Revolutionstheorie heute ? 90 Jahre Oktoberrevolution ...
Revolutionstheorie heute ? 90 Jahre Oktoberrevolution ...
Revolutionstheorie heute ? 90 Jahre Oktoberrevolution ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
2<br />
<strong>Revolutionstheorie</strong><br />
<strong>heute</strong><br />
?<br />
<strong>90</strong> <strong>Jahre</strong><br />
<strong>Oktoberrevolution</strong><br />
€ 7,50
Bestellung: Neue Impulse Verlag, Tel. 0201-24 86 48 2 Fax 0201-24 86 48 4<br />
E-Mail: NeueImpulse@aol.com
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Mandat für<br />
den langen Krieg<br />
Gerd Deumlich<br />
Der Bundesregierung schwant Ungemach im<br />
Hinblick auf die fällige Verlängerung der<br />
Mandate für den Einsatz der Bundeswehr in<br />
Afghanistan. Die mehrheitliche Ablehnung in<br />
der Bevölkerung beginnt bis in die Reihen der<br />
Koalition durchzuschlagen. Die FAZ argwöhnt:<br />
„Die Zeit, in der die Mandate im Bundestag<br />
‚durchgewunken’ wurden, ist vorbei“<br />
(14.8.2007).<br />
Forsche Erklärungen von Spitzenleuten<br />
der Koalition, dass die Mandate mit Sicherheit<br />
verlängert werden, atmen das Bemühen, ihre<br />
Fraktionen auf Vordermann zu bringen. Dass<br />
jeder dritte SPD-Abgeordnete gegen den<br />
Einsatz von Tornado-Aufklärern stimmte, darf<br />
sich laut Struck „nicht wiederholen“. Außenminister<br />
Steinmeier will Druck damit ausüben,<br />
die Stimmung für den Abzug der Bundeswehr<br />
aus Afghanistan zeuge „für den Einfluss<br />
der geschickten Taliban-Propaganda auf<br />
die Öffentlichkeit im Heimatland“ (FAZ,<br />
14.8.2007). SPD-Thierse hält es für durchschlagend,<br />
die Forderung nach einem Abzug<br />
sei „Verrat an dem Internationalismus, für den<br />
die Sozialdemokraten, die Linken, immer gestanden<br />
haben“ (FAZ, 10.8.2007).<br />
So erbärmlich diese „Argumente” sind – es<br />
wäre leichtfertig, sich auf politischen Verstand<br />
der Abgeordneten zu verlassen. Da hat die für<br />
den 15. September geplante Demonstration in<br />
Berlin kräftig Nachilfeunterricht zu leisten.<br />
Denn es geht nicht um eine parlamentarische<br />
Routineangelegenheit.<br />
Jede erneute Verlängerung des Einsatzes<br />
fügt sich in die Perspektive eines unabsehbar<br />
langen Krieges. Wenn SPD-Beck sagt, „ich<br />
hoffe nicht, dass es länger als zehn <strong>Jahre</strong> dauert“,<br />
folgt er der Prognose des US-Oberbefehlshabers<br />
in Afghanistan. Da ist es auch nur<br />
logisch, wenn sich Kanzlerin Merkel und der<br />
SPD-Vorsitzende darin einig sind, dem Ver-<br />
KOMMENTAR 1<br />
langen von Bush und der NATO nachzugeben,<br />
noch mehr deutsche Soldaten und Polizisten zu<br />
entsenden und sich mehr und mehr an den<br />
mörderischen Kriegsaktionen der USA im<br />
Süden des Landes zu beteiligen.<br />
Solche Politiker sind unfähig oder nicht<br />
willens, sich Rechenschaft darüber abzulegen,<br />
was imperialistische „Ordnungspolitik“ bereits<br />
an Tod, Elend und Chaos angerichtet hat.<br />
Sie halten die Fälle Afghanistan wie Irak für<br />
„unvollendete Kriege“, die noch zu gewinnen<br />
sind, wie der militärpolitische Kommentator<br />
der FAZ, Rühl, befand.<br />
Dass es sich bei dem Vorhaben, die Mandatsverlängerung<br />
durch den Bundestag zu<br />
peitschen, um eine weitreichende Übereinstimmung<br />
mit imperialistischer Kriegspolitik<br />
handelt, beweist auch der zeitliche Zusammenhang<br />
mit den jüngsten Rüstungsprojekten<br />
der Bush-Regierung.<br />
Da ist das Programm zur Entwicklung<br />
neuer Atomsprengköpfe, die nach der US-<br />
Aussenministerin Rice für die Fortsetzung der<br />
nuklearen Abschreckungstrategie in einer<br />
„sehr unsicheren künftigen Sicherheitsumgebung“<br />
unabdingbar seien.<br />
Die schafft jetzt das Programm, in die unsicherste<br />
Region der Welt, den Nahen Osten,<br />
Waffen für 63 Milliarden Dollar zu schicken.<br />
Den Löwenanteil von 30 Milliarden erhält<br />
Israel, der andere Teil geht nach Ägypten,<br />
Saudi-Arabien, Bahrain, Kuwait, Oman, Katar<br />
und die Vereinigten Arabischen Emirate.<br />
Dieser Plan hat viele treffende Kommentare<br />
gefunden, wie z. B.: „Dass ein Rüstungswettlauf<br />
in Nahost eine kluge Strategie ist, um<br />
iranischen Einfluss einzudämmen, kann nur<br />
glauben, wer an andere Mittel nicht mehr<br />
glaubt. Es ist die Logik derer, die Feuer mit Öl<br />
löschen wollen.“ (Frankfurter Rundschau,<br />
30.7.2007) In der Großen Koalition ist man<br />
über beredtes Schweigen oder ein paar Stirnrunzeln<br />
nicht hinausgekommen. Kein Gedanke<br />
daran, dass dieses Abenteurertum des<br />
„atlantischen Verbündeten“ ein hinreichender<br />
Grund sein müsste, mit dem eigenen kriegerischen<br />
Engagement Schluss zu machen. Das<br />
wird die Öffentlichkeit durchsetzen müssen.
2 INHALT<br />
IMPRESSUM<br />
MARXISTISCHE BLÄTTER<br />
Heft 5-07, 45. Jg.<br />
Redaktionsschluss: 15.08.2007<br />
Herausgeberkreis: Gretchen Binus,<br />
Hans-Peter Brenner, Horst Gobrecht,<br />
Arno Grieger, Thomas Hagenhofer,<br />
Hans Heinz Holz, Hans-Joachim<br />
Knoben, Detlef Beyer-Peters, Fred<br />
Schmid, Werner Seppmann, Heinz<br />
Stehr, Peter Strutynski, Wolfgang<br />
Teuber, sowie die gesamte Redaktion<br />
Redaktion: Gerd Deumlich (v.i.S.d.P.),<br />
Tim Engels, Lothar Geisler, Willi Gerns,<br />
Nina Hager, Manfred Idler, Rolf<br />
Jüngermann, Hermann Kopp, Beate<br />
Landefeld, Herbert Lederer, Dieter<br />
Lohaus, Ursula Möllenberg, Robert<br />
Steigerwald, Klaus Wagener<br />
Anschrift: Marxistische Blätter,<br />
Hoffnungstr. 18, D-45127 Essen<br />
Telefon: (0201) 23 67 57<br />
Telefax: (0201) 24 86 484,<br />
E-Mail: MarxBlaetter@compuserve.de<br />
Marxistische Blätter im Internet:<br />
www.marxistische-blaetter.de<br />
Webmaster: nupp@gmx.de<br />
Grafik: KH Pawlitzki<br />
Marxistische Blätter ist Mitglied bei<br />
Linksnet – www.linksnet.de<br />
Verlag: Neue Impulse Verlag GmbH<br />
Telefon: (0201) 24 86 482<br />
Telefax: (0201) 24 86 484<br />
E-Mail: NeueImpulse@aol.com<br />
Anschrift wie Redaktion<br />
Druck: Rollenoffsetdruck Kiel GmbH<br />
Marxistische Blätter erscheinen 6mal<br />
jährlich. Bezug über den Buchhandel<br />
oder direkt ab Verlag. Einzelheft 7,50<br />
EUR; <strong>Jahre</strong>sabonnement 42,50 EUR.<br />
Verbilligtes <strong>Jahre</strong>sabo (für Schüler-<br />
Innen, Studierende, Arbeitslose und<br />
andere Geringverdienende, auch im<br />
europäischen Ausland): 27,50 EUR.<br />
Ausland und Streifbandbezug:<br />
plus 7,50 EUR Versandkostenzuschlag.<br />
Mindestbezugszeitraum 12 Ausgaben<br />
(2 <strong>Jahre</strong>). Das Abonnement verlängert<br />
sich um jeweils ein Jahr, wenn es nichtspätestens<br />
sechs Wochen vor Ende des<br />
Bezugszeitraumes schriftlich gekündigt<br />
wird.<br />
Bankverbindung: Postbank Essen<br />
33 709-432. BLZ 360 100 43.<br />
Änderungen der Anschrift sind dem<br />
Verlag unverzüglich bekannt zu geben.<br />
Namentlich gezeichnete Beiträge geben<br />
nicht unbedingt die Meinung der<br />
Redaktion wieder.<br />
Heft 6-2007 erscheint Anfang<br />
Mitte November 2007<br />
DER KOMMENTAR<br />
Mandat für den langen Krieg<br />
Von Gerd Deumlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 1<br />
AKTUELL<br />
Das Streikrecht in Gefahr/Telekomstreik 2007<br />
Von Volker Metzroth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 4<br />
Initiative Alte Soziale Marktwirtschaft<br />
Von Georg Fülberth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 7<br />
Verfassungs-und Völkerrecht beiseite geschoben<br />
Von Gregor Schirmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 10<br />
Wohin geht die Europäische Union?<br />
Von Andreas Wehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 14<br />
Palästina: Zwei Regierungen und kein Staat<br />
Von Margret Johannsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 18<br />
DAS THEMA<br />
<strong>Revolutionstheorie</strong> <strong>heute</strong>/<strong>90</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Oktoberrevolution</strong> . . .S. 24<br />
Clara Zetkin über die <strong>Oktoberrevolution</strong><br />
und die sozialistische Perspektive<br />
Von Heinz Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 25<br />
Die <strong>Oktoberrevolution</strong> und der<br />
Kommune-Entwurf von Karl Marx<br />
Von Uwe-Jens Heuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 33<br />
Revolutionen – noch Lokomotiven der Geschichte?<br />
Von Nina Hager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 43<br />
Wo geht’s denn hier zu Veränderungen?<br />
Von Leo Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 51<br />
Der Marxismus über revolutionäre<br />
Situationen und die Gegenwart<br />
Von Hans-Peter Brenner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 58<br />
Revolutionäre Theorie für revolutionäre Praxis<br />
Von Hans Heinz Holz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 66
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
POSITIONEN<br />
„Koba, wozu brauchst Du meinen Tod?“<br />
Zu den Moskauer Prozessen 1936/38<br />
Von Robert Steigerwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 76<br />
Schostakowitsch und die<br />
Delegitimierung sozialistischer Kunst<br />
Von Thomas Metscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 83<br />
Zur Berliner Marxismus-Konferenz<br />
Von Robert Steigerwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 92<br />
DISKUSSION<br />
Gegen Gewalt sein heißt Gegengewalt sein<br />
Von Mischa Aschmoneit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 94<br />
BÜCHER<br />
Georg Fülberth, Finis Germaniae<br />
– Deutsche Geschichte seit 1945<br />
(Jörg Miehe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 98<br />
Eckart Spoo (Hg.) Tabus der bundesdeutschen Geschichte<br />
(Hermann Kopp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 101<br />
Bernhard Schmid, Das Frankreich<br />
der Reaktion – Neofaschismus und<br />
modernisierter Konservatismus<br />
(Georg Polikeit). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 102<br />
Autorenkollektiv (Weidong Cao u.v.a.)<br />
Großer Widerspruch China<br />
(Lars Mörking) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 104<br />
Heinz Langer „Kuba – La revolucion<br />
dinámica/Die lebendige Revolution“<br />
(Heinz W. Hammer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 108<br />
Jürgen Roth/Rainer Nübel/Rainer Fromm: Anklage<br />
unerwünscht! Korruption und Willkür in der deutschen Justiz<br />
(Diemar Jochum). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 111<br />
Es schreiben diesmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 113<br />
Verantwortlich für das Schwerpunkt-Thema: Willi Gerns<br />
Dieser Ausgabe der Marxistischen Blätter liegt<br />
ein Überweisungsträger für Spenden auf das Konto des Neue Impulse Verlages<br />
(Kto.Nr.: 33709-432 bei der Postbank Essen, BLZ 360100 43) bei. Wir bitten unsere<br />
Leserinnen und Leser davon zur Unterstützung unserer Zeitschrift regen Gebrauch<br />
zu machen.<br />
Zu den Abbildungen<br />
3<br />
Unser Titelfoto von<br />
Arkadij Schajchet „Komsomolze<br />
am Steuer“exponiert,<br />
dass Revolutionen in<br />
das Rad der Geschichte<br />
eingreifen.<br />
„Friede den Hütten, Krieg<br />
den Palästen“(1918/19) –<br />
mit diesem klassischen<br />
Sujet hatte sich Marc<br />
Chagall damals an die<br />
Seite der <strong>Oktoberrevolution</strong><br />
gestellt.<br />
Nach 1917 entstand eine<br />
reiche Kunst, die die Revolution<br />
propagierte, berühmt<br />
die „Rosta-Fenster“. Durch<br />
das Blatt von Wladimir<br />
Koslinski (1921) fehlte<br />
nicht der Stolz, dass im<br />
Roten Oktober die Pariser<br />
Commune von 1871 ihre<br />
Wiederauferstehung fand.<br />
Alexander Bloks<br />
Revolutionspoem „Die<br />
Zwölf“ (1918) , in dem er<br />
die Rotgardistenpatrouille<br />
in einer Symbiose mit den<br />
zwölf Jüngern Jesu sah,<br />
inspirierte Fritz Cremer zu<br />
einer Bildgeschichte, in der<br />
Kreuzigung, Kreuzabnahme<br />
und proletarische<br />
Revolution als endliche<br />
Menschwerdung versinnbildlicht<br />
sind.<br />
Das Blatt „Revolutionstruppen“<br />
(1919) von<br />
Wadim Falilejew verweist<br />
uns darauf, dass die große<br />
Umwälzung mit der Herausforderung<br />
zu revolutionärer<br />
Gewalt verbunden<br />
war.
4 Volker Metzroth: Telekomstreik<br />
Streikrecht in Gefahr<br />
In Deutschland sind nicht Wenige, vornehmlich<br />
die Herren des großen Geldes, mächtig<br />
stolz darauf, dass „das deutsche Modell der<br />
Tarifpartnerschaft ... den Unternehmen im<br />
weltweiten Vergleich eine einmalig geringe<br />
Zahl von Streik-Ausfalltagen beschert“<br />
(Spiegel 22 / 2007). Die beruhigende Rechnung<br />
ist jedoch in den letzten Monaten<br />
durch eine beträchtliche Zahl von Streiks<br />
ziemlich durcheinander geraten: im Gesundheitswesen,<br />
im Einzelhandel, in der<br />
Baubranche, bei der Telekom ... dazu Warnstreiks<br />
in der Metallindustrie, bei Banken, in<br />
der öffentlichen Verwaltung.<br />
Da kommt es der Kapitalseite gerade<br />
recht, dass die Deutsche Bahn der Streikbereitschaft<br />
der Lok-Führer mit Anträgen<br />
auf Streikverbot entgegentrat und sich<br />
geneigte Richter fanden. Der Angriff auf<br />
ein Grundrecht – das bezeichnenderweise<br />
nicht im Grundgesetz steht – ist genauso<br />
skandalös wie die Begründungen. Die sonst<br />
nicht genug „Flexibilität“ bekommen können,<br />
sorgen sich auf einmal um die<br />
„Tarifeinheit“. Weil sie sich für ein Streikverbot<br />
gebrauchen lässt – das Interesse an<br />
einheitlicher gewerkschaftlicher Kampfkraft<br />
ist nicht ihres, dieses Problem muss in<br />
unseren Gewerkschaften selbst ausgetragen<br />
werden.<br />
Worum es der Kapitalseite geht, offenbart<br />
sich in der Genugtuung über die<br />
Richtersprüche, Streik sei rechtswidrig und<br />
zu verbieten, weil der Schaden, der der<br />
„Wirtschaft“ entstünde schwerer wiegt, als<br />
ein Streikrecht. Das muss Schule machen,<br />
auf dass es zur Norm wird, dass die Profitinteressen<br />
des Kapitals über allem stehen.<br />
Gegen diese Anmaßung wird künftig das<br />
Streikrecht zu verteidigen sein.<br />
Der folgende Bericht über den Telekomstreik<br />
gibt ein realistisches Bild davon, wie<br />
es um die Entfaltung gewerkschaftlicher<br />
Kampfkraft bestellt ist.<br />
Telekomstreik 2007<br />
Volker Metzroth<br />
Als „Niederlage mit Schadensbegrenzung“<br />
schätzte der Autor den Abschluß nach dem<br />
Telekomstreik vor 400 ver.di-Vertrauensleuten<br />
ein. In der Urabstimmung stimmten 72<br />
Prozent trotz Arbeitszeitverlängerung ohne<br />
Lohnausgleich zu, weil eine Sicherung der<br />
Nominallöhne sowie individueller und kollektiver<br />
Schutzrechte durchgesetzt wurde. Der<br />
Arbeitskampf bei der Telekom wurde von den<br />
Gewerkschaften als branchenübergreifender,<br />
gar gesamtgesellschaftlicher erkannt,<br />
nicht aber als solcher konsequent geführt.<br />
Die Telekom entstand gegen den Widerstand<br />
der Postgewerkschaft nach der Postprivatisierung<br />
durch CDU/CSU und FDP, unterstützt<br />
von Teilen der SPD, die Kohl zur notwendigen<br />
2/3-Mehrheit verhalfen. 5 <strong>Jahre</strong><br />
nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in<br />
Europa wurde der Börsengang zu einem gewaltigen<br />
Propagandamanöver für die neoliberale<br />
Kapitalismusvariante. Nicht mehr Tarifabschlüsse<br />
und gesetzliche Sozialversicherungen<br />
sollten Garant einer gesicherten Zukunft<br />
sein, sondern „Volksaktien“. Nach dem Absturz<br />
der anfangs steil hoch schießenden Börsenkurse<br />
legte sich der Jubel über „mehr<br />
Aktionäre als Gewerkschaftsmitglieder“,<br />
auch den meisten Telekom-Beschäftigten<br />
wurde wieder klar, daß eine erfolgreiche Tarifpolitik<br />
wichtiger ist als der Kurs der T-Aktie.<br />
Nach der Privatisierung wurden über<br />
120 000 inländische Arbeitsplätze vernichtet.<br />
Gleichzeitig ging der Konzern national und<br />
weltweit auf Einkaufskurs (z. B. die frühere<br />
EDV-Sparte von Daimler, DEBIS). 17 Umorganisationen<br />
führten zu einem kaum überschaubaren<br />
Geflecht von Firmen, „Töchtern“<br />
und Beteiligungen, aber auch zu einem tarifpolitischen<br />
Flickenteppich. Während im ökonomischen<br />
Rückgrat, der Festnetzsparte,<br />
75 Prozent der Beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder<br />
sind, waren es bei T-Online z. B.<br />
nicht einmal 10 Prozent. Ohne einheitlichen<br />
Konzerntarifvertrag entstanden an den „Rän-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
dern“ schlechter tarifierte Bereiche, was sich<br />
verhängnisvoll auswirkte.<br />
Die Postgewerkschaft und später der<br />
ver.di-Fachbereich 9 waren lange Zeit erfolgreich<br />
bei der Regulierung der Arbeitsbedingungen<br />
in den Kernbereichen. Der Arbeitsplatzabbau<br />
geschah aus Sicht der Betroffenen<br />
„sozialverträglich“, ohne Entlassungen.<br />
Aber der Arbeitsdruck stieg, besonders<br />
nachdem die großen Rationalisierungspotentiale<br />
der Digitalisierung ausgeschöpft<br />
waren. Zur erhofften Wertsteigerung der um<br />
ihren Ausgabekurs dümpelnden T-Aktie<br />
wurde weiter Personal abgebaut, auch um den<br />
Preis der Verschlechterung des Services und<br />
der Kundenzufriedenheit. Allein 2006 wurden<br />
fast 3 Mrd. Euro für Frühpensionierungen und<br />
Abfindungen ausgegeben, um weitere Jobs<br />
abzubauen. Der Bilanzgewinn sank deshalb<br />
auf 3,2 Mrd. Dennoch wurden 3,1 Mrd.<br />
Dividende ausgeschüttet, mit 5 Prozent vom<br />
Umsatz die mit Abstand höchste aller DAX-<br />
Unternehmen. Der Konzern steht ökonomisch<br />
unter dem Druck einer gegen ihn<br />
gerichteten Regulierungspolitik, die Beschäftigten<br />
unter dem von Niedriglöhnen und<br />
Sozialdumping in weiten Teilen der Branche.<br />
Zeitgleich zur Ablösung Rickes durch<br />
Obermann im Herbst 2006 wurden die Pläne<br />
zur Ausgliederung von 50 000 Beschäftigten<br />
bekannt, deren Gehälter man als um 30 bis<br />
50 Prozent über „Marktpreisen“ bezeichnete.<br />
Management und Kapitaleigner verabschiedeten<br />
sich von der sozialpartnerschaftlichen<br />
Variante der Profitmaximierung. Das belegten<br />
die Verkäufe von Call-Centern, was den<br />
Beschäftigten einen tarifpolitischen Absturz<br />
brachte. Ergebnis fehlender Verankerung in<br />
der Callcenterbranche waren Tarifverträge des<br />
Fachbereichs 13, die nach einer Übergangszeit<br />
Stundenlöhne von 6,20 Euro vorsehen.<br />
Als Hauptaktionär mit 31,5 Prozent trägt<br />
die Bundesregierung hier die Hauptverantwortung.<br />
Unter Vizekanzler Müntefering,<br />
im Wahlkampf „Heuschrecken-Kritiker“,<br />
wurden 4,5 Prozent der Aktien vom Bund an<br />
Blackstone verkauft wohl mit der Absicht,<br />
von den Erfahrungen der „Heuschrecke“<br />
AKTUELL 5<br />
beim Hochtreiben von Profiten und Aktienkursen<br />
zu Lasten von Belegschaften zu profitieren.<br />
Die Ausgliederung beschloß der Aufsichtsrat<br />
am 28.02.07 mit den Stimmen der<br />
Vertreter des Bundes, Staatssekretär Dr.<br />
Mirow und Ingrid Matthäus-Meier von der<br />
bundeseigenen KfW-Bank, beide SPD. Die<br />
Interessen von 50 000 Beschäftigten, 13 000<br />
demonstrierten vor dem Haus, waren diesen<br />
„Spezialdemokraten“ hier so egal wie<br />
Wochen später, als gegen die Stimmen der<br />
Arbeitnehmerverteter Dr. Thomas Sattelberger<br />
zum Arbeitsdirektor bestellt wurde.<br />
Zur Tarifrunde 2006 initiierte der Fachbereich<br />
9 ein „Tarifprojekt“, das auf stärkere<br />
Mitgliederbeteiligung orientierte. Die Tarifrunde,<br />
in der das Telekom-Management Gegenforderungen<br />
in Gesamthöhe von ca. 800<br />
Mio. Euro erhob, endete mit einem 3 Prozent-<br />
Abschluß nach Warnstreik und Schlichtung<br />
relativ erfolgreich. Vielfach wird jetzt kritisiert,<br />
dass kein vergleichbarer Prozeß zur Entwicklung<br />
eigener Forderungen und deren Durchsetzung<br />
vor der Ausgliederung stattfand.<br />
Ver.di forderte einen Ausgliederungsschutz.<br />
Der sollte beinhalten, daß der „alte“<br />
Arbeitgeber T-Com seinen Ex-Beschäftigten<br />
nach der Ausgliederung alle materiellen<br />
Nachteile durch entsprechende Zahlungen<br />
ausgleicht. „Dann könnten wir uns die Ausgliederung<br />
ja gleich sparen“, soll der Verhandlungsführer<br />
der Telekom darauf entgegnet<br />
haben. Der Konzern legte ein Forderungspaket<br />
mit einer Arbeitszeitverlängerung<br />
um 4 Std. ohne Lohnausgleich und 12 Prozent<br />
abgesenkten „<strong>Jahre</strong>szielgehältern“ bei noch<br />
stärker minimierten festen Einkommensbestandteilen,<br />
Absenkung von Einstiegslöhnen,<br />
Ausfall mehrerer Tarifrunden u. v. a. m. vor.<br />
Nach gewerkschaftlichen Berechnungen ein<br />
Minus von über 40 Prozent. Am 12. April begannen<br />
die Warnstreiks. Nach 5 Verhandlungsrunden<br />
erklärte ver.di die Verhandlungen<br />
für gescheitert und rief für den 7. bis 9.<br />
Mai zur Urabstimmung auf. Über 96 Prozent<br />
der Abstimmenden stimmten für den Streik.<br />
Die Beamten in den bedrohten Bereichen –<br />
ca. 50 Prozent des Personals – waren zur Soli-
6<br />
Volker Metzroth: Telekomstreik<br />
daritätsabstimmung aufgerufen. Auch deren<br />
Ergebnis lag bei 96 Prozent.<br />
Das Telekom-Management zog alle Register<br />
gegen den Streik: er sei rechtswidrig,<br />
schrieb man den Beschäftigten, laut ver.di<br />
wurden rechtswidrige Notdienste angeordnet<br />
und Beamte teilweise als Streikbrecher mißbraucht<br />
sowie „Judasprämien“ (so von Streikenden<br />
genannt) an Streikbrecher bezahlt, um<br />
nur einiges zu nennen. Die Streikenden wurden<br />
dadurch mehr motiviert als abgeschreckt.<br />
Sie entfalteten viele Aktivitäten, von Flugblattverteilungen,Unterschriftensammlungen,<br />
Informationsständen über örtliche bis hin<br />
zu regionalen Demonstrationen. Zahlreiche<br />
neue ver.di-Mitglieder wurden gewonnen.<br />
Wie in den Gewerkschaften, welche die<br />
Gefahr eines tarifpolitischen Dammbruches<br />
sahen, genossen die Streikenden in der Bevölkerung<br />
große Sympathie für ihren Kampf.<br />
Die Opfer und Bedrohten des betrieblichen<br />
und staatlichen Sozialabbaus sahen zustimmend,<br />
daß sich da eine Belegschaft wehrte.<br />
Während sich Politiker von CDU/CSU/FDP/<br />
SPD/GRÜNE vor bestreikten Betrieben und<br />
bei Streikversammlungen kaum sehen ließen,<br />
wurde Solidarität von Kirchenvertretern,<br />
Gewerkschaftern und linken Politikern freudig<br />
aufgenommen. Die Protokolle der von der<br />
LINKEN angestoßenen Bundestagsdebatten<br />
desillusionierten bezüglich der Rolle der SPD.<br />
Das spürte die „SPD-Linke“ Andrea Nahles<br />
in Mainz, wo sie bei einer Kundgebung von<br />
über 3 000 Streikenden ununterbrochen ausgepfiffen<br />
wurde.<br />
Nach der 5. Streikwoche lag ein nur wenig<br />
verbessertes „Angebot“ der Telekom vor. Was<br />
letztendlich die Gründe waren, nun wieder in<br />
Verhandlungen mit einem Zeitplan zur Einigung<br />
einzutreten, ist vielen bis <strong>heute</strong> unklar.<br />
Die Telekom drohte, die Ausgliederung nach<br />
§ 613a BGB ohne einen Tarifabschluß durchzuziehen<br />
und in den drei im Mai mit wenigen<br />
Beschäftigten gegründeten GmbHs Tarife aus<br />
den o. g. „Randbereichen“ der Telekom anzuwenden.<br />
Entgegen früherer Ankündigungen,<br />
auch über den 30.06.2007 hinaus streiken zu<br />
können, hieß es nun, die Ausgliederung von<br />
50 000 Beschäftigten führe nicht nur zu einer<br />
massiven Verschlechterung für die Betroffenen,<br />
sondern erfordere auch einen längeren<br />
Prozeß der Wiedererlangung einer rechtlichen<br />
Streikfähigkeit. Genau dieses Szenario hatte<br />
das Telekom-Management aber schon vor<br />
Monaten angedroht, es war also nichts Neues.<br />
Der Abschluß sichert dem vorhandenen<br />
Personal über teilweise komplizierte Mechanismen<br />
auf einige <strong>Jahre</strong> die Nominallöhne.<br />
4 Std. Mehrarbeit bedeutet den Verlust der<br />
knapp 7 Prozent, die 2004 für 34-Std.-Woche<br />
geopfert wurden. Mit dem Ausfall der Lohntarifrunde<br />
2007 zusammen wurden die Stundenlöhne<br />
um ca. 10 Prozent gesenkt. Heilig<br />
Abend und Silvester werden wieder Arbeitstage.<br />
Barabgeltungen statt Zeitgutschriften<br />
bei ungeplanten Schichten und Rufbereitschaften<br />
verlängern zusätzlich die Arbeitszeit.<br />
Wenn dennoch 72 Prozent der Streikenden<br />
dem Abschluß zustimmten, war das neben<br />
dem o. g. Szenario (Tarifverträge aus den<br />
„Randbereichen“, keine rechtliche Streikfähigkeit,<br />
kein erkennbares Konzept für den<br />
weiteren Arbeitskampf) bei einer Ausgliederung<br />
ohne Tarifabschluß der Sicherung kollektiver<br />
und individueller Schutzrechte geschuldet,<br />
darunter der Rationalisierungsschutz<br />
und individuelle Unkündbarkeitsregelungen<br />
sowie ein Kündigungsschutz bis 2012.<br />
Zudem sollen über 4 000 Jugendliche zu abgesenkten<br />
Einstiegslöhnen direkt in den GmbHs<br />
eingestellt werden, statt wie bisher bei einer<br />
konzerneigenen Leiharbeitsfirma zu noch<br />
schlechteren Bedingungen.<br />
Am Tag des Abschlusses stieg der Börsenkurs<br />
der T-Aktie, um tags darauf wieder zu<br />
fallen, nachdem die Analysten erkannt hatten,<br />
daß dies – so ein Kommentar – doch nicht<br />
„Obermanns großer Wurf“ war. Der 6-wöchige<br />
Streik endete nicht mit einem totalen<br />
Durchmarsch des Kapitals und einem Dammbruch<br />
auf breiter Front.<br />
Ob ein gewerkschaftlich organisierter Widerspruch<br />
gegen die Ausgliederung nach<br />
§ 613a BGB erfolgreich hätte sein können,<br />
bleibt umstritten. Für ca. 25 000 Beamte galten<br />
andere Regelungen. Hätten von ca. 20 000
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Streikenden 80 Prozent widersprochen, wäre<br />
das nicht ein Drittel der Belegschaft gewesen.<br />
Hätte das gereicht?<br />
Die Gründe für das unbefriedigende Ergebnis<br />
sind eng verknüpft mit der Tradition<br />
und Gegenwart der deutschen Gewerkschaften.<br />
Anders als in anderen westeuropäischen<br />
Ländern erkämpften sie sich nie das Streikrecht,<br />
sondern ließen sich in das bundesrepublikanische<br />
Arbeitskampfrecht „einsperren“.<br />
Dieses anerkennt den Streik nur in engem<br />
Rahmen zur Durchsetzung „tariffähiger“ Forderungen.<br />
Deshalb richtete sich der Telekom-<br />
Streik nicht gegen die Entscheidung der Eigentümer,<br />
50 000 Beschäftigte in drei GmbHs<br />
auszugliedern. Dem Gebrauch des § 613a<br />
BGB zum tariflichen Rollback wurde nicht<br />
das gleiche Mittel entgegengesetzt wie beim<br />
Erkämpfen vieler gefährdeter Errungenschaften.<br />
Die Hälfte der Beschäftigten in den<br />
bestreikten Bereichen wurde nicht mit einbezogen.<br />
Das war zum einen wegen „Nichtbetroffenheit“<br />
das „Netzmanagement“, weshalb<br />
der Streik keine volle Wirkung entfalten<br />
konnte. Zum anderen waren das die Beamtinnen<br />
und Beamten, die längst keine hoheitsrechtlichen<br />
Aufgaben mehr haben, sondern<br />
die gleiche Arbeit wie das Tarifpersonal<br />
machen. Die historische Chance, die Frage des<br />
Beamtenstreiks endlich zu klären, wurde vertan.<br />
Andere Sparten der Telekom wurden<br />
nicht mit einbezogen, obwohl Angriffe auf die<br />
Konditionen der Beschäftigten auch dort an<br />
der Tagesordnung sind.<br />
Ein Solidaritätsstreik in Slowenien wurde<br />
freudig begrüßt, in der BRD gab es keinen<br />
einzigen. Örtlich und regional gab es Proteste<br />
gegen die Rolle der „Politik“, die geplante<br />
Großdemo am 25. Juni in Berlin wurde aber<br />
wieder abgeblasen.<br />
Nachdem der frühere „Verbündete“ SPD,<br />
von dem man sich in zugespitzten Situationen<br />
gesetzliche Lösungen erhoffte, seit Schröders<br />
„Agenda 2010“ endgültig abhanden kam, stehen<br />
der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften<br />
Angriffen auf den Kern ihrer Errungenschaften<br />
ziemlich konzeptionslos gegenüber.<br />
Wer nun glaubt, aus der ultralinken<br />
AKTUELL 7<br />
Ecke vom „Verrat der Führung“ reden zu<br />
müssen, hilft niemandem weiter. Es fehlt auf<br />
allen Ebenen an der grundlegenden Erkenntnis,<br />
daß Kämpfe mit gesamtgesellschaftlichen<br />
Auswirkungen auch als solche geführt werden<br />
müssen. Das setzt eine grundsätzliche Kritik<br />
am Kapitalismus und das Suchen nach Alternativen<br />
ebenso voraus wie das Gewinnen<br />
von Bündnispartnern, mit denen man durch<br />
gleiche Interessen verbunden ist. Jeder Infostand<br />
z. B., an dem Linke für Solidarität mit<br />
den Telekombeschäftigten warben, der Desinformation<br />
durch viele Medien entgegen traten,<br />
beförderte die dazu notwendige Diskussion.<br />
Bei der Telekom schlugen sich 20 000 wenig<br />
streikerfahrene Kolleginnen und Kollegen in<br />
einem insgesamt 9-wöchigen Arbeitskampf<br />
hervorragend. In den Betrieben von ehrenamtlichen<br />
Funktionären geführt, entwickelten<br />
sie vielfältige Initiativen und Aktivitäten und<br />
sammelten wertvolle Erfahrungen. Sie bewiesen,<br />
daß sie bereit und fähig sind, ihre Interessen<br />
kämpferisch zu vertreten. Das kann<br />
das für die Zukunft wichtigste Ergebnis des<br />
Telekomstreiks sein.<br />
Initiative Alte Soziale<br />
Marktwirtschaft<br />
Georg Fülberth<br />
Am 9. Juli erschien in der „Frankfurter Allgemeinen<br />
Zeitung für Deutschland“ ein ganzseitiger<br />
Aufsatz von Oskar Lafontaine: „Freiheit<br />
durch Sozialismus“. Viele werden sich die Augen<br />
gerieben haben: Dieser Autor mit diesem<br />
Thema in diesem Blatt? Wie kommt das?<br />
Verschwörungstheoretiker könnten vermuten,<br />
die FAZ habe ein Interesse daran, „Die<br />
Linke“ aufzubauen, um die SPD zu schwächen.
8<br />
Georg Fülberth: Initiative Alte Soziale Marktwirtschaft<br />
Denkbar ist aber auch, dass die „Frankfurter<br />
Allgemeine“ gerade in ihrer Eigenschaft<br />
als repräsentative konservative Zeitung<br />
einer Berichtspflicht nachkommen wollte.<br />
Offenbar ist man dort der Ansicht, dass die<br />
neue Partei „Die Linke“ auf absehbare Zeit<br />
eine Tatsache ist, mit der zu rechnen und die<br />
deshalb in Augenschein zu nehmen ist. Dazu<br />
gehört auch, dass sie zu Wort kommt. Kommentieren<br />
kann man sie ja immer noch nach<br />
eigenem Gusto.<br />
Hat Oskar Lafontaine in der FAZ sein<br />
Sozialistisches Manifest verkündet? Nein,<br />
oder, genauer: nicht nur dort. Er äußert sich in<br />
unterschiedlichen Medien und trägt das, was<br />
er für richtig hält, so vor, wie es seiner Meinung<br />
nach in der jeweiligen Umgebung verstanden<br />
werden soll – in der BILD-Zeitung<br />
(das ist allerdings ein paar <strong>Jahre</strong> her), in der<br />
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland“<br />
und in der „jungen Welt“. Zwar hängt er<br />
sein Mäntelchen nicht nach dem Wind, aber er<br />
(oder sein Ghostwriter) bedenkt die Aufnahmefähigkeit<br />
des Publikums, das von Organ<br />
zu Organ anders ist. Es kann reizvoll sein, den<br />
FAZ-Text mit einem anderen Dokument zu<br />
vergleichen: der Rede „Was ist die Linke?<br />
Grundlinien linker Politik“, die Lafontaine<br />
auf der XI. internationalen Rosa-Luxemburg-<br />
Konferenz am 14. Januar 2006 in Berlin vorgetragen<br />
hat. Der Inhalt ist derselbe, die Verpackung<br />
anders. In der FAZ wendet sich Lafontaine<br />
an das Publikum einer Zeitung, die<br />
sich selbst als „liberal-konservativ“ versteht.<br />
„Liberal“ steht hier für „wirtschaftsliberal“.<br />
Wie kann er es anfangen, dass dort nicht<br />
gleich abgeschaltet wird?<br />
Er beginnt mit einem Zitat des Papstes<br />
Johannes Paul II. über den Kapitalismus: „Die<br />
menschlichen Defizite dieses Wirtschaftssystems,<br />
das die Herrschaft der Dinge über die<br />
Menschen festigt, heißen Ausgrenzung, Ausbeutung<br />
und Entfremdung.“ Solche Sätze<br />
könnte man auch bei anderen Autoren finden,<br />
hätte sie aber gerade bei diesem Absender<br />
nicht unbedingt erwartet. Wir stoßen hier<br />
gleich am Anfang auf eine Besonderheit der<br />
Zitierweise Lafontaines: er ruft Zeugen auf,<br />
die in der Regel für andere Äußerungen bekannt<br />
sind, und transportiert über deren für<br />
die Linke eher untypischen, seinem Publikum<br />
aber geläufigen Namen seine eigene Botschaft.<br />
Marx und Keynes fehlen.<br />
Zurück zu Wojtyla. Lafontaine ist Katholik.<br />
Die wirtschafts- und sozialpolitische Position<br />
von Johannes Paul II. ist niedergelegt in der<br />
Enzyklika „Centesimus annus“ von 1991, die<br />
ihrerseits in der Nachfolge von „Rerum Novarum“<br />
(Leo XIII., 1891) und „Quadragesimo<br />
anno“ (Pius XI., 1931) steht. Sie alle gehen<br />
zurück auf Thomas von Aquin (1225-1274)<br />
und gehören zur Katholischen Soziallehre, die<br />
in der Bundesrepublik durchaus einflussreich<br />
gewesen ist, unter anderem durch Oswald von<br />
Nell-Breuning (18<strong>90</strong>-1991). Der rechte Gewerkschaftsführer<br />
Georg Leber bekannte sich<br />
zu ihr, und auf dieser Spur kam sie auch in die<br />
Programmatik des DGB – zumindest wurde<br />
dafür gesorgt, dass dort nichts stand, was damit<br />
unverträglich wäre.<br />
Selbst der Begriff „demokratischer Sozialismus“,<br />
den Lafontaine verwendet, stammt<br />
in gewisser Weise aus den Fünfzigerjahren.<br />
Zwar hat ihn in der Weimarer Republik schon<br />
Karl Kautsky verwendet, aber die Karriere<br />
dieser Wörter-Kombination begann erst mit<br />
der Gründung der sozialdemokratischen Sozialistischen<br />
Internationale (1951), die sich<br />
damit von Kommunismus und Konservatismus<br />
abgrenzen wollte. Dies war auch die Zeit,<br />
als die „Freiheit“ gegen den Kollektivismus<br />
gesetzt wurde. Lafontaine stellt sie ebenfalls<br />
zentral, nun allerdings gegen den freiheitsberaubenden<br />
Marktradikalismus.<br />
Das nächste Zitat ist Rousseau entnommen:<br />
„Zwischen dem Schwachen und dem<br />
Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt,<br />
und das Gesetz, das befreit.“ Derlei kann man<br />
auch woanders finden, Rousseau aber ist<br />
Bildungsgut. Zu Lafontaine passt er besonders<br />
wegen dessen häufig – auch in diesem<br />
Aufsatz – vorgetragenen Bekenntnisses zur<br />
plebiszitären Demokratie.<br />
Sehr überraschend ist aber der nächste Zeuge:<br />
Oswald Spengler (1880-1936) war einer der<br />
Vordenker der „Konservativen Revolution“,
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
den die Nazis gern für sich reklamiert hätten,<br />
denen er sich aber verweigerte, sogar noch<br />
nach 1933. Dafür verehrte er umso mehr<br />
Mussolini. Er vertrat einen „Deutschen Sozialismus“:<br />
eine Kombination aus Elitenherrschaft<br />
und Gemeinwirtschaft. Lafontaine zitiert von<br />
ihm: „Die Kolonial- und Überseepolitik wird<br />
zum Kampf um Absatzgebiete und Rohstoffquellen<br />
der Industrie, darunter in steigendem<br />
Maße um die Ölvorkommen.“ Das lesen wir<br />
auch bei dem britischen Linksliberalen John A.<br />
Hobson (1858-1940) und Lenin.<br />
Ein weiterer Zeuge, Jean Jaurès, ist ein<br />
Märtyrer der sozialistischen Friedensbewegung.<br />
Am 31. Juli 1914 wurde er ermordet. In<br />
der II. Internationale gehörte er nicht zu den<br />
Marxisten, sondern setzte sich mit ihnen<br />
(unter anderem in einer berühmten Kontroverse<br />
mit Bebel) auseinander. Der entschiedene<br />
Nicht-Materialist bezog – anders als einige<br />
seiner Genossen vom marxistischen Flügel –<br />
sofort eindeutig Position für den verfolgten<br />
Juden Dreyfus. Im Kampf gegen die Kriegsgefahr<br />
plädierte er für den Generalstreik. Die<br />
fatalistische Auffassung, der Krieg sei unter<br />
kapitalistischen Verhältnissen unabwendbar<br />
und werde erst mit ihnen verschwinden, war<br />
ihm unerträglich. Gerade sein Idealismus<br />
machte ihn zum Aktivisten. Lafontaine entnimmt<br />
seinem Erbe ein Zitat, das charakteristisch<br />
ist für den sprachgewaltigen und im<br />
eher guten Sinn pathetischen Jaurès: „Der<br />
Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die<br />
Wolke den Regen.“<br />
Dass anschließend Dwight D. Eisenhower<br />
als Zeuge gegen den Militärisch-Industriellen<br />
Komplex bemüht wird (und nicht etwa Baran/Sweezy),<br />
entspricht ebenfalls seiner bündnistaktischen<br />
Zitiertechnik. Anschließend<br />
weist er darauf hin, dass der Demokratische<br />
Präsidentschaftskandidat von 2004, John F.<br />
Kerry, zwar Ölkriege und Umweltzerstörung<br />
kritisiert, aber, anders als Eisenhower, den<br />
Zusammenhang mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung<br />
unterschlägt.<br />
Indem Lafontaine dann seine wirtschaftspolitischen<br />
Vorschläge unterbreitet, macht er<br />
das, was er unter Sozialismus versteht, der<br />
AKTUELL 9<br />
Überprüfung zugänglich. Es handelt sich zunächst<br />
um die gesellschaftliche Kontrolle über<br />
Energiewirtschaft und den Militärisch-Industriellen<br />
Komplex. Vor allem die bislang<br />
„privatwirtschaftlich organisierte Waffenindustrie“<br />
sei „einer demokratischen und gesellschaftlichen<br />
Kontrolle zu unterwerfen“. In<br />
welcher Eigentumsform dies geschehen soll,<br />
wird nicht gesagt. Präziser wird Lafontaine bei<br />
der Energiewirtschaft. Sie sei „zu rekommunalisieren“.<br />
Hier ist einiges zu fragen. Zu<br />
Beginn des 20. Jahrhunderts, teilweise auch<br />
noch in den folgenden Jahrzehnten, gab es<br />
städtische Elektrizitäts- und Gaswerke. Dort<br />
wurde Energie erzeugt, nicht nur verkauft.<br />
Heute sind die Stadtwerke lediglich noch für<br />
die Verteilung zuständig. Es ist schwer vorstellbar,<br />
wie die Funktionen der mächtigen<br />
überregionalen Versorger wieder auf die lokale<br />
Ebene zurückgebracht werden können. Lafontaine<br />
fordert genau dies: „Eine umweltfreundliche<br />
Nutzung der Energievorräte der<br />
Erde muß dezentral sein.“ Denkbar ist das<br />
zunächst wohl für die „alternative(n) Energien“,<br />
deren Ausbau er fordert. Er ist der<br />
„Auffassung, dass Wirtschaftsbereiche, die auf<br />
Netze angewiesen sind und die Grundversorgung<br />
der Bevölkerung sicherstellen, in gesellschaftlicher<br />
Verantwortung bleiben müssen.<br />
Das gilt beispielsweise für die Bahn, für<br />
die Strom-, Gas- und Wasserversorgung und<br />
den Telekommunikationsbereich.“ Gemeint<br />
ist hier offenbar tatsächlich gesellschaftliches<br />
Eigentum, allerdings wohl nicht nur kommunales,<br />
sondern auch zentrales.<br />
Indem er sich für eine Entmonopolisierung<br />
einsetzt, beruft sich Lafontaine auf Walter<br />
Eucken und Franz Böhm: das waren Vertreter<br />
der ordoliberalen Schule. Sie wandten sich<br />
gegen Planwirtschaft (die sie im Nationalsozialismus<br />
und im Realen Sozialismus gleichermaßen<br />
am Werk sahen) und forderten die<br />
Garantie des freien Wettbewerbs durch einen<br />
insofern starken Staat. Politischer Vormann<br />
dieser Richtung war – der ebenfalls von Lafontaine<br />
positiv genannte – Ludwig Erhard.<br />
Ein Freund der Gewerkschaften war er nicht<br />
gerade. Die Mitbestimmung lehnte er ab. La-
10<br />
Georg Fülberth: Initiative Alte Soziale Marktwirtschaft<br />
fontaine fordert sie.<br />
Wenn er Zitat-Gefangene macht, hantiert<br />
der Aufsatz „Freiheit durch Sozialismus“<br />
manchmal riskant. Aus einer Rede des Perikles<br />
ist folgender Satz ausgewählt: „Der<br />
Name, mit dem wir unsere politische Ordnung<br />
bezeichnen, heißt Demokratie, weil die Angelegenheiten<br />
nicht im Interesse weniger, sondern<br />
der Mehrheit gehandhabt werden.“<br />
Oskar Lafontaine hat Perikles wahrscheinlich<br />
über den italienischen Altphilologen und<br />
Kommunisten Luciano Canfora rezipiert (zur<br />
neuesten Auflage von dessen Buch „Eine<br />
kurze Geschichte der Demokratie“ schrieb er<br />
ein Nachwort). Dies stellt Perikles aber auch<br />
als einen Manipulateur dar: seine Staatskunst<br />
habe darin bestanden, die Hegemonie der<br />
Oberschichten mit der formal gleichberechtigten<br />
Beteiligung der Massen zu verbinden.<br />
„Die Linke fordert den Generalstreik“.<br />
Hier ist zu fragen: Wer fordert etwas von<br />
wem? Die Linke von den Lohnabhängigen?<br />
Ob sie dieses Mittel für geeignet halten, müssen<br />
sie selbst entscheiden. Der Satz macht<br />
aber Sinn, wenn er auf eine Revision einer seit<br />
über fünf Jahrzehnten herrschenden juristischen<br />
Lehre zielt: fast alle Arbeitsgerichte<br />
haben den Druckerstreik von 1952 gegen das<br />
Betriebsverfassungsgesetz für rechtswidrig erklärt,<br />
da er ein „politischer Streik“ gewesen<br />
sei. Seitdem gilt diese gewerkschaftliche<br />
Waffe, für deren Rechtmäßigkeit Wolfgang<br />
Abendroth in einem berühmten Gutachten<br />
eingetreten ist, als gesetzwidrig. Abendroth<br />
hat damals nachgewiesen, dass dieses Verbot<br />
einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz,<br />
das Demokratie- und Sozialstaatsgebot<br />
der Verfassung darstelle. Es ist verdienstvoll,<br />
wenn Lafontaine diese Debatte neu eröffnet.<br />
„Beim heutigen Stand der Dinge ist eben<br />
doch der Sozialismus die einzige Lehre, die an<br />
den Grundlagen unserer falschen Gesellschaft<br />
und Lebensweise ernstlich Kritik übt.“ Mit<br />
diesem Satz Hermann Hesses wirbt Oskar<br />
Lafontaine für den Sozialismus. Dieser ist,<br />
nimmt man die Gesamtheit seiner Forderungen,<br />
ein Kapitalismus, in dem der Staat<br />
durch Beseitigung der Monopole den Wett-<br />
bewerb garantiert, Energieversorgung und<br />
Kommunikation unter demokratische Kontrolle<br />
gestellt, der Militärisch-Industrielle<br />
Komplex in öffentliche Regie genommen wird<br />
und die Schwachen gegen die wirtschaftlich<br />
Starken geschützt bzw. befähigt werden, sich<br />
selbst zu schützen. Diesem Ideal kamen die<br />
Zustände zwischen 1945 und ca. 1973 näher<br />
als die heutigen. Insofern ist Lafontaines Zukunftsbild<br />
konservativ. Dies muss nicht<br />
schlecht sein. Vielleicht sind die „Goldenen<br />
<strong>Jahre</strong>“ des damaligen Kapitalismus seine<br />
besten – auch für die Menschen, die in ihm<br />
insässig waren – gewesen. Wer sie nicht selber<br />
erlebt hat, weiß nicht, wie schön Kapitalismus<br />
sein kann. Ist der damals erreichte Standard<br />
wieder herbeizuführen? Davon geht Oskar<br />
Lafontaine aus. Wer ihm antwortet, die Periode<br />
1945-1973 sei eine Ausnahme gewesen,<br />
muss danach fragen, wie es dann <strong>heute</strong> weitergehen<br />
soll. Richtet sich diese Erkundigung an<br />
den Text „Freiheit statt Sozialismus“, haben<br />
wir eine Diskussion, die nicht rückwärtsgewandt<br />
ist.<br />
Zum Tornado-Urteil des<br />
Bundesverfassungsgerichts:<br />
Verfassungs- und<br />
Völkerrecht beiseite<br />
geschoben<br />
Gregor Schirmer<br />
Deutschland beteiligt sich mit seinen Streitkräften<br />
an zwei militärischen Operationen im<br />
Afghanistan-Krieg. Erstens an der Operation<br />
Enduring Freedom (OEF), der Reaktion der<br />
USA und ihrer Verbündeten auf die Terroranschläge<br />
vom 21. September. Sie soll dem<br />
Kampf gegen den internationalen Terrorismus
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
und die Taliban dienen. Zweitens an der internationalen<br />
Sicherheitsunterstützungstruppe<br />
(ISAF), die vom UNO-Sicherheitsrat autorisiert<br />
wurde und von der NATO geführt wird.<br />
Ursprünglich sollte sie „zur Aufrechterhaltung<br />
der Sicherheit in Kabul und Umgebung<br />
beitragen“. Sukzessive wurde ihr Einsatzgebiet<br />
auf ganz Afghanistan erweitert. Beide<br />
Einsätze haben den Segen des Bundestages.<br />
Im September/Oktober wird das Parlament<br />
über ihre Verlängerung entscheiden. Am 9.<br />
März 2007 gab der Bundestag seine Zustimmung,<br />
dass Deutschland in Ergänzung des<br />
Beitrags zu ISAF der NATO „für die Aufklärung<br />
und Überwachung aus der Luft“<br />
Aufklärungsflugzeuge vom Typ Tornado<br />
RECCE zur Verfügung stellt. Seit 15. April<br />
sind diese Flugzeuge im Einsatz. Beide<br />
Operationen sind in der Praxis kaum noch<br />
voneinander zu trennen.<br />
Die Rechtslage<br />
Die OEF hat kein Mandat des Sicherheitsrates.<br />
Sie ist eine Ad-hoc-Koalition unter Führung<br />
der USA. Sie wird mit dem Recht auf<br />
individuelle und kollektive Selbstverteidigung<br />
nach Art. 51 der UNO-Charta und mit der<br />
Beistandspflicht gegen einen bewaffneten<br />
Angriff nach Art. 5 des NATO-Vertrags gerechtfertigt.<br />
Die NATO hatte nach den<br />
Terroranschlägen den Verteidigungsfall ausgerufen.<br />
Es liegt jedoch kein Fall von<br />
Selbstverteidigung vor. Die Terroranschläge<br />
vom 21. September in den USA waren<br />
schwerste internationale Verbrechen. Daran<br />
kann kein Zweifel bestehen. Aber sie waren<br />
kein bewaffneter Angriff im Sinne des<br />
Artikels 51 der Charta. Danach besteht dieses<br />
Recht „im Falle eines bewaffneten Angriffs<br />
gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen“...<br />
„bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des<br />
Weltfriedens und der internationalen<br />
Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen<br />
hat“. Afghanistan hat die USA nicht angegriffen.<br />
Die Terroranschläge könnten nur<br />
dann als Angriff gewertet werden, wenn sie im<br />
Auftrag der Taliban-Regierung begangen<br />
AKTUELL 11<br />
worden wären. Dafür fehlt bis <strong>heute</strong> ein<br />
Beweis. Selbst wenn man die Berufung auf das<br />
Selbstverteidigungsrecht gelten ließe, wäre<br />
dieses Recht durch Zeitablauf und durch das<br />
Tätigwerden des Sicherheitsrates verbraucht.<br />
Vergeltung und Rache sind keine Selbstverteidigung.<br />
Die OEF ist völkerrechtswidrig. Sie<br />
ist eine Angriffshandlung im Sinne des Art. 39<br />
der Charta, gegen die der Sicherheitsrat hätte<br />
einschreiten müssen.<br />
Die ISAF ist keine militärische Sanktionsmaßnahme<br />
der UNO, sondern eine dubiose<br />
und brüchige Auflassung des Sicherheitsrates<br />
für eine Staatengruppe, gegenwärtig für die<br />
NATO, in Afghanistan militärische Gewalt<br />
anzuwenden. Es ist zweifelhaft, ob eine solche<br />
Autorisierung von Gewalt mit Kapitel VII der<br />
Charta vereinbar ist. Auf jeden Fall ist ISAF<br />
nicht vom NATO-Vertrag gedeckt. Die<br />
NATO ist nach diesem Vertrag ein Bündnis<br />
zur Verteidigung gegen einen bewaffneten<br />
Angriff gegen einen NATO-Partner in einem<br />
in Artikel 6 genau beschriebenen Gebiet.<br />
ISAF operiert „out of treaty“, weil der<br />
NATO-Vertrag militärisches Eingreifen jenseits<br />
von Selbstverteidigung nicht vorsieht,<br />
und „out of area“, weil das Einsatzgebiet von<br />
ISAF weit über das Nato-Gebiet hinaus geht.<br />
Die Beteiligung der Bundeswehr an dieser<br />
Operation hat mit Verpflichtungen aus dem<br />
NATO-Vertrag nichts zu tun. Das gilt auch für<br />
den Einsatz der Tornados, zumal deren<br />
Aufklärungsergebnisse auch von der OEF<br />
genutzt werden können. Daran kann auch die<br />
Deklaration des Rigaer NATO-Gipfels vom<br />
29. November 2006 nichts ändern, die den<br />
ISAF-Einsatz der NATO wärmstens billigt.<br />
Die in Riga verabschiedete Comprehensive<br />
Political Guidance weist der NATO die allgemeine<br />
Aufgabe zu, „to engage actively in crisis<br />
management, including through non-Article 5<br />
crisis response operations“. Damit wird eingestanden,<br />
dass der NATO-Vertrag überdehnt,<br />
also inhaltlich geändert wird, denn „Nicht-<br />
Artikel 5-Einsätze“ sind im Vertrag nicht vorgesehen.<br />
Die zwei Operationen sind zu einem völkerrechtswidrigen<br />
Krieg gegen Afghanistan ver-
12<br />
Gregor Schirmer: Zum Tornado-Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />
schmolzen. Dieser Krieg ist ein grober Verstoß<br />
gegen das Gewaltverbot des Artikels 2 Abs. 4<br />
der UNO-Charta. Es ist ein Aggressionskrieg<br />
und damit ein Verbrechen gegen den Frieden.<br />
Die militärische Besetzung Afghanistans im<br />
Gefolge der Krieges ist völkerrechtswidrig wie<br />
der Krieg selbst. Das kann auch durch die<br />
Zustimmung zweifelhafter afghanischer Autoritäten<br />
zu ISAF und zur Besetzung Afghanistans<br />
nicht geheilt werden. Im Verlauf des<br />
Krieges begingen und begehen die Aggressoren<br />
schwerwiegende Kriegsverbrechen.<br />
Die Teilnahme der Bundeswehr an den<br />
zwei Operationen widerspricht dem Grundgesetz.<br />
Artikel 87a begrenzt den Einsatz der<br />
Streitkräfte auf Verteidigung, es sei denn das<br />
Grundgesetz lässt einen anderweitigen<br />
Einsatz „ausdrücklich“ zu. Eine solche ausdrückliche<br />
Zulassung enthalten nur die Artikel<br />
87a Abs. 3 und 4 (Verteidigungs- und<br />
Spannungsfall, Abwehr einer drohenden Gefahr<br />
für den Bestand oder die freiheitliche<br />
demokratische Grundordnung des Bundes<br />
oder eines Landes) und Artikel 35 (Naturkatastrophe<br />
oder besonders schwerer Unglücksfall).<br />
Als Verteidigungsfall ist in Artikel<br />
115a Abs. 1 definiert, „dass das Bundesgebiet<br />
mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein<br />
solcher Angriff unmittelbar droht“. Andere<br />
Einsätze der Bundeswehr sind verfassungswidrig.<br />
Das Bundesverfassungsgericht hat in<br />
seinem Awacs-Urteil von 1994 mit viel Rabulistik<br />
begründet, dass Artikel 24 Abs. 2, der<br />
die Teilnahme des Bundes an einem System<br />
gegenseitiger kollektiver Sicherheit regelt,<br />
eine verfassungsrechtliche Grundlage für<br />
Auslandseinsätze der Bundeswehr biete. Die<br />
NATO wurde kurzerhand in ein System kollektiver<br />
Sicherheit umdefiniert, damit sie in<br />
Artikel 24 Abs. 2 passt. Zudem steht in diesem<br />
Artikel nichts von „ausdrücklicher“ Zulassung.<br />
Das war eine Vergewaltigung des<br />
Grundgesetzes, eine Todsünde gegen das<br />
Friedensgebot des Artikels 26 (Verfassungswidrigkeit<br />
eines Angriffskrieges) und gegen<br />
die Verbindlichkeit der allgemeinen Regeln<br />
des Völkerrechts (Artikel 25). Dieser Sünde<br />
kann man nicht Absolution erteilen, auch<br />
wenn man als Positivum des Awacs-Urteils<br />
anerkennt, dass die Karlsruher Richter für<br />
jeden Einsatz die konstitutive Zustimmung<br />
des Bundestages für erforderlich erklärten.<br />
Der schwierige Weg nach Karlsruhe<br />
Diese Rechtslage vor deutschen Gerichten<br />
zur Geltung zu bringen ist schwierig und<br />
wenig aussichtsreich. Das Recht bietet aber<br />
Argumente, Instrumente für parlamentarische<br />
und außerparlamentarische Kämpfe. Es<br />
ist legitim, dass Linke und andere Friedensbewegte<br />
die deutsche Beteiligung am Afghanistankrieg<br />
auch „auf dem Rechtsweg“ bekämpfen.<br />
Im viel gepriesenen Rechtsstaat ist es<br />
jedoch nicht ohne weiteres möglich, die<br />
Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht<br />
wegen Bruchs des Grundgesetzes<br />
und des Völkerrechts zu verklagen. Die<br />
Linksfraktion im Bundestag musste den Weg<br />
über eine Organklage gehen. Dazu musste sie<br />
geltend machen, dass die Bundesregierung<br />
Rechte des Bundestags verletzt hat.<br />
Die Bundestagsfraktion der PDS hatte<br />
1999 die Verfassungswidrigkeit der Beteiligung<br />
der Bundeswehr an militärischen Operationen<br />
der NATO gegen Jugoslawien in einer<br />
Organklage vor dem Bundesverfassungsgericht<br />
gerügt. Der Antrag wurde als unzulässig<br />
verworfen. Die Fraktion habe nicht dargelegt,<br />
dass grundgesetzliche Rechte des Bundestages<br />
verletzt sein könnten. Die Richter ließen<br />
wissen: „Das Organstreitverfahren dient dem<br />
Schutz der Rechte der Staatsorgane im Verhältnis<br />
zueinander, nicht einer allgemeinen<br />
Verfassungsaufsicht.“ Damit war die Sache<br />
erledigt. Mit dem von der Fraktion begründeten<br />
Verfassungsbruch selbst setzte sich das<br />
Gericht gar nicht auseinander.<br />
Im November 2001 hat die PDS-Fraktion<br />
diesen Weg ein weiteres Mal versucht. Damals<br />
ging der Streit um die Umwandlung der<br />
NATO von einem Verteidigungsbündnis (laut<br />
Vertrag) in ein Instrument zur militärischen<br />
Intervention. Ihre Organklage, die Rechte des<br />
Bundestages seien dadurch verletzt, dass die<br />
Bundesregierung dem neuen Strategischen
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Konzept der NATO von 1999 zugestimmt hat,<br />
ohne das verfassungsrechtlich erforderliche<br />
Zustimmungsverfahren einzuleiten, wurde<br />
zwar als zulässig erklärt, aber als unbegründet<br />
zurückgewiesen. Karlsruhe urteilte, das Konzept<br />
sei keine Änderung des NATO-Vertrags<br />
und bedürfe daher keiner gesonderten<br />
Zustimmung des Bundestages. Es handle sich<br />
um eine Fortentwicklung eines Systems kollektiver<br />
Sicherheit im Rahmen der Ermächtigung<br />
durch das Zustimmungsgesetz<br />
zum NATO-Vertrag und des Artikels 24 Abs.<br />
2 GG. „Die Fortentwicklung darf allerdings<br />
nicht die ... Zweckbestimmung des Bündnisses<br />
zur Friedenssicherung verlassen.“ So schränkte<br />
Karlsruhe ein.<br />
Nun der dritte Versuch der nunmehrigen<br />
Linksfraktion, mithilfe des Bundesverfassungsgerichts<br />
in einem wichtigen Friedensund<br />
Sicherheitsfall dem Verfassungs- und<br />
Völkerrecht Geltung zu verschaffen. Die<br />
Fraktion hat beantragt festzustellen, dass die<br />
Bundesregierung Rechte des Bundestages<br />
dadurch verletzt hat, dass diese im Verein mit<br />
den Regierungen der anderen NATO-Staaten<br />
durch Wort und Tat dem NATO-Vertrag von<br />
1949 einen anderen Inhalt gegeben, also eine<br />
Vertragsänderung herbeigeführt hat, ohne<br />
den Bundestag zu fragen. Aus Artikel 59 Abs.<br />
2 ergibt sich, dass eine Änderung des NATO-<br />
Vertrags der Zustimmung des Bundestages<br />
bedarf. Sie hat ferner beantragt festzustellen,<br />
dass die Bundesregierung diese Rechte durch<br />
Beteiligung am erweiterten ISAF-Mandat<br />
durch die Tornado-Einsätze verletzt hat.<br />
Man kann ins Feld politisch-juristischer<br />
Auseinandersetzung führen, dass der Afghanistan-Krieg<br />
ein Bruch selbst des NATO-<br />
Vertrags ist, weil dieser Krieg mit der in dem<br />
Vertrag vorgesehenen Selbstverteidigung<br />
nichts zu tun hat. Punkt. Man kann aber auch<br />
argumentieren, dass die NATO ohne Zustimmung<br />
des Parlaments von einer regionalen<br />
Organisation zur kollektiven Selbstverteidigung<br />
zu einem „globalen Sicherheitsdienstleister“<br />
umgebaut worden ist, was vom<br />
Zustimmungsgesetz des Bundestages zum<br />
NATO-Beitritt von 1955 nicht mehr gedeckt<br />
AKTUELL 13<br />
ist. Nur mit letzterem Argument konnte die<br />
Fraktion beim Bundesverfassungsgericht über<br />
die Zulässigkeitshürde kommen. Lohnt sich<br />
dieser Umweg?<br />
Das Urteil<br />
Die Anträge der Linksfraktion wurden mit<br />
dem Urteil des Zweiten Senats vom 3. Juli<br />
2007 für zulässig erklärt, aber als unbegründet<br />
zurückgewiesen. Der einzige Leitsatz lautet:<br />
„Die Beteiligung an dem erweiterten ISAF-<br />
Mandat aufgrund des Bundestagsbeschlusses<br />
vom 9. März 2007 verletzt nicht die Rechte des<br />
Deutschen Bundestages aus Artikel 59 Abs. 2<br />
Satz 1 des Grundgesetzes.“ Dieser Leitsatz<br />
hat Gesetzeskraft. Übrigens hat sich der Bundestag<br />
an dem Verfahren nicht beteiligt. Es<br />
ging ja bloß um seine Rechte!<br />
Ich wage zu bezweifeln, ob es klug war, sich<br />
eine neue Niederlage einzuhandeln. Es konnte<br />
nach allen Erfahrungen nicht erwartet werden,<br />
dass die Karlsruher Richter dem Kurs der<br />
Bundesregierung auf Unterstützung von und<br />
Teilnahme an völkerrechtswidrigen Kriegen<br />
wirksame Schranken setzen würden. Eher musste<br />
befürchtet werden, dass sich das Gericht als<br />
Rechtfertiger dieses Kurses betätigt. Das<br />
Tornado-Urteil ist eine konsequente Fortführung<br />
des Urteils von 2001 ins Negative. Es<br />
zeigt, dass es naiv wäre, vom Bundesverfassungsgericht<br />
zu erwarten, dass es in grundsätzlichen<br />
außenpolitischen Fragen als Wahrer<br />
des Verfassungs- und Völkerrechts auftritt.<br />
Freilich, nicht selten sind in der Begründung<br />
klagabweisender Urteile Aussagen enthalten,<br />
die wie ein halber Sieg der unterlegenen<br />
Streitpartei ausschauen. Im gegebenen<br />
Fall ist im Begründungsteil wenig Positives zu<br />
finden. Mit Hängen und Würgen kann man<br />
positiv werten, dass der Senat es vermieden<br />
hat, sich dazu zu äußern, ob die OEF völkerrechtsgemäß<br />
ist und sich auf das Recht auf<br />
kollektive Selbstverteidigung stützen kann<br />
oder nicht, die Frage also offen bleibt. Die<br />
schön allgemeinen Sätze über das Gebot der<br />
Friedenswahrung als „stets zwingender Bestandteil<br />
der Vertragsgrundlage eines Systems
14<br />
Gregor Schirmer: Zum Tornado-Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />
gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ sind<br />
merkenswert, „die friedenswahrende Zwecksetzung<br />
ist nicht nur einmalige Voraussetzung<br />
des Beitritts, sondern fortdauernde Voraussetzung<br />
des Verbleibs Deutschlands in dem<br />
System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“.<br />
Die „Umwandlung eines ursprünglich den<br />
Anforderungen des Art. 24 Abs. 2 GG entsprechenden<br />
Systems in eines, das nicht mehr<br />
der Wahrung des Friedens dient oder sogar<br />
Angriffskriege vorbereitet, ist verfassungsrechtlich<br />
untersagt“. Das Bundesverfassungsgericht<br />
ist natürlich weit von jeglichem<br />
Zweifel entfernt, dass eine solche Umwandlung<br />
auch nur entfernt auf die NATO zutreffen<br />
könnte.<br />
Es fehle „an Anhaltspunkten für eine strukturelle<br />
Entfernung der NATO von ihrer friedenswahrenden<br />
Ausrichtung“. Das Gericht<br />
hält die Aussage des Generals Schneidereit für<br />
ausreichend, um eine Vermischung von ISAF<br />
und OEF zu verneinen und damit auszuschließen,<br />
dass Operationen von ISAF und die Tornado-Einsätze<br />
wegen des Zusammenwirkens<br />
mit OEF völkerrechtswidrig sind. Es könnte ja<br />
vorkommen, dass im Einzelfall völkerrechtswidriges<br />
Handeln der OEF wegen des Zusammenwirkens<br />
der ISAF zuzurechnen sei. Und<br />
dies könnte „möglicherweise die völkerrechtliche<br />
Verantwortlichkeit der NATO und ihrer<br />
Mitgliedstaaten auslösen“. Das juristische Kauderwelsch<br />
in klares Deutsch übersetzt, heißt:<br />
die Bundesregierung darf die Bundeswehr im<br />
Rahmen der NATO zu Kampfeinsätzen ins<br />
Ausland, auch in völkerrechtswidrige Kriege<br />
schicken, wenn sich dadurch nur nicht die „friedenswahrende<br />
Ausrichtung“ der NATO<br />
ändert. Und die ist selbstverständlich durch<br />
nichts zu erschüttern, auch wenn nicht nur der<br />
Anschein, sondern grausame afghanische<br />
Fakten dagegen sprechen.<br />
Der Begriff der Selbstverteidigung wird<br />
inhaltlich ausgehöhlt und territorial entgrenzt.<br />
Das rückt die Auffassungen des Gerichts in<br />
gefährliche Nähe zu Bushs Konzept der „präventiven“<br />
oder „antizipatorischen“ Verteidigung.<br />
Folgende Sätze aus dem Urteil sprechen<br />
eine deutliche Sprache: „Mit dem Zweck der<br />
NATO waren abwehrende militärische Einsätze<br />
außerhalb des Bündnisgebiets, nämlich<br />
auch auf dem Territorium eines angreifenden<br />
Staates, von vornherein impliziert. Bei einem<br />
Angriff muss die Verteidigung nicht an der<br />
Bündnisgrenze enden, sondern kann auf dem<br />
Territorium des Angreifers enden, wobei auch<br />
dessen langfristige und stabile Pazifizierung<br />
der Sicherung eines dauerhaften Friedens des<br />
Bündnisses dient.“ Das ist die pseudojuristische<br />
Weihe von Peter Strucks Parole: „Deutschland<br />
wird am Hindukusch verteidigt.“ Die<br />
regionale Begrenzung des NATO-Vertrags<br />
wird aufgehoben. Die NATO darf weltweit<br />
militärisch eingreifen, Kriege führen und<br />
Länder besetzen. Dafür muss nicht einmal ein<br />
Angriff vorliegen: „Krisenreaktionseinsätze<br />
können auch unabhängig von einem äußeren<br />
Angriff oder ergänzend zur dauerhaften<br />
Befriedung eines Angreifers dem Zweck des<br />
NATO-Vertrags entsprechen.“<br />
Das Urteil ist Rechtsverweigerung. Es<br />
schiebt Verfassung und Völkerrecht beiseite.<br />
Es erteilt der Regierung Handlungsfreiheit in<br />
der Außenpolitik über das Maß des Rechts<br />
hinaus. Es sanktioniert den Rechtsbruch.<br />
Wohin geht die<br />
Europäische Union?<br />
Andreas Wehr<br />
„Der Vertrag über die Europäische Union<br />
und der Vertrag über die Arbeitsweise der<br />
Union werden keinen Verfassungscharakter<br />
haben. (...): Der Ausdruck ‚Verfassung’ wird<br />
nicht verwendet (...).“ So steht es im Entwurf<br />
des Mandats für die Regierungskonferenz,<br />
beschlossen auf dem Europäischen Rat am<br />
21./22. Juni 2007 in Brüssel. In der Regierungskonferenz<br />
soll stattdessen ein „Reformvertrag“<br />
zur Änderung der bestehenden
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Verträge ausgearbeitet werden und zwar in<br />
nichtöffentlichen Sitzungen hinter verschlossenen<br />
Türen. Da war nun über <strong>Jahre</strong> für eine<br />
europäische Verfassung in allen Medien<br />
getrommelt, ja das Stagnieren oder gar das<br />
Auseinanderfallen der EU bei ihrem Scheitern<br />
vorausgesagt worden, und nun wurde die<br />
Fahne „Verfassung“ quasi über Nacht still und<br />
heimlich wieder eingerollt. Keiner Zeitung<br />
war dies auch nur einen Kommentar wert.<br />
Spätestens jetzt ist klar, dass das ganze<br />
Gerede von einer Verfassung nur ein Hebel<br />
war, um mittels einer mobilisierten Öffentlichkeit<br />
den Widerstand einiger Regierungen<br />
gegen den angestrebten institutionellen<br />
Umbau der Union durchzusetzen.<br />
Dieser Umbau der Institutionen der EU<br />
steht seit nunmehr zehn <strong>Jahre</strong>n auf der<br />
Tagesordnung der Union. Seitdem geht es<br />
darum, die „drei Left-overs“ der Amsterdamer<br />
Vertragsreform von 1997 aufzulösen. 1<br />
Übrig geblieben waren damals die Entscheidungen<br />
über die zukünftige Größe der<br />
Europäischen Kommission, über die Stimmengewichtung<br />
im Rat und über die inhaltlichen<br />
Bereiche, in denen der Rat mit qualifizierten<br />
Mehrheiten abstimmen kann. Dieser Umbau<br />
der EU wird zu einer Zentralisierung ihrer<br />
Entscheidungsstrukturen und zur Stärkung<br />
ihrer großen Mitgliedsländer führen. Vor<br />
allem die Bundesrepublik Deutschland wird<br />
nun ihre mit der Vereinigung deutlich gewachsene<br />
Bevölkerung in die Waagschale legen<br />
können. Deshalb bestanden die deutschen<br />
Regierungen immer auch so hartnäckig auf<br />
die Anwendung des demografischen Prinzips.<br />
In Nizza war 2000 der erhoffte Durchbruch<br />
in diesen drei Fragen noch ausgeblieben. Eine<br />
Verständigung über sie gelang erst im Europäischen<br />
Konvent. Die 2003 im Konventsentwurf<br />
für eine Verfassung unterbreiteten<br />
Vorschläge bilden – mit einigen Veränderungen<br />
– auch die Grundstruktur des jetzt auszuhandelnden<br />
Reformvertrags. Die Union soll<br />
danach eine andere werden. Die Mitgliedstaaten<br />
verlieren weiter an Souveränität, die<br />
großen Länder werden auf Kosten der kleinen<br />
gestärkt und die Zentralisierung ihrer Ent-<br />
AKTUELL 15<br />
scheidungsstrukturen wird die EU noch undemokratischer<br />
machen. Sie droht ihren Charakter<br />
als Aushandlungsgemeinschaft zu verlieren<br />
und eine feste Hegemonialordnung von<br />
Metropole und Peripherie zu werden.<br />
Nicht alle Rechnungen gingen auf<br />
Ein Sieg demnach auf ganzer Linie für die<br />
europäischen Eliten und die hinter ihnen stehenden<br />
Monopolbourgeoisien der großen<br />
Kernstaaten? Sieht man sich das Mandat für<br />
die Regierungskonferenz genauer an, so<br />
erkennt man, dass längst nicht alle ihrer<br />
Forderungen erfüllt wurden. Im jahrelangen<br />
Ringen um die neue vertragliche Grundlage<br />
waren sogar einige Rückschläge hinzunehmen.<br />
Dies gilt selbst für die schließlich durchgesetzte<br />
Umstellung des Abstimmungsverfahrens<br />
auf die Bevölkerungsgröße. Da es erst<br />
ab 2014 gilt, wird die für 2008 anstehende<br />
grundlegende Reform der Agrar- und Regionalpolitik<br />
der EU, bei der es um sehr viel Geld<br />
gehen wird, noch auf Grundlage des alten, in<br />
Nizza vereinbarten Abstimmungsmodus entschieden.<br />
Polens Chancen für seine Bauern,<br />
dabei einiges mehr herauszuholen, sind damit<br />
deutlich gestiegen.<br />
Im Verhandlungsmandat stößt man auf<br />
eine ganze Reihe von Bestimmungen, in<br />
denen die Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten<br />
gegenüber dem Machtanspruch Brüssels<br />
verteidigt bzw. sogar gestärkt werden. So<br />
wird die den nationalen Parlamenten eingeräumte<br />
Frist für Subsidiaritätskontrollen geringfügig<br />
erhöht. Sie werden stärker in die<br />
politische Kontrolle von Europol und in die<br />
Bewertung der Tätigkeit von Eurojust einbezogen.<br />
Es wird ein neues Protokoll über<br />
Dienste von allgemeinem Interesse geben, in<br />
dem „die wichtige Rolle und der weite Ermessensspielraum<br />
der nationalen, regionalen<br />
und lokalen Behörden“ hervorgehoben werden.<br />
Erstmals wird geregelt, dass „die Mitgliedstaaten<br />
ihre Zuständigkeiten wieder<br />
wahrnehmen, sofern und soweit die Union<br />
entschieden hat, ihre Zuständigkeiten nicht<br />
mehr auszuüben“. Die Flexibilitätsklausel
16<br />
Andreas Wehr: Wohin geht die Europäische Union?<br />
wird präzisiert, indem herausgestellt wird,<br />
dass „sie nicht als Grundlage für die Verwirklichung<br />
von Zielen der Gemeinsamen<br />
Außen- und Sicherheitspolitik dienen“ kann.<br />
Im Artikel über die Beziehungen zwischen<br />
der Union und den Mitgliedstaaten wird der<br />
Satz angefügt: „Insbesondere die nationale<br />
Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige<br />
Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten.“<br />
Zur Stärkung der mitgliedstaatlichen Souveränitäten<br />
zählt auch, dass bei den Unterstützungs-,<br />
Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen<br />
der Union – etwa in den Bereichen<br />
Kultur, Gesundheitswesen oder Verbraucherschutz<br />
– zukünftig hervorgehoben<br />
wird, dass „die Union die Maßnahmen zur<br />
Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung<br />
der Maßnahmen der Mitgliedstaaten<br />
durchführt“. Und erstmals wird eindeutig festgehalten,<br />
dass die Verträge mit dem Ziel geändert<br />
werden können, die der Union übertragenen<br />
Zuständigkeiten auch „zu verringern“.<br />
Einige ursprünglich angestrebten Integrationsschritte<br />
konnten zudem nur unter dem<br />
Preis der Gewährung einer „Opting-out“<br />
Regel bzw. durch die Gestattung eines schnelleren<br />
Voranschreitens integrationswilliger<br />
Staaten gerettet werden. So die Charta der<br />
Grundrechte, die wohl nicht mehr Bestandteil<br />
der Verträge, aber dennoch rechtsverbindlich<br />
sein soll. Dem entsprechenden Protokoll hat<br />
sich Großbritannien nicht angeschlossen.<br />
Zwei weitere Staaten prüfen noch, ob sie sich<br />
ebenso verhalten werden. Bei der justiziellen<br />
Zusammenarbeit in Strafsachen und bei der<br />
polizeilichen Zusammenarbeit wird zukünftig<br />
gestattet, dass „Mitgliedstaaten bei einem<br />
Thema voranschreiten und andere sich nicht<br />
beteiligen“.<br />
Es bleibt bei Neoliberalismus<br />
und Militarisierung<br />
Weniger Gewicht als die Verteidiger der Souveränitäten<br />
der Mitgliedstaaten hatten jene<br />
Kräfte, die den Verfassungs- bzw. Reformvertrag<br />
ablehnen, weil mit ihm die neoliberale<br />
Ordnung des Binnenmarktes gemäß den<br />
Vereinbarungen von Maastricht 1992 festgeschrieben<br />
wird. Im französischen Referendum<br />
dürften diese Argumente für das Non ausschlaggebend<br />
gewesen sein. An diesen neoliberalen<br />
Inhalten wird weiterhin unverändert<br />
festgehalten. Keine Rede ist mehr von der<br />
ursprünglichen Idee Merkels, dem Vertrag ein<br />
Zusatzprotokoll über die soziale Dimension<br />
der EU anzufügen. Lediglich an einer einzigen<br />
Stelle sah man Anlass, zumindest eine<br />
kosmetische Veränderung vorzunehmen. Aufgrund<br />
einer gemeinsam von Nicolas Sarkozy<br />
und der Europäischen Kommission eingebrachten<br />
Formulierung wird bei den Zielen<br />
der Union auf die Forderung nach „einem<br />
freien und unverfälschten Wettbewerb“ verzichtet.<br />
Offiziell wird dies damit begründet,<br />
dass es sich bei dem freien und unverfälschten<br />
Wettbewerb lediglich um ein Mittel und nicht<br />
um ein Ziel handele, daher gehöre diese<br />
Formulierung auch in den praktischen, politischen<br />
Teil. Dort findet sich ja bereits gleich<br />
mehrfach das Prinzip „einer offenen Marktwirtschaft<br />
mit freiem Wettbewerb“. Die deutsche<br />
Ratspräsidentschaft beeilte sich denn<br />
auch sogleich zu erklären, dass „es in den EU-<br />
Verträgen ein Dutzend Passagen gebe, die als<br />
Grundlage für die auf das Jahr 1957 zurückgehende<br />
Wettbewerbspolitik dienten“. 2 Und damit<br />
ja keine Zweifel daran aufkommen, dass<br />
es sich bei dieser Abänderung der Ziele wirklich<br />
nur darum handelt, den antiliberalen Kritikern<br />
Sand in die Augen zu streuen, wurde<br />
ein „Protokoll über den Binnenmarkt und den<br />
Wettbewerb“ formuliert, in dem es unmissverständlich<br />
heißt, „dass zu dem Binnenmarkt,<br />
(...) ein System gehört, das den Wettbewerb<br />
vor Verfälschungen schützt (...)“. Doch Schutz<br />
vor Wettbewerbsverfälschung ist in der Gesetzgebung<br />
der EU als auch in der Rechtsprechung<br />
des Europäischen Gerichtshofs<br />
regelmäßig ein Hauptargument, um gegen<br />
nichttarifäre Handelshemmnisse – zu denen<br />
regelmäßig auch ökologische, soziale und<br />
gegen Diskriminierung gerichtete Standards<br />
gehören – vorgehen zu können. Viele Klagen<br />
der Kommission gegen die Vergabepraxis der<br />
Kommunen werden denn auch mit dem Vor-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
wurf der Wettbewerbsverfälschung begründet.<br />
Ganz und gar unbeachtet bleibt die Kritik<br />
an der Militarisierung der Union, wie sie sich<br />
in der Verpflichtung zur Aufrüstung, der<br />
Verknüpfung der EU mit der NATO sowie in<br />
der Ermöglichung von Kampfeinsätzen im<br />
Verfassungsvertrag findet. All diese Aussagen<br />
sollen unverändert in den Reformvertrag<br />
übernommen werden.<br />
Wohin geht die Europäische Union?<br />
1. Die gegenüber dem Verfassungsvertrag<br />
geäußerte Kritik ist auch gegenüber dem konzipierten<br />
Reformvertrag anzubringen, von<br />
dem ja selbst die Vertreter der deutschen<br />
Bundesregierung behaupten, dass er zu gut <strong>90</strong><br />
Prozent identisch mit dem Verfassungsvertrag<br />
sein wird. Entsprechend konsequent haben<br />
die Kritiker des Verfassungsvertrags bereits<br />
die Ablehnung auch des Reformvertrags<br />
angekündigt. Dies betrifft sowohl Nichtregierungsorganisationen<br />
wie Attac als auch die<br />
linken Parteien in Europa, wie sie in der<br />
Europäischen Linkspartei als auch in der<br />
Fraktion der Vereinten Linken im Europäischen<br />
Parlament zusammengeschlossen<br />
sind.<br />
2. Mit dem Entwurf des Mandats für die<br />
Regierungskonferenz werden die ablehnenden<br />
Voten der französischen und der niederländischen<br />
Bevölkerungen vom 29. Mai und<br />
vom 1. Juni 2005 weitgehend missachtet. Die<br />
Staats- und Regierungschefs vertrauen vielmehr<br />
darauf, dass weder die niederländische<br />
Regierung noch der französische Staatspräsident<br />
Sarkozy erneut Volksabstimmungen<br />
zulassen werden. Mandat und Zeitplan für die<br />
Regierungskonferenz sind zudem so eng<br />
gefasst, dass keine Zeit für eine ausreichende<br />
parlamentarische Beratung in den Mitgliedstaaten<br />
bleibt. Vorgesehen ist, dass der Europäische<br />
Rat bereits am 17./18. Oktober 2007<br />
über den Reformvertrag beschließt. Es ist<br />
offenkundig, dass die europäischen Eliten<br />
alles daran setzen, um kritische Debatten, vor<br />
AKTUELL 17<br />
allem aber Volksabstimmungen über den<br />
Reformvertrag und damit eine erneute Verzögerung<br />
oder gar das endgültige Scheitern<br />
des Projekts zu verhindern. In dieser Angst<br />
vor dem Willen der Völker drückt sich zugleich<br />
der Hegemonieverlust der europäischen<br />
Eliten über die öffentliche Wahrnehmung<br />
der EU aus. Die Vertrauenskrise der<br />
Europäischen Union dauert an.<br />
3. Auf dem Junigipfel konnte erst nach langem<br />
Ringen eine Einigung über die institutionellen<br />
Reformen erreicht werden. Der Preis<br />
dafür war allerdings hoch. Zwischen der deutschen<br />
und der polnischen Regierung kam es<br />
im Vorfeld und auf dem Gipfel selbst zu einem<br />
ernsthaften Zerwürfnis über den Abstimmungsmodus<br />
im Rat. Für jeden sichtbar<br />
wurde, dass es in dieser Frage nicht – wie<br />
immer wieder behauptet - um den Erhalt der<br />
Handlungsfähigkeit der Union oder gar um<br />
ihre Demokratisierung geht. Erkennbar<br />
wurde stattdessen, dass hier ein Kampf um die<br />
Macht in der EU ausgetragen wird, und dass<br />
die schließlich erzwungene Umstellung auf<br />
das demografische Prinzip vor allem Deutschland<br />
nützt.<br />
4. Auch wenn in der Frage der Kompetenzverteilung<br />
zwischen der EU und den Mitgliedstaaten<br />
mit dem Reformvertrag nur wenige<br />
Änderungen gegenüber dem alten Verfassungsvertrag<br />
vorgesehen sind und damit die<br />
allgemeine Tendenz der Entmachtung der<br />
mitgliedstaatlichen Parlamente keineswegs<br />
gestoppt ist, so musste man doch in dem einen<br />
oder anderen Punkt Besorgnisse der Bevölkerungen<br />
einiger Mitgliedsländer um den<br />
Erhalt der einzelstaatlichen Souveränitäten<br />
und der demokratischen Rechte berücksichtigen.<br />
Dies gilt etwa für die traditionell integrationsskeptischen<br />
Öffentlichkeiten Großbritanniens<br />
und Dänemarks, für die einiger<br />
neuer Mitgliedstaaten, aber auch für die in<br />
den Niederlanden. Dort hatte eine Mehrheit<br />
den Verfassungsvertrag vor allem deshalb<br />
abgelehnt, weil sie in ihm eine unzumutbare<br />
Einschränkung der Souveränitätsrechte des<br />
Landes sah. Auf solche Stimmen wird nun<br />
stärker als bisher Rücksicht genommen, da
18<br />
Andreas Wehr: Wohin geht die Europäische Union?<br />
neue Referenden und Niederlagen dabei unbedingt<br />
vermieden werden müssen.<br />
5. Unter den 27 Mitgliedstaaten der EU<br />
besteht wohl noch Einigkeit über den Erhalt<br />
und den weiteren Ausbau des unter neoliberalen<br />
Vorzeichen stehenden Binnenmarkts als<br />
auch über den Kurs der Militarisierung der<br />
Union. Keine Einigkeit besteht jedoch über<br />
die weiteren Integrationsschritte in der<br />
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik<br />
als auch in der Innen- und Rechtspolitik. Was<br />
die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
angeht, so hat sich der bereits in den<br />
Verhandlungen des Konvents zu spürende<br />
Widerstand einzelner Länder gegen eine weitere<br />
Integration verstärkt. Ausdruck findet<br />
dies nun in dem Verzicht auf den Titel<br />
„Außenminister“. In der Innen- und Rechtspolitik<br />
bleiben die 1997 Großbritannien und<br />
Irland gewährten Ausnahmebestimmungen in<br />
den Bereichen Visa, Asyl, Einwanderung und<br />
freier Reiseverkehr erhalten und werden um<br />
Fragen der justiziellen Zusammenarbeit in<br />
Strafsachen und polizeiliche Zusammenarbeit<br />
sogar noch erweitert.<br />
6. Die EU bietet mehr und mehr das Bild<br />
einer Gemeinschaft unterschiedlicher Geschwindigkeiten<br />
bzw. eines „Europas á la<br />
carte“. Neben der Gemeinsamen Außen- und<br />
Sicherheitspolitik und der Innen- und Rechtspolitik<br />
zeigt auch die Wirtschafts- und<br />
Währungsunion ein uneinheitliches Bild. Nur<br />
gut die Hälfte der Mitgliedstaaten (gegenwärtig<br />
13 von 27 Ländern) hat den Euro bisher als<br />
Zahlungsmittel eingeführt. Und von der<br />
Schaffung einer auch politischen Union ist<br />
man weiter als noch vor zehn <strong>Jahre</strong>n entfernt.<br />
Der nun beschlossene Verzicht auf die Bezeichnung<br />
der Verträge als Verfassung bzw.<br />
Grundlagenvertrag legt davon ebenso Zeugnis<br />
ab wie die Aufgabe der Absicht, die<br />
Symbole der Union (Flagge, Hymne, Leitspruch<br />
und Europatag) vertraglich zu fixieren.<br />
Auch werden im Reformvertrag die eigentlich<br />
nur Staaten zukommenden Bezeichnungen<br />
„Gesetz“ bzw. „Rahmengesetz“ für die<br />
Rechtssetzungsakte fallengelassen.<br />
7. Nach der Einigung über die Grundlagen<br />
für den Reformvertrag sind viele Illusionen<br />
über „eine immer engere Union“ zerstoben.<br />
Die EU kann nun klarer als das wahrgenommen<br />
werden, was sie im Kern vor allem ist:<br />
Eine Union, der die auf Gewinnmaximierung<br />
gerichteten Gesetze des Marktes heilig sind.<br />
Kann angesichts der Krise bei den Beitrittsverhandlungen<br />
mit der Türkei nicht mehr<br />
von einer erfolgreichen Fortsetzung des Erweiterungsprozesses<br />
der EU gesprochen werden,<br />
so trifft dies angesichts des jetzt erteilten<br />
Mandats für die Regierungskonferenz auch<br />
für die Vertiefung der Integration zu. Es stellt<br />
sich nicht mehr die alte Frage: Erweiterung<br />
der EU oder Vertiefung der Integration?<br />
Mittlerweile findet beides nicht mehr statt.<br />
1 Vgl. dazu Andreas Wehr, Das Publikum verlässt den Saal,<br />
Nach dem Verfassungsvertrag: Die EU in der Krise, Köln,<br />
2006, S. 53 ff.<br />
2 Neues Bekenntnis zum freien Wettbewerb, in: Frankfurter<br />
Allgemeine Zeitung vom 25.06.2007<br />
Palästina: Zwei<br />
Regierungen und<br />
kein Staat<br />
Margret Johannsen<br />
Nach Monaten blutiger Auseinandersetzungen<br />
übernahm im Juni 2007 die „Islamische Widerstandsbewegung“<br />
Hamas die Macht im Gazastreifen.<br />
Die Kämpfe zwischen der 50 <strong>Jahre</strong><br />
alten „Staatspartei“ Fatah und ihrer 30 <strong>Jahre</strong><br />
jüngeren Rivalin hatten seit März 2006, als die<br />
Hamas-geführte Regierung ihre Amtsgeschäfte<br />
aufnahm, über 350 Menschen das<br />
Leben gekostet. Der in Ramallah residierende<br />
Vorsitzende der Palästinensischen Behörde<br />
(PA), Präsident Mahmud Abbas (Fatah), quittierte<br />
die militärische Niederlage der Fatah in<br />
Gaza mit der Erklärung des Ausnahmezu-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
stands, löste die von Ministerpräsident Ismail<br />
Haniyeh (Hamas) geführte Regierung der<br />
nationalen Einheit auf und berief eine Notstandsregierung<br />
unter Führung des bisherigen<br />
Finanzministers und ehemaligen Mitarbeiters<br />
der Weltbank Salam Fayyad (Dritter Weg).<br />
Zudem verbot Abbas die bewaffneten Kräfte<br />
der Hamas und ordnete ihre Entwaffnung an.<br />
Die Hamas-Führung erklärte ihrerseits die<br />
Maßnahmen des Präsidenten für illegal, weil<br />
sie vom Grundgesetz nicht gedeckt seien, und<br />
hielt an der bisherigen Regierung fest. Diese<br />
begann, den Sicherheitsapparat im Gazastreifen<br />
neu zu ordnen 1 und Gehälter an solche<br />
Angestellte des öffentlichen Dienstes auszuzahlen,<br />
die von den Gehaltslisten der Fayyad-<br />
Administration gestrichen worden waren, weil<br />
sie als Hamas-Gefolgsleute galten. Im „größten<br />
Freiluftgefängnis der Welt“ 2 kehrte wieder<br />
Ruhe ein – nur ab und zu gestört von israelischen<br />
Infanterie- und Luftangriffen.<br />
An Warnungen vor einer Fortsetzung des<br />
Wahlkampfes mit militärischen Mitteln hatte<br />
es nicht gefehlt, als Israel und mit ihm die USA<br />
und die Europäische Union im Frühjahr 2006<br />
einen Finanzboykott gegen die palästinensische<br />
Regierung verhängten und sie damit in<br />
den Bankrott trieben. 3 Um die von Israel einbehaltenen<br />
Mehrwertsteuer- und Zolleinnahmen<br />
sowie weiterhin Zuwendungen aus<br />
den USA und Europa zu erhalten, hätte die<br />
palästinensische Einheitsregierung gemäß den<br />
vom Nahost-Quartett (USA, Russland, EU<br />
und UNO) formulierten Kriterien: Israel förmlich<br />
anerkennen, jeglicher Gewalt abschwören<br />
und sich auf die Einhaltung aller bisherigen<br />
israelisch-palästinensischen Vereinbarungen<br />
verpflichten müssen. Dazu waren aber weder<br />
die Hamas-Regierung noch die Nachfolgeregierung<br />
der nationalen Einheit bereit.<br />
Allerdings hätte deren Regierungsprogramm 4<br />
durchaus die Handhabe für eine Aufhebung<br />
des Boykotts bieten können. Denn als<br />
Referenzrahmen für die Einheitsregierung<br />
nennt die Plattform die Resolutionen des<br />
Palästinensischen Nationalrats seit 1988 und<br />
die seit 1993 zwischen Israel und der PLO<br />
geschlossenen Abkommen sowie die Reso-<br />
AKTUELL 19<br />
lutionen der Arabischen Liga aus den <strong>Jahre</strong>n<br />
2002 bzw. 2007, die allesamt in der einen oder<br />
anderen Form für eine verhandelte Zwei-<br />
Staaten-Regelung als Kern einer Konfliktlösung<br />
eintreten. Darüber hinaus bot das<br />
Regierungsprogramm Israel eine umfassende<br />
Waffenruhe auf der Grundlage von Gegenseitigkeit<br />
an.<br />
Doch offenkundig legten weder Israel noch<br />
der Westen Wert darauf, die Pragmatiker in<br />
der Hamas zu stärken, die dabei sind, eine<br />
Rebellenorganisation zu einer politischen<br />
Partei zu transformieren. 5 Der Boykott wurde<br />
fortgesetzt und mit ihm die Chance vertan, die<br />
darin lag, dass Israel sich erstmals einer wahrhaft<br />
repräsentativen Regierung gegenüber<br />
sah, die Verträge nicht nur schließen, sondern<br />
auch würde durchsetzen können. Die in den<br />
Wahlen unterlegene Fatah deutete diese<br />
Politik als Signal, dass eine Teilung der Macht<br />
mit der Wahlsiegerin nicht im Interesse Israels<br />
und des Westens lag. Daraus eine implizite<br />
Aufforderung zum Putsch abzuleiten, lag nahe.<br />
Im Rückblick nehmen sich die eineinhalb<br />
<strong>Jahre</strong> seit dem Hamas-Sieg bei den Parlamentswahlen<br />
bis zu ihrer Machtübernahme im<br />
Gazastreifen wie die Chronik eines angekündigten<br />
Bürgerkrieges aus. Zwei Tage nach der<br />
Vereidigung der ersten Regierung Ismail<br />
Haniyehs Ende März 2006 gab es bei einem<br />
Schusswechsel in Gaza-Stadt zwischen Mitgliedern<br />
der „Volkswiderstandskomitees“ und<br />
Angehörigen der palästinensischen Sicherheitskräfte<br />
die ersten Toten. In den folgenden<br />
Monaten eskalierte die Gewalt und rief<br />
schließlich Saudi-Arabien auf den Plan, das<br />
den erstarkenden Einfluss Irans auf die Hamas<br />
fürchtete. Die im Februar 2007 in Mekka vereinbarte<br />
Teilung der Macht 6 gewährte jedoch<br />
nur eine kurze Atempause – die Einheitsregierung,<br />
die den drohenden „Bruderkrieg“<br />
abwenden sollte, hielt gerade mal drei Monate.<br />
Kern der Auseinandersetzungen war die<br />
Kontrolle über den Sicherheitsapparat. Mit<br />
der Ernennung Mohammed Dahlans zum<br />
Chef des Nationalen Sicherheitsrates, dem die<br />
Aufsicht über alle Sicherheitseinrichtungen in<br />
den palästinensischen Gebieten obliegt, setzte
20<br />
Margret Johannsen: Palästina: Zwei Regierungen und kein Staat<br />
Abbas seinen Anspruch auf die Konzentration<br />
der Staatsgewalt beim Präsidialamt zunächst<br />
durch. Dass er ausgerechnet Dahlan mit dieser<br />
Funktion betraut hatte, dürfte das Ende der<br />
Einheitsregierung beschleunigt haben. Als<br />
Chef der Präventiven Sicherheit, einer Art Geheimer<br />
Staatspolizei der PA, betrieb Dahlan in<br />
den 19<strong>90</strong>er <strong>Jahre</strong>n die gnadenlose Verfolgung<br />
der Hamas. Später galt er als Kopf der Pro-<br />
Fatah-Milizen im Gazastreifen. In Israel wie in<br />
der US-Administration genoss Dahlan große<br />
Sympathien 7 – vor allem in Washington galt<br />
der 46-jährige als Repräsentant der „jungen<br />
Garde“ der Fatah und Hoffnungsträger nach<br />
einem Generationswechsel in der Führung der<br />
säkularen Nationalbewegung. Die Hamas<br />
hatte also gute Gründe, ihren alten Widersacher<br />
auch in seinem neuen Amt zu fürchten.<br />
Dass Abbas’ Präsidentengarde mit Geld und<br />
Ausbildungshilfe aus Washington verstärkt<br />
wurde, dass eine neue Fatah-Miliz unter Führung<br />
Dahlans für den Einsatz im Gazastreifen<br />
entstand, dass Fatah-Kämpfer in Ägypten trainiert<br />
und mit Billigung Israels in den<br />
Gazastreifen geschleust wurde, verschärfte die<br />
Spannungen zwischen den bewaffneten Kräften<br />
der rivalisierenden Koalitionspartner. Am<br />
12. Juni kamen die Exekutivkräfte der Hamas,<br />
eine von ihr als Gegengewicht zu den Fatahdominierten<br />
Polizeikräften aufgebaute Truppe,<br />
dem befürchteten Putsch der Fatah zuvor<br />
und brachten den Sicherheitsapparat in einem<br />
generalstabsmäßig geplanten Feldzug in ihre<br />
Gewalt. Ihr militärischer Sieg kostete Dahlan<br />
den Job.<br />
Seit der Machtübernahme der Hamas im<br />
Gazastreifen sind die palästinensischen Autonomiegebiete<br />
nicht nur territorial, sondern<br />
auch politisch zweigeteilt. Die Regierung Fayyads,<br />
die ihre Basis in der Westbank hat, erhielt<br />
umgehend die Anerkennung Israels, der USA<br />
und der EU und die Zusage, sie mit Geld und<br />
Gesten guten Willens zu stärken. Die<br />
Regierung Haniyehs, die im Gazastreifen<br />
herrscht, wird weiterhin in der Erwartung boykottiert,<br />
dass die Palästinenser unter dem<br />
Druck von Not und Hoffnungslosigkeit ihren<br />
Irrtum vom Januar 2006 korrigieren, sich von<br />
der geächteten Hamas abwenden und der abgewählten<br />
Fatah eine neue Chance geben.<br />
Nach der Absetzung der Einheitsregierung<br />
regierte Abbas zunächst per Dekret, erhielt<br />
allerdings die Unterstützung des PLO-Zentralrats.<br />
Die von der Fatah dominierte PLO<br />
und ihre Organe besitzen nach der Lesart des<br />
Präsidenten eine höhere Legitimität als der<br />
Legislativrat, weil sie nicht nur die Palästinenser<br />
in den besetzten Gebieten, sondern auch<br />
die in der Diaspora lebenden repräsentieren.<br />
Während das Machtteilungsarrangement von<br />
Mekka noch vorgesehen hatte, dass die Hamas<br />
der PLO beitritt, ist hiervon unter den neuen<br />
Bedingungen der vertieften politischen Spaltung<br />
vorerst nicht mehr die Rede. Richtet man<br />
den Blick über Palästina hinaus auf die gesamte<br />
Region, so könnte noch mehr auf der<br />
Strecke geblieben sein: Das Experiment einer<br />
zur Integration in die Politik bereiten Variante<br />
des politischen Islam, durch freie Wahlen in<br />
Regierungsverantwortung zu gelangen, sich<br />
den demokratischen Spielregeln zu unterwerfen<br />
und trotz Wahlsieg die Macht mit den<br />
Verlierern zu teilen, ist vorerst gescheitert.<br />
Wird sich der „Bruderkrieg“ in der Westbank<br />
wiederholen? Vermutlich nicht. Zwar ist<br />
die Hamas auch in der Westbank populär.<br />
Aber sie ist politisch geschwächt, weil ein Teil<br />
ihrer zivilen Führungspersönlichkeiten (Minister,<br />
Abgeordnete, Bürgermeister) in Haft ist;<br />
ihr militärischer Flügel kann zudem angesichts<br />
der israelischen Militärpräsenz nur im Untergrund<br />
operieren. Für ein Show-down mit der<br />
Fatah sind dies schlechte Voraussetzungen.<br />
Auch umgekehrt kann bezweifelt werden, dass<br />
die Fatah den offenen Kampf mit der Hamas<br />
sucht. Zwar ist die Fatah in der Westbank besser<br />
verankert als im Gazastreifen, aber eine<br />
kohärente Bewegung ist sie nicht – weder an<br />
der Basis noch im Zentralkomitee ist die<br />
Entscheidung der Führung, im Gazastreifen<br />
die militärische Machtprobe mit der Hamas zu<br />
wagen, unumstritten. 8 Schließlich besteht die<br />
Krise der Fatah fort, die zu ihrer Wahlniederlage<br />
geführt hat; in weiten Teilen der Bevölkerung<br />
wirft man ihr Verknöcherung, Lagerkämpfe,<br />
Nepotismus, Korruption und Inef-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
fizienz vor. Der Fatah stehen natürlich noch<br />
andere Mittel als eine erneute militärische<br />
Machtprobe zur Verfügung, um sich der<br />
Konkurrentin in der Westbank zu entledigen.<br />
Die Sicherheitskräfte der PA, unterstützt von<br />
Fatahs Al-Aqsa Märtyrer Brigaden, haben<br />
damit begonnen, die Hamas-Strukturen zu<br />
zerschlagen, um, wie es heißt, eine Machtübernahme<br />
der Hamas in der Westbank zu verhindern.<br />
9 Überdies versorgen sie den israelischen<br />
Geheimdienst mit Informationen über vermeintliche<br />
Terroranschläge und deren Drahtzieher<br />
und sorgen auf diese Weise für eine weitere<br />
Dezimierung ihrer Widersacher. 10<br />
Wie kann es weitergehen? Israel scheint<br />
entschlossen, eine Wiederannäherung von<br />
Westbank und Gazastreifen zu torpedieren<br />
und verlangt von der EU dafür zu sorgen, dass<br />
niemand aus der internationalen Gebergemeinschaft<br />
die Isolierung des Gazastreifens<br />
durchbricht. 11 Die Westbank hingegen erhält<br />
eine Vorzugsbehandlung. Ministerpräsident<br />
Ehud Olmert hat angekündigt, schrittweise die<br />
seit Januar 2006 einbehaltenen Zoll- und<br />
Mehrwertsteuereinnahmen, insgesamt eine<br />
Summe von rund 700 Millionen US-Dollar,<br />
freizugeben und Anfang Juli wurde eine erste<br />
Rate von 118 Millionen US-Dollar an die PA<br />
überwiesen. Weitere Zahlungen kann Abbas<br />
nur erwarten, wenn er sich bewährt und vor<br />
allem keinen Versuch einer Versöhnung mit<br />
Hamas unternimmt. Von nahezu 11 000 palästinensischen<br />
Gefangenen entließ Israel 256<br />
vorzeitig aus der Haft. Es handelte sich überwiegend<br />
um Fatah-Mitglieder. Außerdem traf<br />
Israel Vorbereitungen, einige der rund 550<br />
Straßensperren und Kontrollpunkte in der<br />
Westbank zu beseitigen. Wie umfangreich die<br />
Erleichterung für den Personen- und Güterverkehr<br />
sein wird, ist allerdings ungewiss. Im<br />
Zweifelsfall entscheidet darüber das Militär<br />
nach Maßgabe dessen, was es als israelische<br />
Sicherheitsinteressen definiert. Eine Stärkung<br />
von Präsident Abbas verspricht Olmert sich<br />
auch von Fortschritten auf dem diplomatischen<br />
Parkett, z. B. der Erarbeitung einer Prinzipienerklärung<br />
über „die Konturen“ eines<br />
künftigen palästinensischen Staates, allerdings<br />
AKTUELL 21<br />
ohne die explosiven Themen wie den Grenzverlauf<br />
oder das Schicksal der Flüchtlinge anzusprechen.<br />
12 Derart umworben wehrte Abbas<br />
zunächst alle Avancen der abgesetzten Regierung<br />
ab, den Riss zu kitten. Haniyeh hatte<br />
eine Wiederauflage des Arrangements zur<br />
Teilung der Macht unter Einbeziehung des<br />
Sicherheitsapparates vorgeschlagen; Abbas<br />
hingegen bestand auf einer Rückkehr zum<br />
Status quo ante als Vorbedingung für jeglichen<br />
Dialog.<br />
Auf die Frage, wie eine Zwei-Staaten-Regelung<br />
mit einem geographisch und politisch<br />
geteilten Palästina gefunden werden kann, hält<br />
bisher niemand eine Antwort bereit. Glaubwürdige<br />
Verhandlungen darüber sind nur auf<br />
der Basis eines Minimalkonsenses unter den<br />
Palästinensern möglich. Ohne die Mitwirkung<br />
der Hamas wird es für Israel auch keine glaubwürdigen<br />
Sicherheitsgarantien geben können –<br />
eine Vorbedingung für dessen Zustimmung zu<br />
einem Abzug aus den besetzten Gebieten und<br />
die Konstituierung eines palästinensischen<br />
Staates. Wenn eine Zwei-Staaten-Regelung<br />
noch auf der Agenda stehen sollte, ist darum<br />
ein zweiter Anlauf zur Bildung einer Regierung<br />
der nationalen Einheit unerlässlich –<br />
und mittelfristig der Beitritt der Hamas zur<br />
PLO. Erst eine um die moderaten Vertreter des<br />
politischen Islam erweiterte PLO wäre legitimiert,<br />
im Namen des palästinensischen Volkes<br />
ein „Ende des Konflikts“ zu deklarieren.<br />
Ob allerdings die Vision von zwei Staaten –<br />
Israel und Palästina – in sicheren Grenzen<br />
überhaupt noch eine realistische Perspektive<br />
zur Lösung des Nahost-Konflikts darstellt, ist<br />
keineswegs klar. Sollte es bei der Spaltung zwischen<br />
Westbank und Gazastreifen bleiben, so<br />
ist damit zu rechnen, dass an die Stelle einer<br />
abschließenden Regelung Interimsvereinbarungen<br />
zwischen Israel und der Westbank<br />
unter einer Führung treten, die sich vom<br />
bewaffneten Widerstand (Muqawama) verabschiedet<br />
hat. 13 Wenn diese Führung mit ihrem<br />
Verhandlungskurs scheitert, bleibt immer<br />
noch die Rückkehr zu dem Konzept der<br />
„Standhaftigkeit“ (Sumud), namentlich dem<br />
Festhalten am Land. 14 Der Widerstand der im
22<br />
Margret Johannsen: Palästina: Zwei Regierungen und kein Staat<br />
bewaffneten Befreiungskampf Geschlagenen<br />
kann dann z. B. Formen annehmen, wie sie aus<br />
den späten 1970er <strong>Jahre</strong>n in Erinnerung sind,<br />
als von einem Transfer von „Autorität“ an die<br />
Palästinenser noch keine Rede war. Damals<br />
entwickelten soziale Bewegungen in Bereichen<br />
wie Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft<br />
und Kultur Strategien zur Abkoppelung von<br />
der Besatzung. 15 Diese Form von „friedlicher<br />
Koexistenz“ der beiden Völker unter dem<br />
Dach eines im besten Fall benevolenten<br />
Besatzers würde Israel allerdings nicht aus der<br />
so genannten demographischen Falle befreien,<br />
die es vor die Wahl stellt, entweder seinen jüdischen<br />
Charakter aufzugeben oder ein Apartheidstaat<br />
zu werden.<br />
Für die Zukunft des Gazastreifens verheißt<br />
ein solches Szenario nichts Gutes. Dessen<br />
Führung hält vorerst an dem Konzept des legitimen<br />
Befreiungskampfes fest, wie es die in der<br />
UNO versammelte Staatengemeinschaft einst<br />
der palästinensischen Nationalbewegung zubilligte.<br />
Allerdings will der „Krieg gegen den<br />
Terror“ diesem Konzept die internationale<br />
Legitimität endgültig entziehen und einen<br />
Prozess zum Abschluss bringen, der mit dem<br />
Zerfall der Bipolarität in den 19<strong>90</strong>er <strong>Jahre</strong>n<br />
begann. Wenn der im Gazastreifen regierenden<br />
Hamas nun aber die Alternative versperrt<br />
bleibt, am Bau eines anerkannten palästinensischen<br />
Staates mitzuwirken, dann könnte das<br />
gescheiterte national-religiöse Projekt einer<br />
dritten Variante des politischen Islam weichen.<br />
Bereits <strong>heute</strong> muss Hamas sich im Gazastreifen<br />
mit Dschihadisten auseinander setzen,<br />
die al-Qaida nahe stehen und in dem übervölkerten<br />
Küstenstreifen von der Größe des<br />
Bundeslandes Bremen ihre Vorstellungen von<br />
Ordnung und Sitte mit Gewalt durchzusetzen<br />
trachten. Bekanntlich bieten gescheiterte Staaten<br />
terroristischen Netzwerken vom Schlage<br />
Al-Qaidas Operationsräume und versorgen<br />
sie mit Nachwuchs. Allerdings wäre der Gazastreifen<br />
im Ernstfall ungleich leichter als<br />
Afghanistan und der Irak von den Kämpfern<br />
des globalen Dschihad zu säubern. Will sich<br />
die EU wirklich darauf verlassen, dass Israel<br />
für sie dieses schmutzige Geschäft erledigt?<br />
1 Vgl. taschkil dschihaz istichbarati dschadid fi qita’ ghaza<br />
ya’amalu ‘ala hamayia al-aman ad-dachili (Aufbau eines<br />
neuen Nachrichtenapparats im Gaza-Streifen zur<br />
Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit), in: Al-Quds al-<br />
Arabi, 31.7.2007, www.alquds.co.uk/archives/2007/07Jul/<br />
31JulTue/qds05.pdf.<br />
2 So der Schweizer Bischof Pierre Bürcher bei einer Reise in<br />
das Heilige Land im Januar 2007, www.oessh.ch/seite74<br />
.htm.<br />
3 Vgl. Margret Johannsen, Frieden durch Diktat? Der lange<br />
Abschied von einer Verhandlungslösung im Palästina-<br />
Konflikt, in: Reinhard Mutz et al. (Hg.), Friedensgutachten<br />
2006, Münster 2006, S. 55-64.<br />
4 The Program of the National Unity Government, March<br />
2007, www.jmcc.org/politics/pna/nationalgovprog.htm.<br />
5 Vgl. Helga Baumgarten: Hamas. Der politische Islam in<br />
Palästina, München 2006.<br />
6 Vgl. Margret Johannsen, Vom Bürgerkrieg zur Koalition<br />
der Nationalen Einheit, in: Marxistische Blätter, 2/2007, S.<br />
19-23.<br />
7 Vgl. DEBKAfile, Hamas Pulls Ahead of Dahlan’s Forces<br />
in Gaza, 2. Februar 2007, http://debka.com/article.<br />
php?aid=1252.<br />
8 Vgl. Mark Perry, The Palestinian question: What now?,<br />
Conflicts Forum, 18. Juni 2007, http://conflictsforum.org/.<br />
9 Khaled Amayreh, Stonewalling in Ramallah, Al-Ahram<br />
Weekly, 5.-11.7.2007, http://weekly.ahram.org.eg/2007/<br />
852/re2.htm.<br />
10 Fatah and Israel / Allies, Inc., Haaretz, 27.7.2007, www.haaretz.com/hasen/spages/886740.html.<br />
11 Vgl. Barak Ravid, Livni to Solana: aid to PA must be apolitical,<br />
Haaretz, 22.7.2007, www.haaretz.com/hasen/spages/884494.html.<br />
12 Vgl. Aluf Benn et al., Olmert seeks outline of deal with PA<br />
before peace summit, Haaretz, 2.8.2007, www.haaretz.com/<br />
hasen/spages/888924.html.<br />
13 Vgl. Report: ‚Armed struggle’ excluded from PA government<br />
platform for the first time, Haaretz, 27.7.2007,<br />
www.haaretz.com/hasen/spages/886999.html.<br />
14 Vgl. Meron Benvenisti, Déjà vu, in: Haaretz, 3.8.2007,<br />
www.haaretz.com/hasen/spages/889392.html.<br />
15 Vgl. Dina Craissati, Social Movements and Democracy in<br />
Palestine: Politicization of Society or Civilization of<br />
Politics?, in: Orient, 1/1996, S. 11-136.
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Marc Chagall: Friede den Hütten, Krieg den Palästen!<br />
Tafelentwurf zur festlichen Auschmückung von Witebsk. 1918/1919<br />
AKTUELL 23
24<br />
<strong>Revolutionstheorie</strong> <strong>heute</strong><br />
<strong>90</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Oktoberrevolution</strong><br />
In seiner Arbeit „Die Klassenkämpfe in Frankreich“ schreibt Marx: „Die Revolutionen sind<br />
die Lokomotiven der Geschichte“. Mehr als für alle vorangegangenen Revolutionen gilt<br />
dies für die sozialistische <strong>Oktoberrevolution</strong> in Russland 1917. Sie war die erste siegreiche<br />
Revolution, in deren Ergebnis nicht eine Ausbeuterordnung durch eine andere abgelöst,<br />
sondern das Tor zu einer Gesellschaft ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen<br />
aufgestoßen wurde. Die Bedeutung dieses Fortschrittssprungs in der Entwicklung der<br />
menschlichen Gesellschaft kann auch durch den zeitweiligen Sieg der Konterrevolution<br />
nicht aufgehoben werden.<br />
Obwohl er noch in den Kinderschuhen steckte, hat der Sozialismus den Menschen in der<br />
Sowjetunion und den im Gefolge des Oktober entstandenen anderen sozialistischen<br />
Ländern bereits gewaltige soziale Errungenschaften gebracht: das Recht auf Arbeit, soziale<br />
Geborgenheit, Bildung für alle u. a. Unter dem Einfluss des Oktober wurde das imperialistische<br />
Kolonialsystem zum Einsturz gebracht. Und auch die von der Arbeiterbewegung in<br />
den imperialistischen Metropolen erkämpften sozialen und demokratischen Reformen<br />
hängen untrennbar mit dem Schock zusammen, den der Oktober und seine Folgen der<br />
Bourgeoisie versetzte. Zu seiner Bilanz gehört nicht zuletzt die konsequente Friedenspolitik<br />
des Sozialismus.<br />
Die Bourgeoisie nutzt die Niederlage des Sozialismus für soziale Revanche. Seine Errungenschaften<br />
werden geschleift, die in den Metropolen erkämpften Reformen zurückgerollt und<br />
die Entwicklungsländer noch rigoroser ausgeplündert. Die Repression im Innern wächst.<br />
Imperialistische Kriege sind zu einer permanenten Erscheinung geworden. Zugleich vollziehen<br />
sich mit den revolutionären Umbrüchen in der Produktivkraftentwicklung und der als<br />
Globalisierung bezeichneten neuen Stufe kapitalistischer Internationalisierung bedeutende<br />
Wandlungen in den Strukturen und Produktionsverhältnissen des imperialistischen<br />
Kapitalismus.<br />
Als Marxisten sind wir gefordert, aus diesen Veränderungen Schlussfolgerungen für die<br />
Weiterentwicklung unserer Theorie und Praxis im Kampf um die Überwindung des Kapitalismus<br />
zu ziehen. Das gilt auch für die marxistische <strong>Revolutionstheorie</strong>. Einige ihrer<br />
Aspekte werden im Schwerpunkt dieses Heftes aus Anlass des <strong>90</strong>. Jubiläums der <strong>Oktoberrevolution</strong><br />
auf den Prüfstand gestellt.
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Clara Zetkin über die<br />
<strong>Oktoberrevolution</strong> und<br />
die sozialistische<br />
Perspektive*<br />
Heinz Karl<br />
Zum 10. <strong>Jahre</strong>stag der <strong>Oktoberrevolution</strong><br />
schrieb Clara Zetkin: „Ein Beben ging durch<br />
die blutdampfende Welt, als Anfang November<br />
1917 die Meldung sie durchflog: In Russland<br />
haben die Arbeiter, geführt von der bolschewistischen<br />
Partei, unterstützt von den<br />
Bauern, in revolutionärem Kampfe die Staatsmacht<br />
erobert und in der neuen Staatsform<br />
der Sowjetordnung die Diktatur des Proletariats<br />
aufgerichtet ... Die trockene Nachricht<br />
kündete die von den Altmeistern des wissenschaftlichen<br />
Sozialismus klar vorausgesehene<br />
entscheidende Weltwende der Menschheitsgeschichte,<br />
kündete ein revolutionäres Geschehen<br />
von tieffurchender Tragweite.“ 1 Und<br />
bei ihrem letzten öffentlichen Auftreten, am 8.<br />
März 1933, bekräftigte Clara Zetkin: „Keine<br />
Macht der Welt kann die unsterbliche Bedeutung<br />
des Sowjetstaates aus der Geschichte tilgen.“<br />
2 Heute gibt es diesen Staat nicht mehr.<br />
Gilt Clara Zetkins Wertung dennoch? Ich<br />
denke, sie gilt nach wie vor.<br />
Dies unterstreicht auch Eric Hobsbawm,<br />
einer der bedeutendsten Historiker unserer<br />
Zeit, wenn er schreibt: „Die <strong>Oktoberrevolution</strong><br />
brachte die gewaltigste Revolutionsbewegung<br />
der modernen Geschichte hervor.“<br />
Sie mit der größten bürgerlichen Revolution,<br />
der Französischen Revolution von 1789, vergleichend,<br />
bescheinigt Hobsbawm der <strong>Oktoberrevolution</strong><br />
„ein sehr viel stärkeres und<br />
globaleres Echo als ihre(r) Vorgängerin. ... die<br />
faktischen Auswirkungen von 1917 waren bei<br />
weitem größer und anhaltender als die von<br />
1789.“ 3 Hobsbawm verweist auf ein entscheidendes<br />
Element dieser Einschätzung: „Der<br />
Sieg der Sowjetunion über Hitler war die<br />
Leistung jenes Regimes, das mit der Okto-<br />
THEMA 25<br />
berrevolution etabliert worden war ... Ohne<br />
die <strong>Oktoberrevolution</strong> bestünde die Welt<br />
(außerhalb der USA) <strong>heute</strong> wahrscheinlich<br />
eher aus einer Reihe von autoritären und<br />
faschistischen Varianten als aus einem Ensemble<br />
unterschiedlicher liberaler, parlamentarischer<br />
Demokratien.“ 4<br />
Die <strong>Oktoberrevolution</strong> 1917 bildete einen<br />
Knotenpunkt im Leben und Wirken Clara<br />
Zetkins. Dieses war in zwei historischen<br />
Epochen verankert. Vor dem Oktober 1917<br />
lagen – seit ihrem Eintritt in die Sozialistische<br />
Arbeiterpartei 1878 – fast vier Jahrzehnte<br />
politischen und theoretischen Kampfes in den<br />
Reihen der sozialistischen Bewegung. Franz<br />
Mehring sagt von ihr, dass „in der Kenntnis<br />
der marxistischen Theorie wenige Lebende<br />
sich mit Clara Zetkin messen können und<br />
sicherlich keiner ihr darin überlegen ist“. 5 Wie<br />
Rosa Luxemburg stand sie unwandelbar auf<br />
dem linken Flügel der Partei und bekämpfte<br />
unablässig die theoretischen und politischen<br />
Positionen, die in der sozialistischen Bewegung<br />
als „Revisionismus“ und „Reformismus“<br />
charakterisiert wurden. Mit August Bebel,<br />
Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Wilhelm<br />
und Karl Liebknecht und jahrzehntelang<br />
auch mit Karl Kautsky teilte sie die<br />
Auffassung, dass die bürgerliche Gesellschaft<br />
durch die proletarische Revolution überwunden<br />
werden müsse und diese aus einer wirklich<br />
tiefgehenden und umfassenden Krise dieser<br />
Gesellschaft hervorgehen könnte.<br />
Folgerichtig wertete sie die <strong>Oktoberrevolution</strong><br />
sofort als proletarische Revolution,<br />
als historischen Wendepunkt. Für<br />
Clara Zetkin war diese Revolution, die sie seit<br />
Jahrzehnten theoretisch antizipiert hatte, in<br />
der sie das Ziel ihrer politischen Tätigkeit<br />
erblickte, deren Ausbruch in Russland sie seit<br />
1<strong>90</strong>5 für möglich gehalten hatte, mit der die<br />
internationalen Beschlüsse von Stuttgart 1<strong>90</strong>7<br />
und Basel 1912 rechneten – für Clara war<br />
diese jetzt als Russische <strong>Oktoberrevolution</strong><br />
ins Leben getretene Revolution ein politisches<br />
und geistiges Schlüsselerlebnis.<br />
Die <strong>Oktoberrevolution</strong> war für sie – wie sie<br />
in einem Statement zu deren 10. <strong>Jahre</strong>stag
26<br />
Heinz Karl: Clara Zetkin – <strong>Oktoberrevolution</strong> und die sozialistische Perspektive<br />
erklärte – „das geschichtliche Reifezeugnis<br />
des Weltproletariats für seine Emanzipation“.<br />
6 Seit 1917 erörtert Clara Zetkin im<br />
Grunde kein wesentliches politisches oder<br />
theoretisches Problem ohne Bezug auf die<br />
<strong>Oktoberrevolution</strong> und deren Wirkungen.<br />
Ein Sieg der Bolschewiki!<br />
Bei den führenden Köpfen der Spartakusgruppe<br />
fand der Russische Oktober sofort ein<br />
starkes, zustimmendes Echo. Rosa Luxemburg<br />
feierte ihn Mitte November als „eine<br />
weltgeschichtliche Tat, deren Spur in Äonen<br />
nicht untergehen wird“ 7 . Aber ihre Begeisterung<br />
war gemischt mit Skepsis: „Natürlich<br />
werden sie sich ... nicht halten können ...“ 8 –<br />
und bald auch mit Unverständnis für den bolschewistischen<br />
„Friedensfanatismus“ 9 . Für<br />
Karl Liebknecht stand der „ungeheure Prozess<br />
der sozialen und wirtschaftlichen Revolutionierung<br />
Russlands ... im Beginn, vor unbegrenzten<br />
Möglichkeiten – weit größern als die<br />
Große Französ. Revolution“ 10 . In der Sowjetregierung<br />
erblickte er die Diktatur des Proletariats<br />
11 , hatte aber auch sein Problem mit der<br />
bolschewistischen Friedenspolitik 12 . „Die russische<br />
Revolution hat das Signal einer besseren<br />
Zukunft gegeben“ erklärte Franz Mehring.<br />
Er rügte „den Kleinmut“ derer, „die dem<br />
Wahne huldigen, durch einen Sonderfrieden<br />
entleibe die russische Revolution sich selbst“,<br />
fand es aber andererseits doch auch „zu<br />
beklagen, wenn sich die russische Revolution<br />
zu einem Sonderfrieden mit den Mittelmächten<br />
bereit erklärt“. 13<br />
Clara Zetkin sah schärfer und weiter. Bereits<br />
wenige Tage nach der Proklamation der<br />
Sowjetmacht am 9. November äußert sie sich<br />
(am 16. November 1917) in der Frauenbeilage<br />
der „Leipziger Volkszeitung“. Sie qualifiziert<br />
das Ereignis als „Triumph der konsequent<br />
festgehaltenen und durchgeführten grundsätzlichen<br />
und taktischen Auffassung der<br />
Bolschewiki“ 14 , welche die Diktatur des Proletariats<br />
angestrebt hätten. Diese hätten sich<br />
durchgesetzt, weil die Regierungsparteien einschließlich<br />
der Sozialrevolutionäre und der<br />
Menschewiki sich als vollkommen unfähig erwiesen,<br />
die vor der Revolution stehenden<br />
Aufgaben – namentlich das Friedensproblem<br />
und die Agrarfrage – zu lösen. Es zeigt sich<br />
hier eine bemerkenswerte Übereinstimmung<br />
mit der Einschätzung der Dinge, wie sie –<br />
allerdings ein Dreivierteljahr später – Rosa<br />
Luxemburg in ihrer Niederschrift „Zur russischen<br />
Revolution“ gibt. 15 Klarsichtig erkannte<br />
Clara Zetkin in der unbedingten und raschesten<br />
Herbeiführung des Friedens die Frage von<br />
Sein oder Nichtsein der Revolution, „die<br />
Kraftprobe der Reife und Macht“ 16 der revolutionären<br />
Bewegung und wichtigste internationale<br />
Wirkung der Revolution.<br />
In einem Artikel vom 30. November bekräftigte<br />
und konkretisierte Clara Zetkin ihre<br />
Einschätzung des Charakters der <strong>Oktoberrevolution</strong>.<br />
Zugleich setzte sie sich mit Auffassungen<br />
auseinander, die aus der sozialökonomischen<br />
und kulturellen Rückständigkeit<br />
Russlands ein zwangsläufiges Scheitern der<br />
Revolution folgerten, 17 wiederum in frappierendem<br />
Gleichklang mit Rosa Luxemburgs<br />
entsprechender Polemik gegen Kausky. 18 Wie<br />
Rosa in ihren Notizen vom Herbst 1918 wandte<br />
Clara Zetkin sich dagegen, die Frage der<br />
revolutionären Reife nur auf Grund der<br />
genannten Faktoren, nicht unter Beachtung<br />
der konkreten historischen und nationalen<br />
Bedingungen, sondern unter Verabsolutierung<br />
westlicher Maßstäbe und ohne gebührende<br />
Berücksichtigung des subjektiven Faktors<br />
zu beantworten.<br />
Bei aller Betonung der Schwierigkeiten<br />
zweifelt sie nicht daran, dass es der Sowjetmacht<br />
gelingen werde, sich zu behaupten.<br />
Diese Zuversicht korrespondiert mit ihrer<br />
Wertung der Sowjetmacht als erstmaliger<br />
Verwirklichung der Diktatur des Proletariats<br />
seit der Pariser Kommune. Gilbert Badia<br />
bemängelt in seiner Zetkin-Biographie, dass<br />
Clara die Errichtung der Sowjetmacht „ohne<br />
Vorbehalte von Anfang an gebilligt und verteidigt“<br />
19 hat, ebenso, dass sie von Anfang an<br />
den Leninschen Kurs auf unverzügliches Ausscheiden<br />
aus dem imperialistischen Krieg<br />
unterstützt. Doch in diesen Haltungen offen-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
bart sich ja gerade das außergewöhnliche politische<br />
und theoretische Format Clara Zetkins.<br />
Badia führt Claras Entschiedenheit neben<br />
politischen Motiven auch wesentlich auf<br />
gefühlsmäßige Momente zurück, wie „persönliche<br />
Verzweiflung“, die sie durch „politische<br />
Hoffnung“ zu kompensieren bemüht war. 20<br />
Eine solche Betrachtung, für die es in<br />
ihrem politischen Wirken keine realen<br />
Anhaltspunkte gibt, wird Clara Zetkin in keiner<br />
Weise gerecht. Ihren Urteilen lagen<br />
gründliche historisch-materialistische Einschätzungen<br />
der politischen Kräfte und der<br />
Kräfteverhältnisse zugrunde, die – wie die<br />
weitere Entwicklung ja mit aller Deutlichkeit<br />
zeigte – realistisch waren, auf einer gekonnten<br />
theoretischen Analyse fußten.<br />
„... für Rosa & die<br />
russische Revolution ...“<br />
Ende 1921/Anfang 1922 verfasste Clara Zetkin<br />
eine ihrer umfangreichsten Arbeiten: Um<br />
Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution.<br />
Anlass war, dass Paul Levi (von Dezember<br />
1920 bis Februar 1921 einer der Vorsitzenden<br />
der VKPD und im April 1921 aus<br />
der Partei ausgeschlossen) Ende 1921 Rosa<br />
Luxemburgs bereits erwähnte Niederschrift<br />
„Zur russischen Revolution“ publizierte, die<br />
sie im September/Oktober 1918 im Gefängnis<br />
– vor allem zu ihrer Selbstverständigung – verfasst<br />
hatte. Seinerzeit war nicht nur Leo<br />
Jogiches, sondern auch Paul Levi entschieden<br />
gegen eine Veröffentlichung gewesen. Levi<br />
versah sie mit einer Einleitung, die länger war<br />
als der Luxemburg-Text und seine Absicht<br />
deutlich werden ließ. Sie war von der ersten<br />
bis zur letzten Seite eine demagogische Denunziation<br />
der seit dem Frühjahr 1921 in<br />
Sowjetrussland durchgeführten Neuen Ökonomischen<br />
Politik.<br />
„Seit dem Februar 1921 hat die Politik der<br />
Bolschewiki einen völligen Umschwung erfahren.<br />
Konzession reiht sich an Konzession,<br />
Kompromiss an Kompromiss.“ 24 Lenin weise<br />
jetzt den Weg zur Restauration des Kapitalismus.<br />
„Nicht nur ökonomisch streichen die<br />
THEMA 27<br />
Bolschewiki ihre alten Ziele. Sie tun es auch<br />
ideell.“ 25 Levi begründet das mit Lenins Feststellung,<br />
dass man nicht auf Grund des Enthusiasmus<br />
unmittelbar, sondern auf Grund<br />
des persönlichen Interesses, der persönlichen<br />
Interessiertheit, der wirtschaftlichen Rechnungsführung<br />
gangbare Wege suchen müsse, 26<br />
der Levi dogmatisch Aussagen Lenins von<br />
1918 (!) und 1919 (!) entgegenstellte. Ein anderer<br />
Angriff Levis richtete sich gegen das<br />
Bündnis mit der werktätigen Bauernschaft,<br />
die der Arbeiterklasse „unversöhnlich“ 27<br />
gegenüberstehe; die Bolschewiki aber hätten<br />
sich für die Bauern, gegen die Arbeiter entschieden<br />
28 . Die NÖP bedeute „eine grundsätzliche<br />
Änderung der Sowjetrepublik in jeder<br />
Beziehung“ 29 . „Was also ist von der ‚Diktatur<br />
des Proletariats’ geblieben? Nichts.“ 30 Lenin<br />
gehe zum Kapitalismus wie die SPD zu<br />
Stinnes. Dies wecke Zweifel nicht nur an der<br />
Politik der KPR, sondern am Sozialismus<br />
überhaupt. „Womit sollen die deutschen Arbeiter<br />
Stinnes bekämpfen, wenn er ihnen aus<br />
der ‚Roten Fahne’ den Artikel von Lenin vorliest:<br />
‚Die persönliche Interessiertheit hebt die<br />
Produktion.’“ 31 Levi beschwor Rosa Luxemburg<br />
als Kronzeugin für seine von Dogmatismus<br />
und Antikommunismus getragenen Angriffe<br />
auf die KPR und behauptete, dass ihre<br />
Darlegungen von 1918 „ihr Urteil auch über<br />
die jetzige Politik der Bolschewiki ahnen lassen.“<br />
32 Clara Zetkin bemerkte dazu sarkastisch:<br />
„Zum ‚Ahnenlassen’ als entscheidendes<br />
Moment geschichtlicher Einschätzung fehlen<br />
uns noch Tischklopfen und Aussprüche eines<br />
Mediums als Äußerungen Luxemburgischen<br />
Geistes. Lebte Rosa noch, so würde sie sich<br />
derartigen politischen Spiritismus sehr<br />
unwirsch verbitten.“ 33<br />
Am 21. Januar 1922 teilte Clara Zetkin<br />
ihrem Sohn Maxim mit: „Ich habe zur Antwort<br />
auf Levis Veröffentlichung der ‚Nachlassbroschüre’<br />
Rosas eine große Arbeit gemacht,<br />
eine ganze Broschüre. ... Ich habe sie in<br />
gleicher Liebe für Rosa & die russische Revolution<br />
geschrieben.“ 34 Im Vorwort erläuterte<br />
sie: „Probleme der proletarischen Revolution<br />
bilden den Inhalt meiner Darlegungen.
28<br />
Heinz Karl: Clara Zetkin – <strong>Oktoberrevolution</strong> und die sozialistische Perspektive<br />
... Sie tragen nach meiner Ansicht dazu bei, die<br />
grundsätzlichen Unterschiede der politischen<br />
Einstellung zwischen kleinbürgerlich-demokratischen<br />
Reformsozialisten und revolutionären<br />
Kommunisten scharf hervortreten zu<br />
lassen.“ 35 In ihrer Schrift unterstrich sie Rosa<br />
Luxemburgs grundsätzliches Bekenntnis zur<br />
Politik der Bolschewiki. Sie hob hervor, dass<br />
Rosa sich in der Frage der Konstituante völlig<br />
revidiert hatte und verwahrte sich gegen Levis<br />
Bestreben, Rosas falsche Auffassungen in der<br />
Agrar- und Bündnispolitik gegen die Bolschewiki<br />
auszuspielen. Sie kritisierte Levis<br />
methodologischen Grundfehler des unhistorischen,<br />
undialektischen Herangehens: „Paul<br />
Levi hat die bolschewistische Agrarpolitik als<br />
‚Ding an und für sich’ behandelt, ohne nach<br />
dem geschichtlichen Boden zu fragen, auf<br />
dem sie sich durchsetzen muss.“ 36 Gegen Levis<br />
Hantieren mit abstrakten Demokratievorstellungen<br />
bemerkte sie: „Unbeschadet seines<br />
hehren, idealen Inhalts und Ziels hat es der<br />
wissenschaftliche Sozialismus im Gegensatz<br />
zu dem Utopismus abgelehnt..., ‚ewige sittliche<br />
Prinzipien’ als Grundlage der künftigen<br />
höheren sozialen Ordnung zu betrachten. Ihre<br />
tragende Kraft erblickt er in der Entwicklung<br />
der Produktivkräfte ...“ 37<br />
Erfahrungen und Lehren<br />
des ersten Versuchs<br />
Mit großer Aufmerksamkeit verfolgte Clara<br />
Zetkin den Versuch, die Sowjetrepubliken<br />
über verschiedene Zwischenstufen auf die<br />
Bahn einer sozialistischen Entwicklung zu leiten.<br />
Nachdrücklich verteidigte sie die NÖP als<br />
einen schrittweisen, realistischen Zugang in<br />
Richtung Sozialismus. Auf dem IV. Weltkongress<br />
der Komintern (1922) sagte sie von der<br />
Politik der sowjetischen Kommunisten, sie sei<br />
„der erste Versuch weltgeschichtlichen Maßes,<br />
den Marxismus aus einer Theorie zur Praxis<br />
zu machen, sie ist der erste große weltgeschichtliche<br />
Versuch, das Proletariat vom Objekt<br />
der Geschichte zu ihrem Subjekt zu erheben.“<br />
38 Sie machte damit deutlich, worin die<br />
Anziehungskraft des Sowjetstaates auf Kom-<br />
munisten und Revolutionäre in aller Welt lag,<br />
worauf sich insbesondere die Autorität der<br />
KPR(B) in der Komintern vor allem gründete.<br />
Als wichtigste Lehre der <strong>Oktoberrevolution</strong><br />
und der folgenden sowjetischen Entwicklung<br />
für die internationale Arbeiterbewegung<br />
betrachtete Clara Zetkin die Lösung<br />
der Machtfrage als unumgänglichen Durchgangspunkt<br />
auf dem Wege zum Sozialismus.<br />
Bei allen Erörterungen dieser Problematik<br />
müssen wir uns – so erklärte sie in ihrem Referat<br />
auf dem IV. Weltkongress – „über das<br />
Zentralproblem klarbleiben. Das Zentralproblem<br />
ist die Eroberung und Bewahrung der<br />
politischen Macht, ist die Staatsgewalt in den<br />
Händen des Proletariats. Mit ihr steht und<br />
fällt die Möglichkeit, die Gesellschaft zum<br />
Kommunismus umzuwälzen, und das als Werk<br />
des Proletariats selbst. Der Behauptung der<br />
Staatsmacht durch das Proletariat und für das<br />
Proletariat sind alle anderen Erwägungen<br />
unterzuordnen.“ 39<br />
Sie erläuterte diesen Kerngedanken durch<br />
den Vergleich der Erfahrungen in Russland<br />
und in Deutschland seit 1917/1918. In ihrem<br />
Bemühen, den Weg der <strong>Oktoberrevolution</strong> zu<br />
analysieren, seine Erfahrungen für die internationale<br />
revolutionäre Bewegung auszuwerten,<br />
nutzbar zu machen, widmete Clara sich<br />
natürlich auch dem Verhältnis von Allgemeinem<br />
und Besonderem im Komplex dieser<br />
Erfahrungen. In ihrer Schrift „Um Rosa<br />
Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution“<br />
betonte sie: „In der geschichtlichen<br />
Rechtfertigung der bolschewistischen Politik<br />
– in ihrer großen allgemeinen Linie – liegt<br />
gleichzeitig ihre Begrenzung.“ 40 Die russische<br />
Revolution habe wesentliche Züge des Kampfes<br />
der Klassen um den Sozialismus herausgearbeitet.<br />
„Jedoch das Wie ihrer Durchsetzung<br />
wird zweifellos sehr verschieden sein. Es<br />
hängt ab von dem großen Komplex vielgestaltiger<br />
und vielverschlungener Umstände, die in<br />
den einzelnen Ländern nebeneinander liegen,<br />
gegeneinander streiten und höchste geschichtliche<br />
Aktivität erlangen, wenn der Hammerschlag<br />
der Revolution die überkommenen<br />
sozialen Normen und Bindungen zerstört. Es
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
wird nicht zuletzt bestimmt werden von dem<br />
Reifegrad der kapitalistischen Wirtschaft für<br />
den Kommunismus und durch das Kräfteverhältnis<br />
der miteinander ringenden Klassen.“ 41<br />
„... schwierigste Probleme ...“<br />
Für Clara Zetkin stand es außer Frage, dass<br />
die sozialistische Umgestaltung der Sowjetunion<br />
eine reale Möglichkeit war. Zugleich<br />
war sie bemüht, die ungünstigen, die sozialistische<br />
Perspektive gefährdenden Momente und<br />
die Bedingungen ihrer Überwindung zu erfassen.<br />
Hier verwies sie vor allem auf die ökonomische<br />
und technische Zurückgebliebenheit<br />
des Landes und „in Verbindung damit die verhältnismäßige<br />
Schwäche, Unerfahrenheit,<br />
mangelnde Schulung und geringe Arbeitsdisziplin<br />
des Industrieproletariats, die in der<br />
Vergangenheit verwurzelte Betriebsweise,<br />
Mentalität und Kulturarmut der ungeheuren<br />
Mehrzahl der schaffenden Massen überhaupt“<br />
42 . Im Widerspruch zwischen dem Streben<br />
nach Verwirklichung des Sozialismus und<br />
den außerordentlich ungünstigen objektiven<br />
und subjektiven Voraussetzungen dafür erblickte<br />
Clara Zetkin „die Tragik der russischen<br />
Revolution“ 43 .<br />
Unter den Widersprüchen der Sowjetgesellschaft<br />
erachtete sie den zwischen sozialisierter<br />
Großindustrie und „der ganz überwiegend<br />
primitiven Landwirtschaft“ 46 als von besonderer<br />
Tragweite. Die private Bauernwirtschaft<br />
konserviere die niedrige Produktivität;<br />
zugleich erzeuge sie Kapitalismus und fördere<br />
die soziale Differenzierung. „Nebeneinander,<br />
sich kreuzend und verschlingend, laufen sozialistische<br />
und kapitalistische Entwicklungstendenzen.“<br />
47 Im agrarischen Charakter des<br />
Landes, in der Schlüsselrolle der Getreideernte<br />
und ihres möglichen Exportanteils für<br />
die Akkumulationskraft sah Clara Zetkin<br />
„schwierigste Probleme ..., die die Gefahr<br />
starker wirtschaftlicher, politischer und sozialer<br />
Krisen, das Abdrängen von kommunistischen<br />
Zielen in sich bergen“ 48 .<br />
Ein Ausweg aus dieser überaus komplizier-<br />
THEMA 29<br />
ten Situation eröffnete sich nach Clara Zetkin<br />
nur, wenn entweder die industrielle und proletarische<br />
Basis quantitativ und qualitativ entscheidend<br />
gestärkt würde oder aber von<br />
außen, durch neue Räterepubliken „mit höchster<br />
wirtschaftlicher Entwicklung und höchster<br />
Kultur“ 49 Unterstützung käme.<br />
Ein zweiter Aspekt, den Clara Zetkin<br />
ansprach, sollte sich als äußerst folgenschwer<br />
erweisen. Sie warnte davor, die Lösung der<br />
Machtfrage, so entscheidend sie auch sei, zu<br />
überschätzen, sie mit der sozialistischen<br />
Umwälzung selbst zu verwechseln, zu verkennen,<br />
dass sie nur an deren Aufgaben heranführe,<br />
nur Voraussetzungen zu ihrer Lösung<br />
schaffe. 50 Mit Nachdruck erklärte sie auf dem<br />
IV. Kongress der Komintern, dass „mit der<br />
Eroberung der politischen Macht und mit<br />
ihrer Behauptung das Proletariat noch nicht<br />
über den Berg gekommen ist, sondern erst<br />
dicht vor dem Berge steht. Es muss durch die<br />
Gesamtpolitik und namentlich durch die<br />
Wirtschaftspolitik“ 51 zum Sozialismus gelangen.<br />
Dabei gelte es, schwierige Probleme zu<br />
lösen, insbesondere das Verhältnis zwischen<br />
Stadt und Land, die Beziehungen zwischen<br />
dem Sowjetstaat und den wirtschaftlichen<br />
Organisationen der Werktätigen, den Ge−<br />
werkschaften und Genossenschaften, „zwischen<br />
den produzierenden Arbeitern auf der<br />
einen Seite und den Angestellten, Beamten in<br />
den Betrieben auf der anderen, der Bürokratie<br />
in den zentralen und lokalen Sowjetämtern“<br />
52 .<br />
In diesem Zusammenhang entwickelte<br />
Clara Zetkin den wichtigen Gedanken, dass<br />
die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft<br />
als „eine wirklich umwälzende Sozialreform“<br />
vollzogen werden könne. Ihre Basis<br />
ist „der Staat der fortgeschrittensten Arbeiterschutzgesetzgebung<br />
und sozialen Fürsorge“,<br />
ihre Träger, bewegende Kräfte sind<br />
Gewerkschaften und Genossenschaften.<br />
Diese „haben in Verbindung mit den Sowjetorganen<br />
die Durchführung der Arbeitsgesetzgebung<br />
und sozialen Fürsorge zu überwachen<br />
und ihre weitere, bessere Ausgestaltung zu<br />
bewirken“. 53 Später ergänzte und präzisierte
30<br />
Heinz Karl: Clara Zetkin – <strong>Oktoberrevolution</strong> und die sozialistische Perspektive<br />
sie diesen Gedanken durch die These, dass<br />
„nach der Machteroberung ... Reformen und<br />
Demokratie zu Bausteinen der sozialistischen<br />
Ordnung“ 54 werden. Diese Überlegungen korrespondierten<br />
mit Lenins Vorstellungen über<br />
die notwendige Entwicklung einer lebendigen<br />
sozialistischen Demokratie und über die Rolle<br />
des Genossenschaftswesens als einer Schlüsselfrage<br />
des sozialistischen Aufbaus, die er von<br />
der Gewerkschaftsdiskussion Ende 1920 bis<br />
zu seinen letzten Artikeln und Notizen 1923<br />
immer nachdrücklicher vorgetragen hatte.<br />
Diese von Clara Zetkin offensichtlich geteilten<br />
Vorstellungen wiesen den – nach Lenins<br />
Tod nur sehr inkonsequent, mit ganz wesentlichen<br />
Abstrichen und teilweise deformiert<br />
weiter gegangenen - Weg einer schrittweisen,<br />
realistischen, wissenschaftlich begründeten<br />
sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft.<br />
Um die sozialistische Perspektive<br />
Im Zusammenhang mit der Wiederherstellung<br />
der Volkswirtschaft in der UdSSR und<br />
der kapitalistischen Stabilisierung spitzten<br />
sich Mitte der Zwanzigerjahre die Debatten<br />
über die Perspektiven des sozialistischen<br />
Aufbaus zu. Nikolai Bucharin hatte 1920 in<br />
seinem Buch „Ökonomik der Transformationsperiode“<br />
die Perspektive einer Stärkung<br />
und Vermehrung der Sowjetstaaten entworfen<br />
55 . Danach hatte sich die revolutionäre<br />
Entwicklung verlangsamt. Auf dem IV. Weltkongress<br />
der KI (November/Dezember 1922)<br />
ging von den vier Referenten zum Thema<br />
„Fünf <strong>Jahre</strong> russische Revolution und die<br />
Perspektiven der Weltrevolution“ (W. I.<br />
Lenin, Clara Zetkin, Béla Kun, Leo Trotzki)<br />
letzterer besonders auf die ökonomischen<br />
Probleme ein. Er konstatierte, dass hinter dem<br />
Privatkapital der NÖP das Weltkapital stehe.<br />
Das Staatsmonopol sei „der Schutz gegen den<br />
Kapitalismus, der den beginnenden Sozialismus<br />
aufkaufen will“. 56 Trotzki fügte hinzu,<br />
dass „wir nicht mit der Ewigkeit rechnen,<br />
sondern mit einer gewissen geschichtlichen<br />
Periode, bis die großen westlichen Reserven,<br />
die zur Avantgarde werden müssen, auf die<br />
Bühne kommen.“ 57 „Wenn die kapitalistische<br />
Welt aber noch mehrere Jahrzehnte existiert,<br />
nun ja, – dann würde dies für das sozialistische<br />
Russland das Todesurteil bedeuten.“ 58<br />
Diesen Aussagen von großer Tragweite<br />
wurde von niemandem – weder direkt noch<br />
indirekt – widersprochen. Sie brachten offenbar<br />
die allgemeine Auffassung dieser Problematik<br />
zu Ausdruck.<br />
Drei <strong>Jahre</strong> später war mit der kapitalistischen<br />
Stabilisierung die Situation noch komplizierter,<br />
die Frage der Perspektive noch<br />
drängender geworden. Die Mehrheit der<br />
KPR(B), repräsentiert durch den Generalsekretär<br />
des ZK, Josef Stalin, den sowjetischen<br />
Regierungschef, Alexej Rykow, den angesehensten<br />
Theoretiker der Partei und der Komintern,<br />
Nikolai Bucharin, den Gewerkschaftsvorsitzenden,<br />
Michail Tomski und das Staatsoberhaupt,<br />
Michail Kalinin, trat unter diesen<br />
konkreten historischen Bedingungen für den<br />
fortschreitenden Aufbau des Sozialismus im<br />
Rahmen der UdSSR ein. Als wichtigste<br />
innen- und außenpolitische Bedingungen<br />
erachtete sie die Erhaltung und Festigung des<br />
Bündnisses mit den werktätigen Bauern und<br />
„normale“ Beziehungen zu den kapitalistischen<br />
Staaten. Eine Minderheit, repräsentiert<br />
durch die Politbüromitglieder Leo Trotzki,<br />
Grigorij Sinowjew (bis Herbst 1926 Vorsitzender<br />
der Komintern) und Lew Kamenew<br />
(bis Dezember 1925 Vorsitzender des Politbüros<br />
des ZK), verstand sich als linke Opposition.<br />
Sie stigmatisierte das Konzept der<br />
Mehrheit als „Ersetzung der internationalen<br />
revolutionären Perspektive“ durch eine „nationalreformistische<br />
Perspektive“ 59 .<br />
Am spektakulärsten prallten die divergierenden<br />
Positionen auf dem VII. Erweiterten<br />
EKKI-Plenum (November/Dezember 1926)<br />
zusammen. Leo Trotzki konstatierte eine<br />
„Abhängigkeit vom Weltmarkt, vom Kapitalismus,<br />
von seiner Technik und Wirtschaft“<br />
und erklärte: „In Wirklichkeit steht unser sozialistischer<br />
Staat immer – direkt oder indirekt<br />
– unter der vergleichenden Kontrolle des<br />
Weltmarktes. ... in letzter Instanz kontrolliert
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
die Weltwirtschaft jeden ihrer Bestandteile,<br />
auch wenn der betreffende Bestandteil unter<br />
der proletarischen Diktatur steht ...“ 60 Dies<br />
war alles andere als substanzlose Schwarzseherei;<br />
es warf reale Probleme auf, die für die<br />
Behauptung und Entwicklung des entstehenden<br />
Sozialismus von existenzieller Bedeutung<br />
waren. Sie konnten für ihn – wie die weitere<br />
Entwicklung bis 1989/<strong>90</strong> bewiesen hat – zu<br />
einer tödlichen Gefahr werden, wenn er auf<br />
sie keine offensive Antwort fand. Diese konnte<br />
grundsätzlich nur – wie von Lenin mit aller<br />
Schärfe herausgearbeitet – im konsequenten<br />
Kampf um die höhere Arbeitsproduktivität<br />
bestehen.<br />
Darauf aber ging Trotzki nicht ein. Er<br />
brachte seine – zweifellos ernstzunehmenden<br />
– Bedenken vor, ließ aber offen, welche<br />
Alternative zum Konzept der Mehrheit er<br />
habe. An anderer Stelle – in einem von ihm<br />
zustimmend zitierten Dokument der Opposition<br />
vom März 1927 – hieß es allerdings:<br />
„Das europäische Proletariat braucht für den<br />
Anlauf zur Machtergreifung viel weniger Zeit,<br />
als wir brauchen, um Europa und Amerika<br />
technisch einzuholen ... die proletarische<br />
Revolution in Europa ... wird ... uns um die<br />
Welttechnik bereichern ...“ 61 Dies macht deutlich,<br />
dass die trotzkistische Opposition das<br />
Problem wohl sah, aber die notwendigen Konsequenzen<br />
seiner Lösung sc<strong>heute</strong> und sich auf<br />
die Ebene der Spekulation begab, einen unsicheren<br />
Wechsel auf die Zukunft ausstellte,<br />
von dem niemand sagen konnte, wann er eingelöst<br />
würde, ja ob überhaupt. In seiner an<br />
den VI. Weltkongress 1928 gerichteten Kritik<br />
des Programmentwurfs der KI schrieb Trotzki:<br />
„Wir müssen ihnen (den sowjetischen<br />
Werktätigen – H. K.) sagen, dass wir erst dann<br />
auf den Weg eines wirklichen sozialistischen<br />
Aufbaus kommen, wenn das Proletariat der<br />
fortgeschrittensten Länder die Macht erobert<br />
hat ...“ 62 . Eine solche Konstellation hat sich<br />
aber bis <strong>heute</strong> nicht ergeben. Wie die Geschichte<br />
lehrte, gab es zur Entscheidung der<br />
KPR(B)-Mehrheit keine reale Alternative.<br />
Bucharin entgegnete Trotzki, er stelle die<br />
Frage einseitig, undialektisch, denn es „wird<br />
THEMA 31<br />
unsere ökonomische Basis immer fester unter<br />
der Voraussetzung, das wir unsere Verbindungen<br />
mit dem kapitalistischen Ausland auszunützen<br />
verstehen.“ 67 Alexej Rykow verwies<br />
darauf, dass Planwirtschaft, Außenhandelsmonopol<br />
und Industrialisierung die Abhängigkeit<br />
vom kapitalistischen Ausland verringern.<br />
Das Konzept der Opposition (erhöhte<br />
Besteuerung der Bauern und Preiserhöhungen<br />
für Industrieerzeugnisse) würde das<br />
Bündnis mit der Bauernschaft sprengen. 68<br />
Palmiro Togliatti (Ercoli) stellte fest, dass die<br />
Opposition keine Perspektive der Entwicklung<br />
und des Erfolges der russischen Revolution<br />
hat. „Dieser Mangel an Vertrauen, den ihr<br />
gegenüber der Möglichkeit des Aufbaus des<br />
Sozialismus habt, veranlasst euch fieberhaft<br />
nach den direkten Perspektiven zu suchen bei<br />
allen Fällen, die sich im Ausland ereignen<br />
(englischer Generalstreik usw.).“ 69 Clara<br />
Zetkin sprach gegen Ende der Debatte. Sie<br />
wandte sich dagegen, in den Werken der<br />
Klassiker nach Rezepten zu suchen. Man<br />
müsse bei ihnen vor allem die Arbeits- und<br />
Forschungsmethode lernen, um sie auf die<br />
höchst unterschiedlichen und sich ständig verändernden<br />
konkreten Umstände anzuwenden.<br />
Was den sozialistischen Aufbau angehe,<br />
so stehe nicht mehr „die abstrakte Frage: Ist<br />
der Sozialismus in einem Lande möglich, ohne<br />
dass ihm die Revolution in einigen hochentwickelten<br />
kapitalistischen Ländern in Gestalt<br />
von Sowjetstaaten Bundesgenossen an die<br />
Seite stellt?“ Durch die <strong>Oktoberrevolution</strong><br />
und die Behauptung der Sowjetmacht sei eine<br />
andere, „lebensstrotzende Frage ... auf die<br />
Tagesordnung der Geschichte gestellt“: Die<br />
„Aufrechterhaltung und Weiterführung des<br />
sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion<br />
...“ 70 Jetzt gehe es um das Wie und die Mobilisierung<br />
der Kräfte. Die kapitalistische Umwelt<br />
berge nicht nur Gefahren, sondern auch<br />
Möglichkeiten. Der Sowjetunion kämen zwei<br />
wichtige begünstigende Faktoren zugute: ihre<br />
gewaltige Ausdehnung und ihr Reichtum an<br />
natürlichen Ressourcen. Außerordentlich gefährlich<br />
– und auch den subjektiven Faktor<br />
lähmend – sei die Neigung der Opposition,
32<br />
Heinz Karl: Clara Zetkin – <strong>Oktoberrevolution</strong> und die sozialistische Perspektive<br />
sich „in Wunschvorstellungen über die proletarische<br />
Weltrevolution (zu) flüchten, die mit<br />
einem Schlag alle Probleme und Aufgaben<br />
lösen und alle Schwierigkeiten beseitigen<br />
wird.“ 71 Entschieden wandte sie sich gegen all<br />
jene – wie Ruth Fischer und die deutschen<br />
Ultralinken – „die sich mit Eifer auf die russische<br />
Frage stürzten, um dadurch zu verdekken,<br />
dass ihnen vollständig die politische<br />
Fähigkeit fehlt, die Probleme und Aufgaben<br />
der kommunistischen Partei im eigenen<br />
Lande auch nur richtig zu sehen und zu formulieren,<br />
geschweige denn zu lösen.“ 72 Eine<br />
zweifellos noch <strong>heute</strong> aktuelle Polemik.<br />
Clara Zetkin hat in allen politischen und<br />
theoretischen Debatten, in denen es um die<br />
<strong>Oktoberrevolution</strong>, ihre Erfahrungen und<br />
Lehren, die von ihr ausgehenden Wirkungen<br />
und Impulse ging, drei Grundpositionen vertreten.<br />
Erstens betonte sie immer die Machtfrage<br />
als die Kernfrage revolutionärer Prozesse und<br />
progressiver Gesellschaftsgestaltung.<br />
Zweitens kennzeichnete sie immer die<br />
Frage des Verhältnisses der Arbeiterklasse –<br />
der führenden Klasse im Kampf gegen das<br />
Kapital – zu den werktätigen Bauern und den<br />
Mittelschichten überhaupt (namentlich auch<br />
der Intelligenz), d. h. das Problem ihrer Hegemonie,<br />
als eine Lebensfrage jeder revolutionären<br />
Bewegung und jedes revolutionären<br />
Staates.<br />
Drittens betrachtete sie – unter den Bedingungen<br />
der Diktatur des Proletariats – die<br />
volle Entfaltung der Sozialreform im weitesten<br />
Sinne (d. h. einschließlich der Umgestaltung<br />
des kulturellen Lebens usw.) und die<br />
volle Verwirklichung einer lebendigen sozialistischen<br />
Demokratie als wichtigste Formen<br />
und Methoden einer schrittweisen sozialistischen<br />
Umwälzung der Gesellschaft in Richtung<br />
einer immer vollständigeren und umfassenderen<br />
Verwirklichung sozialistischer Verhältnisse.<br />
Clara Zetkin lenkt immer wieder das Augenmerk<br />
auf die beiden entscheidenden, mit<br />
der <strong>Oktoberrevolution</strong> beginnenden Wirkungen<br />
der sozialistischen Umwälzung der Ge-<br />
sellschaft: zum einen die Entmachtung des<br />
Kapitals mit all ihren sozialen und kulturellen<br />
Folgen und sich eröffnenden Möglichkeiten;<br />
zum anderen das auf eine feste staatliche<br />
Basis gestellte Ringen um den Frieden.<br />
Anmerkungen<br />
* Dem Text liegt ein Vortrag auf der Konferenz des Marxistischen<br />
Arbeitskreises zur Geschichte der deutschen<br />
Arbeiterbewegung bei der Partei Die Linke, der Geschichtskommission<br />
beim Parteivorstand der DKP und<br />
der Marx-Engels-Stiftung „Die <strong>Oktoberrevolution</strong> 1917 -<br />
eine weltgeschichtliche Zäsur“ am 17. März 2007 in Berlin<br />
zu Grunde.<br />
1 C. Zetkin: Für die Sowjetmacht.Artikel, Reden und Briefe<br />
1917-1933, Berlin 1977, S. 406.<br />
2 Ebenda, S. 475/476.<br />
3 E. Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte<br />
des 20. Jahrhunderts, (München Wien 1995), S. 79.<br />
4 Ebenda, S. 22.<br />
5 F. Mehring: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Berlin 1963, S.<br />
506.<br />
6 Das neue Rußland, 1927, Nr. 9/10, S. 15.<br />
7 R. Luxemburg: Gesammelte Briefe, Bd. 5, Berlin 1984, S.<br />
329. – So am 24. November an Luise Kautsky; ähnlich<br />
(„schon ihr Versuch ist epochemachend“) am gleichen<br />
Tage an Franz Mehring (ebenda). Dies sind die frühesten<br />
dezidierten Aussagen Rosa Luxemburgs zur <strong>Oktoberrevolution</strong>.<br />
Am 15. November hatte sie Mathilde Wurm<br />
geschrieben: „Um die Russen bangt mein Herz sehr,<br />
ich erhoffe leider keinen Sieg der Leninisten, aber immerhin<br />
– ein solcher Untergang ist mir doch lieber als<br />
‚Lebenbleiben für das Vaterland’ ...“ (ebenda, S. 322).<br />
8 Ebenda, S. 329.<br />
9 Ebenda, S. 344.<br />
10 K. Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. IX,<br />
Berlin 1968, S. 371.<br />
11 Vgl. ebenda, S. 385.<br />
12 Vgl. ebenda, S. 386.<br />
13 F. Mehring: Ges. Schriften, Bd. 15, Berlin 1973, S. 760, 759.<br />
14 C. Zetkin: Für den Frieden. In: Für die Sowjetmacht, S. 34.<br />
15 Vgl. R. Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin<br />
1974, S. 338-341.<br />
16 C. Zetkin: Für den Frieden, S. 37.<br />
17 C. Zetkin: Der Kampf um Macht und Frieden in Rußland.<br />
In: Für die Sowjetmacht, S. 43-46.<br />
18 Vgl. R. Luxemburg: Ges. Werke, Bd. 4, S. 332-334.<br />
19 G. Badia: Clara Zetkin. Eine neue Biographie, Berlin<br />
(1994), S. 157.<br />
20 Ebenda, S. 161/162.<br />
21 Vgl. ebenda, S. 157.<br />
22 Vgl. R. Luxemburg: Ges. Briefe, Bd. 5, S. 319, 322, 329, 332,<br />
344; dies.: Ges. Werke, Bd. 4, S. 334, 338-341, 365.<br />
23 Vgl. R. Luxemburg: Ges. Werke, Bd. 4, S. 397 ff.<br />
24 Rosa Luxemburg und die Freiheit der Andersdenkenden,<br />
Berlin (19<strong>90</strong>), S. 182.<br />
25 Ebenda, S. 218.<br />
26 Vgl. W. Lenin: Zum vierten <strong>Jahre</strong>stag der <strong>Oktoberrevolution</strong>.<br />
In: Werke, Bd. 33, Berlin 1962, S. 38.<br />
27 R. Luxemburg u. die Freiheit der Andersdenkenden, S.<br />
220.<br />
28 Vgl. ebenda, S. 217.
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
29 Ebenda, S. 212.<br />
30 Ebenda, S. 221.<br />
31 Ebenda, S. 231.<br />
32 Ebenda, S. 181.<br />
33 C. Zetkin: Um Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen<br />
Revolution, Hamburg 1922, S. 132/133.<br />
34 Stiftung Archiv d. Parteien u. Massenorganisationen d.<br />
DDR im Bundesarchiv, NY 4005/64, Bl. 60.<br />
35 C. Zetkin: Um R. Luxemburgs Stellung, S. XIV.<br />
36 Ebenda, S. 162.<br />
37 Ebenda, S. 139.<br />
38 C. Zetkin: Fünf <strong>Jahre</strong> russische Revolution und die<br />
Perspektiven der Weltrevolution. Referat auf dem IV.<br />
Kongress der KI. In: Für die Sowjetmacht, S. 298.<br />
39 Ebenda, S. 291.<br />
40 C. Zetkin: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. II,<br />
Berlin 1960, S. 465.<br />
41 Ebenda, S. 465/466.<br />
42 C. Zetkin: Die Russische Revolution auf dem IV. Weltkongress<br />
der Kommunistischen Internationale. In: Die<br />
Kommunistische Internationale, 4. Jg., H. 24/25, S. 11.<br />
43 C. Zetkin: Fünf <strong>Jahre</strong> russische Revolution, S. 272.<br />
44 Ebenda, S. 273.<br />
45 Ebenda.<br />
46 C. Zetkin: Die Bedeutung der aufbauenden Sowjetunion<br />
für die deutsche Arbeiterklasse, Berlin 1926, S. 7.<br />
47 Ebenda.<br />
48 Ebenda.<br />
49 C. Zetkin: Fünf <strong>Jahre</strong> russische Revolution, S. 273.<br />
50 Vgl. C. Zetkin: Die weltgeschichtliche Bedeutung des ersten<br />
Arbeiterstaates. In: Für die Sowjetmacht, S. 424.<br />
51 C. Zetkin: Fünf <strong>Jahre</strong> russische Revolution, S. 2<strong>90</strong>.<br />
52 Ebenda.<br />
53 Ebenda, S. 289.<br />
54 C. Zetkin: Die weltgeschichtliche Bedeutung des ersten<br />
Arbeiterstaates, S. 424.<br />
55 Vgl. N. Bucharin: Ökonomik der Transformationsperiode.<br />
Mit Randbemerkungen von Lenin, Berlin (19<strong>90</strong>), S. 243-<br />
250.<br />
56 Protokoll des Vierten Kongresses der Kommunistischen<br />
Internationale. Petrograd – Moskau vom 5. November bis<br />
5. Dezember 1922, Hamburg 1923, S. 283.<br />
57 Ebenda, S. 287.<br />
58 Ebenda, S. 289.<br />
59 Protokoll. Erweiterte Exekutive der Kommunistischen<br />
Internationale, Moskau, 22. November-16. Dezember<br />
1926, (Hamburg 1927), S. 685 (L. Kamenew).<br />
60 Ebenda, S. 588.<br />
61 L. Trotzki: Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion<br />
und wohin treibt sie? 1936, (Essen 19<strong>90</strong>), S. 297.<br />
62 L.Trotzki: Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter<br />
der permanenten Revolution, (Frankfurt a. M. 1981), S.<br />
172.<br />
63 Vgl. Protokoll. Erweiterte Exekutive, S. 679/680.<br />
64 Ebenda, S. 683.<br />
65 Ebenda, S. 685.<br />
66 W. I. Lenin: Über das Genossenschaftswesen. In: Werke,<br />
Bd. 33, S. 457.<br />
67 Protokoll. Erweiterte Exekutive, S. 595.<br />
68 Vgl. ebenda, S. 722, 725/726.<br />
69 Ebenda, S. 629.<br />
70 C. Zetkin: Für die Sowjetmacht, S. 394.<br />
71 Ebenda, S. 401.<br />
72 Ebenda, S. 392.<br />
THEMA 33<br />
Die <strong>Oktoberrevolution</strong><br />
und der Kommune-<br />
Entwurf von Karl Marx<br />
Uwe-Jens Heuer<br />
Die Bedeutung, die Marx und Engels den Erfahrungen<br />
der Pariser Kommune beimaßen,<br />
kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass<br />
sie vor allem ihretwegen 1872 im Vorwort zur<br />
neuen Ausgabe des Manifests das Programm<br />
für stellenweise veraltet erklärten (MEW<br />
18/96).<br />
Auslösend für die Kommune war der<br />
deutsch-französische Krieg, war der ruhmlose<br />
Zusammenbruch des Kaiserreichs Napoleons<br />
III. Am 31. Oktober kam es auf Grund von<br />
Gerüchten über einen beabsichtigten Waffenstillstand<br />
unter der Losung „Es lebe die Kommune,<br />
wir wollen Waffen“ zur ersten großen<br />
Massenaktion, der aber noch einmal eine Niederlage<br />
zugefügt werden konnte. Die einzige<br />
bewaffnete Macht in Paris war die Nationalgarde,<br />
der alle Männer von Paris angehörten.<br />
Am 28. Januar 1871 wurde der Waffenstillstand<br />
geschlossen, am 24. Februar ein ZK der<br />
Nationalgarde gebildet, dem keine bekannten<br />
Personen angehörten. Nachdem die in Bordeaux<br />
tagende Nationalversammlung den<br />
Waffenstillstand bestätigt hatte, wurde die<br />
Entwaffnung der Nationalgarde verfügt. Mit<br />
dem Versuch, die 250 Kanonen der Nationalgarde<br />
zu entführen, wurde der Aufstand ausgelöst.<br />
Staatschef und Regierung flohen nach<br />
Versailles, gefolgt von den Beamten. Die bürokratisch-militärische<br />
Staatsmaschine hatte ihre<br />
Tätigkeit eingestellt.<br />
Das ZK der Nationalgarde übergab die<br />
Macht der am 26. März gewählten Pariser<br />
Volksvertretung, der Kommune. Ihren 85<br />
Mitgliedern – darunter 25 Arbeiter – oblag<br />
nun die Aufgabe, eine neue Macht zu organisieren.<br />
Marx und Engels hatten sich vorher<br />
entschieden gegen eine solche Machtergreifung<br />
gewandt. Marx sah in einem von ihm<br />
entworfenen Schreiben des Generalrats der 1.
34<br />
Uwe-Jens Heuer: Die <strong>Oktoberrevolution</strong> und der Kommune-Entwurf<br />
Arbeiterinternationale von Anfang 1870<br />
allein in England „einen Hebel für eine ernsthafte<br />
ökonomische Revolution“. In einem<br />
Brief an Engels vom 12. Februar schrieb er,<br />
Deutschland sei viel reifer als Frankreich und<br />
werde den Franzosen weit über den Kopf<br />
wachsen (MEW 16/386; 32/443). Am 9. September<br />
1870 erklärte der Generalrat eine<br />
Machtergreifung unter den konkreten Bedingungen<br />
für „eine verzweifelte Torheit“. Die<br />
französischen Arbeiter dürften sich nicht „beherrschen<br />
lassen durch die nationalen Erinnerungen<br />
von 1792“ (MEW 17/277).<br />
Der Pariser Kommune waren bis zu ihrer<br />
blutigen Niederschlagung nur 72 Tage gegeben.<br />
Sie löste das stehende Heer auf, garantierte<br />
die absolute Autonomie aller Kommunen<br />
Frankreichs. Sie legte das Höchstgehalt<br />
ihrer Mitglieder und Angestellten entsprechend<br />
dem Einkommen gut bezahlter Arbeiter<br />
fest, trennte die Kirche vom Staat, verbannte<br />
die religiösen Symbole aus den<br />
Schulen, schaffte die Nachtarbeit für Bäckergesellen<br />
und alle am Arbeitsplatz verhängten<br />
Geldstrafen und Lohnabzüge ab. Die von<br />
ihren Unternehmern verlassenen Fabriken<br />
sollten von den Beschäftigten in Betrieb genommen<br />
werden.<br />
Es gab viele Versäumnisse und Halbheiten.<br />
Marx kritisierte vor allem, dass nicht<br />
sogleich nach Versailles marschiert worden<br />
war, dass man es versäumt habe, sich der Bank<br />
von Frankreich zu bemächtigen. Später, im<br />
Februar 1881 schrieb Marx, nun allerdings in<br />
anderer Richtung, dass man damals „mit<br />
einem geringen Quantum common sense ...<br />
einen der ganzen Volksmasse nützlichen<br />
Kompromiss mit Versailles“ hätte „erreichen<br />
können“ (MEW 35/160). Engels formulierte<br />
in seiner Einleitung zu den „Klassenkämpfen<br />
in Frankreich“ 1895 nicht minder entschieden:<br />
„Ebenso unfruchtbar wie 1848 die Überrumpelung<br />
blieb 1871 der geschenkte Sieg“ (ebenda<br />
22/517).<br />
In seiner Schrift über den „Bürgerkrieg in<br />
Frankreich“ räumte Marx aber den Fehlern<br />
und Halbheiten nur wenig Platz ein. Das war<br />
nicht nur der Verteidigung der Kommune ge-<br />
gen den Feind geschuldet. Marx sah in der<br />
Kommune vornehmlich eine Bestätigung seiner<br />
theoretischen Konzeption. Sie war für ihn<br />
das welthistorische Experiment, durch das die<br />
Richtigkeit seiner Theorie bestätigt wurde. Es<br />
war möglich, wenn auch nur 72 Tage, eine<br />
Ordnung ohne die alte bürokratisch-militärische<br />
Maschinerie zu gestalten. Die Arbeiterklasse<br />
hatte, spontan, ohne von der Marxschen<br />
Theorie auszugehen, Formen entwikkelt,<br />
die den Staat ersetzen konnten. Das war<br />
die entscheidende Schlussfolgerung, die Marx<br />
zog. Deshalb hatte er es unternommen, wie<br />
Engels 1884 an Eduard Bernstein schrieb, „die<br />
unbewussten Tendenzen der Kommune ihr als<br />
mehr oder weniger bewusste Pläne“ (MEW<br />
36/79) zugut zu bringen und damit einen<br />
Entwurf der politischen Zukunft vorzulegen.<br />
Marx resümierte noch einmal die Analysen<br />
des „18. Brumaire“, die ja immerhin schon<br />
zwanzig <strong>Jahre</strong> zurück lagen, zur zentralisierten<br />
Macht des bürgerlichen Staates. Die Pariser<br />
Kommune hatte in seinen Augen die Möglichkeit<br />
einer nichtstaatlichen Ordnung gezeigt<br />
und damit die einer sozialen statt einer nur<br />
politischen Revolution. Die Arbeiterklasse<br />
könne „nicht die fertige Staatsmaschine einfach<br />
in Besitz nehmen und diese für ihre eigenen<br />
Zwecke in Bewegung setzen“. Das allgemeine<br />
Stimmrecht sollte „dem in Kommunen<br />
konstituierten Volk dienen, wie das individuelle<br />
Stimmrecht jedem anderen Arbeitgeber<br />
dazu dient, Arbeiter, Aufseher und Buchhalter<br />
in seinem Geschäft auszusuchen“. Die Kommunalverfassung<br />
würde „dem gesellschaftlichen<br />
Körper alle die Kräfte zurückgegeben<br />
haben, die bisher der Schmarotzerauswuchs<br />
‚Staat’, der von der Gesellschaft sich nährt und<br />
ihre freie Bewegung hemmt, aufgezehrt hat“<br />
(MEW 17/336-341). Im ersten Entwurf war in<br />
Bezug auf den Staat sogar von einer „Boa constrictor“<br />
die Rede gewesen, die den Gesellschaftskörper<br />
umklammere. Darüber hinaus<br />
war dort die Kommune als eine „Revolution<br />
gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche<br />
Fehlgeburt der Gesellschaft“ charakterisiert<br />
worden. „Sie war nicht eine Revolution,<br />
um die Staatsmacht von einer Fraktion der
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
herrschenden Klasse an die andre zu übertragen,<br />
sondern eine Revolution, um diese abscheuliche<br />
Maschine der Klassenherrschaft<br />
selbst zu zerbrechen“ (ebenda 538, 541). Entscheidende<br />
Bestandteile der neuen Ordnung<br />
ohne Staatsmaschine waren die Ersetzung des<br />
stehenden Heeres durch das bewaffnete Volk,<br />
die Kommune als nicht parlamentarische, sondern<br />
arbeitende Körperschaft, ihre Mitglieder<br />
verantwortlich und jederzeit absetzbar, die<br />
Besorgung des öffentlichen Dienstes für<br />
Arbeiterlohn und die lokale Selbstregierung<br />
„nun nicht mehr als Gegengewicht gegen die,<br />
jetzt überflüssig gemachte, Staatsmacht“<br />
(ebenda 338-341).<br />
Marx hat das Gesamtgebäude dieses Entwurfs<br />
der neuen politischen Ordnung ohne<br />
Staat auf einem unsicheren Grund errichtet.<br />
Das betraf nicht nur die einmalig günstigen<br />
Umstände, sondern vor allem die zu bewältigenden<br />
politischen und ökonomischen Widersprüche.<br />
Er hatte Gewaltanwendung gegen<br />
die Feinde der Kommune gefordert, aber war<br />
sie mit der konsequenten unmittelbaren<br />
Demokratie zu vereinbaren? Wie verhielt sich<br />
der Entwurf der Pariser Kommune zur vom<br />
Proletariat auszuübenden Diktatur? Noch<br />
schwieriger stand es um die ökonomische<br />
Entwicklung. Die Kommune beseitigte nicht<br />
den Klassenkampf, aber sie wollte die „Enteignung<br />
der Enteigner“. Die Arbeiterklasse<br />
wisse, dass sie „lange Kämpfe, eine ganze<br />
Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen<br />
hat, durch welche die Menschen wie die<br />
Umstände gänzlich umgewandelt werden. Sie<br />
hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur<br />
die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit<br />
zu setzen, die sich bereits im Schoß der<br />
zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft<br />
entwickelt haben“ (ebenda 342 f.). Im ersten<br />
Entwurf hatte Marx noch deutlicher davon<br />
gesprochen, dass die Kommune das rationelle<br />
Zwischenstadium schaffe, in welchem der<br />
Klassenkampf „seine verschiedenen Phasen<br />
auf rationellste und humanste Weise durchlaufen<br />
kann“. Sie könne sowohl gewaltsame<br />
Reaktionen und ebenso gewaltsame Revolutionen<br />
hervorrufen, damit auch „sporadische<br />
THEMA 35<br />
Sklavenhalter-Rebellionen“ (ebenda 545 f.).<br />
Marx hatte seinen Gegenentwurf zur bürgerlichen<br />
Staatlichkeit entwickelt, als Möglichkeit,<br />
nicht als bewiesene Notwendigkeit. Die<br />
Probe auf die Realität war noch abzulegen.<br />
Die Neuaufnahme des<br />
Kommune-Entwurfs durch<br />
Lenin und der Kurswechsel<br />
Der Kommune-Entwurf wurde in der russischen<br />
<strong>Oktoberrevolution</strong> noch einmal wieder<br />
aufgenommen. Der Verlauf der Ereignisse, die<br />
Bereitschaft, eine Gesellschaft gewaltsam zu<br />
beseitigen, die seit 1914 derart Ungeheuerliches<br />
zu verantworten hatte, dem Krieg den<br />
Bürgerkrieg zu erklären, auch die Härte, in der<br />
die Auseinandersetzungen vornehmlich in<br />
Russland und der Sowjetunion geführt wurden,<br />
das alles ist ohne den ersten Weltkrieg, der eine<br />
ganze Generation prägte, nicht zu erklären.<br />
Der Weltkrieg löste, je länger das Morden<br />
dauerte, eine Gegenbewegung aus. Hatte er<br />
zuerst in allen Ländern zu einem Ausbruch des<br />
Nationalismus geführt, so wuchsen dann auch<br />
Gegenkräfte. Und wie von Lenin als einzigem<br />
früh erkannt, gab es gerade in Russland die<br />
Möglichkeit, dem Krieg durch Revolution ein<br />
Ende zu machen. Am 27. Februar 1917 wurde<br />
durch den Aufstand der Arbeiter und Soldaten<br />
die Dynastie der Romanows gestürzt. Überall<br />
bildeten sich Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten.<br />
Neben den Sowjets entstanden<br />
Koalitionsregierungen aus Vertretern der<br />
bürgerlichen Parteien, der Menschewiki und<br />
der Sozialrevolutionäre, die mit Alexander<br />
Fjodorowitsch Kerenski seit dem 7. Juli den<br />
Ministerpräsidenten stellten. Lenin sah in dieser<br />
„Doppelherrschaft“ die Möglichkeit, die<br />
demokratische Revolution in eine sozialistische<br />
überzuleiten. Er knüpfte an die Geschichte<br />
an, allerdings nicht mehr wie vorher<br />
an die Jakobiner, sondern an die Pariser<br />
Kommune. Wenige Tage vor seinem Aufbruch<br />
aus dem Schweizer Exil nach Russland formulierte<br />
Lenin erstmals den Entwurf der Pariser<br />
Kommune als Tagesprogramm, also die Ersetzung<br />
der Staatsmaschinerie durch „die un-
36<br />
Uwe-Jens Heuer: Die <strong>Oktoberrevolution</strong> und der Kommune-Entwurf<br />
mittelbare Macht bewaffneter und organisierter<br />
Arbeiter“ 1 . In den berühmten Aprilthesen,<br />
die Lenin unmittelbar nach seiner Ankunft in<br />
Russland verkündete, nahm er diesen Entwurf<br />
voll auf. Er forderte statt der parlamentarischen<br />
Republik „Abschaffung der Polizei, der<br />
Armee, der Beamtenschaft, Entlohnung aller<br />
Beamten, die durchweg wählbar und absetzbar<br />
sein müssen, nicht über den Durchschnittslohn<br />
eines guten Arbeiter hinaus“ und die Nationalisierung<br />
des gesamten Bodens, die Verschmelzung<br />
aller Banken zu einer Nationalbank,<br />
die Kontrolle der gesamten Produktion.<br />
(LeW 24/5-6). Diese Macht, so schrieb er<br />
wenig später, sei eine revolutionäre Diktatur,<br />
also eine „Macht, die sich unmittelbar auf die<br />
revolutionäre Machtergreifung stützt ... und<br />
nicht auf ein von einer zentralisierten Staatsmacht<br />
erlassenes Gesetz“. Lenin zitiert sogar<br />
die Formulierung von Engels, dass sie in mancher<br />
Hinsicht „schon kein Staat im eigentlichen<br />
Sinne mehr“ sein werde (ebenda 20,<br />
52 f.). Während eine Reihe der führenden Bolschewiki<br />
die Wendung Lenins mit Zurückhaltung<br />
betrachteten, trat Trotzki sofort an die<br />
Seite Lenins und gab seine bisherige Sonderposition<br />
auf. 2<br />
Im August 1917 hat Lenin sich dann mit<br />
dem Werk „Staat und Revolution“ das Ziel<br />
gestellt, „mittels der Wiederherstellung der<br />
wahren Marxschen Lehre vom Staat“ die theoretische<br />
Grundlage der unmittelbar bevorstehenden<br />
Revolution verbunden mit einer Abrechnung<br />
mit dem „Kautskyanertum“ zu geben<br />
(ebenda 25/397 f.). Er bezog sich sehr ausführlich<br />
auf die Arbeiten von Marx und<br />
Engels. Dabei steht erneut der Entwurf der<br />
Kommune im Mittelpunkt. Auf die Frage, ob<br />
nicht eine solche Selbstregierung des Volkes<br />
Utopie sei, antwortet er: „Die kapitalistische<br />
Kultur hat die Großproduktion, hat Fabriken,<br />
Eisenbahnen, Post,Telefon u. a. geschaffen und<br />
auf dieser Basis sind die meisten Funktionen<br />
der alten ‚Staatsmacht’ so vereinfacht worden<br />
... „dass diese Funktionen alle Leute, die des<br />
Lesens und Schreibens kundig sind, ausüben<br />
können“ und von Vorgesetzten jetzt nicht mehr<br />
die Rede sein könne (ebenda, 433). Einen<br />
gewissen Fremdkörper in der Argumentation<br />
bildete der Bezug auf die „Kritik des Gothaer<br />
Programms“. In der ersten Phase des Kommunismus<br />
bleibe das bürgerliche Recht als<br />
Regulator bestehen und mit ihm auch der bürgerliche<br />
Staat, „denn Recht ist nichts ohne<br />
einen Apparat, der imstande wäre, die Einhaltung<br />
der Rechtsnormen zu erzwingen“<br />
(ebenda, S. 481, 485). Es sei jetzt Rechnungsführung<br />
und Kontrolle notwendig. „Die<br />
gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine<br />
Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn<br />
sein“, was nichts weniger als unser Ideal, aber<br />
als Stufe notwendig sei (ebenda 488). An anderer<br />
Stelle war davon die Rede, den Kommunestaat<br />
mit den Errungenschaften des Staatskapitalismus<br />
zu verbinden. „Der Sozialismus ist<br />
nichts anderes als staatskapitalistisches Monopol,<br />
das zum Nutzen des ganzen Volkes angewandt<br />
wird“. Wir müssten „die fortgeschrittenen<br />
Länder auch ökonomisch einholen und<br />
überholen“. (ebenda 369 f., 375)<br />
Diese Arbeiten Lenins sind von innerer Widersprüchlichkeit<br />
gekennzeichnet. Auf der<br />
einen Seite soll ein „Kommunestaat“, ein<br />
Staat, der schon eigentlich kein Staat mehr ist,<br />
geschaffen werden, auf der anderen Seite soll<br />
bürgerliches Recht bestehen bleiben, ist vom<br />
staatskapitalistischen Monopol, ist von einem<br />
Büro und einer Fabrik die Rede. Lenin wollte<br />
einerseits den tiefsten Sehnsüchten der unter<br />
dem Krieg, dem reaktionären Beamtentum,<br />
der Herrschaft der Gutsbesitzer leidenden<br />
Menschen entsprechend den „Schmarotzer<br />
Staat“ verabschieden und damit die Massen<br />
zur Revolution aufrufen. Auf der anderen<br />
Seite wollte er in der internationalen Diskussion<br />
der Marxisten „seine“ Revolution legitimieren.<br />
Und schließlich wusste er, dass es ohne<br />
Diktatur, ohne staatliches Eigentum nicht<br />
abgehen würde, was notwendig der Selbstregierung<br />
widersprach. Je näher die Stunde der<br />
Machtergreifung heranrückte, desto mehr<br />
Aufgaben wurden vom Realisten Lenin dem<br />
„Kommunestaat“ übertragen, der damit drohte,<br />
den Entwurf der Kommune zu sprengen.<br />
Nach dem Sturz der provisorischen Regierung<br />
am 7. November 1917 rollte eine Woge
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
der Sowjetbildung durch das Land. Der Kommunestaat<br />
schien Wirklichkeit geworden. Sehr<br />
schnell aber entwickelte sich die Notwendigkeit<br />
der Schaffung eines eigenen Apparates<br />
der neuen Macht. Den Anfang machte die<br />
neugebildete Rote Armee. Dann stellte Lenin<br />
mit äußerster Entschiedenheit in der Schrift<br />
„Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ im<br />
April 1918, nicht einmal ein halbes Jahr nach<br />
dem Beginn der Revolution, die Frage der<br />
Disziplin für die gesamte Verwaltung, für die<br />
Volkswirtschaft. Gleichzeitig forderte er die<br />
Gewinnung bürgerlicher Spezialisten „durch<br />
ausserordentlich hohe Gehälter“ unter „Abweichung<br />
von den Prinzipien der Kommune“<br />
(ebenda 27/239). Aus der maschinellen Großindustrie<br />
ergäbe sich notwendig die „unbedingte<br />
und strengste Einheit des Willens ..., der<br />
die gemeinsame Arbeit von Hunderten, Tausenden<br />
und Zehntausenden Menschen leitet“<br />
durch die Unterordnung „unter den Willen<br />
eines Einzelnen“ (ebenda 259). Lenin wollte<br />
diese diktatorische Leitung mit der Kontrolle<br />
von unten verbinden, sah darin eine Verwirklichung<br />
des Prinzips des demokratischen<br />
Zentralismus. Aber er wusste natürlich genau,<br />
dass er damit einen grundlegenden Kurswechsel<br />
gegenüber den vorrevolutionären Ankündigungen<br />
vollzog.<br />
Das wurde von Kritikern sofort deutlich<br />
gemacht. Nikolai Iwanowitsch Bucharin veröffentlichte<br />
eine wohlwollende Rezension von<br />
„Staat und Revolution“. Lenin antwortete ihm<br />
kühl und entschlossen, „dass Bucharin das, was<br />
man sehen musste, übersehen hat, und das<br />
geschah deshalb, weil er seine Rezension im<br />
April schrieb, aber zitierte, was bereits für den<br />
April veraltet war, was dem Gestern angehört,<br />
nämlich, dass man den alten Staat zerschlagen<br />
muss“. Besonders empört hätte die linken<br />
Kommunisten die Forderung, bei den Organisatoren<br />
der Trusts Sozialismus zu lernen, aber<br />
nur sie besäßen in der Praxis der Organisation<br />
die Kenntnisse, die uns fehlen. Ohne eine solche<br />
Radikalität der Fragestellung würde die<br />
Revolution im <strong>Jahre</strong> 1793 stehen bleiben<br />
(ebenda 293, 286). Wenn Genosse Bucharin<br />
sage, dass es Leute gäbe, die 4 000 Rubel be-<br />
THEMA 37<br />
ziehen und die man deshalb erschießen müsse,<br />
so antworte er, Lenin, dass man solche Leute<br />
suchen müsse. Er zitierte abschließend sogar<br />
gegen Bucharin aus einer „autoritativen Broschüre“<br />
Kautskys: „Sie werden die These<br />
Kautskys nicht widerlegen können, dass man<br />
die Großproduktion aus Erfahrung kennen<br />
muss“ (ebenda 301, 304 f.). Lenin erwartete<br />
nach wie vor den Ausbruch der Revolution im<br />
Westen. Aber bis dahin müsse man noch mehr<br />
als Peter I. vom Westen lernen, „ohne dabei<br />
vor barbarischen Methoden des Kampfes<br />
gegen die Barbarei zurückzuschrecken“ (ebenda,<br />
333). Das war die erste vieler Auseinandersetzungen,<br />
bis Stalin ihnen ein Ende setzte.<br />
Zwei Thesen von Marx und<br />
Engels zum Staat widerlegt<br />
Für heutige neue Überlegungen zur Frage der<br />
Demokratie gehe ich davon aus, dass jedenfalls<br />
zwei Thesen von Marx und Engels zum<br />
Staat mir durch die Entwicklung des vorigen<br />
Jahrhunderts widerlegt erscheinen. Bei der<br />
ersten These handelt es sich um das rasche<br />
Fortwerfen der politischen Hülle, um das baldige<br />
Absterben des Staates nach der siegreichen<br />
proletarischen Revolution. Die Entwicklung<br />
im „Realsozialismus“ gab keinerlei<br />
Anhaltspunkt für die Herausbildung eines<br />
Staates „im nicht eigentlichen Sinne“. Das<br />
betrifft nicht nur die Entwicklung in der<br />
Sowjetunion, wo der Staat immer mehr zur<br />
zentralen Antriebskraft wurde, die Zentralisierung<br />
der Macht einen welthistorischen<br />
Höhepunkt erreichte und das politische System<br />
in einem für den Aufbau des Sozialismus<br />
nicht reifen Lande unter den Bedingungen der<br />
kapitalistischen Umkreisung, der Kriegsdrohung,<br />
viele über die Erfordernisse einer Erziehungsdiktatur<br />
hinausgehende exzessiv diktatorische,<br />
ja barbarische Züge trug.Aber auch<br />
in den Ländern, die in Europa nach 1945 den<br />
Weg der Volksdemokratie gegangen sind, war<br />
vom Absterben des Staates nicht die Rede,<br />
auch wenn öfter die Verwirklichung der Prinzipien<br />
der Pariser Kommune beschworen, die<br />
DDR als „Staat im nicht eigentlichen Sinne“
38<br />
Uwe-Jens Heuer: Die <strong>Oktoberrevolution</strong> und der Kommune-Entwurf<br />
charakterisiert wurde. 3 Es erwies sich, dass das<br />
sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln<br />
eine staatliche Wirtschaftsplanung in<br />
mehr oder weniger dirigistischer Form erforderte,<br />
dass die Verteilung nach der Leistung<br />
der staatlich sanktionierten rechtlichen Regelung<br />
bedurfte, dass bei fortbestehenden Ausbeuterklassen<br />
Repression notwendig blieb,<br />
aber auch nach deren Enteignung fortbestand,<br />
dass vornehmlich die äußere Auseinandersetzung<br />
mit den bürgerlichen Nachbarn ohne<br />
Staat nicht auskam bis hin zum Extrem der<br />
Errichtung der Mauer an der Westgrenze der<br />
DDR. Die Repression nahm sicherlich im<br />
Laufe der <strong>Jahre</strong> ab, blieb aber bestehen. Der<br />
Staat fiel keineswegs von selbst. Er ist nicht<br />
minder zählebig als die Gesetze des Marktes.<br />
Die damalige Gleichsetzung von Diktatur<br />
des Proletariats und Demokratie als Macht des<br />
Volkes negierte ein spezifisches Demokratieproblem,<br />
da ohnehin das Volk herrsche. Lenin<br />
hatte demgegenüber immer zwischen diktatorischer<br />
Unterdrückung und Demokratie unterschieden.<br />
Dort, wo es Unterdrückung, wo es<br />
Gewalt gäbe, gäbe es keine Freiheit, keine<br />
Demokratie. Ohne Aufhebung der Staatsmacht<br />
sei „der wahre Demokratismus, d. h.<br />
Gleichheit und Freiheit, nicht erreichbar.“ 4<br />
Solange der Staat als Zwangsinstrument besteht,<br />
ist vollständige Demokratie nicht möglich.<br />
Insofern konnte sinnvoll nicht von der<br />
vollständigen Volksherrschaft gesprochen werden,<br />
sondern „nur“ von der Demokratisierung<br />
des bestehenden Staates. Demokratisierung<br />
bedeutet nicht Herrschaft oder Macht des Volkes,<br />
sondern Erhöhung seines Einflusses auf<br />
den „eigenen Staat“.<br />
Nun könnte man den Einwand erheben,<br />
dass sich das alles aus der Tatsache ergäbe,<br />
dass sich der Sozialismus nur in einem Teil der<br />
Welt entwickelt hat. Ich will deshalb noch<br />
einen Schritt weitergehen und die Behauptung<br />
aufstellen, dass wir uns für die absehbare<br />
Zukunft von dem Ziel einer Gesellschaft ohne<br />
Macht und Herrschaft verabschieden sollten.<br />
Es war ausgedrückt im Marxschen Entwurf<br />
der Pariser Kommune und wurde dann kurze<br />
Zeit (1917) von Lenin aufgenommen. Es wur-<br />
de dann in der DDR als bereits verwirklicht<br />
charakterisiert (DDR kein Staat im eigentlichen<br />
Sinne mehr). Demokratie wurde nicht<br />
als Entwicklungsprozess gesehen, sondern als<br />
ein für allemal erreicht.<br />
Domenico Losurdo bezeichnete die Überlegungen<br />
von Marx und Engels zum Absterben<br />
des Staates als anfechtbar. Sie hätten<br />
sich aus den historischen Erfahrungen mit den<br />
Militärdiktaturen in Frankreich einerseits und<br />
der für notwendig gehaltenen Abweisung<br />
anarchistischer Kritik andererseits ergeben. Es<br />
ging um den Versuch, „der drohenden Anklage<br />
des Etatismus zu entgehen“. Lenin hätte<br />
1917 in „Staat und Revolution“ in der notwendigen<br />
Abrechnung mit dem Sozialchauvinismus<br />
den Marxismus auf den Anarchismus heruntergebracht.<br />
5 Ich denke <strong>heute</strong>, dass für den<br />
in der Schweiz, einem entwickelten kapitalistischen<br />
Land, lebenden Lenin sein Kommune-<br />
Entwurf in erster Linie für das Vorantreiben<br />
der Revolution, nicht aber für den neuen Staat<br />
gedacht war. Nur so ist wohl der rasche Paradigmenwechsel<br />
zu erklären.<br />
Es gibt viele Ursachen für die Fortexistenz<br />
des Staates für alle absehbare Zukunft. Allein<br />
solange es Knappheit gibt, wird es einen Staat<br />
geben müssen. Eine durchgreifende Lösung<br />
zur Rettung der Umwelt ist wohl erst recht<br />
ohne Einsatz des Staates unmöglich.<br />
Widerlegt ist zweitens gleichermaßen die<br />
Annahme von Marx und Engels von der sich<br />
ständig verstärkenden Zentralisierung des<br />
bürgerlichen Staates und die damit verbundene<br />
Aufassung, dass es keine demokratischen<br />
Verbesserungen geben könne, die in der kommunistischen<br />
Bewegung fortwirkte, aber auch<br />
die Vorstellung von Bernstein und Kautsky<br />
und der sich auf sie stützenden Sozialdemokraten<br />
von der ständigen Entwicklung der<br />
Demokratie.<br />
Marx hatte dem Ausbau des Staatsapparats<br />
Napoleons des III. die Revolution kontrapunktisch<br />
gegenübergestellt. Diese Zentralisation<br />
der Macht trug dazu bei, eine entsprechende<br />
Zentralisation der Gegenmacht zu fordern,<br />
eben in Gestalt der Diktatur des Proletariats.<br />
Der erste Weltkrieg mit seiner massi-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Wladimir Koslinski. Die Toten der Pariser Kommune sind unter dem roten<br />
Sowjetbanner auferstanden. 1921. Rostafenster<br />
THEMA 39
40<br />
Uwe-Jens Heuer: Die <strong>Oktoberrevolution</strong> und der Kommune-Entwurf<br />
ven Verstärkung des Zentralismus rief erneut<br />
die Forderung nach einer adäquaten Gegenmacht<br />
hervor. Der sich dann in Europa entwickelnde<br />
Faschismus wirkte als Beweis für<br />
die Entschlossenheit der Bourgeoisie, ihre<br />
Herrschaft mit rücksichtsloser Gewalt zu verteidigen.<br />
Die ständige Entwicklung der Demokratie<br />
hatte nicht stattgefunden. Erst nach<br />
1945 gab es erstmals für eine längere Periode<br />
eine in bestimmtem Umfang auf Integration<br />
zielende Staatsmacht in Gestalt der bürgerlichen<br />
repräsentativen Demokratie. Das war<br />
dem Scheitern des Faschismus, den Kämpfen<br />
der linken Bewegung, der Entwicklung des<br />
Wohlfahrtsstaates, aber auch der Systemkonkurrenz<br />
geschuldet.<br />
Generell ist <strong>heute</strong> das allgemeine Wahlrecht<br />
in den entwickelten bürgerlichen Staaten<br />
gewährleistet ebenso wie die Gesetzgebungskompetenz<br />
des gewählten Parlaments, das seinerseits<br />
den Regierungschef mit der Regierungsbildung<br />
beauftragt.Auf dieser Grundlage<br />
gibt es aber dann eine Reihe wesentlicher formeller<br />
und informeller Einschränkungen, die<br />
es letztlich auch hier ausschließen, von Herrschaft,<br />
von Macht des Volkes zu sprechen.<br />
Auch hier kann es also nur um Demokratisierung<br />
im Sinne einer Erhöhung des Einflusses<br />
des Volkes im bürgerlichen Staat gehen.<br />
Bürgerliche (liberale) Demokratie<br />
und Kolonialismus<br />
Noch ein weiterer Gesichtspunkt ist von großer<br />
Bedeutung. Die Entwicklung der bürgerlich-parlamentarischen<br />
Demokratie und ihrer<br />
Freiheitsrechte im Innern ist eng verknüpft mit<br />
kolonialer Unterdrückung nach außen. Der<br />
Zynismus der damaligen und heutigen Bourgeoisie<br />
kommt gerade darin zum Ausdruck,<br />
dass sie aus den zu Hause bestehenden „demokratischen“<br />
Verhältnissen das Recht ableitet,<br />
andere Völker auszubeuten und zu unterdrükken,<br />
wobei dies eben im Namen der Demokratie<br />
geschieht. Eine Nation kann aber nicht<br />
frei werden, „und zugleich fortfahren, andre<br />
Nationen zu unterdrücken“ erklärte Engels<br />
1847 (MEW 4/417). Die Zustimmung des eige-<br />
nen Volkes, das ja auch bestimmte Früchte<br />
genießt, kann die Unterdrückung anderer<br />
Völker nicht rechtfertigen. Deshalb erhob die<br />
von Marx verfasste Inauguraladresse der soeben<br />
gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation<br />
vom 28. 9. 1864 die Forderung, „die<br />
einfachen Gesetze der Moral und des Rechts,<br />
welche die Beziehungen von Privatpersonen<br />
regeln sollten, als die obersten Gesetze des<br />
Verkehrs von Nationen geltend zu machen“<br />
(MEW 16/13).<br />
Die dem gerade entgegenstehende Gegenüberstellung<br />
von guten Demokratien und<br />
bösen Diktaturen und die damit verbundene<br />
Aufhebung der formellen Gleichheit der<br />
Staaten ist das ideologische Zentrum der bürgerlichen<br />
Ideologie seit 1917. Bestimmte Regime<br />
der guten Art dürfen Regime der<br />
schlechten Art angreifen. Für diesen Konflikt<br />
gilt demnach auch nicht das Völkerrecht, wie<br />
im Zusammenhang mit dem Irakkrieg wieder<br />
ganz unverhohlen erklärt wurde. Hat man<br />
dann den Krieg gewonnen, ist der Ruf nach<br />
freien Wahlen erst einmal erledigt, weil man<br />
eine antiimperialistische Mehrheit der „Befreiten“<br />
fürchtet.<br />
Jede Opposition gegen den global aktiven<br />
Imperialismus, wenn sie ein ganzes Land erfasst,<br />
muss sich, wenn sie dauerhaft bleiben<br />
soll, auf die Staatsmacht stützen. Gerade deshalb<br />
ist der Kampf gegen die „Schurkenstaaten“<br />
ein zentraler Bestandteil der imperialistischen<br />
Strategie. Das allgemeine Wahlrecht<br />
dient dabei der eigenen Legitimation, sein<br />
Fehlen der Delegitimation des Opfers. Die<br />
ungeheure ökonomische und ideologische<br />
Dominanz des Imperialismus kann tatsächlich<br />
bedeuten, dass der „Schurkenstaat“ eine solche<br />
Selbstlegitimation scheuen muss. Das ist<br />
unzweifelhaft ein wesentliches demokratisches<br />
Manko. Domenico Losurdo stellt aber mit<br />
Recht die Frage: „Wie sollte das nikaraguanische<br />
Volk (19<strong>90</strong>, U.-J. Heuer) frei wählen können<br />
mit dem Messer des Embargos an der<br />
Gurgel und angesichts der Drohung, die<br />
Aggression in großem Maßstab wiederaufzunehmen?“<br />
Und zu Kuba schreibt er: „Ein Sieg<br />
des Parteienpluralismus etwa in Kuba nach
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Jahrzehnten eines erbarmungslosen Embargos<br />
und des Drucks eines monströsen Militär- und<br />
Medienapparats würde zwar die Lage von<br />
wenigen ‚Dissidenten’ verbessern und wahrscheinlich<br />
Fortschritte in Sachen Meinungsund<br />
Versammlungsfreiheit mit sich bringen.<br />
Doch zugleich würden die ökonomischen und<br />
sozialen Rechte und die nationalen Rechte des<br />
kubanischen Volkes liquidiert, und auf internationaler<br />
Ebene würde das Recht des Stärkeren<br />
bestätigt. Insgesamt wäre das ein verheerendes<br />
Debakel für die Sache der Demokratie.“ 6 Ein<br />
imperialistischer Staat mit freien Wahlen ist<br />
nicht demokratischer als ein Staat, der sich seiner<br />
Übermacht durch bestimmte diktatorische<br />
Maßnahmen erwehrt und in dem der reale<br />
Einfluss der Massen keineswegs geringer ist.<br />
Die Forderung nach freien Wahlen an die<br />
Adresse der Opferstaaten läuft auf deren<br />
Kapitulation durch eine Abwahl des Systems<br />
hinaus. Die Kritik an mangelnder Demokratie<br />
bedeutete in den politischen Krisen der sozialistischen<br />
Staaten die Kritik am fehlenden<br />
Recht, das System abzuwählen. Das System<br />
steht dagegen bei Wahlen in den imperialistischen<br />
Staaten gar nicht zur Abstimmung, die<br />
wirklich (ökonomisch) Mächtigen werden<br />
nicht gewählt und können folglich auch nicht<br />
abgewählt werden.<br />
Die imperialistische Kriegspolitik führt<br />
<strong>heute</strong> auch in der Innenpolitik zu verschärfter<br />
Repression. Ralf Dahrendorf hat hinsichtlich<br />
des politischen Systems der entwickelten<br />
Staaten eine durchaus pessimistische Voraussicht<br />
entwickelt: „Globalisierung bedeutet,<br />
dass Konkurrenz groß und Solidarität klein<br />
geschrieben wird.“ Sie sei der Demokratie<br />
nicht förderlich, weil sie „dem einzigen Domizil<br />
der repräsentativen Demokratie, das bisher<br />
funktioniert hat, dem Nationalstaat, die<br />
ökonomische Grundlage“ entzieht. Sie leistet<br />
eher autoritären als demokratischen Verfassungen<br />
Vorschub. „Ein Jahrhundert des Autoritarismus<br />
ist keineswegs die unwahrscheinlichste<br />
Prognose für das 21. Jahrhundert.“ 7<br />
Alles das macht die Notwendigkeit deutlich,<br />
die absolute Gegenüberstellung von – auf<br />
die Wahlen konzentrierter, wenn nicht redu-<br />
THEMA 41<br />
zierter – Demokratie und einer sich durch die<br />
Verteidigung von Interessen des Volkes legitimierenden<br />
Diktatur in Frage zu stellen. Ein<br />
wichtiger Ansatz hierfür könnte der Begriff der<br />
Demokratisierung als Schlüsselbegriff bilden.<br />
Luciano Canfora hat eine umfassende<br />
„Kurze Geschichte der Demokratie“ vorgelegt<br />
(Köln 2006). Für ihn setzte die Demokratiepraxis<br />
erst seit dem 18. Jahrhundert ein, vornehmlich<br />
in den beiden großen Revolutionen,<br />
der französischen und der russischen. Als<br />
Maßstab im Vergleich der englischen, der USamerikanischen<br />
und der französischen Revolution<br />
wählt er ihr Verhältnis zur Sklaverei<br />
(S. 29 f., S. 57 f.). Ein Schlusskapitel trägt die<br />
Überschrift „Der kalte Krieg: Die Demokratie<br />
auf dem Rückzug“.<br />
Der Rückzug der Demokratie wurde für<br />
Canfora durch den McCarthyismus eingeleitet<br />
(S. 283), dem das Ziel eines Rollback der<br />
Sowjetunion entsprach (S. 285). Dazu gehörten<br />
in der BRD Globke und das KPD-Verbot<br />
(S. 298) und die dann beschlossene Sperrklausel<br />
von 5 Prozent, als erstem Eingriff in<br />
das Verhältniswahlrecht. „Die praktisch ohne<br />
Unterbrechung geführten Kolonialkriege“<br />
vergifteten die Atmosphäre (S. 291). De<br />
Gaulle führte ein gemischtes Wahlystem mit<br />
einem Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen<br />
zur Vernichtung der KP ein. Die<br />
Kommunisten erlangten 20,1 Prozent der<br />
Stimmen, aber nur 10 Mandate. Damit wurde<br />
die Vorherrschaft des gemischten Systems eingeleitet<br />
(S. 303 f.). Notwendig drängten sich<br />
den Wählern der KP „zwei vorteilhafte Optionen<br />
auf: entweder gleich die Partei zu wählen,<br />
die (im zweiten Wahlgang, U.-J. H.) von<br />
ihrer Stimme profitiert, oder erst gar nicht zur<br />
Wahl zu gehen“ (S. 307). Es kommt „auf einem<br />
anderen Weg erneut zu dem Phänomen, das<br />
typisch war für die Epochen des beschränkten<br />
Wahlrechts: zu einer drastisch reduzierten<br />
Vertretung der weniger ‚wettbewerbsfähigen’<br />
Klassen“ also „zur Umsetzung des ‚gemischten<br />
Systems’“, „ein bisschen Demokratie und viel<br />
Oligarchie“. (S. 308) Ich wurde übrigens bei<br />
einer gemeinsamen Tagung der Ausschüsse für<br />
Deutsche Einheit am 26. Juli 19<strong>90</strong> genau mit
42 Uwe-Jens Heuer: Die <strong>Oktoberrevolution</strong> und der Kommune-Entwurf<br />
dieser Frage konfrontiert, als es um die 5-Prozent-Klausel<br />
für das gesamte Wahlgebiet ging.<br />
Richard Schröder (SPD/DDR) erklärte, das<br />
Parlament sei „kein Repräsentantenhaus, das<br />
möglichst das politische Spektrum des Landes<br />
vollständig widerspiegeln soll. Das ist Aufgabe<br />
der Medien“ und dem dann von Hans-Jochen<br />
Vogel (SPD-BRD) mit den Worten sekundiert<br />
wurde, „Die Parteienzersplitterung war mit<br />
eine der Ursachen und der Schwierigkeiten<br />
des Endes der Weimarer Republik“. Gleichzeitig<br />
sinkt die Effizienz der Parlamente und<br />
das Ansehen der Parlamentarier. „Die ‚weiche’<br />
Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts<br />
wird durch das freundliche Zugeständnis kompensiert,<br />
sich in regelmäßigen Abständen<br />
durch Wahlen zu legitimieren“ (S. 312). Das<br />
Ziel besteht darin, „die radikalen Minderheiten<br />
in den ‚Überflussgesellschaften’ daran<br />
zu hindern, in diesem System mitzureden und<br />
es zu stören“ (S. 315). Es siegt eine gemischte<br />
Verfassung, in der im Zentrum nur die<br />
Reichen zählen. „Und der Rest der Welt wird<br />
mit der Waffe in der Hand in Reih und Glied<br />
gebracht“ (S. 324).<br />
Canfora schließt dann mit einem Hinweis<br />
auf Aristoteles, der den Begriff der Demokratie<br />
„von der Vorstellung der einfachen<br />
numerischen Mehrheit befreit“. Benedetto<br />
Croce war gegen Demokratie, weil sie, um mit<br />
Aristoteles zu sprechen, die Klassenbeziehungen<br />
„mit einem tendenziellen ‚Übergewicht<br />
des demos’ verband“. Toqueville verfocht die<br />
Freiheit gegen die Demokratie (S. 354 f.). Im<br />
20. Jahrhundert wurde sie dann zum positiven<br />
Gegenpol des „Sozialismus“ oder „Kommunismus“.<br />
Arthur Rosenberg habe mit Recht<br />
darauf hingewiesen, „dass man ‚Demokratie’<br />
nicht auf ein Synonym für ‚parlamentarisches<br />
System’ reduzieren kann und dass Russland im<br />
Jahr eins der Revolution eine ‚Demokratie’,<br />
die zeitgenössische französische Dritte Republik<br />
aber eine ‚Oligarchie’ war“(S. 355).<br />
„Was am Ende – oder besser: beim gegenwärtigen<br />
Stand der Dinge – die Oberhand gewonnen<br />
hat, ist die ‚Freiheit’. Sie ist im Begriff,<br />
die Demokratie zu besiegen. Wohlgemerkt<br />
nicht die Freiheit aller, sondern die Freiheit<br />
derjenigen, die aus dem Konkurrenzkampf als<br />
die ‚Stärkeren’ hervorgehen (seien es Staaten,<br />
Regionen oder Individuen).“ Die Freiheit aber<br />
herrsche entweder total oder gar nicht „und<br />
jede Begrenzung zugunsten der weniger<br />
‚Starken’ wäre eine Einschränkung der anderen“<br />
(S. 256). Die Freiheit hat in den reichen<br />
Ländern gesiegt. „Die Demokratie ist auf andere<br />
Epochen verschoben und wird von anderen<br />
Menschen neu konzipiert werden. Vielleicht<br />
nicht mehr von Europäern.“ (S. 357)<br />
Mit diesem Schluss ist ein ganz anderes<br />
Gegensatzpaar entwickelt, oligarchischer Liberalismus<br />
(verbunden mit (Neo-)Kolonialismus)<br />
oder Demokratismus. Im Interesse der<br />
Demokratisierung kann es allerdings auch liegen,<br />
Gewalt anzuwenden, Freiheiten einzuschränken.<br />
Die Behauptung, dass jeder Schritt<br />
demokratisch sein muss, ist eben nichts anderes<br />
als eine Phrase. Bertolt Brecht schrieb zum<br />
Aufstand der „vollkommen Ehrlichen“: Diese<br />
„Geschichte zeigt, wie ein Unternehmen zur<br />
Einführung der Demokratie durch (vorzeitige)<br />
Demokratie verunglückt. Die Erarbeitung<br />
einer Grundlage für Demokratie kann in den<br />
seltensten Fällen auf demokratische Weise<br />
erfolgen.“ Demokratisches Verhalten sei „ein<br />
solches Verhalten, das Demokratie ermöglicht,<br />
nicht eines, das Demokratie zeigt.“ 8 Gewalt<br />
kann diesen Prozess behindern, aber auch<br />
befördern. Dialog gehört zur Demokratie.<br />
Aber totale Freiheit aller auf jeder Entwicklungsstufe<br />
dürfte für absehbare Zeit unmöglich<br />
sein.<br />
1 Lenin, Werke, Berlin 1955 ff., hinfort als LeW zitiert, Bd.<br />
23 S. 372.<br />
2 L. Trotzki, Mein Leben, Berlin 19<strong>90</strong>, S. 297 f.<br />
3 Vgl. dazu die bei U.-J. Heuer, Marxismus und Demokratie,<br />
Berlin bzw. Baden-Baden 1989, S. 363-367 angeführten<br />
Autoren.<br />
4 W. I. Lenin, Staat und Revolution 1917, W. I. Lenin, Werke<br />
Bd. 25, Berlin 1960, S. 475, W.I. Lenin, Thesen und Referat<br />
auf dem I. Kongress der Kommunistischen Internationale,<br />
1919, W.I. Lenin, Werke Bd. 28, Berlin 1959, S. 481.<br />
5 D. Losurdo, Der Marxismus Antonio Gramscis, Hamburg<br />
2000, S. 95-97, S. 109, S. 97.<br />
6 D. Losurdo, „Die Demokratie als universeller Wert“,<br />
Marxistische Blätter 2001, H. 1, S. 23, 22.<br />
7 R. Dahrendorf, An der Schwelle zum autoritären<br />
Jahrhundert, DIE ZEIT 14.11.1997.<br />
8 B. Brecht Tui-Geschichten 1933 Große kommentierte<br />
Berliner und Frankfurter Ausgabe XVII 1989 S. 105.
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Revolutionen – noch<br />
Lokomotiven<br />
der Weltgeschichte?<br />
Nina Hager<br />
Die <strong>Jahre</strong> 1989/<strong>90</strong> stellten nach Ansicht des<br />
marxistischen Historikers Eric Hobsbawm<br />
das Ende des kurzen 20. Jahrhunderts dar,<br />
dessen Beginn er mit 1914, dem Ausbruch des<br />
Ersten Weltkrieges ansetzte. Es war ein<br />
bewegtes, kurzes Jahrhundert.<br />
„Die Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg“,<br />
so Hobsbawm in seinem Buch „Das<br />
Zeitalter der Extreme“, „wurzelten … in der<br />
Auflehnung gegen das, was die meisten Menschen<br />
durchlebt und zunehmend als sinnlose<br />
Schlachterei begriffen hatten. Es waren<br />
Revolutionen gegen den Krieg.“ 1<br />
Die Revolution in Russland fand ihre Basis<br />
auch im Dekret über den Boden und mit der<br />
Enteignung der Fabrikherren und der Verstaatlichung<br />
der Banken sowie dem Sowjetsystem,<br />
in der ersten Möglichkeit der bisher in<br />
Russland unterdrückten Menschen die gesellschaftlichen<br />
Veränderungen mit zu gestalten.<br />
Die Revolutionen an der Peripherie des früheren<br />
russischen Reiches, vor allem in Mittelasien,<br />
in der Mongolei, in China richteten sich<br />
vor allem gegen Feudal- und Fremdherrschaft<br />
sowie gegen koloniale Unterdrückung. Auch<br />
hier gab es – wie in den Revolutionen nach<br />
dem 2. Weltkrieg – eine Einheit in der Vielfalt.<br />
2<br />
Hobsbawm wollte – angesichts der Niederlage<br />
von 1989/ <strong>90</strong> – keine Aussagen darüber<br />
treffen, wie „die zukünftige Gestalt einer<br />
Landschaft“ aussehen würde, die „durch die<br />
tektonischen Erschütterungen des kurzen 20.<br />
Jahrhunderts bereits zur Unkenntlichkeit verändert<br />
wurde und die von den zur Zeit stattfindenden<br />
Erschütterungen noch unkenntlicher<br />
gemacht wird.“<br />
In seinen Schlussbemerkungen verweigerte<br />
sich Hobsbawm zudem der Frage, ob und wie<br />
die Menschheit ihre Probleme lösen wird. Er<br />
THEMA 43<br />
sah damals wenig Anlass, hoffnungsvoll in die<br />
Zukunft zu schauen. 3 „Wir wissen nicht,<br />
wohin wir gehen. Wir wissen nur, dass uns die<br />
Geschichte an diesen Punkt gebracht hat, und<br />
wir wissen auch weshalb ... Wenn die Menschheit<br />
eine erkennbare Zukunft haben soll,<br />
dann kann sie nicht darin bestehen, dass wir<br />
die Vergangenheit und Zukunft lediglich fortschreiben.<br />
Wenn wir versuchen, das dritte<br />
Jahrtausend auf dieser Grundlage aufzubauen,<br />
werden wir scheitern. Und der Preis für<br />
dieses Scheitern, die Alternative zu einer<br />
umgewandelten Gesellschaft, ist Finsternis.“ 4<br />
Die Frage nach dem „Ob“ ist auch <strong>heute</strong><br />
nur schwierig zu beantworten, obgleich es<br />
<strong>heute</strong> viel mehr Anlass für die Überzeugung<br />
gibt, dass sich etwas verändert und verändern<br />
lässt. Nicht nur wegen der Entwicklungen in<br />
Lateinamerika.<br />
Es bleibt auch die nicht weniger komplizierte<br />
Frage nach dem „Wie“ gesellschaftlicher<br />
Umbrüche.<br />
In diesem Zusammenhang will ich mich auf<br />
einen Aspekt, auf die Revolutionsfrage beschränken,<br />
soweit sie unmittelbar mit der dialektisch-materialistischenEntwicklungsauffassung<br />
zusammenhängt. Der Abschied einer<br />
Reihe von Linken vom Revolutionsbegriff<br />
nach 1989/<strong>90</strong> stellt in diesem Zusammenhang,<br />
so der marxistische Revolutionsforscher Manfred<br />
Kossok bereits im Jahr 1992, „keinen<br />
Lösungsweg“ dar 5 bzw. ist keine Antwort auf<br />
die Frage nach dem „Wie“.<br />
Die dialektisch-materialistische<br />
Entwicklungsauffassung<br />
Vor über 150 <strong>Jahre</strong>n gebrauchte Karl Marx<br />
das Bild: „Die Revolutionen sind die Lokomotiven<br />
der Geschichte“ 6 . Diese Äußerung<br />
bezog sich damals auf einen anhaltenden<br />
Prozess revolutionärer gesellschaftlicher Veränderungen<br />
in Frankreich und auf die agierenden<br />
Klassenkräfte, die er in seiner Arbeit<br />
„Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis<br />
1850“ genau analysierte.<br />
Fast 100 <strong>Jahre</strong> nach der großen Revolution<br />
von 1789 hatte sich in Frankreich die kapita-
44<br />
Nina Hager: Revolutionen – noch Lokomotiven der Weltgeschichte?<br />
listische Gesellschaft durchgesetzt. Allerdings<br />
stand die französische Revolution nicht am<br />
Anfang des bürgerlichen Revolutionszyklus,<br />
der mit den Entwicklungen in Oberitalien, in<br />
den Niederlanden, in England und den USA,<br />
teilweise sogar schon 200, 150 <strong>Jahre</strong> zuvor an<br />
der Peripherie feudaler Macht begonnen<br />
hatte 7 . Sie war der Höhepunkt eines lange<br />
währenden grundsätzlichen gesellschaftlichen<br />
Umbruchs.<br />
Frankreich war in der Folge der Großen<br />
Revolution im 19. Jahrhundert aber auch der<br />
Ausgangspunkt wichtiger revolutionärer proletarischer<br />
Erhebungen, die die längst vergessene<br />
Forderung nach Gleichheit, Freiheit und<br />
Brüderlichkeit wieder auf die Tagesordnung<br />
setzten.<br />
Die Pariser Kommune von 1871 war das<br />
erste deutliche Signal dafür, dass die tatsächliche<br />
Lösung der Widersprüche der nun aktuellen<br />
kapitalistischen Entwicklung nur in der<br />
Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft<br />
bestehen kann.<br />
Mit dem Revolutionsbegriff wird in der<br />
marxistischen Entwicklungs- und Geschichtstheorie<br />
der Übergang von einer Gesellschaftsformation<br />
zu einer höheren Qualität gesellschaftlicher<br />
Entwicklung beschrieben. Revolutionäre<br />
Umbrüche bereiten sich in evolutionären<br />
Entwicklungsetappen vor. 8 Lenin sah<br />
wie Marx revolutionäre Perioden als „die lebendigsten,<br />
wichtigsten, wesentlichsten, entscheidendsten<br />
Momente in der Geschichte<br />
der menschlichen Gesellschaften“. 9<br />
Marx schrieb im Vorwort zu seiner Arbeit<br />
„Zur Kritik der politischen Ökonomie“ über<br />
die Ursachen und den Charakter revolutionärer<br />
gesellschaftlicher Umwälzungen: „Es ist<br />
nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr<br />
Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches<br />
Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer<br />
gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die<br />
materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft<br />
in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen<br />
... innerhalb deren sie<br />
sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen<br />
der Produktivkräfte schlagen diese<br />
Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt<br />
dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein.<br />
Mit der Veränderung der ökonomischen<br />
Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure<br />
Überbau langsamer oder rascher um.“ 10<br />
Dabei ist vorausgesetzt, dass die dialektisch-materialistische<br />
Entwicklungsauffassung<br />
sowie die marxistische Geschichtstheorie<br />
Entwicklungsprozesse nicht mechanistisch beschreiben<br />
und um einen Automatismus der<br />
Geschichte geht es schon gar nicht. Solche<br />
vereinfachten Vorstellungen hat es in Theorie<br />
und Politik der Arbeiterbewegung seit Ende<br />
des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts gegeben.<br />
Man war damals der Meinung, dass alle<br />
Geschehnisse im Gang der Geschichte<br />
zusammenfließen, dass die Arbeiterbewegung<br />
beständig stärker wird und daher zwangsläufig<br />
die Arbeiterklasse die politische Macht<br />
erringen und den Übergang zu einer sozialistischen<br />
Gesellschaft in die Wege leiten wird.<br />
Einseitigkeit oder Wunschdenken traten<br />
später auch beim Aufbau sozialistischer Gesellschaften<br />
an die Stelle wirklicher wissenschaftlicher<br />
Grundlegung politischer Praxis.<br />
Sowohl der Charakter gesellschaftlicher Entwicklungsgesetze<br />
wie die widerspruchsvolle<br />
Einheit von Stagnationen, Regressionen und<br />
Fortschritt in der Entwicklung, die Möglichkeit<br />
von Tendenzwenden bzw. Tendenzbrüchen<br />
wurden dabei nicht beachtet. Dahinter<br />
steckte – was Marx nicht hatte – die Vorstellung<br />
von einem „allgültigen Geschichtsfahrplan<br />
mit einem unverrückbaren Ziel“.<br />
Es geht also mit der dialektisch-materialistischen<br />
Entwicklungstheorie nicht um völlige<br />
„Durchschaubarkeit“ und Voraussehbarkeit<br />
der Geschichte der Gesellschaft.<br />
Die marxistische Sicht<br />
Entwicklung, auch der Gesellschaft, bedeutet<br />
aus marxistischer Sicht zunächst allgemein<br />
• Entstehung anderer, neuer und höherer Qualitäten,<br />
wobei die Entstehung höherer Qualitäten<br />
entscheidend ist. Die höhere Qualität ist<br />
an Entwicklungskriterien zu messen – unabhängig<br />
davon, welchen Bereich wir untersuchen.<br />
Um Entwicklungsprozesse zu analysieren
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
ist zunächst die Ausgangsqualität, die das Wesen<br />
einer Erscheinung bestimmt, zu erfassen.<br />
• nicht nur stetigen Fortschritt. Sie schließt<br />
mögliche Tendenzwenden, ja Tendenzbrüche,<br />
Stagnation und Regression ein. Tendenzen<br />
sind abschätzbar, aber die Zukunft ist offen.<br />
Es gibt keine eherne Notwendigkeit. Das<br />
Verhältnis von Gesetz und Zufall, die Entstehung<br />
von unterschiedlichen Möglichkeiten<br />
(Möglichkeitsfeldern) im Entwicklungsprozess,<br />
Existenz- und Begleitbedingungen spielen<br />
eine Rolle. Möglichkeiten verwirklichen<br />
sich unter bestimmten Bedingungen (dazu<br />
gehört in der Gesellschaft das Handeln von<br />
Menschen, Interessengruppen, Parteien) mit<br />
einer bestimmten Wahrscheinlichkeit.<br />
Aus unserer Sicht gibt es keinen treffenderen<br />
Begriff für grundlegende gesellschaftliche<br />
qualitative Umbrüche als den Revolutionsbegriff.<br />
Ursprünglich stammt der Revolutionsbegriff<br />
aus der Naturwissenschaft, vor allem der<br />
Astronomie. Er beschrieb dabei zunächst<br />
noch keine Entwicklungsprozesse.<br />
Aber die Epochenwende 1789, die große<br />
bürgerliche Revolution in Frankreich, brachte<br />
den „modernen politischen“ Revolutionsbegriff<br />
hervor. Übrigens sogleich aber auch<br />
sein Gegenstück, den Begriff der Konterrevolution<br />
11 . Mit der französischen Revolution von<br />
1789 erhielt die uralte Frage nach der richtigen<br />
Gesellschaft, in der die Menschen frei und<br />
gleich sind und jeder die Möglichkeit hat, am<br />
Reichtum der Gesellschaft zu partizipieren,<br />
unmittelbare Aktualität. Zum ersten Mal entstand<br />
eine bis dahin nicht gekannte Verbindung<br />
zwischen politischer Theorie und<br />
revolutionärer Praxis 12 .<br />
Revolutionen sind Ausdruck radikalen<br />
Umbruchs, „Knotenpunkte“ der Weltgeschichte.<br />
Revolutionäre Epochen sind komplexe<br />
Erscheinungen, die die Gesellschaft in<br />
ihrer Ganzheit umwälzen. Weil in den revolutionären<br />
Epochen die gesellschaftliche<br />
Entwicklung beschleunigt wird und die<br />
geschichtsgestaltende Kraft der Klassen und<br />
Volksmassen besonders deutlich zutage tritt,<br />
nannte Marx die Revolutionen eben „Lokomotiven<br />
der Geschichte“.<br />
THEMA 45<br />
Alle Veränderungen, die mit dem Revolutionsbegriff<br />
in Beziehung gesetzt werden<br />
– so unterschiedlich sie auch sind – haben aus<br />
marxistischer Sicht zwei wesentliche Eigenschaften<br />
gemeinsam:<br />
• Erstens bezieht sich der Revolutionsbegriff<br />
auf den Prozess der Ablösung einer bestehenden<br />
und die Entstehung einer neuen Gesellschaft.<br />
Bei einer Revolution handelt es sich<br />
um eine grundlegende qualitative Veränderung<br />
der wesentlichen Eigenschaften und<br />
Merkmale gesellschaftlicher Verhältnisse, Bedingungen<br />
und Beziehungen. In der marxistischen<br />
Philosophie spricht man an dieser Stelle<br />
von Grundqualität, ihrer Veränderung und<br />
von der Entstehung einer neuen, höheren<br />
Grundqualität.<br />
• Zweitens geht es im Zusammenhang mit<br />
dem Begriff der Revolution immer um Veränderungen,<br />
die Fortschritt bedeuten. Der<br />
grundlegende Begriffsinhalt von „Revolution“<br />
– qualitative Veränderung in Richtung<br />
Fortschritt – ist auch im Begriff der sozialen<br />
Revolution enthalten, aber darauf nicht beschränkt.<br />
Hauptkriterium der Betrachtung unter<br />
Marxistinnen und Marxisten für die gesellschaftliche<br />
Höherentwicklung waren in der<br />
Vergangenheit dabei vor allem der Entwicklungsstand<br />
und die Entwicklungsmöglichkeiten<br />
der Produktivkräfte, was Auswirkungen<br />
auf die Entwicklung in allen anderen Bereichen<br />
des gesellschaftlichen Lebens hat.<br />
„Fortschritt“ bedeutete zugleich, dass die bislang<br />
unterdrückten Klassen die Unterdrückung<br />
und die bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse<br />
überwinden konnten und politische<br />
wie ökonomische Macht erlangten.<br />
Die sozialistischen Revolutionen der Vergangenheit<br />
sind – auch wenn mit ihnen im<br />
Gegensatz zu vorhergehenden revolutionären<br />
Umbrüchen die Ausbeutung des Menschen<br />
durch den Menschen grundsätzlich überwunden<br />
wurde – noch nicht zu dem notwendigen<br />
Punkt gelangt, alle oligarchischen und patriarchalischen<br />
Verhältnisse zu beseitigen. Aus<br />
Erfahrung und heutiger Sicht gehört deshalb<br />
als weiteres unverzichtbares Kriterium für die
46<br />
Nina Hager: Revolutionen – noch Lokomotiven der Weltgeschichte?<br />
Bestimmung gesellschaftlichen Fortschritts<br />
die Frage: Inwieweit eröffnet eine Gesellschaft<br />
die Möglichkeit, dass sich Menschen –<br />
unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, ihres<br />
Geschlechts, ihrer Begabung, ihrer Fähigkeiten<br />
– tatsächlich allseitig bilden, sich frei<br />
entwickeln und entfalten können, inwieweit<br />
ermöglicht also eine Gesellschaft – wenn auch<br />
in einem historischen Prozess –, tatsächlich<br />
„alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der<br />
Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein<br />
verlassenes, ein verächtliches Wesen ist ...“ 13<br />
Und wie geht sie vor allem mit denen um,<br />
die schwach sind?<br />
Inwieweit ist also ein selbstbestimmtes und<br />
selbstgestaltetes Leben der Einzelnen gemeinsam<br />
mit den Anderen in Würde, Frieden,<br />
Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, in<br />
sozialer Sicherheit, aber auch in Verantwortung<br />
für die Natur und die materiell-stofflichen<br />
Ressourcen, tatsächlich möglich?<br />
Noch einige Anmerkungen:<br />
Erstens: In unserem heutigen marxistischen<br />
Sprachgebrauch findet der Begriff „Revolution“<br />
auch andere Anwendung. Er ist<br />
nicht mehr nur auf soziale und politische Prozesse<br />
beschränkt.<br />
Georg Fülberth und Michael Krätke<br />
machen beispielsweise darauf aufmerksam,<br />
dass der moderne Kapitalismus durch eine<br />
ganze Serie von „Revolutionen“ zustande<br />
kommt: „Nicht nur „industrielle“ Revolutionen<br />
sind wichtig, die „agrarische“ Revolution, die<br />
Transportrevolution, die „finanzielle“ Revolution<br />
des 18. Jahrhunderts, ebenso wie die<br />
„kommerzielle“ Revolution kurz darauf, spielen<br />
eine nicht weniger wichtige Rolle in der<br />
Entwicklung des Kapitalismus. Solche Revolutionen<br />
ereignen sich in der Geschichte des<br />
Kapitalismus immer wieder – in jüngster Zeit<br />
haben wir wieder eine finanzielle Revolution<br />
erlebt, die zum Verschwinden der Banken, wie<br />
wir sie kannten, zur Erfindung und Verbreitung<br />
der Finanzderivate und zum virtuellen<br />
Geld geführt hat.“ 14<br />
Im Zusammenhang mit grundsätzlich neuen<br />
Entwicklungen im System der Produktivkräfte<br />
sprechen wir beispielsweise seit vielen Jah-<br />
ren auch von einer wissenschaftlich-technischen<br />
Revolution.<br />
Einmal abgesehen davon, dass sie tief greifende<br />
Veränderungen auf dem Gebiet der Information<br />
und Kommunikation, im Bereich<br />
der Biotechnologie und Genetik, im Werkstoffbereich<br />
usw. betrifft und bis in den Bereich<br />
von Nanotechnologie reicht: Im Vergleich<br />
zur industriellen Revolution im 18. und<br />
19. Jahrhundert haben die Ergebnisse der heutigen<br />
wissenschaftlich-technischen Revolution<br />
weitaus gravierendere Auswirkungen auf das<br />
Leben aller Menschen; sei es durch technische<br />
Verbesserungen der Lebensumstände, durch<br />
Zerstörungen der Umwelt oder längerfristige<br />
Wirkungen.<br />
Mit der Entwicklung der modernen Produktivkräfte<br />
entstehen neue Möglichkeiten<br />
gesellschaftlicher Entwicklung, der umfassenden<br />
Umwälzung der Produktions- und Lebensweise,<br />
aber auch neue Gefahren und<br />
Grenzen. Die Frage nach den künftigen<br />
grundlegenden sozialen und politischen Veränderungen<br />
hängt damit viel enger zusammen<br />
als in früheren gesellschaftlichen Entwicklungsstadien.<br />
Zweitens: Wir müssen beachten, dass historisch<br />
unter dem Begriff der sozialen Revolution,<br />
auch wenn es letztlich immer um die<br />
Frage nach dem grundsätzlichen Bruch mit<br />
bestehenden Verhältnissen und nach der<br />
Entstehung einer höheren Qualität gesellschaftlicher<br />
Entwicklung geht, zudem sehr<br />
unterschiedliche konkrete Entwicklungen<br />
gefasst werden.<br />
Der Sturm auf die Bastille in Paris 1789<br />
oder der Sturm auf das Winterpalais in<br />
Petrograd im Oktober 1917 waren in der<br />
Geschichte als Ereignisse eher Ausnahmen.<br />
Soziale und politische Revolutionen nehmen<br />
lange Zeiträume in Anspruch. Revolutionäre<br />
Brüche mit überlebten gesellschaftlichen<br />
Systemen waren niemals Augenblicksereignisse,<br />
sondern umfassende, vielschichtige, oftmals<br />
langwierige historische Prozesse. In<br />
ihnen wurde prinzipiell immer die Macht- und<br />
die Eigentumsfrage gestellt. Ergebnis des<br />
komplexen historischen Prozesses waren
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Erscheinungsformen einer neuen gesellschaftlichen<br />
Produktionsweise mit dem – den historischen<br />
Umständen, Besonderheiten usw. entsprechenden<br />
– Überbau. Dabei gab es immer<br />
Phasen der Stagnation und sogar der<br />
Regression, ehe sich diese Grundqualität der<br />
neuen Gesellschaft durchsetzen konnte.<br />
Marxistisch inspiriert?<br />
Mit 1989/ <strong>90</strong> ist offenbar der alte Streit in der<br />
Linken neu entbrannt. Die Unterschiede zeigen<br />
sich nicht nur in der Programmatik. Und<br />
es gibt noch einige Ergänzungen zum alten<br />
theoretischen Streit. Über die SPD müssen<br />
wir in diesem Zusammenhang wohl nicht<br />
mehr reden. Sehr wohl aber über die Linkspartei,<br />
mit der sich im Lande viele Hoffnungen<br />
verbinden.<br />
2004 reduzierten Michael Brie und Dieter<br />
Klein in Thesen zu einer internationalen Konferenz<br />
in ihrem Beitrag „Die Wege – Revolution,<br />
Reform, Transformation – marxistisch<br />
inspirierte Überlegungen“ unter anderem<br />
die Position Rosa Luxemburgs zur Frage<br />
der Sozialreformen zunächst allein auf die<br />
Rolle von Reformen für die Vorbereitung der<br />
Revolution: „Sie schien eine Position zu vertreten,<br />
die den Kampf um die sozialen, kulturellen<br />
und politischen Interessen der Arbeiter<br />
und anderer Teile des Volkes auf ein bloßes<br />
Mittel der Vorbereitung auf den revolutionären<br />
Kampf reduzierte, auch wenn sie selbst<br />
dies weder so sah noch praktizierte … Es ging<br />
vor allem darum, den ‚Gewalthaufen‘ zu stärken<br />
und zusammenzuhalten. Der Kampf um<br />
Reformen sei dabei nur eines der Mittel.“ 15<br />
Dieses Herangehen wird dann – „marxistisch<br />
inspiriert“ – der gesamten ihr folgenden<br />
Bewegung unterstellt, die den Kampf um Reformen<br />
den „opportunistischen“ und „reformistischen“<br />
Kräften überlassen hätte. Nachdem<br />
dies geschehen ist, wird behauptet, die<br />
Trennung zwischen Reform und Revolution<br />
müsse aufgehoben werden.<br />
Ist es aber nicht vielmehr so, dass es ein im<br />
Laufe der Geschichte wechselndes Verhältnis<br />
von evolutionären und revolutionären, von<br />
THEMA 47<br />
quantitativen und qualitativen Veränderungen<br />
gibt? Reform und Revolution demnach<br />
als zwei Momente gesellschaftlicher Entwicklung<br />
und der Kämpfe um gesellschaftliche<br />
Veränderungen zu betrachten sind und nur<br />
der Begriff der „Revolution“ den grundlegenden<br />
qualitativen Umbruch kennzeichnet? Wo<br />
ist hier eine Trennung?<br />
Hier sei kurz daran erinnert, was Rosa<br />
Luxemburg tatsächlich geschrieben hatte. Sie<br />
sah sich bekanntlich 1898/1899 genötigt, eine<br />
prinzipielle Polemik gegen Bernstein zu führen.<br />
Die „Erkenntnis, dass Bernstein die Arbeiterbewegung<br />
auf die Bahnen des Trade-<br />
Unionismus drängen und damit objektiv die<br />
Selbstständigkeit der deutschen Sozialdemokratie<br />
als Klassenorganisation des Proletariats<br />
aufheben wollte“, bestimmte die Richtung<br />
ihres Kampfes. 16<br />
Im Vorwort zu ihrer Schrift „Sozialreform<br />
oder Revolution“ schrieb sie: „Der Titel der<br />
vorliegenden Schrift kann auf den ersten<br />
Blick überraschen. Sozialreform oder Revolution?<br />
Kann denn die Sozialdemokratie gegen<br />
die Sozialreform sein? Oder kann sie die soziale<br />
Revolution, die Umwälzung der bestehenden<br />
Ordnung, die ihr Endziel bildet, der<br />
Sozialreform entgegenstellen? Allerdings<br />
nicht. Für die Sozialdemokratie bildet der alltägliche<br />
praktische Kampf um soziale<br />
Reformen, um die Besserung der Lage des<br />
arbeitenden Volkes noch auf dem Boden des<br />
Bestehenden, um die demokratischen Einrichtungen,<br />
vielmehr den einzigen Weg, den<br />
proletarischen Klassenkampf zu leiten und<br />
auf das Endziel, auf die Ergreifung der politischen<br />
Macht und die Aufhebung des Lohnsystems<br />
hinzuarbeiten. Für die Sozialdemokratie<br />
besteht zwischen der Sozialreform und<br />
der sozialen Revolution ein unzertrennlicher<br />
Zusammenhang ...“ 17<br />
Der Kampf um Reformen war auch für<br />
Lenin eingebettet in den Kampf für die sozialistische<br />
Umgestaltung. Aber er ist kein Selbstzweck,<br />
dient nicht nur der „Vorbereitung der<br />
Revolution“ sondern dient der Verbesserung der<br />
sozialen und kulturellen Lebenslage des Proletariats<br />
und der Erweiterung seiner Spielräume.
48<br />
Nina Hager: Revolutionen – immer noch Lokomotiven der Weltgeschichte?<br />
„Lenin“, so Josef Schleifstein, „weist darauf<br />
hin, dass von allen Strömungen der Arbeiterbewegung<br />
nur der Marxismus das Verhältnis<br />
von Reform und Revolution richtig bestimmt<br />
habe. Auch während des ersten Weltkrieges<br />
und danach fordert er, dass die Marxisten keineswegs<br />
auf den Kampf um Reformen verzichten<br />
dürfen; die Opportunisten wären nur<br />
froh, sagt er, wenn die Marxisten ihnen allein<br />
den Kampf um Reformen überließen.” 18<br />
Wolfgang Eichhorn verwies 2005 darauf,<br />
dass die „geschichtlichen Inhalte von Themen<br />
wie Reform, Revolution, Fortschritt“ <strong>heute</strong><br />
nicht die gleichen sind „wie die vor hundert<br />
<strong>Jahre</strong>n. Sie haben sich verändert, und sie werden<br />
sich weiter verändern.“ 19 Aber sie sind<br />
nicht obsolet geworden.<br />
Brie und Klein unterstellten in ihrem Beitrag<br />
auch, dass der „orthodoxe Marxismus“<br />
ein sehr beschränktes Revolutionsverständnis<br />
habe. Aus dieser Behauptung folgern sie: „Sozialistische<br />
Umwälzung wird nicht mehr ausschließlich<br />
als ‚Tag der Entscheidung‘ gedacht,<br />
sondern als Prozess, der durch Veränderung<br />
von Kräfteverhältnissen, von<br />
Macht- und Eigentumsstrukturen, von institutioneller<br />
Innovation, von über den Kapitalismus<br />
hinausweisenden Reformen <strong>heute</strong> und<br />
hier beginnen kann.<br />
Nicht jede soziale oder demokratische<br />
Reform drängt Kapitalismus zurück, aber es<br />
steht die Frage, ob es nicht solche gibt, die ein<br />
derart ‚transformatives‘, dem Wesen nach<br />
revolutionäres Potential haben. Rosa Luxemburg<br />
scheint in den Räten solche Elemente<br />
und Prinzipien einer neuen Gesellschaft gesehen<br />
zu haben, die es auch unabhängig von der<br />
Übernahme der politischen Macht im Staat<br />
durchzusetzen gelte. Wenn dies richtig ist,<br />
dann überwand sie im Ansatz die alte Trennung<br />
von Weg und Ziel, Reform und Revolution,<br />
damit beginnt sie Positionen zu entwickeln,<br />
in denen der Weg ein realer Fortschritt<br />
auf dem Weg zum Ziel ist (nicht mehr nur im<br />
Sinne der Zuspitzung der Widersprüche und<br />
der Festigung eines revolutionären Bewusstseins)<br />
und das Ziel sich direkt mit der Art und<br />
Weise des alltäglichen Kampfes und konkre-<br />
ten Interessenvertretung so verbindet, dass<br />
dabei reale Fortschritte hin zum realen Ziel<br />
erreicht werden können. Eine solche Position<br />
könnte in Überwindung des alten Gegensatzes<br />
von Reform und Revolution als<br />
sozialistische Transformationspolitik bezeichnet<br />
werden, eine Politik, die die realen<br />
Verhältnisse, die Eigentums- und Machtverhältnisse<br />
so zu verändern sucht, dass dabei der<br />
Kapitalismus zurückgedrängt wird und<br />
Ansätze nichtkapitalistischer Verhältnisse<br />
entstehen.“ 20<br />
„Transformation“ wird dabei „als Prozess<br />
progressiver Zurückdrängung und Überwindung<br />
der Kapitaldominanz über Wirtschaft<br />
und Gesellschaft“ 21 verstanden, nicht als<br />
Kampf um die Veränderung des Kräfteverhältnisses,<br />
um die Einschränkung, Zurückdrängung<br />
und letztlich grundlegende Veränderung<br />
der Macht- und Eigentumsverhältnisse<br />
wie sie beispielsweise im Programm der<br />
DKP im Kapitel „Unser Weg zum Sozialismus“<br />
im Zusammenhang mit der Frage nach<br />
der Notwendigkeit antimonopolistischer<br />
Umwälzungen als Voraussetzung für die Öffnung<br />
des Weges zum Sozialismus problematisiert<br />
wird.<br />
Die Autoren der programmatischen Eckpunkte<br />
der Partei „Die Linke“ haben den<br />
„Transformationsbegriff“ und das „Transformationsprojekt“<br />
übernommen, „das den<br />
Wandel in den kapitaldominierten Gesellschaften<br />
mit der Überwindung der Kapitaldominanz<br />
verbindet“ 22 . Der Sozialismus<br />
taucht in den gegenwärtigen programmatischen<br />
Eckpunkten, die ein wichtiges Gründungsdokument<br />
„Der Linken“ sind, nur noch<br />
als „demokratischer Sozialismus“ auf. Der soll<br />
Ziel, Weg und Wertesystem sein. Weitergehende,<br />
konkretere Vorschläge wurden bislang<br />
nicht berücksichtigt.<br />
In den Eckpunkten heißt es: „Ziel des demokratischen<br />
Sozialismus, der den Kapitalismus<br />
in einem transformatorischen Prozess<br />
überwinden will, ist eine Gesellschaft, in der<br />
die Freiheit des anderen nicht die Grenze, sondern<br />
die Bedingung der eigenen Freiheit ist.“<br />
Einmal abgesehen davon, dass man auch
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
über den zweiten Teil dieses Satzes reden<br />
müsste, taucht der grundlegende Begriffsinhalt<br />
von „Revolution“ nicht auf. Wird der<br />
Bruch mit den bestehenden Macht- und<br />
Eigentumsverhältnissen noch gedacht? Oder<br />
müssen wir „unorthodox“ ganz anders denken?<br />
Aber was? Kann man mit dem Begriff<br />
„Transformation“ besser grundlegende qualitative<br />
gesellschaftliche Veränderungen in<br />
Richtung Fortschritt beschreiben?<br />
Transformation (Umformung) bedeutet zunächst<br />
nur allgemein die Veränderung der<br />
Gestalt bzw. Form bzw. Struktur. Von „revolutionären<br />
Transformationsprozessen“ oder reformerischen<br />
Transformationen zu sprechen,<br />
macht vielleicht noch Sinn, um qualitative<br />
Umwandlungs- oder Umformungsprozesse zu<br />
bekräftigen und Unterschiede aufzuzeigen.<br />
Transformationsprozesse können jedoch auch<br />
ohne Verlust der Substanz bzw. des Inhaltes<br />
erfolgen. Dies bedeutet, dass mit diesem<br />
Begriff also nicht unbedingt die Veränderung<br />
des Wesens, der Grundqualität verbunden<br />
wird. Auch in den Naturwissenschaften hängt<br />
dieser Begriff in der Regel nicht mit der<br />
Veränderung des Wesens einer Erscheinung,<br />
der Veränderung der Grundqualität zusammen.<br />
In den bürgerlichen Sozial- und Politikwissenschaften<br />
wird unter Transformation<br />
eine strukturelle Umformung, Umwandlung<br />
oder Veränderung wie beispielsweise die<br />
Umwandlung von Plan- in Marktwirtschaften<br />
(das wird als Transformationsökonomie<br />
bezeichnet), aber auch die Veränderung von<br />
einer Gesellschaftsform in eine andere, eines<br />
politischen Systems in ein anderes verstanden.<br />
Er beschreibt also alle möglichen Veränderungen,<br />
aber nicht notwendig die Veränderung<br />
des Wesens, der Grundqualität einer<br />
Gesellschaft in Richtung gesellschaftlicher<br />
Fortschritt.<br />
Übrigens – hier sei ein Einschub gestattet –<br />
gab es nach 19<strong>90</strong> in der sozialwissenschaftlichen<br />
Forschung über einige <strong>Jahre</strong> eine regelrechte<br />
Flut von Arbeiten, die sich mit der<br />
„Transformation“ der ostdeutschen Wirtschaft<br />
und Gesellschaft bzw. entsprechenden<br />
THEMA 49<br />
Prozessen in anderen Ländern Osteuropas<br />
beschäftigten. Wir haben diesen Prozess dagegen<br />
immer als einen historisch beispiellosen<br />
kapitalistischen Rückgewinnungs-, Ausplünderungs-<br />
und Restaurationsprozess, also als<br />
den Sieg einer Konterrevolution benannt. Mit<br />
dem Transformationsbegriff handelt es sich<br />
um einen Begriff, der eher Herrschaftsverhältnisse<br />
verschleiert als sie offenzulegen.<br />
Auch dieses Beispiel zeigt, mit „Transformationen“<br />
werden die grundlegenden gesellschaftlichen<br />
Widersprüche im Land wie international<br />
nicht gelöst werden können. Eine<br />
Lösung der Probleme der Menschen ist im<br />
Rahmen dieser Gesellschaft nicht mehr möglich.<br />
Nicht nur die Wahlerfolge der Linkspartei,<br />
sondern auch Aktionen in den Betrieben, die<br />
Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm<br />
usw. zeigen, das sich Einstellungen wandeln.<br />
Es ist – trotz der vielen kritischen<br />
Stimmen im Land und auch in anderen Ländern<br />
– aber noch ein langer Weg, Menschen zu<br />
überzeugen, Kräfte zu sammeln, zu gemeinsamen<br />
Aktionen, zu gemeinsamen Zielvorstellungen<br />
zu kommen. Und es ist ein noch längerer<br />
Weg, dass dieser gemeinsame Kampf in<br />
grundlegenden Veränderungen mündet.<br />
Und zugleich waren die gesellschaftlichen<br />
Möglichkeiten für eine fortschrittliche Entwicklung<br />
nie so beschränkt wie <strong>heute</strong>. Aus<br />
unserer Sicht sind die Spielräume für Sozialreformen<br />
unter den Bedingungen eines „globalisierten“<br />
Kapitalismus und neoliberaler Politik<br />
– Schäubles Vorhaben zum Abbau von politischen<br />
Grundrechten sind dabei zum Beispiel<br />
nur ein Moment einer massiven und wirksamen<br />
ökonomischen, politischen und ideologischen<br />
Gegenstrategie – enger geworden.<br />
Wer die Ursachen von Ausbeutung und<br />
Entfremdung, von Krieg und Hunger, von<br />
Armut und Verzweiflung, von Arbeitshetze<br />
und Arbeitslosigkeit, von Umweltzerstörung,<br />
Diskriminierung, Rassismus, Chauvinismus<br />
und Unterdrückung beseitigen will, der muss<br />
den Kapitalismus grundsätzlich in Frage stellen.<br />
Bleiben wir also beim Revolutionsbegriff,
50 Nina Hager: Revolutionen – noch Lokomotiven der Weltgeschichte?<br />
beim scheinbar „alten“, „orthodoxen“ Instrumentarium.<br />
Das heißt aber auch, weiter daran<br />
zu arbeiten, Vereinfachungen und theoretische<br />
Fehler zu überwinden.<br />
Georg Fülberth und Michael R. Krätke<br />
schrieben in ihrer Arbeit „Neun Fragen zum<br />
Kapitalismus“: „Es gibt Konjunkturen der<br />
Revolten und Rebellionen, aber sie kommen<br />
unweigerlich zurück, da ihre Ursachen im<br />
Kapitalismus ständig aufs Neue reproduziert<br />
werden. Im Weltmaßstab betrachtet, ist es<br />
auch dem mobilsten Kapital bisher noch nicht<br />
gelungen, den Revolten und den organisierten<br />
Rebellionen, die es selbst hervorruft, auf<br />
Dauer zu entkommen … Mit der Abwanderung<br />
des Kapitals, mit der räumlichen Verlagerung<br />
der kapitalistischen Produktion werden<br />
die der kapitalistischen Produktionsweise<br />
eigentümlichen Konflikte und Kämpfe nur<br />
verlagert und verschoben, nicht aufgehoben.<br />
Immer schon, auch im 19. und 20. Jahrhundert,<br />
gab es Gegenbewegungen gegen die Entfesselung<br />
der ‚Märkte‘, gegen die zerstörerischen<br />
Folgen des Kapitalismus. Es gibt sie auch<br />
<strong>heute</strong>.“ 23<br />
Und im DKP-Programm heißt es: „Nur der<br />
revolutionäre Bruch mit den kapitalistischen<br />
Macht- und Eigentumsverhältnissen beseitigt<br />
letztendlich die Ursachen von Ausbeutung<br />
und Entfremdung, Krieg, Verelendung und<br />
Zerstörung unserer natürlichen Umwelt. Die<br />
Durchsetzung der elementaren Menschenrechte<br />
für alle Bewohner dieser Erde ist nur in<br />
einer Gesellschaft zu verwirklichen, die auf<br />
dem Gemeineigentum an Produktionsmitteln<br />
beruht und in der Demokratie mit der politischen<br />
Macht des arbeitenden Volkes verwirklicht<br />
wird. “ 24<br />
1 E. Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte<br />
des 20. Jahrhunderts. München 1995. S. 77<br />
2 M. Kossok: Der historische Ort der Französischen<br />
Revolution. In: Marxistische Blätter, 2/89. S.14<br />
3 Ebenda. S. 719<br />
4 Ebenda. S. 720<br />
5 J. Schleifstein: Ziel, Inhalt und Formen des Kampfs der<br />
Arbeiterklasse.Aus: Einführung in das Studium von Marx,<br />
Engels und Lenin. Abgedruckt in: Marxistische Blätter<br />
5/1995 S. 19<br />
6 K. Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850.<br />
In: MEW, Bd. 7, S. 85<br />
7 M. Kossok: Was bleibt von der Revolution und ihrer<br />
Theorie? In: Z, Nr. 12/ 1992, S.9<br />
8 Vgl. W. I. Lenin : Gegen den Boykott. In: LW, Bd. 13, S. 24<br />
9 Ebenda<br />
10 K. Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. In: MEW,<br />
Bd. 13, S. 9<br />
11 Vgl.: Manfred Kossok, In Tyrannos. Revolutionen der<br />
Weltgeschichte. Leipzig 1989. Vergleiche auch: Die Große<br />
französische Revolution. Hrsg. Kurt Holzapfel unter<br />
Mitwirkung von Walter Markov. Berlin 1989<br />
12 Vgl. Manfred Kossok, In Tyrannos. A. a. O.<br />
13 K. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie.A.<br />
a. O., S.385<br />
14 G. Fülberth/ M. R. Krätke: Neun Fragen zum Kapitalismus.<br />
Rosa-Luxemburg-Stiftung. Texte 36. S. 25<br />
15 Michael Brie und Dieter Klein in Thesen zu einer internationalen<br />
Konferenz in ihrem Beitrag „2. Wie: Die Wege –<br />
Revolution, Reform, Transformation – marxistisch inspirierte<br />
Überlegungen“. S. 3 f.<br />
16 G. Radczun: Rosa Luxemburg in dieser Zeit. In: Rosa<br />
Luxemburg. Ausgewählte politische Schriften in drei<br />
Bänden. Band 1. A. a. O.<br />
17 R. Luxemburg: Sozialreform oder Revolution? In: R.<br />
Luxemburg. Ausgewählte politische Schriften in drei<br />
Bänden. Bd. 1. A. a. O. S. 48<br />
18 Vgl. J. Schleifstein. A. a. O. S. 24/25<br />
19 Wolfgang Eichhorn: Gegenständlichkeit, Subjektivität<br />
und die Geschichte (Manuskript)<br />
20 Michael Brie und Dieter Klein in Thesen zu einer internationalen<br />
Konferenz in ihrem Beitrag „2. Wie: Die Wege –<br />
Revolution, Reform, Transformation – marxistisch inspirierte<br />
Überlegungen“. S. 5<br />
21 Ebenda. S. 2<br />
22 Ebenda. S. 18<br />
23 Georg Fülberth/ Micheal R. Krätke: Neun Fragen zum<br />
Kapitalismus. A. a. O. Rosa-Luxemburg-Stiftung. Texte 36.<br />
S. 46 f.<br />
24 Programm der DKP<br />
Wir suchen<br />
Freiverkäufer/innen!<br />
Wer mithelfen wöchte, marxistisches<br />
Wissen unters Volk zu bringen: Anruf,<br />
Kärtchen, E-Mail an den Verlag genügt!<br />
Tel. 0201/24 86 482<br />
www.marxistische-blaetter.de
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Wo geht’s denn hier zu<br />
den Veränderungen?<br />
Leo Mayer<br />
1. Wir leben in einer paradoxen Welt<br />
- Rostock/Heiligendamm im Juni 2007: Zehntausende<br />
demonstrieren, blockieren und diskutieren.<br />
Zugehörig zu christlichen Gruppen,<br />
der globalisierungskritischen Bewegung, Gewerkschaften,<br />
linken Organisationen und<br />
Parteien, eint sie der Protest gegen eine Weltordnung,<br />
die von den Regierungschefs der<br />
G7/G8 repräsentiert wird. Kapitalismuskritische<br />
und antikapitalistische Positionen sind<br />
bei allen zu finden.<br />
Zur gleichen Zeit streiken über 20 000<br />
Beschäftigte bei der Telekom. Sie wehren sich<br />
gegen die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen<br />
und die mit der Ausgliederung verbundene<br />
existenzielle Unsicherheit.Auch dort<br />
finden kapitalismuskritische Positionen wachsende<br />
Resonanz.<br />
Zwei Beispiele, wie bei einer zunehmenden<br />
Zahl von Menschen die Einsicht zunimmt,<br />
dass die gesellschaftlichen Probleme nicht<br />
innerhalb und mit dem Kapitalismus lösbar<br />
sind. Die Ansprüche an eine andere Welt – gerecht,<br />
solidarisch, friedlich – sind vorhanden.<br />
Doch zugleich wird auch keine Möglichkeit<br />
gesehen, dieses kapitalistische System zu<br />
überwinden. Es scheint keinen Ausweg und<br />
keine realistische Alternative zu geben. Alles<br />
scheint blockiert zu sein.<br />
- Weil es im Kapitalismus keine Lösung der<br />
Probleme gibt, wächst die Notwendigkeit einer<br />
radikalen Kapitalismuskritik und die Suche<br />
nach grundsätzlichen Alternativen. Aber zugleich<br />
wächst die Dringlichkeit von sofortigen<br />
Reformen zur Verbesserung der Lebenssituation<br />
und der Erweiterung demokratischer<br />
Freiheiten sowie zur gesellschaftlichen Kontrolle<br />
der wissenschaftlich-technischen Entwicklung.<br />
Die rasante Entwicklung der Produktivkräfte<br />
und die voranschreitende Globalisierung<br />
bringen diese in immer stärkeren<br />
THEMA 51<br />
Konflikt mit ihrer kapitalistischen Hülle und<br />
verstärken so die Tendenz, den Kapitalismus<br />
zu sprengen; eine Voraussetzung für den<br />
Übergang zum Sozialismus. Doch zugleich<br />
rufen die destruktiven Tendenzen der<br />
Produktivkraftentwicklung immer größere<br />
Katastrophen hervor und gefährden sogar die<br />
Existenz der menschlichen Gattung.<br />
- Obwohl Globalisierung und neoliberale Umwälzungen<br />
dem Reformismus den ökonomischen<br />
Boden entzogen haben, erleben linksreformistische<br />
Positionen einen enormen Aufschwung<br />
und Zulauf.<br />
2. Reformen und sozialistische Politik<br />
Nahezu alle linken Kräfte treten unter verschiedenen<br />
Bezeichnungen für eine Politik<br />
progressiver Reformen als Alternative und zur<br />
Überwindung des Neoliberalismus ein; bezeichnet<br />
als „Politikwechsel“, als „neue soziale<br />
Idee“ oder als „Wende zu demokratischem<br />
und sozialem Fortschritt“. Trotz großer Gemeinsamkeiten<br />
in der Richtung und den<br />
Inhalten einer Reformpolitik werden doch die<br />
Zielstellungen einer Reformpolitik unterschiedlich<br />
beantwortet. Es gibt, z. T. auch abhängig<br />
von den Zielstellungen, unterschiedliche<br />
Antworten auf die Fragen, welche politischen<br />
Spielräume für Reformen im heutigen<br />
Kapitalismus vorhanden sind und welche<br />
Kräftekoalitionen für eine Reformpolitik gewonnen<br />
werden können.<br />
Grob skizziert lassen sich drei Positionen<br />
benennen:<br />
1. über Reformen zum Sozialstaat der 70 er<br />
<strong>Jahre</strong> zurückzukehren;<br />
2. mittels Reformen den entfesselten globalen<br />
Kapitalismus zu bändigen und zu zivilisieren;<br />
3. Reformen als Teil einer Strategie zur Öffnung<br />
eines Weges zum Sozialismus.<br />
Bei dieser letztgenannten Konzeption hängen<br />
Reformen mit dem Kampf um Hegemonie,<br />
dem Aufbau von Gegenmacht und der<br />
Gewinnung der Mehrheit für den Kampf um<br />
eine sozialistische Gesellschaft zusammen.<br />
Der Kampf um Reformen muss nicht nur zur<br />
Verbesserung der Lebenssituation großer
52<br />
Leo Mayer: Wo geht’s denn hier zu den Veränderungen?<br />
Teile der Bevölkerung und der Erweiterung<br />
demokratischer Freiheiten beitragen, sondern<br />
auch zur Veränderung der Lebenseinstellungen,<br />
der Erwartungen und des Handelns breiter<br />
Massen. Denn mit dem Kampf um<br />
Veränderungen sollen sich auch die Handelnden<br />
verändern. Dementsprechend müssen<br />
Reformen auf die Veränderung der Verhältnisse<br />
zielen, aus denen die Interessen der Menschen<br />
erwachsen: auf die ökonomische Basis,<br />
den institutionellen Überbau und die Kultur.<br />
In einem langanhaltenden Kampf um strukturelle<br />
Reformen sollen die Macht des Kapitals<br />
und die Wirkung der Kapitallogik eingedämmt<br />
und schrittweise Positionen in der Gesellschaft<br />
und auch in Teilen des Staates von<br />
den progressiven Kräften besetzt werden.<br />
Dieser Kampf verläuft immer noch innerhalb<br />
des Kapitalismus, geht aber von der Marxschen<br />
Erkenntnis aus, dass der Kapitalismus<br />
sich mit Krisen und Brüchen entwickelt. In<br />
diesen Krisen und Umbruchphasen eröffnen<br />
sich Möglichkeiten revolutionärer gesellschaftlicher<br />
Umwälzungen. Diese Möglichkeit<br />
kann jedoch nur in dem Maße zur Realität<br />
werden, wie eine organisierte gesellschaftliche<br />
und politische Kraft existiert, die bewusst diese<br />
Möglichkeit nutzt. Mit dem Kampf um Reformen<br />
erarbeiten sich die fortschrittlichen<br />
Kräfte politische Handlungsfähigkeit und bereiten<br />
sich auf die „Möglichkeit“ vor.<br />
In dieser Konzeption sollen mit Reformen<br />
die progressiven Tendenzen der gesellschaftlichen<br />
Entwicklung befördert werden. Den<br />
Kapitalismus zeichnet die „fortwährende Umwälzung<br />
der Produktion, die ununterbrochene<br />
Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände“<br />
aus. „Alle festen eingerosteten Verhältnisse<br />
mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen<br />
Vorstellungen und Anschauungen werden<br />
aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie<br />
verknöchern können.“ Diese Beschreibung<br />
der Existenzbedingung des Kapitalismus<br />
durch Marx im Manifest wird uns gegenwärtig<br />
durch die mit dem neoliberalen, globalen<br />
Kapitalismus verbundenen gesellschaftlichen<br />
Umwälzungen anschaulich vor Augen geführt.<br />
So naheliegend es ist, in diesen Umbruchzei-<br />
ten das Alte, vermeintlich „Sichere“ retten zu<br />
wollen, so sollen fortschrittliche Reformen<br />
doch nicht zur Aufrechterhaltung des Alten<br />
dienen, sondern für das Neue vorbereiten. Es<br />
gilt, in den durch den Neoliberalismus hervorgerufenen<br />
Zersetzungen des Alten – wie z. B.<br />
der Arbeitsbeziehungen, Traditionen, Sitten,<br />
Geschlechterverhältnisse, kurz, der gesamten<br />
Arbeits- und Lebensweise, aber auch in der<br />
Zersetzung der arbeitenden Klasse und ihrer<br />
Neuzusammensetzung – die Ansatzpunkte für<br />
progressive Veränderungen zu suchen.<br />
Dies setzt eine genaue Analyse der Entwicklung<br />
der kapitalistischen Produktionsweise<br />
voraus. Ohne einen zeitgemäßen Marxismus<br />
lässt sich diese Aufgabe nicht lösen.<br />
3. Reformen im globalen Kapitalismus<br />
Der Kampf um Reformen muss in einer radikal<br />
veränderten Welt geführt werden:<br />
- der Realsozialismus ist verschwunden,<br />
- der Kapitalismus hat sich konkurrenzlos über<br />
den Globus ausgebreitet,<br />
- der „permanente Krieg“ wurde zum Normalzustand,<br />
um die gegenwärtige imperialistische<br />
Weltordnung aufrechtzuerhalten,<br />
- die traditionelle Arbeiterbewegung als gewerkschaftliche,<br />
kulturelle und politische Bewegung<br />
existiert nicht mehr.<br />
Bei der Frage nach Reformen im globalen<br />
Kapitalismus zeigen uns die Erfahrungen der<br />
zurückliegenden <strong>Jahre</strong>, dass es nicht mehr<br />
gelungen ist, progressive Reformen durchzusetzen,<br />
dass das Handeln und die Aktivitäten<br />
der sozialen Bewegungen ohne sichtbare<br />
Wirkungen für die politischen Entscheidungen<br />
der Herrschenden geblieben sind.<br />
- Trotz einer weltweiten Bewegung gegen den<br />
Krieg, wurde der Krieg gegen den Irak<br />
geführt. Die nächsten Kriege werden vorbereitet.<br />
- Im deutschen Bundestag entscheiden zwei<br />
Drittel der Abgeordneten in allen wichtigen<br />
Fragen gegen den Willen von zwei Dritteln der<br />
Bevölkerung.<br />
- Trotz großer Mobilisierungen in verschiedenen<br />
Ländern Europas zur Verteidigung sozia-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
ler Rechte und der Arbeitsrechte, gegen Privatisierung<br />
öffentlichen Eigentums und der<br />
sozialen Sicherungssysteme, gegen die Deregulierung<br />
der Arbeitsmärkte wurden die meisten<br />
Kämpfe verloren. Im besten Fall konnte<br />
das Tempo der neoliberalen Umstrukturierung<br />
verringert werden. Selbst Erfolge wie die<br />
Ablehnung der EU-Verfassung durch die<br />
Volksabstimmungen in Frankreich und den<br />
Niederlanden oder die Abwehr der EU-<br />
Richtlinie zur Deregulierung der Hafenarbeit<br />
geben nur eine Atempause.<br />
- In Deutschland hat die IGM im Jahr 2003 mit<br />
dem Kampf um die 35-Stunden-Woche in<br />
Ostdeutschland erstmals in 50 <strong>Jahre</strong>n einen<br />
Streik verloren. Das war der Auftakt, zu einem<br />
Angriff auf ganzer Linie, die 35-Stunden-<br />
Woche zurückzurollen, die Arbeitszeit total zu<br />
flexibilisieren und die Löhne zu senken. Mit<br />
der Niederlage von ver.di im Kampf gegen die<br />
Ausgliederungspläne der Telekom wurde den<br />
Gewerkschaften eine strategische Niederlage<br />
beigebracht.<br />
- Obwohl <strong>heute</strong> die Arbeitsproduktivität so<br />
stark wie nie zunimmt, wird der dadurch erzeugte<br />
Überschuss an gesellschaftlichem<br />
Reichtum dem Mechanismus der Umverteilung<br />
entzogen. Die globalen Renditevorgaben<br />
durch die Finanzmärkte und die Orientierung<br />
auf den Weltmarkt bewirken, dass das transnationale<br />
Kapital jede Investition in die Gesellschaft<br />
bekämpft, weil sie als inakzeptabler<br />
Entzug von Ressourcen betrachtet wird, die<br />
für den Überlebenskampf auf dem Weltmarkt<br />
benötigt werden.<br />
Auf diese Weise wächst die Kluft zwischen<br />
Arm und Reich und es wird unaufhörlich die<br />
gigantische Masse des auf dem Globus anlagesuchenden<br />
Kapitals gespeist.<br />
Die alte Weisheit des fordistischen Zeitalters,<br />
dass Autos keine Autos kaufen, hat für die<br />
hierzulande dominierenden Konzerne und die<br />
politikbestimmenden Wirtschaftseliten jeden<br />
Wert verloren. Für die Konzerne ist der Produktionsstandort<br />
zum ausschließlichen Kostenfaktor<br />
geworden. Je erfolgreicher man<br />
diese zu minimieren versteht, desto höher die<br />
Chance, auf anderen Märkten andere Kon-<br />
THEMA 53<br />
kurrenten niederzuzwingen, um so selbst dort<br />
zu wachsen, wo die Nachfrage stagniert.<br />
So ist die wachsende und sich verfestigende<br />
Armut und die Vermarktlichung / Flexibilisierung<br />
der Arbeitskraft ein struktureller und<br />
funktioneller Bestandteil dieses auf den<br />
Weltmarkt gerichteten Modells.<br />
Diese Entwicklungen führen zu der<br />
Schlussfolgerung, dass die Logik bzw. Regulationsweise<br />
des heutigen, globalen Kapitalismus<br />
inkompatibel ist mit sozialen und demokratischen<br />
Zugeständnissen und Reformen.<br />
Vom Sozialstaatskompromiss …<br />
Natürlich mussten soziale Rechte, kürzere<br />
Arbeitszeiten, höhere Löhne, etc. immer – zum<br />
Teil über durchaus auch harte Verteilungskonflikte<br />
– gegen die Unternehmer erkämpft werden.<br />
Aber wenn sie erkämpft waren, dann<br />
konnten sie in das Regulierungsmodell bzw. in<br />
die Logik des Nachkriegskapitalismus eingebaut<br />
werden. Und sie waren damit in den folgenden<br />
Auseinandersetzungen der Ausgangspunkt<br />
für weitere Verbesserungen. Denn diese<br />
Verbesserungen und Reformen waren Bestandteil<br />
des Regulationsmodells des Kapitalismus<br />
der Nachkriegszeit. Die sozialstaatliche<br />
Regulierung hatte nämlich nicht nur<br />
einen sozialpolitischen Aspekt (Absicherung<br />
in Notfällen), sondern durchaus auch eine<br />
ökonomische Funktion: die Erhöhung der<br />
Reallöhne im Maße des Produktivitätsfortschritts<br />
und die Sicherung der Masseneinkommen<br />
auch in konjunkturellen Schwächeperioden,<br />
bei Krankheit und im Alter förderte<br />
und stabilisierte die Nachfrage und damit die<br />
stark vom Binnenmarkt abhängige Kapitalverwertung.<br />
Basierend auf dynamischem Wirtschaftswachstum,<br />
stärkerer Binnenmarktorientierung,<br />
einem staatlichen Sektor und staatlicher<br />
sozialer Regulierung bestand ein Zusammenhang<br />
zwischen Produktivitätsfortschritt und<br />
sozialem Fortschritt. Dieser Zusammenhang<br />
entstand nicht im Selbstlauf, sondern wurde<br />
durchgesetzt und vermittelt durch den gewerkschaftlichen<br />
Kampf und nicht zuletzt durch die
54<br />
Leo Mayer: Wo geht’s denn hier zu den Veränderungen?<br />
Systemkonkurrenz mit den sozialistischen<br />
Ländern.<br />
Die Gewerkschaftsbewegung konnte bedeutende<br />
soziale Errungenschaften und Zugeständnisse<br />
von Seiten des Kapitals erkämpfen;<br />
immer mit einem Kampf und einer politischen<br />
Orientierung innerhalb des kapitalistischen<br />
Systems. Ein ganzes Geflecht von Tarifvertragssystem,<br />
Sozialsystemen, Sozialgesetzgebung,<br />
Betriebsverfassungsgesetz, etc. wurde<br />
zur institutionellen Absicherung dieses Klassenkompromisses<br />
und zur Entschärfung von<br />
Klassenkonflikten entwickelt.<br />
Der Klassenkompromiss basierte auf einer<br />
Logik, bei der es im Kern um die Förderung<br />
des Industriestandortes Deutschland (der inländischen<br />
Möglichkeiten der Profitproduktion)<br />
ging und Auslandsinvestitionen für die<br />
Gewinnung neuer Märkte und Absatzchancen<br />
getätigt wurden. Der darauf aufbauende Export<br />
förderte unter dem Strich die Schaffung<br />
von industriellen Arbeitsplätzen. Dies stärkte<br />
den Einfluss der Gewerkschaften.<br />
Die Zollschranken waren höher als <strong>heute</strong>,<br />
damit waren den Exporten Grenzen gesetzt.<br />
Der Kapitalverkehr war stärker reglementiert,<br />
daher war die Fähigkeit eines Staates, die Auslandsinvestition<br />
mit wirtschaftspolitisch sinnvollen<br />
Auflagen hinsichtlich Beschäftigung<br />
und Wachstum zu verknüpfen, deutlich höher<br />
als <strong>heute</strong>. Die Freiheit des Warenverkehrs war<br />
wegen viel höherer Transport- und Kommunikationskosten<br />
real viel begrenzter als sie es<br />
<strong>heute</strong> ist. Damals konnten die Beschäftigten in<br />
den Industrieländern weit weniger mit einer<br />
Verlagerungsoption bedroht werden.<br />
Aber es war eben eine ganz bestimmte<br />
historische Konstellation – geprägt von den<br />
inneren ökonomischen Bedingungen wie auch<br />
den äußeren der Systemkonkurrenz –, auf<br />
deren Basis der sozialstaatliche Klassenkompromiss<br />
möglich war. Beide Aspekte treffen<br />
<strong>heute</strong> nicht mehr zu.<br />
… zur sozialen Konfrontation<br />
Die Zeit der Systemkonkurrenz war nicht nur<br />
eine zeitweilige Unterbrechung des Austra-<br />
gens zwischenimperialistischer Widersprüche<br />
mit militärischen Mitteln. Unter dem Druck<br />
der Systemkonkurrenz und in ihrem Schatten<br />
vollzog sich ein globaler Strukturwandel. Es<br />
bildeten sich Strukturen eines transnationalen<br />
Kapitalismus heraus, dessen Kern die transnationalen<br />
Konzerne und Finanzgruppen bilden.<br />
Mit der Entwicklung des Weltmarktes zum<br />
einheitlichen Feld der kapitalistischen Konkurrenz,<br />
mit der Herausbildung Transnationaler<br />
Konzerne als strukturbestimmendes<br />
Kapitalverhältnis (die Multis bestimmen weltweit<br />
die Bedingungen von Produktion, Handel,<br />
Investitionen, Technologie, Konsumgewohnheiten,<br />
…), mit dem Wirken von globalen<br />
Renditevorgaben und mit dem Primat globaler<br />
Wettbewerbsfähigkeit zerbricht dieser frühere<br />
Zusammenhang zwischen Produktivitätsfortschritt<br />
und sozialem Fortschritt. Mit dem<br />
Wegfall der Systemkonkurrenz entfällt auch<br />
die politische Notwendigkeit für Zugeständnisse.<br />
Die Logik bzw. Regulationsweise des heutigen,<br />
globalen Kapitalismus ist inkompatibel<br />
mit sozialen und demokratischen Zugeständnissen<br />
und Reformen. Jeder Cent, jede Minute<br />
Arbeitszeitverkürzung muss nicht nur gegen<br />
die Unternehmer, sondern auch gegen die<br />
„Logik“ des globalen Kapitalismus durchgesetzt<br />
werden. Soziale Kompromisse widersprechen<br />
einer Logik, die auf Profitmaximierung<br />
durch globale Kostensenkung zielt und dabei<br />
auch die Zerstörung des industriellen Standortes<br />
Deutschland tendenziell in Kauf nimmt.<br />
Das heißt nicht, dass dem Kapital keine<br />
Zugeständnisse mehr abgerungen und in dem<br />
einen oder anderen Fall nicht soziale Zugeständnisse<br />
erkämpft werden könnten. Das ist<br />
tatsächlich eine Frage des Kräfteverhältnisses.<br />
Aber diese Zugeständnisse sind dem Modell<br />
des heutigen Kapitalismus wesensfremd. Sie<br />
werden nicht mehr integriert in die Regulationsweise<br />
des globalen Kapitalismus. Sie<br />
sind ein Fremdkörper, der so schnell als möglich<br />
wieder abgestoßen wird. Deshalb sind<br />
erkämpfte Zugeständnisse und Errungenschaften<br />
nicht mehr Ausgangsbasis für weitere<br />
Kämpfe, sondern sofort ständigen Angriffen
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
des Kapitals ausgesetzt; das Rollback ist das Bestimmende<br />
für den neoliberalen Kapitalismus.<br />
Ökonomie und Politik<br />
Nach dem Grundsatz, dass eine bestimmte<br />
Ökonomie eine bestimmte Politik bedingt –<br />
und das eine jeweils die Existenzbedingung<br />
des anderen ist –, bedingen globaler Kapitalismus<br />
und Neoliberalismus einander. Wobei die<br />
politische Herrschaft auf ökonomischer Herrschaft<br />
beruht und dieser entspringt. Beim<br />
Neoliberalismus handelt es sich eben nicht um<br />
eine von den Herrschenden bevorzugte<br />
Politik, die man je nach politischer Konjunktur<br />
wählen oder abwählen kann, sondern um eine<br />
innere Notwendigkeit des globalen Kapitalismus<br />
in der heutigen Zeit. Es kann auch keine<br />
stabile „Koexistenz“ zwischen der neoliberalen<br />
Logik der globalen Wettbewerbsfähigkeit<br />
einerseits und sozialstaatlichen Maßstäben in<br />
der Politik andererseits geben. Der Widerspruch<br />
zwischen beiden Ebenen wird zugunsten<br />
der Herrschaftsstruktur der Ökonomie<br />
gelöst. Wenn es nicht gelingt, eben dort – also<br />
in den Eigentumsverhältnissen – zu substanziellen<br />
Reformen zu kommen, dann, so ist zu<br />
schlussfolgern, wird die Logik der Ökonomie<br />
die Entsprechung in Politik und Gesellschaft<br />
erzwingen. Staatliche Politik hat unter diesen<br />
Bedingungen die Aufgabe, den Standort für<br />
den internationalen Vorteilsvergleich des<br />
transnationalen Kapitals attraktiv zu machen –<br />
durch Flexibilisierung und Senkung der Kosten<br />
der Arbeitskraft, Schwächung der Gewerkschaften,<br />
Reduzierung der steuerlichen Belastung<br />
und ökologischer Auflagen etc.<br />
Selbstverständlich sind Varianten möglich;<br />
zwar nicht beliebig, aber in historisch bestimmten<br />
Bandbreiten; abhängig vom Klassenkampf,<br />
aber auch von der Orientierung der<br />
herrschenden Klasse im Blickwinkel internationaler<br />
Konkurrenz und Rivalität. Wenn<br />
allerdings keynesianische Reformer die darauf<br />
beruhende „relative Selbstständigkeit“<br />
von Staat und Gesellschaft gegenüber der<br />
ökonomischen Struktur und auf dieser Basis<br />
die Kombination von kapitalistischer Wirt-<br />
THEMA 55<br />
schaft und sozial gestalteter Gesellschaft behaupten,<br />
rücken sie das eigentliche Kernproblem<br />
jeder sozialistischen Strategie aus<br />
dem Blickfeld: dass alternative Reformen nur<br />
im Kampf gegen das transnationale Kapital<br />
durchgesetzt werden können und Eingriffe in<br />
die ökonomische Struktur, in die Eigentumsverhältnisse<br />
einschließen müssen.<br />
Zu berücksichtigen ist zudem, dass es sich<br />
beim neoliberalen gesellschaftlichen Block<br />
von Beginn an um einen transnationalen<br />
Block handelt, der die transnationalen Strukturen<br />
und Institutionen gezielt zur Umwälzung<br />
der nationalen politischen, wirtschaftlichen<br />
und gesellschaftlichen Strukturen einsetzt.<br />
Mit dem Aufbau und der Ausdehnung<br />
supranationaler Regulierungsinstitutionen<br />
(staatlicher wie IWF, WB, WTO, G7, NATO,<br />
EU, .. sowie transnationaler Nichtregierungsorganisationen<br />
wie European Round Table of<br />
Industrialists ERT, Transatlantic Business<br />
Dialogue, Internationale Handelskammer etc.<br />
und v. a. durch die Macht der Multis und der<br />
Finanzmärkte), wird die neoliberale Strukturpolitik<br />
gegenüber den Staaten durchgesetzt<br />
und die neoliberale Hegemonie auf einer<br />
transnationalen Ebene gesichert; auch gegenüber<br />
Staaten, die mit dem Neoliberalismus<br />
brechen wollen.<br />
Des Weiteren gibt es – und das hängt damit<br />
zusammen – für eine reformorientierte Politik<br />
oder einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ – im<br />
Unterschied z. B. zum New Deal oder zur Situation<br />
nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges<br />
– keine Unterstützung durch relevante<br />
Kapitalinteressen, die mehr zu Binnenmarkt,<br />
Staatsinterventionismus und sozialer Regulierung<br />
tendieren würden. Es existiert eine<br />
weltweite Hegemonie des transnationalen<br />
Finanzkapitals, das keinen Schritt hinter die<br />
durchgesetzte Liberalisierung und Globalisierung<br />
der Finanzmärkte und der Weltwirtschaft<br />
zurück will; das darauf drängt, alle<br />
Hemmnisse und Barrieren für die weltweite<br />
freie Zirkulation des Kapitals zu beseitigen.<br />
Und das bereit ist, für die Erreichung dieser<br />
Ziele skrupellos alle Mittel einzusetzen – von<br />
wachsendem Zwang und Repression im
56<br />
Leo Mayer: Wo geht’s denn hier zu den Veränderungen?<br />
Inneren bis zum permanenten Krieg und<br />
einem neuen Kolonialismus nach außen.<br />
Das Dilemma alternativer Reformpolitik<br />
zeigt sich beispielhaft an der Position von<br />
Michael Brie, einem Theoretiker der PDS und<br />
der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Einerseits<br />
schätzt er ein, dass es keine „anhaltende<br />
Balance“ zwischen Kapitalverwertungsinteressen<br />
und den Interessen der Gesellschaft<br />
geben kann. Ihm ist auch klar, dass im Neoliberalismus<br />
„anders als im fordistischen wohlfahrtsstaatlichen<br />
Kapitalismus eine sozialdemokratische<br />
Strategie auf stärkste systemimmanente<br />
Grenzen (stößt)“ (Michael Brie, Die<br />
Linke – was kann sie wollen?, Supplement der<br />
Zeitschrift Sozialismus 3/2006, S. 39). Dennoch<br />
ist er der Meinung, dass „der Spielraum für<br />
Versuche einer solchen Balance noch nicht<br />
erschöpft (ist)“. Diesen Spielraum will er mit<br />
Hilfe einer sozialdemokratischen Reformpolitik<br />
ausnutzen, der auch nach seiner Definition<br />
nicht an einer Überwindung der herrschenden<br />
Eigentums- und Machtverhältnisse gelegen ist.<br />
Aber er geht davon aus, dass man die neoliberale<br />
ökonomische Struktur der Wirtschaft mit<br />
Hilfe einer sozialdemokratischen Regulation<br />
bremsen und zähmen, es also eine längerfristige<br />
Koexistenz von neoliberaler Wirtschaft und<br />
sozialerer Gesellschaft geben könne. Die<br />
Linke könne dann, nach dieser These, in dieser<br />
Phase die Kräfte zur Überwindung des Neoliberalismus<br />
sammeln.<br />
Aber es kann nicht von Balance die Rede<br />
sein, sondern von Konflikt in einem „Nullsummenspiel“.<br />
Was das neoliberale Kapital gewinnt,<br />
verlieren die ihm <strong>heute</strong> ausgelieferten<br />
Menschen. Und umgekehrt. Angesichts der<br />
Tiefe der Widersprüche, der durch die neoliberale<br />
Globalisierung hervorgerufenen Zerstörungen<br />
und der Interessen der den neoliberalen<br />
Block dominierenden Kräfte ist ein „sozial<br />
abgefederter Neoliberalismus“ keine Alternative.<br />
Der neoliberale Block – und dazu gehört<br />
auch die Sozialdemokratie – drängt auf<br />
eine Radikalisierung des neoliberalen Umbaus,<br />
der zwangsläufig mit dem Übergang zu Zwang<br />
und autoritären Mitteln und Strukturen verbunden<br />
ist.<br />
Die systemimmanenten Spielräume für<br />
demokratische und soziale Reformen sind<br />
weitgehend erschöpft. Der Philosoph Ralf<br />
Dahrendorf beschreibt die Situation folgendermaßen:<br />
„Es gibt Zeiten, in denen soziale<br />
Konflikte und ihre wissenschaftliche Erörterung<br />
einen fundamentalen oder konstitutionellen<br />
Charakter annehmen. Das war im 18.<br />
Jahrhundert der Fall … es gilt am Ende des 20.<br />
Jahrhunderts wieder. In solchen Zeiten stehen<br />
die Spielregeln von Herrschaft und Gesellschaft<br />
selbst zur Diskussion.“ (nach PDS Pressedienst,<br />
Nr. 20/2005, S. 12)<br />
Reform und Systemfrage<br />
Bedeutet dies nun aber, dass wir den Kampf<br />
um Reformen – für Vollbeschäftigung, soziale<br />
Sicherung, Mitbestimmung … – aufgeben, weil<br />
diese ohnehin nicht durchzusetzen seien?<br />
Ganz im Gegenteil!<br />
Trotz jahrzehntelanger neoliberaler Propaganda<br />
und neoliberaler Umwälzung hat der<br />
Sozialstaat bei der Mehrheit der Menschen<br />
immer noch einen sehr hohen Stellenwert. Mit<br />
dem Kampf um Reformen kann an diesem<br />
Massenbewusstsein und an den von der Sozialdemokratie<br />
geprägten Vorstellungen angeknüpft<br />
werden. Es geht dann aber darum, nach<br />
Wegen zu suchen, wie dieses reformistische<br />
Bewusstsein in antikapitalistisches Bewusstsein<br />
transformiert werden kann.<br />
Zum anderen nehmen soziale Konflikte<br />
und der Kampf um Reformen im heutigen<br />
Kapitalismus einen so fundamentalen Charakter<br />
an, dass soziale und demokratische Reformen<br />
enger mit der Notwendigkeit grundlegender<br />
struktureller, antimonopolistischer Umgestaltungen<br />
und einer tiefgreifenden Demokratisierung<br />
von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft<br />
verbunden sind. Das heißt aber auch,<br />
dass in alle Forderungen und Kämpfe um<br />
Reformen der Grundgedanke des „Systembruchs“,<br />
die Notwendigkeit einer sozialistischen<br />
Umwälzung der bestehenden Eigentums-<br />
und Machtverhältnisse zu tragen ist. Der<br />
spezifische Beitrag der Marxisten ist, die<br />
Kämpfe um Reformen auf einen revolutionä-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
ren Prozess zur Überwindung des Kapitalismus<br />
auszurichten: Kampf nicht gegen die<br />
Folgen, sondern gegen die Wurzeln der kapitalistischen<br />
Gesellschaftsordnung.<br />
Die Aufgabe der DKP und der anderen<br />
marxistischen Kräfte liegt denn auch weniger<br />
darin, „radikalere und weitergehende Forderungen“<br />
als die anderen Teile der gesellschaftlichen<br />
und politischen Linken zu stellen, sondern<br />
in der Erarbeitung politischer Strategien<br />
zur Durchsetzung des Reformprogramms und<br />
der Förderung der notwendigen Kämpfe. Dabei<br />
steht der außerparlamentarische Kampf<br />
und die Stärkung der Organisiertheit der<br />
Arbeiterbewegung und der sozialen Bewegungen<br />
im Zentrum. In diesen Auseinandersetzungen<br />
muss die marxistische Linke zu<br />
der Erkenntnis beitragen, dass ein Politikwechsel<br />
ohne Eingriffe in die monopolistischen<br />
Eigentums- und Verfügungsrechte nicht<br />
zu haben ist, und dass der Kapitalismus überwunden<br />
werden muss, weil er keines der<br />
Probleme der arbeitenden Menschen lösen<br />
kann und zum Hemmnis der Entwicklung der<br />
Menschheit geworden ist.<br />
Wer Reformen dieser Art durchsetzen will,<br />
muss sich darüber im Klaren sein, dass damit<br />
erstens die Bundesrepublik aus dem Verbund<br />
des globalen Kapitalismus herausgelöst würde<br />
und dass zweitens dieses Herauslösen nicht<br />
stattfinden kann, ohne dass bestehende internationale<br />
Regularien und Abhängigkeiten<br />
geändert werden. Eine sozialistische Reformpolitik<br />
steht also vor der Aufgabe, im internationalen<br />
Bereich auf Kontrollen zu dringen,<br />
die den Durchgriff des transnationalen Kapitals<br />
auf die nationale Wirtschaft eindämmen<br />
und gleichzeitig die Ausstiegsoption – Kapitalflucht,<br />
Standort- und Arbeitsplatzverlagerung,<br />
Währungsspekulation etc. – verlegen.<br />
Dies dürfte gerade in einem Land wie der<br />
Bundesrepublik Deutschland eine riesige<br />
Herausforderung werden. Unter den großen<br />
Industrieländern weist die deutsche Wirtschaft<br />
den größten „Offenheitsgrad“ auf. Export<br />
und Import von Waren und Dienstleistungen<br />
betragen 75 Prozent des gesamten<br />
Bruttoinlandsprodukt. Die Verflechtung mit<br />
THEMA 57<br />
dem globalen Finanzmarkt geht noch darüber<br />
hinaus. Im Jahr 2004 beliefen sich die Wertpapiertransaktionen<br />
Deutschlands mit dem<br />
Ausland auf über 12 000 Mrd. Euro, das Sechsfache<br />
des BIP. (siehe isw-Report Nr. 66, S. 49).<br />
Aber es ist nicht nur die Internationalisierung<br />
von Handel und Finanzen. Gerade die<br />
Meldungen der letzten Wochen machen<br />
schlaglichtartig deutlich, wie die Konzerne die<br />
Transnationalisierung der Produktion, d. h.<br />
den Ausbau globaler Entwicklungs- und Produktionsnetzwerke<br />
vorantreiben.<br />
Hand in Hand damit geht die Internationalisierung<br />
der Eigentumsverhältnisse. „Adieu<br />
Deutschland, der DAX haut ab“, überschrieb<br />
die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung<br />
(18.1.2006) ihre Untersuchung über die großen,<br />
im Deutschen Aktienindex notierten Unternehmen.<br />
Bei 20 Unternehmen liegen mehr<br />
als 40 Prozent des Aktienkapitals in ausländischer<br />
Hand; mit zwei Ausnahmen liegt der<br />
Auslandsumsatz über 50 Prozent, bei mehr als<br />
der Hälfte sogar über 70 Prozent; bei nahezu<br />
allen ist mehr als die Hälfte der Belegschaft<br />
im Ausland beschäftigt.<br />
Damit ist auch zweierlei klar.Weil diese Reformen<br />
in einem Land alleine kaum realisierbar<br />
sind, wird mit einem Reformprogramm<br />
dieser Art auch die Veränderung Europas auf<br />
die Tagesordnung gesetzt. Der Kampf gegen<br />
die EU-Richtlinie zur Hafenarbeit, der Widerstand<br />
gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie,<br />
der Widerstand gegen die EU-Verfassung,<br />
die Sozialforumsbewegung, die Formierung<br />
der Partei der Europäischen Linken, das<br />
sind Ansätze zur Herausbildung eines grenzüberschreitenden<br />
Handelns.<br />
Auf jeden Fall wird eine überzeugende, faszinierende<br />
Vision für einen Richtungswechsel<br />
– für eine „andere Welt“ – nicht am Grünen<br />
Tisch entstehen, sondern sie wird aus den<br />
durch den Neoliberalismus hervorgerufenen<br />
gesellschaftlichen Widersprüchen, aus der<br />
breiten Diskussion der linken Kräfte und aus<br />
den sozialen Kämpfen heraus entstehen. Die<br />
Linke und der anti-neoliberale Reformblock<br />
können hegemonial werden, wenn sie die<br />
Interessen und Hoffnungen der arbeitenden
58<br />
Hans-Peter Brenner: Marxismus • Revolutionäre Situationen • Gegenwart<br />
Menschen, der Jugend, der Arbeitslosen, Rentner<br />
und sozial Ausgegrenzten aufgreifen und<br />
deren privaten und beruflichen Leben mit<br />
einem alternativen gesellschaftlichen und politischen<br />
Projekt wieder eine Perspektive geben<br />
können.<br />
Allerdings sollten wir beachten, dass es<br />
nicht die sozialen Verwerfungen und Widersprüche<br />
selbst sind, die zu Protest, Widerstand<br />
und Kampf um Alternativen führen. Ob die<br />
Widersprüchen zu Resignation und Anpassung<br />
oder zu Protest, Widerstand und Kampf<br />
um Alternativen führen, das hängt von der<br />
Interpretation der Widersprüche ab. Und hier<br />
liegt eine der besonderen Herausforderungen<br />
für die DKP und die marxistische Linke insgesamt.<br />
Literatur:<br />
Wie den Neoliberalismus überwinden, isw Report Nr. 65, isw<br />
München, September 2006<br />
Alternativen zum Neoliberalismus, isw Report Nr. 66, isw<br />
München, Juni 2006<br />
Der Marxismus über<br />
revolutionäre Situationen<br />
und die Gegenwart<br />
Hans-Peter Brenner<br />
Das Thema „Sozialismus“ macht wieder<br />
Schlagzeilen und der Begriff „Sozialismus im<br />
21. Jahrhundert“ ist – zumindest unter Linken<br />
- schon fast ein geflügeltes Wort geworden.<br />
Aber erklärte nicht ausgerechnet einer der<br />
wichtigsten Protagonisten des „Sozialismus im<br />
21. Jahrhundert“, Heinz Dieterich, dass dieses<br />
große „Historische Projekt“ etwas ganz Neues<br />
sei, was mit den bisherigen Erfahrungen des<br />
Marxismus-Leninismus und des „historischen<br />
Proletariats“, kaum noch etwas zu tun habe? 1<br />
Müssen wir uns also auf Reformmodelle beschränken,<br />
wie es die Theoretiker des „demokratischen<br />
Sozialismus“ schon immer geschrieben<br />
haben und wie es andere Vertreter<br />
eines „neuen unorthodoxen Sozialismus“<br />
<strong>heute</strong> betonen? Ist der revolutionäre Weg der<br />
<strong>Oktoberrevolution</strong> ein ein für alle Mal abgeschlossenes<br />
Ereignis, aus dem wir für <strong>heute</strong> gar<br />
nichts und kaum noch etwas nutzen können?<br />
Zunächst muss man jedoch ein erstes Missverständnis<br />
aus dem Wege räumen. Für revolutionäre<br />
Marxisten stand die Orientierung auf<br />
den revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus<br />
keineswegs im Gegensatz zum Kampf um<br />
Reformen und konkrete Verbesserungen in<br />
den alltäglichen Lebensbedingungen der<br />
arbeitenden Menschen. Dies gilt auch für die<br />
Gegenwart, wo unter den Bedingungen der<br />
sozialreaktionären Offensive des deutschen<br />
und internationalen Kapitals der Kampf um<br />
die Verteidigung früherer Reformerfolge derzeit<br />
im Mittelpunkt steht. Zudem muss man<br />
auch <strong>heute</strong> unterscheiden zwischen systemstabilisierenden<br />
Reformen und solchen Maßnahmen,<br />
die die negativen Folgen des kapitalistischen<br />
Systems einschränken und dabei auch<br />
Kräfteverhältnisse zugunsten weitergehender<br />
antikapitalistischer Ziele verändern.<br />
Der marxistische Begriff der „Revolution“<br />
besitzt insgesamt mehr als nur eine politische<br />
Dimension; er beinhaltet generell den strukturellen<br />
ökonomischen, sozialen, kulturellen und<br />
politischen Bruch mit der alten Gesellschaftsordnung<br />
und Produktionsweise, der „in letzter<br />
Instanz“ durch die dynamische Entwicklung<br />
der gesellschaftlichen Produktivkräfte und<br />
deren Kollision mit den alten Besitz- und<br />
Eigentumsverhältnissen herbeigeführt wird.<br />
„Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution<br />
ein.“ 2 Letzten Endes geht es jedoch in allen<br />
wirklichen Revolutionen um die Erkämpfung<br />
der politischen Macht. „Der Übergang der<br />
Staatsmacht aus den Händen einer Klasse in<br />
die einer anderen ist das erste, wichtigste,<br />
grundlegende Merkmal einer Revolution, sowohl<br />
in der streng wissenschaftlichen als auch
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
in der praktisch-politischen Bedeutung dieses<br />
Begriffs.“ 3<br />
Dies führt zu der Frage, wie ein solcher<br />
Wechsel in den Machtverhältnissen herbeigeführt<br />
werden kann. Die Eroberung und<br />
Sicherung der Staatsmacht im Zuge einer<br />
Volksrevolution ist kein Willkürakt einer kleinen<br />
Gruppe. Sie muss die Unterstrützung breiter<br />
Massen finden. Ihr Erfolg hängt von objektiven<br />
und subjektiven Voraussetzungen ab. Sie<br />
vollzieht sich als komplizierter Prozess, in dem<br />
es Etappen, jähe Wendungen und Rückschläge<br />
geben kann. Das klassische Beispiel einer<br />
erfolgreichen Revolution im 20. Jahrhundert<br />
ist die russische <strong>Oktoberrevolution</strong> unter<br />
Führung der Bolschewiki. Lehrreich ist aber<br />
auch die antifaschistische Aprilrevolution von<br />
1974 in Portugal und die Politik der Portugiesischen<br />
Kommunistischen Partei (PCP)<br />
vor und während der Revolution.<br />
Das Beispiel der portugiesischen<br />
„April-Revolution“<br />
Der PCP gelang es als einziger KP nach 1945<br />
in Europa, unabhängig vom hilfreichen Einfluss<br />
sowjetischer Truppen, eine erfolgreiche<br />
soziale, politische und militärische Erhebung<br />
und Volksrevolution gegen ein faschistisches<br />
Regime durchzuführen und (vorübergehend)<br />
eine Option für weitergehende sozialistische<br />
Veränderungen zu erkämpfen. Dies war das<br />
Resultat einer sehr klugen und langfristig<br />
angelegten Strategie des revolutionären<br />
Bruchs mit dem faschistischen Salazar-Regime,<br />
in der die portugiesischen Kommunisten<br />
systematisch die Leninsche <strong>Revolutionstheorie</strong><br />
ausschöpften und auf ihre nationalen<br />
Besonderheiten anwandten.<br />
Alvaro Cunhal, langjähriger Generalsekretär<br />
der PCP, schrieb bereits 1964 zu dieser<br />
Problematik folgendes: „(Der Sturz der Diktatur)<br />
entwickelt sich nicht gradlinig. Die<br />
Straße der Revolution ist kurvenreich und unregelmäßig.<br />
Es gibt Richtungen, die versucht<br />
werden und die man aufgeben muss. An dieser<br />
oder jener Stelle konzentriert der Gegner<br />
Kräfte und verhindert, dass man weiter-<br />
THEMA 59<br />
kommt. Man kommt auf einem Gebiet voran,<br />
weicht auf einem anderen zurück. Es gibt hier<br />
und da Pausen. Es gibt Bereiche, die Abstand<br />
zu anderen haben. Es gibt Siege und es gibt<br />
Niederlagen. Es gibt Verluste an Kadern und<br />
führenden Organisationen, die zeitweilig die<br />
Führung des Kampfes beeinträchtigen. Aber<br />
bei all diesen Unregelmäßigkeiten entwickelt<br />
sich insgesamt der revolutionäre Prozess, werden<br />
die verschiedenen Klassen nach und nach<br />
für die Aktion gewonnen, wird von elementaren<br />
Formen zu höheren Formen übergegangen,<br />
wird vom wirtschaftlichen zum politischen<br />
Kampf, von Forderungen und Petitionen zu<br />
Streiks, Demonstrationen und zu Zusammenstößen<br />
mit den Kräften der Repression übergegangen.<br />
Manche lehnen diesen allgemeinen Fortschritt<br />
der Bewegung der Volksmassen ab, weil<br />
er nicht an jedem Kampfabschnitt gleich kontinuierlich<br />
und ununterbrochen verläuft. Sie<br />
verlieren den Mut.“ 4<br />
Cunhal betonte also stark die Dialektik von<br />
Kontinuität und Diskontinuität innerhalb<br />
eines revolutionären Prozesses, der in seiner<br />
Konsequenz aber schließlich doch, im Wechsel<br />
von elementaren zu höheren und schärferen<br />
Kampfformen, zum Bruch mit dem bislang<br />
dominierenden politischen System führt.<br />
Cunhal schlussfolgerte aus der langen Periode<br />
vorangegangener Klassenauseinandersetzungen:<br />
Es sei ganz allgemein die „Aufgabe<br />
der Partei (sowie der demokratischen Kräfte<br />
im allgemeinen), nicht nur den Volkskampf zu<br />
stimulieren, der allein schon die Krise des<br />
Regimes verschärft, sondern sich auch darauf<br />
vorzubereiten, das Volk in der nahenden revolutionären<br />
Situation in den entscheidenden<br />
Endkampf zu führen. Wir müssen uns vergewärtigen,<br />
dass das Nahen der revolutionären<br />
Krise durch eventuelle plötzliche Ereignisse<br />
stimuliert werden kann, die den Unwillen des<br />
Volkes steigern und in den Regierungskreisen<br />
Verwirrung stiften.“ 5<br />
Es geht also darum, ein Gespür für das<br />
Entstehen einer umfassenden politischen<br />
Erschütterung zu entwickeln und den Zeitpunkt<br />
zu erfassen bzw. auch aktiv daran mitzu-
60<br />
Hans-Peter Brenner: Marxismus • Revolutionäre Situationen • Gegenwart<br />
wirken, an dem die Zuspitzung der Klassenauseinandersetzungen<br />
den Grad einer revolutionären<br />
Krise erreicht. Cunhal verwies in diesem<br />
Zusammenhang (zeitbedingt) auf die<br />
mögliche Rolle militärischer Niederlagen im<br />
portugiesischen Kolonialkrieg, die als „Beschleuniger<br />
des revolutionären Prozesses wirken“<br />
könnten. Dass genau dies zehn <strong>Jahre</strong> später<br />
der Fall war, macht deutlich, wie wenig spekulativ<br />
diese Hoffnung war. Der von den revolutionären<br />
Offizieren und Soldaten der<br />
„MFA“ in Verbindung mit der Volkserhebung<br />
in Lissabon durchgeführte Aufstand am<br />
24.4.1974 war ganz offenkundig sehr langfristig<br />
vorbereitet.<br />
Damit bestätigt der Verlauf der portugiesischen<br />
„April-Revolution“, dass bereits „kleinere<br />
Vorkommnisse“ als Funke des revolutionären<br />
Umbruchs und als Auslöser einer revolutionären<br />
Krise wirken können. Darauf hatte<br />
Lenin in einem Beitrag zur Verarbeitung der<br />
Erfahrungen der russischen Revolution von<br />
1<strong>90</strong>5 aufmerksam gemacht: „Die Erfahrungen<br />
der russischen Revolution wie auch die Erfahrungen<br />
anderer Länder erweisen unwiderleglich:<br />
Wenn die objektiven Voraussetzungen<br />
für eine tiefe politische Krise gegeben sind,<br />
dann können auch die kleinsten, vom wirklichen<br />
Herd der Revolution scheinbar weit<br />
weg liegenden Konflikte größte Bedeutung<br />
haben – als Anlass, als der Tropfen, der den<br />
Becher zum Überlaufen bringt, als Beginn<br />
eines Umschwungs in der Stimmung usw.“ 6<br />
Diese kleinen Vorkommnisse waren und<br />
sind auch <strong>heute</strong> gar nicht oder auch nur sehr<br />
schwer planbar oder vorhersehbar. Daher<br />
sagte Cunhal, dass eine revolutionäre Situation<br />
eine „objektive Situation (ist), die sich<br />
keinem vom Leben und der Erfahrung getrennten<br />
‚theoretischen’ Schema anpasst. Die<br />
subjektiven Bedingungen der Revolution sind<br />
eine andere Realität, die man von keinem<br />
Erfinder erbetteln kann.“ Das bedeute jedoch<br />
keinesfalls, dass man passiv auf einen „glücklichen<br />
Zufall“ warten müsse. Im Gegenteil.<br />
Aufgabe der marxistisch-leninistischen Kräfte<br />
ist es aktiv an der Entstehung solcher Auseinandersetzungen<br />
mitzuwirken, die zur Erosion<br />
der Macht und zur Vertiefung der Klassenauseinandersetzungen<br />
führen. Insbesondere<br />
erfolgt dies erfahrungsgemäß dadurch, dass sie<br />
aktiv daran mitwirken, Arbeiterkämpfe und<br />
Massenbewegungen in den Ballungszentren<br />
des Landes zu entwickeln und diese über die<br />
ökonomischen und sozialen Ziele hinaus auf<br />
die politische Ebene zu führen. „ ... Indem wir<br />
unsere Orientierung auf der Grundlage von<br />
Fakten definieren, arbeiten wir daran, die<br />
Entstehung einer revolutionären Situation zu<br />
beschleunigen und die politischen und organisatorischen<br />
Bedingungen so zu gestalten, dass<br />
wir auf der Höhe der Erfordernisse dieser Situation<br />
sind.“ 7<br />
Im April 1974 waren die portugiesischen<br />
Kommunisten „auf der Höhe“. Das „Subjektive“<br />
wurde zum „Objektiven“. Der militärische<br />
Faktor in Verbindung mit einem mutigen<br />
Ausbruch von Massenkundgebungen machte<br />
dem Faschismus auf revolutionäre Weise den<br />
Garaus.<br />
„Nicht mehr können“ und „Nicht<br />
mehr wollen“: das „Grundgesetz“<br />
der Revolution<br />
Um dieses Zusammenfallen von objektiven<br />
Bedingungen, subjektiver Handlungsbereitschaft<br />
und Änderungsmotivation ging es auch<br />
in den Gedanken und Erfahrungen, die Lenin<br />
nach dem Sieg der <strong>Oktoberrevolution</strong> im<br />
„Grundgesetz der Revolution“ zusammenfasste:<br />
„Erst dann, wenn die ‚Unterschichten’ das<br />
Alte nicht mehr wollen und die ‚Oberschichten’<br />
in der alten Weise nicht mehr können, erst<br />
dann kann die Revolution siegen. Mit anderen<br />
Worten kann man diese Wahrheit so ausdrükken:<br />
Die Revolution ist unmöglich ohne eine<br />
gesamtnationale (Ausgebeutete wie Ausbeuter<br />
erfassende) Krise.“ 8 Eine „gesamtnationale<br />
Krise“ führe jedoch nicht automatisch zu einer<br />
Politisierung der Volksmassen und zu einer<br />
Klarheit über Ziele und Methoden des Kampfes.<br />
Alvaro Cunhal erinnerte daran, dass das<br />
„Nicht-mehr-Wollen“ der unterdrückten Klassen<br />
sich oft nur „im spontanen Griff zum<br />
Kampf“ äußert und scheitern muss, „wenn die
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
organisierten politischen Kräfte es nicht verstehen,<br />
die Krise vorauszusehen, es nicht verstehen,<br />
die Gefühle und Stimmungen der<br />
Massen abzulauschen, und wenn sie es nicht<br />
verstehen, die Unzufriedenheit in praktische<br />
Formen des Kampfes zu überführen. Dieses<br />
‚Nicht-mehr-Können’ der herrschenden Klassen,<br />
die durch den Bankrott ihrer eigenen<br />
Politik erschüttert sind, äußert sich in Konflikten,<br />
in Desorientierung und in der eiligen<br />
und widersprüchlichen Suche nach Lösungen<br />
für ihre Schwierigkeiten.“<br />
Ohne die bewusst und entschlossen handelnde<br />
Organisation der marxistischen Revolutionäre,<br />
die eng mit entscheidenden Gruppen<br />
und Multiplikatoren der auf revolutionäres<br />
Handeln drängenden Arbeiter- und<br />
Volksmassen verbunden sind und ohne auch<br />
ein ausreichendes Maß an eigenen gut organisierten<br />
Kräften, die einer Konterrevolution<br />
energisch den Riegel vorschieben können,<br />
besteht die Gefahr, dass ein möglicher revolutionärer<br />
Umschwung mangels ausreichender<br />
Organisiertheit verpufft.<br />
Denn, so sagte Cunhal weiter – die „objektiven<br />
Bedingungen“ seien nicht ausreichend<br />
dafür, dass eine Revolution stattfinden kann.<br />
„Es ist notwendig, dass außer ihnen auch die<br />
‚subjektiven’ Bedingungen für die Revolution<br />
erfüllt sind, dass ein ‚Grad des Klassenbewusstseins<br />
und der Organisiertheit’ besteht,<br />
der den Erfordernissen des Kampfes in der<br />
revolutionären Situation entspricht.“ 9<br />
Dazu gehört ein hohes Maß an Entschlossenheit<br />
der revolutionäre Klasse. Revolutionäre<br />
Entschlossenheit fällt jedoch nicht<br />
vom Himmel. Sie setzt nicht nur eine individuelle<br />
subjektive Bereitschaft für ein kurzfristiges<br />
spontanes Engagement voraus, sondern<br />
erfordert eine innerhalb der revolutionären<br />
Klasse und ihrer Verbündeten stabile und<br />
gewachsene Entschiedenheit, sich auch über<br />
alle Widerstände hinwegzusetzen. In einem<br />
kurzen Artikel Lenins, geschrieben zwei <strong>Jahre</strong><br />
nach der <strong>Oktoberrevolution</strong>, verdeutlichte er,<br />
welches Bündel von revolutionären Tugenden<br />
und Einstellungen für den Erfolg der Revolution<br />
notwendig war: „Ausdauer, Beharr-<br />
THEMA 61<br />
lichkeit, Bereitschaft, Entschlossenheit und die<br />
Fähigkeit, hundertmal zu probieren, hundertmal<br />
zu korrigieren und um jeden Preis das Ziel<br />
zu erreichen – diese Eigenschaften hat das<br />
Proletariat 10, 15, 20 <strong>Jahre</strong> vor der <strong>Oktoberrevolution</strong><br />
entwickelt, es hat sie im Laufe der<br />
zwei <strong>Jahre</strong> nach der Revolution entwickelt,<br />
wobei es ungeheuere Entbehrungen, Hunger,<br />
Zerstörung und Elend ertragen musste. Diese<br />
Eigenschaften des Proletariats sind die Bürgschaft<br />
dafür, dass das Proletariat siegen<br />
wird.“ 10 Doch selbst wenn alle objektiven und<br />
subjektiven Voraussetzungen gegeben sind,<br />
vollzieht sich der entscheidende revolutionäre<br />
Bruch in der Regel nicht mit einem einzigen<br />
Schlag. Dabei konnte sich die revolutionäre<br />
Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts unter<br />
direktem Einfluss von Marx und Engels sowohl<br />
auf die Erfahrungen der großen bürgerlichen<br />
Revolutionen (und Konterrevolutionen) als<br />
auch auf die Erfahrungen der nationalen und<br />
antikolonialen Revolutionen und Kämpfe in<br />
Irland, Polen, Indien, China und auf dem amerikanischen<br />
Kontinent stützen.<br />
Auf dem „Haager Kongress“ der I. Internationale<br />
(1872) erläuterte Marx in einer Grundsatzrede,<br />
anknüpfend an die Erfahrungen der<br />
soeben niedergeschossenen „Pariser Commune“<br />
die Hauptziele und Kampfmethoden der<br />
revolutionären Arbeiterorganisationen so:<br />
„Der Arbeiter muss eines Tages die politische<br />
Gewalt ergreifen, um die neue Organisation<br />
der Arbeit aufzubauen; er muss die alte Politik,<br />
die die alten Institutionen aufrechterhält, stürzen,<br />
wenn er nicht, wie die alten Christen, die<br />
das vernachlässigt und verachtet haben, des<br />
Himmelreichs auf Erden verlustig gehen will.<br />
Aber wir haben nicht behauptet, dass die<br />
Wege, zu diesem Ziel zu gelangen, überall dieselben<br />
sein werden. Wir wissen, dass man die<br />
Institutionen, die Sitten und die Traditionen<br />
der verschiedenen Länder berücksichtigen<br />
muss und ich leugne nicht, dass es Länder gibt,<br />
wie Amerika, England und wenn mir eure<br />
Institutionen besser bekannt wären, würde ich<br />
vielleicht noch Holland hinzufügen, wo die<br />
Arbeiter auf friedlichem Wege zu ihrem Ziel<br />
gelangen können. Wenn das wahr ist, müssen
62<br />
Hans-Peter Brenner: Marxismus • Revolutionäre Situationen • Gegenwart<br />
wir auch anerkennen, dass in den meisten<br />
Ländern des Kontinents der Hebel unserer<br />
Revolutionen die Gewalt sein muss; die<br />
Gewalt ist es, an die man eines Tages appellieren<br />
musss, um die Herrschaft der Arbeit zu<br />
errichten.“ 10<br />
Und wie kommt man dahin? Das „Kommunistische<br />
Manifest“ sagt, „dass der erste<br />
Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung<br />
des Proletariats zur herrschenden Klasse, die<br />
Erkämpfung der Demokratie“ ist. 11 An anderer<br />
Stelle heißt es darin: „Sie (die Kommunisten)<br />
kämpfen für die Erreichung der unmittelbar<br />
vorliegenden Zwecke und Interessen der<br />
Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen<br />
Bewegung zugleich die Zukunft der<br />
Bewegung.“ Und in der sich gerade entwickelnden<br />
bürgerlichen Revolution von 1848 in<br />
Deutschland sahen sie „das unmittelbare Vorspiel<br />
der proletarischen Revolution“. 12<br />
Diese bereits bei Marx erkennbare Suche<br />
nach den geeigneten Formen des „Herankommens<br />
an die Revolution“, des Vorbereitens<br />
und Ausnützens einer revolutionären Situation<br />
unter den jeweiligen nationalen Besonderheiten<br />
und der Suche nach geeigneten „Übergangsformen<br />
zum Sozialismus“ wurde für<br />
Lenin und später für die „3. (Kommunistische)<br />
Internationale“ eine zentrale revolutionstheoretische<br />
Fragestellung. Sie war und ist auch für<br />
die deutsche marxistische Linke bis <strong>heute</strong> von<br />
großer Bedeutung geblieben. 13<br />
Die Bestimmung des „nächsten<br />
Schritts“ in der Revolution<br />
Lenin suchte immer wieder neu nach Möglichkeiten<br />
des „Hinüberwachsens der bürgerlich-demokratischen<br />
in die proletarisch-sozialistische<br />
Revolution“. Er sah dies als einen<br />
kontinuierlichen, einheitlichen revolutionären<br />
Prozess an. Demokratische und sozialistische<br />
Etappe seien nicht durch eine „chinesische<br />
Mauer“ getrennt. Nach der bürgerlichen Revolution<br />
im März 1917 stellte sich für die russische<br />
Linke deshalb erneut die zentrale Frage,<br />
welche Entwicklungsrichtung der revolutionäre<br />
Prozess jetzt einschlagen würde.<br />
Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem<br />
Exil überraschte Lenin in seinen „April-<br />
Thesen“ die Bolschewiki damit, dass er auf die<br />
rasche Fortsetzung der Revolution und auf<br />
den schnellen Übergang zu einer neuen<br />
Etappe orientierte, in der die Voraussetzungen<br />
für die Vorbereitung auf den Aufstand geschaffen<br />
werden sollten. Er erklärte vor der Petrograder<br />
Parteiorganisation der Bolschewiki:<br />
„Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in<br />
Russland besteht im Übergang von der ersten<br />
Etappe der Revolution, die infolge des ungenügend<br />
entwickelten Klassenbewusstseins und<br />
der ungenügenden Organisiertheit des Proletariats<br />
der Bourgeoisie die Macht gab, zur<br />
zweiten Etappe der Revolution, die die Macht<br />
in die Hände des Proletariats und der ärmsten<br />
Schichten der Bauernschaft legen muss.“ Das<br />
nächste Ziel beschrieb er so: „Keine parlamentarische<br />
Republik – von den Sowjets der Arbeiterdeputierten<br />
zu dieser zurückzukehren<br />
wäre ein Schritt rückwärts – sondern eine Republik<br />
der Sowjets der Arbeiter, Landarbeiterund<br />
Bauerndeputierten im ganzen Lande, von<br />
unten bis oben.“<br />
Aber auch das sei noch nicht die „sozialistische<br />
Republik“: „Nicht ‚Einführung’ des Sozialismus<br />
als unsere unmittelbare Aufgabe,<br />
sondern augenblicklich nur Übergang zur<br />
Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion<br />
und die Verteilung der Erzeugnisse durch<br />
den Sowjet der Arbeiterdeputierten.“ 14<br />
Die „revolutionäre Krise“ und<br />
die Frage des richtigen Zeitpunktes<br />
Die Leninsche Revolutionsstrategie bewies<br />
ihre historische Überlegenheit nicht nur durch<br />
ihre Hartnäckigkeit, mit der der Kurs auf die<br />
proletarische Revolution trotz aller zeitweiligen<br />
Rückschläge beibehalten wurde. In den<br />
sehr kritischen Monaten Juni/Juli und im<br />
September 1917 schien für viele Linke die<br />
Lage Anfang Juni 1917 bereits mehr als reif<br />
für eine „Machtergreifung“. Es kam zu großen<br />
Arbeiter- und Soldatendemonstrationen,<br />
die dadurch ausgelöst worden waren, dass die<br />
Provisorische Regierung unter Kerenski mit
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Unterstützung des Ersten Gesamtrussischen<br />
Sowjetkongresses, auf dem die Partei der<br />
Sozialrevolutionäre und die Menschewiki die<br />
Mehrheit innegehabt hatten, zu einer neuen<br />
Mobilmachung und Militäroffensive aufrief.<br />
Dies löste große Unruhe unter der kriegsmüden<br />
Bevölkerung aus. Doch die Bolschewiki<br />
ließen sich selbst angesichts großer bewaffneter<br />
Arbeitermassen zu diesem Zeitpunkt nicht<br />
zu einem „schnellen Zuschlagen“ hinreißen.<br />
Der geeignete Zeitpunkt für einen erfolgreichen<br />
bewaffneten Aufstand war nach genauer<br />
Analyse der Kräfteverhältnisse in den Sowjets<br />
und in der Armee noch nicht gegeben. Nach<br />
Lenins Berechnung hätte er zu diesem<br />
Zeitpunkt scheitern müssen.<br />
Und selbst noch im August/September 1917<br />
hieß das nächste taktische Ziel der Bolschewiki<br />
angesichts des drohenden Militärputsches unter<br />
Führung des zaristischen Generals Kornilow<br />
nicht „sofortige sozialistische Revolution“ und<br />
sogar auch nicht mehr „Sowjetmacht“ wie<br />
noch im April. Zur Abwehr einer „drohenden<br />
Katastrophe“ ging Lenin einen Schritt zurück.<br />
Er rief zu einer gemeinsamen Abwehrfront<br />
gegen die Putschisten auf und orientierte nun<br />
auf die Erkämpfung einer „revolutionär-demokratischen“<br />
Staatsmacht, die die zentralen ökonomischen<br />
und politischen Entscheidungen<br />
und Maßnahmen einleiten sollte, welche die<br />
Kapitalistenklasse schließlich endgültig von der<br />
Macht verdrängen sollten.<br />
Dies hätte auch letztmalig eine Form der<br />
friedlichen Machtergreifung ermöglicht. Von<br />
diesem raschen Wechsel auch von taktischen<br />
Orientierungen bei Beibehaltung des einmal<br />
für richtig erkannten strategischen Zieles profitierten<br />
in den folgenden entscheidenden<br />
Wochen die Bolschewiki enorm. Im Verlauf des<br />
Kampfes gegen den Kornilowputsch begann<br />
die Etappe der massenweisen Bolschewisierung<br />
der Sowjets. Dies wurde neben dem<br />
weiteren Ausbau des Einflusses der Bolschewiki<br />
in der Armee und der zunehmenden<br />
Kriegsmüdigkeit der entscheidende Faktor, der<br />
Lenin schließlich dazu bewog, noch vor dem<br />
Zusammentreffen des Sowjetkongresses die<br />
Partei unmittelbar in den Aufstand zu führen.<br />
Revolution auch in den<br />
Zentren des Imperialismus?<br />
THEMA 63<br />
Der Verweis auf die historischen Revolutionserfahrungen<br />
beantwortet nicht die Frage, wie<br />
<strong>heute</strong> eine revolutionäre Entwicklung in den<br />
Zentren des sich weltweit immer mehr vernetzenden<br />
Imperialismus möglich sein könnte.<br />
Viele Fragen scheinen mir <strong>heute</strong> noch nicht<br />
beantwortbar zu sein.<br />
Es gibt einerseits Faktoren und Widersprüche,<br />
die die Herausbildung einer revolutionären<br />
Entwicklung erschweren, dafür aber<br />
auch andere, die diesen Prozess erleichtern.<br />
Nach wie vor ist eine Einschätzung von Willi<br />
Gerns aus dem <strong>Jahre</strong> 1989 zutreffend, dass<br />
„trotz der Verschärfung der kapitalistischen<br />
Krisenerscheinungen das herrschende Monopolkapital<br />
aufgrund des großen ökonomischen<br />
Potentials der entwickelten kapitalistischen<br />
Länder und mit Hilfe staatsmonopolistischer<br />
Methoden (Dazu zählt besonders die<br />
bedeutend weiter angewachsene Macht der<br />
‚neuen Medien’. – HPB) noch immer in der<br />
Lage ist, die ‚Krise der Oberschichten’ zu mildern<br />
und das ‚Aufbegehren der Unterschichten’<br />
in Grenzen zu halten.“ 15<br />
Insbesondere die noch nicht abgeschlossene<br />
Verarbeitung der historischen Niederlage<br />
der Staaten des „realen Sozialismus“ zwischen<br />
1989/93 hat das Vertrauen in die „Machbarkeit“<br />
einer sozialistischen Alternative in<br />
breiten Teilen der Arbeiterbewegung nachhaltig<br />
beeinflusst. Zwar stimmen mittlerweile<br />
deutlich mehr Menschen der Meinung zu<br />
„Der Sozialismus ist eine gute Idee, aber sie<br />
wurde schlecht umgesetzt“, doch es besteht<br />
noch eine breite Kluft zwischen Parteienverdrossenheit,<br />
Unzufriedenheit und sogar Empörung<br />
über den mit dem Stichwort „Agenda<br />
2010“ verbundenen Sozialabbau und massenhaftem<br />
Widerstand.<br />
Wir wissen: Die konkreten, zu einer revolutionären<br />
Krise führenden Faktoren waren in<br />
der Geschichte vielfältig: in der russischen<br />
<strong>Oktoberrevolution</strong> war das in allererster Linie<br />
die Frage von Krieg und Frieden, außerdem<br />
die Frage der Bodenreform.
64<br />
Hans-Peter Brenner: Marxismus • Revolutionäre Situationen • Gegenwart<br />
In Portugal war es im Prinzip die Demokratie-Frage:<br />
die jahrzehntelange Repression<br />
des faschistischen Salazar-Regimes, vollstreckt<br />
durch den terroristischen Geheimdienst<br />
„PIDE“, war für immer breitere<br />
Massen unerträglich. Der „entfernte Funke“,<br />
der als Katalysator wirkte, waren die sinnlosen<br />
Opfer in den nicht mehr zu gewinnenden<br />
Kolonialkriegen in Angola und Mosambik.<br />
Welche Faktoren können möglicherweise<br />
in Westeuropa <strong>heute</strong> oder morgen eine Rolle<br />
spielen, welche „traditionellen“, welche neuen?<br />
Wird es mit z. B. der weiteren Entwicklung<br />
der imperialistischen Integration der EU<br />
noch denkbar sein, dass sich die Herausbildung<br />
einer revolutionären Situation auf<br />
einen einzelnen Nationalstaat beschränkt?<br />
Alte und neue Probleme, die zu einer<br />
revolutionären Lösung drängen<br />
Antworten darauf werden, wenn sie nicht spekulativ<br />
bleiben wollen, von der Erfahrung<br />
ausgehen müssen, dass es zu elementaren<br />
Einbrüchen in den Existenzbedingungen der<br />
breiten Masse der Bevölkerung kommt bzw.<br />
zu kommen droht, damit die weit verbreitete<br />
politische Abstinenz sich auflöst in Bereitschaft<br />
zum aktiven Protest und Engagement.<br />
Und die dem Kapitalismus wesenseigenen<br />
Antagonismen, insbesondere der Grundwiderspruch<br />
zwischen Lohnarbeit und Kapital,<br />
produzieren immer wieder neue Verunsicherung<br />
und krisenhafte Entwicklungen, die<br />
objektiv nach einer sozialistischen Lösung<br />
drängen.<br />
Existentiell gefährdet sind auch <strong>heute</strong> Millionen<br />
werktätiger Menschen in den europäischen<br />
Metropolen durch die Sorge um den<br />
Arbeitsplatz und um die Stabilität Existenz<br />
sichernder Einkommen. Die bereits im „Kommunistischen<br />
Manifest“ in ihren Grundzügen<br />
beschriebene Grundrichtung der zunehmenden<br />
Weltmarktorientierung des deutschen<br />
Imperialismus und der kapitalistischen Internationalisierung<br />
überhaupt hat dazu geführt,<br />
dass „mehr und mehr die letzten Schranken<br />
der nationalen Märkte niedergerissen“ werden.<br />
16<br />
Die Arbeits- und Lebensbedingungen der<br />
Werktätigen sind dadurch neuen Risiken und<br />
Abhängigkeiten ausgesetzt, die eine „wachsende<br />
Ungleichheit bei der Verteilung des<br />
gesellschaftlichen Reichtums und – tendenziell<br />
– die Zunahme von Armut und Verelendung<br />
bewirken und zu einer unaufhörlichen Umwälzung<br />
der gesellschaftlichen Verhältnisse<br />
und einer wachsenden Instabilität der Existenzbedingungen<br />
der Lohnabhängigen führen.“<br />
17<br />
Diese neue Stufe der Internationalisierung<br />
des Kapitalismus – vertieft besonders seit dem<br />
Wegbrechen des realen Sozialismus in der<br />
Sowjetunion und in den anderen Staaten des<br />
realen Sozialismus in Europa – erfordert objektiv<br />
eine stärkere Internationalisierung auch<br />
der Kooperation und wechselseitigen Unterstützung<br />
der antikapitalistischen Kräfte und<br />
Bewegungen. Dies ist aber im Prinzip keine<br />
grundsätzlich neue Erkenntnis bzw. Aufgabe.<br />
Bereits das Kommunistische Manifest endete<br />
bekanntlich mit der Losung „Proletarier aller<br />
Länder, vereinigt Euch!“ und das von Marx<br />
formulierte Gründungsdokument der I. Internationale,<br />
die sogenannte „Inauguraladresse“<br />
vom 28.9.1864, erinnert daran, dass diese internationale<br />
Verbindung lebensnotwendig sei.<br />
„Politische Macht zu erobern ist daher jetzt<br />
die große Pflicht der Arbeiterklassen. Sie<br />
scheinen dies begriffen zu haben, denn in<br />
England, Frankreich, Deutschland und Italien<br />
zeigt sich ein gleichzeitiges Wiederaufleben<br />
und finden gleichzeitige Versuche der Reorganisation<br />
der Arbeiterpartei statt. Ein<br />
Element des Erfolges besitzt sie, die Zahl.<br />
Aber Zahlen fallen nur in die Waagschale,<br />
wenn Kombination sie vereint und Kenntnis<br />
sie leitet. Die vergangene Erfahrung hat gezeigt,<br />
wie Missachtung des Bandes der Brüderlichkeit,<br />
welches die Arbeiter der verschiedenen<br />
Länder verbinden und sie anfeuern sollte,<br />
in all ihren Kämpfen für Emanzipation fest<br />
beieinanderzustehen, stets gezüchtigt wird<br />
durch die gemeinschaftliche Vereitlung ihrer<br />
zusammenhangslosen Versuche.“ 18
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Auch die Fragen von Krieg und Frieden<br />
bleiben virulent und drängen zu Lösungen jenseits<br />
des Imperialismus/Kapitalismus. Die Entwicklung<br />
der Bundeswehr zu einer im NATObzw.<br />
EU-Verbund weltweit operierenden<br />
Kolonialtruppe, bringt neue Risiken für Leib<br />
und Leben nicht nur der Soldaten, sondern<br />
auch der deutschen Zivilbevölkerung. „Hochrüstung,<br />
Rüstungsexport und das Schüren von<br />
Spannungen und Konflikten in verschiedenen<br />
Regionen steigern die atomare Bedrohung<br />
und die Gefahr eines für die ganze Menschheit<br />
verheerenden Krieges.“ Und „mit der Zuspitzung<br />
des Kampfes um die immer begrenzter<br />
werdenden Rohstoffquellen und um Vorherrschaft<br />
in der Welt“ besteht auch die Möglichkeit,<br />
dass „die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen<br />
zwischen imperialistischen<br />
Metropolen wieder akut werden kann.“ 19<br />
Deshalb werden insgesamt die alten klassischen<br />
Forderungen nach „Frieden, Arbeit,<br />
Brot“ auch weiterhin eine zentrale Rolle spielen<br />
müssen, wenn es darum geht, die Arbeiterbewegung<br />
für eine antikapitalistische Alternative<br />
zu gewinnen.<br />
Existentiell bedroht (objektiv) sind die<br />
Menschen auch in Europa aber auch durch<br />
neue Faktoren, z. B. durch die von Wissenschaftlern<br />
übereinstimmend prognostizierten<br />
Folgen des Klimawandels oder der sich immer<br />
wieder der Kontrolle entziehenden Atomindustrie<br />
oder anderer neuer Technologien aus<br />
dem Bereich der Genforschung und Manipulation<br />
am menschlichen, tierischen oder<br />
pflanzlichen Erbgut. Selbst wenn man propagandistische<br />
Übertreibungen und Spekulationen<br />
mit einkalkuliert, so ist es doch eine durch<br />
harte Daten und sich in der Gegenwart häufende<br />
Unwetterkatastrophen belegte Tatsache,<br />
dass die Menschen in Europa oder auch nur in<br />
Deutschland nicht auf einer heilen Insel leben,<br />
während weltweit die Menschheit mit Dürren<br />
und Hitzewellen oder sintflutartigen Überflutungen,<br />
Bodenerosion, Wassermangel und<br />
Hungersnöten zu kämpfen hat.<br />
Das DKP-Parteiprogramm zieht daraus<br />
mit Recht die folgende Schlussfolgerung: „Das<br />
kapitalistische Profitprinzip ist zu einer Gefahr<br />
THEMA 65<br />
für den Fortbestand der menschlichen Zivilisation<br />
geworden.“ 20<br />
Rosa Luxemburgs prophetischer Satz: „Sozialismus<br />
oder Barbarei!“ gewinnt schon deshalb<br />
eine bislang nicht bekannte neue Dimension<br />
und Aktualität.<br />
1 Vergl. Heinz Dieterich: Der Sozialismus des XXI. Jahrhunderts.<br />
Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach<br />
dem globalen Kapitalismus, S. 13<br />
2 K. Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort,<br />
MEW Bd. 13, S. 9<br />
3 W. I. Lenin: Briefe über die Taktik, Werke Bd. 24, S. 26<br />
4 Álvaro Cunhal: Kurs auf den Sieg, Berlin 1981, S. 214 f.<br />
5 dito, S. 196<br />
6 W.I. Lenin: Zur Beurteilung der gegenwärtigen Lage,<br />
Werke Bd. 15. S. 273<br />
7 Cunhal: a. a.O., S. 197<br />
8 W. I. Lenin: Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit<br />
im Kommunismus, Werke Bd. 31, S. 71 f.<br />
9 Cunhal: a. a.O. S. 195 f.<br />
10 K. Marx: Rede über den Haager Kongreß , MEW 18, S. 160<br />
11 K. Marx / F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei,<br />
Einzelbroschüre, S. 68<br />
12 dito, S. 82-83<br />
13 Vergl. Marxistische Blätter 3/04 mit den Materialien des<br />
„Leverkusener Dialogs“ diverser marxistischer Organisationen<br />
und Publikationen zum Thema „Übergänge zum<br />
Sozialismus: Streit unter Linken.“<br />
14 W. I. Lenin: April-Thesen, Ausgew. Werke II, S. 40-42<br />
15 W. Gerns: Revolution und revolutionäre Situation <strong>heute</strong>,<br />
in: Marxistische Studien, Jahrbuch des IMSF 14, 1989,<br />
S. 481<br />
16 Programm der Deutschen Kommunistischen Partei. Beschlossen<br />
vom 17. Parteitag der DKP, 8. April 2006, S. 8<br />
17 ebenda, S. 6<br />
18 K. Marx: Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation,<br />
MEW Bd 16, S. 12 f.<br />
19 Programm der DKP, S. 13 f.<br />
20 ebenda, S. 3
66<br />
Hans Heinz Holz: Revolutionäre Theorie für revolutionäre Praxis<br />
Revolutionäre Theorie<br />
für revolutionäre Praxis<br />
Hans Heinz Holz<br />
Der nachfolgende Aufsatz ist die nachträgliche<br />
Niederschrift eines Teils des frei gehaltenen Referats<br />
anlässlich des Kolloquiums des DKP-<br />
Bezirks Ruhr-Westfalen „Revolution der Philosophie<br />
– Philosophie der Revolution“ aus Anlass<br />
des 80. Geburtstags von Hans Heinz Holz<br />
am 24.2.2007 in Essen. Die Rekonstruktion des<br />
Vortrags fasst seine Gedanken zusammen.<br />
Unsere Veranstaltung bietet Gelegenheit,<br />
einen Blick voraus zu richten. Im Herbst werden<br />
wir eines großen Datums gedenken, der<br />
<strong>Oktoberrevolution</strong>, die mit einem Schlage das<br />
Gesicht der Welt veränderte. Jetzt ist erst<br />
Februar. Aber der Februar birgt den Keim<br />
zum Oktober. Die Kerenskis waren nur ein<br />
Zwischenspiel in der Geschichte, und die<br />
Menschewiki die verzagten Statisten auf einer<br />
Bühne, auf der das Drama der Revolution<br />
abrollte und der Titelheld Lenin hieß.<br />
Die Akte im Drama der Geschichte haben<br />
nicht die ausgewogene Kunstform eines Bühnenstücks.<br />
Zwischenspiele können über Gebühr<br />
lange dauern. Das sollten wir bedenken, wenn<br />
die Zeit seit 1989 unsere Ungeduld auf die Probe<br />
stellt und unseren revolutionären Elan ermüden<br />
lässt. Nicht immer reicht ein halbes Jahr, um<br />
die Zeichen der Zeit zu wenden. Auch wenn sie<br />
nun schon zwanzig <strong>Jahre</strong> versuchen, das Rad der<br />
Geschichte zurückzudrehen – die Schröder und<br />
Schäuble, die Merkel und Müntefering sind<br />
doch nur die Kerenskis, über die der Weltlauf<br />
hinweggehen wird, mit „eisernen Stiefeln“, wie<br />
Hegel sagte, der Zeitgenosse und Denker einer<br />
anderen großen Revolution. Dass wir im Tal vor<br />
dem hohen Berg, den wir wieder erklimmen<br />
müssen, nicht den Mut verlieren: dafür haben<br />
wir die Kraft unserer wissenschaftlichen Weltanschauung,<br />
die Lehren von Marx, Engels und<br />
Lenin und all jenen, die an diesem mächtigen<br />
Theoriegebäude weiter gebaut haben.<br />
Lenins Lektüre – blicken wir zurück!<br />
Von September bis Dezember 1914 liest<br />
Lenin aufs intensivste Hegels „Wissenschaft<br />
der Logik“ 1 , exzerpiert sie und annotiert sie<br />
mit philosophisch weitreichenden, für eine<br />
marxistische Philosophie grundlegenden Randbemerkungen<br />
und Kommentaren. 2 Gleichzeitig<br />
liest er auch und exzerpiert Feuerbachs<br />
Leibniz-Monografie. 3 In kurzer Zeit folgen<br />
Hegels „Vorlesungen über die Geschichte der<br />
Philosophie” 4 , weitere Hegel-Studien, die<br />
„Metaphysik des Aristoteles“, Lasalles Werk<br />
über Heraklit. 5 Das ist das vollgepackte Lektüre-Programm<br />
eines Philosophiestudenten,<br />
der sich in die Grundlagen der Dialektik einarbeiten<br />
möchte.<br />
Ein immenses Theorie-Paket, das tiefe Spuren<br />
in den späteren Schriften Lenins hinterlässt.<br />
Seinen späten Nachhall findet es in den<br />
Sätzen aus der Abhandlung „über den streitbaren<br />
Materialismus“, wo es heißt: „Die Mitarbeiter<br />
der Zeitschrift ‚Unter dem Banner des<br />
Marxismus’ müssen das systematische Studium<br />
der Dialektik Hegels vom materialistischen<br />
Standpunkt aus organisieren. ... Die Gruppe<br />
der Redakteure und Mitarbeiter der Zeitschrift<br />
sollte nach meiner Meinung eine Art ‚Gesellschaft<br />
materialistischer Freunde der Hegelschen<br />
Dialektik’ sein.“ 6 Nimmt man diesen<br />
Appell zusammen mit den Bemerkungen aus<br />
den „Logik“-Konspekten, so ergibt sich ein<br />
klares philosophisches Konzept: „Der historische<br />
Materialismus als eine der Anwendungen<br />
und Entwicklungen der genialen Ideen, der<br />
Samenkörner, die bei Hegel im Keimzustand<br />
enthalten sind. ... Man kann das ‚Kapital’ vom<br />
Marx und besonders das I. Kapitel nicht vollständig<br />
begreifen, ohne die ganze Logik von<br />
Hegel durchstudiert und begriffen zu haben.<br />
Folglich hat nach einem halben Jahrhundert<br />
nicht ein Marxist Marx begriffen!“ 7<br />
Das alles ist aber keine, an sich selbst schon<br />
bemerkenswerte, akademische Forschung um<br />
der Erkenntnis von Denk- und Weltanschauungsformen<br />
willen. Lenin treibt Philosophie-<br />
Studium in den ersten Monaten des aufregenden<br />
weltpolitischen Umbruchs, der durch den
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Beginn des Ersten Weltkriegs am 1. August<br />
1914 ausgelöst wurde. Die Widersprüche in<br />
der Konkurrenzordnung des kapitalistischen<br />
Systems sprengten die Klasseneinheit der<br />
Bourgeoisie, die sich bis dahin in Kompromissen<br />
über alle Rivalitäten hinweg erhalten<br />
hatte; in dem neuen Stadium des Imperialismus<br />
prallten die Gegensätze unversöhnlich<br />
aufeinander. Gleichstarke Machtgruppen des<br />
Kapitals standen einander gegenüber, eine<br />
musste die andere verdrängen, wenn sie ihren<br />
Anteil an der Ausbeutung vergrößern und<br />
letztlich die Führung auf dem Weltmarkt erringen<br />
wollte. Der Prozess, den man <strong>heute</strong><br />
„Globalisierung“ nennt, dessen strukturelle<br />
Bedingungen ja Marx schon in der Anfangsphase<br />
des kapitalistischen Weltmarkts analysiert<br />
hatte, 8 war in der Zeit vor dem Ersten<br />
Weltkrieg in sein akutes Stadium getreten und<br />
hatte sogleich die Zuspitzung der inneren<br />
Widersprüche des Imperialismus zu einem<br />
großen Krieg bewirkt. Seitdem verknüpft sich<br />
der Hauptwiderspruch zwischen den Klassen<br />
mit den Nebenwidersprüchen der imperialistischen<br />
Konkurrenten und das Begreifen der<br />
Bewegungsformen dieser doppelten Widersprüchlichkeit<br />
wird zum theoretischen Kernproblem<br />
der Strategie revolutionärer Veränderungen.<br />
Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert<br />
zugleich der sozialistischen Revolutionen<br />
und der Exzesse des Imperialismus.<br />
Die gegensätzlichen Kräfte führen einen<br />
„Kampf auf Leben und Tod“ 9 , dessen Härte<br />
sich daraus erklärt, dass nicht mehr die Herrschaftsformen<br />
zweier Gesellschaftsformationen<br />
im Widerstreit stehen, sondern zwei Typen<br />
von Gesellschaft überhaupt.<br />
Die Parteien der Arbeiterklasse in der II.<br />
Internationale hatten gegenüber der neuen<br />
Phase des Imperialismus – die Lenin dann als<br />
„imperialistische“ analysieren wird 10 – versagt<br />
und den Klassenkampf mit der Unterordnung<br />
unter die Interessen der nationalen Bourgeoisien<br />
preisgegeben. Arbeiter schossen an den<br />
Fronten auf Arbeiter. Die Ziele des Sozialismus<br />
schienen in weite Ferne gerückt, die<br />
Sozialisten hatten sich selbst eine vernichtende<br />
Niederlage beigebracht, die ihre politische<br />
THEMA 67<br />
Identität zerstörte. In der von Kautsky einst<br />
formulierten Alternative Sozialismus oder<br />
Barbarei (die später von Rosa Luxemburg<br />
wieder aufgenommen wurde) hatten die sozialdemokratischen<br />
Parteien sich auf die Seite<br />
der Barbarei geschlagen!<br />
Es war der harte Kern der organisierten<br />
Arbeiterklasse, der diesen Anpassungstendenzen<br />
widerstand: die Bolschewiki in Russland,<br />
die Spartakisten in Deutschland. Lenin,<br />
Liebknecht, Luxemburg 11 als ihre politischen<br />
und theoretischen Führer. Es galt, die Partei<br />
und Parteilichkeit, den klassenkämpferischen<br />
Elan der I. Internationale gegen Reformismus<br />
und Revisionismus, die sich in der II. Internationale<br />
durchgesetzt hatten, zu erhalten und<br />
ihn im Augenblick der Krise der bürgerlichen<br />
Gesellschaft und des Zusammenbruchs der<br />
reaktionären Monarchien in Russland und<br />
Deutschland mit revolutionärem Impuls zu<br />
erfüllen. Die historische Mission der Arbeiterklasse,<br />
den Sturz des Kapitalismus herbeizuführen<br />
und die Grundlagen für eine<br />
neue Gesellschaftsordnung zu legen, wurde<br />
nicht von den Mehrheitssozialisten wahrgenommen<br />
(und wird vielleicht aktiv nie von der<br />
Klassenmehrheit vorangetrieben, die eher<br />
passiv den revolutionären Prozess gutheißt<br />
und unterstützt 12 ).<br />
Nach 1914 galt es also, die Identität der<br />
Partei, wie sie durch Werk und Wirken von<br />
Marx und Engels repräsentiert wurde, gegen<br />
die Einbeziehung in den bürgerlichen Demokratie-Betrieb<br />
zu bewahren. Nicht Opposition<br />
im Kapitalismus, sondern Opposition<br />
gegen den Kapitalismus ist Sinn und Aufgabe<br />
einer Kommunistischen Partei. Diese Differenz<br />
ist eine innersozialistische Konfrontation,<br />
die sich auf allen Entwicklungsstufen wiederholt<br />
und für die der Kampf Lenins um die bolschewistische<br />
Linie der Partei beispielhaft ist<br />
– gerade auch in den Tagen, in denen er das<br />
Handeln der Klasse gegen das Zaudern der<br />
Führung durchsetzte und zum Siege führte.<br />
Wenn die Revolution auf das Bestehen<br />
einer integren, opferbereiten und wohl organisierten<br />
Partei angewiesen ist und ohne sie<br />
keine ineinander verwobene strategische
68<br />
Hans Heinz Holz: Revolutionäre Theorie für revolutionäre Praxis<br />
Linie und taktische Zielsetzung erhalten<br />
kann, so liegt auf der Hand, welche Ausrichtung<br />
das Klassenbewusstsein in den kommunistischen<br />
Parteien zu nehmen hat: Es<br />
muss den revolutionären Gehalt ihrer Ursprünge,<br />
ihrer „Prägung“ behalten. Die Einheit<br />
der Partei muss durch ihre Identität gewährleistet<br />
sein, nicht durch Kompromisse<br />
zwischen „Strömungen“ und „Linien“, die<br />
letzten Endes nur zu einander ausschließenden<br />
Fraktionen verkommen. Die Identität der<br />
Partei bekundet sich sowohl in ihren programmatischen<br />
Grundaussagen als auch in<br />
der Kontinuität ihrer Geschichte – ihrer Erfolge<br />
und Triumphe ebenso wie ihrer Fehler,<br />
gar Fehlentwicklungen und Niederlagen. Der<br />
Klassenkampf verläuft nicht ohne Widersprüche.<br />
Der historische Materialismus gibt<br />
uns das methodische Instrumentarium, diese<br />
Widersprüche zu erklären und sie kritisch zu<br />
reflektieren. Kritische Reflexion ist nicht<br />
moralisierend – das wäre Sozialdemokratismus<br />
seit Friedrich Albert Lange 13 –, sondern<br />
historisch realistisch. Nur so sind Lehren aus<br />
der Geschichte zu ziehen – Lehren aus der<br />
siegreichen <strong>Oktoberrevolution</strong>, Lehren aus<br />
der Niederlage von 1989. Die Lernbereitschaft<br />
schließt ein, dass wir unsere Geschichte<br />
nicht verleugnen oder verdrängen.<br />
Die DKP ist 1968 gegründet worden, aber<br />
sie ist die Partei von Rosa Luxemburg, Ernst<br />
Thälmann und Max Reimann und ihren<br />
Kampfgenossen. Der internationale Kommunismus<br />
ist der von Marx und Engels, von<br />
Lenin und Stalin, von Gramsci und Togliatti,<br />
von Dimitroff und Mao, von Cunhal und<br />
Castro. Es ist der Kommunismus, der seinen<br />
Internationalismus in der III. Internationale<br />
organisierte. Es ist der Kommunismus, dem<br />
mit der <strong>Oktoberrevolution</strong> der erste Durchbruch<br />
durch das System des Kapitalismus gelang<br />
und der in zwanzig <strong>Jahre</strong>n zur zweiten<br />
Weltmacht aufstieg – nicht nur im Sinne staatlicher<br />
Macht, sondern als geistige, kulturelle,<br />
weltanschauliche Alternative zur bürgerlichen<br />
Gesellschaft. Es ist der Kommunismus, dessen<br />
Existenz die Emanzipation der Kolonialvölker<br />
ermöglichte und unterstützte. Es ist der<br />
Kommunismus, der das Friedensprogramm<br />
der Vereinten Nationen mitentwarf und daran<br />
festhielt, als der US-Imperialismus – schon<br />
seit dem Korea-Krieg 1951 – wieder zur militärischen<br />
(und ohnehin stets zur ökonomischen)<br />
Aggressivität überging. Es sind Millionen<br />
Kommunisten in der ganzen Welt, die oft<br />
unter dem Einsatz ihres Lebens den Klassenkampf<br />
in ihrem Lande und den Kampf gegen<br />
den internationalen Imperialismus und Faschismus<br />
führen.<br />
Wer wollte dies verkleinern, weil im revolutionären<br />
Prozess, wie in jeder Revolution, die<br />
wir aus der Geschichte kennen, Gewalt und<br />
Unrecht geschehen (und Fehler sowieso)?<br />
Selbstverständlich muss in jedem Fall von<br />
Unrecht dem Widerstand entgegengesetzt werden;<br />
selbstverständlich müssen wir aus der Erforschung<br />
der Ursachen die Lehre ziehen, wie<br />
in Zukunft Unrecht und Fehlhandlungen zu<br />
vermeiden sind. Aber unsere Selbstkritik darf<br />
uns nicht von unserer Geschichte abschneiden,<br />
in der wir verwurzelt sind und aus der wir Kraft<br />
ziehen. Das ist keine Frage von Emotionen.<br />
Natürlich sind wir Kommunisten, weil uns die<br />
leidenschaftliche Empörung über Unterdrückung<br />
und Ausbeutung, über die Unmenschlichkeit<br />
der Klassengesellschaft, über Krieg und<br />
Zerstörung unserer Lebenswelt beseelt. Aber<br />
es zeichnet uns aus, dass wir im Dialektischen<br />
und Historischen Materialismus die Theorie<br />
haben, um die Widersprüche, die uns empören,<br />
aus ihren Entstehungs- und Existenzbedingungen<br />
zu begreifen und also die Mittel und<br />
Wege erkennen können, wie die Widersprüche<br />
aufzuheben sind.<br />
Das führt uns zurück zu Lenin. Verstehen<br />
wir: Der Erste Weltkrieg begann. Die Krise<br />
des Kapitalismus brach aus, das Jahrhundert<br />
der Revolutionen bereitete sich vor. Und<br />
Lenin – las Philosophie!<br />
Das Studium der großen Dialektiker –<br />
Heraklit, Aristoteles, Leibniz, Hegel, eine ausgewählte<br />
Ahnenreihe der Philosophiegeschichte<br />
– stand im Dienste der politischen<br />
Praxis. Wer die logische Struktur des Widerspruchs<br />
und seine ontologische Realität als<br />
Prinzip der Wirklichkeit und Grund ihrer Be-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
wegungsform nicht begreift, dem bleiben<br />
auch die geschichtlichen und gesellschaftlichen<br />
Prozesse irrationale und zufällige Erscheinungen<br />
einer unverstandenen Macht. Ohne<br />
die materialistische Dialektik kann ihm die<br />
Geschichte nur als blindes Schicksal oder dem<br />
Menschen verborgener Ratschluss Gottes<br />
entgegentreten. Lenins leidenschaftlicher<br />
Atheismus ist motiviert von dem Streben, die<br />
Welt begreifbar zu machen, damit sie der<br />
Freiheit des aus Vernunft handelnden Menschen<br />
zugänglich sei. Theorie als Theorie für<br />
eine Praxis, die nicht willkürlich ist, sondern<br />
den rational rekonstruierbaren Gesetzen der<br />
Natur sich fügend, gestaltend in sie eingreift.<br />
Das ist der Geist der europäischen Moderne,<br />
der Aufklärung, der Geist von Galilei und<br />
Bacon, von Leibniz und Einstein.<br />
Theoria cum praxi hatte Leibniz der Königlich<br />
Preussischen Akademie der Wissenschaften<br />
(deren Erbe die Akademie der Wissenschaften<br />
der DDR und nach deren illegaler<br />
Abwicklung nun die Leibniz-Sozietät<br />
angetreten hat) 1700 in ihr Wappen geschrieben.<br />
Mit diesem Motto im Kopf formulierte<br />
Marx die 11. Feuerbachthese: „Die Philosophen<br />
haben die Welt nur verschieden interpretiert,<br />
es kömmt darauf an, sie zu verändern.“<br />
14 Nur Banausen lesen sie so, als habe<br />
Marx die Philosophie abgetan und einem<br />
schnöden Praktizismus gehuldigt. Jede Theorie<br />
ist immer Interpretation der Wirklichkeit.<br />
Es ist eine naive Illusion, es könne eine Beschreibung<br />
von Sachen geben, der nicht schon<br />
eine Bedeutung aus unserer Perspektive, unserer<br />
Interessenlage beigelegt ist. Der dialektische<br />
Materialismus ist kein naiver Realismus.<br />
Dass wir die Welt nach unseren Zwecken<br />
verändern, geht nicht ohne Interpretation dessen,<br />
wie sie sein könnte, indem sie ist, wie sie<br />
ist. 15 In der Praxis wird das krude ontische Ansich-sein,<br />
das der sensualistische Materialismus<br />
zu erkennen meint, in das ontologische<br />
Verhältnis seiner Widerspiegelung im Bewusstsein<br />
als Voraussetzung des Handelns<br />
überführt. Nicht Praxis statt Theorie, sondern<br />
durch Theorie vermittelte Praxis ist das<br />
Programm, das Marx gegen Feuerbach auf-<br />
THEMA 69<br />
stellt: „Der Hauptmangel alles bisherigen<br />
Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet)<br />
ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit,<br />
Sinnlichkeit nur unter der Form des<br />
Objekts oder der Anschauung gefasst wird;<br />
nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit,<br />
Praxis, nicht subjektiv. ... Feuerbach will sinnliche<br />
– von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedne<br />
Objekte; aber er fasst die menschliche<br />
Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche<br />
Tätigkeit.“ 16<br />
Gegen den von der Praxis abgelösten Theorie-Begriff,<br />
der seit der Antike das abendländische<br />
Denken prägte 17 , musste ein neues Konzept<br />
von Theorie entwickelt werden, das nicht<br />
mehr von der Subjekt-Objekt-Dualität und der<br />
Fixierung auf die Identität des angeschauten<br />
Gegenstands ausging. In der Praxis erweist sich<br />
die Einheit von handelndem Subjekt und<br />
behandeltem Objekt wie auch die Veränderlichkeit<br />
und Bewegung (und also Nicht-Identität)<br />
des scheinbar identischen Seienden. 18<br />
Der abstrakt-leere Seinsbegriff konkretisiert<br />
sich im Begriff der Materie samt ihren<br />
Bewegungsformen. Lenin hat begriffen, dass<br />
der ontologische Entwurf von Engels 19 die natürliche<br />
Formbestimmtheit für die allgemeine<br />
strukturelle Begründung der Praxis – sowohl<br />
als produktive in der Arbeit wie als organisierende<br />
in der Politik – in den Blick bringt.Theorie<br />
erweist sich als notwendig in der Praxis enthalten.<br />
Sie ist deren Reflexionsgestalt. 20<br />
Partei und Parteilichkeit<br />
Die Griechen unterschieden Poiesis und<br />
Praxis. Poiesis ist das schaffende, herstellende<br />
Tun, das naturgemäß jeder einzelne verrichten<br />
muss, auch wenn er es mit anderen und in<br />
wechselseitiger Hilfeleistung verrichtet. Praxis<br />
dagegen ist etwas Real-Allgemeines; in ihr<br />
verschmelzen die Menschen zu einem „Körper“<br />
(einer „Körperschaft“), dessen Verhaltensregeln<br />
nicht mehr ausschließlich von den<br />
Antriebsmomenten der Individuen bestimmt<br />
sind, sondern der übergeordneten Norm des<br />
Ganzen folgen. Praxis ist nicht das einzelne<br />
Tun, sondern das „Tun aller und jedes“
70<br />
Hans Heinz Holz: Revolutionäre Theorie für revolutionäre Praxis<br />
(Hegel). 21 Sie realisiert sich in der gesellschaftlichen<br />
Arbeit und vergegenständlicht<br />
sich in deren Produkt. Sie realisiert sich ebenso<br />
in der Organisation der gesellschaftlichen<br />
Arbeit und des gesellschaftlichen Lebens insgesamt<br />
– und das heißt notwendig in der Koordination<br />
und Kooperation von mehreren,<br />
die eine sie übergreifende Gemeinschaft, eine<br />
Gruppe bilden. Ähnliche oder gleiche Interessen<br />
sind es, die eine Gruppe zusammenbinden<br />
und zu einer handelnden Einheit<br />
machen. Praxis als Organisation des gesellschaftlichen<br />
Lebens ist Politik. Politische<br />
Praxis ist die einer Gruppe oder Partei. Politisches<br />
Handeln ist immer Handeln in einem<br />
Kollektiv und durch ein Kollektiv. Subjekte<br />
der Politik sind die Parteien als Gruppen mit<br />
gemeinsamen Interessen, Zielen und Handlungsregeln.<br />
22<br />
Diese allgemeine Verfasstheit von Politik<br />
radikalisiert sich im revolutionären Geschehen.<br />
Eine durchstrukturierte Herrschaftsorganisation<br />
muss aufgebrochen, und zerstört<br />
werden. Einem funktional auf Repression<br />
ausgerichteten Apparat stünde eine amorphe<br />
Masse hilflos gegenüber, wenn sie nicht eine<br />
eigene Kampfordnung bilden würde. Die<br />
Organisiertheit ist Voraussetzung, dass der<br />
Protest zum Klassenkampf, dass die Rebellion<br />
zur Revolution werden kann.<br />
Die Einsicht, dass Reformen die allgemeine<br />
Krise des Gesellschaftssystems nicht beheben<br />
können, dass vielmehr in der Phase der<br />
allgemeinen Krise nur eine Veränderung des<br />
Systems als solches eine Abhilfe schafft – das<br />
ist eine theoretische Einsicht, die mit den<br />
Methoden der Dialektik und Systemtheorie<br />
gewonnen werden kann. Zunächst aber werden<br />
die drückenden Lasten der Krise von den<br />
Menschen an den sie betreffenden Erscheinungen<br />
wahrgenommen, gegen sie richtet sich<br />
der Unmut und der Protest. Die Verallgemeinerung,<br />
die es erlaubt, die Einzelerscheinungen<br />
als Ausfluss des Wesens, der Entstehungsbedingungen<br />
und Bewegungsformen<br />
des Systems zu erkennen, setzt gedankliche<br />
Abstraktionen und Zusammenfassungen –<br />
den „Gesamtzusammenhang“ (Engels) 23 –<br />
voraus, die sich umso weniger unmittelbar<br />
aufdrängen, je komplexer und unübersichtlicher<br />
die Vernetzung gesellschaftlicher Prozesse<br />
geworden ist. Im Unternehmer, dem<br />
„Patron“ des Betriebs, konnte der Arbeiter<br />
noch den Klassenfeind persönlich erkennen;<br />
wer aber zeigt ihm diese Person noch in einer<br />
Aktiengesellschaft. die mit guten Grund auf<br />
Französisch „Societé anonyme“ heißt? Die<br />
Emotionen bleiben singulär, sie entzünden<br />
sich am Erlebnis, nicht an Begriffen.<br />
Für die Erarbeitung der begrifflichen Erkenntnis<br />
und deren Verbreitung, sodass sie die<br />
Massen ergreifen und zur materiellen Gewalt<br />
werden kann 24 , bedarf es eines Organs. Das ist<br />
die revolutionäre Partei – revolutionär, weil<br />
sie den Systemcharakter der Krise erkennt<br />
und darum die Veränderung der Gesellschaft<br />
zu ihrem politischen Ziel macht; nicht nur im<br />
einfachen „Nein“ zum Bestehenden, sondern<br />
gemäß der dialektischen Logik im Entwurf<br />
einer anderen Gesellschaftssystematik, 25 die die<br />
„bestimmte Negation“ der bestehenden ist,<br />
also die Aufhebung der Negation durch eine<br />
neue Position („Negation der Negation).“ 26<br />
Werden die Massen spontan duch Emotionen<br />
zum Widerstand geführt – die immer<br />
wieder aufflammenden und verlöschenden<br />
Protestbewegungen sind deren Ausdruck – so<br />
kann es nur und muss die Aufgabe jenes<br />
Organs der Theorie-Praxis-Einheit, der revolutionären<br />
Partei, sein, diese Emotionen in<br />
Aktivitäten zu überführen, die aus Einsichten<br />
gesteuert werden und sich zu einem konsistenten<br />
und konsequenten Dauerverhalten<br />
festigen. Das ist die Avantgarde-Rolle, die<br />
eine kommunistische Partei nicht preisgeben<br />
darf, aber sich auch nicht anmaßen kann; sie<br />
muss aus der Überzeugungskraft der Theorie<br />
und dem glaubwürdigen und unermüdlichen<br />
Einsatz in der alltäglichen politischen Praxis<br />
entspringen und auf die Massen überspringen.<br />
Das erfordert eine hohe Leistungsbereitschaft<br />
und Moral ihrer Mitglieder und Funktionäre.<br />
Gerade dadurch haben sich in Kampf- und<br />
Verfolgungssituationen Kommunisten immer<br />
wieder ausgezeichnet und das Vertrauen auch<br />
der Mitbürger gewinnen können, die selbst
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Fritz Cremer. Lithografie zu Alexander Bloks Poem „Die Zwölf”<br />
THEMA 71
72<br />
Hans Heinz Holz: Revolutionäre Theorie für revolutionäre Praxis<br />
sich vor den Schwierigkeiten revolutionären<br />
Handelns sc<strong>heute</strong>n.<br />
Die Überzeugungskraft der Theorie des<br />
dialektischen und historischen Materialismus<br />
und die darin begründete Kosequenz politischen<br />
Handelns beruht darauf, dass dem bürgerlichen<br />
Relativismus, der beliebige, auch<br />
einander widersprechende, Meinungen mit<br />
gleicher Geltung nebeneinander zulässt (erkenntnistheoretischer<br />
Pluralismus), die Insistenz<br />
auf einem Wahrheitsbegriff entgegengesetzt<br />
wird, der die Verbindlichkeit und Richtigkeit<br />
des als wahr Behaupteten meint. Diese<br />
Wahrheitskonzeption würde dogmatisch versteinert,<br />
wenn sie nicht die geschichtliche Veränderung<br />
der Wirklichkeit berücksichtigen<br />
würde. Was jetzt ist, muss nicht so bleiben und<br />
bleibt nicht so. Aussagen, für die wir Wahrheitsgehalt<br />
beanspruchen, werden über Sachverhalte<br />
getroffen, wie sie an sich und in Bezug<br />
auf systematische Zusammenhänge, die<br />
wir erkennen, zur Zeit der Aussage sind; sie<br />
sind historisch relativ, aber nicht beliebig.<br />
Absolut sind Wahrheiten nur, wenn sie sich<br />
auf Konstanten der Natur, der Logik und der<br />
Vergesellschaftungsformen beziehen. In jeder<br />
anderen Hinsicht ist „absolute Wahrheit“ ein<br />
Grenzbegriff, der eine Erkenntnis meint, der<br />
wir uns im Erkenntnisprozess annähern, ohne<br />
die Grenze je zu erreichen (schon weil sie sich<br />
auch stets verschiebt). Lenin hat diese Differenz<br />
von absoluter und relativer Wahrheit als<br />
Moment einer dialektischen Erkenntnistheorie<br />
klar herausgearbeitet. 27<br />
Wahrheit hat in diesem Sinn einen Status,<br />
der auf den historischen Stand der Erkenntnis<br />
und der gesellschaftlichen Entwicklung relativ<br />
ist und in einer wissenschaftlichen Weltanschauung<br />
als System von Sachverhaltserklärungen<br />
und Handlungsanweisungen durch die<br />
Übereinstimmung mit den Ergebnissen der<br />
Praxis gestützt wird (Kriterium der Praxis).<br />
Das System ist ein „offenes System“ 28 , das<br />
heißt es entwickelt sich parallel zu den Veränderungsprozessen<br />
in der Wirklichkeit und<br />
in den Wissenschaften. Materialistisch ist es,<br />
wenn es den Gesetzmäßigkeiten in der Natur<br />
und Gesellschaft folgend die Fortentwicklung<br />
der Produktionsverhältnisse und den Fortschritt<br />
der wissenschaftlichen Erkenntnis<br />
theoretisch abbildet. Die Richtung des Fortschritts<br />
bestimmt sich entsprechend diesen<br />
Gesetzmäßigkeiten aus dem gattungsgeschichtlichen<br />
Ziel der Menschen, in vernünftiger<br />
Selbstbestimmung, mithin mit Rücksicht<br />
auf das Allgemeine, frei zu leben. In der<br />
Geschichte, die als eine Geschichte von Klassenkämpfen<br />
abläuft, ist die Partei jener Klasse,<br />
die die bestehenden Herrschaftsverhältnisse<br />
in emanzipatorischer Absicht bekämpft,<br />
die Trägerin des historischen Fortschritts; sie<br />
ersetzt Unfreiheit durch größere Freiheit –<br />
und selbst wenn sie unterliegt, sind die von ihr<br />
in die Welt gesetzten Gedanken doch zumindest<br />
ein „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“<br />
29 , weil diese Gedanken, einmal geäußert<br />
und niedergelegt, nicht verloren gehen und in<br />
späteren Zeiten weiterwirken.<br />
Das System der Erkenntnisse (unter Wahrung<br />
wissenschaftlicher Erkenntniskriterien)<br />
an der Existenz, den Zielen und Strategien<br />
dieser Partei zu orientieren, besagt Parteilichkeit.<br />
Der Sinn des Wortes ist nicht „parteiisch“,<br />
sondern „auf die Partei bezogen“. Historische<br />
Wahrheit hat ihren Ort in der Partei<br />
des Fortschritts.<br />
So waren die Aufklärer antiklerikal, mechanisch-materialistisch<br />
(entsprechend dem<br />
Stand der Naturwissenschaften), bürgerlichdemokratisch.<br />
30 Heute ist der Ort der Wahrheit<br />
die Kommunistische Partei als die Partei<br />
der nach-kapitalistischen, sozialistisch-kommunistischen<br />
Gesellschaftsordnung – auch<br />
dann, wenn sie Fehler macht, Unrichtiges für<br />
wahr hält, Unrecht begeht. Die Korrektur des<br />
Falschen muss sich innerhalb des Rahmens<br />
einer fortschrittlichen wissenschaftlichen<br />
Weltanschauung, ihrer politischen Strategie,<br />
also innerhalb der Organisation vollziehen –<br />
sonst wird sie reaktionär, historisch rückwärts<br />
gewandt, konterrevolutionär. Parteilichkeit<br />
der Wahrheit ist eine politische Kategorie und<br />
heißt: theoretische Erkenntnis in der Perspektive<br />
des revolutionären Ziels.<br />
Wahrheit ist nicht kompromissfähig; sie ist<br />
wahr oder es ist keine Wahrheit – „das Wahre
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
ist die Norm seiner selbst und des Falschen“<br />
(verum est norma sua et falsi – Spinoza). 31<br />
Gefahr des Revisionismus<br />
Es ist schon nicht leicht, in einer Umwelt von<br />
Schein und Bewusstseinsmanipulation, von<br />
Falschinformationen und Lügen an einer parteilichen<br />
Wahrheit festzuhalten. Dazu gehört<br />
Parteilichkeit nicht nur als Erkenntnisprinzip,<br />
sondern auch als Charakterhaltung. Schwerer<br />
noch ist es aber, selbst bei Bewahrung der<br />
Prinzipien in der Theorie, in der politischen<br />
Alltagspraxis die revolutionäre Unbedingtheit<br />
nicht zu verlieren, wenn im faktischen<br />
Handeln bestenfalls kleinere Verbesserungen<br />
für die Lebensbedingungen der Menschen,<br />
Reformen von kleinerer oder größerer Reichweite<br />
durchzusetzen sind, die am Wesen des<br />
Systems und seiner Krisenhaftigkeit nichts<br />
ändern und sogar den Schein seiner Veränderbarkeit<br />
erwecken mögen. Es ist immer<br />
richtig, für das unmittelbare Wohl der Menschen<br />
zu kämpfen. „Es ist des Menschen gutes<br />
Recht auf Erden, weil er ja nur kurz lebt, glücklich<br />
zu sein“ (Brecht). 32 Es gibt auch das kleine<br />
Glück punktueller Befriedigungen – die<br />
Lohnerhöhung, den Platz im Kinderhort, die<br />
momentane Erhaltung des Arbeitsplatzes.<br />
Das muss ernst genommen werden.<br />
Aber wenn diese Unmittelbarkeit unseren<br />
politischen Einsatz, unsere Aufmerksamkeit<br />
und Zielrichtung ganz erfüllt, ist es zu wenig.<br />
Der revolutionäre Umsturz, den wir im Prinzip<br />
wollen, rückt dann in utopische Ferne, wird<br />
zum Ideal. Schon Kant sah sich genötigt, gegen<br />
den opportunistischen Verzicht auf die Prinzipien<br />
zu polemisieren. Er verwarf „den Gemeinspruch:<br />
Das mag in der Theorie richtig<br />
sein, taugt aber nicht für die Praxis“ und kam<br />
nach einer sorgfältigen Analyse der sich darin<br />
bekundenden (theoriefeindlichen) Einstellung<br />
zu dem Schluss: „Was aus Vernunftgründen für<br />
die Theorie gilt, das gilt auch für die Praxis.“ 33<br />
Wir würden indessen einem falschen Subjektivismus<br />
verfallen, wollten wir die Neigung<br />
zu revisionistischen Anpassungen an die bestehenden<br />
Verhältnisse nur menschlicher<br />
THEMA 73<br />
Schwäche zur Last legen. Die spielt natürlich<br />
auch eine Rolle, ebenso wie mangelnde Erkenntnis<br />
und vorschnelle Akzeptanz von einseitigen<br />
oder falschen Deutungen der Phänomene.<br />
Aber das eigentliche Problem des<br />
Revisionismus liegt tiefer. Es ist die strukturelle<br />
Zweideutigkeit einer revolutionären<br />
Partei in einem nichtrevolutionaren Stadium<br />
des Gesellschaftsprozesses. Sie muss um Erfolge<br />
im System kämpfen, obwohl sie das System<br />
ablehnt. Sie gewinnt vielleicht einen kleinen<br />
Anteil an der Macht – auf der Ebene der<br />
Kommunen, der Provinzen, der Länder; oder<br />
gar einen großen Anteil, wie einst die Italienische<br />
Kommunistische Partei, die in volkreichen<br />
Regionen und Städten bis zu absoluten<br />
Mehrheiten errang; sie konnte manches Gute<br />
bewirken, aber das System von Ausbeutung<br />
und kapitalistischer Herrschaft abschaffen<br />
konnte sie nicht und löste sich schließlich im<br />
Einheitsbetrieb des bürgerlich-demokratischen<br />
Staats auf. 34<br />
Der Revisionismus ist die permanente Gefahr<br />
des politischen Alltags in nichtrevolutionären<br />
Zeiten. Er ist eine Form des Klassenkampfs<br />
in revolutionären Parteien selbst, die<br />
eine unzweideutige Linie gegen alle Anpassungstendenzen<br />
verteidigen müssen. Keine<br />
kommunistische Partei ist frei davon. Nur die<br />
äußerste Präzision der Theorie als Leitungsinstrument<br />
der Strategie kann das Einsickern<br />
revisionistischer Abweichungen verhindern.<br />
Eine Front des ideologischen Klassenkampfs<br />
ist die innerparteiliche; allerdings kann eine<br />
rücksichtlos geführte Diskussion das theoretische<br />
Niveau der Partei heben und sie zum<br />
Medium von Bewusstseins- und Willensbildung<br />
machen, wenn sie sachbezogen bleibt<br />
und nicht in persönliche Polemiken oder Gegnerschaften<br />
ausartet. Einhelligkeit als Konfliktvermeidungsverfahren<br />
würde das Erfahrungspotential<br />
der Partei nicht ausschöpfen<br />
und die Bereitschaft hemmen, sich mit Entwicklungen<br />
auseinanderzusetzen.<br />
Man muss wohl zwischen einem vorrevolutionären<br />
und einem nachrevolutionären Revisionismus<br />
unterscheiden. Lenin hat richtig<br />
vorhergesehen, dass sich nach einer sozialisti-
74<br />
Hans Heinz Holz: Revolutionäre Theorie für revolutionäre Praxis<br />
schen Revolution, zumal noch in einem ökonomisch<br />
und institutionell rückständigen<br />
(frühkapitalistischen) Lande, der Klassenkampf<br />
verschärfen müsse; Stalin hat diese<br />
Auffassung übernommen. Die Asymmetrie<br />
von Sieg der Revolution und Zunahme des<br />
Klassenkampfs hat zwei leicht einsehbare<br />
Gründe. Die bürgerliche Revolution konnte<br />
sich auf die Herausbildung kapitalistischer<br />
Produktionsverhältnisse in der Endphase des<br />
feudalen Absolutismus stützen und eine bereits<br />
hegemoniale Bourgeoisie als Träger der<br />
neuen Ordnung zur Macht bringen. Einer sozialistischen<br />
Revolution geht die Ausbildung<br />
sozialistischer Produktionsverhältnisse nicht<br />
voraus; sie muss diese erst aufbauen und dabei<br />
mit der Existenz der Bourgeoisie rechnen, die<br />
möglichst lange möglichst wenig Sozialismus<br />
zu akzeptieren bereit ist, wenn sie nicht gar<br />
die revolutionären Veränderungen rückgängig<br />
machen will; andererseits ist die revolutionäre<br />
Klasse auf das technische und administrative<br />
Know-how der Bourgeoisie angewiesen.<br />
Lenin hat auf dieses Dilemma immer wieder<br />
hingewiesen. Aus dieser Situation ergeben<br />
sich Einbruchstellen für die bürgerliche Ideologie<br />
und außerdem das langfristige Überdauern<br />
der bürgerlichen Lebensweise mit ihren<br />
nichtsozialistischen Lebenserwartungen, Ver−<br />
haltensformen, Weltanschauungsgehalten.<br />
Zum zweiten wird aus dem kapitalistischen<br />
Umfeld dieser neuen und zunächst isolierten<br />
sozialistischen Gesellschaft eine dauernde<br />
ideologische Unterwanderung und konterrevolutionäre<br />
Infiltration stattfinden, um wieder<br />
kapitalistische Verhältnisse herzustellen. Und<br />
diese Infiltration wird umso mehr Resonanz<br />
und Stützpunkte in einem sozialistischen<br />
Land finden, je länger und ungestörter die alten<br />
bürgerlichen Elemente noch fortexistieren.<br />
Lenin hat diesen Widerspruch ausdrücklich<br />
als einen Grund für die Ubergangsform<br />
der Diktatur des Proletariats benannt. Die<br />
Entwicklung der Sowjetunion bis hin zum<br />
programmatischen Verrat Gorbatschows hat<br />
die Fortdauer der bürgerlichen Ideologie und<br />
ihren zunehmenden politischen Einfluss bestätigt<br />
und der westlichen Strategie der Aus-<br />
höhlung des Sozialismus Spielraum gegeben. 35<br />
Vorrevolutionär entspringt der Revisionismus<br />
aus der Verzögerung des revolutionären<br />
Umsturzes. Die richtige Strategie, innerkapitalistische<br />
Reformen zum Hebel für die Vorbereitung<br />
revolutionärer Veränderungen zu<br />
machen, schließt eine langfristige Zeitplanung<br />
ein, je stärker noch die Macht des Kapitals<br />
ökonomisch und institutionell ist. Die Schritte<br />
in diesem langfristigen Prozess beginnen sich<br />
zu verselbstständigen, das Ziel zu verblassen.<br />
Das ist der Hintergrund für Eduard Bernsteins<br />
Pragmatismus: „Der Weg ist alles, das<br />
Ziel ist nichts.“ Ideologische Grundlage für<br />
diese in Opportunismus mündende Augenblicksorientierung<br />
war die Umformung revolutionärer<br />
Handlungsorientierung in den<br />
„Standpunkt des Ideals“ 36 – jene neukantianische<br />
Rücknahme der historischen Härte des<br />
Klassenkampfs in eine moralisierende, von<br />
den tatsächlichen Machtstrukturen absehende<br />
Vorstellung, eine „gerechtere Welt“ sei durch<br />
Appell an das Wohlwollen der Herrschenden<br />
und durch Reformen in der Verteilung des<br />
gesellschaftlichen Reichtums möglich. Wenn<br />
statt von den Notwendigkeiten der Produktionsweise<br />
von den Ungleichheiten der Distribution<br />
ausgegangen wird, fällt man zurück<br />
auf den vormarxschen, vorwissenschaftlichen<br />
Sozialismus, auf die Utopie. Die unaufhebbaren<br />
Widersprüche von kapitalistisch erforderlichem<br />
Wachstum auf der Grundlage der privaten<br />
Aneignung des Mehrwerts, also Ausbeutung,<br />
sollen dann in einer funktionalen Wirtschaftsordnung<br />
nach keynesianischem Modell<br />
ausgeglichen werden. So schlägt das sozialistische<br />
„Ideal“ wieder in antisozialistische Praxis<br />
um und erweist sich als Illusion. Die Fortsetzung<br />
kapitalistischer Ausbeutung und Herrschaft<br />
bekommt nur eine neue Maske.<br />
Gegen die Gefahr des Revisionismus – in<br />
beiden historischen Phasen und Formen gibt<br />
es nur eine Gegenwehr: an der revolutionären<br />
Theorie von Marx, Engels und Lenin nicht zu<br />
rütteln. Neue Entwicklungen im Kapitalismus<br />
müssen unter Anwendung der Prinzipien des<br />
Marxismus-Leninismus analysiert und theoretisch<br />
verarbeitet werden. Jedes Zugeständnis
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
an die bestehenden Herrschaftsverhältnisse,<br />
die Interessen der privaten Kapitaleigner und<br />
die Mechanismen kapitalistischer Produktionsverhältnisse<br />
ist eine Bresche, durch die<br />
die konterrevolutionären Tendenzen in die<br />
kommunistische Bewegung eindringen. Der<br />
Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften<br />
in Osteuropa liefert das Anschauungsmaterial<br />
dazu.<br />
Eine revolutionäre Praxis braucht eine<br />
revolutionäre Theorie – eine hoch entwickelte<br />
materialistische Dialektik. Das können wir<br />
von Lenin und seiner philosophischen Lektüre<br />
im Augenblick des Ausbruchs der Weltkrise<br />
lernen. Er hat uns eingeschärft: „Ohne<br />
revolutionäre Theorie kann es auch keine<br />
revolutionäre Bewegung geben.“ 37<br />
1 Berlin 1961 ff., W. I. Lenin, Werke (LW), Band 38, Berlin<br />
1964, S. 77 - 229.<br />
2 Vgl. Hans Heinz Holz, Einheit und Widerspruch. Problemgeschichte<br />
der Dialektik in der Neuzeit, Band III,<br />
Stuttgart und Weimar 1997, S. 361 ff.<br />
3 LW 38, S. 63 - 76.<br />
4 LW 38, S. 231 - 306.<br />
5 LW 38, S. 307 ff.<br />
6 LW 33, S. 219 f.<br />
7 LW 38, S. 180 und 170.<br />
8 Vgl. Stichwort Weltmarkt in Sachregister Marx/Engels<br />
Werke, Köln 1983, mit den entsprechenden Fundstellen.<br />
Siehe z. B. Marx/Engels Werke, (MEW), Berlin 1956 ff.<br />
Band 25: „... die industrielle Produktion, für die die beständige<br />
Erweiterung des Markts Lebensbedingung ist. ...<br />
Der industrielle Kapitalist hat beständig den Weltmarkt<br />
vor sich.“<br />
9 Hegel entwickelt die Geschichtsform des „Kampfs auf<br />
Leben und Tod“ aus deren abstrakter Gestalt des Verhältnisses<br />
von Selbstbewusstsein. Doch ist diese abstrakte<br />
Gestalt die Widerspiegelung der Struktur gesellschaftlicher<br />
Herrschaftsausübung und der in ihr auftretenden<br />
Klassenkämpfe.“ Zu Herr und Knecht als Bewusstseinsform<br />
und als Gesellschaftsverhältnis vgl. Hans Heinz<br />
Holz, Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel. Zur<br />
Interpretation der Klassengesellschaft, Neuwied und<br />
Berlin 1968. – Zum Widerspiegelungschscarakter der<br />
Hegelschen Philosophie: Ders., Einheit und Widerspruch,<br />
a. a. O., Band III, S. 161 ff.<br />
10 LW 22, S. 189 ff. Der Imperialismus als höchstes Stadium<br />
des Kapitalismus –Vgl. auch LW 39, Hefte zum Imperialismus<br />
(aus dem Nachlass).<br />
11 Es ist darum sinnvoll, die alljährliche Gedenkkundgebung<br />
zum Andenken an die ermordeten Rosa Luxemburg und<br />
Karl Liebknecht mit dem Namen Lenins zu verknüpfen zu<br />
den drei großen L.<br />
12 Wenn Kommunisten stets um die Einheit der Arbeiterklasse<br />
ringen, dann tut es gut zu wissen, dass Zustimmung<br />
nicht notwendig aktive Teilnahme am revolutionären Umsturz<br />
bedeutet; dass aber Zustimmung das notwendige<br />
THEMA 75<br />
Medium ist, in dem die Tätigkeit der Aktivisten sich wirkungsvoll<br />
entfalten kann. Vgl. die zahlreichen Zeugnisse<br />
in LW 26 - 28. Vgl.<br />
13 Hans Heinz Holz, Materialismus von Lange zu Lenin, in:<br />
TOPOS Heft 11, 1998, S. 27 ff.<br />
14 Karl Marx, MEW 3. S. 7.<br />
15 Vgl. Hans Heinz Holz, Weltentwurf und Reflexion. Versuch<br />
einer Grundlegung der Dialektik, Stuttgart und Weimar<br />
2005, insbesondere S. 359 ff.<br />
16 Karl Marx, Feuerbachthesen, MEW 3, S. 5.<br />
17 Vgl. die Fundstellen zum Stichwort theoria bei Hermann<br />
Bonitz, Index Aristotelicus, Darmstadt 1955.<br />
18 Hegel prägt die Formel: Identität von Identität und Nicht-<br />
Identität.<br />
19 Vgl. Hans Heinz Holz, Einheit und Widerspruch, Band III,<br />
a. a. O. S. 311 ff.<br />
20 Das ist der Sinn der Widerspiegelungstheorie. Vgl. Hans<br />
Heinz Holz, Widerspiegelung, Bielefeld 2003. – Ders.<br />
Weltentwurf und Reflexion, a. a. O., S. 199 ff.<br />
21 In der Praxis handelt jeder einzelne, aber stets mit dem<br />
Handeln aller anderen einzelnen vermittelt, sodass die<br />
Praxis insgesamt als Tun aller durch das Tun jedes einzelnen<br />
hindurch ist.<br />
22 Es versteht sich: Diese Definition gilt von der Klassenund<br />
Konkurrenz-Gesellschaft. Die Organisationsform der<br />
klassenlosen Gesellschaft wird eine andere sein.<br />
23 Friedrich Engels, Dialektik der Natur, MEW 20, S. 307.<br />
24 Karl Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie.<br />
Einleitung, MEW 1, S. 385.<br />
25 Vgl. Hans Heinz Holz, Sozialismus statt Barbarei, Essen<br />
1999.<br />
26 Hegel setzt die Gleichung: gleich gültig = gleichgültig.<br />
27 Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, LW 13.<br />
28 Jeroen Bartels, Hans Heinz Holz, Jos Lensink, Detlev<br />
Pätzold, Dialektik als offenes System, Köln 1986.<br />
29 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke (Suhrkamp) Band<br />
12, S. 32.<br />
30 Vgl. Bernhard Groethuysen, Philosophie der französischen<br />
Revolution, Neuwied und Berlin 1971. – Werner Krauss/<br />
Hans Mayer (Hrsg.) Grundpositionen der französischen<br />
Aufklärung, Berlin 1955.<br />
31 Spinoza, Ethik, Teil II, Lehrsatz 43, Anmerkung.<br />
32 Bertolt Brecht, Dreigroschenoper.<br />
33 Immanuel Kant, über den Gemeinspruch:Das mag in der<br />
Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Werke<br />
ed. W. Weischedel, Band VI, Darmstadt 1964, S. 125 ff.<br />
34 Dies gilt nicht nur für die aus der Italienischen Kommunistischen<br />
Partei hervorgegangene Partei des demokratischen<br />
Sozialismus, sondern auch die in kommunistischem<br />
Vorzeichen abgespaltene Rifondazione Communista.<br />
35 Gewiss war der Revisionismus nicht der einzige Grund<br />
für den Zerfall der sozialistischen Gesellschaft in der<br />
Sowjetunion; aber er hatte eine zentrale Bedeutung für<br />
das Zusammenwirken der verschiedenen Zerfallsursachen<br />
und -prozesse.<br />
36 Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, 2.<br />
Auflage 1873, Schlusskapitel: Der Standpunkt des Ideals.<br />
Vgl. auch ders., Die Arbeiterfrage, Winterthur 1870.<br />
37 LW 5, S. 379 ( Was tun?).
76<br />
Robert Steigerwald: Die Moskauer Prozesse<br />
„Koba, wozu brauchst<br />
Du meinen Tod?“<br />
Zu den Moskauer Prozessen 1936/38<br />
Robert Steigerwald<br />
Der Antikommunismus wird in den Monaten,<br />
da sich die Moskauer Prozesse von 1936 bis<br />
1938 jähren, äußerlich das Geschehene verurteilend,<br />
innerlich jedoch die Ermordung so<br />
vieler gestandener Revolutionäre genießen.<br />
Manche Kommunisten/Sozialisten beiderlei<br />
Geschlechts sind wütend, wenn auch wir auf<br />
diese Prozesse zu sprechen kommen und meinen,<br />
das sei Defätismus (politische und ideologische<br />
Entwaffnung der eigenen Reihen).<br />
Mit diesem Vorwurf begehen sie gleich eine<br />
ganze Reihe von Fehlern.<br />
1. Defätismus? Man soll Ursache und Wirkung<br />
nicht verwechseln. Die ideologische und<br />
politische Entwaffnung unserer Reihen findet<br />
nicht dadurch statt, dass wir uns mit wirklichem<br />
Geschehen auseinandersetzen. Der Vorwurf<br />
wäre aber berechtigt, wenn diese nötige<br />
Auseinandersetzung in antikommunistischer<br />
Manier stattfände. Natürlich wird der Gegner<br />
mit einem Riesenschwall von Lügen arbeiten.<br />
Das ist so seit Jahr und Tag und wird auch in<br />
der Zukunft so bleiben.<br />
2. Die Tuchatschewski-Affäre (dazu später)<br />
hat die Rote Armee beim Überfall Nazideutschlands<br />
zu furchtbaren Opfern, das Land<br />
fast an den Rand des Zusammenbruchs geführt:<br />
Das war de facto Defätismus!<br />
3. Wer in solchen Fällen schweigt, gibt zu<br />
erkennen, dass er ein schlechtes Gewissen hat.<br />
Übrigens: das müssen wir auch haben. Und<br />
gerade deshalb müssen wir uns zum Thema<br />
äußern.<br />
4. Das Problem, um das es geht, stellt eine<br />
riesige Hürde zwischen uns und jenen vor<br />
allem jungen Menschen dar, die wir für unsere<br />
Sache gewinnen wollen. Wenn wir sie<br />
ansprechen wollen, müssen wir uns dem<br />
Thema stellen, müssen klar sagen, was wir<br />
über das Geschehene wissen, ob wir dafür trif-<br />
tige Gründe oder Verbrechen sehen, ob wir<br />
uns darüber Gedanken machen, wie man solche<br />
Dinge in Zukunft vermeiden kann. Wenn<br />
uns das nicht gelingt, bleiben die Türen zu uns<br />
verschlossen, da können wir noch so viel Positives<br />
über den zunächst unterlegenen Sozialismus<br />
mitteilen. Außerdem haben diese Ereignisse<br />
tiefgreifend und langwierig gewirkt.<br />
Nicht nur in der Sowjetunion, sondern in der<br />
kommunistischen Weltbewegung als Ganzer.<br />
Wir spüren die Nachwirkungen doch noch<br />
<strong>heute</strong>.<br />
Worum geht es?<br />
Um mehrere große Prozesse, die von 1936 bis<br />
1938 in Moskau stattfanden. Betroffen waren<br />
alle noch lebenden bekannten führenden Genossen:<br />
Sinowjew, Kamenew, Bucharin, Rykow,<br />
Pjatakow, Radek, eine Gruppe hoher<br />
militärischer Führer und viele weitere Personen.<br />
Von den 25 Genossen, die zwischen<br />
1919 und 1921 dem Zentralkomitee der Bolschewiki<br />
angehörten, starben nur vier nicht<br />
infolge der Prozesse, von den 32 Mitgliedern<br />
des Politbüros in den <strong>Jahre</strong>n 1919 bis 1932<br />
wurden 17, von den früheren Volkskommissaren<br />
18, von den Botschaftern und Gesandten<br />
16 hingerichtet. Von den ZK-Mitgliedern,<br />
gewählt vom XVII. Parteitag, fielen 70 Prozent<br />
und von seinen 1 966 Delegierten 1 108<br />
den „Maßnahmen“ zum Opfer. 1 Die Liste ist<br />
längst nicht vollständig. Gemäß <strong>heute</strong> zugänglichem<br />
sowjetischen Archiv-Material wurden<br />
damal 681 692 Hinrichtungen vorgenommen. 2<br />
Manche wollen wegen der historischen Zusammenhänge<br />
die Prozesse rechtfertigen: Der<br />
Machtantritt der Nazis in Deutschland hatte<br />
die politischen Gewichte in Mitteleuropa erschüttert.<br />
Thälmanns Wort von 1932: „Wer<br />
Hindenburg wählt, wählt Hitler! Wer Hitler<br />
wählt, wählt den Krieg!“ oder Stalins Worte<br />
auf dem KPdSU-Parteitag von 1934, mit der<br />
Hitler-Partei sei jene Partei in Deutschland an<br />
die Macht gelangt, welche die Kriegserklärung<br />
an die Sowjetunion in der Tasche<br />
habe. Es war völlig klar, dass sich die Sowjetunion<br />
auf diese neue Situation einstellen mus-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
ste. Die Nazis brachen eine Festlegung des<br />
Versailler Vertrags nach der anderen: 1934<br />
Aufhebung der Entmilitarisierung des Rheinlands,<br />
1936 Einführung der allgemeinen Wehrpflicht,<br />
1938 „Anschluss“ Österreichs. Die<br />
Westmächte fielen Hitler nicht in den Arm.<br />
Beim Bürgerkrieg in Spanien hatten sie sich<br />
ebenso „neutral“ verhalten wie bei Mussolinis<br />
Überfall auf Äthiopien. England schloss ein<br />
Abkommen mit Nazideutschland über dessen<br />
Seeaufrüstung. Beim Verrat in München warfen<br />
die Westmächte die Tschechoslowakei<br />
Hitler zum Fraß vor. Stalin musste erkennen,<br />
dass nicht nur Nazideutschland den Krieg<br />
gegen die Sowjetunion plante, sondern dass<br />
die Westmächte in diesem Krieg „Schmiere“<br />
für Hitler stehen würden. Wenn immer mal<br />
wieder über Stalins Paranoia spekuliert wird –<br />
es gab wirklich eine Paranoia: Stalin musste<br />
sich entweder auf diesen Krieg oder auf die<br />
„Zusammenarbeit“ mit Nazideutschland einstellen<br />
– und die Geschichte lief darauf hinaus,<br />
dass er jede der „irrsinnigen“ Varianten<br />
„ausprobieren“ musste (wobei die Westmächte<br />
durch die sowjetische, meinetwegen die<br />
Stalinsche Außenpolitik schließlich doch in<br />
den gemeinsamen Krieg gegen Hitler-Deutschland<br />
gezwungen wurden und Stalin Hitler, wie<br />
es Thälmann vorausgesagt hatte, das Genick<br />
brach).<br />
Angesichts dieser geradezu verrückten<br />
Sachlage musste sich die sowjetische Führung,<br />
und das hieß nun einmal Stalin, darüber Gedanken<br />
machen, wie es um das militärische<br />
Potential, um Ruhe und Frieden im Land<br />
bestellt sei. Zu den historischen Zusammenhängen<br />
gehört auch die wechselvolle Geschichte<br />
des Sowjetlandes selbst. Die war verbunden<br />
mit nicht wenigen Auseinandersetzungen,<br />
hatte auch zur Bildung von Lagern<br />
und Fraktionen geführt. Roy Medwedjew berichtet,<br />
dass es im Zusammenhang mit dem<br />
XVII. Parteitag zu einer geheimen Opposition<br />
gegen Stalin kam, der z. B. Ordshonikidse und<br />
Mikojan angehörten und die die Ersetzung<br />
Stalins durch Kirow erstrebte. 3<br />
Wie also stand es um die innere Stabilität<br />
des Landes, wie würde sie sich im Fall des<br />
POSITIONEN 77<br />
Krieges mit dem hoch gerüsteten deutschen<br />
Imperialismus bewähren? Wenn schon die<br />
Deutschen im ersten Weltkrieg, an zwei Fronten<br />
Krieg führend, der russischen Armee<br />
schwerste Niederlagen zufügten, wie würde es<br />
sein, wenn das Sowjetland sich allein mit<br />
einem solchen Gegner herumschlagen müsste?<br />
Könnte es nicht im Fall von Niederlagen,<br />
von ernsten Prüfungen des Landes, der Armee,<br />
zu Rissen in der Heimat, ja sogar zu Verrat<br />
kommen? Gab es eine „fünfte Kolonne“<br />
(das Wort, eine feindliche Macht im eigenen<br />
Hinterland bezeichnend, war noch nicht<br />
„geboren“) im Sowjetland? Worauf könnte sie<br />
sich stützen?<br />
Es ging um Fragen des Lebens und Überlebens<br />
der Sowjetmacht. Nicht nur Stalin stellte<br />
sich solchen Fragen: „Wir hätten größere<br />
Verluste im Krieg erleiden können – vielleicht<br />
sogar eine Niederlage –, wenn die Führung instabil<br />
gewesen wäre und interne Uneinigkeit<br />
wie Risse in einem Felsen entstanden wäre<br />
…Wären keine brutalen Maßnahmen ergriffen<br />
worden, hätte es die Gefahr einer Spaltung<br />
der Partei gegeben.“ 4 Es gibt sogar im<br />
letzten Brief, den Bucharin aus der Todeszelle<br />
an Stalin schrieb, einen Hinweis darauf, dass<br />
auch ihn diese Frage quälte: „Es existiert<br />
irgendeine große und kühne politische Idee<br />
einer generellen Säuberung a) im Zusammenhang<br />
mit einer Vorkriegszeit, b) im Zusammenhang<br />
mit dem Übergang zur Demokratie.<br />
Diese Säuberung erfasst a) Schuldige, b) Verdächtige<br />
und c) potentiell Verdächtige …Wäre<br />
ich völlig davon überzeugt, dass Du genau<br />
so denkst, so wäre es mir bedeutend leichter<br />
ums Herz.“ 5 (Vor seiner Ermordung bat er um<br />
einen Zettel und einen Bleistift. Beides wurde<br />
ihm gewährt. Er schrieb darauf: „Koba, wozu<br />
brauchst Du meinen Tod?“ Koba, das war einer<br />
der Umgangsnamen Stalins.) 6<br />
Die Frage, wie eine Staats- und Parteiführung<br />
auf Gefahren dieser Art reagiert, kann<br />
nicht am Maßstab des sogenannten normalen<br />
Verhaltens beurteilt werden. Es gab sicher<br />
eine Anzahl von Gründen für die Moskauer<br />
Prozesse, sicherlich Feinde der Partei, des<br />
Staates, auch Stalins persönlich, und es gab
78<br />
Robert Steigerwald: Die Moskauer Prozesse<br />
natürlich auch „Rivalen“ und folglich gab es<br />
auch „persönliche“ Gründe (Abrechungen).<br />
Doch man sagt, die Prozesse hätten dem<br />
Schutz des Landes gedient. Auch in der DKP<br />
gibt es bis <strong>heute</strong> Genossinnen und Genossen,<br />
die die Prozesse mit solchen „Argumenten“<br />
rechtfertigen. Denn es geht ja doch gegen all<br />
unsere ideologischen, politischen und moralischen<br />
Überzeugungen anzunehmen, dass<br />
Kommunisten, Sozialisten, eine sozialistische<br />
Staatsmacht anders handeln könnten als zur<br />
Abwehr größter Gefahren wirklich nötig sein<br />
müsste.<br />
Haben also die Maßnahmen tatsächlich<br />
dem vorgegebenen Zweck gedient? Hat die<br />
faktische Enthauptung der Roten Armee, hat<br />
die im Gefolge der Tuchatschewski-Affäre<br />
erfolgte Vernichtung ihrer militärischen und<br />
politischen Führung bis hinab auf die Ebene<br />
der Bataillone dem Schutz des Landes gedient?<br />
Dies hat doch dazu geführt, dass der<br />
kopflos gemachten Armee beim Beginn des<br />
Naziüberfalls furchtbare Verluste zugefügt,<br />
das Land fast an den Abgrund gestoßen werden<br />
konnte.<br />
Haben die Prozesse Beweise für das Vorhandensein<br />
einer „Fünften Kolonne“ im Land<br />
erbracht? Und wenn es solches Potential gegeben<br />
habe, wie groß es hätte sein können? Zu<br />
fragen ist, wie solches „Beweismaterial“ herausgefunden<br />
wurde, auch zu fragen ist nach<br />
der Verhältnismäßigkeit der durchgeführten<br />
Maßnahmen und angewandten Mittel.<br />
Dazu gibt es Feststellungen eines Mannes,<br />
der es nicht nur wissen musste, sondern selbst<br />
neben Stalin führend an den „Maßnahmen“<br />
beteiligt war. Die Rede ist von Molotow. Im<br />
<strong>Jahre</strong> 1973 sagte er in einem Interview: „Die<br />
Geständnisse“ (der Moskauer Prozesse)<br />
„schienen nicht echt und übertrieben zu sein.<br />
Ich erachte es für unvorstellbar, dass Rykow,<br />
Bucharin und sogar Trotzki den sowjetischen<br />
Fernen Osten, die Ukraine und selbst den<br />
Kaukasus an eine fremde Macht abtreten wollten.<br />
Das schließe ich aus.“ 7 Aber gerade wegen<br />
dieser Vorwürfe wurden Bucharin und Rykow<br />
erschossen! „Es ist tatsächlich sehr traurig, dass<br />
so viele unschuldige Menschen sterben mus-<br />
sten.“ 8 „Ich unterschrieb Listen mit Namen von<br />
Menschen, die aufrechte und engagierte<br />
Bürger gewesen sein könnten.“ 9 Auf den Listen<br />
befanden sich mehrere zehntausend Namen.<br />
Sicher waren das nicht alles unschuldige Menschen.<br />
Er gab auch zu Protokoll, dass im<br />
Zusammenhang mit den Verfolgungen Sippenhaftung<br />
betrieben wurde.<br />
Halten wir fest: Falsche Geständnisse, viele<br />
unschuldige Menschen. Vor dem Hintergrund<br />
solcher Selbstzeugnisse Molotows und anderer<br />
Genossen: Wo ist da die „Fünfte Kolonne“?<br />
Sie existierte in erfolterten „Geständnissen“.<br />
Mehr gab es nicht. Zumal Bucharin<br />
erklärte, seit sieben <strong>Jahre</strong>n keine Meinungsverschiedenheit<br />
mit der Partei, der Parteiführung,<br />
der Parteilinie mehr gehabt zu haben. In<br />
seinem letzten – bereits erwähnten – Brief an<br />
Stalin aus der Todeszelle schrieb er „Ich<br />
schreibe diesen Brief wahrscheinlich als meinen<br />
letzten Brief vor meinem Tode. … Am<br />
Rande des Abgrunds stehend, aus dem es kein<br />
Zurück gibt, gebe ich Dir mein allerletztes<br />
Ehrenwort, dass ich die Verbrechen, die ich<br />
während der Untersuchung zugegeben habe,<br />
nicht begangen habe … In all den letzten <strong>Jahre</strong>n<br />
habe ich mich ehrlich und aufrichtig an die<br />
Parteilinie gehalten …“ 10<br />
Irrsinnigste Geständnisse – nicht nur jene<br />
Bucharins – wären unnötig gewesen, hätte es<br />
in den Prozessen materielle Beweismittel gegeben.<br />
Wenn es um Verschwörungen jenes<br />
Ausmaßes gegangen wäre, bei so vielen Zehntausenden<br />
Betroffenen, hätte man unweigerlich<br />
mehr für die Prozesse zu Händen gehabt<br />
als nur „Geständnisse“ als einzige Prozessmittel.<br />
Aber wie sagte Bucharin im Prozess<br />
dazu? „Geständnisse der Angeklagten sind<br />
nicht verbindlich, Geständnisse der Angeklagten<br />
sind ein mittelalterliches juristisches Prinzip.“<br />
Wie es im Mittelalter zu Geständnissen<br />
kam, war natürlich Bucharin bekannt, sein<br />
Wort war also durchaus als Anspielung auf die<br />
Prozesse zu verstehen. Als er in der Plenartagung<br />
des ZK, die seine Verfolgung betrieb,<br />
erklärte: „In bin nicht Sinowjew und nicht<br />
Kamenew und werde mich nicht selbst bezichtigen“,<br />
fuhr ihm Molotow ins Wort: „Wenn Sie
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
nicht gestehen, dann beweisen Sie damit, dass<br />
Sie ein faschistischer Söldling sind! …. Wenn<br />
wir Sie verhaften, dann werden Sie gestehen!“ 11<br />
Bucharin hat gestanden<br />
Tuchatchewski war der Oberbefehlshaber der<br />
Sowjetarmee, er wurde der Planung eines<br />
militärischen Putsches gegen die Sowjetführung<br />
beschuldigt und deswegen hingerichtet.<br />
Die „Affäre“ wird als gezielte Provokation<br />
entsprechender Stellen im faschistischen<br />
Deutschland dargestellt, die in bestimmten<br />
Kreisen der sowjetischen Sicherheitsorgane<br />
bereitwillig aufgegriffen wurde.<br />
Dennoch: Nehmen wir an, die Putschpläne<br />
hätte es gegeben, so stellen sich folgende Fragen:<br />
Rechtfertigte der Verrat des militärischen<br />
Oberbefehlshabers (der natürlich Mitwisser<br />
und Mistreiter haben muss) das, was der<br />
Hinrichtung Tuchatschewskis und anderer<br />
folgte? Im Ergebnis wurden vernichtet: drei<br />
von fünf Marschällen, 13 von 15 Armeegenerälen,<br />
62 von 85 Korps-Kommandeuren, 110<br />
von 195 Divisions-Kommandeuren, 220 von<br />
406 Brigade-Kommandeuren. Verhaftet wurden<br />
6 000 Offiziere vom Oberst aufwärts, davon<br />
wurden 1 500 hingerichtet. Die Gesamtzahl<br />
der bei dieser Kampagne ermordeten Offiziere<br />
betrug – die Zahlen sind unterschiedlich<br />
– mindestens 20 000. Faktisch wurde dadurch<br />
mittelbar dem Feind geholfen – und das<br />
war Defätismus!<br />
Wie reagierte Hitler auf diese Hinrichtung<br />
einer angeblichen Fünften Kolonne, war er<br />
betroffen über diesen „Verlust“ seines angeblichen<br />
Potentials in der SU? Darüber sprach<br />
Keitel während des Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesses:<br />
„Stalin hat 1937 die erste<br />
Garnitur seiner Offiziere liquidiert.“ Und<br />
„die neue Generation verfügt noch nicht über<br />
die Hirne, die gebraucht werden.“ 12<br />
Es gibt über jeden Zweifel erhabene Zeugen,<br />
Zeugen aus der deutschen kommunistischen<br />
Bewegung. Werner Eberlein berichtet,<br />
sein Vater Hugo, enger Freund Lenins und<br />
Rosa Luxemburgs, Mitbegründer von KPD<br />
und Komintern, sei gefoltert worden. „Man<br />
POSITIONEN 79<br />
habe von ihm ein Geständnis über eine angebliche<br />
Agententätigkeit Wilhelm Piecks“ (!)<br />
„erpressen wollen und ihm bei Verhören<br />
einen Lungenriss zugefügt“. 13 In einem Brief<br />
an das Politbüro der KPD, den er herausschmuggeln<br />
konnte, berichtete Hugo Eberlein,<br />
man habe ihn mit Faustschlägen und<br />
Fußtritten gefoltert, wenn er ohnmächtig<br />
geworden sei, habe man ihm Opium gespritzt,<br />
damit man ihn weiter foltern konnte. Er habe<br />
nicht gestanden. Er wurde erschossen. 14 Weitere<br />
unverdächtige Zeugenaussagen: Bernhard<br />
Koenen (er war in der DDR Erster Sekretär<br />
der Bezirksorganisation Sachsen-Anhalt<br />
der SED) berichtete Wilhelm Pieck von seiner<br />
Folter und konnte führende NKWD-Funktionäre<br />
als Folterer benennen. Genosse Kerff,<br />
früherer preußischer Landtagsabgeordneter,<br />
mit den Merkmalen schwerster Folter aus<br />
dem KZ im Reichstagsbrandprozess vorgeführt,<br />
konnte über Folter in NKWD-Haft<br />
berichten. Die Leitung der Moskauer Parteiorganisation<br />
der KPD konnte über mehr als<br />
zweihundert Fälle willkürlicher Maßnahmen<br />
gegen Genossen berichten. 15<br />
Was hier geschah, konnte nicht mit der Bedrohung<br />
durch Nazideutschland gerechtfertigt<br />
werden. Wir müssen mit aller Deutlichkeit<br />
sagen: Es wurden in durch nichts zu rechtfertigenden<br />
Weise Verbrechen gegen alles verübt,<br />
was für Kommunisten auf der Grundlage ungeschriebener<br />
Gesetze kommunistische Moral<br />
ausmacht.<br />
Wenn man nicht in den Fehler verfallen<br />
will, geschichtliches Geschehen eines solchen<br />
Ausmaßes aus der Psyche eines Einzelnen zu<br />
erklären muss man nach objektiven Bedingungen<br />
fragen, die solche Prozesse möglich<br />
machten.<br />
Die Verhältnisse waren für die <strong>Oktoberrevolution</strong><br />
äußerst ungünstig, doch war sie<br />
nötig, wenn Russland aus dem Völkergemetzel<br />
des Ersten Weltkrieges herausgerissen,<br />
Möglichkeiten geschaffen werden sollten für<br />
den Frieden, für die Übergabe des Bodens an<br />
die Bauern, die ihn bearbeiteten, für die Lösung<br />
der kulturellen und nationalen Probleme<br />
des Vielvölkerstaates. Im Bürgerkrieg und in
80<br />
Robert Steigerwald: Die Moskauer Prozesse<br />
der Intervention mit ihrem Massenelend, der<br />
Hungersnot, dem Ausbluten der ohnehin<br />
nicht sehr starken Arbeiterklasse an den<br />
Fronten – also der entscheidenden Basis der<br />
Revolution – wurde es unvermeidbar, dass die<br />
Partei die Aufgaben der zerrütteten Staatsmacht<br />
übernehmen musste. Nicht breit entfaltete<br />
Demokratie stand auf der Tagesordnung,<br />
sondern eiserne Disziplin und härteste<br />
Zentralisation aller Kräfte des Landes.<br />
Auf solchem Boden können Bedingungen<br />
für Entartungserscheinungen entstehen, aber<br />
sie müssen nicht entstehen. Lenin hatte oft<br />
und keineswegs um geringfügige Dinge ernste<br />
Meinungsverschiedenheiten mit solchen Mitstreitern<br />
wie Bucharin, Kollontai, Kamenew,<br />
Sinowjew, auch Stalin und Ordshonikidse,<br />
nicht zuletzt Trotzki. Es ist Lenin nicht eingefallen,<br />
darin die Potenz für eine „Fünfte<br />
Kolonne„ zu sehen, die man vorsorglich kalt<br />
zu stellen (oder gar umzubringen) habe, er hat<br />
diesen Genossen hohe und höchste Funktionen<br />
in Partei und Staat anvertraut. Unter<br />
solchen Bedingungen spielen Eigenschaften<br />
führender Persönlichkeiten eine durchaus<br />
zentrale Rolle. Lenin hat diese in seinem sogenannten<br />
Testament angeführt. Aber, um kein<br />
Missverständnis aufkommen zu lassen:An der<br />
Herausbildung autoritärer Strukturen, durch<br />
oben erwähnte Bedingungen begünstigt, waren<br />
verschiedene Parteiführer aktiv beteiligt,<br />
keinesfalls nur Stalin. Bucharin war beispielsweise<br />
zunächst dabei sein engster Verbündeter.<br />
Aber auch Kirow und Molotow, Ordshonikidse<br />
und andere hatten ihren Anteil.<br />
Sicher erleichterte das Fehlen einer längeren<br />
demokratischen Tradition diese Vorgänge<br />
und die schon von Lenin gesehene und entschieden<br />
bekämpfte Herausbildung von Bürokratie<br />
(zumal einer solchen mit zaristischem<br />
Hintergrund) bereitet den Boden für die<br />
Mentalität des Gehorchens, die dann auch<br />
durch Privilegien abgesichert werden kann.<br />
Dies hat die schleichende Deformation der<br />
Partei und des Staatsapparates, die Herausbildung<br />
eines autoritären Führungsstils bewirkt.<br />
Das wiederum führt dazu, mögliche „Rivalen“<br />
des Autokraten und deren Anhang auszu-<br />
schalten. Ohne solche Verhältnisse hätte es<br />
die schlimmen Entartungserscheinungen im<br />
Land und die sie begleitenden, die autoritäre<br />
Führung absichernden Prozesse nicht geben<br />
können.<br />
Sicherlich mag es hilfreich sein, wenn wir<br />
darauf aufmerksam machen, dass es die sowjetischen<br />
Kommunisten waren, die aus eigener<br />
Kraft diese schlimmste Seite in der Geschichte<br />
der kommunistischen Bewegung beendet<br />
und jene rehabilitiert haben, denen damals<br />
schwerstes Unrecht widerfahren ist. An<br />
der Art und am Umgang (oder Nicht-Umgang)<br />
der KPdSU mit diesen Problemen wird<br />
harsche Kritik geübt. Die SED hat zum Beispiel<br />
erst Mitte der Achtzigerjahre aus Moskau<br />
Listen bekommen mit Namen von Genossinnen<br />
und Genossen, von denen man bis<br />
dahin geglaubt hatte, sie seien während des<br />
Krieges, in der Illegalität usw. ums Leben<br />
gekommen, in Wahrheit aber waren sie Opfer<br />
des Terrors. 16<br />
Bei dieser Kritik muss aber auch berücksichtigt<br />
werden, wie die konkreten Bedingungen<br />
damals in der KPdSU waren, welche vielfältigen<br />
Hindernisse einer wirklichen „Aufarbeitung“<br />
des Geschehens im Wege standen.<br />
Viele Materialien waren nicht bekannt. Mancher<br />
Betroffene, manche Betroffene war nicht<br />
fähig, über das zu sprechen, was ihnen widerfahren<br />
ist. Es gab nicht wenige Kommunistinnen<br />
und Kommunisten, die schon mit jenen<br />
unzureichenden Bekanntmachungen damals<br />
schwerste Probleme hatten – und es gab auch<br />
ernsten Widerstand von Stalin-Anhängern,<br />
die nicht bereit oder fähig waren anzuerkennen,<br />
dass es sich bei dem „Enthüllten“ um<br />
wirkliche Verbrechen gehandelt hat. Das<br />
muss gegen alle jene festgehalten werden, die<br />
immer noch das damalige Geschehen entschuldigen,<br />
rechtfertigen, bestreiten wollen.<br />
Übrigens habe ich diese Haltung nur bei solchen<br />
Genossinnen und Genossen angetroffen,<br />
die selbst nicht in die Mühle geraten waren,<br />
von den selbst Betroffenen hat keiner nach<br />
Rechtfertigungsgründen für den Terror gesucht,<br />
höchstens haben sie zum Thema geschwiegen.
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Auch ich habe mir lange nicht vorstellen<br />
wollen oder können, dass Sozialisten, Kommunisten<br />
zu derlei Taten fähig sein würden,<br />
habe sie sogar zu rechtfertigen gesucht und<br />
mich dabei ausgerechnet an den Materialien<br />
jener orientiert, welche die „Geständnisse“<br />
zusammengebracht haben – als Beispiel sei<br />
ein ganz schlimmes Buch genannt, es hieß<br />
„Die große Verschwörung“ und erweckte den<br />
Eindruck, als sei die <strong>Oktoberrevolution</strong> und<br />
die folgende Geschichte des Landes, von den<br />
Personen Lenins und Stalins abgesehen, das<br />
Werk einer riesigen Verbrecherbande gewesen.<br />
Erst nachdem ich Genossinnen und Genossen<br />
kennen gelernt habe, die dem Terror<br />
entkommen konnten, Kommunisten geblieben<br />
sind, oft in herausragenden Positionen in<br />
der Partei- oder Staatsführung (etwa als<br />
Sekretäre des ZK der illegalen KPD) wichtige<br />
Funktionen innehatten, begann ich zu lernen<br />
und ich kann nicht vergessen, wenn mir<br />
Genossen, deren Totenrede ich gehalten habe,<br />
kurz vor ihrem Tod sagten: Sie schämten sich,<br />
über das zu reden, was ihnen widerfahren sei.<br />
Zwei der drei kommunistischen Lagerältesten<br />
des KZ Buchenwald seien nicht dort, sondern<br />
in Workuta umgekommen. 17<br />
Einige Bemerkungen zu den nötigen Lehren.Wir<br />
müssen uns gründlich damit befassen,<br />
was solche Exzesse ermöglichte, welche Sicherungen<br />
dagegen möglich sein könnten. Und<br />
da kommen wir nicht an der Frage vorbei, wie<br />
es um die Sowjetmacht bestellt war und wie es<br />
um den Aufbau einer künftigen sozialistischen<br />
Staatsmacht bestellt sein könnte. Es geht also<br />
um ernste Lehren aus unserer Geschichte.<br />
Meines Erachtens muss die Konzeption<br />
aufgegeben werden, wie sie den Räten zugrunde<br />
lag, dass im Sowjet die Einheit der Gewalten<br />
besteht, dass gesetzgebende, vollziehende<br />
und juridische Gewalt sich in der Hand<br />
des gleichen Kollektivs (im Falle Stalins sogar<br />
der einer einzelnen Person!) befinden. Im<br />
Falle einer autoritären Staatsstruktur ist da<br />
die Willkürherrschaft „normal“.<br />
Es geht um die strikte Einhaltung sozialistischer<br />
Gesetze, um die Einrichtung entsprechender<br />
Kontrollsysteme (möglicherweise<br />
POSITIONEN 81<br />
durch ein der sozialistischen Verfassung verpflichtetes<br />
Verfassungsgericht, durch eine Verwaltungsgerichtsbarkeit<br />
– sodass den Einzelnen<br />
und Kollektiven das Recht eingeräumt<br />
wird, juristische und politische Entscheidungen<br />
überprüfen zu lassen). Das läuft auf die<br />
Trennung der Gewalten, der legislativen, exekutiven<br />
und juristischen Gewalt eines sozialistischen<br />
Staates hinaus.<br />
Es ist auch zu bedenken, dass ein neuer<br />
Anlauf zum Sozialismus bei uns nur möglich<br />
sein dürfte, wenn breiteste Massen des Volkes<br />
diesen Anlauf bewirken, und eine solche<br />
Volksbewegung wird durchaus nicht homogen<br />
in sozialer, politischer und weltanschaulicher<br />
Hinsicht sein. Das aber hätte Konsequenzen<br />
für eine sich aus solch einer Bewegung ergebende<br />
Staatsmacht. Es sind Koalitionsregierungen<br />
und politisch-parlamentarische Fraktionen<br />
möglich, das also wäre der Staatstyp<br />
der demokratischen Republik, ganz so, wie<br />
ihn der späte Engels einmal meinte. Es müssen<br />
auch Konsequenzen hinsichtlich des Charakters<br />
der Partei, der Rolle und Bedeutung<br />
der Gewerkschaften und anderer gesellschaftlicher<br />
Institutionen gezogen werden.<br />
Im neuen Programm der DKP wird versucht,<br />
unsere Vorstellungen zu entwickeln,<br />
wobei wir wissen, dass sich die Realität, gerade<br />
auch in der Zukunft, nicht allein gemäß<br />
unserer Wünsche und Vorstellungen verhalten<br />
wird.<br />
An der Tatsache der genannten Verbrechen<br />
kann nicht gezweifelt werden, auch nicht<br />
daran, dass letztlich die Verantwortung dafür<br />
bei Stalin lag. Aber aus der gleichen Logik<br />
folgt auch die Verantwortung für das, was<br />
unter seiner Führung an weltgeschichtlich<br />
Bedeutendem stattfand! Stalin gehört mit diesem<br />
grässlichen Widerspruch nun einmal zu<br />
den weltgeschichtlich bedeutenden Persönlichkeiten,<br />
und mit Widersprüchen solcher Art<br />
sind so ziemlich alle großen Persönlichkeiten<br />
der Geschichte behaftet, ja man kann sie<br />
eigentlich nur in dieser Widersprüchlichkeit<br />
verstehen – sofern sie fortschrittlich gewirkt<br />
haben. Sicher stellt sich die Frage, wie solche<br />
Widersprüche „aufzuheben“ seien. Ich denke,
82<br />
Robert Steigerwald: Die Moskauer Prozesse<br />
der Historiker Isaac Deutscher hat dies im<br />
Falle Stalins versucht und bewältigt:<br />
„Das Volk, dessen Führung Stalin übernahm,<br />
konnte man – abgesehen von einer<br />
kleinen Gruppe Gebildeter und von fortschrittlichen<br />
Arbeitern – mit Recht als eine<br />
Nation von Wilden bezeichnen. Damit soll<br />
nichts über den russischen Volkscharakter<br />
gesagt werden. Russlands Rückständigkeit,<br />
sein asiatischer Zug, waren nicht die Schuld,<br />
sondern die Tragödie des Landes. Stalin unternahm<br />
es, um einen berühmten Ausspruch zu<br />
zitieren, die Barbarei mit barbarischen Mitteln<br />
auszutreiben. Aber gerade durch die Art<br />
der angewandten Methode kehrte wieder vieles<br />
ins russische Leben zurück, was man als<br />
Barbarei hinausgeworfen zu haben glaubte.<br />
Trotzdem hat die Nation auf fast allen Gebieten<br />
ihrer Existenz Fortschritte erzielt. Ihre<br />
Produktionskapazität, die im <strong>Jahre</strong> 1930 noch<br />
nicht einmal an die eines europäischen Mittelstaats<br />
heranreichte, wurde so rasch und umfassend<br />
erweitert, dass Russland <strong>heute</strong> (1948)<br />
die erste Wirtschaftsmacht Europas und die<br />
zweite in der Welt ist. In wenig mehr als einem<br />
Jahrzehnt verdoppelte sich die Zahl der russischen<br />
großen und mittleren Städte. Die<br />
Stadtbevölkerung stieg um dreißig Millionen.<br />
Die Zahl der Bildungsstätten aller Arten und<br />
Grade vervielfachte sich in eindrucksvoller<br />
Weise. Ganz Russland wurde in die Schule<br />
geschickt.“ Deutscher geht auf die Kulturpolitik<br />
Stalins ein, beschönigt die repressiven<br />
Maßnahmen nicht, verweist aber auf die<br />
gewaltigen Anstrengungen, um das Kulturerbe<br />
der Vergangenheit der jungen Generation<br />
zu vermachen. Und schreibt dann weiter:<br />
Man könne solcher Gründe wegen „Stalin<br />
nicht mit Hitler zu den Tyrannen zählen, in<br />
denen man später nur noch eine absolute<br />
Wertlosigkeit und Nutzlosigkeit sieht. Hitler<br />
war der Führer und zugleich Ausbeuter einer<br />
sterilen Gegenrevolution, während Stalin der<br />
Führer und zugleich Ausbeuter einer tragischen,<br />
widerspruchsvollen und schöpferischen<br />
Revolution war. Wie Cromwell und Robespierre<br />
und Napoleon begann Stalin seine<br />
Laufbahn als Diener eines aufständischen<br />
Volkes, zu dessen Herrn er sich dann machte.<br />
Wie Cromwell verkörperte Stalin die Kontinuität<br />
der Revolution durch all ihre Phasen<br />
und Metamorphosen, obwohl seine Rolle<br />
zunächst weniger bedeutend war als die<br />
Cromwells. Wie Robespierre hat er seine eigene<br />
Partei verbluten lassen. Wie Napoleon<br />
baute er ein halb revolutionäres, halb konservatives<br />
Imperium auf und trug die Revolution<br />
über die Grenzen seines eigenen Landes hinaus.<br />
Das Gute an Stalins Werk wird seinen<br />
Schöpfer ebenso sicher überdauern wie dies<br />
bei Cromwell und Napoleon der Fall war.<br />
Aber um es für die Zukunft zu erhalten und<br />
zu seinem vollen Wert zu entfalten, wird die<br />
Geschichte das Werk Stalins vielleicht noch<br />
genauso streng läutern und formen müssen<br />
wie sie einst das Werk der britischen Revolution<br />
nach Cromwell und das Werk der<br />
französischen Revolution nach Napoleon<br />
gereinigt und neu geformt hatte.“ (Isaac Deutscher,<br />
Stalin. Eine politische Biographie. Argon<br />
Verlag Berlin 1967, S. 717 ff.) Ich weiß, dies<br />
alles zu verstehen ist nicht leicht – aber die<br />
Geschichte ist nun einmal nicht, wie Hegel<br />
schrieb, der Ort des Glücks.<br />
1 Nikita S. Chrustschow, Über den Personenkult und seine<br />
Folgen, Bericht an den XX. Parteitag der KPdSU, in:<br />
Günter Judick/Kurt Steinhaus, Hrsg. „Stalin bewältigen.<br />
Dokumente und Aufsätze“, Edition Marxistische Blätter,<br />
1989, S. 123 ff.<br />
2 Diese Zahl entspricht auch ungefähr den Angaben, die<br />
Roy Medwedjew in „Moscow News“ am 1. Januar 1989<br />
machte, dort S. 11 und 12.<br />
2 Roy Medwedjew, Das Urteil der Geschichte, Dietz Verlag<br />
Berlin 1992, Band 2, S. 12.<br />
3 Chuev, Felix, Molotow, Remembers: Inside Kremlin Politics:<br />
Conversations with Felix Chuev, Chikago: I. R. Dee,<br />
1993, S. 256 f.<br />
4 Ein unbekannter Brief Nikolai Bucharins an Josef Stalin<br />
(geschrieben am 10. Dezember 1937), in russischer<br />
Sprache zum erstenmal veröffentlicht in: Istoschnik.<br />
Dokumenty russkoi istorii, Heft 1, 1993. übersetzt von<br />
Wladislaw Hedeler/Ruth Stoljarowa.<br />
5 ebenda und Roy Medwedjew, Das Urteil der Geschichte,<br />
Dietz Verlag Berlin 1992, Band 2, S. 61.<br />
6 Chuev,, S. 278.<br />
7 ebenda, S. 264.<br />
8 ebenda, S. 297.<br />
9 ebenda, S. 277 f.<br />
10 Roy Medwedjew, Das Urteil der Geschichte, Dietz Verlag<br />
Berlin 1992, Band 2, S. 48.<br />
11 Kratkaja istorija Welikoi Otetschestwennoi woiny, Moskau<br />
1965. S. 39 f.
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
12 A. J. Poltorak, Njurnbergski epilog, Moskau 1965, S, 324 f.<br />
13 Werner Eberlein, „Geboren am 9. November”. Das Neue<br />
Berlin 2002, S. 72.<br />
14 ebenda, S. 74.<br />
15 Zu Koenen, Kerff usw. siehe: Herbert Wehner: Zeugnis,<br />
Köln 1982, S. 213.<br />
16 Mitteilung Kurt Hagers, bezeugt von Nina Hager.<br />
17 Mitteilung Emil Carlebachs.<br />
Schostakowitsch und<br />
die Delegitimierung<br />
sozialistischer Kunst<br />
Eine Nachlese zum<br />
Schostakowitsch-Jahr<br />
Thomas Metscher<br />
1. Mechanismen einer<br />
ideologischen Rezeption<br />
Der künstlerische Rang Schostakowitschs,<br />
dies hat das vergangene Jahr eindrucksvoll<br />
demonstriert, kann <strong>heute</strong> als durchgesetzt gelten.<br />
Er wird weltweit gespielt und gehört und<br />
ist, noch vor seinem Landsmann Prokofjew,<br />
bei Publikum und Fachwelt als einer der<br />
ersten Komponisten der musikalischen Moderne<br />
anerkannt. Kein anderer sowjetischer<br />
Künstler genießt <strong>heute</strong> auch nur annähernd<br />
eine solche weltweite Hochschätzung bei<br />
Kennern und interessierten Laien zugleich.<br />
Mit Recht wurde im letzten Jahr nicht nur<br />
Mozarts gedacht, es wurde mit und neben diesem<br />
auch an Schostakowitsch erinnert, und so<br />
schief es ist, letzteren gegen Mozart auszuspielen,<br />
1 so bewegt er sich, bei aller historischen<br />
Differenz, doch auf einem analogen<br />
POSITIONEN 83<br />
Niveau des ästhetischen Ranges – nicht zuletzt<br />
auch durch die Meisterschaft in allen<br />
Formen der Musik. 2 Beider Werke sind für<br />
jeweils ihre Zeit Jahrhundertwerke, und sie<br />
sind Menschheitswerke zugleich.<br />
Damit freilich stellt sich für den Umgang<br />
mit Schostakowitsch im Rahmen und vom<br />
Standpunkt der in unserer Gesellschaft herrschenden<br />
und sie beherrschenden Kunstideologie<br />
ein Problem von nicht geringem Gewicht.<br />
Sozialistische Kunst von höchster ästhetischer<br />
Qualität, zumal im „realen Sozialismus“<br />
entstandene, ist ein Ding, das nicht sein<br />
kann. In der ideologischen Matrix der gegenwärtigen<br />
Welt ist so etwas nicht vorgesehen,<br />
und wenn es vorkommt, ist es aus der Welt zu<br />
schaffen. Der Sachverhalt ist durch viele<br />
Beispiele belegt, der Fall Brechts ist der in<br />
Deutschland bekannteste. 3 Wird dieser als großer<br />
Künstler akzeptiert, so wird bestritten,<br />
dass er Kommunist war, wird sein Kommunismus<br />
zugestanden, so wird er als Künstler dequalifiziert.<br />
Eine dritte Variante besteht darin,<br />
ihn moralisch zu denunzieren. Die sicherste<br />
Variante freilich ist die des Totschweigens und<br />
Vergessens, doch kann sie nur in weniger prominenten<br />
Fällen zum Einsatz kommen. Das ist<br />
der Mechanismus mit seinen Variablen. Bei<br />
Schostakowitsch kommt verschärfend hinzu,<br />
dass er, anders als Brecht, Eisler, Picasso,<br />
Neruda, Hikmet und andere aus der „westlichen“<br />
Welt stammende Kommunisten, Produkt<br />
einer real existenten sozialistischen<br />
Gesellschaft ist, sich selbst, nach eigener, oft<br />
geäußerter Bekundung, als „sowjetischer Bürger-Komponist“<br />
(Christopher Norris) verstand,<br />
sich, bei allen Schwierigkeiten mit der<br />
Stalinschen Kulturbürokratie, zu den Prinzipien<br />
und Idealen der sowjetischen Gesellschaft<br />
bekannte, von ihr mit höchsten Auszeichnungen<br />
und Würden bedacht wurde 4,<br />
größte Popularität und Anerkennung genoß,<br />
selbst Mitglied der Kommunistischen Partei<br />
war. Zudem sprechen seine Werke, seine<br />
Hauptwerke zumal, eine so deutliche Sprache<br />
in ihrer Stellungnahme gegen Krieg und<br />
Faschismus, gegen Rassenwahn und Antisemitismus,<br />
gegen die Unterdrückung der Frau, für
84<br />
Thomas Metscher: Nachlese zum Schostakowitsch-Jahr<br />
eine Welt realer Gleichheit und Freiheit, der<br />
sozialen Gerechtigkeit und des Friedens, der<br />
Sehnsucht und Suche nach menschlichem<br />
Glück, dass seiner Anerkennung als Komponist<br />
eines marxistischen Humanismus, den<br />
Prinzipien und Idealen des Kommunismus auf<br />
das Selbstverständlichste verbunden, der<br />
Sache nach nichts im Wege stehen dürfte. Und<br />
in der Tat gibt es eine Schostakowitsch-<br />
Rezeption, die diesem Sachverhalt entspricht.<br />
So wurde die Leningrader Symphonie bei<br />
ihrem Erscheinen und noch lange Zeit danach<br />
weithin als eindeutig antifaschistisches Werk<br />
rezipiert, als „Symphonie der Wut und des<br />
Kampfes“. Schostakowitsch, so hieß es, spräche<br />
nicht nur im Namen der Menschen der<br />
Sowjetunion, sondern im Namen der ganzen<br />
Menschheit. 5 In einer Schostakowitsch-Sendung<br />
des Bayerischen Rundfunks wird ein<br />
Amerikaner zitiert (er bleibt leider anonym),<br />
der inmitten des Kalten Krieges gesagt habe,<br />
„mit einem Land, in dem solche Musik komponiert<br />
wird, darf man keinen Krieg führen“. 6<br />
Noch im Todesjahr des Komponisten, 1975,<br />
würdigt ihn die britische Times auf ihrer<br />
Titelseite als „committed believer in communism<br />
and Soviet power“, 7 wie auch in zahlreichen<br />
älteren Kommentaren sozialistischer<br />
Humanismus und Antifaschismus als politischweltanschauliche<br />
Grundorientierungen seines<br />
Werks in der Regel nicht bestritten werden.<br />
Diese Rezeption freilich steht in Konflikt<br />
mit dem antikommunistischen Auftrag der<br />
<strong>heute</strong> herrschenden Kulturideologie. 8 Das<br />
Schostakowitsch-Jahr nun hat in aller Krassheit<br />
demonstriert, dass dieser mit dem Ende<br />
der Sowjetunion keineswegs suspendiert, sondern<br />
in voller Potenz in Aktion ist. Dabei gibt<br />
es im Fall Schostakowitschs freilich besondere<br />
Schwierigkeiten. Angesichts des formalen<br />
Ranges dieses Werks wie der Tatsache seiner<br />
weiten Akzeptanz ist der Weg einer ästhetischen<br />
Abwertung verstellt. Gleichfalls verstellt<br />
ist, angesichts der hohen Integrität der<br />
Person und Lebensführung, jeder Versuch<br />
einer moralischen Denunziation (die bei<br />
Brecht zumindest partiell funktionierte). Im<br />
Fall Schostakowitschs bleibt nur ein Weg<br />
übrig, das Ärgernis eines sozialistischen Künstlers<br />
von Weltrang aus der Welt zu schaffen,<br />
und das ist der „Nachweis“, dass dieser im<br />
Grunde gar kein Marxist, sondern ein geheimer<br />
Dissident und Antikommunist war, mit<br />
sehnsuchtsvollem Blick in den freien Westen.<br />
Wohlgemerkt: es geht nicht darum, dass bestimmte<br />
Akzente vorsichtig umgesetzt werden.<br />
Es handelt sich hier um eine groß angelegte<br />
Kampagne trügerischer Verfälschung<br />
von Leben, Lebensauffassung und Werkbedeutung,<br />
die dieser Form und in diesem Umfang<br />
wohl einmalig ist. Dies sei im Folgenden<br />
demonstriert.<br />
Symptomatisch für die vollzogene Rezeptionswende<br />
ist die am 28.09.2006 ausgestrahlte<br />
Sendung von Bayern 4 Klassik mit dem programmatischen<br />
Titel „Sozialistischer Staatskomponist<br />
und geheimer Regimekritiker: der<br />
Komponist Dimitri Schostakowitsch“. Der<br />
Sender, das sei ausdrücklich vermerkt, hat in<br />
der Regel ein sehr hohes Niveau. Diese<br />
Sendung jedoch ist ein Beispiel kruder Vulgärjournalistik<br />
– anders kann man diese<br />
Mischung von scheinwissenschaftlicher Trivialität,<br />
primitivstem Antikommunismus und<br />
frechster Sinnverdrehung nicht nennen. Ich<br />
übertreibe? Man höre. Sätze vom Typus: „das<br />
wichtigste Schaffensmotiv Schostakowitschs“<br />
bei der Produktion der Lady Macbeth von<br />
Mzensk war „die schreckliche Erkenntnis, dass<br />
der Mensch zu allem fähig ist“(10) 9 , „es gelang<br />
dem Komponisten auch unabhängig von den<br />
ideologischen, politischen und nationalen<br />
Faktoren etwas besonders Wichtiges und Menschliches<br />
zum Ausdruck zu bringen“ (4) ersetzen<br />
jeden Ansatz sinnvoller Kommentierung<br />
oder kritischer Analyse. Der Text ist voll davon.<br />
Das von ihm präsentierte Bild der<br />
Sowjetunion scheint von den finstersten Stücken<br />
des Archipel Gulag inspiriert. Die Stalinzeit<br />
ist ein einziges Inferno, wo Menschen „wegen<br />
eines unvorsichtigen Wortes, wegen eines<br />
Witzes oder nur aufgrund einer anonymen<br />
Denunziation verschwanden“, Schostakowitsch<br />
selbst ein Verfolgter. „Nacht für Nacht<br />
legte sich Schostakowitsch voll angezogen zum<br />
Schlafen, ein fertig gepacktes Köfferchen mit
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
allem Notwendigen stand bereit neben dem<br />
Bett. Stalins Schwarze Emissäre kamen immer<br />
in der Nacht.“ (13) Die Mythisierung Stalins<br />
und seiner Herrschaft tritt an den Platz der<br />
rationalen historischen Argumentation. Elementarste<br />
Kriterien von Wissenschaftlichkeit<br />
gehen dabei ohne jeden Skrupel über Bord. So<br />
heißt es zu Stalins Nationalitätenpolitik (die<br />
sicher eine von dessen Stärken war), dieser<br />
hätte „gnadenlos“ „die russischen Juden“ und<br />
die „nationalen Minderheiten“ (23) verfolgt..<br />
Stalin ist eben von Kopf bis Fuss Dämon: die<br />
Verkörperung einer „gemeinen, prinzipienlosen<br />
Macht, die ungeachtet aller Titel und<br />
Preise dich wie ein Tier von einem Moment<br />
zum anderen in den Kot treten und vernichten<br />
konnte“(28). Die Äußerungen zum politischgeschichtlichen<br />
Sinn der Werke Schostakowitschs<br />
haben den Charakter dummdreister<br />
Verdrehungen. Verdreht wird vor allem seine<br />
Einstellung zur Revolution, wie auch sein Eintritt<br />
in die Kommunistische Partei als „erzwungen“<br />
bezeichnet wird. Der frühe „Trauermarsch<br />
an die Opfer der Revolution“, den der<br />
Elfjährige komponierte, meine nicht die Opfer<br />
auf der Seite der Revolutionäre, sondern den<br />
bestialischen Mord „‚revolutionär‘ gestimmter<br />
Matrosen“ an zwei Mitgliedern der Provisorischen<br />
Regierung in einem Krankenhaus. (4)<br />
Zu deutsch: von Beginn an stand Schostakowitsch<br />
gegen die Revolution. Die ihr gewidmeten<br />
Werke, darunter immerhin mehrere<br />
Symphonien, wurden ihm wider Willen abgepresst,<br />
ja in der 11. Symphonie, „einem ernsten,<br />
tiefen Werk“, kämen „seine Gedanken<br />
über das Unheil jeder Revolution zum Tragen“<br />
(22) (die Symphonie behandelt die Revolution<br />
von 1<strong>90</strong>5). Die 13. Symphonie – „Babij Jar“:<br />
der Name einer Schlucht, in der 1941 34 000<br />
Juden von deutschen Truppen ermordet wurden<br />
– behandle gar nicht den faschistischen<br />
Mord an Juden, sondern den „russischen<br />
Antisemitismus“ (25) wobei auch Jewtuschenko,<br />
auf dessen Texte die Symphonie komponiert<br />
ist, unter der Hand zum „Protestlyriker“<br />
mutiert. Fazit der hier erzählten Geschichte:<br />
zwar wurde Schostakowitsch „zum Ende seines<br />
Lebens (...) wie kein anderer Künstler von<br />
POSITIONEN 85<br />
der Sowjetmacht ausgezeichnet“, doch „war er<br />
während seines ganzen Lebens von der<br />
Sowjetmacht gehetzt, verfolgt und unter<br />
Druck gesetzt worden“. Er war Opfer der<br />
Sowjetmacht und ihr geheimer Opponent.<br />
Nicht Hitler und der Faschismus waren seine<br />
Hauptgegner, sondern Stalin und die sowjetische<br />
Gesellschaft. Sie verkörpern das Böse. Sie<br />
sind gemeint, wenn die Sendung mythisierend<br />
mit den Worten schließt: Er war „der glükklichste<br />
Mensch – weil er das Ungeheuer besiegt<br />
hatte. (...) Alle Phasen der düsteren<br />
sowjetischen Epoche wurden von Schostakowitsch<br />
intensiv durchlebt. (...) Und seine<br />
Musik ist seine größte Heldentat, vollbracht<br />
im Namen der Würde des Menschen, die er<br />
durch alle diese schrecklichen und tragischen<br />
Zeiten bewahren konnte.(29)“ Die „schrecklichen<br />
und tragischen Zeiten“ – das ist die Zeit<br />
der ersten sozialistischen Gesellschaft.<br />
So simpel dieser Text gestrickt ist, für die<br />
gegenwärtige Schostakowitsch-Rezeption in<br />
Deutschland ist er durchaus symptomatisch.<br />
Er konzentriert in krudester Form, was sich<br />
dem Inhalt nach allerorten findet, auch in<br />
intellektuell anspruchsvollen Kontexten. Der<br />
hier erzeugte Trug wirkt in Konzertprogramme,<br />
Begleithefte musikalischer Einspielungen,<br />
selbst in die seriöse Forschung und anspruchsvolle<br />
Musikkritik hinein. So kommentiert das<br />
Begleitheft zur Einspielung der 7. Symphonie<br />
durch das London Philharmonic Orchestra<br />
unter Bernhard Haitink, die Quelle der<br />
Inspiration dieses Werks sei keineswegs die<br />
Belagerung Leningrads, sondern die „Lektüre<br />
der Psalmen Davids, insbesonders jene, die<br />
von Rache und Vergeltung handeln“, ihr Sinn<br />
stehe also nicht im Einklang mit der Ideologie<br />
der „politischen Herren und Meister“. Die<br />
gleiche Tendenz, wenn auch in subtilerer<br />
Gestalt, findet sich im Feuilleton der führenden<br />
deutschen Tageszeitungen, so in der<br />
Frankfurter Allgemeinen und der Süddeutschen<br />
Zeitung. 10 Ein Paradebeispiel ideologischer<br />
Rezeption bildet die autoritative Schostakowitsch-Monographie<br />
Krzystof Meyers.<br />
Man höre, was der gelehrte Autor zu den aus<br />
der Erfahrung des Kriegs hervorgegangenen
86<br />
Thomas Metscher: Nachlese zum Schostakowitsch-Jahr<br />
Symphonien zu sagen hat: „In Zeiten, in denen<br />
die Menschenwürde mit Füssen getreten<br />
wurde und die Kriegstragödie das Land überflutete,<br />
stellten Schostakowitschs Symphonien<br />
ein Symbol der Wahrheit und des unabhängigen<br />
Denkens. Der Komponist wurde (...)<br />
zum Gewissen der Nation, die in der Hölle des<br />
Stalinismus lebte.“ Seine Musik drücke „den<br />
Kampf des Guten mit dem Bösen aus“. 11 Hier<br />
wird Wissenschaft zur unfreiwilligen Selbstparodie.Wer<br />
die Geschichte nicht kennt, würde<br />
meinen, Stalin habe die Sowjetunion überfallen,<br />
die Hölle des faschistischen Kriegs wird<br />
zur Hölle des Stalinschen Systems. Es ist schon<br />
außerordentlich, was ideologischer Wahn aus<br />
einem angesehenen und auf anderer Ebene<br />
durchaus seriösen Wissenschaftler machen<br />
kann. 12 An die Stelle wissenschaftlicher Analyse,<br />
in der durchaus auch die Parteilichkeit<br />
eines Wissenschaftlers, auch die bürgerliche<br />
Parteilichkeit ihren Ort hat, tritt der Komplex<br />
ideologischen Scheins, innerhalb dessen alles<br />
erlaubt ist: Lüge, Trug, Verdrehung der Fakten<br />
(„Ideologie“ hier verstanden als von Vorurteilen<br />
geprägtes, Wirklichkeit entstellendes<br />
Bewusstsein). Die Macht dieses Scheins wirkt<br />
noch in die linke Schostakowitsch-Rezeption<br />
hinein. So wird auch in dem Beitrag von Rainer<br />
Balcerowiak zum 100. Geburtstag des<br />
Komponisten in der jungen welt vom 25.<br />
September 2006 die Auseinandersetzung mit<br />
Stalin in den Mittelpunkt von Schostakowitschs<br />
Leben und Schaffen gestellt - als<br />
Hauptproblem, das alle anderen Probleme<br />
überschattet. Und in einem Beitrag in der gleichen<br />
Zeitschrift vom 24. Oktober 2006 schreibt<br />
der gleiche Autor zur 13. Symphonie, dass<br />
deren erster Satz („Babij Jar“) „sich mit dem<br />
Antisemitismus der russischen Gesellschaft“<br />
auseinandersetze, der zweite („Der Witz“)<br />
„eine Abrechnung mit der stalinistischen<br />
Kulturpolitik“ sei, eine Deutung, die Text und<br />
Musik eklatant verfehlt. Gerade hier scheint<br />
das Vorurteil besonders zählebig zu sein. Noch<br />
in den im ganzen soliden und in der Sache richtigen<br />
Beiträgen Jürgen Meiers in UTOPIEkreativ<br />
und UZ findet sich diese Fehldeutung. 13<br />
Dabei sind in diesem Rezeptionskomplex<br />
zwei Varianten zu unterscheiden, eine stärkere<br />
und eine schwächere. Die stärkere leugnet<br />
jeden positiven Bezug Schostakowitschs zu<br />
Sozialismus und gesellschaftlichem System in<br />
der Sowjetunion, gibt die entsprechenden, im<br />
Grunde eindeutigen Aussagen des Komponisten<br />
als bloße Taktik, Opportunismus oder<br />
Camouflage aus, die schwächere stellt zwar<br />
nicht in Abrede, dass dieser „irgendwie“ der<br />
Idee des Sozialismus anhing, verschiebt aber<br />
den Schwerpunkt seines Werks auf die Auseinandersetzung<br />
mit Stalin und seiner Herrschaft.<br />
Plötzlich ist nicht mehr Hitler der<br />
Hauptfeind der zivilisierten Menschheit, an<br />
seine Stelle ist Stalin getreten.<br />
2. Die Schlüsselrolle der<br />
Wolkow-Memoiren<br />
Unverkennbar ist, dass sich in der Rezeption<br />
Schostakowitschs eine Wende vollzogen hat,<br />
die einer grundlegenden Revision des lange<br />
Zeit weithin geltenden Bildes von Werk und<br />
Person gleichkommt. Auslöser oder Anlass<br />
dafür war das Werk eines russischen Emigranten,<br />
Solomon Wolkow, das unter dem Titel<br />
Testimony: The Memoirs of Dmitri Schostakowitsch<br />
(Zeugenschaft: die Erinnerungen von<br />
Dimitri Schostakowitsch) 1979 in New York<br />
erschien. Wolkow zufolge handelt es sich dabei<br />
um einen von Schostakowitsch selbst autorisierten<br />
Band von Lebenserinnerungen, die dieser<br />
ihm in wesentlichen Teilen in mündlichen<br />
Gesprächen mitgeteilt habe, die er, Wolkow,<br />
aus der Sowjetunion herausgeschmuggelt habe<br />
und nun der interessierten Öffentlichkeit zu<br />
treuen Händen übergebe. Der Band stellt also<br />
den Anspruch größter Authentizität. In ihm<br />
nun wird ein Bild Schostakowitschs entworfen,<br />
das dem bis dahin akzeptierten in wesentlichen<br />
Punkten, vor allem politisch, widerspricht. Es<br />
legt die Grundlage der <strong>heute</strong> dominanten<br />
Rezeption, die Darstellung des Komponisten<br />
als eines „geheimen Regimegegners“ und Antikommunisten,<br />
in allen Varianten. Die Authentizität<br />
dieses Bandes wurde freilich schon bei seinem<br />
Erscheinen bestritten, und zwar nicht nur<br />
von sowjetischer Seite, zumal der Text von
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Widersprüchen und editorischen Diskrepanzen<br />
durchsetzt ist und Wolkow sich hartnäckig<br />
weigerte, das originale Material einer neutralen<br />
Überprüfung zugänglich zu machen. Ungeachtet<br />
dieser Tatsache wurde der Band von den<br />
ideologischen Meinungsmachern herrschender<br />
Wissenschaft und Presse begierig aufgenommen<br />
und seine Authentizität freudevoll unterstellt<br />
– lieferte er doch die perfekte Lösung für<br />
das Dilemma, einen Kommunisten als Künstler<br />
ersten Ranges anerkennen zu müssen. Frisch,<br />
fromm und fröhlich wird behauptet, der Streit<br />
um den Wolkow-Band wäre zugunsten seines<br />
Herausgebers entschieden, die Memoiren also<br />
authentisch 14 – noch zu einem Zeitpunkt, an<br />
dem die Beweise für das Gegenteil bereits<br />
gebracht worden waren. 15 Worum es sich bei<br />
diesen handelt, ist, wie Laurel E. Fays<br />
Untersuchung zeigt, eine recht undurchsichtige<br />
und daher zunächst nicht leicht dechiffrierbare<br />
Kontamination unterschiedlicher Materialien.<br />
Diese bestehen zum Teil aus bereits vorher veröffentlichen<br />
Texten Schostakowitschs, deren<br />
Authentizität in der Tat auch von diesem per<br />
Unterschrift bestätigt wurde, zu einem anderen<br />
Teil aus (angeblich) im mündlichen Gespräch<br />
mitgeteilten Äußerungen, deren Authentizität<br />
durch nichts belegt ist. Das eine oder andere<br />
kann geäußert worden sein, es kann auch nicht<br />
der Fall sein. Mit größter Sicherheit ist sehr viel<br />
vom Herausgeber erfunden. Überprüfbar ist<br />
gar nichts. Hinzu kommt, dass die Witwe des<br />
Komponisten keinerlei Erinnerung daran hat,<br />
dass ihr Mann überhaupt derart extensive<br />
Gespräche mit dem Herausgeber geführt habe,<br />
ja in so enger Freundschaft mit ihm verbunden<br />
gewesen sei, um derart vertrauliche – und politisch<br />
brisante – Gespräche mit ihm überhaupt<br />
führen zu können. Bezeichnend für den ideologischen<br />
Charakter des Unternehmens ist, dass<br />
es gerade die ungesicherten Textteile, die durch<br />
nichts belegten persönlichen Mitteilungen sind,<br />
aus denen die Revision des Schostakowitsch-<br />
Bildes abgeleitet wird. Angesichts dieser<br />
Sachlage ist es nicht verwunderlich, dass das<br />
Wolkowsche Werk als irrelevante Fälschung<br />
bezeichnet wurde. 16 Ja selbst seine Apologeten<br />
sprechen von einem „apokryphen“ Text, dem<br />
POSITIONEN 87<br />
sie gleichwohl gesicherte Erkenntnisse entnehmen<br />
zu können glauben. 17 Auch bei größter<br />
Zurückhaltung muss gesagt werden, dass die<br />
Wolkow-Memoiren aufgrund ihres bestenfalls<br />
dubiosen Status als Grundlage oder Quelle<br />
wissenschaftlicher wie kritischer Arbeit ohne<br />
Wert sind. „Wert“ freilich haben sie als „Argument“<br />
im Sinne des formierten Antikommunismus.<br />
Bezeichnend dafür Meyers Äußerung zu<br />
ihnen: „Auch wenn wir davon ausgehen, dass es<br />
sich bei diesem Buch um ein Apokryph handelt,<br />
können wir seinen Wert für die Biographie<br />
Schostakowitschs kaum überschätzen.“ 18 Die<br />
Aussage enthüllt ein fatales Bild von Bewusstseinsstand<br />
und Moral <strong>heute</strong> herrschender<br />
Wissenschaft. 19 Ich unterstelle einmal, dass der<br />
Kollege weiß, was das Wort „apokryph“ bedeutet<br />
(nach dem Duden bedeutet es „unecht“,<br />
„unterschoben“, ein Apokryph ist also ein<br />
„unechtes“ oder „unterschobenes“ Werk; wenn<br />
dies planvoll geschieht, dürfte von einer Fälschung<br />
gesprochen werden können). Seine<br />
Aussage heißt dann zu Deutsch: Wir geben zu,<br />
das Werk ist gefälscht (die Wolkow-Edition ist<br />
ja bewusst von ihrem Autor manipuliert und als<br />
etwas ausgegeben, was sie nicht ist), und doch<br />
ist es von „kaum zu überschätzender Bedeutung“.<br />
Eine logisch unsinnige Aussage, wenn es<br />
hier um die Vermittlung wahrer Informationen<br />
ginge, denn diesen Zweck wird es gerade nicht<br />
erfüllen können. Woher sollte man denn bei<br />
einem apokryphen Werk wissen, was wahr und<br />
was falsch, was authentisch und was erfunden<br />
ist? Eine „kaum zu überschätzende Bedeutung“<br />
aber hat diese Edition auf anderer Ebene,<br />
und das ist die ideologische – dient es doch<br />
dem höchsten aller Zwecke: dem heiligen<br />
Kampf gegen das Gespenst des Kommunismus.<br />
Es ist selten, dass sich die hier und <strong>heute</strong> herrschende<br />
Wissenschaft so offen in die Karten<br />
sehen lässt – wir sollten ihr dafür verbunden<br />
sein.<br />
3. Zur Lage sozialistischer Kunst<br />
im Sozialismus. Eine Notiz<br />
An dieser Stelle sei einem möglichen Missverständnis<br />
begegnet. Die Antwort auf einen sol-
88<br />
Thomas Metscher: Nachlese zum Schostakowitsch-Jahr<br />
chen Typ ideologischer Rezeption kann nicht<br />
darin bestehen, dass wir jetzt blind das Gegenteil<br />
behaupten und die Pressionen, denen<br />
Schostakowitsch unter der Stalindiktatur und<br />
ihrer Kulturbürokratie ausgesetzt war, in<br />
Abrede stellen oder herunterspielen. Diese<br />
Pressionen waren real, sie waren bedrängend<br />
und bedrohlich, und es steht jenseits jeden<br />
Zweifels, dass sie in der Biographie Schostakowitschs<br />
ihren Ort haben, dass dieser sich,<br />
gerade auch als sozialistischer Künstler, mit<br />
ihnen auseinandersetzte, dass sie mithin auch<br />
für sein Werk von Bedeutung sind. Die Frage<br />
ist allein die ihrer Gewichtung. Durch nichts<br />
ist zu belegen, dass sie den zentralen Gesichtspunkt<br />
dieses Werks bilden, wie durch<br />
nichts zu belegen ist, dass der Komponist jemals<br />
eine prinzipiell antisozialistische Einstellung<br />
hatte. Sein Problem war ein solches,<br />
das er mit vielen anderen sozialistisch orientierten<br />
Künstlern in der Sowjetunion und in<br />
den anderen sozialistischen Ländern teilte.<br />
Die Sachlage ist vielfach bekannt, belegt und<br />
erforscht. Die Pressionen durch die staatliche<br />
Bürokratie waren oft so stark, dass sie Künstler<br />
zum Verzweifeln oder Verstummen bringen<br />
konnten; auch dort, wo diese für ihre physische<br />
Sicherheit nicht zu fürchten brauchten.<br />
Man denke an die Angriffe, denen Hanns<br />
Eisler im Fall seiner Faustus-Oper ausgesetzt<br />
war. Sie führten letztlich zum Abbruch der<br />
Arbeit an dem ganzen Projekt. Willi Sitte hat<br />
in seinen Erinnerungen von ähnlichen Erfahrungen<br />
ergreifend berichtet. 20 Sicher waren<br />
die Formen der politischen und kulturbürokratischen<br />
Intervention in die künstlerische<br />
Arbeit in den sozialistischen Ländern unterschiedlich<br />
und sicher wurden sie unter Stalin<br />
am schärfsten geführt. Wie auch immer, in<br />
vielen Fällen liefen sie auf künstlerische und<br />
private Tragödien oder Fast-Tragödien hinaus<br />
und zeitigten auch dort, wo sie das Selbstbewusstsein<br />
von Künstlern nicht erschüttern<br />
konnten, höchst negative Folgen. 21 Kaum<br />
einer der großen Künstler in den Ländern des<br />
realen Sozialismus blieb von ihnen unberührt.<br />
Was aber meist verwischt wird, ist der<br />
Tatbestand, dass die Lage der sozialistischen<br />
Künstler in diesen Ländern psychisch, politisch,<br />
moralisch wie ästhetisch eine völlig andere<br />
war als die der sogenannten Dissidenten.<br />
Deren Lage war die des prinzipiell Oppositionellen,<br />
der durch die Verfolgung letztlich<br />
in seiner Grundüberzeugung bestätigt<br />
wird (Solschenyzin ist das klassische Beispiel<br />
dafür). Die Lage der sozialistischen Künstler<br />
war bedeutend komplizierter, nicht zuletzt<br />
auch im psychisch-moralischen Sinn, gingen<br />
die erfahrenen Pressionen doch von einer<br />
Gesellschaft bzw. deren Führung aus, die<br />
diese Künstler im Prinzip wie in vielen<br />
Einzelerscheinungen bejahten, der sie auf<br />
vielen Feldern mit Zustimmung begegneten.<br />
Was sie im Sinn hatten, war nicht die Abschaffung<br />
der sozialistischen Gesellschaft,<br />
sondern ihre Verbesserung, kulturpolitisch<br />
kein „prinzipienloser Liberalismus“, sondern<br />
„eine Befreiung sozialistischer Kunst von<br />
allen bürokratischen und dogmatischen Behinderungen“.<br />
22 Folglich waren hier die Konflikte<br />
und Krisen viel gravierender, das<br />
Resultat war oft ein unlösbares oder schwer<br />
lösbares Dilemma. 23 Wir können sicher sein,<br />
dass auch Schostakowitsch solche Krisen<br />
durchlebte, doch kann ihre Bedeutung, gerade<br />
auch für das kompositorische Werk, erst<br />
dann angemessen erfasst werden, wenn der<br />
Wust des ideologischen Scheins, der Werk<br />
und Person entstellt, abgeräumt ist. Dabei ist<br />
zu erkennen, dass solche Auseinandersetzungen<br />
und Krisen für die Integrität dieser<br />
Künstler, moralisch-politisch wie weltanschaulich-ästhetisch,<br />
ein Lackmustest waren.<br />
Sicher gab es solche, die dem Sozialismus aufgrund<br />
solcher Erfahrungen praktisch und<br />
ideell den Rücken kehrten, also das taten, was<br />
<strong>heute</strong> Schostakowitsch unterstellt wird. Die<br />
große Mehrzahl der bedeutenden unter ihnen<br />
aber blieb der großen Sache – dem „schwer<br />
zu machenden Einfachen“ (Brecht) – treu. Es<br />
ist dies sicher von Schostakowitsch zu sagen.<br />
Und diese Integrität zeigt sich, über alles Biographische<br />
hinaus, gerade dort, wo sich künstlerische<br />
Integrität zuallererst beweist: in den<br />
Werken selbst. Diesem Gesichtspunkt seien<br />
noch einige Gedanken gewidmet.
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Avantgardistischer<br />
Realismus in der Musik<br />
Bei aller Polemik gegenüber der hier analysierten<br />
Rezeption darf nicht vergessen werden,<br />
dass es eine sachliche und seriöse Forschung<br />
zu Schostakowitsch gibt, ganz sicher<br />
auf internationaler Ebene, wie auch die musikalische<br />
Rezeption oft genug seine ideologische<br />
Vermarktung konterkariert. Für die sachliche<br />
Forschung stehen nicht zuletzt die<br />
Arbeiten, die ein Machwerk wie die Wolkow-<br />
Memoiren der Fälschung überführten. Und<br />
wenn Maris Jansons, Chefdirigent des Symphonieorchesters<br />
des Bayerischen Rundfunks,<br />
in seinem Interview mit Wolfgang Schreiber in<br />
der Süddeutschen Zeitung vom 6. September<br />
2006 die Frage nach Rezeption und Aktualität<br />
der symphonischen Musik Schostakowitschs<br />
mit dem Hinweis auf die „Millionen von<br />
Kriegstoten in Russland“ wie die „Kriege in<br />
Vietnam und im Irak“ beantwortet, 24 so benennt<br />
er sehr klar die Perspektive, in der eine<br />
angemessene Rezeption dieses Werks <strong>heute</strong><br />
zu erfolgen hat.<br />
Das Beispiel für eine sachorientierte Deutung<br />
Schostakowitschs ist der von Christopher<br />
Norris 1982 herausgegebene Band Shostakowitsch.<br />
The Man and his Music. In ihm wird –<br />
ästhetisch, politisch und weltanschaulich –<br />
eine solide Grundlage gelegt, auf der weiter<br />
differenzierende Forschungen aufbauen können.<br />
Für Norris ist Schostakowitsch „a Soviet<br />
citizen-composer“ – „ein sowjetischer Bürger-<br />
Komponist“, Verkörperung der sowjetischen<br />
Musik in einem Zeitalter schärfster ideologischer<br />
Konflikte. Sein kompositorisches Hauptproblem<br />
sei, die Anforderungen seiner sozialistischen<br />
Orientierung mit der Suche nach<br />
einer authentischen musikalischen Sprache in<br />
Einklang zu bringen. 25 Ohne das Gewicht der<br />
Stalinschen Pressionen und die damit verbundenen<br />
künstlerischen, politischen und privaten<br />
Probleme zu minimieren, entwirft der<br />
Band das Bild eines Künstlers, der wie kein<br />
zweiter in der Sowjetunion die Position einer<br />
„sozialistisch engagierten Moderne“ (Werner<br />
Mittenzwei) kompositorisch verwirklicht hat<br />
POSITIONEN 89<br />
– ungeachtet aller erzwungenen und freiwilligen<br />
Kompromisse. Robert Stradling, der<br />
Schostakowitschs politisch-ästhetische Position<br />
am schärfsten ausarbeitet, nennt ihn<br />
„einen lebenslänglichen Kommunisten und<br />
überzeugten russischen Patrioten“ und<br />
schreibt: „Kein Komponist seit Beethoven<br />
stand der Geschichte seiner Zeit so nahe und<br />
hat mit der gleichen Konsequenz die Leiden<br />
und die Hoffnungen auszudrücken versucht,<br />
die er mit Millionen seiner Zeitgenossen teilte“.<br />
26 Er sei, seit dem Tod von Prokofjef und<br />
Eisenstein, „der hervorragendste sowjetische<br />
Künstler“. 27 Es ist diese Position, die dem ideologischen<br />
Konstrukt des „geheimen Dissidenten‚<br />
und antikommunistischen Regimegegners“<br />
am entschiedensten widerspricht. Sie<br />
ist, wie ich meine, gültig im Sinn einer Grundorientierung,<br />
die ausgearbeitet und differenziert<br />
werden muss. Alle vorliegende historisch-empirische<br />
Evidenz unterstützt sie.Auch<br />
die offen antikommunistisch orientierte<br />
Biographie Meyers vermag keine wissenschaftlich<br />
validen Argumente für das Gegenteil<br />
beizubringen 28 – die Gegnerschaft Schostakowitschs<br />
zur der Schdanowschen Kulturpolitik<br />
wird ja ohnehin von niemandem<br />
bestritten. So wird von Meyer nicht ohne Bedauern<br />
konstatiert, dass sich Schostakowitsch<br />
trotz der Pressionen, unter denen er litt, den<br />
sogenannten Dissidenten nie anschloß und<br />
keine ihrer Erklärungen unterzeichnete. 29<br />
Höchst bezeichnend auch sein Verhältnis zu<br />
Strawinsky, der, so erläutert Meyer mit<br />
Zufriedenheit, „die Bolschewiken und ihre<br />
Ideologie hasst“ 30 Bei allem musikalischen<br />
Respekt, den Schostakowitsch für ihn hegte,<br />
traten anläßlich eines Besuchs Strawinskys in<br />
der Sowjetunion gravierende Differenzen<br />
zwischen beiden hervor. „Beide trennte eine<br />
tiefe Kluft in ihren politischen, künstlerischen<br />
und ästhetischen Ansichten.“ 31 Worin diese<br />
bestand, dürfte nicht schwer zu erraten sein.<br />
Schostakowitschs Position politisch, weltanschaulich,<br />
ästhetisch ist mit dem Begriff<br />
einer sozialistischen Avantgarde wohl am<br />
besten zu beschreiben. 32 Er steht damit in der<br />
Linie von Künstlern wie Brecht, Eisler, Neru-
<strong>90</strong><br />
Thomas Metscher: Nachlese zum Schostakowitsch-Jahr<br />
da, Hikmet, Ritsos, MacDiarmid, Guttuso,<br />
Nono, Weiss, Sitte (um nur einige Beispiele zu<br />
nennen, es gibt viele mehr). Das meint erstens<br />
eine formale Avantgarde im Sinn einer Suche<br />
nach neuen Formen für den Versuch, eine veränderte<br />
Weltsituation, Aufbau wie Krise einer<br />
neuen Gesellschaft darzustellen. Das meint<br />
nicht den Bruch mit überlieferten Formen,<br />
sondern deren Überprüfung, Veränderung,<br />
Transformation den neuen Anforderungen<br />
entsprechend. Das schließt ganz sicher ein:<br />
Berechtigung, ja Notwendigkeit des formalen<br />
Experiments. Das meint zweitens aber auch,<br />
und dieses mit nicht geringerer Bedeutung: die<br />
politisch-weltschauliche Orientierung an Sozialismus,<br />
Kommunismus, Marxismus, sozialistische<br />
Zielsetzung, kommunistische Perspektive,<br />
nicht als etwas der Kunst Aufgesetztes,<br />
von außen an sie Herangetragenes, sondern als<br />
Aufgabe der ästhetischen Produktion, als<br />
kompositorisches Problem selbst. Politisch<br />
meint das die Sympathie mit bzw. das Engagement<br />
in sozialistischen oder kommunistischen<br />
Parteien, meint die Parteilichkeit des<br />
Künstlers, die Absage an jede Form des l’art<br />
pour l’art, weltanschaulich die Orientierung an<br />
einem konkreten (sozialistischen, in der entwickeltsten<br />
Gestalt marxistischen) Humanismus.<br />
Diese Avantgarde ist zugleich realistisch,<br />
wenn Realismus heißt: Grundorientierung der<br />
Kunst an einer vorgegebenen, auch außerhalb<br />
der Kunst existenten materiellen, natürlichgesellschaftlichen<br />
Wirklichkeit, an kollektiver<br />
wie individueller sozialer Erfahrung. 33 In diesem<br />
Rahmen nun ist durchaus auch, wie etwa<br />
von Brecht vertreten, ein sinnvoller Begriff des<br />
„sozialistischen Realismus“, der Konzepte von<br />
„Volkstümlichkeit und Realismus“ möglich; 34<br />
in einer Gestalt freilich, die von der offiziellen<br />
in wesentlichen Punkten abweicht. Es ist diese<br />
weltanschaulich-politische Orientierung, was<br />
die sozialistische Avantgarde von jeder bürgerlichen,<br />
den avantgardistischen Realismus von<br />
jedem Formalismus unterscheidet.<br />
Der vorstehende Text ist der Erste Teil einer<br />
größeren Arbeit von Thomas Metscher über<br />
„Sozialistische Avantgarde und Realismus –<br />
zur musikalischen Ästhetik Dmitri Schostakowitschs.<br />
Eine Nachlese zum Schostakowitsch-<br />
Jahr“, die in Kürze vollständig als MASCH-<br />
SCHRIFT im Neue Impulse Verlag erscheint.<br />
Interessenten bestellen diese Arbeit bitte<br />
beim Neue Impulse Verlag, telefonisch unter:<br />
0201 / 24 86 482, per Fax unter: 0201 / 24 86<br />
484,per E-Mail unter: NeueImpulse@aol.com.<br />
1 Wie es leider Rainer Balcerowiak in der Jungen Welt getan<br />
hat. Mozart agiert dort als „Salzburger Unterhaltungsmusiker“,<br />
dessen „überwiegend seichtes Werk mühelos<br />
in ein von Hintergrund- und Funktionsmusik geprägtes<br />
Rezeptionsverhalten“ einzugliedern sei. Schostakowitsch,<br />
wesentlich „unzugänglicher“, stelle größere Anforderungen<br />
an den Hörer (Junge Welt vom 25. September<br />
2006). Diese Charakterisierung Mozarts ist so unsinnig<br />
wie der Vergleich trivial ist: Alle moderne Musik ist für<br />
konventionelles Hören schwerer zugänglich als traditionelle<br />
Musik; über Qualität und Differenz ist damit noch<br />
gar nichts ausgesagt.<br />
2 Ich verweise auf das Werkverzeichnis in Krzystof Meyers<br />
autoritativer Monographie (K. Meyer, Schostakowitsch.<br />
Sein Leben, sein Werk, seine Zeit. Bergisch Gladbach<br />
1995, 587-606). Das Verzeichnis enthält: 7 Opern, 3<br />
Ballette, 1 Operette, 29 Orchesterwerke, 6 Konzerte, 22<br />
Suiten, 26 Werke für Kammermusik, 13 Klavierwerke, 5<br />
Werke für zwei Klaviere, 8 Werke für Chor und Orchester,<br />
3 Werke für Chor a Capella, 9 Werke für Singstimme und<br />
Orchester, 23 Werke für Singstimme und Klavier, verschiedene<br />
Vokalwerke, 45 Film- und Schauspielmusikwerke<br />
sowie 19 Transkriptionen und Orchestrierungen.<br />
3 Vgl. André Müller sen., Der neue Kreuzzug gegen Brecht.<br />
Marxistische Blätter, 4/2006, 17-19.<br />
4 Vgl. die Liste der Ämter, Würden, Preise und Auszeichnungen,<br />
die Meyer in seiner Schostakowitsch-Monographie<br />
aufführt (Meyer 1995, 580-82).<br />
5 Meyer 1995, 288.<br />
6 Sozialistischer Staatskomponist und geheimer Regimekritiker:<br />
der Komponist Dimitri Schostakowitsch. Bayern 4<br />
Klassik, 28. 09. 2006. Zitiert nach dem Skript der Sendung.<br />
7 The Times vom 11. August 1975.<br />
8 Die Untersuchung von Zeitpunkt und politisch-ideologischem<br />
Kontext dieses Rezeptionswechsels wäre eine lohnende<br />
Aufgabe, der freilich im Rahmen dieser Untersuchung<br />
nicht nachgegangen werden kann. Sie wäre in<br />
einen größeren ideologiegeschichtlichen Zusammenhang<br />
zu stellen: der seit dem Zusammenbruch der SU und des<br />
mit ihr verbundenen Sozialismus zu konstatierenden graduellen<br />
Zunahme der Delegitimierung jeder Form des<br />
Sozialismus und mit ihr der sozialistischen Kunst. Dieser<br />
Prozess hat sich im Verlauf des letzten Jahrzehnts verstärkt<br />
– er verläuft proportional zur weltweiten<br />
Erstarkung linker Bewegungen und Ideen. Teil davon ist<br />
der organisierte Erinnerungsverlust und programmatische<br />
Antisowjetismus, der gegenwärtig in den ehemals sozialistischen<br />
Ländern zu beobachten ist – der mit der partiellen<br />
Revision des Geschichtsbildes zugunsten des deutschen<br />
Faschismus keineswegs abgeschlossen sein dürfte.<br />
Dem korrespondiert die Delegitimierung des Marxismus<br />
als Theorie und des Kommunismus als politischer Be-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
wegung, die mittlerweile denunziatorische Züge besitzt<br />
und vor den gröbsten Klischees nicht zurückschreckt. An<br />
Primitivität übertrifft sie oft noch den „klassischen“ Antikommunismus<br />
aus den Tagen des kalten Krieges. Wie<br />
wenig dies auf Deutschland beschränkt ist, zeigt das jüngst<br />
erschienene Buch des renommierten, in Oxford lehrenden<br />
Historikers Robert Service, Comrades:A World History of<br />
Communism. In ihm wird der Marxismus als „inhärent<br />
gewalttätig und totalitär“ denunziert. Marx, Lenin und<br />
ihre Nachfolger, heißt es, hätten eine „perfekte Gesellschaft“<br />
und ein „Arbeiterparadies“ versprochen. Die Revolution<br />
wird als „Bazillus“, die kommunistischen Führer<br />
als „Narren“, „Wahnsinnige“ und „Gangster“ bezeichnet<br />
(interessant, dass in einer gerade erschienen Biographie<br />
des jungen Stalin dieser als „Gangster“ bezeichnet und<br />
mit dem Paten einer Mafia-Familie verglichen wird; vgl.<br />
Rezension von Peter Conrad zu Simon Sebag Montefiore,<br />
Young Stalin, Guardian Weekly vom 25. Mai 2007).<br />
Kommunisten sollten aufhören, über Einkerkerung, Folter<br />
und Tod zu ‚lamentieren‘, würden sie selbst doch eine<br />
‚Diktatur‘ errichten wollen. Nach Seumas Milne, der das<br />
Buch in The Guardian Weekly vom 25. Mai 2007 einer vernichtenden<br />
Kritik unterzieht, wird <strong>heute</strong> „die westliche<br />
Darstellung der sowjetischen Periode“ weitgehend unwidersprochen<br />
von „entschieden antikommunistischen Historikern“<br />
beherrscht (ebd).<br />
9 Ich zitiere nach dem mir vom Sender zur Verfügung<br />
gestellten Skript (Seitenzahl im fortlaufenden Text).<br />
10 Bezeichnend bereits der Titel von Reinhard J. Brembecks<br />
Beitrag zum 100. Geburtstag des Komponisten: „Populär<br />
wider Willen. Wie Dmitri Schostakowitsch in der Sowjetdiktatur<br />
zu einem Sprachrohr des unterdrückten Volkes<br />
wurde“ (Süddeutsche Zeitung Nr. 205 vom 6. September<br />
2006). Der Titel liest sich wie ein Programm der gegenwärtigen<br />
Schostakowitsch-Rezeption. Wie weit die ideologische<br />
Verdrehung zurück reicht, zeigt Alfred Beaujeans<br />
Rezensionsartikel von Einspielungen der Schostakowitsch-Symphonie,<br />
„Endlich freie Sicht auf den Kosmos“,<br />
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. Februar<br />
19<strong>90</strong>. Selbst ein kluger Kritiker wie Joachim Kaiser ist<br />
nicht frei davon. So vermutet er in dem „Angst-Entsetzen“<br />
des Streichquartetts es-Moll Nr 15, opus 144 den<br />
Schatten Stalins (Schostakowitschs beklemmendes Vermächtnis.<br />
Süddeutsche Zeitung Nr. 287 vom 13. Dezember<br />
2006). Es kann sich hier aber bestenfalls um Stalins Geist<br />
handeln, denn das Opus 144 wurde im <strong>Jahre</strong> 1974 komponiert,<br />
Stalin starb 1953.<br />
11 Meyer 1995, 362.<br />
12 Meyers Buch ist materialreich, in vielen Teilen solide recherchiert<br />
und in diesen durchaus brauchbar. Es ist geradezu Paradigma<br />
eines unaufgelösten Widerstreits zwischen Wissenschaft und<br />
Ideologie in ein- und demselben Autor.<br />
13 Jürgen Meier, „für alle ist irgendwo ein Lächeln ...“.<br />
Dmitri Schostakowitsch zum 100. UTOPIEkreativ 196/<br />
Februar 2006, 103-08; auch Unsere Zeit vom 22.<br />
September 2006.<br />
14 Beaujean 19<strong>90</strong>.<br />
15 Der Beweis dafür, dass diese Memoiren ein zumindest in<br />
Teilen gefälschter, also nichtauthentischer Text sind wurde<br />
bereits 1980in einem Rezensionsartikel von Laurel E. Fay<br />
erbracht (Shostakovich versus Volkov:Whose Testimony?,<br />
The Russian Review, vol. 39, no. 4, October 1980, 484-93).<br />
Verdienstvoller Weise hat der Verein zur Förderung der<br />
wissenschaftlichen Weltanschauung, e.V. diesen Artikel<br />
POSITIONEN 91<br />
sowie weitere Materialien in einer Broschüre zum Schostakowitsch-Jahr<br />
zugänglich gemacht.<br />
16 Vgl. Alex Ross, Free Shostakovich! Indiana University<br />
Press 2004.<br />
17 Meyer 1995, 15f.; Ellen Kohlhaas, Der Volksheld ist ironisch.<br />
Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 45 vom 22.<br />
Februar 1996.<br />
18 Meyer 1995, 15f.<br />
19 dass die Ideologisierung des wissenschaftlichen Diskurses<br />
– und damit verbunden die Unterminierung wissenschaftlicher<br />
Qualität und Moral – mittlerweile ein Phänomen<br />
von internationaler Verbreitung ist, zeigt das oben angeführte<br />
Beispiel von Service (vgl. Fussnote 8).<br />
20 Gisela Schirmer, Willi Sitte. Farben und Folgen. Eine<br />
Autobiographie. Leipzig 2003.<br />
21 Ich erinnere allein an den Tatbestand, dass Peter Hacks‘<br />
Numa, eine der bedeutendsten Komödien deutscher<br />
Sprache, nie in der DDR aufgeführt wurde – sie ist bis<br />
<strong>heute</strong> ungespielt.<br />
22 Auf diese griffige Formel bringt Wolfgang Harich in seinen<br />
Lebenserinnerungen die kulturpolitische Position<br />
Brechts, die dieser aus den Erfahrungen des 17. Juni 1953<br />
zog (Harich, Ahnenpass. Versuch einer Autobiographie.<br />
Berlin o.J., 206). In diesen Zusammenhang gehört auch ein<br />
1953 verfasstes, von Werner Mittenzwei zitiertes Papier<br />
der Akademie der Künste der DDR, in dem sehr präzise<br />
von einer „Diktatur der Funktionäre über die Künstler“<br />
gesprochen wird (Mittenzwei, Die Intellektuellen. Literatur<br />
und Politik in Ostdeutschland. Leipzig 2001, 116).<br />
Beide Formulierungen dürften verallgemeinerbar sein.<br />
23 Man lese den bewegenden Brief, den Eisler am Ende der<br />
Auseinandersetzung um seinen Faustus an das ZK der<br />
SED schrieb. Das Dilemma des sozialistischen Künstlers<br />
in einem bürokratisch-autoritären Sozialismus wird genau<br />
auf den Punkt gebracht.: „Nach der Faustus-Attacke<br />
merkte ich, dass mir jeder Impuls, noch Musik zu schreiben,<br />
abhanden gekommen war. So kam ich in einen<br />
Zustand tiefster Depression, wie ich sie kaum jemals<br />
erfahren habe (...). Ich kann mir meinen Platz als Künstler<br />
nur in dem Teil Deutschlands vorstellen, wo die Grundlagen<br />
des Sozialismus aufgebaut werden“ (zit. nach<br />
Mittenzwei 2001, 110). Die Musik zum Faustus wurde nie<br />
geschrieben.<br />
24 Die Welt ist schwieriger – und Schostakowitsch darum<br />
spannender. Süddeutsche Zeitung Nr. 205 vom 6. September<br />
2006.<br />
25 Christopher Norris (Hrsg.), Shostakovich. The Man and<br />
his Music. London 1982, 7f. (die Übersetzungen aus dem<br />
Band stammen von mir, T. M.).<br />
26 Robert Stradling, Shostakovich and the Soviet System,<br />
1925-1975. In: Norris 1982, 1<strong>90</strong>.<br />
27 Ebd., 202.<br />
28 Neben den Wolkow-Memoiren sind es immer wieder angebliche<br />
„Erinnerungen“ von eingebildeten oder realen<br />
„Freunden“, die als Beweis für Schostakowitschs Antikommunismus<br />
angeführt werden – sämtlich Dissidenten,<br />
Emigranten, in allen Fällen passionierte Antikommunisten.<br />
Immer wieder genannt wird in diesem Zusammenhang<br />
Mstislaf Rostropowitsch – die Tatsache, dass dieser<br />
ein großer Musiker ist, qualifiziert ihn jedoch noch lange<br />
nicht zu einem zuverlässigen biographischen Zeugen. Er<br />
ist, da führt kein Weg vorbei, politisch eindeutig Partei.<br />
29 Meyer 1995, 494.<br />
30 Ebd., 438.
92<br />
Thomas Metscher: Nachlese zum Schostakowitsch-Jahr<br />
31 Ebd., 441.<br />
32 Mittenzwei spricht von einer „sozialistisch engagierten<br />
Moderne“ (Mittenzwei 2001, 97), ich ziehe den genaueren<br />
Begriff der Avantgarde vor, verstanden allerdings im Sinn<br />
einer konkreten Form-Inhalt-Dialektik, nicht als ein am<br />
rein Formalen orientierter Begriff. Avantgardistische<br />
Kunst ist, mit Ernst Bloch gesprochen, Kunst an der historischen<br />
Front der Zeit.<br />
33 Hier handelt es sich selbstredend um keinen formengeschichtlichen<br />
oder stilkritischen Realismusbegriff, sondern<br />
um einen ästhetiktheoretichen: die auf alle Künste zu<br />
beziehende Auffassung von Kunst als Mimesis („Nachahmung,<br />
Darstellung, Ausdruck“). Das meint aber nicht,<br />
wie Erik Fischer in seiner vorzüglichen Formanalyse der<br />
Lady Macbeth von Mzensk befürchtet, „die fragwürdige<br />
Präokkupation wissenschaftlicher Analysen durch eine ( )<br />
Inhaltsästhetik“ (Fischer, Zur Problematik der Opernstruktur.<br />
Das künstlerische System und seine Krisis im 20.<br />
Jahrhundert, Wiesbaden 1982, 154) – kein dialektischer<br />
Begriff des ästhetischen Realismus wird ‚Inhalt‘ losgelöst<br />
von künstlerischer Form betrachten (dazu etwa Metscher,<br />
Mimesis. Bibliothek dialektischer Grundbegriffe, Bielefeld<br />
2001). Nicht zu leugnen freilich ist, dass sich in den<br />
Vulgärformen marxistischen Denkens – und auf solche<br />
ausschließlich bezieht sich Fischer in seinem Buch –die<br />
„Dichotomie zwischen ‚Form‘ und ‚Inhalt‘“ (ebd., 156) in<br />
der Tat nachweisen lässt.<br />
34 Vgl. etwa Brechts Essay Volkstümlichkeit und Realismus.<br />
Zur Berliner<br />
Marxismus-Konferenz.<br />
Robert Steigerwald<br />
Vor gut zehn <strong>Jahre</strong>n fand in Hannover eine<br />
erste größere Marxismus-Konferenz statt. Ihr<br />
Motto war: „Marxismus vor dem XXI. Jahrhundert“.<br />
Etwa 700, in hohem Maße jüngere<br />
Teilnehmer hatten sich eingefunden, um die<br />
Beratungen in mehreren Plenarveranstaltungen,<br />
Einzelvorträgen und Arbeitsgemeinschaften<br />
zu verfolgen. Zu Beginn des <strong>Jahre</strong>s<br />
2006 gingen 17 Wissenschaftler, Publizisten<br />
und Politiker an die Öffentlichkeit, um zu<br />
einer neuen Marxismus-Konferenz aufzuru-<br />
fen, die dieses Mal unter dem Motto „Marxismus<br />
für das XXI. Jahrhundert“ stattfinden<br />
sollte. Der Aufruf fand ein breites Echo, so<br />
ziemlich alle linken Zeitungen/ Zeitschriften,<br />
Vereinigungen und eine größere Anzahl marxistischer<br />
Wissenschaftler und Politiker antikapitalistischer<br />
Orientierung meldeten ihre<br />
Bereitschaft zur aktiven Teilnahme an der<br />
Konferenz an. Unter ihnen waren Uwe-Jens<br />
Heuer, Erich Hahn, André Leisewitz, Frank<br />
Deppe, Hermann Klenner, Arno Klönne,<br />
Thomas Metscher, Wolfgang Fritz Haug,<br />
Norman Paech, Peter Strutynski, Ekkehard<br />
Spoo, Ekkehard Lieberam. Für die „Marxistischen<br />
Blätter“ – sie gehörten, wie auch die<br />
„Marx-Engels-Stiftung“, dem Einberuferkreis<br />
an – waren Robert Steigerwald und Werner<br />
Seppmann aktiv an der Vorbereitung und<br />
Durchführung der Tagung beteiligt, die vom<br />
20. bis 22. April dieses <strong>Jahre</strong>s in Berlin stattfand.<br />
In fünf Plenartagungen erörterten jeweils<br />
vier bis sechs Diskutanten solche Probleme:<br />
Sozialismus im 21. Jahrhundert; Mit Keynes<br />
aus der Krise?; Kampf um Demokratie und<br />
Menschenrechte; Für eine kämpferische Gewerkschaftsbewegung;<br />
Widerstand gegen<br />
Krieg und Ausbeutung. Zusätzlich gab es noch<br />
eine Podiumsdiskussion zum Thema Einheit<br />
der Linken. Angesichts der über 700 Teilnehmer,<br />
der zumeist gut besuchten und interessanten<br />
31 Plenar- und Einzelveranstaltungen<br />
mit etwa 80 Moderatoren und Referenten,<br />
einer solidarischen Grundstimmung auf der<br />
Konferenz und viel Aufmerksamkeit in<br />
Kreisen der marxistischen Linken hinsichtlich<br />
der Konferenz ist von einem Erfolg zu sprechen.<br />
Die Thematik entsprach den im Eröffnungsaufruf<br />
angesprochenen Fragen und<br />
diente den gegenwärtigen Erfordernissen,<br />
jedoch gelang es in den Plenarveranstaltungen<br />
kaum, zu theoretischen Verallgemeinerungen<br />
zu kommen. Ich sehe dafür folgende Gründe:<br />
Erstens: die nur zehnminütigen Beiträge<br />
machen gründlicheres und analytisches Herangehen<br />
nicht möglich. Zweitens: dies auch<br />
angesichts dessen, dass die Podiumsteilneh-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
mer unterschiedliche Ansichten haben können.<br />
Was die Initiatoren angeht, so sind unterschiedliche,<br />
nicht gegensätzliche Ausgangsüberlegungen<br />
zu beachten. Da es sich um das<br />
Gemeinschaftsunternehmen von Bündnispartnern<br />
handelte, wurde von Anfang an auf<br />
völlige Gleichberechtigung, solidarischen<br />
Umgang und Orientierung am Konsensprinzip<br />
bei der Auswahl der Themen und Referenten<br />
geachtet. Ausgeklammert wurden<br />
nur Kräfte, die sich im „Mitgestalten“ des<br />
Kapitalismus üben – dies ist ja kein Antikapitalismus,<br />
dem sich die Konferenz verschrieben<br />
hatte – und ausgeklammert blieben<br />
auch Kräfte, die, wie die MLPD, mit ihrem aggressiven<br />
Alleinvertretungsanspruch zu solcher<br />
Zusammenarbeit nicht fähig sind. Es ging<br />
also um ein weit gefasstes marxistisch-antikapitalistisches<br />
öffentliches Wirken im Rahmen<br />
der oben angedeuteten Grenzen.<br />
Den Einberufern schwebte vor, ein Beispiel<br />
für eine systematische und interessante Verbreitung<br />
des Marxismus als Grundlage der<br />
politischen Arbeit der antikapitalistischen<br />
Linken zu geben, ein Forum zu bieten, in dem<br />
darüber beraten werden sollte, wie die<br />
Schwäche der Gegenkräfte in der Bundesrepublik<br />
überwunden werden kann. Sie wollten<br />
zur Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus<br />
beitragen, um davon ausgehend die politische<br />
Handlungsorientierung für den Kampf<br />
der arbeitenden Klasse gegen Neoliberalismus<br />
und Kapitaloffensive genauer zu bestimmen.<br />
Strategisch wollten wir einen weiteren<br />
Schritt machen hin zu einer vernetzten<br />
marxistischen Linken, um sie einen realen<br />
Faktor im politischen Leben der Bundesrepublik<br />
werden zu lassen. Mehr oder weniger<br />
sind wir hinsichtlich aller dieser Ziele vorangekommen.<br />
Nicht zu übersehen ist der Wille<br />
und der Drang, weiter zu machen.<br />
Die Konferenz war hervorragend organisiert<br />
durch eine Org-Gruppe unter der<br />
Leitung der Genossen Mäde, Lieberam und<br />
Wiegel. Bekannte führende Genossen der<br />
DKP nahmen teil: Leo Mayer, Nina Hager,<br />
Georg Polikeit, Gerd Deumlich, Walter Listl,<br />
POSITIONEN 93<br />
Lothar Geisler, die schon benannten Genossen<br />
Seppmann, Steigerwald und andere.<br />
Bedacht werden sollte, dass die Teilnahme<br />
teuer war. Ich sprach einen Genossen aus<br />
Frankfurt, für den Fahrt und Unterkunft allein<br />
240 Euro kosteten. Dazu kamen Verpflegung,<br />
Buchkauf usw. Das möge bedacht werden,<br />
wenn der Ruf nach baldiger Fortsetzung<br />
ertönt. Dazu kommt ja noch, dass die<br />
Unkosten der Konferenz selbst auch aufzubringen<br />
waren und wir das Spendenvermögen<br />
unserer Freunde und Genossen nicht überstrapazieren<br />
können.<br />
Natürlich waren Genossen der PDS und<br />
der WASG stark bestrebt, die Prozesse ihrer<br />
Parteien ins Zentrum zu rücken, also die Konferenz<br />
als Plattform für ihre Auseinandersetzungen<br />
zu sehen.<br />
Die Teilnehmer kamen aus allen bekannten<br />
linken Bereichen.<br />
Es gab einige, aber keineswegs prägende<br />
Konflikte um die Gründe für die Niederlage<br />
des Sozialismus, um die Einschätzung Chinas<br />
und Kubas, wobei das trotzkistische Potential<br />
in diesen Fragen selbst nicht einig war. Ein<br />
weiteres Konfliktfeld war die Einschätzung<br />
der gewerkschaftlichen Entwicklungen.<br />
Vorbereitung und Auswertung erfolgten im<br />
wesentlichen durch „junge Welt“ und „UZ“.<br />
Es wird eine Broschüre mit den wesentlichen<br />
Materialien der Konferenz veröffentlicht, sodass<br />
man, statt sich in Vermutungen zu ergehen,<br />
dann sich selbst ein Bild vom Inhalt der<br />
Referate und Debatten machen kann.<br />
Über die weitere Arbeit wird nachgedacht.<br />
Es gibt bereits einige Vorschläge bzw. Überlegungen,<br />
über die beraten werden soll. Die<br />
Website der Konferenz ist auszubauen, allerdings<br />
ohne Forum, da dessen Betreuung zu<br />
aufwändig wäre. Möglich ist die Planung und<br />
Abstimmung von kleineren Folgekonferenzen,<br />
die die Anliegen der Marxismuskonferenz<br />
weiter verfolgen. Eine erste derartige<br />
Folgekonferenz soll eine Podiumsveranstaltung<br />
in Berlin am 13. Oktober 2007 zum<br />
Thema „<strong>90</strong> <strong>Jahre</strong> Staat und Revolution – Staat<br />
und Demokratie <strong>heute</strong>“ sein. Sie wird – nach<br />
gegenwärtigem Stand – von der MES, von
94<br />
Robert Steigerwald: Berliner Marxismus-Konferenz<br />
SALZ und von dem Kreis um Thomas Wagner<br />
getragen werden. Ziel dieser Veranstaltung<br />
wäre nicht zuletzt auch eine Debatte zwischen<br />
unterschiedlichen Richtungen der marxistischen<br />
Staats- und Demokratietheorie. Eine<br />
weitere Folgekonferenz könnte das Thema<br />
Marxismus und Ökologie erörtern, selbstverständlich<br />
auch unter Teilnahme nicht explizit<br />
marxistischer Kräfte um attac, Ökologische<br />
Linke und Ökosoz. Als weitere Themen bieten<br />
sich an: Internationale Dimensionen der<br />
Antiglobalisierungsbewegung,Antifaschismus<br />
und Antirassisimus, Migration und kulturelle<br />
Vielfalt, Sozialismus des 21. Jahrhunderts<br />
(international), Parteienfrage und außerparlamentarischer<br />
Kampf. Wichtige Aufgaben im<br />
Zusammenhang mit weiteren solchen Konferenzen<br />
wären die Gewinnung jüngerer<br />
Wissenschaftler beispielsweise für Plenardebatten<br />
und die Auswahl solcher Themen, die<br />
attraktiv für junge Leute sind, an marxistisches<br />
Denken heranführen und diesem wieder<br />
mehr praktische Relevanz in den sozialen und<br />
politischen Bewegungen verschaffen.<br />
Die April-Konferenz hat Folgen. So findet<br />
im November eine zweite Marxismus-Konferenz<br />
statt, an der Teilnehmer der April-<br />
Konferenz mitwirken. Wir meinen: Es kann<br />
gar nicht genug Marxismus-Konferenzen geben,<br />
sofern es eben um Marxismus und nicht<br />
nur um das Etikett geht. Einer Marxismus-<br />
Konferenz wünschen wir Erfolg.<br />
Sodann hat die Konferenz zu einigem<br />
Geräusch im Blätterwald geführt. So meinte<br />
das „Neue Deutschland“, wegen der „klare(n)<br />
antikapitalistischen Grundhaltung“ der Konferenz:<br />
„dieser Sound“ habe an „frühere<br />
Zeiten erinnert“. Die „Z Zeitschrift Marxistische<br />
Erneuerung“ meint, in der Konferenz<br />
sei gefordert worden, die neue Linkspartei als<br />
Weltanschauungspartei zu bilden. Im Unterschied<br />
zu solchen Stimmen gab es von Nichtteilnehmern<br />
die Vermutung, die Kommunisten,<br />
die dort aufgetreten seien, hätten sich<br />
nicht oder nicht genügend prinzipiell verhalten.<br />
Jemand bewertete die Konferenz als<br />
„Strömungstreffen“. Bei so vielen unterschiedlichen<br />
Bewertungen wäre es doch wohl das<br />
beste, man würde versuchen, sich an den<br />
Original-Materialien der Konferenz zu orientieren,<br />
und das ist, wenn dieser Bericht erscheint<br />
bereits möglich, weil dann die<br />
Broschüre mit den wesentlichen Texten der<br />
Konferenz vorliegen wird.<br />
Gegen Gewalt sein<br />
heißt Gegengewalt sein<br />
Mischa Aschmoneit<br />
Die Marxistischen Blätter thematisieren in<br />
Ausgabe 4/07 die Fragen, wessen Welt die Welt<br />
sei. Eisler beantwortet 1931 in der überarbeiteten<br />
Fassung des Solidaritätsliedes diese Frage<br />
bekanntlich so: „Proletarier aller Länder, einigt<br />
euch und ihr seid frei. Eure großen Regimenter<br />
brechen jede Tyrannei!“<br />
Regimenter, brechen – die Sprache der revolutionären<br />
Gewalt! In den MBl ist jedoch<br />
im durchaus interessanten Text von Peter<br />
Strutynski („Gewaltverhältnisse. Rostock,<br />
Heiligendamm und die Folgen“) nichts dergleichen<br />
zu lesen. Da heißt es hingegen: „Hier<br />
soll nun keineswegs der Versuch gemacht werden,<br />
den Spieß einfach umzudrehen und die<br />
Randalierer aus dem schwarzen Block zu entschuldigen.<br />
Mir geht es vielmehr darum, auf<br />
die strukturelle Ähnlichkeit des Verhaltens<br />
gewaltbereiter ‚Protestierer’ und gewaltbereiter<br />
‚Ordnungskräfte’ hinzuweisen. Zwischen<br />
ihnen besteht ein psychisch-mentaler symbiotischer<br />
Zusammenhang, der sich – beinahe gesetzmäßig<br />
– in einer Spirale der Gewalt entlädt,<br />
wenn die äußeren Rahmenbedingungen<br />
es zulassen.“ Und weiter: „Unnötig auch zu
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Wadim Falilejew. 1919. Revolutionstruppen. Linolschnitt<br />
sagen, dass eine an politischer Aufklärung interessierte<br />
globalisierungskritische und Friedensbewegung<br />
jegliche Gewalt bei Demonstrationen<br />
strikt ablehnen muss. Sie ist darauf<br />
nicht angewiesen, weil sie die besseren Argumente<br />
hat.“<br />
Das ist ein nobler, achtenswerter Pazifismus,<br />
jedoch keine marxistische Position zur<br />
Gewalt. Die blauen oder gar braunen Bände<br />
der Klassiker müssen nicht durchforstet werden,<br />
um das zu belegen – der berühmte<br />
Schluss des Manifestes möge genügen: „Die<br />
Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten<br />
und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären<br />
es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden<br />
können durch den gewaltsamen Umsturz<br />
aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen<br />
die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen<br />
Revolution zittern. Die Proletarier<br />
haben nichts in ihr zu verlieren als ihre<br />
Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.“<br />
Mein Text entsteht am <strong>Jahre</strong>stag der Erstürmung<br />
der Bastille durch Randalierer,<br />
denn Heinz Küppers definiert in seinem<br />
Wörterbuch der Umgangssprache „Randale“<br />
als „Aufruhr von Menschenmassen“. In der<br />
Französischen Revolution diente der verwandte<br />
Begriff des Vandalismus zur Abgrenzung<br />
einer idealen bürgerlichen Revolution<br />
von radikalen Kräften. Ihre Protagonisten<br />
wie etwa Robespierre seien die neuen<br />
Vandalen. Die Delegitimierung der Gewalt<br />
DISKUSSION 95<br />
der Unterdrückten hat Tradition, sie darf sich<br />
meines Erachtens jedoch nicht – zumal nicht<br />
als einzige (sic!) Position – in einer marxistischen<br />
Zeitung wiederfinden.<br />
Was macht Strutynski bezüglich des Gewaltthemas<br />
in seinem ansonsten in weiten<br />
Teilen völlig zutreffenden Text? Er psychologisiert.<br />
Zwischen dem spanischen Steineschmeißer<br />
und dem deutschen Polizisten<br />
bestünde ein symbiotischer, ein psychisch-mentaler<br />
Zusammenhang. Zu deutsch: Die beiden<br />
brauchen sich gegenseitig. Das ist nicht neu, das<br />
lesen aktive VVNler schon seit längerem in der<br />
bürgerlichen Presse – ihr und die Nazis, ihr<br />
braucht euch doch gegenseitig. Richtig wird so<br />
etwas auch durch den Abdruck in einer marxistischen<br />
Zeitschrift nicht. Der Polizist steht<br />
(ebenso wie der Bundeswehrsoldat) zunächst<br />
mal für den Schutz des kapitalistischen<br />
Systems. Dafür wird er bezahlt, trägt seine<br />
Haut zu Markte. Der Steinewerfer will protestieren,<br />
vielleicht gar das System stürzen –<br />
dafür nimmt er das Risiko an Leib und Leben<br />
auf sich. Das ist keine Symbiose, das ist erstmal<br />
(versuchter) Antagonismus.<br />
Strutynski fantasiert als nächstes eine<br />
Spirale der Gewalt herbei. Wo ist die Gewalt<br />
auf Seiten der Demonstranten, die auch nur<br />
annähernd das Ausmaß erreicht hätte wie auf<br />
Seiten der Polizei? Von der Polizei wurden u.<br />
a. Philipp Müller in Essen, Benno Ohnesorg in<br />
Berlin, Klaus-J. Rattay in Berlin, Olaf Ritz-
96<br />
Mischa Aschmoneit: Gegen Gewalt sein heißt Gegengewalt sein<br />
mann in Hamburg und Günter Saré in Frankfurt<br />
bei Demonstrationen getötet – die vollständige<br />
Liste der Opfer der Polizeigewalt ist<br />
sehr viel länger. Es gibt meines Wissens – mit<br />
Ausnahme der obskuren Todesschüsse an der<br />
Startbahn West, die nicht zu einer Eskalation,<br />
sondern zum Niedergang der Protestbewegung<br />
führten – keinen einzigen bei einer<br />
Demonstration getöteten Polizisten. Polizisten<br />
sind mit Schlagstöcken, Pistolen, Reizstoffsprühgeräten,<br />
Helmen, Schildern, Ganzkörperprotektoren<br />
etc. ausgerüstet – wo ist<br />
das vergleichbare Equipment der Demonstranten?<br />
An der Gewaltspirale wird nur von<br />
einer Seite gedreht, nämlich von oben, und<br />
jede Umdrehung soll als Optimierung der<br />
Inneren Sicherheit im Sinne der Aufstandsbekämpfung<br />
wirken. Denn weder die jeweilige<br />
Regierung noch das kapitalistische Gesellschaftssystem<br />
wird vor einer kerzenbewaffneten<br />
Demonstration, die „Wir sind das Volk!“<br />
bekundet, in die Knie gehen. Das war das<br />
Privileg des real gewesenen Sozialismus, der<br />
selbst in seiner Todesstunde noch Humanität<br />
bewies. Eine Humanität, die leider das (Wieder-)<br />
Auftauchen deutscher Soldaten in allen<br />
Teilen der Welt enorm beschleunigte.<br />
Weiter. Strutynski behauptet, dass eine an<br />
Aufklärung interessierte politische Bewegung<br />
jegliche Gewalt bei Demonstrationen strikt<br />
ablehnen müsse. Eine schöne Vorstellung, wie<br />
Peter an jenem 14. Juli 1789 den zur Bastille<br />
strömenden Handwerkern, Bauern und Tagelöhnern<br />
zugerufen hätte: „Lasst ab von eurem<br />
schändlichen Tun! Sonst wird’s nichts mit der<br />
Aufklärung.“ Man stelle sich weiter vor, sie hätten<br />
auf ihn gehört – welch ein Desaster.<br />
Strutynski glaubt, auf Gewalt nicht angewiesen<br />
zu sein, weil er die besseren Argumente habe.<br />
Besser als wer? Besser als diejenigen, die die<br />
Bastille, das Winterpalais, die Moncada oder<br />
die US-amerikanische Botschaft in Saigon<br />
stürmten? Der erste Weltkrieg wurde auch von<br />
den deutschen Soldaten, die die Gewehre herumdrehten,<br />
beendet. Es bedurfte dazu aber der<br />
Gewehre. Schon im zweiten Weltkrieg fehlte<br />
der überwältigenden Masse der Deutschen<br />
diese Bereitschaft zur Gewalt gegen die eige-<br />
nen Herrschenden. Bei den heutigen Kriegen<br />
können die Opfer des deutschen Militarismus –<br />
folgt man Strutynski – nur noch auf die besseren<br />
Argumente der deutschen Friedensfreunde<br />
hoffen. Knapp 100 <strong>Jahre</strong> nach dem Sozialistenkongress<br />
von Stuttgart wiederholt sich eine<br />
alte Auseinandersetzung. Die französischen<br />
Sozialisten um Jean Jaurès forderten (teilweise<br />
unterstützt von Lenin und Luxemburg) als<br />
Kern der Kongressresolution: „Die Verhütung<br />
und Verhinderung des Krieges ist durch nationale<br />
und internationale sozialistische Aktionen<br />
der Arbeiterklasse mit allen Mitteln, von der<br />
parlamentarischen Intervention, der öffentlichen<br />
Agitation bis zum Massenstreik und zum<br />
Aufstand, zu bewirken.“ Demgegenüber wollten<br />
die deutschen Sozialdemokraten um Bebel<br />
die Existenz der SPD nicht durch „Provokationen“<br />
wie den Aufruf zum Generalstreik gefährden<br />
und vom Aufstand gegen den Krieg<br />
nichts wissen. Sie sahen den kommenden<br />
Weltkrieg als Untergang des Kapitalismus und<br />
verkündeten: „Bis dahin können wir nichts tun<br />
als aufklären und Licht in die Köpfe zu bringen<br />
und organisieren.“<br />
Zurück im Heute – Marxisten und Pazifisten<br />
können eine lange Strecke des Weges zu<br />
einer besseren Welt gemeinsam gehen. Für<br />
Marxisten gilt, Pazifisten vor Angriffen von<br />
Rechten und Ultralinken in Schutz zu nehmen.<br />
Unzulässig ist jedoch eine Vermischung<br />
marxistischer mit pazifistischen Positionen.<br />
Eine Verabsolutierung einer Kampfform kann<br />
es auf marxistischer Basis nicht geben, ebensowenig<br />
wie die Delegitimierung revolutionärer<br />
Gewalt. Die jeweiligen revolutionären<br />
Organisationen bestimmen ihr Verhältnis zu<br />
konkreten Aktionsformen entsprechend ihrer<br />
Strategie und Taktik. Dabei kann es durchaus<br />
zu Widersprüchen zwischen Mitteln und Ziel<br />
kommen – Brecht fasst es als Bitte um<br />
Nachsicht für uns, die wir den Boden bereiten<br />
wollen für Freundlichkeit und selber nicht<br />
freundlich sein können.<br />
Strutynski kann auf Basis seiner – zu respektierenden!<br />
– pazifistischen Haltung auch<br />
nicht zu einer korrekten Analyse der konkreten<br />
Ereignisse bei der Rostocker Demonstra-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
tion finden. Jenseits der Frage, ob Gewalt<br />
gegen Angehörige der Repressionsorgane<br />
eines kriegführenden imperialistischen Staats<br />
moralisch zu rechtfertigen ist, war der Angriff<br />
auf ein einzelnes Polizeiauto ein Fehler, da<br />
erstens die Absprachen im Vorfeld solche Aktionen<br />
ausschlossen und zweitens dieser Angriff<br />
Wasser auf die Mühlen der reaktionären<br />
Sicherheitspolitiker und der Spalter in den<br />
verschiedenen Bündnisorganisationen waren.<br />
Davon zu unterscheiden ist jedoch die<br />
Gewalt, die anschließend von Demonstranten<br />
beim Schutz der Demonstration vor den<br />
Angriffen der Polizei eingesetzt wurde. Es ist<br />
eine Besonderheit der deutschen Kommunisten,<br />
dass sie sich von der Polizei meistens<br />
wehrlos zusammenknüppeln ließen und lassen.<br />
Das mag mit den unterschiedlichen historischen<br />
Erfahrungen während des Faschismus<br />
zusammenhängen (Beteiligung am bewaffneten<br />
Widerstand während des Faschismus und<br />
gesellschaftliche Akzeptanz dessen nach der<br />
Befreiung), aber die aktuellen Kämpfe der<br />
französischen, italienischen oder griechischen<br />
DISKUSSION 97<br />
Arbeiter (und darunter die Kommunisten)<br />
haben explizit keinen „gewaltfreien“ Charakter.<br />
Das war auch in Rostock zu beobachten,<br />
als die Abwehr der Polizeiangriffe stark von<br />
ausländischen Kollegen und Genossen mitgetragen<br />
wurde.<br />
Um ihrer Glaubwürdigkeit willen (die<br />
Vorbedingung des Erfolges ist) muss die systemüberwindende,<br />
die kommunistische Bewegung<br />
in der Lage sein, sowohl ihre eigenen<br />
Veranstaltungen/Demonstrationen und Strukturen<br />
vor staatlichen oder zunehmend auch<br />
faschistischen Angriffen in angemessener<br />
Weise zu schützen als auch Aktionsformen<br />
entwickeln, die effizient und massenhaft gegen<br />
die deutsche Kriegspolitik, den Sozialraub<br />
und die Repression nach Innen anwendbar<br />
sind. Und sie muss einen Weg aufzeigen, der<br />
glaubhaft zum Sozialismus führen kann –<br />
obwohl der Gegner schier unüberwindlich<br />
scheint. Er ist es nicht, sofern die Avantgarde<br />
der unterdrückten Klasse ihrer Aufgabe gerecht<br />
wird und alle Kampfformen klug zu<br />
kombinieren weiß.
98<br />
Finis Germaniae<br />
Georg Fülberth, Finis Germaniae – Deutsche<br />
Geschichte seit 1945, PapyRossa Köln 2007,<br />
ISBN 978-3-89438-360-2, 350 S., 19,60 Euro.<br />
„Finis Germaniae“ (Das Ende Deutschlands):<br />
Unter diesem programmatischen Titel hat Georg<br />
Fülberth in diesem Jahr eine Geschichte<br />
Deutschlands von 1945 bis 2006 herausgebracht.<br />
Sie beginnt mit der Kapitulation der<br />
Wehrmacht als dem Ende des Deutschen<br />
Reiches und endet vorläufig mit dem Herumschippern<br />
der Bundesmarine unter UNO-<br />
Mandat vor der Küste des Libanon, entsandt von<br />
der Großen Koalition aus der Union und der SPD.<br />
Dazwischen gibt es zwei deutsche Geschichten<br />
auf dem verkleinerten Territorium des ehemaligen<br />
Reiches – von der Einrichtung ihrer<br />
Besatzungsregime nach 1945 durch die Alliierten<br />
der Anti-Hitler-Koalition, über die Gründung<br />
und Existenz der beiden deutschen Staaten mit<br />
unterschiedlicher sozialökonomischer Verfassung<br />
bis 1989. Diese Geschichten spielen zunächst<br />
völlig unter der Direktion der Besatzungsmächte<br />
und in einem innigen deutschen<br />
Gegensatz als Agenten des Kalten Krieges. Das<br />
ändert sich nach und nach, aber unterschiedlich,<br />
und führt dann 1989 bis zur Selbstauflösung der<br />
Staatlichkeit der DDR und zur Auflösung der<br />
sozialistischen Gesellschaft. Wie bekannt, gingen<br />
beide in der alten BRD auf. Die machtpolitische<br />
Möglichkeit ergab sich aus der tiefen<br />
Existenzkrise des Staatssozialismus der SU, die<br />
sich dann in den nächsten <strong>Jahre</strong>n ebenfalls aus<br />
der Geschichte verabschiedete.<br />
Die Vereinnahmung der DDR schien mit der<br />
vergrößerten BRD endlich den deutschen<br />
Nationalstaat wieder herzustellen und damit<br />
die seit 1945 bestehende „Deutsche Frage“ endgültig<br />
zu beantworten – nicht aber die weiteren<br />
„Deutschen Fragen“ eines angeblichen „Sonderweges“<br />
und damit verbunden, der undemokratischen<br />
Traditionen und des Strebens nach<br />
Dominanz in Europa.<br />
Diese Sichtweise aus seinem vorherigen<br />
Versuch zur deutschen Nachkriegsgeschichte<br />
von 1999 (Berlin-Bonn-Berlin), hat sich für Fül-<br />
berth in seinem neuen Buch geändert. Gerade in<br />
dem Aufgehen Ostdeutschlands in der BRD sieht<br />
er nun das definitive Ende eines deutschen Nationalstaates<br />
alter Prägung. In seinen eigenen<br />
Worten aus dem „Gebrauchsanweisung“ überschriebenen<br />
Vorwort (S.7):<br />
„Was 19<strong>90</strong> wie die Wiederherstellung einer<br />
deutschen Nationalstaatlichkeit erschien, hat in<br />
Wirklichkeit nicht stattgefunden, und eine solche<br />
ist – sehen wir von allerlei heftig gepflegter<br />
Symbolik ab – auch nicht möglich. Die gesamtdeutsche<br />
Geschichte wurde irgendwann zwischen<br />
1945 und 1949 abgebrochen und 19<strong>90</strong><br />
nicht wiederhergestellt. Übrig blieb eine Region<br />
innerhalb des Kapitalismus – sagen wir: wie<br />
Katalonien. Von den anderen bisherigen europäischen<br />
Nationalstaaten kann dies ebenfalls<br />
gesagt werden. In diesem Buch wird das am<br />
deutschen Beispiel, das insofern keine Ausnahme<br />
ist, gezeigt.“<br />
Diese Bewertung der gegenwärtigen Nationalstaaten<br />
Europas gründet auf einigen tatsächlich<br />
gegebenen langfristigen Tendenzen:<br />
Die holprige Integration Europas zur Supranationalität<br />
und die parallele Integration der<br />
Weltwirtschaft, gemeinhin als „Globalisierung“<br />
missverstanden. Fülberth macht zudem geltend,<br />
dass die Regionen innerhalb der Nationalstaaten<br />
Europas als „Standorte“ wirtschaftlich<br />
bedeutender werden und auf diese Weise die<br />
Staatlichkeit geographisch von unten relativieren.<br />
Dass sich damit die imperialen Ambitionen<br />
Deutschlands oder seiner Großbourgeoisie in<br />
Europa und der Welt erledigt haben, dem ist<br />
unbedingt zuzustimmen; dass damit die<br />
Nationalstaaten als organisierende Überbauten<br />
des Kapitalismus in der Welt ihre besondere<br />
Rolle verloren hätten, dagegen nicht – und das<br />
gilt eben auch für das Europa der EU. Allerdings<br />
haben die nachmaligen Bündnispartner der<br />
USA, ihre West-Alliierten und ihre imperialen<br />
kapitalistischen Feinde des II Weltkrieges, ihre<br />
militärische Souveränität, traditionell als wesentliches<br />
Merkmal eines Staates nach außen<br />
angesehen, spätestens mit dem Sieg der Anti-<br />
Hitlerkoalition und dem folgenden Kalten Krieg<br />
gegen die UdSSR verloren – und sie danach nicht<br />
wirklich wieder gewonnen.
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Im Vorwort sieht Fülberth die Geschichte der<br />
kapitalistischen Nachkriegswelt und damit auch<br />
der Westzonen und der BRD durch zwei „Tatsachen“<br />
geprägt, die gleichzeitig auch zwei Phasen<br />
der Westgeschichte ergeben:<br />
• „Den Kalten Krieg und die gleichzeitige Herausbildung<br />
des Wohlfahrtsstaates 1945-1974<br />
• den Übergang zum Neoliberalismus seit 1974.“<br />
Für die SBZ und die DDR sieht er ebenfalls eine<br />
Zweiteilung, die durch<br />
• „Den Kalten Krieg, die Erweiterung und Stabilisierung<br />
des „Sozialistischen Weltsystems“<br />
1947-1975 und<br />
• Stagnation, Agonie und Zusammenbruch dieses<br />
Systems 1975-1989/91“<br />
bestimmt werde. Zufällig oder nicht, die Einteilung<br />
in zwei Phasen ist auch zeitlich sehr ähnlich.<br />
Auf dem Hintergrund dieser doppelten Zweiteilung<br />
zeichnet der Autor die Geschichte in<br />
Deutschland seit 1945 in insgesamt 18 chronologischen<br />
Kapiteln nach. Im ersten werden der Sieg<br />
der Anti-Hitler-Koalition und der Übergang zum<br />
Kalten Krieg zwischen den USA und der SU und<br />
ihren Blöcken kurz skizziert. Danach werden die<br />
Geschichten der Besatzungszonen der kapitalistischen<br />
„West“-Mächte und der sozialistischen SU<br />
mit der Spaltung, der Gründung von BRD und<br />
DDR und deren Existenz bis zum Ende der<br />
Zweistaatlichkeit 1989 abgehandelt. Bis zum<br />
Kapitel 14 folgen die Darstellungen von Zeitabschnitten<br />
für die BRD und für die DDR jeweils aufeinander,<br />
wobei die gewählten Abschnitte nicht<br />
immer identisch sind. So ergibt sich eine Art parallele,<br />
aber getrennte Darstellung der Entwicklungen<br />
in den beiden Staaten und Gesellschaften.<br />
Die Zeit ab 1989 bis 2006 wird dann in 4 weiteren<br />
Kapiteln geschildert und das Ganze mit einem<br />
kurzen Resümee abgeschlossen.<br />
In seinem Vorwort teilt Fülberth mit, dass<br />
sich der Text über die Westzonen und die alte<br />
BRD zum erheblichen Teil aus seinen Vorarbeiten<br />
zur Geschichte der BRD speist, die in mehreren<br />
Auflagen als „Leitfaden zur Geschichte der BRD“<br />
erschienen sind. Der Text zur DDR hat ebenfalls<br />
schon einen Vorläufer in dem o. g. vorherigen<br />
Versuch einer parallelen Geschichtsdarstellung<br />
der beiden deutschen Staaten von 1999 (Berlin-<br />
BÜCHER 99<br />
Bonn-Berlin). Dazu kommen noch einige wichtige<br />
Arbeiten, die den Versuch, in der DDR<br />
Sozialismus aufzubauen und zu entwickeln, kritisch<br />
darstellen und das Scheitern zu verstehen<br />
suchen.<br />
Auch wenn der Autor in seinem Vorwort die<br />
Absicht äußert, dass er die beiden Staaten und<br />
Gesellschaften immanent und nicht am Maßstab<br />
des je anderen darstellen will, ist das ein<br />
schwieriges Unterfangen. An Sachlichkeit, Distanz<br />
und wissenschaftlicher Korrektheit lässt er<br />
es nicht fehlen, aber der Blick auf die beiden<br />
Gesellschaften erfolgt doch aus einer je anderen<br />
Perspektive. Bei der BRD aus der Perspektive<br />
einer nüchternen Sympathie mit der jeweils linken,<br />
manchmal auch anti-kapitalistischen Opposition,<br />
die die Defizite der BRD und ihres<br />
Kapitalismus mehr oder weniger grundsätzlich<br />
kritisiert und ändern will. Bei der DDR aus der<br />
Distanz eines entfernten Sympathisanten, der<br />
schon länger das historisch unvermeidliche<br />
Scheitern mit ansehen musste, das sich dann<br />
mittels der weniger determinierten Einzelheiten,<br />
den Befürchtungen gemäß, durchsetzt.<br />
Insofern sind die beiden Textstränge, die in ihrer<br />
jeweiligen Einteilung in gewisser Weise plausibel<br />
erscheinen, doch recht verschieden.<br />
Für die Westzonen und die BRD nimmt die<br />
viele Stufen umfassende Integration in den<br />
Kalten Krieg und die Zusammenführung des<br />
kapitalistischen Europas, die Entlassung in die<br />
damit einhergehende politische und ökonomische<br />
relative Selbständigkeit und die dazu quer<br />
liegende Auseinandersetzung über die deutsche<br />
Einheit in den Anfangskapiteln den ersten Platz<br />
und den größten Raum ein. Die sich dagegen<br />
richtenden oppositionellen Tendenzen bekommen<br />
auf diese Weise ebenfalls ein starkes<br />
Gewicht, besonders wenn sie von links getragen<br />
wurden. Dagegen wird die üblicherweise als<br />
„Wirtschaftswunder“ mythologisierte kapitalistische<br />
Entwicklung, mit ihren außergewöhnlichen<br />
Wachstumsraten, der Beseitigung der<br />
Arbeitslosigkeit, des dramatischen Anstiegs des<br />
Lebensstandards der breiten Massen zunächst<br />
jeweils nur recht kurz angeführt. Erst nachdem<br />
dieser kapitalistische Sonnenschein von einigen<br />
Wolken in den 60ern und dann von Unwettern
100<br />
ab 1974 getrübt wird, bekommen die ökonomischen<br />
und sozialen Entwicklungen und die darauf<br />
zielende Politik das bestimmende Gewicht<br />
in Fülberths Darstellung.<br />
Man kann den Eindruck gewinnen, dass diese<br />
Gewichtung mit der Herkunft dieser Textteile<br />
aus dem „Leitfaden zur Geschichte der BRD“<br />
zusammen hängt. Dieser hatte ja auch die Funktion,<br />
die zunächst geschichtslose Linkswendung<br />
der akademischen Jugend Ende der 60er mit<br />
einer kritischen Vorgeschichte der BRD und ihrer<br />
Opposition etwas zu korrigieren. Damals schien<br />
es gerechtfertigt, die frühe Opposition in der<br />
BRD noch mit einem Aufschwung linker Perspektiven<br />
der sozial-liberalen Koalition zu verbinden.<br />
Nach deren Scheitern in vielen <strong>Jahre</strong>n kapitalistischer<br />
Krisenentwicklung und der folgenden<br />
neoliberalen wirtschaftspolitischen Praxis<br />
sowie ihrer geistig-politischen Hegemonie ist<br />
das wohl nicht mehr möglich.<br />
Die oben angesprochene Zweiteilung der<br />
Entwicklungen von BRD und DDR wird von<br />
Fülberth nicht nur mit den Oberflächenphänomenen<br />
des Aufstiegs, von Krisen und des Abstiegs<br />
vorgestellt. Diese Wendepunkte werden<br />
für beide Gesellschaften und beide sozialökonomischen<br />
Formen mit den tiefer liegenden Entwicklungen<br />
der Produktivkräfte in Verbindung<br />
gebracht: dem möglichen und notwendigen<br />
Übergang zu computergesteuerten Werkzeugmaschinen<br />
(CNC). Diese arbeits- und letztlich<br />
kapitalsparende technologische Entwicklungslinie<br />
konnte von der DDR, der SU und dem<br />
gesamten RGW nicht eigenständig entwickelt<br />
und wegen des Embargos der kapitalistischen<br />
Länder auch nicht mit Hilfe des Weltmarktes<br />
eingeführt werden. Dagegen war die BRD als Teil<br />
des kapitalistischen Weltmarktes in der Lage<br />
diese Entwicklungslinie für ihren Maschinenexport<br />
aufzugreifen und auch in die dafür erforderliche<br />
Produktion einzuführen. Allerdings<br />
wurde u. a. dadurch die Prosperitätskonstellation<br />
der Nachkriegszeit in der kapitalistischen<br />
Welt insgesamt einer wesentlichen Stütze beraubt,<br />
nämlich der Steigerung der Konsumnachfrage<br />
aus dem Steigen der Zahl der Arbeitskräfte<br />
und dem Steigen ihrer Entlohnung.<br />
Man könnte es noch schärfer als Fülberth<br />
ausdrücken: Der kapitalistischen Produktionsweise<br />
gelang die Entwicklung und ökonomische<br />
Beherrschung der neuen Produktivkraft, u. a. mit<br />
der weltweiten Arbeitsteilung zwischen den<br />
entwickelten kapitalistischen Ländern, während<br />
die sozialistischen Länder nicht nur an der Entwicklung<br />
und Einführung dieser Produktivkraft,<br />
die die Möglichkeiten des Sozialismus auf eine<br />
neue Stufe hätten heben können, gescheitert<br />
sind, sondern damit letztlich ihre Existenz verloren.<br />
Die konkrete Ausgestaltung der Produktionsverhältnisse<br />
im Sozialismus, in Form der<br />
mangelnden Arbeitsteilung im RGW und der<br />
Blockade der Umsetzung wissenschaftlicher<br />
Ergebnisse in technische Entwicklung und produktive<br />
Anwendung vor allem in der SU (außer<br />
vielleicht im Rüstungssektor), war das entscheidende<br />
Hemmnis seiner Entwicklung und ließ ihn<br />
letztlich scheitern. Da hätte Marx von seinen<br />
politischen Adepten sicher gerne mehr historische<br />
Phantasie, Vernunft und Konsequenz<br />
erhofft – an der wissenschaftlichen Einsicht in<br />
die Notwendigkeiten der sogenannten „WTR“<br />
hat es jedenfalls nicht gefehlt, wie die umfangreiche<br />
Literatur zu dem Thema in den sozialistischen<br />
Ländern zeigt.<br />
Diese oben skizzierte vertiefte analytische<br />
Betrachtung bei den beiden Wendepunkten in<br />
der DDR und der BRD hätte sicher auch manch<br />
anderen Kapiteln gut getan.<br />
Bleibt zum Schluß nachzutragen, was das<br />
Buch sonst noch bietet:<br />
Es umfasst 270 Seiten Text mit einem Anhang<br />
und ist wegen seines handlichen Formats,<br />
gebunden und als hardcover, gut für das Lesen<br />
und Nachschlagen geeignet. Im Anhang gibt es<br />
Anmerkungen mit begrenztem Umfang, ein<br />
Personenregister und eine längere, ausschließlich<br />
chronologische Zeittafel. Dazu gibt es ein<br />
Quellen- und Literaturverzeichnis, das für den<br />
Einführungscharakter des Buches erfreulich kurz<br />
ist, allerdings für diesen Zweck besser etwas<br />
kommentiert wäre.<br />
Insgesamt also ein gut lesbares Buch für alle,<br />
die einen ersten konzentrierten, problembezogenen<br />
und fortschrittsorientierten Überblick zur<br />
Episode des Sozialismus in Deutschland und zum<br />
vermeintlichen Triumphzug der BRD haben wol-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
len. Damit es zum einführenden Standardwerk<br />
für fortschrittlich interessierte Nicht-Wissenschaftlicher<br />
werden kann, fehlen noch einige<br />
Zutaten und in den ersten Kapiteln für die BRD<br />
eine etwas andere Gewichtung der Themen.<br />
Jörg Miehe<br />
Tabus der bundesdeutschen<br />
Geschichte<br />
Eckart Spoo (Hg.): Tabus der bundesdeutschen<br />
Geschichte, Verlag Ossietzky, Hannover 2006,<br />
244 S., ISBN 3-9808137-4-6,15,00 Euro.<br />
„‚Tabus der bundesdeutschen Geschichte’ ist ein<br />
weiteres Werk aus der alten Garde deutscher<br />
Antifaschisten, die sich als wahre Vertreter des<br />
‚besseren Deutschland’ ansehen. Das Buch ... will<br />
die ‚Vor- und Frühgeschichte der Bundesrepublik’<br />
thematisieren und dabei vor allem darauf<br />
hinweisen, dass ‚die alten Besitz- und<br />
Machtverhältnisse wiederhergestellt’ worden<br />
seien. In etlichen Beiträgen scheint die Sichtweise<br />
durch, ... die westdeutsche politische<br />
Klasse habe nichts besseres zu tun gehabt, als die<br />
politischen und ökonomischen Verhältnisse<br />
noch hinter die Reformen der Weimarer Republik<br />
zurückzudrängen.“ (Meine Hervorhebungen, HK)<br />
Mit diesen Worten beginnt eine Rezension<br />
des hier vorzustellenden Werks auf der Website<br />
„Kritische Geschichte“ eines „Netzwerks Gesellschaftskritik<br />
und Geschichtswissenschaft“. Und<br />
im folgenden wird dem Sammelband dann „ein<br />
ökonomistisch verkürzter und an einer besseren<br />
Wahrung deutscher Interessen orientierter<br />
Antifaschismus“ vorgeworfen – beides ohne<br />
auch nur den Schimmer eines Beleges.<br />
Solche sich „kritisch“ gebende Denunziationen<br />
verhelfen zwar noch nicht zu einem<br />
Lehrstuhl an deutschen Universitäten (dafür<br />
sind wohl massivere Anpassungsleistungen<br />
erforderlich), ließen ihren Autor Bernd Hüttner<br />
aber immerhin zum wohlbestallten Mitarbeiter<br />
der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) avancieren ...<br />
In einem hat Hüttner recht: „Die meisten<br />
Beiträge hätten so auch schon vor 20 <strong>Jahre</strong>n er-<br />
BÜCHER 101<br />
scheinen können.“ Er nennt das allerdings<br />
„geschichtslos“, wo es doch im Gegenteil heißen<br />
müsste: es wäre zu geschichtsgetreu, widerspräche<br />
deshalb dem herrschenden Zeitgeist und<br />
wäre damit karrieregefährdend selbst innerhalb<br />
einer sich als links verstehenden Institution wie<br />
der RLS, an Tatsachen zu erinnern und Wahrheiten<br />
auszusprechen, welche die Legende von der BRD<br />
als dem „besseren Deutschland“ konterkarieren.<br />
Genau dies aber tun die 29 Beiträge dieses<br />
Sammelbandes, die auf den Vorträgen einer<br />
Konferenz, die im Herbst 2005 in Hamburg stattfand,<br />
basieren. Sie stammen von Wissenschaftlern<br />
aus Ost und West, darunter auch einigen<br />
jüngeren Publizisten und Zeitzeugen. Der<br />
zeitliche Bogen spannt sich von der unmittelbaren<br />
Nachkriegszeit bis etwa Mitte der 60er<br />
<strong>Jahre</strong>; inhaltlich geht es vor allem um die personellen<br />
und institutionellen Kontinuitäten zwischen<br />
„Drittem Reich“ und BRD in Staat und<br />
Gesellschaft, aber z. B. auch das entsprechende,<br />
ebenfalls Kontinuität wahrende „breite System<br />
der Einschüchterung und Verfolgung gegen<br />
links“ (G. Judick).<br />
Ja, nicht wenig von dem, was dort zu lesen ist,<br />
ist zumindest dem Grundtenor nach „der alten<br />
Garde deutscher Antifaschisten“, aber auch<br />
interessierten 68ern bekannt: teils aus bitterer<br />
eigener Erfahrung – etwa mit der Adenauerjustiz<br />
und -polizei –, teils aus Veröffentlichungen<br />
wie dem „Braunbuch“ über „Kriegs- und Naziverbrecher<br />
in der Bundesrepublik“ oder dem<br />
„Graubuch“ zu „Expansionspolitik und Neonazismus<br />
in Westdeutschland“ – beides umfangreiche,<br />
wohlbelegte Dokumentationen, die<br />
bereits in den 1960er <strong>Jahre</strong>n in der DDR erschienen<br />
sind. (Der Bezug bzw. Besitz dieser Bücher,<br />
wie übrigens sogar der MEW, wurde noch in den<br />
70er <strong>Jahre</strong>n als Indiz für Verfassungsfeindlichkeit<br />
gewertet und zur Begründung von<br />
Berufsverboten herangezogen.)<br />
Der regierungsoffiziellen Propaganda stehen<br />
jährlich zig Millionen Euro – man denke nur an<br />
die Birthler-Behörde – zur Verfügung, um das<br />
„andere Deutschland“, die DDR, zu „delegitimieren“.<br />
Und sie kann dabei auf die fast einhellige<br />
Unterstützung eines gigantischen massenmedialen<br />
Apparats rechnen, der dasselbe Ziel ver-
102<br />
folgt. Deshalb ist es, um ein Wort Brechts aufzugreifen,<br />
auch in dieser Sache nötig, das tausendmal<br />
Gesagte noch einmal zu sagen. Es gibt<br />
Millionen junger Menschen, die das „tausendmal<br />
Gesagte“ noch nie gehört haben. Wer, wenn<br />
nicht wir, sollte die Kenntnisse und Erfahrungen<br />
der „alten Garde“ an sie weitergeben?<br />
Aber der vom unermüdlichen Eckart Spoo<br />
herausgegebene verdienstvolle Band bringt<br />
auch für Angehörige, selbst Historiker, meiner,<br />
der 68er Generation manches Neue und Überraschende.<br />
Ich denke etwa an Ludwig Elms Untersuchung<br />
von Adenauers Regierungserklärung<br />
1949 oder an Otto Köhlers Artikel „Selbstentnazifizierung“,<br />
in dem er dem – gefälschten –<br />
Lebenslauf Höpker-Aschoffs, des ersten Präsidenten<br />
des Bundesverfassungsgerichts, nachgeht.<br />
Und dem Umgang der „offiziellen“ BRD-<br />
Zeitgeschichtsschreibung damit ... Ein, zudem<br />
brillant geschriebenes, Musterbeispiel für investigativen<br />
Journalismus!<br />
Hermann Kopp<br />
Rechtsextremismus<br />
in Frankreich<br />
Bernhard Schmid, Das Frankreich der Reaktion –<br />
Neofaschismus und modernisierter Konservatismus,<br />
Pahl-Rugenstein-Verlag Nf., Bonn 2007,<br />
ISBN 978-3-89144-378-1, 194 S., brosch., 14,<strong>90</strong> Euro.<br />
Das Buch von Bernhard Schmid behandelt<br />
eigentlich zu mindestens 80 Prozent die jüngere<br />
Geschichte des französischen Rechtsextremismus.<br />
Schwerpunkt ist dessen Hauptformation,<br />
die LePen-Partei „Front National“ (FN).<br />
Der im Untertitel erwähnte „modernisierte<br />
Konservatismus“, also das Spektrum der „etablierten“<br />
bürgerlich-konservativen Rechtskräfte<br />
in seiner neuesten Ausprägung unter Sarkozy,<br />
wird dagegen weniger ausführlich behandelt.<br />
Die Erfolge der französischen Rechtsextremisten<br />
in den <strong>Jahre</strong>n 1995 – 2002 mit dem<br />
Höhepunkt des alarmierenden Wahlerfolgs von<br />
Le Pen im zweiten Wahlgang der Präsidentenwahl<br />
2002 und die darin sich ausdrückende<br />
Durchdringung eines Teils der französischen<br />
Gesellschaft mit der rechtsextremistischen rassistischen,<br />
nationalistischen und „Staatsautorität“<br />
propagierenden reaktionären Ideologie<br />
war sicher einer der Faktoren, die fünf <strong>Jahre</strong> später<br />
den Wahlerfolg Sarkozys ermöglichten.<br />
Zumal Letzterer sich im Wahlkampf viele Parolen<br />
der Rechtsextremisten zu eigen gemacht hatte.<br />
Aber zur Erklärung des „Sarkozy-Durchmarsches“<br />
bei der letzten Präsidenten- und Parlamentswahl<br />
reicht das nicht aus. Der „modernisierte<br />
Konservatismus“ und seine aktuelle konkrete<br />
Ausprägung à la Sarkozy umfasst mehr<br />
und hat tiefer liegende gesellschaftspolitische<br />
Wurzeln. Das wäre eine eigenständige und<br />
wahrscheinlich sehr viel umfangreichere Untersuchung<br />
wert, als sie in dem vorliegenden Buch<br />
mit seinen knapp 200 Seiten dargestellt werden<br />
konnte. Insofern erweckt der Buchtitel „Das<br />
Frankreich der Reaktion“ vielleicht größere<br />
Erwartungen, als der Text halten kann. Über die<br />
ideologischen Bezüge zum Rechtsextremismus<br />
hinaus wäre dabei wohl vor allem eine umfassendere<br />
Untersuchung der gegenwärtigen<br />
Interessen und Ziele der <strong>heute</strong> in Frankreich<br />
herrschenden Klasse, der im Unternehmerverband<br />
MEDEF sich ausdrückenden Kräfte des<br />
Großkapitals und der ihm dienenden Beamten-,<br />
Militär- und Politikerkaste erforderlich. Der<br />
Versuch dieser Kreise, die in Frage gestellte weltpolitische<br />
Rolle Frankreichs so gut wie möglich<br />
zu bewahren und wenn möglich wieder auszubauen,<br />
liefert meines Erachtens dafür den<br />
Schlüssel. Diese Zielsetzung korrespondiert mit<br />
der „Notwendigkeit“ der „Effektivierung“ des<br />
französischen Kapitalismus im Inneren. Deshalb<br />
der von Sarkozy im Zeichen der „nationalen<br />
Größe“ und der „Wertschätzung von Arbeit und<br />
Leistung“ vorangetriebene innenpolitische Angriff<br />
auf „alte“ sozialpolitische Errungenschaften,<br />
die von den französischen Gewerkschaften<br />
und Linken lange Zeit mit einigem Erfolg verteidigt<br />
werden konnten. Dazu wiederum gehört<br />
das Streben nach einer „strafferen Führung“ des<br />
Landes, eine repressivere Handhabung der<br />
Staatsgewalt und die Einschränkung demokratischer<br />
Rechte und Freiheiten wie des Streikrechts.<br />
Aber auch die von Sarkozy nach seinem<br />
Amtsantritt betriebene „Politik der Öffnung“ fin-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
det darin eine Erklärung. Sie zielt auf die Einbindung<br />
eines Teils der französischen Sozialdemokratie<br />
und auch von in Frankreich lebenden<br />
und zu einer gewissen etablierten Stellung<br />
gelangten Teilen der maghrebinischen Immigration<br />
als „linke Feigenblätter“ in die von den<br />
Rechten bestimmte neoliberale Staatspolitik.<br />
Hierzu gehört ebenfalls der Versuch eines<br />
Arrangements mit bestimmten Teilen der französischen<br />
Gewerkschaften zwecks Spaltung der<br />
Gewerkschaftsbewegung und Isolierung ihrer<br />
linken Strömungen. Auf diese Zusammenhänge,<br />
die in der französischen Debatte nach den<br />
Wahlen viel Beachtung fanden, geht das vorliegende<br />
Buch jedoch kaum ein – vielleicht konnte<br />
es aus Zeitgründen darauf auch noch gar nicht<br />
eingehen.<br />
Wer sich jedoch detailliert über die Entwicklung<br />
des französischen Rechtsextremismus<br />
in den letzten zwanzig <strong>Jahre</strong>n und speziell des<br />
„Front National“ (FN) informieren will, ist mit<br />
der Schrift von Bernhard Schmid gut bedient.<br />
Der seit 1995 in Paris lebende 36 <strong>Jahre</strong> alte Journalist,<br />
der u. a. für die Schweizer „Wochenzeitung“<br />
und verschiedene andere Medien tätig<br />
ist, liefert einen mit vielen Zitaten, Zahlen und<br />
Quellenangaben versehenen informativen<br />
Überblick über die politischen und ideologischen<br />
Wendungen, die den Aufstieg der 1972<br />
gegründeten „FN“ von einer Splitterpartei,<br />
bestehend aus ehemaligen Mittätern und Mitläufern<br />
des Vichy-Regimes, Ex-Kolonialfranzosen<br />
aus Algerien und autoritären katholischen<br />
Fundamentalisten, bis zu den Wahlerfolgen bei<br />
den Kommunalwahlen 1995 und dann bei der<br />
Präsidentenwahl 2002 wie auch die anschließende<br />
Phase der Stagnation und des Rückgangs<br />
begleiteten. Wir erfahren von den inneren<br />
Auseinandersetzungen der verschiedenen Strömungen<br />
in diesem Lager, von den verschiedenen<br />
politischen Kurswechseln der „FN“, vor allem<br />
aber von den Themen und Taktiken, mit denen es<br />
ihr gelang, nicht nur in den durch die kapitalistischen<br />
Krisenprozesse verunsicherten und<br />
bedrohten kleinbürgerlichen Mittelschichten,<br />
sondern auch in Teilen der Arbeiterklasse<br />
Einfluss zu gewinnen und eine gewisse Basis<br />
aufzubauen. Das ermöglicht einen Vergleich<br />
BÜCHER 103<br />
über Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit<br />
ähnlichen Entwicklungsprozessen in Deutschland<br />
und anderen EU-Staaten. Zu den Gemeinsamkeiten<br />
gehört, dass der Rechtsextremismus<br />
auch in Frankreich neben seinem ideologischen<br />
Gebräu aus Rassismus, Fremdenfeindlichkeit,<br />
Nationalismus und Autoritätspropaganda vor<br />
allem das Thema der „inneren Sicherheit“ und<br />
Kriminalitätsbekämpfung zu instrumentalisieren<br />
und sich darüber hinaus den Anstrich einer<br />
„sozialen Protestpartei“ gegen „das System“,<br />
sogar mit antikapitalistischen und „globalisierungskritischen“<br />
Standpunkten, zu geben versucht.<br />
Die detaillierte Darstellung der Versuche<br />
der französischen Rechtsextremisten, den sozialen<br />
Protest mit Hilfe der Parole von der „priorité<br />
nationale“, also der systematischen „Bevorzugung<br />
der Einheimischen“ in eine ausländerfeindliche<br />
Richtung zu kanalisieren, parallel zu<br />
den Bemühungen, auf dieser Grundlage auch<br />
eigene „Gewerkschaften“ und sogar „Suppenküchen“<br />
in als „soziale Brennpunkte“ geltenden<br />
Stadtteilen zu schaffen, erweitert unseren Blick<br />
auf das, was auch in unserem Land von den verschiedenen<br />
Fraktionen des Rechtsextremismus<br />
und Neofaschismus in dieser Hinsicht noch versucht<br />
werden könnte. Er dient damit der<br />
Schärfung unserer Wachsamkeit. Allerdings ist<br />
die Darstellung auch hier vorwiegend auf die<br />
Schilderung der taktischen Varianten und ideologischen<br />
Variationen des Rechtsextremismus<br />
konzentriert. Die Frage nach tiefer liegenden Zusammenhängen<br />
mit der gesamtgesellschaftlichen<br />
Entwicklung Frankreichs bleibt weitgehend<br />
unbehandelt. Beispielsweise welche Rolle<br />
spielen diese Kräfte <strong>heute</strong> in Frankreich aus der<br />
Sicht der herrschenden Klasse? Wie sind sie in<br />
die Strategie der die französische Gesellschaft<br />
dominierenden großkapitalistischen Kreise eingebunden?<br />
Welche Querverbindungen gibt es?<br />
Wer finanziert sie und aus welchen Gründen?<br />
Darüber hätte man gern mehr erfahren.<br />
Unbeschadet dessen bleibt das Buch jedoch<br />
eine aufschlussreiche Materialsammlung für<br />
alle, die sich mit dem Rechtsextremismus auseinandersetzen<br />
müssen – gerade auch für entsprechende<br />
Bewegungen außerhalb Frankreichs<br />
und speziell in unserem Land. Georg Polikeit
104<br />
Großer Widerspruch China<br />
Autorenkollektiv (Weidong Cao u. v. a.), Großer<br />
Widerspruch China. Argument Verlag, Hamburg<br />
2007, 310 Seiten, 22,00 Euro.<br />
Das Buch „Großer Widerspruch China“, erschienen<br />
als Doppelband der Zeitschrift Argument,<br />
hat es in sich: In 26 Beiträgen äußern sich 30<br />
Autoren über das gegenwärtige China, darunter<br />
bekannte Namen wie Thomas Heberer, Anita<br />
Chan, Rolf Geffken, Bettina Gransow und Oskar<br />
Negt. Für die Linke des deutschen Sprachraums<br />
scheint China kein einfaches Thema zu sein,<br />
denn nur wenige Veröffentlichungen haben sich<br />
in den letzten <strong>Jahre</strong>n mit den aktuellen<br />
Ereignissen in der Volksrepublik auseinandergesetzt.<br />
Eine schon etwas länger währende Debatte<br />
haben Martin Hart-Landsberg und Paul<br />
Burkett durch ihre Veröffentlichung „China and<br />
Socialism“, die zunächst als Doppelband der<br />
Monthly Review erschien, angeschoben. An ihrer<br />
weitreichenden Kritik der Verhältnisse in der VR<br />
China kommt derzeit wohl kaum ein „westlicher“<br />
Autor vorbei, der sich ernsthaft mit China<br />
befassen will. Einige ihrer Positionen finden sich<br />
folgerichtig auch im „Großen Widerspruch<br />
China“ wieder.<br />
Die „Weltmarktmacht China“ (Haug) wird in<br />
Deutschland bisher – massenmedial aufbereitet<br />
– mit Arbeitsplatzverlagerung und Umweltdumping<br />
assoziiert. Allzu häufig wird China in<br />
den Medien als Projektionsfläche missbraucht,<br />
um Besitzstandsängste zu schüren oder angebliche<br />
„deutsche Missstände“ indirekt zu thematisieren.<br />
Dabei wird konstatiert, dass alles, was in<br />
China vorhanden zu sein scheint, dem Standort<br />
Deutschland fehlt, um den Siegeszug als Exportweltmeister<br />
fortsetzen zu können: niedrige<br />
Löhne, flexible Arbeitszeiten, handlungsfähige<br />
Entscheidungsträger, niedrige Steuern usw. Der<br />
Argument-Redaktion sei Dank, in ihrer Veröffentlichung<br />
geht es endlich einmal um China, was<br />
einen tieferen Einblick in die Verhältnisse zulässt.<br />
Durch die Fülle von Beiträgen werden verschiedenste<br />
wichtige Themenbereiche abgedeckt,<br />
darunter die Frage der Arbeitsbeziehungen<br />
(Chan), die Lage der Frauen (Hong, Gransow, Wei,<br />
Wichterich, Spakowski), der ökologischen Auswirkungen<br />
des Wirtschaftswachstums (Dale<br />
Jiajun Wen) und des Nationalismus (Heberer/Senz).<br />
Die sich weiter auffächernde<br />
Themenbreite von Außenpolitik über Philosophie<br />
bis zu Beiträgen über Film und Musik lassen den<br />
„Großen Widerspruch China“ als einen (etwas<br />
überambitionierten) Versuch erscheinen, hier so<br />
etwas wie einen alternativen Länderbericht<br />
China vorzulegen. Trotzdem ist der Doppelband<br />
wertvoll, sind in ihm doch eine Reihe ernst zu<br />
nehmender Beiträge enthalten, die gewöhnlich<br />
in verschiedenen Zeitschriften verstreut sind.<br />
Stefan Schmalz beispielsweise behandelt die<br />
Besonderheiten des „nationalen Entwicklungsprojekts“<br />
China und dessen „organisierte strukturelle<br />
Heterogenität“ (33). Einerseits hält er fest,<br />
dass die voluntaristische Politik des „Großen<br />
Sprungs“ und der „Kulturrevolution“ großen<br />
Schaden anrichtete, andererseits sieht er gerade<br />
darin den „Ausgangspunkt für die wirtschaftspolitischen<br />
Erfolge der Reformpolitik nach Maos<br />
Tod“ (35). Merkmale dieser Reformpolitik seien u.<br />
a. eine „Entpolitisierung von Partei und Gesellschaft“,<br />
das Fehlen einer „handlungsfähigen<br />
Kapitalistenklasse“ (36) und das Agieren Chinas<br />
„als Bündnispartner der Staaten der Peripherie“<br />
(37). Der chinesische Entwicklungsprozess lässt<br />
sich nach Schmalz kaum in gängige Theoriemodelle<br />
einbinden, die „Janusköpfigkeit“ des<br />
chinesischen Modells trage „zur entwicklungstheoretischen<br />
Verwirrung“ bei (38).<br />
Boy Lüthje vom Institut für Sozialforschung<br />
sieht in der chinesischen Entwicklung eine „relativ<br />
erfolgreiche Transformation eines planwirtschaftlichen<br />
in ein kapitalistisches System“ bei<br />
„starke[r] Kontinuität in den politischen und<br />
sozialen Institutionen“ (61). Der Unternehmenstyp<br />
State Owned Enterprises (SOE, mehrheitlich<br />
in staatlichem Eigentum) sei <strong>heute</strong> dominierend,<br />
werde allerdings entsprechend marktwirtschaftlicher<br />
Gewinnorientierung geführt. Proteste<br />
gegen betriebliche Umstrukturierungen<br />
beschränken sich seiner Ansicht nach auf einzelne<br />
Ereignisse bzw. Personen und stellen die allgemeine<br />
Politik nicht in Frage.Während die wirtschaftliche<br />
Struktur Chinas sich verändert, sieht
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
er die Gewerkschaftsbewegung, die keine<br />
(Kampf-)Erfahrung habe, nicht auf die gegenwärtige<br />
Lage vorbereitet, während der Gesetzgeber<br />
auf „harmonische Arbeitsbeziehungen“<br />
(68) nach deutsch-skandinavischem Vorbild<br />
setze. Gleichzeitig weise die Tendenz in Richtung<br />
einer „wachsende[n] Differenzierung der betrieblichen<br />
Produktionsregime“ (74), die eher<br />
dem japanischen Muster entspräche. Er kommt<br />
zu dem Schluss:<br />
Das Studium dieser Entwicklung dürfte einen<br />
wesentlichen Beitrag zur Überwindung illusionärer<br />
Vorstellungen bezüglich der Perspektiven<br />
sozialistischer Theorie und Praxis der KPCh wie<br />
auch übertriebener Hoffnungen auf Massenwiderstand<br />
gegen den Neoliberalismus in China<br />
leisten. (74)<br />
Das Fortbestehen bzw. Wiederaufleben traditioneller<br />
Denkweisen in China haben mehrere<br />
Autoren zu ihrem Thema gemacht. Hong Tae-<br />
Hee behauptet sogar, die Kontinuität des „ungeheuerliche[n]“<br />
(sic!) chinesischen Staates, der<br />
„ohne besondere Einwände“ (124) von der<br />
Kulturrevolution über die Ereignisse 1989 bis hin<br />
zur weiterhin praktizierten Vollstreckung von<br />
Todesurteilen in der Gegenwart fortgeführt<br />
werde, lasse sich durch den Ahnenkult erklären,<br />
was bezweifelt werden darf. Augenscheinlich<br />
verschmelzen jedoch unreflektierte Teilaspekte<br />
chinesischer Tradition mit einer sich ausbreitenden<br />
Konsumgesellschaft, die in der Angleichung<br />
der Geschlechterrollen der Mao-Ära rückblickend<br />
eine „Anpassung an männliche Standards“<br />
erkennen will und der <strong>heute</strong> eine „Feminisierung<br />
des Frauenbildes“ (Spakowski, 153)<br />
entgegengestellt wird. Dieser Entwicklung kann<br />
sich auch eine sozialistische „Massenorganisation“<br />
wie der chinesische Frauenverband nicht<br />
entziehen.<br />
Der vielleicht wichtigste Beitrag stammt von<br />
den Autoren Heberer und Senz, da sie überzeugende<br />
Erklärungsansätze und Einschätzungen<br />
zum stärker werdenden Nationalismus in China<br />
vermitteln. Sie weisen zunächst auf „komplexe<br />
und sich verändernde chinesische Realitäten“<br />
(163) hin und sehen das „Hauptziel der Parteigründung“<br />
der KPCh nicht etwa in „der Emanzipation<br />
des Proletariats“, sondern in der<br />
BÜCHER 105<br />
„Befreiung der Nation“ (166). Innere Einheit<br />
werde von der chinesischen Führung als erforderliche<br />
Voraussetzung für Stabilität und<br />
Wachstum unter den vorgefundenen Bedingungen<br />
gesehen. Ziel sei vor allem ein souveränes<br />
und international anerkanntes China. Das<br />
Selbstbild der KPCh als einer Partei des ganzen<br />
Volkes wird so – und unter Berücksichtigung der<br />
Klassenkampferfahrung aus der Zeit der Kulturrevolution<br />
– leichter verständlich, denn eine entsprechende<br />
Modernisierungsideologie beansprucht<br />
eine „Identität von Sozialismus, Parteiherrschaft,<br />
Modernisierung und nationalem<br />
Interesse“ (170). Der von der KPCh propagierte<br />
Nationalismus greife zu diesem Zweck nicht nur<br />
auf konfuzianische Elemente zurück, sondern<br />
auch auf die Tradition antiimperialistischer<br />
Bewegungen aus der Zeit vor der Gründung der<br />
Volksrepublik. Nach Ansicht von Heberer und<br />
Senz ist dieser Nationalismus nicht mit dem<br />
Nationalismus in Europa gleichzusetzen.<br />
Weitere wertvolle Beiträge hätten es verdient,<br />
an dieser Stelle berücksichtigt zu werden. Rolf<br />
Geffken beispielsweise sieht beim Aufbau eines<br />
rechtsstaatlichen Systems in der VR vor allem das<br />
Problem, dass durch die Reformpolitik ein „Übergewicht<br />
der Regionen“ (79) entstanden ist, welches<br />
eine einheitliche Rechtspraxis in China<br />
erschwert. Seiner Auffassung nach kommt dem<br />
Recht in China „nur eine partielle Steuerungsfunktion<br />
zu, die im Wesentlichen [...] vom<br />
Kräfteverhältnis zwischen Region und Zentrale“<br />
(87) abhängig ist. Aber in diesem Beitrag, der<br />
fachliches Wissen um die Diskussionen der beteiligten<br />
gesellschaftlichen Kräfte in der Volksrepublik<br />
offenbart, zeigen sich Schwächen. Helmut<br />
Peters hat dem Doppelband den notwendigen<br />
Dienst erwiesen, exemplarisch in Bezug auf<br />
Geffkens Ausführungen Grundsätzliches zur<br />
Sprache zu bringen. Seine „Anmerkungen“ greifen<br />
ein Problem auf, das sich bei fast allen der<br />
beteiligten Autoren – als Ausnahmen können<br />
Heberer/Senz und Schmalz bezeichnet werden –<br />
finden lässt. Peters schreibt: „Der Beitrag hat keinen<br />
eindeutigen historisch-gesellschaftlichen<br />
Bezugspunkt zum Entwicklungsstand der chinesischen<br />
Gesellschaft“ (89). Die Transformation<br />
zum Kapitalismus werde von Geffken vorausge-
106<br />
setzt, nicht jedoch nachgewiesen. Tatsächlich<br />
gehen einigen der Autoren Begriffe wie „Staatssozialismus“<br />
(Haug), „Kapitalismus“ (u. a. Negt)<br />
oder auch „roter Neoliberalismus“ (Wichterich)<br />
sehr leicht von der Hand, ohne dass diese erläutert<br />
werden. Da es sich um Begriffe handelt, die<br />
Argument-Lesern häufig unterkommen dürften,<br />
erscheint die Anwendung in Bezug auf China<br />
offenbar unproblematisch. Es bleibt dann nur<br />
noch die Frage,„um welchen Kapitalismus es sich<br />
in China handelt; ist es ein politisch bedingter<br />
Kapitalismus, ein Händlerkapitalismus, Abenteurer-<br />
und spekulativer Kapitalismus?“ (Negt,<br />
25). Der Standpunkt der chinesischen Regierung<br />
oder der KPCh bzw. ihre Vorstellungen von einer<br />
„sozialistischen Marktwirtschaft“ werden nicht<br />
berücksichtigt bzw. erläutert. Doch soll eine derartige<br />
Publikation – immerhin ein Doppelband –<br />
einen Beitrag zum Verstehen chinesischer Realitäten<br />
leisten, so müssen sich diese Positionen<br />
darin wiederfinden. Die einleitende (Schutz-)Behauptung<br />
Haugs, der „Große Widerspruch China“<br />
sei einer im Marxismus (2), ist in dieser Hinsicht<br />
irritierend, denn gerade streitbare Beiträge, die<br />
sich um eine marxistische Position zu China<br />
bemühen, sind merklich unterrepräsentiert.<br />
Lars Mörking<br />
Neuer Imperialismus?<br />
Deppe, Frank u.a. (2004): Der neue<br />
Imperialismus. Distel Verlag, Heilbronn,<br />
ISBN 3-929348-35-7, 9,50 Euro.<br />
Die Wiederentdeckung des Imperialismus-Begriffs<br />
durch neokonservative Publizisten ist Ausgangspunkt<br />
des Buches „Der neue Imperialismus“.<br />
Ziel der Autoren um den Marburger Politikwissenschaftler<br />
Frank Deppe war es, dieser<br />
Imperialismus-Debatte auf den Grund zu gehen<br />
und „die theoretische und praktische Kritik am<br />
neuen Imperialismus [...] zu stärken“ (9).<br />
Auf 147 Seiten im Taschenbuch-Format gehen<br />
die Autoren überwiegend chronologisch vor.<br />
Gegliedert haben sie ihr Buch in aufeinander folgende<br />
Epochen, mit einer Beschreibung des<br />
jeweiligen historischen Kontextes sowie einer<br />
Darstellung und Bewertung der zeitgenössischen<br />
Imperialismustheorien.<br />
Die erste Epoche bezeichnen sie in Anlehnung<br />
an die Definition des Historikers Wolfgang<br />
J. Mommsen als das „Zeitalter des Imperialismus“,<br />
in dem sich die „wirtschaftlichen und politischen<br />
(vor allem: geopolitischen) Interessengegensätze<br />
zwischen den Staaten“ bis zu Weltkriegen<br />
zuspitzten (13). Neben der Imperialismustheorie<br />
des liberalen Ökonomen J. A. Hobson,<br />
deren Kern eine Unterkonsumtionstheorie<br />
ist, steht vor allem die marxistische Imperialismusdiskussion<br />
im Vordergrund. Dabei werden<br />
unterschiedliche Akzente im Verständnis des<br />
Imperialismus gegenübergestellt: Als „politische[r]<br />
Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation<br />
in ihrem Konkurrenzkampf um die<br />
Reste des [...] nicht-kapitalistischen Weltmilieus“<br />
(Luxemburg), als Ausdruck des tendenziellen<br />
Falls der Profitrate (Bucharin) sowie als<br />
Monopolisierung des Kapitals und höchstes Stadium<br />
des Kapitalismus (Lenin).<br />
Die zweite Epoche (1945 – 1970er) wird als<br />
„Zeitalter der Systemkonkurrenz“ bezeichnet<br />
und charakterisiert sich entsprechend aus den<br />
Bedingungen, wie sie die <strong>Oktoberrevolution</strong> 1917<br />
und die Neuordnung nach dem Zweiten<br />
Weltkrieges hinterlassen haben: Die Blockkonfrontation<br />
im Kalten Krieg, das Ende der Kolonialherrschaft<br />
und das Auftreten antiimperialistischer<br />
Bewegungen sowie eine widersprüchliche<br />
Entwicklung der kapitalistischen Ökonomien<br />
unter der Hegemonie der USA. Kennzeichnend<br />
hierfür sei das Bretton-Woods-<br />
System sowie die Etablierung des „fordistischen<br />
Akkumulationsregimes“ (vgl. 41-43).<br />
Neben angerissenen „neoimperialistischen“<br />
Theorien ist dabei die Darstellung der Theorie<br />
des „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ von<br />
Bedeutung. Diese Weiterentwicklung der Leninschen<br />
Imperialismustheorie geht von einer weiteren<br />
Konzentration des Kapitals sowie der stärkeren<br />
Rolle des Staats bei der Finanzierung der<br />
Großproduktion aus (vgl. 58).<br />
Die Krise des „fordistischen Akkumulations-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
regimes“, einhergehend mit dem Zusammenbruch<br />
des Bretton-Woods-Systems auf internationaler<br />
Ebene, leitete die Epoche des „Neuen<br />
Imperialismus“ ein. Mit Bezug auf Leo Panitch<br />
und Sam Gindin betrachten die Autoren diesen<br />
als „imperiale Ordnung mit den USA als Machtzentrum“<br />
(125). Die USA verfügten als einzige<br />
über die Fähigkeit, die Spielregeln des Weltmarktgeschehens<br />
zu bestimmen und politischmilitärische<br />
Macht zum Schutz dieser Ordnung<br />
anzuwenden (vgl. 124). Den „Euroimperialismus“<br />
bezeichnen sie als „eher [...] marginales politisches<br />
Projekt“ (129). Ferner benennen sie mit<br />
Bezug auf David Harvey die Ursachen der<br />
„neuen Formen der Gewalt“ seit dem Ende der<br />
Systemkonfrontation als „Akkumulation durch<br />
Enteignung“, in der dem Kapital „wieder jene<br />
Bereiche zur privaten Verwertung“ geöffnet<br />
werden, „die einst nicht profitabel genug waren<br />
oder durch Ergebnisse des Klassenkampfes in<br />
staatlicher Regie betrieben wurden“ (123).<br />
Diese „Akkumulation durch Enteignung“<br />
meint im Kern aber eine Zentralisation von<br />
Kapital und unterscheidet sich insofern von der<br />
Reproduktion des Kapitals auf erweiterter<br />
Stufenleiter: Es findet keine Produktion von<br />
Mehrwert statt, das gesellschaftliche Gesamtkapital<br />
bleibt unverändert 1 . Hier werden die<br />
Weichen für die programmatischen Elemente<br />
des Buches gestellt. Der dominierende Widerspruch<br />
im Kapitalismus liegt nicht mehr zwischen<br />
Kapital und Arbeit, sondern zwischen<br />
Globalisierungsverlierern und dem Kapital („Akkumulation<br />
durch Enteignung“). Den progressiven<br />
Teilen der Arbeiterklasse wird darin zwar<br />
eine „unentbehrliche Rolle“ (141) zugeschrieben,<br />
dennoch bemerken die Autoren: „Der Glaube an<br />
die befreiende Kraft der Arbeiterklasse [...] ist<br />
schwer angeschlagen“ (130) und es sei kaum<br />
anzunehmen, dass politisch stärker werdende<br />
soziale Bewegungen in der Zukunft auf politische<br />
Organisationskonzepte wie das einer nationalen<br />
Partei zur Machtergreifung im Staat<br />
zurückgreifen werden (vgl. 143 f.). Damit stellt<br />
sich natürlich die Frage, ob sich Subjekte von<br />
Gesellschaftsveränderung über ihr subjektives<br />
Wollen oder vielmehr durch ihre objektive Rolle<br />
im Produktionsprozess und damit der Mög-<br />
BÜCHER 107<br />
lichkeit zur Durchsetzung gesellschaftlicher<br />
Veränderungen definieren.<br />
Inhaltlich bleibt die Auseinandersetzung mit<br />
der Leninschen Imperialismustheorie, die auch<br />
in Form der Theorie des „staatsmonopolistischen<br />
Kapitalismus“ zweifelsohne einen gewissen<br />
Einfluss besaß, durchgängig oberflächlich.<br />
Die Frage, ob die Leninsche Theorie des monopolistischen<br />
Kapitalismus „die konzeptionelle<br />
Erfassung der wesentlichen Merkmale des<br />
Imperialismus im allgemeinen“ 2 darstellt, wird<br />
mit ihrer Einordnung in die Kategorie des<br />
„alten“, bzw. „klassischen Imperialimus“ beantwortet.<br />
2 In verschiedenen Abschnitten wird u. a.<br />
der Vorwurf des „Klassenreduktionismus“ beim<br />
Staatsverständnis geäußert (vgl. 63) oder auch<br />
Sätze wie: „Die Anhänger marxistisch-leninistischer<br />
Imperialismus-Theorien neigten stets<br />
dazu, die Rolle der Arbeiterklasse in den Metropolen<br />
für den Kampf zur Überwindung des<br />
Imperialismus zu übertreiben“ (142). Auch wird<br />
deutlich, dass die Abschnitte aus unterschiedlicher<br />
Feder stammen. Wird im Abschnitt zur<br />
Theorie Harveys noch ein Rückfall in „einfachen<br />
Klassenreduktionismus“ und damit das Schema<br />
der „klassischen Imperialismustheorien“ kritisiert,<br />
wird eine Seite weiter im Abschnitt<br />
„Antiimperialismus <strong>heute</strong>“ positiv auf Engels<br />
„ideellen Gesamtkapitalisten“ Bezug genommen<br />
(vgl. 118 f.). Hier wäre es sicherlich hilfreich<br />
gewesen, die Urheber der jeweiligen Kapitel zu<br />
kennzeichnen.<br />
Dennoch ist es den Autoren gelungen, einen<br />
empfehlenswerten Überblick von Imperialismustheorien<br />
unterschiedlicher Couleur vorzulegen.<br />
Der Beitrag zur Handlungsorientierung linker<br />
Politik und damit die besagte „praktische<br />
Kritik am neuen Imperialismus“ (9) erfüllt jedoch<br />
nicht die hohen Erwartungen des Lesers.<br />
Pablo Graubner<br />
1 Vgl. Knolle-Grothus, Ansgar/Hartmann, Peter (2005):<br />
Umrisse einer ökonomischen Analyse des Kapitalismus<br />
<strong>heute</strong>, Topos Sonderheft 1, Napoli, S.77, FN 61.<br />
2 Martínez, R. Cervantes / Chamizo, F. Gil / Alvarez, R. Regalado/Loureda,<br />
R. Zardoya (2000): Imperialimus <strong>heute</strong>. Neue<br />
Impulse Verlag, Essen, S. 48.
108<br />
Ein Plädoyer für die Zukunft<br />
Heinz Langer, „Kuba – La revolución<br />
dinámica/Die lebendige Revolution“. Verlag<br />
Wiljo Heinen, Böklund. 272 S. ISBN 978-3-939828-<br />
06-8; 12 Euro.<br />
„Solange ich schreiben kann, werde ich mich für<br />
dieses wunderbare Land einsetzen.“ Dies sagte<br />
Heinz Langer, als er zum Abschluss der Podiumsdiskussion<br />
beim UZ-Pressefest in der Casa<br />
Cuba sein neues Buch vorstellte. Damit legt der<br />
Autor und langjährige DDR-Botschafter auf<br />
Kuba seine zweite Studie über die größte Antilleninsel<br />
vor.<br />
In seiner Einleitung „Die kubanische Perspektive“<br />
lässt er keinen Zweifel an seiner eigenen<br />
Position, distanziert sich sowohl von den<br />
Versuchen, die kubanische Entwicklung mit der<br />
in den zerstörten sozialistischen Ländern<br />
Osteuropas gleichzusetzen als auch von modischen<br />
Kritiken aus der „vermeintlich linken<br />
Szenerie“. Sein unzweideutiges Bekenntnis zum<br />
sozialistischen Kuba trübt jedoch an keiner<br />
Stelle die rationalen Beobachtungen und realistischen<br />
Einschätzungen. Er belässt es keinesfalls<br />
bei der Aufstellung von Behauptungen, sondern<br />
belegt diese akribisch mit Zahlen, Daten<br />
und Fakten. Anhand der Geschichte Kubas<br />
belegt er, dass „die nationale Befreiungsrevolution<br />
faktisch mit dem ersten Unabhängigkeitskrieg<br />
1868 bis 1878 begann“ 4 und ihre Wurzeln<br />
vor allem „im gleichzeitigen Kampf gegen<br />
die Sklaverei, gegen Kolonialismus und für nationale<br />
Selbstverwirklichung hat. Das macht den<br />
einzigartigen Charakter der kubanischen Revolution<br />
in der Weltgeschichte aus“ und diese<br />
Werte bleiben von der Vertreibung der spanischen<br />
Conquista, dem Sturz der Batista-Tyrranei<br />
und dem Rauswurf der Yankees bis zum heutigen<br />
Kampf gegen alle Versuche der „Rückführung“<br />
des sozialistischen Kuba zum Kapitalismus.<br />
Denn dass es um diesen grundsätzlichen<br />
Klassenkampf geht, daran hegt Langer<br />
keinen Zweifel. In den Augen der USA war Kuba<br />
nicht nur aus geostrategischer Sicht immer<br />
bedeutsam, wie bspw. anhand der Monroe-<br />
Doktrin belegt wird. 1 Es waren und sind vor allem<br />
auch pure ökonomische Interessen der US-Imperialisten,<br />
deren Besitztümer auf Kuba im <strong>Jahre</strong><br />
1958 detailliert aufgezählt werden: Von den<br />
Bergwerken und dem Grundbesitz, der Zuckerwirtschaft<br />
und landwirtschaftlichen Nutzfläche<br />
bis hin zum Eisenbahnnetz, der Handelsflotte<br />
und den Erdölraffinerien – überall war die<br />
Kontrolle von US-Konzernen gegeben.<br />
So hatte der Kampf und Sieg der Rebellenarmee<br />
unter Führung von Fidel am 1. Januar 1959<br />
auch von Beginn an antikapitalistischen Charakter.<br />
Dies wiederum hatte, quasi naturgemäß,<br />
einen „nicht erklärten Krieg der USA gegen Kuba<br />
in bis dahin unbekannten Dimensionen zur<br />
Folge, der das Ziel hat, die kubanische Revolution<br />
zu zerstören, das Land zurückzuerobern und die<br />
neokoloniale Herrschaft wiederzuerrichten.“ Die<br />
angewandten Mittel werden u. a. in den Kapiteln<br />
„Das skandalöse Helms-Burton-Gesetz“, „Bushs<br />
Bemühungen um die Konterrevolution“, „Bush-<br />
Plan I (2004)“, „Bush-Plan II (2006)“ und „Die EU<br />
als Wasserträger der USA“ ebenso fakten- wie<br />
kenntnisreich geschildert.<br />
Doch Kuba widerstand, zunächst 30 <strong>Jahre</strong><br />
lang, auch mit aktiver Unterstützung des sozialistischen<br />
Lagers. Als diese 1989 auf einen Schlag<br />
ausblieb, wähnten sich die Kalten Krieger auch<br />
bezüglich Kubas am Ziel ihrer Träume. Doch hier<br />
irrten sich – wieder einmal – nicht nur diese,<br />
sondern auch manch linke Zauderer. Der Autor<br />
verweist auf die Rede Fidel Castros vom 26. Juli<br />
1988, in der dieser die sehr authentischen Bedingungen<br />
der kubanischen Revolution nachwies<br />
und entsprechend eigene Lösungen im<br />
Rahmen der vom III. Parteitag der PCC (1986)<br />
begonnenen rectificación (Kampagne zur Berichtigung<br />
von Fehlern) forderte. Langer führt<br />
gerade diese Rede Fidels als Beispiel gegen jene<br />
„linken Kritiker“ an, die behaupten, dass Kuba<br />
nur unter Verzicht auf seine explizit sozialistische<br />
Ausrichtung überleben könne. Verwiesen<br />
wird auf Fidels programmatische Rede vom 17.<br />
November 2005 in der er dargelegt hatte, dass<br />
die kubanische Revolution durch eigene Fehler<br />
zerstört werden könne.<br />
Die eigenständige und dynamische Entwicklung<br />
Kubas wird in mehreren Kapiteln detailliert<br />
und mit belastbarem Zahlenwerk beschrieben.
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
Allen, die Kuba „mangelnde Demokratie“ vorwerfen,<br />
begegnet Langer im Abschnitt „Sozialistische<br />
Demokratie in Kuba“ mit der Feststellung,<br />
dass die „Existenz wahrhaft demokratischer<br />
Verhältnisse überhaupt nicht von dem<br />
Bestehen mehrerer politischer Parteien abhängig<br />
ist (…) Politische Parteien sind Institutionen,<br />
die mehr oder weniger im 19. Jahrhundert entstanden.<br />
Die Demokratie aber als Idee gibt es<br />
schon mehr als zweitausend <strong>Jahre</strong>.“ Am Beispiel<br />
des basisdemokratisch orientierten kubanischen<br />
Demokratie- und Wahlsystems wird nachgewiesen,<br />
wie fortschrittlich dieses auch gegenüber<br />
der hiesigen „repräsentativen Demokratie“ ist.<br />
Der Autor skizziert die Lage Kubas zum Zeitpunkt<br />
des Wegfalls der sozialistischen Außenhandelspartner<br />
(85 %). Er beschreibt, dass bereits<br />
vor 1989 entstandene Widersprüche, die vor<br />
allem „in der konkreten halbkolonialen Struktur<br />
des Entwicklungslandes Kuba“ begründet waren,<br />
zu einer Lösung drängten und benennt vor allem<br />
die extensive Produktionsweise und daraus folgende<br />
sinkende Effizienz, einseitige Konzentration<br />
der Außenmärkte auf die anderen sozialistischen<br />
Länder und die dadurch bedingte hemmende<br />
Wirkung auf die eigene Volkswirtschaft,<br />
jahrhundertealte Abhängigkeit von der Monokultur<br />
Zucker. Zu einer „enormen Zuspitzung“<br />
kam es, hierzulande kaum registriert, schon 1986,<br />
als unter Gorbatschow der Zuckerpreis einseitig<br />
um 10,9 % reduziert wurde.<br />
Dem stellte der bereits erwähnte III. Parteitag<br />
der PCC sein „sehr mutiges Programm zur<br />
Wirtschaftspolitik mit Namen ‚zur Korrektur<br />
voluntaristischen und uneffektiven Wirtschaftens’”<br />
entgegen: Unterordnung der ökonomischen<br />
Mechanismen unter das Ziel des Aufbaus<br />
des Sozialismus; Entwicklung des Bewusstseins<br />
der Arbeiter als kollektive Produzenten und<br />
Eigentümer der Produktionsmittel, dem das<br />
Handeln der Verwaltung und der gesamten<br />
Leitung unterzuordnen ist; Aufgabe der Partei,<br />
die Menschen zur Realisierung der Aufgaben zu<br />
befähigen.<br />
Den Beschreibungen des Überlebenskampfes<br />
der kubanischen Revolution ab 1989/<strong>90</strong> stellt<br />
der Autor zwei zentrale Gründe des Erfolges dieser<br />
Bemühungen voran:<br />
BÜCHER 109<br />
„In dieser für die Revolution entscheidenden<br />
Situation, in der Kuba völlig auf sich allein gestellt<br />
war, bewährte sich erneut die feste Einheit<br />
der kubanischen Gesellschaft. Es muss erwähnt<br />
werden, dass die Nähe der Führung der Revolution<br />
zum Volk eine der größten Stärken der revolutionären<br />
Entwicklung in Kuba und auch überzeugender<br />
Ausdruck der Demokratie ist.“<br />
Geschildert werden nunmehr das Lebensmittelprogramm<br />
als Kernstück des Notstandsprogramms,<br />
die Dritte Agrarreform, die Konkretisierung<br />
der periódo especial en tiempos de paz<br />
(Spezialperiode in Friedenszeiten) durch den IV.<br />
Parteitag im Oktober 1991und die darauf fußende<br />
leichte ökonomische Erholung in Landwirtschaft<br />
und Industrie mit durchaus widersprüchlichen<br />
Tendenzen, die Anstrengungen in der Bauindustrie<br />
und dem Transportwesen, die strategische<br />
Neubestimmung in der Zuckerwirtschaft, die<br />
Impulse im Nickel- und Kobaltsektor, in der für das<br />
Überleben Cubas besonders wichtigen Energiewirtschaft,<br />
die Gesundung der Staatsfinanzen<br />
und planmäßige Neuorganisation der Finanzwirtschaft<br />
und Haushaltspolitik unter sozialistischem<br />
Vorzeichen, die Entwicklung des Tourismus,<br />
der Außen- und Binnenwirtschaft.<br />
Bei all diesen Schilderungen erweist sich der<br />
Autor weder als blasser Apologet noch als Kritikaster<br />
der „kubanischen Verhältnisse“ und bietet<br />
auch keine „einfachen Antworten“ an.<br />
Vielmehr wird, vor allem am Beispiel der<br />
Energieprobleme im <strong>Jahre</strong> 2003 dokumentiert,<br />
wie komplex und vielschichtig im realen Leben<br />
Ursachen und Wirkungen daherkommen.<br />
Im Kapitel „Festigung und Ausbau der Errungenschaften<br />
der Revolution“stehen – gemäß<br />
der Schwerpunktsetzung der kubanischen<br />
Revolution – die Volksbildung und das Gesundheitswesen<br />
an erster Stelle. Aus der Fülle der<br />
Fakten sei ein Beispiel herausgehoben: „In der<br />
Hauptstadt wurde bereits das in der Welt einmalige<br />
Ziel erfüllt, eine Klassenfrequenz von nur<br />
20 Schülern zu haben.“ Heinz Langer beweist<br />
darüber hinaus dass – entgegen der landläufigen<br />
Meinung, dass die Entwicklung der Wissenschaft<br />
ausschließlich in den Metropolen<br />
stattfinde – Kuba auch auf diesem Sektor Bahnbrechendes<br />
leistet.
110<br />
Trotz gewichtigen Zahlenmaterials werden<br />
die Themen „Kultur, Kunst, Sport“ auf zwei Seiten<br />
leider nur gestreift, hat doch das revolutionäre<br />
Kuba auch auf diesen Überbau-Sektoren<br />
trotz Blockade und anderer stetiger Behinderungen<br />
Außerordentliches geleistet.<br />
Die aktuelle ökonomische Lage zusammenfassend<br />
konstatiert Langer: „Die Bilanz der wirtschaftlichen<br />
Entwicklung der vergangenen <strong>Jahre</strong>,<br />
besonders seit 2004, stimmt insgesamt optimistisch.<br />
Es wird deutlicher, dass die strukturellen<br />
Missbildungen in der Wirtschaft, die aus Unterentwicklung<br />
und einseitiger Abhängigkeit entstanden<br />
waren und in den <strong>Jahre</strong>n der Sonderperiode<br />
noch potenziert wurden, schrittweise<br />
beseitigt werden und eine solide Basis geschaffen<br />
wird, die Vervollkommnung der sozialistischen<br />
Ziele strategisch möglich macht (…) Es hat sich<br />
gezeigt, dass sich eine Volkswirtschaft auch trotz<br />
gewaltiger Ausgaben für Sozialprogramme gut<br />
entwickeln kann.“ Angemessen differenziert werden<br />
die „bescheidenen Verbesserungen in der<br />
Lebenslage der Bevölkerung des Entwicklungslandes<br />
Kuba“ geschildert. Die Erhöhung der Bezüge<br />
der Werktätigen wird in den gesamtstaatlichen<br />
Kontext gestellt und auch die „außerordentlich<br />
ernste Problematik (…) der weiteren<br />
Existenz zweier Währungen“ wird benannt: „Sie<br />
ist eine Hauptquelle für soziale Ungleichheit,<br />
Schmarotzertum, unredliche Bereicherung und<br />
Korruption mit all seinen politisch-ideologischen<br />
Folgen. Nicht die Mangelwirtschaft ist es, die der<br />
Führung des Landes die Durchsetzung der sozialistischen<br />
Prinzipien von Gerechtigkeit so erschwert,<br />
sondern die noch weit verbreitete Möglichkeit<br />
zur Bereicherung außerhalb eines ordentlichen<br />
Arbeitsprozesses.“<br />
Zugleich werden die 2002 ins Leben gerufenen<br />
besonderen Programme zur Integration<br />
Jugendlicher in den Arbeits- und Lernprozess<br />
geschildert und resümiert: „Mit dieser großartigen<br />
Politik und dem kontinuierlichen Wirtschaftswachstum<br />
wurde es möglich, dass die<br />
Arbeitslosigkeit, eines der gravierenden Probleme<br />
der Menschheit, in Kuba von über 8 % im<br />
<strong>Jahre</strong> 1993 in 2005 auf 1,9% verringert werden<br />
konnte, was faktisch einer Vollbeschäftigung<br />
gleichkommt.“<br />
Die sozialistische Außenpolitik Kubas ist mittlerweile<br />
ebenso legendär wie die genannten sozialen<br />
Errungenschaften. Der Autor benennt sie als<br />
„Kampf für Gerechtigkeit und Würde“ 41 , schildert<br />
sie als erfolgreich und ebenso flexibel wie prinzipienfest.<br />
Bewertet werden die Beziehungen zu<br />
einzelnen Staaten, Ländergruppen und der UNO,<br />
wobei selbstverständlich die regionale Integration<br />
und die besonderen Beziehungen zu<br />
Venezuela und anderen befreundeten Ländern<br />
und die damit einhergehenden ökonomischen<br />
Vorteile eine herausragende Rolle spielen. Die<br />
Prinzipienfestigkeit spielt nicht zuletzt gegenüber<br />
der unwürdigen Haltung der EU, die bis in die<br />
jüngste Zeit geschildert wird, eine Rolle.<br />
Das vorletzte Kapitel widmet der Autor dem<br />
ideologischen Kampf: „Batalla de las Ideas“.<br />
Diese „Schlacht der Ideen“: bezieht sich auf ein<br />
breites Spektrum von Aufgaben. Langer datiert<br />
ihren Ausgangspunkt auf das V. Plenum der PCC<br />
im März 1996. Gemeint sind damit vor allem das<br />
Zurückdrängen der Einmischung sogenannter<br />
„Nichtregierungsorganisationen“ im eindeutigen<br />
Auftrag ausländischer Regierungen, aber<br />
auch der Kampf gegen die ideologischen Auswirkungen<br />
der periódo especial, „Erscheinungen<br />
der persönlichen Bereicherung, der Korruption,<br />
der Steuerhinterziehung, des illegalen Handels,<br />
der Prostitution und der Jugendkriminalität.“<br />
Diese Schlacht wird auf allen Ebenen geführt, in<br />
den Medien, den Verwaltungen, Betrieben,<br />
Schulen und Universitäten, wobei ganz bewusst<br />
– und exemplarisch für die kubanische Revolution<br />
– vor allem die Jugend und Studierenden<br />
an die Spitze dieser Auseinandersetzung berufen<br />
wurden: „Die zunehmend kritische<br />
Analyse der Entwicklung des Sozialismus ist ein<br />
langer, sich ständig wiederholender Prozess, der<br />
von Anfang der Revolution an charakteristisch<br />
für die Tätigkeit der kubanischen Partei ist.“ Entsprechend<br />
optimistisch schließt sich für Heinz<br />
Langer im Abschlusskapitel „Perspektiven Kubas<br />
und Lateinamerikas“ der Kreis zu seinen Eingangsbemerkungen.<br />
Die gesellschaftlichen und ökonomischen<br />
Perspektiven werden als stabil eingeschätzt, was<br />
jedoch auch „zweifellos den Widerstand der<br />
imperialistischen Monopole tendenziell anstei-
MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />
gend verschärfen“ werde. Langer verweist beispielhaft<br />
auf die vor 9 <strong>Jahre</strong>n ungerechtfertigt in<br />
den USA zu Höchststrafen verurteilten und seither<br />
dort inhaftierten antiterroristischen Kämpfer,<br />
die Miami 5. Es wird auf anhaltende antikubanische<br />
Umtriebe seitens der USA und der EU<br />
verwiesen und prognostiziert: „Diese gemeinsamen<br />
Aktionen und die zunehmenden Aktivitäten<br />
der Europäischen Gemeinschaft gegen<br />
Kuba und die voranschreitende antikapitalistische<br />
Entwicklung in Lateinamerika lassen weitere<br />
heftige Auseinandersetzungen in der Zukunft<br />
erahnen.“<br />
Das rundum empfehlenswerte Buch verfügt<br />
über einen ausführlichen Quellenanhang, zwei<br />
Cuba-Übersichtskarten (geografisch und politisch-administrativ)<br />
sowie ein kombiniertes<br />
Stichwort- und Namensregister. Es stellt eine<br />
umfassende und faktenreiche aktuelle Bestandsaufnahme<br />
dar und kann zugleich angesichts<br />
seines sehr großen Zahlen- und Datenmaterials<br />
als qualifiziertes Nachschlagewerk<br />
dienen. Für eine wünschenswerte 2. Auflage<br />
wäre, vor allem für „Cuba-Einsteiger“, eine Zeittafel<br />
im Anhang sicherlich sehr hilfreich.<br />
Heinz-W. Hammer<br />
1 S. S. 18 f.: Am 2. Dezember verkündete US-Präsident<br />
James Monroe den Quasi-Besitzanspruch der USA auf<br />
Lateinamerika und besonders den karibischen Raum.<br />
Berühmt wurde in diesem Zusammenhang das Zitat von<br />
dessen Amtsnachfolger John Quincy Adams: „Ein Apfel<br />
der bei einem Sturm vom Baum fällt, muss zwangsläufig<br />
vom Baum fallen. Kuba, das durch Gewalt von seiner<br />
natürlichen Verbindung mit Spanien getrennt wurde und<br />
unfähig ist, sich selbst zu erhalten, muss unweigerlich der<br />
nordamerikanischen Union zufallen, die aufgrund des<br />
nämlichen Naturgesetzes es nicht zurückweisen darf.“<br />
Immer brav geschlafen<br />
BÜCHER 111<br />
Jürgen Roth / Rainer Nübel / Rainer Fromm:<br />
Anklage unerwünscht! Korruption und Willkür in<br />
der deutschen Justiz. Eichborn Verlag,<br />
Frankfurt/Man 2007, 304 Seiten, 19,95 Euro<br />
„Manche haben einen Schutzengel, Daimler hat<br />
die Staatsanwaltschaft.“ So kommentierten<br />
Konzerninsider des Stuttgarter Unternehmens<br />
die Rolle der Stuttgarter Anklagebehörde, als es<br />
um die Aufklärung von mit Schmiergeldern verbundenen<br />
Auslandsgeschäften des schwäbischen<br />
Automobilherstellers ging. Auch der Spiegel<br />
hielt nicht hinterm Berg, als er der Stuttgarter<br />
Staatsanwaltschaft bescheinigte, dass sie<br />
sich „bislang als nicht gerade übereifrig erwiesen<br />
(habe), wenn es um den größten Steuerzahler<br />
der Region, den Daimler-Konzern, ging“.<br />
Für die Autoren des jetzt erschienenen<br />
Buches „Anklage unerwünscht! Korruption und<br />
Willkür in der deutschen Justiz“, wird „die Stuttgarter<br />
Justizbehörde diesem Ruf gerecht“. Als es<br />
um den Vorwurf ging, der Konzern habe fahrbare<br />
Abschussrampen für Skud-Raketen heimlich<br />
in den Irak geliefert, erteilte die Stuttgarter<br />
Justizbehörde „dem Konzern in Rekordtempo<br />
einen Persilschein: ‚Kein konkreter Verdacht‘“. So<br />
sei es bei vielen Justizbehörden fast wie ein<br />
Gesetz: Wenn es um Wirtschaftskriminalität<br />
gehe, übten sie vornehme Zurückhaltung. Der<br />
Ermittlereifer sinke dann oft proportional zu<br />
dem diskreten Druck, der auf den Hütern des<br />
Rechtsstaats laste. In solchen Fällen könne man,<br />
so die Autoren, die Faustregel ausmachen:<br />
Entweder werden nur die ausführenden<br />
Mitarbeiter oder Handlanger beschuldigt – als<br />
„Einzeltäter“ – oder die Ermittlungen werden<br />
nach einer gewissen Zeit eingestellt. Und das<br />
mit der nachdrücklichen Betonung, dass allen<br />
Verdachtsmomenten intensiv nachgegangen<br />
worden sei.<br />
Auch in der sogenannten Leuna-Affäre „(stellen<br />
sich) deutsche Strafverfolger bis hin zum<br />
Bundeskriminalamt (...) in trauter Einheit blind,<br />
taub und stumm“. Als die Augsburger Staatsanwaltschaft<br />
die Leuna-Akten abgab, weigerten<br />
„sich nicht weniger als sechs deutsche Staats-
112<br />
anwaltschaften, ein Ermittlungsverfahren wegen<br />
Bestechungsverdachts zu eröffnen“. Wo<br />
deutsche Ermittlungsbehörden hätten ansetzen<br />
können, passierte nichts. Für die Autoren ist es<br />
der „Skandal im Skandal“: Die deutsche Leuna-<br />
Spur wird in Deutschland nicht ermittelt. Selbst<br />
die Generalstaatsanwaltschaft in Karlsruhe<br />
habe am Ende die Schweizer Ermittlungsergebnisse<br />
wie eine heiße Kartoffel angefasst und<br />
rasch wieder fallen lassen. Staatsanwälte, die<br />
gegen dieses „System der kollektiven Arbeitsverweigerung“<br />
verstoßen und ihrem Auftrag als<br />
Strafverfolger nachkommen wollen, wurden von<br />
der „justizpolitischen Obrigkeit zurückgepfiffen“.<br />
Der Leuna-Fall sei in der bayrischen Justiz<br />
„vermintes Gelände“: nicht betreten, politische<br />
Einflussgefahr. Für die französische Untersuchungsrichterin<br />
Eva Joly „(ist) das Problem in<br />
Deutschland, dass die Staatsanwälte nicht unabhängig<br />
sind. Ohne unabhängige Staatsanwälte<br />
gibt es keinen echten Kampf gegen Korruption“,<br />
sagte sie im <strong>Jahre</strong> 2006 in einem Interview.<br />
Staatsanwälte zeigen erstaunlich oft ein<br />
Problem dabei, hinzusehen wo sie hinsehen sollten<br />
und wegzuschauen, wo sie im Prinzip nichts<br />
zu suchen haben. Während im thüringischen<br />
Mühlhausen ein Arbeitsloser nach einem<br />
Diebstahl von zwei Brötchen und einem Stück<br />
Kräuterbutter im Wert von fünfundachtzig Cent<br />
zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt<br />
wurde, stellte die Staatsanwaltschaft<br />
Mühlhausen ein Ermittlungsverfahren gegen<br />
hochrangige Manager wegen Insolvenzverschleppung<br />
ein. Hier belief sich der Schaden auf<br />
12 Millionen Euro. Die Autoren haben die Begründung<br />
für diese Einstellung herausgefunden:<br />
„Der Sachverhalt ist ausgesprochen komplex<br />
und schwierig, und eine Hauptverhandlung<br />
wäre mit einem enormen Aufwand verbunden.“<br />
Na bitte!<br />
Auch die Stuttgarter Staatsanwaltschaft, die<br />
„immer brav geschlafen“ hat, wenn es um<br />
Machenschaften des Daimler-Konzerns ging,<br />
zeigte erstaunlich „ausbrechenden Ermittlungswahn“,<br />
als sie „mit Sturheit ihre juristische<br />
Interpretation des Paragraphen 86 a des Strafgesetzbuches“<br />
verfolgte. So wurde in einem<br />
bundesweit bekannt gewordenen Fall ein<br />
Buchhändler zu einer Geldstrafe verurteilt, weil<br />
er durch den Verkauf von Buttons mit durchgestrichenen<br />
Hakenkreuzen dazu beigetragen<br />
haben soll, dieses wieder gesellschaftsfähig zu<br />
machen. Das Stuttgarter Landgericht folgte den<br />
Argumenten der Staatsanwaltschaft. Auch<br />
gegen den DGB-Chef Michael Sommer, der aus<br />
Solidarität bei einer Veranstaltung ebenfalls das<br />
Protestzeichen gegen Neonazis trug, ermittelte<br />
die Stuttgarter Staatsanwaltschaft. Der BGH<br />
machte diesem Spuk im März 2007 gottseidank<br />
ein Ende und korrigierte das Urteil des Landgerichts.<br />
Anhand skandalöser Fälle – darunter der<br />
sächsische Korruptionsskandal, der zwischenzeitlich<br />
zur Abberufung und Versetzung des<br />
sächsischen Verfassungsschutzpräsidenten geführt<br />
hat – machen die Autoren deutlich, wie der<br />
Rechtsstaat ausgehöhlt wird, weil die dritte<br />
Gewalt nicht mehr funktioniert und Staatsanwälte<br />
wegschauen, wenn nicht gar in Seilschaften<br />
mit Politikern und Wirtschaftsbossen<br />
verstrickt sind. Die Autoren zeigen insbesondere<br />
auch, wie couragierte Bürger sich gegen diese<br />
Mißstände wehren, aber auch Beispiele dafür,<br />
wie die Zivilcourage einzelner Bürger im Keim<br />
erstickt zu werden droht – weil nicht sein kann,<br />
was nicht sein darf.<br />
Dietmar Jochum
Es schreiben diesmal<br />
MISCHA ASCHMONEIT,<br />
Düsseldorf, Betriebsrat<br />
HANS-PETER BRENNER, Dr., Bonn,<br />
Diplompsychologe, MB-Mitherausgeber<br />
GERD DEUMLICH, ESSEN,<br />
MB-Redaktion<br />
GEORG FÜLBERTH, Prof. Dr.,<br />
Marburg, Politikwissenschaftler<br />
PABLO GRAUBNER,<br />
Marburg, Student der Informatik<br />
NINA HAGER, Prof. Dr., Berlin,<br />
Stellvertr. Vorsitzende der DKP,<br />
MB-Mitherausgeberin<br />
HEINZ W. HAMMER, Essen,<br />
Vorsitzender der FG BRD-Kuba e.V.,<br />
Regionalgruppe Essen<br />
UWE-JENS HEUER, Prof. Dr.,<br />
Berlin, Rechtswissenschaftler<br />
HANS HEINZ HOLZ, Prof. Dr.,<br />
San Abondio/Schweiz, Philosoph,<br />
MB-Mitherausgeber<br />
DIETMAR JOCHUM,<br />
Berlin, Journalist<br />
MARGRET JOHANNSEN, Hamburg,<br />
Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim<br />
Institut für Friedensforschung und<br />
Sicherheitspolitik an der Universität<br />
Hamburg (IFSH)<br />
HEINZ KARL, Prof. Dr.,<br />
Berlin, Historiker<br />
HERMANN KOPP, Düsseldorf,<br />
MB-Redaktion<br />
LEO MAYER, München, Ingenieuer,<br />
Mitgl. des Sekretariats des PV der DKP<br />
THOMAS METSCHER, Prof. Dr.,<br />
Grafenau, Literaturwissenschaftler<br />
VOLKER METZROTH,<br />
Fürfeld, Fernmeldehandwerker<br />
JÖRG MIEHE, Göttingen,<br />
Sozialwissenschaftler<br />
LARS MÖRKING, Beijing/China,<br />
Redaktionsmitarbeiter bei China <strong>heute</strong><br />
GEORG POLIKEIT, Wuppertal,<br />
Journalist<br />
GREGOR SCHIRMER;<br />
Prof. Dr., Rechtswissenschaftler<br />
ROBERT STEIGERWALD,<br />
Dr. sc., Eschborn, MB-Redaktion<br />
ANDREAS WEHR,<br />
Berlin/Brüssel, Jurist<br />
Die Marx-Engels-Stiftung lädt ein zur Konferenz<br />
Die Linke und die Nation<br />
am 29./30. September in Berlin-Friedrichshain,<br />
Franz-Mehring-Platz 1 (ehem. ND-Gebäude),<br />
Willi-Münzenberg-Saal<br />
Beginn: Sa., 11.00 Uhr - Ende: So., 14.30 Uhr<br />
Das Thema Nation ist in der deutschen Linken – anders als etwa<br />
in der Frankreichs oder Italiens – ein weithin vermintes Gelände.<br />
Wer sich ihm, und sei es noch so vorsichtig, nähert, gerät rasch<br />
in den Verdacht des Chauvinismus, zumindest des Populismus.<br />
Der „antideutsche“ Diskurs, vorgegeben von Zeitschriften wie<br />
„konkret“ und „Jungle World“, wirkt weit in die intellektuelle<br />
Linke hinein. Argumente der Antideutschen werden auch von<br />
den Gegnern Lafontaines aus der früheren PDS genutzt, da sich<br />
der jetzige Co-Vorsitzende der Partei Die Linke nicht scheut, von<br />
Volk und Nation zu sprechen.<br />
Das gebrochene oder ungeklärte Verhältnis zur eigenen Nation<br />
und generell zu allem „Nationalen“ ist eine wichtige Ursache<br />
für die Schwäche der Linkskräfte in unserem Lande – bedeutet<br />
es doch, ein Feld, das für große Teile der Bevölkerung von zentraler<br />
Bedeutung ist, rechten Demagogen zu überlassen. Aber<br />
wie könnte ein richtiger Umgang mit dem Problem der Nation,<br />
mit der nationalen Geschichte und den nationalen Interessen<br />
aussehen? Unsere Konferenz, mit der die Tagung „Deutsche<br />
Arbeiterbewegung, Nation und Hegemonieproblem“ vom November<br />
2006 fortgesetzt wird, soll dazu beitragen, eine Antwort<br />
auf diese Fragen zu finden.<br />
Die Referenten und ihre Themen:<br />
ò Hans Coppi, Berlin: Nation und nationale Fragen in der<br />
Politik der kommunistischen Bewegung in Deutschland<br />
ò Ludwig Elm, Jena: Die Rechte und das Nationale. Falsche<br />
Antworten auf ein wirkliches Problem<br />
ò Jürgen Elsässer / Winfried Wolf: Streitgespräch „Die Linke<br />
und die Nation“<br />
ò Sabine Kebir, Berlin: Aufgaben einer nationalstaatlichen<br />
Kulturpolitik<br />
ò Domenico Losurdo, Urbino: Nationale Frage, Eroberung der<br />
Hegemonie und „deutscher Sonderweg“<br />
ò David Salomon, Marburg: Hegemonie, Staat und Kultur.<br />
Gramsci, die deutsche Linke und das Problem der Nation<br />
ò Manfred Szameitat, Frankfurt a. M.: Globalisierung und<br />
Nationalstaat<br />
Kostenbeitrag 10 Euro; ermäßigt: 5 Euro.<br />
Aus organisatorischen Gründen wären wir dankbar für eine<br />
Voranmeldung bei Hermann Kopp,<br />
Tel. 0211/6802828, gblomberg@t-online.de.
K 7141<br />
Postvertriebsstück<br />
Gebühr bezahlt<br />
Neue Impulse<br />
Verlag GmbH<br />
Hoffnungstraße 18<br />
45127 Essen<br />
Revolution war das Kriegskind des 20. Jahrhunderts: Besonders<br />
die Russische Revolution von 1917, die die Sowjetunion<br />
gebar, verwandelte sich ... in eine Revolution, die eine<br />
globale Konstante der Jahrhundertgeschichte wurde ...<br />
Die alte Welt war ganz offensichtlich zum Untergang<br />
verdammt. Die alte Gesellschaft, die alte Wirtschaft, das<br />
alte politische System hatten, wie es in einem alten chinesischen<br />
Sprichwort heißt, „das Mandat des Himmels<br />
verloren“. Die Menschheit wartete auf eine Alternative...<br />
Die Russische oder genauer: die bolschewistische Revolution<br />
vom Oktober 1917 war bereit, der Welt dieses<br />
Signal zu geben. Deshalb war sie für dieses Jahrhundert<br />
ein ebenso zentrales Ereignis, wie es die Französische Revolution<br />
von 1789 für das 19. Jahrhundert gewesen war...<br />
Rußland war derart bereit gewesen für eine soziale<br />
Revolution, dass sogar die Massen in Petrograd den Sturz<br />
des Zaren augenblicklich mit der Proklamation von universeller<br />
Freiheit, Gleichheit und direkter Demokratie<br />
gleichsetzten. Lenins außergewöhnliche Leistung bestand<br />
darin, dass er diesen unkontrollierbaren anarchischen<br />
Volksaufstand in eine bolschewistische Macht transformierte<br />
...<br />
Die Armen in den Städten forderten hauptsächlich Brot<br />
und die Arbeiter unter ihnen bessere Löhne und kürzere<br />
Arbeitszeiten. Die Forderungen jener 80 Prozent Russen,<br />
die von der Landwirtschaft lebten, gingen wie eh und je<br />
um ein Stück Land. Alle Gruppen aber wollten gemeinsam,<br />
dass der Krieg beendet werden sollte ... Wer ihre<br />
Forderungen übernahm – „Brot, Friede, Land“ –, fand<br />
sofort Unterstützung; und das waren vor allem Lenins<br />
Bolschewiken, deren kleine Truppe von nur wenigen<br />
Tausenden im März 1917 bis zum Frühsommer desselben<br />
<strong>Jahre</strong>s auf eine Mitgliederzahl von einer Viertelmillion<br />
angeschwollen war. Im Gegensatz zur Mythologie des<br />
Kalten Krieges, die in Lenin im Grunde nur einen Organisator<br />
von Staatsstreichen sah, war seine – und der Bolschewiken<br />
– einzig wirkliche Leistung, dass er zu erkennen<br />
in der Lage war, was die Massen wollten, und dementsprechend<br />
eben auch wusste, dass er führen musste,<br />
indem er ihnen folgte.<br />
Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, Weltgeschichte<br />
des 20. Jahrhundert