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Deduktion des Sittengesetzes - UK-Online

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wahrhaft handlungsbestimmen<strong>des</strong>, handlungsentscheiden<strong>des</strong> Wollen sein, weil<br />

es sich als jederzeit durch ein anderes Wollen nicht nur faktisch aufhebbar<br />

denken müßte, sondern ohne berechtigten Anspruch gegen jede nur mögliche<br />

Aufhebung durch frem<strong>des</strong> und eigenes (späteres) Wollen. Das erstere würde<br />

seine Handlungsbestim- | mung, das letztere aber schon seine Selbstbestimmung<br />

aufheben. Denn durch seine jeweiligen Entscheidungen wäre in Wahrheit<br />

nichts entschieden (außer seinem jeweiligen Zustand). Das praktische Bewußtsein<br />

würde in eine bloße Mannigfaltigkeit von Begehrungen zerfallen.<br />

Auch das ‚Ich denke‘ in praktischer Hinsicht, d.i. das ‚Ich will‘, impliziert die<br />

Entscheidung einer (zunächst subjektiven) Geltungsdifferenz. Auch die analytische<br />

Einheit <strong>des</strong> praktischen Selbstbewußtseins ist ‚nur unter der Voraussetzung<br />

irgendeiner synthetischen möglich‘, aber nicht einer (im theoretischen Sinne)<br />

objektiven Einheit, sondern einer anderes Wollen verpflichtenden Einheit der<br />

Apperzeption. Das Sittengesetz aber ist die Bedingung der Möglichkeit, seinem<br />

praktischen Bewußtsein gegenüber der faktischen Mannigfaltigkeit (eigener<br />

und fremder) Begehrungen diese synthetische Einheit zu verschaffen.<br />

Danach ist auch die endgültige Bestimmung von Problemprinzip und Referenzprinzip<br />

der synthetisch-praktischen Sätze nicht mehr schwer. Das im dritten<br />

Abschnitt der Kantischen ‚Grundlegung‘ zunächst angesetzte ‚Dritte‘, die<br />

Möglichkeit <strong>des</strong> Wollens als vernünftigen Handlungsbewußtseins (oder die<br />

Möglichkeit, von seiner Vernunft bei unserem Tun und Lassen Gebrauch zu<br />

machen) haben wir so zu entfalten, daß es die aus der Struktur <strong>des</strong> <strong>Sittengesetzes</strong><br />

herausgearbeitete und dem praktischen Problem schon zugrundeliegende<br />

Referenzstruktur enthält. Statt wie in der theoretischen Philosophie unsere<br />

subjektiven Leistungen mit ihren Objekten in Beziehung zu setzen, müssen<br />

wir hier von unseren schlicht gegenstandsbezogenen Leistungen, unserem<br />

handlungsbestimmenden Wollen, zu <strong>des</strong>sen auf eigenes und frem<strong>des</strong> Wollen<br />

bezogenem Implikat, dem eigenes und frem<strong>des</strong> Wollen verpflichtenden Wollen,<br />

zurückgehen. ‚Von seiner Vernunft bei unserem Tun und Lassen<br />

Gebrauch zu machen‘ heißt (abgesehen von theoretisch-kognitiven Implikationen)<br />

nichts anderes, als eigenes und frem<strong>des</strong> Wollen zu verpflichten. - Damit<br />

ist noch nicht angegeben, wodurch dergleichen möglich wird. Aber weil die<br />

Möglichkeit solchen Verpflichtens schon durch je<strong>des</strong> Wollen als vernünftiges<br />

Handlungsbewußtsein gefordert ist, <strong>des</strong>halb ist die Bedingung dieser Möglichkeit<br />

letztlich das Gesetz selbst eines bösen Willens; und das Sollen, welches<br />

dieses Gesetz enthält, ist ‚eigenes notwendiges Wollen‘ und bezieht sich auf<br />

das eigene handlungsbestimmende Wollen zurück (vgl. oben S. 144 f. und 160<br />

f.).<br />

166<br />

Die Möglichkeit der Obligation eines Wollens durch ein anderes, das handlungsbestimmend<br />

zu sein beansprucht, aber dies nur sein kann, wenn es<br />

zugleich anderes Wollen verpflichtet, ist das Problem, mit dem die praktische<br />

Philosophie beginnt (und mit dem die bloß theoretische Erklärung <strong>des</strong> Wollens<br />

und Handelns aufhört). Die Möglichkeit eines verpflichtenden Wollens ist<br />

das Problemprinzip synthetisch-praktischer Sätze a priori. Es ist selbst kein<br />

theoretisches, sondern ein praktisches Prinzip. Aber es ist noch kein moralisches<br />

Prinzip, insofern es noch nicht die Antwort auf die praktische Problemstellung<br />

enthält. Die Möglichkeit <strong>des</strong> dadurch verpflichteten Wollens, als welches sich<br />

je<strong>des</strong> handlungsbestimmende | Wollen erweist, ist das zugehörige Referenzprinzip.<br />

- Insofern das praktische Problemprinzip durch das Sittengesetz mit<br />

seinem Referenzprinzip wahrhaft vermittelt ist, können wir von dem berechtigten<br />

Verpflichtungsanspruch je<strong>des</strong> durch dieses Gesetz bestimmten Wollens<br />

sprechen, d.h. für uns: von der menschlichen Würde. 99<br />

Da die intentionale Beziehung zwischen Problemprinzip und Referenzprinzip<br />

die Entscheidung einer Geltungsdifferenz erfordert, ist das Begründungsprogramm<br />

der praktischen Philosophie modaltheoretisch zu formulieren.<br />

Da Geltungsentscheidungen endlicher Vernunftwesen über eine zeitliche<br />

Distraktion hinweg Einheit der Geltung konstituieren müssen, wird die Durchführung<br />

<strong>des</strong> Begründungsprogramms von einem Prinzip der transzendentalen<br />

Einheit der Apperzeption gewährleistet. - Praktische Vernunft im umfassenden<br />

Sinne aber ist das Vermögen, nicht nur einzelne praktische Probleme, sondern<br />

auch das prinzipielle praktische Problem zu stellen, es zu lösen, und diese Lösung<br />

zu rechtfertigen.<br />

Das oberste Principium aller synthetisch-praktischen Sätze ist nach alledem:<br />

Ein je<strong>des</strong> handlungsbestimmende Wollen vernünftiger Wesen steht unter den notwen-<br />

99 Die Rede vom berechtigten Verpflichtungsanspruch eines jeden durch das Sittengesetz bestimmten Wollens<br />

besagt nichts anderes, als daß „der Wille eines vernünftigen Wesens jederzeit zugleich als gesetzgebend<br />

betrachtet werden muß“ (vgl. IV 434‚23 f.). Die Würde eines vernünftigen Wesens aber besteht darin, daß es<br />

als „Zweck an sich selbst“ gelten muß (vgl. IV 434‚24-436‚7).<br />

Das Prinzip der Menschenwürde ist daher auch der letzte Maßstab unserer Kultur überhaupt, welcher Moralität<br />

und das durch sie zu lösende Problem in sich vereinigt. Dieses Prinzip liegt, wie das Sittengesetz<br />

selbst, noch aller Differenzierung <strong>des</strong> Praktischen in Ethos und Recht voraus. Daß es <strong>des</strong>halb auch über<br />

Ethos und Recht hinaus noch auf Prinzipien anderer Bereiche menschlicher Praxis und Produktion zu verweisen<br />

vermag, müssen wir wohl schon aus den grundsätzlichen Überlegungen Hans Wagners in den §§ 25-<br />

28 von Philosophie und Reflexion, München/Basel 31980, schließen. - Über das Prinzip der Menschenwürde<br />

und seine umfassende Bedeutung belehrt zu werden, können wir in nächster Zeit von niemanden mehr<br />

erhoffen als von Hans Wagner.*<br />

XXII<br />

167

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