24.10.2012 Aufrufe

Nützliches Vergnügen - SUB Göttingen

Nützliches Vergnügen - SUB Göttingen

Nützliches Vergnügen - SUB Göttingen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Rückgrat, Schwindel, Krebs – dies alles als Strafe<br />

für „ein heimliches und schändliches Laster“.<br />

Dieses Laster bleibt ungenannt, niemand wird<br />

aufgeklärt. Nur die Qualen des erkrankten Mädchens<br />

spielen sich unmittelbar vor den Augen der<br />

Kinder ab, denen diese Geschichte erzählt wird.<br />

Die Kinderbücher der Aufklärung sind voller<br />

Warn- und Strafgeschichten. Die Kinder in<br />

diesen Büchern kommen rigoros und oft brutal<br />

zu Tode. Sie werden zum „exemplum eruditionis“<br />

3 , damit die Folgen eigenwilligen Verhaltens<br />

vorgeführt werden können. Bei Marx (1804,<br />

Exp.-Nr. 46) ist es ein Jüngling, der zu Tode<br />

kommt: „Wollust kürzte sein Leben“. Die Erziehung<br />

der aufsteigenden bürgerlichen Gesellschaft<br />

setzt Tugend gegen die Frivolität des Adels; Elias<br />

spricht vom „Zaun, mit dem die sexuelle Sphäre<br />

des Triebhaushalts eingehegt wird“. 4<br />

Auch wenn mein Blick auf die Kinderliteratur<br />

der Aufklärung hier vieles außer Acht lassen<br />

muss, so können wir doch festhalten, dass Verhaltensregulierungen,<br />

Triebunterdrückung, Domestizierung<br />

des Freiheitswillens, der Lust, der<br />

Bewegung, der Fantasie, des Kinderspiels, überhaupt<br />

der Spontaneität in dieser Zeit wichtig<br />

waren für einen Prozess der Zivilisation, der dazu<br />

führt, dass zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts<br />

als Kulturideal feststeht, was „erwachsen“<br />

heißt (so sieht es Elias). Unser gezähmter Zeisig<br />

entspricht diesen Vorstellungen. Er repräsentiert<br />

das Ideal, an dem sich die Kinderliteratur der<br />

Aufklärung (und beileibe nicht nur der Aufklärung,<br />

wie wir noch sehen werden) mit ihren Entwürfen<br />

von Kindheit orientiert.<br />

Wie anders dagegen die Kindheitsbilder der<br />

Frühromantik, die sich schon vor und um 1800<br />

herausbilden! Die Frühromantik entwirft ihre<br />

Kindheitsbilder in deutlicher Opposition zur Aufklärung.<br />

Doch werden sie ähnlich bedeutsam werden?<br />

Wenn ein literarisches Kind der Aufklärung<br />

etwas Verbotenes tut, wird es bestraft, findet<br />

vielleicht gar den Tod. In der Literatur der Romantik<br />

finden wir Beispiele dafür, dass ein Kind,<br />

das etwas Verbotenes tut, belohnt wird und z. B.<br />

eine fantastische Kinderreise macht, keineswegs<br />

in den Tod, sondern ins Schlaraffenland (in E.T.A.<br />

Hoffmanns Nußknacker und Mausekönig) oder ins<br />

Elfenland (in Tiecks Elfen). „Aberglaube ist besser<br />

als Systemglaube“, hat Wackenroder gesagt,<br />

natürlich überspitzt, aber es hat Witz und macht<br />

die Gegensätze zum Rationalismus der Aufklärung<br />

deutlich.<br />

DIE NATUR IM KÄFIG. KINDHEITSBILDER IN ALTEN KINDERBÜCHERN<br />

Die Romantiker setzten oft die fragmentarische,<br />

die verunglückte, die nicht zu Ende gekommene<br />

Lebensgeschichte gegen das aufklärerisch-bürgerliche<br />

Ideal des „gelungenen“ Lebens, wie wir es<br />

in Bildungsromanen finden mit ihrer Darstellung<br />

eines beispielhaften Sozialisationsprozesses, so<br />

auch in Campes Robinson (Exp.-Nr. 72). Das gilt<br />

nicht nur für die Dichtungen. Auch das Leben<br />

der Dichter gelingt oft nicht, auch sie sind oft<br />

Suchende, Zerrissene, Gescheiterte. Sie leiden an<br />

der Realität, an den politischen Verhältnissen, eine<br />

bürgerliche Existenz legte ihnen nur Fesseln an.<br />

Sie sind daher vielfach getrieben von unerfüllter<br />

Sehnsucht, sind ständig auf Wanderschaft, auf der<br />

Suche, auf dem Weg nach Hause, mit Heimweh<br />

nach einer ganzen, heilen, erlösten Existenz. Es<br />

liegt auf der Hand, dass diese Romantiker die<br />

Kinder in einem anderen Sinn entdecken und<br />

entwerfen als die Aufklärung. Werfen wir einen<br />

Blick auf Auszüge aus einem kurzen Text der Frühromantik,<br />

auf Wackenroders Über die Kinderfiguren<br />

auf den Raffaelschen Bildern, aus seinen<br />

Phantasien über die Kunst, von Tieck 1799 herausgegeben.<br />

29<br />

Abb. 9<br />

Aus Weißes Kinderfreund<br />

(1771ff); Nr. 133.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!