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Nützliches Vergnügen - SUB Göttingen

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Die Natur im Käfig. Kindheitsbilder in<br />

alten Kinderbüchern<br />

Wolfgang Wangerin<br />

Seit es Kinderbücher gibt, dienen sie den Kindern<br />

nicht nur zur Unterhaltung, zur Anregung<br />

der Fantasie. Kinderbücher sind immer auch Erziehungsbücher<br />

gewesen. Kinder lesen und lernen<br />

in ihren Kinderbüchern das, was den Interessen<br />

und Vorstellungen der Erwachsenen entspricht;<br />

nicht nur, was Kenntnisse betrifft, sondern<br />

vor allem, was kindliches Verhalten, was<br />

Tugend und Moral betrifft. Literatur für Kinder<br />

musste nützlich sein; und so haben Kinderbücher<br />

erheblich dazu beizutragen, dass die nachwachsende<br />

Generation nach den Vorstellungen<br />

der Alten heranwächst. Ebenso haben Kinderbücher<br />

in ihrer Geschichte nicht wenig dazu beigetragen,<br />

das bürgerliche Bild von Kindheit, Familie<br />

und Erziehung zu schaffen und zu festigen; sie<br />

haben der Domestizierung der Kinder gedient.<br />

Welche Kindheitsbilder entwirft die Kinderliteratur?<br />

Nur Bilder von gezähmten Kindern –<br />

oder auch andere? Wir haben ein ganzes Museum<br />

voller Kindheitsbilder im Kopf, die ja besonders<br />

von der Kinderliteratur geschaffen worden<br />

sind. „Wenn man von einem Kinde redet“, so<br />

lesen wir in Goethes Wilhelm Meister „spricht man<br />

niemals den Gegenstand, immer nur seine Hoffnungen<br />

aus“. Das gilt auch für die Verfasser von<br />

Kinderliteratur. Um deren Entwürfe, Erfindungen,<br />

Projektionen, Utopien von Kindheit geht es<br />

mir. Verwechseln wir dabei nicht das Dargestellte<br />

mit der Realität; es geht mir nicht um die Sozialgeschichte<br />

der Kindheit. Aber die entworfenen<br />

Kindheitsbilder sind nicht weniger interessant als<br />

die Wirklichkeit selbst.<br />

Lesen wir zunächst eine kleine Geschichte,<br />

die den Kindern in Christian Felix Weißes Kinderfreund<br />

erzählt wird. Sie steht im fünften Band<br />

von 1778, im „LXVI. Stück“ (vgl. Exp.-Nr. 133–<br />

134). Welche Vorstellungen von Kindheit finden<br />

wir in diesem Text?<br />

Der Zeisig<br />

Ein kleiner Zeisig hatte einst das Unglück, einem<br />

muthwilligen Knaben, gleich aus dem Neste, und<br />

kaum, da er flicke geworden war, in die Hände zu<br />

fallen, indessen daß sein Zwillingsbruder glücklich<br />

entkam, und seiner ganzen Freyheit in der heitern<br />

Luft, in den anmuthigsten Thälern und schattenreichsten<br />

Wäldern, in der Gesellschaft lustiger Brüder<br />

und Schwestern von seiner Gattung genoß. Jener<br />

arme Kleine wurde sogleich an ein Kettchen<br />

geleget, und durch Hunger und andere Qualen gezwungen,<br />

in einem Fingerhute sein bißchen Getränke<br />

heraufzuziehen, sein Futterkästchen selbst aufzumachen<br />

und alles zu lernen, was zu einem geschickten<br />

Wasserzieher gehöret. Indessen, da er sich<br />

einst in sein Kettchen versitzte, und man es aus<br />

einander winden wollte, entkam er glücklich durch<br />

ein offenes Fenster, flog zu seinem Bruder in Wald,<br />

und genoß eine Zeitlang mit ihm der Freuden des<br />

Lebens und der Freyheit. Den nächsten Herbst aber,<br />

da sie Futter suchten, geriethen sie beide durch die<br />

List eines Vogelstellers in die Gefangenschaft; dieser<br />

schloß sie so gleich in einen Bauer ein. Der ältere,<br />

der von Jugend an Zwang zu ertragen, nicht gelehrt<br />

worden war, stieß sich vor Gram und Ungeduld den<br />

nächsten Morgen an seinem Gitterchen den Kopf<br />

ein. Der andere schon mit dem Kerker und der Kette<br />

bekannt, fand sich leicht in sein Schicksal, und<br />

ward nach und nach so darzu gewöhnt, daß er selbst<br />

die Freyheit nicht verlangte, sich die Geschicklichkeit,<br />

die er gelernt hatte, und die sich bald seinem<br />

Herrn verrieth, zum Zeitvertreibe machte; alt ward<br />

und ruhig starb. O! wie oft dankte er dann in seinem<br />

zwitschernden Liedchen Gott, daß er ihn gleich<br />

in der ersten Kindheit durchs Kreuz Geduld und<br />

Stille gelehrt habe.<br />

Ja, meine Kinder, wie viel giebt es nicht Aemter,<br />

Stellen und Umstände, wo sich dieß mancher wünschen<br />

möchte, und itzt weit weniger über die Unerträglichkeit<br />

seufzen würde, wenn seine Jugend nicht<br />

zu zwanglos und glücklich gewesen wäre.<br />

Dies ist der harmlose Text eines Pädagogen und<br />

Schriftstellers der Aufklärung. Die Kinderliteratur<br />

kennt drastischere Strafen, nicht nur in Büchern<br />

mit Schwarzer Pädagogik. Wir haben es hier mit<br />

zwei Zeisigen zu tun, auch mit zwei Teilen des Textes.<br />

Nehmen wir zunächst den ersten Teil. Beide<br />

Zeisige stammen aus dem gleichen Nest. Der eine<br />

hat die „Freyheit“, darf sie ,,genießen“ ist „glücklich“<br />

(dies Vokabular ist schon verräterisch: „genießen“<br />

– das kann nur schief gehen), er ist „lustig“,<br />

„in der heitern Luft, in den anmuthigsten<br />

Thälern und schattenreichsten Wäldern“, und er<br />

ist aufgehoben „in der Gesellschaft lustiger Brüder<br />

und Schwestern“, ohne Kontrolle, ohne Erziehung.<br />

Welch schöne Idylle, welch ein Lebensglück,<br />

welche Einheit von Natur und Leben!<br />

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