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Nützliches Vergnügen - SUB Göttingen

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lich enthält ein ABC-Buch (meist nur ein Bogen)<br />

auch das (jeweilige) Glaubensbekenntnis<br />

und Gebete, wie etwa das AAabcdef, das 1784<br />

bei Johann Jacob Adler in Rostock gedruckt wurde.<br />

Das 1860 in Leipzig herausgebrachte Aabcdef<br />

übt das Entziffern der Buchstaben und Silben am<br />

„Vater unser“, den Zehn Geboten und dem Glaubensbekenntnis<br />

ein. 4 Die Beispiele lassen sich<br />

leicht vermehren. Sie alle belegen, dass „Bücher<br />

für Kinder“ eher die rhetorisch ausgerichtete, sittlich-katechetische<br />

Literatur meint, als die für Kinder<br />

geschriebene weltliche fiktionale Literatur. Im<br />

achtzehnten Jahrhundert verstand man unter<br />

Büchern für Kinder daher viel eher die Zweymahl<br />

zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien 5<br />

(Exp.-Nr. 163–166) des schon zu Lebzeiten für<br />

seine Kinderbücher berühmten Hamburger Schulrektors<br />

Johann Hübner als Romane für Kinder.<br />

Hübners Bücher sind auch insofern beispielhaft<br />

für die im achtzehnten Jahrhundert gängige<br />

Literatur für Kinder, als er den Text mit Kupfern<br />

versieht. Bild und Text – das gehörte schon früh<br />

zu den gattungstypischen Merkmalen der Bücher<br />

für Kinder. Im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts<br />

und dann erst recht im achtzehnten Jahrhundert<br />

verändert sich aber die Begründung.<br />

Weltkenntnis und Wissen sollten die Bücher anschaulich<br />

unterbreiten. Realienbildung war gefragt,<br />

Anfang des achtzehnten Jahrhunderts wurde<br />

in Halle die erste Realschule durch Christoph<br />

Semler gegründet. Das widersprach nicht der religiösen<br />

Grundausrichtung, sondern ging mit ihr<br />

zusammen, in Halle mit dem Pietismus, an anderen<br />

Orten mit radikaleren Glaubensüberzeugungen.<br />

Das Orbis sensualium pictus des tiefgläubigen,<br />

ja millenaristischen Johann Amos<br />

Comenius von 1658 wurde in unzähligen Auflagen<br />

nachgedruckt, übersetzt und nachgeahmt<br />

(Exp.-Nr. 4). Noch dem Weimarer Verleger Friedrich<br />

Justin Bertuch galt es als Vorbild für alle Kinderbücher.<br />

Die Welt, die hier zur Darstellung<br />

kommt, war bewusst der Lebenswelt der Schüler<br />

entlehnt, geordnet nach lateinischen und deutschen<br />

Bezeichnungen. Das Buch war Anschauungs-<br />

wie Übungsbuch zugleich, Lateinfibel und<br />

muttersprachliches Lehrbuch, war zum Vorlesen<br />

wie zum Abmalen und Abschreiben geeignet. Es<br />

enthielt keine Märchen, sondern Sachen. Aber<br />

die Ordnung der Sachen war nicht beliebig. Was<br />

die Kinder durch Abmalen und Abschreiben<br />

detailgerecht lernen sollten, war nicht weniger als<br />

die Ordnung der Welt.<br />

ROUSSEAUS KINDER. ALS DIE KINDERBÜCHER LAUFEN LERNTEN<br />

Noch die aufgeklärten geographischen Belustigungen<br />

der Jugend oder astronomischen Belustigungen,<br />

der Kurze Inbegriff aller Wißenschaften zum nützlichen<br />

Gebrauch eines Kindes von drey bis sechs Jahren<br />

und die Kurze Vorstellung der ganzen Welt oder<br />

der Neue Orbis pictus für Kinder, 6 alle diese Bücher,<br />

die im achtzehnten Jahrhundert in immer<br />

größerer Zahl auf den Markt kamen, spiegeln die<br />

Ordnung der Welt wider, tun das an den Sachen<br />

orientiert und ganz der Anschaulichkeit hingegeben.<br />

Gemessen an ihrer Zahl sind Märchenbücher,<br />

die der französischen Märchen-Mode<br />

folgen und deshalb Erwachsenenliteratur sind,<br />

empfindsame Adaptionen von Samuel Richardson<br />

oder Übersetzungen der Erzählungen für Kinder<br />

von Mary Wollstonecraft zu vernachlässigen.<br />

Bücher für Kinder waren im achtzehnten Jahrhundert<br />

noch nicht Kinderbücher, wie wir sie<br />

kennen. Sie haben viel mehr mit Religion und<br />

Rhetorik, mit der Ordnung der Welt und der<br />

Ordnung der Ständegesellschaft zu tun, als es uns<br />

vertraut ist. Sie überschreiten die uns geläufige<br />

Unterscheidung von erfundenen und wahren<br />

Texten ebenso selbstverständlich wie sie den Unterschied<br />

zwischen profaner und geistlicher Literatur<br />

überbrücken.<br />

Gewiss nimmt die absolute Zahl der Kinderbücher<br />

im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts<br />

zu. Mit Zeitschriften für Kinder wie<br />

Christian Gottfried Böckhs Wochenschrift zum<br />

Besten der Erziehung der Jugend oder Christian<br />

Felix Weißes Wochenblatt Der Kinderfreund<br />

(Exp.-Nr. 133–134) gelingt Texten für Kinder der<br />

Sprung zum Periodicum. Auch sie sind den Vorstellungen<br />

einer zugleich vernünftigen und religiös<br />

begründeten Ordnung verpflichtet. Im Verhältnis<br />

zu den meisten der in Haus und Schule<br />

gelesenen Bücher nimmt die Zahl jener Literatur,<br />

die unserem Begriff des Kinderbuchs nahe<br />

kommt, dennoch nur langsam zu. Erst im neunzehnten<br />

Jahrhundert sind hier in der zweiten<br />

Leserevolution signifikante Veränderungen zu<br />

beobachten. Kurz, die Bücher für Kinder stehen<br />

im achtzehnten Jahrhundert noch überwiegend<br />

in der Tradition der Frühen Neuzeit, der Rhetorik<br />

und Religion, Ständegesellschaft und Katechismus<br />

näher sind als die Erziehung des Menschen.<br />

Das legt den Schluss nahe, das Jahrhundert<br />

der Pädagogik stelle keineswegs jenen epochalen<br />

Bruch in der Geschichte der Kinder- und<br />

Jugendliteratur dar, wenn man die Kulturgeschichte<br />

der Bücher und ihrer Leser in den Blick<br />

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