. Und<br />

jetzt ist Frankreich auf dem besten Wege,<br />

mit denselben reaktionären Mitteln jeden<br />

Widerstand im Volke gegen das schamlose<br />

Verbrechen in Marokko niederzuschlagen.


In spanischer Sprache erschienene freiheitliche Literatur im Jahre 1925 47<br />

Niemand kann die Ergebnisse der<br />

jetzigen Ereignisse in Marokko voraussehen,<br />

die zu den gefährlichsten politischen<br />

Verwicklungen führen können. Und<br />

immer wird der Proletarier das Opfer sein.<br />

Es ist die höchste Zeit, daß die Arbeiterschaft<br />

sich auf den Ernst der Lage besinnt.<br />

Wenn die Arbeiterklasse sich nicht<br />

geschlossen mit aller Energie erhebt, um<br />

gegen dieses neue Verbrechen in der<br />

aktivsten Form Protest einzulegen und<br />

eine Aktion gegen den Krieg im größten<br />

Stile einzuleiten, so sind die Folgen, die<br />

sich aus dieser Apathie ergeben werden,<br />

gar nicht zu übersehen.<br />

Es ist besonders die Aufgabe der revolutionär<br />

gerichteten Teile der Arbeiterschaft,<br />

auch jene Arbeiter zu erfassen, die<br />

in anderen Organisationen vereinigt sind<br />

und durch die reformistische Einstellung<br />

ihrer politischen und gewerkschaftlichen<br />

Führer an jeder ernstlichen Aktion gehindert<br />

werden. Arbeiter! Es handelt<br />

sich um eure elementarsten Interessen, um<br />

Leib und Leben! Schließt eure Reihen,<br />

um der Verbrecherpolitik eurer Ausbeuter<br />

ein Ende zu machen!<br />

Nieder mit dem organisierten Massenmord!<br />

Nieder mit dem kapitalistischen<br />

Ausbeutungssystem!<br />

Es lebe die soziale Revolution!<br />

Es lebe der freiheitliche Sozialismus!<br />

* * *<br />

Gegen die ungarische<br />

Henkerjustiz.<br />

An die revolutionärssyndikalistischen<br />

Organisationen der Welt!<br />

Genossen! <strong>Die</strong> ungarische Henker-<br />

Justiz ist dabei, zu ihren vielen Verbrechen<br />

ein neues hinzuzufügen. Der ungarische<br />

Kommunist Rákosi und eine Anzahl revolutionärer<br />

Arbeiter sind in die Hände der<br />

ungarischen Regierung gefallen. <strong>Die</strong> Gefangenen<br />

werden aufs scheußlichste mißhandelt,<br />

sie werden gefoltert, um aus ihnen<br />

Geständnisse herauszupressen. Sie werden<br />

beschuldigt, eine kommunistische Revolution<br />

vorbereitet zu haben. Ihr Leben ist<br />

bedroht!<br />

Genossen! Wir wissen, daß Rákosi<br />

einer der schlimmsten Anarchistenhetzer<br />

in Sowjetrußland gewesen ist, der sich<br />

nicht scheute, zu erklären, alle Anarchisten<br />

müßten ins Gefängnis gesteckt und unschädlich<br />

gemacht werden. Rákosi ist ein<br />

Gegner der freiheitlichen, antistaatlichen<br />

revolutionären Arbeiterbewegung.<br />

Trotzdem uns alles dieses bekannt ist,<br />

rufen wir die Arbeiterschaft zu Protesten<br />

gegen das schändliche Verhalten der ungarischen<br />

Regierung auf. Erhebt eure<br />

Stimme gegen das weiße Ungarn, das<br />

unter dem Vorwande von Ordnung alle<br />

revolutionären und freiheitlichen Bestrebungen<br />

im Blute erstickt.<br />

Demonstriert vor den ungarischen Konsulaten.<br />

Gebt euren Willen in Versammlungen,<br />

in den Betrieben und in der<br />

Oeffentlichkeit kund, für alle Opfer der<br />

Reaktion einzutreten, wer immer sie auch<br />

sein mögen und wo immer sie gepeinigt<br />

werden.<br />

Nieder mit der ungarischen Blutjustiz!<br />

Nieder mit der internationalen Reaktion!<br />

Das Sekretariat der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiterassoziation.<br />

* * *<br />

Ein längerer Aufruf anläßlich der<br />

Wiederkehr des Tages des Kriegsausbruchs<br />

mußte wegen Raummangels wegbleiben.<br />

Uebersicht über die im Jahre 1925<br />

in spanischer Sprache erschienene freiheitliche Literatur.<br />

<strong>Die</strong> hier folgende kurze Uebersicht<br />

über die im Jahre 1925 in spanischer<br />

Sprache erschienenen Bücher erstreckt sich<br />

nicht auf die kleinen Broschüren, die in<br />

den verschiedenen Ländern in spanischer<br />

Sprache herausgekommen sind. <strong>Die</strong> Verlagstätigkeit<br />

freiheitlicher Literatur spanischer<br />

Sprache erstreckt sich auf drei<br />

Hauptorte: Barcelona, Buenos<br />

Aires und Mexiko. Besonders reichhaltig<br />

waren die Büchererscheinungen im<br />

Jahre 1925 nicht, jedoch die ergänzende<br />

Zusammenarbeit der einzelnen Orte erweiterte<br />

die Tätigkeit.<br />

Unter den Büchern, die in Barcelona<br />

erschienen sind, ist zu erwähnen: <strong>Die</strong><br />

zweite Auflage des von Genossen Angel<br />

Pestana erschienenen Buches „70 dias<br />

en Rusia. Lo que yo vi" (70 Tage in Rußland.<br />

Was ich gesehen habe). Eine Uebersetzung<br />

der „Geschichte der Autorität"<br />

von Mut1atuli (aus dem Französischen


48<br />

In spanischer Sprache erschienene freiheitliche Literatur im Jahre 1925<br />

übersetzt). Der Herausgeber der anarchistischen<br />

Zeitschrift „Revista Bianca", Genosse<br />

Federico Urales, veröffentlichte<br />

einen freiheitlichen Roman von fast<br />

500 Seiten unter dem Titel „El ultimo<br />

Quijote" (Der letzte Quichotte). Seine Tochter<br />

Federica Urales veröffentlichte ebenfalls<br />

einen Roman „Victoria", der heftig<br />

umstritten wurde als ein Roman feministischen<br />

Einschlags. Es erschien ferner<br />

in Barcelona das Buch „El anarquismo en<br />

el movimento obrero" (Der Anarchismus<br />

in der Arbeiterbewegung) von E. Lopez<br />

Arango und D. A. Santilian. In<br />

diesem Buche suchen wir unsern Standpunkt<br />

über die Frage zusammenzufassen,<br />

wie wir sie in unserer Tageszeitung „La<br />

Protesta" und innerhalb der I.A.A. verteidigen.<br />

Es ist ein Buch von 208 Seiten,<br />

Edition Cosmos. <strong>Die</strong>selbe Frage wird von<br />

F. Peiro in einer Broschüre von 80 Seiten<br />

behandelt, die den Titel trägt „La Trayectoria<br />

de la Confederacion Nacional del<br />

Trabajo" (<strong>Die</strong> Laufbahn der Nationalen<br />

Arbeiterkonföderation). Es erschien auch<br />

eine Uebersetzung des Werkes von Paul<br />

Gi11e „Skizze einer Philosophie der<br />

menschlichen Würde".<br />

<strong>Die</strong> Freunde des kürzlich verstorbenen<br />

Ricardo Mella, eines des bemerkenswertesten<br />

anarchistischen Denkers Spas<br />

niens, sind damit beschäftigt, seine bedeutendsten<br />

Werke zu sammeln und herauszugeben.<br />

Zu Beginn des Jahres 1926<br />

wird der erste Band von 500 Seiten unter<br />

dem Titel „Ideario" herauskommen. Das<br />

Vorwort ist von J. Prat geschrieben.<br />

<strong>Die</strong> internationale Verlagsgruppe in<br />

Paris gab einen Roman des Genossen<br />

H. Noja Ruiz mit dem Titel „Los Sombrios"<br />

(<strong>Die</strong> Schattenhaften) heraus, in<br />

welchem das Leben der Arbeiter in den<br />

Grubenbezirken Andalusiens beschrieben<br />

wird.<br />

In Mexiko begann man mit der Herausgabe<br />

der Gesamtwerke von Ricardo<br />

Flores Magon, die bald vollständig<br />

erschienen sein werden. Im Jahre 1925<br />

erschienen drei kleine Bände seiner Korrespondenz<br />

im Gefängnis unter dem Titel<br />

„Epistolario revolucionario e intimo".<br />

Außerdem wurden die wichtigsten Arbeiten<br />

des bedeutenden anarchistischen<br />

Schriftstellers Praxedis Guerrero,<br />

der mit der Waffe in der Hand bei den<br />

Kämpfen gegen Porfirio Diaz im Jahre 1910<br />

starb, in einem Bande herausgegeben. <strong>Die</strong>selbe<br />

Herausgebergruppe gab auch kleinere<br />

Schriften von Rocker. Nettlau usw. in<br />

spanischer Uebersetzung heraus. Ferner<br />

erschien eine kleine Biographie über R. F.<br />

Magon unter dem Titel „Ricardo Flores<br />

Magon, el apostol de la revolucion social<br />

mexicana" (R. F. M. der Apostel der sozialen<br />

Revolution Mexikos) von 128 Seiten<br />

mit einem Vorwort seines zwanzigjährigen<br />

Freundes Librado Rivera. Eine Biographie<br />

über Elisé Reclus von Max Nettlau, erscheint<br />

binnen kurzem ebenfalls in Mexiko.<br />

<strong>Die</strong>se Biographie ist als Einführung in die<br />

sozialen Werke Reclus, des großen Geographen<br />

und Anarchisten, gedacht.<br />

Einige Monate vor seinem Tode veröffentlichte<br />

Pedro Eveste in New<br />

York eine Arbeit über „Reformismo, dictadura,<br />

federalismo", in der der freiheitliche<br />

Standpunkt vertreten wird.<br />

Wir sehen also, daß in einem Jahre,<br />

das nicht gerade mit besonderer Verlagstätigkeit<br />

gesegnet ist, gegen 17 Bände freiheitlicher<br />

Literatur in spanischer Sprache<br />

herausgekommen sind. D. A. de S.<br />

* * *<br />

Freiheitliche Zeitungen<br />

in Spanien.<br />

Im letzten Jahre, während der Diktatur<br />

Primo de Riveras, kamen in Spanien folgende<br />

Zeitungen heraus:<br />

Accion Social Obrera, Wochenorgan der<br />

Gewerkschaften der Provinz Gerona,<br />

angeschlossen an die CNT.<br />

Fructidor, Wochenorgan der Föderation<br />

der Gewerkschaften von Sabadell mit<br />

Provinz.<br />

Solidaridad Obrera, Wochenorgan der regionalen<br />

Arbeiterkonföderation Asturiens<br />

(erscheint in Gijon), angeschlossen<br />

an die CNT.<br />

Solidaridad Obrera, Wochenorgan der<br />

regionalen Konföderation von Galicia<br />

(erscheint in Santiago), angeschlossen an<br />

die CNT.<br />

Revista Bianca, Halbmonatlich erscheinende<br />

literarische und soziologische<br />

Zeitschrift (erscheint in Barcelona).<br />

Vertice, halbmonatlich erscheinende literarische<br />

und soziologische Zeitschrift.<br />

<strong>Die</strong> beiden letzten, „Revista Bianca"<br />

und „Vertice", sind freistehende anarchistische<br />

Zeitschriften, die dem Syndikalismus<br />

und der Arbeiterbewegung nahestehen.


Verzeichnis der der <strong>Internationale</strong>n<br />

Arbeiter-Assoziation angeschlossenen<br />

Landesorganisationen.<br />

Argentinien:<br />

Chile:<br />

Deutschland:<br />

Holland:<br />

Italien:<br />

Mexiko:<br />

Norwegen:<br />

Portugal:<br />

Spanien:<br />

Spitzbergen:<br />

Schweden:<br />

Uruguay:<br />

Frankreich:<br />

Federacion Obrera Regional Argentina (FORA), calle<br />

Constitucion 3451, Buenos Aires.<br />

Industrial Workers of the World (I.W.W.), de la Region<br />

Chilena, calle Nataliel 1057, Santiago.<br />

Freie Arbeiter-Union Deutschlands (Anarcho-Syndikalisten,<br />

F.A.U.D.), Geschäftskommission Berlin O. 34,<br />

Kopernikusstraße 25.<br />

Nederlandsch Syndicalistisch Vakvorbond (N.S.V.),<br />

1 e Helmersstraat 73, Amsterdam.<br />

Unione Sindacale Italiana (U.S.I.), Via Achille Mauri 8.<br />

Mailand.<br />

Confederacion General de los Trabajadores (C.G.T.),<br />

calle San Juan de Letran 34, Mexiko D. F.<br />

Norsk Syndikalistisk Federation (N.S.F.), Box 2003,<br />

Kristiania G.<br />

Confederacao Geral do Trabalho (C.G.T.), Calcada do<br />

Combro 38, A. II, Lissabon.<br />

Confederacion Nacional del Trabajo (C.N.T.), calle<br />

Trajano 16, Sevilla.<br />

Spitzbergens Syndikalistisk Federation (S.S.F.), Box 37,<br />

Tromsö (Norwegen).<br />

Sveriges Arbetares Centraiorganisation (S.A.C.), Box 413,<br />

Stockholm 1.<br />

Federacion Obrera Regional Uruguaya (F.O.R.U.), calle<br />

Cuareim 1321, Montevideo.<br />

Als Regionalverband gehört der I.A.A. an:<br />

Allgemeiner Arbeiterverband Ober-Elsaß, Mülhausen,<br />

Tränkgäßchen 3.


Verzeichnis der Presse der<br />

<strong>Internationale</strong>n Arbeiter-Assoziation.<br />

Herausgegeben vom Sekretarial der I.A.A.<br />

1. Pressedienst der I.A.A. Erscheint allwöchentlich.<br />

2. ,<strong>Die</strong> <strong>Internationale</strong> Revue". Erscheint zweimonatlich.<br />

Zu beziehen vom Sekretariat der I.A.A., Berlin O. 34, Kopernikusstraße 25.<br />

Publikationsorgane der angeschlossenen<br />

Landes-Organisationen.<br />

Argentinien:<br />

Portugal:<br />

Spanien:<br />

Schweden:<br />

Tageszeitungen:<br />

„La Protesta", Veröffentlichungsblatt der F.O.R.A, Peru. 1537,<br />

Buenos Aires.<br />

„A Batalha", Organ der C.G.T. Portugals, Calcada do Combro 38,<br />

A.II, Lissabon<br />

„Solidaridad Obrera", Organ der C.N.T. Spaniens, calle del<br />

Asalto 58, 1 °, Barcelona.<br />

„Arbetaren", Organ der S.A.C. Schwedens, Box 413, Stockholm I.<br />

Wochenblätter:<br />

Brasilien: „Der Freie Arbeiter". Rua dom Pedro II, Nr. 19; Porto Alegro.<br />

Chile: „Accion diecta", Organ der I.W.W. Chile, Correo 3, casilla 5015,<br />

Santiago.<br />

Deutschland: „Der Syndikalist". Organ der F.A.U.D. (A..S.), Verlag der Syndikalist,<br />

Berlin O.34. Warschauer Straße 62.<br />

Frankreich; „Weckruf", Organ des Allgemeinen Arbeiterverbandes, Mülhausen<br />

(Haute-Rhin), Tränkgäßchen 3.<br />

Holland: „De Syndicalist", Organ des N.S.V., 1 e Helmerstraat 73, Amsterdam.<br />

Italien: „Guerra di Classe". Organ der U.S.l. (verboten). Via Achille<br />

Mauri 8, Milano.<br />

Mexiko: „Humanidad", Organ der C.G.T., Merida 164 3°, Mexiko D. F.<br />

Norwegen: „Alarm", Organ der N.S.F., Box 2003, Kristiania G.<br />

„Erkenntnis und Befreiung", Klosterneuburg bei Wien, Schieß-<br />

Oesterreich: stättengraben 237.<br />

„O Trabalho", Organ der Textilarbeiter.Föderation, Casa do Povo,<br />

Portugal: Colhiva.<br />

„Solidaridad Obrera", Organ der Regionalorganisation Asturiens,<br />

Spanien: Cabrales 38, Gijon-Asturias.<br />

„Solidaridad", Organ der F.O.R.U., Cuareim 1321, Montevideo.<br />

Uruguay:

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