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Revolutionstheorie heute ? 90 Jahre Oktoberrevolution ...

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2<br />

<strong>Revolutionstheorie</strong><br />

<strong>heute</strong><br />

?<br />

<strong>90</strong> <strong>Jahre</strong><br />

<strong>Oktoberrevolution</strong><br />

€ 7,50


Bestellung: Neue Impulse Verlag, Tel. 0201-24 86 48 2 Fax 0201-24 86 48 4<br />

E-Mail: NeueImpulse@aol.com


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Mandat für<br />

den langen Krieg<br />

Gerd Deumlich<br />

Der Bundesregierung schwant Ungemach im<br />

Hinblick auf die fällige Verlängerung der<br />

Mandate für den Einsatz der Bundeswehr in<br />

Afghanistan. Die mehrheitliche Ablehnung in<br />

der Bevölkerung beginnt bis in die Reihen der<br />

Koalition durchzuschlagen. Die FAZ argwöhnt:<br />

„Die Zeit, in der die Mandate im Bundestag<br />

‚durchgewunken’ wurden, ist vorbei“<br />

(14.8.2007).<br />

Forsche Erklärungen von Spitzenleuten<br />

der Koalition, dass die Mandate mit Sicherheit<br />

verlängert werden, atmen das Bemühen, ihre<br />

Fraktionen auf Vordermann zu bringen. Dass<br />

jeder dritte SPD-Abgeordnete gegen den<br />

Einsatz von Tornado-Aufklärern stimmte, darf<br />

sich laut Struck „nicht wiederholen“. Außenminister<br />

Steinmeier will Druck damit ausüben,<br />

die Stimmung für den Abzug der Bundeswehr<br />

aus Afghanistan zeuge „für den Einfluss<br />

der geschickten Taliban-Propaganda auf<br />

die Öffentlichkeit im Heimatland“ (FAZ,<br />

14.8.2007). SPD-Thierse hält es für durchschlagend,<br />

die Forderung nach einem Abzug<br />

sei „Verrat an dem Internationalismus, für den<br />

die Sozialdemokraten, die Linken, immer gestanden<br />

haben“ (FAZ, 10.8.2007).<br />

So erbärmlich diese „Argumente” sind – es<br />

wäre leichtfertig, sich auf politischen Verstand<br />

der Abgeordneten zu verlassen. Da hat die für<br />

den 15. September geplante Demonstration in<br />

Berlin kräftig Nachilfeunterricht zu leisten.<br />

Denn es geht nicht um eine parlamentarische<br />

Routineangelegenheit.<br />

Jede erneute Verlängerung des Einsatzes<br />

fügt sich in die Perspektive eines unabsehbar<br />

langen Krieges. Wenn SPD-Beck sagt, „ich<br />

hoffe nicht, dass es länger als zehn <strong>Jahre</strong> dauert“,<br />

folgt er der Prognose des US-Oberbefehlshabers<br />

in Afghanistan. Da ist es auch nur<br />

logisch, wenn sich Kanzlerin Merkel und der<br />

SPD-Vorsitzende darin einig sind, dem Ver-<br />

KOMMENTAR 1<br />

langen von Bush und der NATO nachzugeben,<br />

noch mehr deutsche Soldaten und Polizisten zu<br />

entsenden und sich mehr und mehr an den<br />

mörderischen Kriegsaktionen der USA im<br />

Süden des Landes zu beteiligen.<br />

Solche Politiker sind unfähig oder nicht<br />

willens, sich Rechenschaft darüber abzulegen,<br />

was imperialistische „Ordnungspolitik“ bereits<br />

an Tod, Elend und Chaos angerichtet hat.<br />

Sie halten die Fälle Afghanistan wie Irak für<br />

„unvollendete Kriege“, die noch zu gewinnen<br />

sind, wie der militärpolitische Kommentator<br />

der FAZ, Rühl, befand.<br />

Dass es sich bei dem Vorhaben, die Mandatsverlängerung<br />

durch den Bundestag zu<br />

peitschen, um eine weitreichende Übereinstimmung<br />

mit imperialistischer Kriegspolitik<br />

handelt, beweist auch der zeitliche Zusammenhang<br />

mit den jüngsten Rüstungsprojekten<br />

der Bush-Regierung.<br />

Da ist das Programm zur Entwicklung<br />

neuer Atomsprengköpfe, die nach der US-<br />

Aussenministerin Rice für die Fortsetzung der<br />

nuklearen Abschreckungstrategie in einer<br />

„sehr unsicheren künftigen Sicherheitsumgebung“<br />

unabdingbar seien.<br />

Die schafft jetzt das Programm, in die unsicherste<br />

Region der Welt, den Nahen Osten,<br />

Waffen für 63 Milliarden Dollar zu schicken.<br />

Den Löwenanteil von 30 Milliarden erhält<br />

Israel, der andere Teil geht nach Ägypten,<br />

Saudi-Arabien, Bahrain, Kuwait, Oman, Katar<br />

und die Vereinigten Arabischen Emirate.<br />

Dieser Plan hat viele treffende Kommentare<br />

gefunden, wie z. B.: „Dass ein Rüstungswettlauf<br />

in Nahost eine kluge Strategie ist, um<br />

iranischen Einfluss einzudämmen, kann nur<br />

glauben, wer an andere Mittel nicht mehr<br />

glaubt. Es ist die Logik derer, die Feuer mit Öl<br />

löschen wollen.“ (Frankfurter Rundschau,<br />

30.7.2007) In der Großen Koalition ist man<br />

über beredtes Schweigen oder ein paar Stirnrunzeln<br />

nicht hinausgekommen. Kein Gedanke<br />

daran, dass dieses Abenteurertum des<br />

„atlantischen Verbündeten“ ein hinreichender<br />

Grund sein müsste, mit dem eigenen kriegerischen<br />

Engagement Schluss zu machen. Das<br />

wird die Öffentlichkeit durchsetzen müssen.


2 INHALT<br />

IMPRESSUM<br />

MARXISTISCHE BLÄTTER<br />

Heft 5-07, 45. Jg.<br />

Redaktionsschluss: 15.08.2007<br />

Herausgeberkreis: Gretchen Binus,<br />

Hans-Peter Brenner, Horst Gobrecht,<br />

Arno Grieger, Thomas Hagenhofer,<br />

Hans Heinz Holz, Hans-Joachim<br />

Knoben, Detlef Beyer-Peters, Fred<br />

Schmid, Werner Seppmann, Heinz<br />

Stehr, Peter Strutynski, Wolfgang<br />

Teuber, sowie die gesamte Redaktion<br />

Redaktion: Gerd Deumlich (v.i.S.d.P.),<br />

Tim Engels, Lothar Geisler, Willi Gerns,<br />

Nina Hager, Manfred Idler, Rolf<br />

Jüngermann, Hermann Kopp, Beate<br />

Landefeld, Herbert Lederer, Dieter<br />

Lohaus, Ursula Möllenberg, Robert<br />

Steigerwald, Klaus Wagener<br />

Anschrift: Marxistische Blätter,<br />

Hoffnungstr. 18, D-45127 Essen<br />

Telefon: (0201) 23 67 57<br />

Telefax: (0201) 24 86 484,<br />

E-Mail: MarxBlaetter@compuserve.de<br />

Marxistische Blätter im Internet:<br />

www.marxistische-blaetter.de<br />

Webmaster: nupp@gmx.de<br />

Grafik: KH Pawlitzki<br />

Marxistische Blätter ist Mitglied bei<br />

Linksnet – www.linksnet.de<br />

Verlag: Neue Impulse Verlag GmbH<br />

Telefon: (0201) 24 86 482<br />

Telefax: (0201) 24 86 484<br />

E-Mail: NeueImpulse@aol.com<br />

Anschrift wie Redaktion<br />

Druck: Rollenoffsetdruck Kiel GmbH<br />

Marxistische Blätter erscheinen 6mal<br />

jährlich. Bezug über den Buchhandel<br />

oder direkt ab Verlag. Einzelheft 7,50<br />

EUR; <strong>Jahre</strong>sabonnement 42,50 EUR.<br />

Verbilligtes <strong>Jahre</strong>sabo (für Schüler-<br />

Innen, Studierende, Arbeitslose und<br />

andere Geringverdienende, auch im<br />

europäischen Ausland): 27,50 EUR.<br />

Ausland und Streifbandbezug:<br />

plus 7,50 EUR Versandkostenzuschlag.<br />

Mindestbezugszeitraum 12 Ausgaben<br />

(2 <strong>Jahre</strong>). Das Abonnement verlängert<br />

sich um jeweils ein Jahr, wenn es nichtspätestens<br />

sechs Wochen vor Ende des<br />

Bezugszeitraumes schriftlich gekündigt<br />

wird.<br />

Bankverbindung: Postbank Essen<br />

33 709-432. BLZ 360 100 43.<br />

Änderungen der Anschrift sind dem<br />

Verlag unverzüglich bekannt zu geben.<br />

Namentlich gezeichnete Beiträge geben<br />

nicht unbedingt die Meinung der<br />

Redaktion wieder.<br />

Heft 6-2007 erscheint Anfang<br />

Mitte November 2007<br />

DER KOMMENTAR<br />

Mandat für den langen Krieg<br />

Von Gerd Deumlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 1<br />

AKTUELL<br />

Das Streikrecht in Gefahr/Telekomstreik 2007<br />

Von Volker Metzroth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 4<br />

Initiative Alte Soziale Marktwirtschaft<br />

Von Georg Fülberth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 7<br />

Verfassungs-und Völkerrecht beiseite geschoben<br />

Von Gregor Schirmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 10<br />

Wohin geht die Europäische Union?<br />

Von Andreas Wehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 14<br />

Palästina: Zwei Regierungen und kein Staat<br />

Von Margret Johannsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 18<br />

DAS THEMA<br />

<strong>Revolutionstheorie</strong> <strong>heute</strong>/<strong>90</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Oktoberrevolution</strong> . . .S. 24<br />

Clara Zetkin über die <strong>Oktoberrevolution</strong><br />

und die sozialistische Perspektive<br />

Von Heinz Karl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 25<br />

Die <strong>Oktoberrevolution</strong> und der<br />

Kommune-Entwurf von Karl Marx<br />

Von Uwe-Jens Heuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 33<br />

Revolutionen – noch Lokomotiven der Geschichte?<br />

Von Nina Hager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 43<br />

Wo geht’s denn hier zu Veränderungen?<br />

Von Leo Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 51<br />

Der Marxismus über revolutionäre<br />

Situationen und die Gegenwart<br />

Von Hans-Peter Brenner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 58<br />

Revolutionäre Theorie für revolutionäre Praxis<br />

Von Hans Heinz Holz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 66


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

POSITIONEN<br />

„Koba, wozu brauchst Du meinen Tod?“<br />

Zu den Moskauer Prozessen 1936/38<br />

Von Robert Steigerwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 76<br />

Schostakowitsch und die<br />

Delegitimierung sozialistischer Kunst<br />

Von Thomas Metscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 83<br />

Zur Berliner Marxismus-Konferenz<br />

Von Robert Steigerwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 92<br />

DISKUSSION<br />

Gegen Gewalt sein heißt Gegengewalt sein<br />

Von Mischa Aschmoneit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 94<br />

BÜCHER<br />

Georg Fülberth, Finis Germaniae<br />

– Deutsche Geschichte seit 1945<br />

(Jörg Miehe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 98<br />

Eckart Spoo (Hg.) Tabus der bundesdeutschen Geschichte<br />

(Hermann Kopp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 101<br />

Bernhard Schmid, Das Frankreich<br />

der Reaktion – Neofaschismus und<br />

modernisierter Konservatismus<br />

(Georg Polikeit). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 102<br />

Autorenkollektiv (Weidong Cao u.v.a.)<br />

Großer Widerspruch China<br />

(Lars Mörking) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 104<br />

Heinz Langer „Kuba – La revolucion<br />

dinámica/Die lebendige Revolution“<br />

(Heinz W. Hammer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 108<br />

Jürgen Roth/Rainer Nübel/Rainer Fromm: Anklage<br />

unerwünscht! Korruption und Willkür in der deutschen Justiz<br />

(Diemar Jochum). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 111<br />

Es schreiben diesmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 113<br />

Verantwortlich für das Schwerpunkt-Thema: Willi Gerns<br />

Dieser Ausgabe der Marxistischen Blätter liegt<br />

ein Überweisungsträger für Spenden auf das Konto des Neue Impulse Verlages<br />

(Kto.Nr.: 33709-432 bei der Postbank Essen, BLZ 360100 43) bei. Wir bitten unsere<br />

Leserinnen und Leser davon zur Unterstützung unserer Zeitschrift regen Gebrauch<br />

zu machen.<br />

Zu den Abbildungen<br />

3<br />

Unser Titelfoto von<br />

Arkadij Schajchet „Komsomolze<br />

am Steuer“exponiert,<br />

dass Revolutionen in<br />

das Rad der Geschichte<br />

eingreifen.<br />

„Friede den Hütten, Krieg<br />

den Palästen“(1918/19) –<br />

mit diesem klassischen<br />

Sujet hatte sich Marc<br />

Chagall damals an die<br />

Seite der <strong>Oktoberrevolution</strong><br />

gestellt.<br />

Nach 1917 entstand eine<br />

reiche Kunst, die die Revolution<br />

propagierte, berühmt<br />

die „Rosta-Fenster“. Durch<br />

das Blatt von Wladimir<br />

Koslinski (1921) fehlte<br />

nicht der Stolz, dass im<br />

Roten Oktober die Pariser<br />

Commune von 1871 ihre<br />

Wiederauferstehung fand.<br />

Alexander Bloks<br />

Revolutionspoem „Die<br />

Zwölf“ (1918) , in dem er<br />

die Rotgardistenpatrouille<br />

in einer Symbiose mit den<br />

zwölf Jüngern Jesu sah,<br />

inspirierte Fritz Cremer zu<br />

einer Bildgeschichte, in der<br />

Kreuzigung, Kreuzabnahme<br />

und proletarische<br />

Revolution als endliche<br />

Menschwerdung versinnbildlicht<br />

sind.<br />

Das Blatt „Revolutionstruppen“<br />

(1919) von<br />

Wadim Falilejew verweist<br />

uns darauf, dass die große<br />

Umwälzung mit der Herausforderung<br />

zu revolutionärer<br />

Gewalt verbunden<br />

war.


4 Volker Metzroth: Telekomstreik<br />

Streikrecht in Gefahr<br />

In Deutschland sind nicht Wenige, vornehmlich<br />

die Herren des großen Geldes, mächtig<br />

stolz darauf, dass „das deutsche Modell der<br />

Tarifpartnerschaft ... den Unternehmen im<br />

weltweiten Vergleich eine einmalig geringe<br />

Zahl von Streik-Ausfalltagen beschert“<br />

(Spiegel 22 / 2007). Die beruhigende Rechnung<br />

ist jedoch in den letzten Monaten<br />

durch eine beträchtliche Zahl von Streiks<br />

ziemlich durcheinander geraten: im Gesundheitswesen,<br />

im Einzelhandel, in der<br />

Baubranche, bei der Telekom ... dazu Warnstreiks<br />

in der Metallindustrie, bei Banken, in<br />

der öffentlichen Verwaltung.<br />

Da kommt es der Kapitalseite gerade<br />

recht, dass die Deutsche Bahn der Streikbereitschaft<br />

der Lok-Führer mit Anträgen<br />

auf Streikverbot entgegentrat und sich<br />

geneigte Richter fanden. Der Angriff auf<br />

ein Grundrecht – das bezeichnenderweise<br />

nicht im Grundgesetz steht – ist genauso<br />

skandalös wie die Begründungen. Die sonst<br />

nicht genug „Flexibilität“ bekommen können,<br />

sorgen sich auf einmal um die<br />

„Tarifeinheit“. Weil sie sich für ein Streikverbot<br />

gebrauchen lässt – das Interesse an<br />

einheitlicher gewerkschaftlicher Kampfkraft<br />

ist nicht ihres, dieses Problem muss in<br />

unseren Gewerkschaften selbst ausgetragen<br />

werden.<br />

Worum es der Kapitalseite geht, offenbart<br />

sich in der Genugtuung über die<br />

Richtersprüche, Streik sei rechtswidrig und<br />

zu verbieten, weil der Schaden, der der<br />

„Wirtschaft“ entstünde schwerer wiegt, als<br />

ein Streikrecht. Das muss Schule machen,<br />

auf dass es zur Norm wird, dass die Profitinteressen<br />

des Kapitals über allem stehen.<br />

Gegen diese Anmaßung wird künftig das<br />

Streikrecht zu verteidigen sein.<br />

Der folgende Bericht über den Telekomstreik<br />

gibt ein realistisches Bild davon, wie<br />

es um die Entfaltung gewerkschaftlicher<br />

Kampfkraft bestellt ist.<br />

Telekomstreik 2007<br />

Volker Metzroth<br />

Als „Niederlage mit Schadensbegrenzung“<br />

schätzte der Autor den Abschluß nach dem<br />

Telekomstreik vor 400 ver.di-Vertrauensleuten<br />

ein. In der Urabstimmung stimmten 72<br />

Prozent trotz Arbeitszeitverlängerung ohne<br />

Lohnausgleich zu, weil eine Sicherung der<br />

Nominallöhne sowie individueller und kollektiver<br />

Schutzrechte durchgesetzt wurde. Der<br />

Arbeitskampf bei der Telekom wurde von den<br />

Gewerkschaften als branchenübergreifender,<br />

gar gesamtgesellschaftlicher erkannt,<br />

nicht aber als solcher konsequent geführt.<br />

Die Telekom entstand gegen den Widerstand<br />

der Postgewerkschaft nach der Postprivatisierung<br />

durch CDU/CSU und FDP, unterstützt<br />

von Teilen der SPD, die Kohl zur notwendigen<br />

2/3-Mehrheit verhalfen. 5 <strong>Jahre</strong><br />

nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in<br />

Europa wurde der Börsengang zu einem gewaltigen<br />

Propagandamanöver für die neoliberale<br />

Kapitalismusvariante. Nicht mehr Tarifabschlüsse<br />

und gesetzliche Sozialversicherungen<br />

sollten Garant einer gesicherten Zukunft<br />

sein, sondern „Volksaktien“. Nach dem Absturz<br />

der anfangs steil hoch schießenden Börsenkurse<br />

legte sich der Jubel über „mehr<br />

Aktionäre als Gewerkschaftsmitglieder“,<br />

auch den meisten Telekom-Beschäftigten<br />

wurde wieder klar, daß eine erfolgreiche Tarifpolitik<br />

wichtiger ist als der Kurs der T-Aktie.<br />

Nach der Privatisierung wurden über<br />

120 000 inländische Arbeitsplätze vernichtet.<br />

Gleichzeitig ging der Konzern national und<br />

weltweit auf Einkaufskurs (z. B. die frühere<br />

EDV-Sparte von Daimler, DEBIS). 17 Umorganisationen<br />

führten zu einem kaum überschaubaren<br />

Geflecht von Firmen, „Töchtern“<br />

und Beteiligungen, aber auch zu einem tarifpolitischen<br />

Flickenteppich. Während im ökonomischen<br />

Rückgrat, der Festnetzsparte,<br />

75 Prozent der Beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder<br />

sind, waren es bei T-Online z. B.<br />

nicht einmal 10 Prozent. Ohne einheitlichen<br />

Konzerntarifvertrag entstanden an den „Rän-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

dern“ schlechter tarifierte Bereiche, was sich<br />

verhängnisvoll auswirkte.<br />

Die Postgewerkschaft und später der<br />

ver.di-Fachbereich 9 waren lange Zeit erfolgreich<br />

bei der Regulierung der Arbeitsbedingungen<br />

in den Kernbereichen. Der Arbeitsplatzabbau<br />

geschah aus Sicht der Betroffenen<br />

„sozialverträglich“, ohne Entlassungen.<br />

Aber der Arbeitsdruck stieg, besonders<br />

nachdem die großen Rationalisierungspotentiale<br />

der Digitalisierung ausgeschöpft<br />

waren. Zur erhofften Wertsteigerung der um<br />

ihren Ausgabekurs dümpelnden T-Aktie<br />

wurde weiter Personal abgebaut, auch um den<br />

Preis der Verschlechterung des Services und<br />

der Kundenzufriedenheit. Allein 2006 wurden<br />

fast 3 Mrd. Euro für Frühpensionierungen und<br />

Abfindungen ausgegeben, um weitere Jobs<br />

abzubauen. Der Bilanzgewinn sank deshalb<br />

auf 3,2 Mrd. Dennoch wurden 3,1 Mrd.<br />

Dividende ausgeschüttet, mit 5 Prozent vom<br />

Umsatz die mit Abstand höchste aller DAX-<br />

Unternehmen. Der Konzern steht ökonomisch<br />

unter dem Druck einer gegen ihn<br />

gerichteten Regulierungspolitik, die Beschäftigten<br />

unter dem von Niedriglöhnen und<br />

Sozialdumping in weiten Teilen der Branche.<br />

Zeitgleich zur Ablösung Rickes durch<br />

Obermann im Herbst 2006 wurden die Pläne<br />

zur Ausgliederung von 50 000 Beschäftigten<br />

bekannt, deren Gehälter man als um 30 bis<br />

50 Prozent über „Marktpreisen“ bezeichnete.<br />

Management und Kapitaleigner verabschiedeten<br />

sich von der sozialpartnerschaftlichen<br />

Variante der Profitmaximierung. Das belegten<br />

die Verkäufe von Call-Centern, was den<br />

Beschäftigten einen tarifpolitischen Absturz<br />

brachte. Ergebnis fehlender Verankerung in<br />

der Callcenterbranche waren Tarifverträge des<br />

Fachbereichs 13, die nach einer Übergangszeit<br />

Stundenlöhne von 6,20 Euro vorsehen.<br />

Als Hauptaktionär mit 31,5 Prozent trägt<br />

die Bundesregierung hier die Hauptverantwortung.<br />

Unter Vizekanzler Müntefering,<br />

im Wahlkampf „Heuschrecken-Kritiker“,<br />

wurden 4,5 Prozent der Aktien vom Bund an<br />

Blackstone verkauft wohl mit der Absicht,<br />

von den Erfahrungen der „Heuschrecke“<br />

AKTUELL 5<br />

beim Hochtreiben von Profiten und Aktienkursen<br />

zu Lasten von Belegschaften zu profitieren.<br />

Die Ausgliederung beschloß der Aufsichtsrat<br />

am 28.02.07 mit den Stimmen der<br />

Vertreter des Bundes, Staatssekretär Dr.<br />

Mirow und Ingrid Matthäus-Meier von der<br />

bundeseigenen KfW-Bank, beide SPD. Die<br />

Interessen von 50 000 Beschäftigten, 13 000<br />

demonstrierten vor dem Haus, waren diesen<br />

„Spezialdemokraten“ hier so egal wie<br />

Wochen später, als gegen die Stimmen der<br />

Arbeitnehmerverteter Dr. Thomas Sattelberger<br />

zum Arbeitsdirektor bestellt wurde.<br />

Zur Tarifrunde 2006 initiierte der Fachbereich<br />

9 ein „Tarifprojekt“, das auf stärkere<br />

Mitgliederbeteiligung orientierte. Die Tarifrunde,<br />

in der das Telekom-Management Gegenforderungen<br />

in Gesamthöhe von ca. 800<br />

Mio. Euro erhob, endete mit einem 3 Prozent-<br />

Abschluß nach Warnstreik und Schlichtung<br />

relativ erfolgreich. Vielfach wird jetzt kritisiert,<br />

dass kein vergleichbarer Prozeß zur Entwicklung<br />

eigener Forderungen und deren Durchsetzung<br />

vor der Ausgliederung stattfand.<br />

Ver.di forderte einen Ausgliederungsschutz.<br />

Der sollte beinhalten, daß der „alte“<br />

Arbeitgeber T-Com seinen Ex-Beschäftigten<br />

nach der Ausgliederung alle materiellen<br />

Nachteile durch entsprechende Zahlungen<br />

ausgleicht. „Dann könnten wir uns die Ausgliederung<br />

ja gleich sparen“, soll der Verhandlungsführer<br />

der Telekom darauf entgegnet<br />

haben. Der Konzern legte ein Forderungspaket<br />

mit einer Arbeitszeitverlängerung<br />

um 4 Std. ohne Lohnausgleich und 12 Prozent<br />

abgesenkten „<strong>Jahre</strong>szielgehältern“ bei noch<br />

stärker minimierten festen Einkommensbestandteilen,<br />

Absenkung von Einstiegslöhnen,<br />

Ausfall mehrerer Tarifrunden u. v. a. m. vor.<br />

Nach gewerkschaftlichen Berechnungen ein<br />

Minus von über 40 Prozent. Am 12. April begannen<br />

die Warnstreiks. Nach 5 Verhandlungsrunden<br />

erklärte ver.di die Verhandlungen<br />

für gescheitert und rief für den 7. bis 9.<br />

Mai zur Urabstimmung auf. Über 96 Prozent<br />

der Abstimmenden stimmten für den Streik.<br />

Die Beamten in den bedrohten Bereichen –<br />

ca. 50 Prozent des Personals – waren zur Soli-


6<br />

Volker Metzroth: Telekomstreik<br />

daritätsabstimmung aufgerufen. Auch deren<br />

Ergebnis lag bei 96 Prozent.<br />

Das Telekom-Management zog alle Register<br />

gegen den Streik: er sei rechtswidrig,<br />

schrieb man den Beschäftigten, laut ver.di<br />

wurden rechtswidrige Notdienste angeordnet<br />

und Beamte teilweise als Streikbrecher mißbraucht<br />

sowie „Judasprämien“ (so von Streikenden<br />

genannt) an Streikbrecher bezahlt, um<br />

nur einiges zu nennen. Die Streikenden wurden<br />

dadurch mehr motiviert als abgeschreckt.<br />

Sie entfalteten viele Aktivitäten, von Flugblattverteilungen,Unterschriftensammlungen,<br />

Informationsständen über örtliche bis hin<br />

zu regionalen Demonstrationen. Zahlreiche<br />

neue ver.di-Mitglieder wurden gewonnen.<br />

Wie in den Gewerkschaften, welche die<br />

Gefahr eines tarifpolitischen Dammbruches<br />

sahen, genossen die Streikenden in der Bevölkerung<br />

große Sympathie für ihren Kampf.<br />

Die Opfer und Bedrohten des betrieblichen<br />

und staatlichen Sozialabbaus sahen zustimmend,<br />

daß sich da eine Belegschaft wehrte.<br />

Während sich Politiker von CDU/CSU/FDP/<br />

SPD/GRÜNE vor bestreikten Betrieben und<br />

bei Streikversammlungen kaum sehen ließen,<br />

wurde Solidarität von Kirchenvertretern,<br />

Gewerkschaftern und linken Politikern freudig<br />

aufgenommen. Die Protokolle der von der<br />

LINKEN angestoßenen Bundestagsdebatten<br />

desillusionierten bezüglich der Rolle der SPD.<br />

Das spürte die „SPD-Linke“ Andrea Nahles<br />

in Mainz, wo sie bei einer Kundgebung von<br />

über 3 000 Streikenden ununterbrochen ausgepfiffen<br />

wurde.<br />

Nach der 5. Streikwoche lag ein nur wenig<br />

verbessertes „Angebot“ der Telekom vor. Was<br />

letztendlich die Gründe waren, nun wieder in<br />

Verhandlungen mit einem Zeitplan zur Einigung<br />

einzutreten, ist vielen bis <strong>heute</strong> unklar.<br />

Die Telekom drohte, die Ausgliederung nach<br />

§ 613a BGB ohne einen Tarifabschluß durchzuziehen<br />

und in den drei im Mai mit wenigen<br />

Beschäftigten gegründeten GmbHs Tarife aus<br />

den o. g. „Randbereichen“ der Telekom anzuwenden.<br />

Entgegen früherer Ankündigungen,<br />

auch über den 30.06.2007 hinaus streiken zu<br />

können, hieß es nun, die Ausgliederung von<br />

50 000 Beschäftigten führe nicht nur zu einer<br />

massiven Verschlechterung für die Betroffenen,<br />

sondern erfordere auch einen längeren<br />

Prozeß der Wiedererlangung einer rechtlichen<br />

Streikfähigkeit. Genau dieses Szenario hatte<br />

das Telekom-Management aber schon vor<br />

Monaten angedroht, es war also nichts Neues.<br />

Der Abschluß sichert dem vorhandenen<br />

Personal über teilweise komplizierte Mechanismen<br />

auf einige <strong>Jahre</strong> die Nominallöhne.<br />

4 Std. Mehrarbeit bedeutet den Verlust der<br />

knapp 7 Prozent, die 2004 für 34-Std.-Woche<br />

geopfert wurden. Mit dem Ausfall der Lohntarifrunde<br />

2007 zusammen wurden die Stundenlöhne<br />

um ca. 10 Prozent gesenkt. Heilig<br />

Abend und Silvester werden wieder Arbeitstage.<br />

Barabgeltungen statt Zeitgutschriften<br />

bei ungeplanten Schichten und Rufbereitschaften<br />

verlängern zusätzlich die Arbeitszeit.<br />

Wenn dennoch 72 Prozent der Streikenden<br />

dem Abschluß zustimmten, war das neben<br />

dem o. g. Szenario (Tarifverträge aus den<br />

„Randbereichen“, keine rechtliche Streikfähigkeit,<br />

kein erkennbares Konzept für den<br />

weiteren Arbeitskampf) bei einer Ausgliederung<br />

ohne Tarifabschluß der Sicherung kollektiver<br />

und individueller Schutzrechte geschuldet,<br />

darunter der Rationalisierungsschutz<br />

und individuelle Unkündbarkeitsregelungen<br />

sowie ein Kündigungsschutz bis 2012.<br />

Zudem sollen über 4 000 Jugendliche zu abgesenkten<br />

Einstiegslöhnen direkt in den GmbHs<br />

eingestellt werden, statt wie bisher bei einer<br />

konzerneigenen Leiharbeitsfirma zu noch<br />

schlechteren Bedingungen.<br />

Am Tag des Abschlusses stieg der Börsenkurs<br />

der T-Aktie, um tags darauf wieder zu<br />

fallen, nachdem die Analysten erkannt hatten,<br />

daß dies – so ein Kommentar – doch nicht<br />

„Obermanns großer Wurf“ war. Der 6-wöchige<br />

Streik endete nicht mit einem totalen<br />

Durchmarsch des Kapitals und einem Dammbruch<br />

auf breiter Front.<br />

Ob ein gewerkschaftlich organisierter Widerspruch<br />

gegen die Ausgliederung nach<br />

§ 613a BGB erfolgreich hätte sein können,<br />

bleibt umstritten. Für ca. 25 000 Beamte galten<br />

andere Regelungen. Hätten von ca. 20 000


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Streikenden 80 Prozent widersprochen, wäre<br />

das nicht ein Drittel der Belegschaft gewesen.<br />

Hätte das gereicht?<br />

Die Gründe für das unbefriedigende Ergebnis<br />

sind eng verknüpft mit der Tradition<br />

und Gegenwart der deutschen Gewerkschaften.<br />

Anders als in anderen westeuropäischen<br />

Ländern erkämpften sie sich nie das Streikrecht,<br />

sondern ließen sich in das bundesrepublikanische<br />

Arbeitskampfrecht „einsperren“.<br />

Dieses anerkennt den Streik nur in engem<br />

Rahmen zur Durchsetzung „tariffähiger“ Forderungen.<br />

Deshalb richtete sich der Telekom-<br />

Streik nicht gegen die Entscheidung der Eigentümer,<br />

50 000 Beschäftigte in drei GmbHs<br />

auszugliedern. Dem Gebrauch des § 613a<br />

BGB zum tariflichen Rollback wurde nicht<br />

das gleiche Mittel entgegengesetzt wie beim<br />

Erkämpfen vieler gefährdeter Errungenschaften.<br />

Die Hälfte der Beschäftigten in den<br />

bestreikten Bereichen wurde nicht mit einbezogen.<br />

Das war zum einen wegen „Nichtbetroffenheit“<br />

das „Netzmanagement“, weshalb<br />

der Streik keine volle Wirkung entfalten<br />

konnte. Zum anderen waren das die Beamtinnen<br />

und Beamten, die längst keine hoheitsrechtlichen<br />

Aufgaben mehr haben, sondern<br />

die gleiche Arbeit wie das Tarifpersonal<br />

machen. Die historische Chance, die Frage des<br />

Beamtenstreiks endlich zu klären, wurde vertan.<br />

Andere Sparten der Telekom wurden<br />

nicht mit einbezogen, obwohl Angriffe auf die<br />

Konditionen der Beschäftigten auch dort an<br />

der Tagesordnung sind.<br />

Ein Solidaritätsstreik in Slowenien wurde<br />

freudig begrüßt, in der BRD gab es keinen<br />

einzigen. Örtlich und regional gab es Proteste<br />

gegen die Rolle der „Politik“, die geplante<br />

Großdemo am 25. Juni in Berlin wurde aber<br />

wieder abgeblasen.<br />

Nachdem der frühere „Verbündete“ SPD,<br />

von dem man sich in zugespitzten Situationen<br />

gesetzliche Lösungen erhoffte, seit Schröders<br />

„Agenda 2010“ endgültig abhanden kam, stehen<br />

der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften<br />

Angriffen auf den Kern ihrer Errungenschaften<br />

ziemlich konzeptionslos gegenüber.<br />

Wer nun glaubt, aus der ultralinken<br />

AKTUELL 7<br />

Ecke vom „Verrat der Führung“ reden zu<br />

müssen, hilft niemandem weiter. Es fehlt auf<br />

allen Ebenen an der grundlegenden Erkenntnis,<br />

daß Kämpfe mit gesamtgesellschaftlichen<br />

Auswirkungen auch als solche geführt werden<br />

müssen. Das setzt eine grundsätzliche Kritik<br />

am Kapitalismus und das Suchen nach Alternativen<br />

ebenso voraus wie das Gewinnen<br />

von Bündnispartnern, mit denen man durch<br />

gleiche Interessen verbunden ist. Jeder Infostand<br />

z. B., an dem Linke für Solidarität mit<br />

den Telekombeschäftigten warben, der Desinformation<br />

durch viele Medien entgegen traten,<br />

beförderte die dazu notwendige Diskussion.<br />

Bei der Telekom schlugen sich 20 000 wenig<br />

streikerfahrene Kolleginnen und Kollegen in<br />

einem insgesamt 9-wöchigen Arbeitskampf<br />

hervorragend. In den Betrieben von ehrenamtlichen<br />

Funktionären geführt, entwickelten<br />

sie vielfältige Initiativen und Aktivitäten und<br />

sammelten wertvolle Erfahrungen. Sie bewiesen,<br />

daß sie bereit und fähig sind, ihre Interessen<br />

kämpferisch zu vertreten. Das kann<br />

das für die Zukunft wichtigste Ergebnis des<br />

Telekomstreiks sein.<br />

Initiative Alte Soziale<br />

Marktwirtschaft<br />

Georg Fülberth<br />

Am 9. Juli erschien in der „Frankfurter Allgemeinen<br />

Zeitung für Deutschland“ ein ganzseitiger<br />

Aufsatz von Oskar Lafontaine: „Freiheit<br />

durch Sozialismus“. Viele werden sich die Augen<br />

gerieben haben: Dieser Autor mit diesem<br />

Thema in diesem Blatt? Wie kommt das?<br />

Verschwörungstheoretiker könnten vermuten,<br />

die FAZ habe ein Interesse daran, „Die<br />

Linke“ aufzubauen, um die SPD zu schwächen.


8<br />

Georg Fülberth: Initiative Alte Soziale Marktwirtschaft<br />

Denkbar ist aber auch, dass die „Frankfurter<br />

Allgemeine“ gerade in ihrer Eigenschaft<br />

als repräsentative konservative Zeitung<br />

einer Berichtspflicht nachkommen wollte.<br />

Offenbar ist man dort der Ansicht, dass die<br />

neue Partei „Die Linke“ auf absehbare Zeit<br />

eine Tatsache ist, mit der zu rechnen und die<br />

deshalb in Augenschein zu nehmen ist. Dazu<br />

gehört auch, dass sie zu Wort kommt. Kommentieren<br />

kann man sie ja immer noch nach<br />

eigenem Gusto.<br />

Hat Oskar Lafontaine in der FAZ sein<br />

Sozialistisches Manifest verkündet? Nein,<br />

oder, genauer: nicht nur dort. Er äußert sich in<br />

unterschiedlichen Medien und trägt das, was<br />

er für richtig hält, so vor, wie es seiner Meinung<br />

nach in der jeweiligen Umgebung verstanden<br />

werden soll – in der BILD-Zeitung<br />

(das ist allerdings ein paar <strong>Jahre</strong> her), in der<br />

„Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland“<br />

und in der „jungen Welt“. Zwar hängt er<br />

sein Mäntelchen nicht nach dem Wind, aber er<br />

(oder sein Ghostwriter) bedenkt die Aufnahmefähigkeit<br />

des Publikums, das von Organ<br />

zu Organ anders ist. Es kann reizvoll sein, den<br />

FAZ-Text mit einem anderen Dokument zu<br />

vergleichen: der Rede „Was ist die Linke?<br />

Grundlinien linker Politik“, die Lafontaine<br />

auf der XI. internationalen Rosa-Luxemburg-<br />

Konferenz am 14. Januar 2006 in Berlin vorgetragen<br />

hat. Der Inhalt ist derselbe, die Verpackung<br />

anders. In der FAZ wendet sich Lafontaine<br />

an das Publikum einer Zeitung, die<br />

sich selbst als „liberal-konservativ“ versteht.<br />

„Liberal“ steht hier für „wirtschaftsliberal“.<br />

Wie kann er es anfangen, dass dort nicht<br />

gleich abgeschaltet wird?<br />

Er beginnt mit einem Zitat des Papstes<br />

Johannes Paul II. über den Kapitalismus: „Die<br />

menschlichen Defizite dieses Wirtschaftssystems,<br />

das die Herrschaft der Dinge über die<br />

Menschen festigt, heißen Ausgrenzung, Ausbeutung<br />

und Entfremdung.“ Solche Sätze<br />

könnte man auch bei anderen Autoren finden,<br />

hätte sie aber gerade bei diesem Absender<br />

nicht unbedingt erwartet. Wir stoßen hier<br />

gleich am Anfang auf eine Besonderheit der<br />

Zitierweise Lafontaines: er ruft Zeugen auf,<br />

die in der Regel für andere Äußerungen bekannt<br />

sind, und transportiert über deren für<br />

die Linke eher untypischen, seinem Publikum<br />

aber geläufigen Namen seine eigene Botschaft.<br />

Marx und Keynes fehlen.<br />

Zurück zu Wojtyla. Lafontaine ist Katholik.<br />

Die wirtschafts- und sozialpolitische Position<br />

von Johannes Paul II. ist niedergelegt in der<br />

Enzyklika „Centesimus annus“ von 1991, die<br />

ihrerseits in der Nachfolge von „Rerum Novarum“<br />

(Leo XIII., 1891) und „Quadragesimo<br />

anno“ (Pius XI., 1931) steht. Sie alle gehen<br />

zurück auf Thomas von Aquin (1225-1274)<br />

und gehören zur Katholischen Soziallehre, die<br />

in der Bundesrepublik durchaus einflussreich<br />

gewesen ist, unter anderem durch Oswald von<br />

Nell-Breuning (18<strong>90</strong>-1991). Der rechte Gewerkschaftsführer<br />

Georg Leber bekannte sich<br />

zu ihr, und auf dieser Spur kam sie auch in die<br />

Programmatik des DGB – zumindest wurde<br />

dafür gesorgt, dass dort nichts stand, was damit<br />

unverträglich wäre.<br />

Selbst der Begriff „demokratischer Sozialismus“,<br />

den Lafontaine verwendet, stammt<br />

in gewisser Weise aus den Fünfzigerjahren.<br />

Zwar hat ihn in der Weimarer Republik schon<br />

Karl Kautsky verwendet, aber die Karriere<br />

dieser Wörter-Kombination begann erst mit<br />

der Gründung der sozialdemokratischen Sozialistischen<br />

Internationale (1951), die sich<br />

damit von Kommunismus und Konservatismus<br />

abgrenzen wollte. Dies war auch die Zeit,<br />

als die „Freiheit“ gegen den Kollektivismus<br />

gesetzt wurde. Lafontaine stellt sie ebenfalls<br />

zentral, nun allerdings gegen den freiheitsberaubenden<br />

Marktradikalismus.<br />

Das nächste Zitat ist Rousseau entnommen:<br />

„Zwischen dem Schwachen und dem<br />

Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt,<br />

und das Gesetz, das befreit.“ Derlei kann man<br />

auch woanders finden, Rousseau aber ist<br />

Bildungsgut. Zu Lafontaine passt er besonders<br />

wegen dessen häufig – auch in diesem<br />

Aufsatz – vorgetragenen Bekenntnisses zur<br />

plebiszitären Demokratie.<br />

Sehr überraschend ist aber der nächste Zeuge:<br />

Oswald Spengler (1880-1936) war einer der<br />

Vordenker der „Konservativen Revolution“,


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

den die Nazis gern für sich reklamiert hätten,<br />

denen er sich aber verweigerte, sogar noch<br />

nach 1933. Dafür verehrte er umso mehr<br />

Mussolini. Er vertrat einen „Deutschen Sozialismus“:<br />

eine Kombination aus Elitenherrschaft<br />

und Gemeinwirtschaft. Lafontaine zitiert von<br />

ihm: „Die Kolonial- und Überseepolitik wird<br />

zum Kampf um Absatzgebiete und Rohstoffquellen<br />

der Industrie, darunter in steigendem<br />

Maße um die Ölvorkommen.“ Das lesen wir<br />

auch bei dem britischen Linksliberalen John A.<br />

Hobson (1858-1940) und Lenin.<br />

Ein weiterer Zeuge, Jean Jaurès, ist ein<br />

Märtyrer der sozialistischen Friedensbewegung.<br />

Am 31. Juli 1914 wurde er ermordet. In<br />

der II. Internationale gehörte er nicht zu den<br />

Marxisten, sondern setzte sich mit ihnen<br />

(unter anderem in einer berühmten Kontroverse<br />

mit Bebel) auseinander. Der entschiedene<br />

Nicht-Materialist bezog – anders als einige<br />

seiner Genossen vom marxistischen Flügel –<br />

sofort eindeutig Position für den verfolgten<br />

Juden Dreyfus. Im Kampf gegen die Kriegsgefahr<br />

plädierte er für den Generalstreik. Die<br />

fatalistische Auffassung, der Krieg sei unter<br />

kapitalistischen Verhältnissen unabwendbar<br />

und werde erst mit ihnen verschwinden, war<br />

ihm unerträglich. Gerade sein Idealismus<br />

machte ihn zum Aktivisten. Lafontaine entnimmt<br />

seinem Erbe ein Zitat, das charakteristisch<br />

ist für den sprachgewaltigen und im<br />

eher guten Sinn pathetischen Jaurès: „Der<br />

Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die<br />

Wolke den Regen.“<br />

Dass anschließend Dwight D. Eisenhower<br />

als Zeuge gegen den Militärisch-Industriellen<br />

Komplex bemüht wird (und nicht etwa Baran/Sweezy),<br />

entspricht ebenfalls seiner bündnistaktischen<br />

Zitiertechnik. Anschließend<br />

weist er darauf hin, dass der Demokratische<br />

Präsidentschaftskandidat von 2004, John F.<br />

Kerry, zwar Ölkriege und Umweltzerstörung<br />

kritisiert, aber, anders als Eisenhower, den<br />

Zusammenhang mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung<br />

unterschlägt.<br />

Indem Lafontaine dann seine wirtschaftspolitischen<br />

Vorschläge unterbreitet, macht er<br />

das, was er unter Sozialismus versteht, der<br />

AKTUELL 9<br />

Überprüfung zugänglich. Es handelt sich zunächst<br />

um die gesellschaftliche Kontrolle über<br />

Energiewirtschaft und den Militärisch-Industriellen<br />

Komplex. Vor allem die bislang<br />

„privatwirtschaftlich organisierte Waffenindustrie“<br />

sei „einer demokratischen und gesellschaftlichen<br />

Kontrolle zu unterwerfen“. In<br />

welcher Eigentumsform dies geschehen soll,<br />

wird nicht gesagt. Präziser wird Lafontaine bei<br />

der Energiewirtschaft. Sie sei „zu rekommunalisieren“.<br />

Hier ist einiges zu fragen. Zu<br />

Beginn des 20. Jahrhunderts, teilweise auch<br />

noch in den folgenden Jahrzehnten, gab es<br />

städtische Elektrizitäts- und Gaswerke. Dort<br />

wurde Energie erzeugt, nicht nur verkauft.<br />

Heute sind die Stadtwerke lediglich noch für<br />

die Verteilung zuständig. Es ist schwer vorstellbar,<br />

wie die Funktionen der mächtigen<br />

überregionalen Versorger wieder auf die lokale<br />

Ebene zurückgebracht werden können. Lafontaine<br />

fordert genau dies: „Eine umweltfreundliche<br />

Nutzung der Energievorräte der<br />

Erde muß dezentral sein.“ Denkbar ist das<br />

zunächst wohl für die „alternative(n) Energien“,<br />

deren Ausbau er fordert. Er ist der<br />

„Auffassung, dass Wirtschaftsbereiche, die auf<br />

Netze angewiesen sind und die Grundversorgung<br />

der Bevölkerung sicherstellen, in gesellschaftlicher<br />

Verantwortung bleiben müssen.<br />

Das gilt beispielsweise für die Bahn, für<br />

die Strom-, Gas- und Wasserversorgung und<br />

den Telekommunikationsbereich.“ Gemeint<br />

ist hier offenbar tatsächlich gesellschaftliches<br />

Eigentum, allerdings wohl nicht nur kommunales,<br />

sondern auch zentrales.<br />

Indem er sich für eine Entmonopolisierung<br />

einsetzt, beruft sich Lafontaine auf Walter<br />

Eucken und Franz Böhm: das waren Vertreter<br />

der ordoliberalen Schule. Sie wandten sich<br />

gegen Planwirtschaft (die sie im Nationalsozialismus<br />

und im Realen Sozialismus gleichermaßen<br />

am Werk sahen) und forderten die<br />

Garantie des freien Wettbewerbs durch einen<br />

insofern starken Staat. Politischer Vormann<br />

dieser Richtung war – der ebenfalls von Lafontaine<br />

positiv genannte – Ludwig Erhard.<br />

Ein Freund der Gewerkschaften war er nicht<br />

gerade. Die Mitbestimmung lehnte er ab. La-


10<br />

Georg Fülberth: Initiative Alte Soziale Marktwirtschaft<br />

fontaine fordert sie.<br />

Wenn er Zitat-Gefangene macht, hantiert<br />

der Aufsatz „Freiheit durch Sozialismus“<br />

manchmal riskant. Aus einer Rede des Perikles<br />

ist folgender Satz ausgewählt: „Der<br />

Name, mit dem wir unsere politische Ordnung<br />

bezeichnen, heißt Demokratie, weil die Angelegenheiten<br />

nicht im Interesse weniger, sondern<br />

der Mehrheit gehandhabt werden.“<br />

Oskar Lafontaine hat Perikles wahrscheinlich<br />

über den italienischen Altphilologen und<br />

Kommunisten Luciano Canfora rezipiert (zur<br />

neuesten Auflage von dessen Buch „Eine<br />

kurze Geschichte der Demokratie“ schrieb er<br />

ein Nachwort). Dies stellt Perikles aber auch<br />

als einen Manipulateur dar: seine Staatskunst<br />

habe darin bestanden, die Hegemonie der<br />

Oberschichten mit der formal gleichberechtigten<br />

Beteiligung der Massen zu verbinden.<br />

„Die Linke fordert den Generalstreik“.<br />

Hier ist zu fragen: Wer fordert etwas von<br />

wem? Die Linke von den Lohnabhängigen?<br />

Ob sie dieses Mittel für geeignet halten, müssen<br />

sie selbst entscheiden. Der Satz macht<br />

aber Sinn, wenn er auf eine Revision einer seit<br />

über fünf Jahrzehnten herrschenden juristischen<br />

Lehre zielt: fast alle Arbeitsgerichte<br />

haben den Druckerstreik von 1952 gegen das<br />

Betriebsverfassungsgesetz für rechtswidrig erklärt,<br />

da er ein „politischer Streik“ gewesen<br />

sei. Seitdem gilt diese gewerkschaftliche<br />

Waffe, für deren Rechtmäßigkeit Wolfgang<br />

Abendroth in einem berühmten Gutachten<br />

eingetreten ist, als gesetzwidrig. Abendroth<br />

hat damals nachgewiesen, dass dieses Verbot<br />

einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz,<br />

das Demokratie- und Sozialstaatsgebot<br />

der Verfassung darstelle. Es ist verdienstvoll,<br />

wenn Lafontaine diese Debatte neu eröffnet.<br />

„Beim heutigen Stand der Dinge ist eben<br />

doch der Sozialismus die einzige Lehre, die an<br />

den Grundlagen unserer falschen Gesellschaft<br />

und Lebensweise ernstlich Kritik übt.“ Mit<br />

diesem Satz Hermann Hesses wirbt Oskar<br />

Lafontaine für den Sozialismus. Dieser ist,<br />

nimmt man die Gesamtheit seiner Forderungen,<br />

ein Kapitalismus, in dem der Staat<br />

durch Beseitigung der Monopole den Wett-<br />

bewerb garantiert, Energieversorgung und<br />

Kommunikation unter demokratische Kontrolle<br />

gestellt, der Militärisch-Industrielle<br />

Komplex in öffentliche Regie genommen wird<br />

und die Schwachen gegen die wirtschaftlich<br />

Starken geschützt bzw. befähigt werden, sich<br />

selbst zu schützen. Diesem Ideal kamen die<br />

Zustände zwischen 1945 und ca. 1973 näher<br />

als die heutigen. Insofern ist Lafontaines Zukunftsbild<br />

konservativ. Dies muss nicht<br />

schlecht sein. Vielleicht sind die „Goldenen<br />

<strong>Jahre</strong>“ des damaligen Kapitalismus seine<br />

besten – auch für die Menschen, die in ihm<br />

insässig waren – gewesen. Wer sie nicht selber<br />

erlebt hat, weiß nicht, wie schön Kapitalismus<br />

sein kann. Ist der damals erreichte Standard<br />

wieder herbeizuführen? Davon geht Oskar<br />

Lafontaine aus. Wer ihm antwortet, die Periode<br />

1945-1973 sei eine Ausnahme gewesen,<br />

muss danach fragen, wie es dann <strong>heute</strong> weitergehen<br />

soll. Richtet sich diese Erkundigung an<br />

den Text „Freiheit statt Sozialismus“, haben<br />

wir eine Diskussion, die nicht rückwärtsgewandt<br />

ist.<br />

Zum Tornado-Urteil des<br />

Bundesverfassungsgerichts:<br />

Verfassungs- und<br />

Völkerrecht beiseite<br />

geschoben<br />

Gregor Schirmer<br />

Deutschland beteiligt sich mit seinen Streitkräften<br />

an zwei militärischen Operationen im<br />

Afghanistan-Krieg. Erstens an der Operation<br />

Enduring Freedom (OEF), der Reaktion der<br />

USA und ihrer Verbündeten auf die Terroranschläge<br />

vom 21. September. Sie soll dem<br />

Kampf gegen den internationalen Terrorismus


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

und die Taliban dienen. Zweitens an der internationalen<br />

Sicherheitsunterstützungstruppe<br />

(ISAF), die vom UNO-Sicherheitsrat autorisiert<br />

wurde und von der NATO geführt wird.<br />

Ursprünglich sollte sie „zur Aufrechterhaltung<br />

der Sicherheit in Kabul und Umgebung<br />

beitragen“. Sukzessive wurde ihr Einsatzgebiet<br />

auf ganz Afghanistan erweitert. Beide<br />

Einsätze haben den Segen des Bundestages.<br />

Im September/Oktober wird das Parlament<br />

über ihre Verlängerung entscheiden. Am 9.<br />

März 2007 gab der Bundestag seine Zustimmung,<br />

dass Deutschland in Ergänzung des<br />

Beitrags zu ISAF der NATO „für die Aufklärung<br />

und Überwachung aus der Luft“<br />

Aufklärungsflugzeuge vom Typ Tornado<br />

RECCE zur Verfügung stellt. Seit 15. April<br />

sind diese Flugzeuge im Einsatz. Beide<br />

Operationen sind in der Praxis kaum noch<br />

voneinander zu trennen.<br />

Die Rechtslage<br />

Die OEF hat kein Mandat des Sicherheitsrates.<br />

Sie ist eine Ad-hoc-Koalition unter Führung<br />

der USA. Sie wird mit dem Recht auf<br />

individuelle und kollektive Selbstverteidigung<br />

nach Art. 51 der UNO-Charta und mit der<br />

Beistandspflicht gegen einen bewaffneten<br />

Angriff nach Art. 5 des NATO-Vertrags gerechtfertigt.<br />

Die NATO hatte nach den<br />

Terroranschlägen den Verteidigungsfall ausgerufen.<br />

Es liegt jedoch kein Fall von<br />

Selbstverteidigung vor. Die Terroranschläge<br />

vom 21. September in den USA waren<br />

schwerste internationale Verbrechen. Daran<br />

kann kein Zweifel bestehen. Aber sie waren<br />

kein bewaffneter Angriff im Sinne des<br />

Artikels 51 der Charta. Danach besteht dieses<br />

Recht „im Falle eines bewaffneten Angriffs<br />

gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen“...<br />

„bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des<br />

Weltfriedens und der internationalen<br />

Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen<br />

hat“. Afghanistan hat die USA nicht angegriffen.<br />

Die Terroranschläge könnten nur<br />

dann als Angriff gewertet werden, wenn sie im<br />

Auftrag der Taliban-Regierung begangen<br />

AKTUELL 11<br />

worden wären. Dafür fehlt bis <strong>heute</strong> ein<br />

Beweis. Selbst wenn man die Berufung auf das<br />

Selbstverteidigungsrecht gelten ließe, wäre<br />

dieses Recht durch Zeitablauf und durch das<br />

Tätigwerden des Sicherheitsrates verbraucht.<br />

Vergeltung und Rache sind keine Selbstverteidigung.<br />

Die OEF ist völkerrechtswidrig. Sie<br />

ist eine Angriffshandlung im Sinne des Art. 39<br />

der Charta, gegen die der Sicherheitsrat hätte<br />

einschreiten müssen.<br />

Die ISAF ist keine militärische Sanktionsmaßnahme<br />

der UNO, sondern eine dubiose<br />

und brüchige Auflassung des Sicherheitsrates<br />

für eine Staatengruppe, gegenwärtig für die<br />

NATO, in Afghanistan militärische Gewalt<br />

anzuwenden. Es ist zweifelhaft, ob eine solche<br />

Autorisierung von Gewalt mit Kapitel VII der<br />

Charta vereinbar ist. Auf jeden Fall ist ISAF<br />

nicht vom NATO-Vertrag gedeckt. Die<br />

NATO ist nach diesem Vertrag ein Bündnis<br />

zur Verteidigung gegen einen bewaffneten<br />

Angriff gegen einen NATO-Partner in einem<br />

in Artikel 6 genau beschriebenen Gebiet.<br />

ISAF operiert „out of treaty“, weil der<br />

NATO-Vertrag militärisches Eingreifen jenseits<br />

von Selbstverteidigung nicht vorsieht,<br />

und „out of area“, weil das Einsatzgebiet von<br />

ISAF weit über das Nato-Gebiet hinaus geht.<br />

Die Beteiligung der Bundeswehr an dieser<br />

Operation hat mit Verpflichtungen aus dem<br />

NATO-Vertrag nichts zu tun. Das gilt auch für<br />

den Einsatz der Tornados, zumal deren<br />

Aufklärungsergebnisse auch von der OEF<br />

genutzt werden können. Daran kann auch die<br />

Deklaration des Rigaer NATO-Gipfels vom<br />

29. November 2006 nichts ändern, die den<br />

ISAF-Einsatz der NATO wärmstens billigt.<br />

Die in Riga verabschiedete Comprehensive<br />

Political Guidance weist der NATO die allgemeine<br />

Aufgabe zu, „to engage actively in crisis<br />

management, including through non-Article 5<br />

crisis response operations“. Damit wird eingestanden,<br />

dass der NATO-Vertrag überdehnt,<br />

also inhaltlich geändert wird, denn „Nicht-<br />

Artikel 5-Einsätze“ sind im Vertrag nicht vorgesehen.<br />

Die zwei Operationen sind zu einem völkerrechtswidrigen<br />

Krieg gegen Afghanistan ver-


12<br />

Gregor Schirmer: Zum Tornado-Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />

schmolzen. Dieser Krieg ist ein grober Verstoß<br />

gegen das Gewaltverbot des Artikels 2 Abs. 4<br />

der UNO-Charta. Es ist ein Aggressionskrieg<br />

und damit ein Verbrechen gegen den Frieden.<br />

Die militärische Besetzung Afghanistans im<br />

Gefolge der Krieges ist völkerrechtswidrig wie<br />

der Krieg selbst. Das kann auch durch die<br />

Zustimmung zweifelhafter afghanischer Autoritäten<br />

zu ISAF und zur Besetzung Afghanistans<br />

nicht geheilt werden. Im Verlauf des<br />

Krieges begingen und begehen die Aggressoren<br />

schwerwiegende Kriegsverbrechen.<br />

Die Teilnahme der Bundeswehr an den<br />

zwei Operationen widerspricht dem Grundgesetz.<br />

Artikel 87a begrenzt den Einsatz der<br />

Streitkräfte auf Verteidigung, es sei denn das<br />

Grundgesetz lässt einen anderweitigen<br />

Einsatz „ausdrücklich“ zu. Eine solche ausdrückliche<br />

Zulassung enthalten nur die Artikel<br />

87a Abs. 3 und 4 (Verteidigungs- und<br />

Spannungsfall, Abwehr einer drohenden Gefahr<br />

für den Bestand oder die freiheitliche<br />

demokratische Grundordnung des Bundes<br />

oder eines Landes) und Artikel 35 (Naturkatastrophe<br />

oder besonders schwerer Unglücksfall).<br />

Als Verteidigungsfall ist in Artikel<br />

115a Abs. 1 definiert, „dass das Bundesgebiet<br />

mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein<br />

solcher Angriff unmittelbar droht“. Andere<br />

Einsätze der Bundeswehr sind verfassungswidrig.<br />

Das Bundesverfassungsgericht hat in<br />

seinem Awacs-Urteil von 1994 mit viel Rabulistik<br />

begründet, dass Artikel 24 Abs. 2, der<br />

die Teilnahme des Bundes an einem System<br />

gegenseitiger kollektiver Sicherheit regelt,<br />

eine verfassungsrechtliche Grundlage für<br />

Auslandseinsätze der Bundeswehr biete. Die<br />

NATO wurde kurzerhand in ein System kollektiver<br />

Sicherheit umdefiniert, damit sie in<br />

Artikel 24 Abs. 2 passt. Zudem steht in diesem<br />

Artikel nichts von „ausdrücklicher“ Zulassung.<br />

Das war eine Vergewaltigung des<br />

Grundgesetzes, eine Todsünde gegen das<br />

Friedensgebot des Artikels 26 (Verfassungswidrigkeit<br />

eines Angriffskrieges) und gegen<br />

die Verbindlichkeit der allgemeinen Regeln<br />

des Völkerrechts (Artikel 25). Dieser Sünde<br />

kann man nicht Absolution erteilen, auch<br />

wenn man als Positivum des Awacs-Urteils<br />

anerkennt, dass die Karlsruher Richter für<br />

jeden Einsatz die konstitutive Zustimmung<br />

des Bundestages für erforderlich erklärten.<br />

Der schwierige Weg nach Karlsruhe<br />

Diese Rechtslage vor deutschen Gerichten<br />

zur Geltung zu bringen ist schwierig und<br />

wenig aussichtsreich. Das Recht bietet aber<br />

Argumente, Instrumente für parlamentarische<br />

und außerparlamentarische Kämpfe. Es<br />

ist legitim, dass Linke und andere Friedensbewegte<br />

die deutsche Beteiligung am Afghanistankrieg<br />

auch „auf dem Rechtsweg“ bekämpfen.<br />

Im viel gepriesenen Rechtsstaat ist es<br />

jedoch nicht ohne weiteres möglich, die<br />

Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht<br />

wegen Bruchs des Grundgesetzes<br />

und des Völkerrechts zu verklagen. Die<br />

Linksfraktion im Bundestag musste den Weg<br />

über eine Organklage gehen. Dazu musste sie<br />

geltend machen, dass die Bundesregierung<br />

Rechte des Bundestags verletzt hat.<br />

Die Bundestagsfraktion der PDS hatte<br />

1999 die Verfassungswidrigkeit der Beteiligung<br />

der Bundeswehr an militärischen Operationen<br />

der NATO gegen Jugoslawien in einer<br />

Organklage vor dem Bundesverfassungsgericht<br />

gerügt. Der Antrag wurde als unzulässig<br />

verworfen. Die Fraktion habe nicht dargelegt,<br />

dass grundgesetzliche Rechte des Bundestages<br />

verletzt sein könnten. Die Richter ließen<br />

wissen: „Das Organstreitverfahren dient dem<br />

Schutz der Rechte der Staatsorgane im Verhältnis<br />

zueinander, nicht einer allgemeinen<br />

Verfassungsaufsicht.“ Damit war die Sache<br />

erledigt. Mit dem von der Fraktion begründeten<br />

Verfassungsbruch selbst setzte sich das<br />

Gericht gar nicht auseinander.<br />

Im November 2001 hat die PDS-Fraktion<br />

diesen Weg ein weiteres Mal versucht. Damals<br />

ging der Streit um die Umwandlung der<br />

NATO von einem Verteidigungsbündnis (laut<br />

Vertrag) in ein Instrument zur militärischen<br />

Intervention. Ihre Organklage, die Rechte des<br />

Bundestages seien dadurch verletzt, dass die<br />

Bundesregierung dem neuen Strategischen


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Konzept der NATO von 1999 zugestimmt hat,<br />

ohne das verfassungsrechtlich erforderliche<br />

Zustimmungsverfahren einzuleiten, wurde<br />

zwar als zulässig erklärt, aber als unbegründet<br />

zurückgewiesen. Karlsruhe urteilte, das Konzept<br />

sei keine Änderung des NATO-Vertrags<br />

und bedürfe daher keiner gesonderten<br />

Zustimmung des Bundestages. Es handle sich<br />

um eine Fortentwicklung eines Systems kollektiver<br />

Sicherheit im Rahmen der Ermächtigung<br />

durch das Zustimmungsgesetz<br />

zum NATO-Vertrag und des Artikels 24 Abs.<br />

2 GG. „Die Fortentwicklung darf allerdings<br />

nicht die ... Zweckbestimmung des Bündnisses<br />

zur Friedenssicherung verlassen.“ So schränkte<br />

Karlsruhe ein.<br />

Nun der dritte Versuch der nunmehrigen<br />

Linksfraktion, mithilfe des Bundesverfassungsgerichts<br />

in einem wichtigen Friedensund<br />

Sicherheitsfall dem Verfassungs- und<br />

Völkerrecht Geltung zu verschaffen. Die<br />

Fraktion hat beantragt festzustellen, dass die<br />

Bundesregierung Rechte des Bundestages<br />

dadurch verletzt hat, dass diese im Verein mit<br />

den Regierungen der anderen NATO-Staaten<br />

durch Wort und Tat dem NATO-Vertrag von<br />

1949 einen anderen Inhalt gegeben, also eine<br />

Vertragsänderung herbeigeführt hat, ohne<br />

den Bundestag zu fragen. Aus Artikel 59 Abs.<br />

2 ergibt sich, dass eine Änderung des NATO-<br />

Vertrags der Zustimmung des Bundestages<br />

bedarf. Sie hat ferner beantragt festzustellen,<br />

dass die Bundesregierung diese Rechte durch<br />

Beteiligung am erweiterten ISAF-Mandat<br />

durch die Tornado-Einsätze verletzt hat.<br />

Man kann ins Feld politisch-juristischer<br />

Auseinandersetzung führen, dass der Afghanistan-Krieg<br />

ein Bruch selbst des NATO-<br />

Vertrags ist, weil dieser Krieg mit der in dem<br />

Vertrag vorgesehenen Selbstverteidigung<br />

nichts zu tun hat. Punkt. Man kann aber auch<br />

argumentieren, dass die NATO ohne Zustimmung<br />

des Parlaments von einer regionalen<br />

Organisation zur kollektiven Selbstverteidigung<br />

zu einem „globalen Sicherheitsdienstleister“<br />

umgebaut worden ist, was vom<br />

Zustimmungsgesetz des Bundestages zum<br />

NATO-Beitritt von 1955 nicht mehr gedeckt<br />

AKTUELL 13<br />

ist. Nur mit letzterem Argument konnte die<br />

Fraktion beim Bundesverfassungsgericht über<br />

die Zulässigkeitshürde kommen. Lohnt sich<br />

dieser Umweg?<br />

Das Urteil<br />

Die Anträge der Linksfraktion wurden mit<br />

dem Urteil des Zweiten Senats vom 3. Juli<br />

2007 für zulässig erklärt, aber als unbegründet<br />

zurückgewiesen. Der einzige Leitsatz lautet:<br />

„Die Beteiligung an dem erweiterten ISAF-<br />

Mandat aufgrund des Bundestagsbeschlusses<br />

vom 9. März 2007 verletzt nicht die Rechte des<br />

Deutschen Bundestages aus Artikel 59 Abs. 2<br />

Satz 1 des Grundgesetzes.“ Dieser Leitsatz<br />

hat Gesetzeskraft. Übrigens hat sich der Bundestag<br />

an dem Verfahren nicht beteiligt. Es<br />

ging ja bloß um seine Rechte!<br />

Ich wage zu bezweifeln, ob es klug war, sich<br />

eine neue Niederlage einzuhandeln. Es konnte<br />

nach allen Erfahrungen nicht erwartet werden,<br />

dass die Karlsruher Richter dem Kurs der<br />

Bundesregierung auf Unterstützung von und<br />

Teilnahme an völkerrechtswidrigen Kriegen<br />

wirksame Schranken setzen würden. Eher musste<br />

befürchtet werden, dass sich das Gericht als<br />

Rechtfertiger dieses Kurses betätigt. Das<br />

Tornado-Urteil ist eine konsequente Fortführung<br />

des Urteils von 2001 ins Negative. Es<br />

zeigt, dass es naiv wäre, vom Bundesverfassungsgericht<br />

zu erwarten, dass es in grundsätzlichen<br />

außenpolitischen Fragen als Wahrer<br />

des Verfassungs- und Völkerrechts auftritt.<br />

Freilich, nicht selten sind in der Begründung<br />

klagabweisender Urteile Aussagen enthalten,<br />

die wie ein halber Sieg der unterlegenen<br />

Streitpartei ausschauen. Im gegebenen<br />

Fall ist im Begründungsteil wenig Positives zu<br />

finden. Mit Hängen und Würgen kann man<br />

positiv werten, dass der Senat es vermieden<br />

hat, sich dazu zu äußern, ob die OEF völkerrechtsgemäß<br />

ist und sich auf das Recht auf<br />

kollektive Selbstverteidigung stützen kann<br />

oder nicht, die Frage also offen bleibt. Die<br />

schön allgemeinen Sätze über das Gebot der<br />

Friedenswahrung als „stets zwingender Bestandteil<br />

der Vertragsgrundlage eines Systems


14<br />

Gregor Schirmer: Zum Tornado-Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />

gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ sind<br />

merkenswert, „die friedenswahrende Zwecksetzung<br />

ist nicht nur einmalige Voraussetzung<br />

des Beitritts, sondern fortdauernde Voraussetzung<br />

des Verbleibs Deutschlands in dem<br />

System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“.<br />

Die „Umwandlung eines ursprünglich den<br />

Anforderungen des Art. 24 Abs. 2 GG entsprechenden<br />

Systems in eines, das nicht mehr<br />

der Wahrung des Friedens dient oder sogar<br />

Angriffskriege vorbereitet, ist verfassungsrechtlich<br />

untersagt“. Das Bundesverfassungsgericht<br />

ist natürlich weit von jeglichem<br />

Zweifel entfernt, dass eine solche Umwandlung<br />

auch nur entfernt auf die NATO zutreffen<br />

könnte.<br />

Es fehle „an Anhaltspunkten für eine strukturelle<br />

Entfernung der NATO von ihrer friedenswahrenden<br />

Ausrichtung“. Das Gericht<br />

hält die Aussage des Generals Schneidereit für<br />

ausreichend, um eine Vermischung von ISAF<br />

und OEF zu verneinen und damit auszuschließen,<br />

dass Operationen von ISAF und die Tornado-Einsätze<br />

wegen des Zusammenwirkens<br />

mit OEF völkerrechtswidrig sind. Es könnte ja<br />

vorkommen, dass im Einzelfall völkerrechtswidriges<br />

Handeln der OEF wegen des Zusammenwirkens<br />

der ISAF zuzurechnen sei. Und<br />

dies könnte „möglicherweise die völkerrechtliche<br />

Verantwortlichkeit der NATO und ihrer<br />

Mitgliedstaaten auslösen“. Das juristische Kauderwelsch<br />

in klares Deutsch übersetzt, heißt:<br />

die Bundesregierung darf die Bundeswehr im<br />

Rahmen der NATO zu Kampfeinsätzen ins<br />

Ausland, auch in völkerrechtswidrige Kriege<br />

schicken, wenn sich dadurch nur nicht die „friedenswahrende<br />

Ausrichtung“ der NATO<br />

ändert. Und die ist selbstverständlich durch<br />

nichts zu erschüttern, auch wenn nicht nur der<br />

Anschein, sondern grausame afghanische<br />

Fakten dagegen sprechen.<br />

Der Begriff der Selbstverteidigung wird<br />

inhaltlich ausgehöhlt und territorial entgrenzt.<br />

Das rückt die Auffassungen des Gerichts in<br />

gefährliche Nähe zu Bushs Konzept der „präventiven“<br />

oder „antizipatorischen“ Verteidigung.<br />

Folgende Sätze aus dem Urteil sprechen<br />

eine deutliche Sprache: „Mit dem Zweck der<br />

NATO waren abwehrende militärische Einsätze<br />

außerhalb des Bündnisgebiets, nämlich<br />

auch auf dem Territorium eines angreifenden<br />

Staates, von vornherein impliziert. Bei einem<br />

Angriff muss die Verteidigung nicht an der<br />

Bündnisgrenze enden, sondern kann auf dem<br />

Territorium des Angreifers enden, wobei auch<br />

dessen langfristige und stabile Pazifizierung<br />

der Sicherung eines dauerhaften Friedens des<br />

Bündnisses dient.“ Das ist die pseudojuristische<br />

Weihe von Peter Strucks Parole: „Deutschland<br />

wird am Hindukusch verteidigt.“ Die<br />

regionale Begrenzung des NATO-Vertrags<br />

wird aufgehoben. Die NATO darf weltweit<br />

militärisch eingreifen, Kriege führen und<br />

Länder besetzen. Dafür muss nicht einmal ein<br />

Angriff vorliegen: „Krisenreaktionseinsätze<br />

können auch unabhängig von einem äußeren<br />

Angriff oder ergänzend zur dauerhaften<br />

Befriedung eines Angreifers dem Zweck des<br />

NATO-Vertrags entsprechen.“<br />

Das Urteil ist Rechtsverweigerung. Es<br />

schiebt Verfassung und Völkerrecht beiseite.<br />

Es erteilt der Regierung Handlungsfreiheit in<br />

der Außenpolitik über das Maß des Rechts<br />

hinaus. Es sanktioniert den Rechtsbruch.<br />

Wohin geht die<br />

Europäische Union?<br />

Andreas Wehr<br />

„Der Vertrag über die Europäische Union<br />

und der Vertrag über die Arbeitsweise der<br />

Union werden keinen Verfassungscharakter<br />

haben. (...): Der Ausdruck ‚Verfassung’ wird<br />

nicht verwendet (...).“ So steht es im Entwurf<br />

des Mandats für die Regierungskonferenz,<br />

beschlossen auf dem Europäischen Rat am<br />

21./22. Juni 2007 in Brüssel. In der Regierungskonferenz<br />

soll stattdessen ein „Reformvertrag“<br />

zur Änderung der bestehenden


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Verträge ausgearbeitet werden und zwar in<br />

nichtöffentlichen Sitzungen hinter verschlossenen<br />

Türen. Da war nun über <strong>Jahre</strong> für eine<br />

europäische Verfassung in allen Medien<br />

getrommelt, ja das Stagnieren oder gar das<br />

Auseinanderfallen der EU bei ihrem Scheitern<br />

vorausgesagt worden, und nun wurde die<br />

Fahne „Verfassung“ quasi über Nacht still und<br />

heimlich wieder eingerollt. Keiner Zeitung<br />

war dies auch nur einen Kommentar wert.<br />

Spätestens jetzt ist klar, dass das ganze<br />

Gerede von einer Verfassung nur ein Hebel<br />

war, um mittels einer mobilisierten Öffentlichkeit<br />

den Widerstand einiger Regierungen<br />

gegen den angestrebten institutionellen<br />

Umbau der Union durchzusetzen.<br />

Dieser Umbau der Institutionen der EU<br />

steht seit nunmehr zehn <strong>Jahre</strong>n auf der<br />

Tagesordnung der Union. Seitdem geht es<br />

darum, die „drei Left-overs“ der Amsterdamer<br />

Vertragsreform von 1997 aufzulösen. 1<br />

Übrig geblieben waren damals die Entscheidungen<br />

über die zukünftige Größe der<br />

Europäischen Kommission, über die Stimmengewichtung<br />

im Rat und über die inhaltlichen<br />

Bereiche, in denen der Rat mit qualifizierten<br />

Mehrheiten abstimmen kann. Dieser Umbau<br />

der EU wird zu einer Zentralisierung ihrer<br />

Entscheidungsstrukturen und zur Stärkung<br />

ihrer großen Mitgliedsländer führen. Vor<br />

allem die Bundesrepublik Deutschland wird<br />

nun ihre mit der Vereinigung deutlich gewachsene<br />

Bevölkerung in die Waagschale legen<br />

können. Deshalb bestanden die deutschen<br />

Regierungen immer auch so hartnäckig auf<br />

die Anwendung des demografischen Prinzips.<br />

In Nizza war 2000 der erhoffte Durchbruch<br />

in diesen drei Fragen noch ausgeblieben. Eine<br />

Verständigung über sie gelang erst im Europäischen<br />

Konvent. Die 2003 im Konventsentwurf<br />

für eine Verfassung unterbreiteten<br />

Vorschläge bilden – mit einigen Veränderungen<br />

– auch die Grundstruktur des jetzt auszuhandelnden<br />

Reformvertrags. Die Union soll<br />

danach eine andere werden. Die Mitgliedstaaten<br />

verlieren weiter an Souveränität, die<br />

großen Länder werden auf Kosten der kleinen<br />

gestärkt und die Zentralisierung ihrer Ent-<br />

AKTUELL 15<br />

scheidungsstrukturen wird die EU noch undemokratischer<br />

machen. Sie droht ihren Charakter<br />

als Aushandlungsgemeinschaft zu verlieren<br />

und eine feste Hegemonialordnung von<br />

Metropole und Peripherie zu werden.<br />

Nicht alle Rechnungen gingen auf<br />

Ein Sieg demnach auf ganzer Linie für die<br />

europäischen Eliten und die hinter ihnen stehenden<br />

Monopolbourgeoisien der großen<br />

Kernstaaten? Sieht man sich das Mandat für<br />

die Regierungskonferenz genauer an, so<br />

erkennt man, dass längst nicht alle ihrer<br />

Forderungen erfüllt wurden. Im jahrelangen<br />

Ringen um die neue vertragliche Grundlage<br />

waren sogar einige Rückschläge hinzunehmen.<br />

Dies gilt selbst für die schließlich durchgesetzte<br />

Umstellung des Abstimmungsverfahrens<br />

auf die Bevölkerungsgröße. Da es erst<br />

ab 2014 gilt, wird die für 2008 anstehende<br />

grundlegende Reform der Agrar- und Regionalpolitik<br />

der EU, bei der es um sehr viel Geld<br />

gehen wird, noch auf Grundlage des alten, in<br />

Nizza vereinbarten Abstimmungsmodus entschieden.<br />

Polens Chancen für seine Bauern,<br />

dabei einiges mehr herauszuholen, sind damit<br />

deutlich gestiegen.<br />

Im Verhandlungsmandat stößt man auf<br />

eine ganze Reihe von Bestimmungen, in<br />

denen die Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten<br />

gegenüber dem Machtanspruch Brüssels<br />

verteidigt bzw. sogar gestärkt werden. So<br />

wird die den nationalen Parlamenten eingeräumte<br />

Frist für Subsidiaritätskontrollen geringfügig<br />

erhöht. Sie werden stärker in die<br />

politische Kontrolle von Europol und in die<br />

Bewertung der Tätigkeit von Eurojust einbezogen.<br />

Es wird ein neues Protokoll über<br />

Dienste von allgemeinem Interesse geben, in<br />

dem „die wichtige Rolle und der weite Ermessensspielraum<br />

der nationalen, regionalen<br />

und lokalen Behörden“ hervorgehoben werden.<br />

Erstmals wird geregelt, dass „die Mitgliedstaaten<br />

ihre Zuständigkeiten wieder<br />

wahrnehmen, sofern und soweit die Union<br />

entschieden hat, ihre Zuständigkeiten nicht<br />

mehr auszuüben“. Die Flexibilitätsklausel


16<br />

Andreas Wehr: Wohin geht die Europäische Union?<br />

wird präzisiert, indem herausgestellt wird,<br />

dass „sie nicht als Grundlage für die Verwirklichung<br />

von Zielen der Gemeinsamen<br />

Außen- und Sicherheitspolitik dienen“ kann.<br />

Im Artikel über die Beziehungen zwischen<br />

der Union und den Mitgliedstaaten wird der<br />

Satz angefügt: „Insbesondere die nationale<br />

Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige<br />

Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten.“<br />

Zur Stärkung der mitgliedstaatlichen Souveränitäten<br />

zählt auch, dass bei den Unterstützungs-,<br />

Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen<br />

der Union – etwa in den Bereichen<br />

Kultur, Gesundheitswesen oder Verbraucherschutz<br />

– zukünftig hervorgehoben<br />

wird, dass „die Union die Maßnahmen zur<br />

Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung<br />

der Maßnahmen der Mitgliedstaaten<br />

durchführt“. Und erstmals wird eindeutig festgehalten,<br />

dass die Verträge mit dem Ziel geändert<br />

werden können, die der Union übertragenen<br />

Zuständigkeiten auch „zu verringern“.<br />

Einige ursprünglich angestrebten Integrationsschritte<br />

konnten zudem nur unter dem<br />

Preis der Gewährung einer „Opting-out“<br />

Regel bzw. durch die Gestattung eines schnelleren<br />

Voranschreitens integrationswilliger<br />

Staaten gerettet werden. So die Charta der<br />

Grundrechte, die wohl nicht mehr Bestandteil<br />

der Verträge, aber dennoch rechtsverbindlich<br />

sein soll. Dem entsprechenden Protokoll hat<br />

sich Großbritannien nicht angeschlossen.<br />

Zwei weitere Staaten prüfen noch, ob sie sich<br />

ebenso verhalten werden. Bei der justiziellen<br />

Zusammenarbeit in Strafsachen und bei der<br />

polizeilichen Zusammenarbeit wird zukünftig<br />

gestattet, dass „Mitgliedstaaten bei einem<br />

Thema voranschreiten und andere sich nicht<br />

beteiligen“.<br />

Es bleibt bei Neoliberalismus<br />

und Militarisierung<br />

Weniger Gewicht als die Verteidiger der Souveränitäten<br />

der Mitgliedstaaten hatten jene<br />

Kräfte, die den Verfassungs- bzw. Reformvertrag<br />

ablehnen, weil mit ihm die neoliberale<br />

Ordnung des Binnenmarktes gemäß den<br />

Vereinbarungen von Maastricht 1992 festgeschrieben<br />

wird. Im französischen Referendum<br />

dürften diese Argumente für das Non ausschlaggebend<br />

gewesen sein. An diesen neoliberalen<br />

Inhalten wird weiterhin unverändert<br />

festgehalten. Keine Rede ist mehr von der<br />

ursprünglichen Idee Merkels, dem Vertrag ein<br />

Zusatzprotokoll über die soziale Dimension<br />

der EU anzufügen. Lediglich an einer einzigen<br />

Stelle sah man Anlass, zumindest eine<br />

kosmetische Veränderung vorzunehmen. Aufgrund<br />

einer gemeinsam von Nicolas Sarkozy<br />

und der Europäischen Kommission eingebrachten<br />

Formulierung wird bei den Zielen<br />

der Union auf die Forderung nach „einem<br />

freien und unverfälschten Wettbewerb“ verzichtet.<br />

Offiziell wird dies damit begründet,<br />

dass es sich bei dem freien und unverfälschten<br />

Wettbewerb lediglich um ein Mittel und nicht<br />

um ein Ziel handele, daher gehöre diese<br />

Formulierung auch in den praktischen, politischen<br />

Teil. Dort findet sich ja bereits gleich<br />

mehrfach das Prinzip „einer offenen Marktwirtschaft<br />

mit freiem Wettbewerb“. Die deutsche<br />

Ratspräsidentschaft beeilte sich denn<br />

auch sogleich zu erklären, dass „es in den EU-<br />

Verträgen ein Dutzend Passagen gebe, die als<br />

Grundlage für die auf das Jahr 1957 zurückgehende<br />

Wettbewerbspolitik dienten“. 2 Und damit<br />

ja keine Zweifel daran aufkommen, dass<br />

es sich bei dieser Abänderung der Ziele wirklich<br />

nur darum handelt, den antiliberalen Kritikern<br />

Sand in die Augen zu streuen, wurde<br />

ein „Protokoll über den Binnenmarkt und den<br />

Wettbewerb“ formuliert, in dem es unmissverständlich<br />

heißt, „dass zu dem Binnenmarkt,<br />

(...) ein System gehört, das den Wettbewerb<br />

vor Verfälschungen schützt (...)“. Doch Schutz<br />

vor Wettbewerbsverfälschung ist in der Gesetzgebung<br />

der EU als auch in der Rechtsprechung<br />

des Europäischen Gerichtshofs<br />

regelmäßig ein Hauptargument, um gegen<br />

nichttarifäre Handelshemmnisse – zu denen<br />

regelmäßig auch ökologische, soziale und<br />

gegen Diskriminierung gerichtete Standards<br />

gehören – vorgehen zu können. Viele Klagen<br />

der Kommission gegen die Vergabepraxis der<br />

Kommunen werden denn auch mit dem Vor-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

wurf der Wettbewerbsverfälschung begründet.<br />

Ganz und gar unbeachtet bleibt die Kritik<br />

an der Militarisierung der Union, wie sie sich<br />

in der Verpflichtung zur Aufrüstung, der<br />

Verknüpfung der EU mit der NATO sowie in<br />

der Ermöglichung von Kampfeinsätzen im<br />

Verfassungsvertrag findet. All diese Aussagen<br />

sollen unverändert in den Reformvertrag<br />

übernommen werden.<br />

Wohin geht die Europäische Union?<br />

1. Die gegenüber dem Verfassungsvertrag<br />

geäußerte Kritik ist auch gegenüber dem konzipierten<br />

Reformvertrag anzubringen, von<br />

dem ja selbst die Vertreter der deutschen<br />

Bundesregierung behaupten, dass er zu gut <strong>90</strong><br />

Prozent identisch mit dem Verfassungsvertrag<br />

sein wird. Entsprechend konsequent haben<br />

die Kritiker des Verfassungsvertrags bereits<br />

die Ablehnung auch des Reformvertrags<br />

angekündigt. Dies betrifft sowohl Nichtregierungsorganisationen<br />

wie Attac als auch die<br />

linken Parteien in Europa, wie sie in der<br />

Europäischen Linkspartei als auch in der<br />

Fraktion der Vereinten Linken im Europäischen<br />

Parlament zusammengeschlossen<br />

sind.<br />

2. Mit dem Entwurf des Mandats für die<br />

Regierungskonferenz werden die ablehnenden<br />

Voten der französischen und der niederländischen<br />

Bevölkerungen vom 29. Mai und<br />

vom 1. Juni 2005 weitgehend missachtet. Die<br />

Staats- und Regierungschefs vertrauen vielmehr<br />

darauf, dass weder die niederländische<br />

Regierung noch der französische Staatspräsident<br />

Sarkozy erneut Volksabstimmungen<br />

zulassen werden. Mandat und Zeitplan für die<br />

Regierungskonferenz sind zudem so eng<br />

gefasst, dass keine Zeit für eine ausreichende<br />

parlamentarische Beratung in den Mitgliedstaaten<br />

bleibt. Vorgesehen ist, dass der Europäische<br />

Rat bereits am 17./18. Oktober 2007<br />

über den Reformvertrag beschließt. Es ist<br />

offenkundig, dass die europäischen Eliten<br />

alles daran setzen, um kritische Debatten, vor<br />

AKTUELL 17<br />

allem aber Volksabstimmungen über den<br />

Reformvertrag und damit eine erneute Verzögerung<br />

oder gar das endgültige Scheitern<br />

des Projekts zu verhindern. In dieser Angst<br />

vor dem Willen der Völker drückt sich zugleich<br />

der Hegemonieverlust der europäischen<br />

Eliten über die öffentliche Wahrnehmung<br />

der EU aus. Die Vertrauenskrise der<br />

Europäischen Union dauert an.<br />

3. Auf dem Junigipfel konnte erst nach langem<br />

Ringen eine Einigung über die institutionellen<br />

Reformen erreicht werden. Der Preis<br />

dafür war allerdings hoch. Zwischen der deutschen<br />

und der polnischen Regierung kam es<br />

im Vorfeld und auf dem Gipfel selbst zu einem<br />

ernsthaften Zerwürfnis über den Abstimmungsmodus<br />

im Rat. Für jeden sichtbar<br />

wurde, dass es in dieser Frage nicht – wie<br />

immer wieder behauptet - um den Erhalt der<br />

Handlungsfähigkeit der Union oder gar um<br />

ihre Demokratisierung geht. Erkennbar<br />

wurde stattdessen, dass hier ein Kampf um die<br />

Macht in der EU ausgetragen wird, und dass<br />

die schließlich erzwungene Umstellung auf<br />

das demografische Prinzip vor allem Deutschland<br />

nützt.<br />

4. Auch wenn in der Frage der Kompetenzverteilung<br />

zwischen der EU und den Mitgliedstaaten<br />

mit dem Reformvertrag nur wenige<br />

Änderungen gegenüber dem alten Verfassungsvertrag<br />

vorgesehen sind und damit die<br />

allgemeine Tendenz der Entmachtung der<br />

mitgliedstaatlichen Parlamente keineswegs<br />

gestoppt ist, so musste man doch in dem einen<br />

oder anderen Punkt Besorgnisse der Bevölkerungen<br />

einiger Mitgliedsländer um den<br />

Erhalt der einzelstaatlichen Souveränitäten<br />

und der demokratischen Rechte berücksichtigen.<br />

Dies gilt etwa für die traditionell integrationsskeptischen<br />

Öffentlichkeiten Großbritanniens<br />

und Dänemarks, für die einiger<br />

neuer Mitgliedstaaten, aber auch für die in<br />

den Niederlanden. Dort hatte eine Mehrheit<br />

den Verfassungsvertrag vor allem deshalb<br />

abgelehnt, weil sie in ihm eine unzumutbare<br />

Einschränkung der Souveränitätsrechte des<br />

Landes sah. Auf solche Stimmen wird nun<br />

stärker als bisher Rücksicht genommen, da


18<br />

Andreas Wehr: Wohin geht die Europäische Union?<br />

neue Referenden und Niederlagen dabei unbedingt<br />

vermieden werden müssen.<br />

5. Unter den 27 Mitgliedstaaten der EU<br />

besteht wohl noch Einigkeit über den Erhalt<br />

und den weiteren Ausbau des unter neoliberalen<br />

Vorzeichen stehenden Binnenmarkts als<br />

auch über den Kurs der Militarisierung der<br />

Union. Keine Einigkeit besteht jedoch über<br />

die weiteren Integrationsschritte in der<br />

Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik<br />

als auch in der Innen- und Rechtspolitik. Was<br />

die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

angeht, so hat sich der bereits in den<br />

Verhandlungen des Konvents zu spürende<br />

Widerstand einzelner Länder gegen eine weitere<br />

Integration verstärkt. Ausdruck findet<br />

dies nun in dem Verzicht auf den Titel<br />

„Außenminister“. In der Innen- und Rechtspolitik<br />

bleiben die 1997 Großbritannien und<br />

Irland gewährten Ausnahmebestimmungen in<br />

den Bereichen Visa, Asyl, Einwanderung und<br />

freier Reiseverkehr erhalten und werden um<br />

Fragen der justiziellen Zusammenarbeit in<br />

Strafsachen und polizeiliche Zusammenarbeit<br />

sogar noch erweitert.<br />

6. Die EU bietet mehr und mehr das Bild<br />

einer Gemeinschaft unterschiedlicher Geschwindigkeiten<br />

bzw. eines „Europas á la<br />

carte“. Neben der Gemeinsamen Außen- und<br />

Sicherheitspolitik und der Innen- und Rechtspolitik<br />

zeigt auch die Wirtschafts- und<br />

Währungsunion ein uneinheitliches Bild. Nur<br />

gut die Hälfte der Mitgliedstaaten (gegenwärtig<br />

13 von 27 Ländern) hat den Euro bisher als<br />

Zahlungsmittel eingeführt. Und von der<br />

Schaffung einer auch politischen Union ist<br />

man weiter als noch vor zehn <strong>Jahre</strong>n entfernt.<br />

Der nun beschlossene Verzicht auf die Bezeichnung<br />

der Verträge als Verfassung bzw.<br />

Grundlagenvertrag legt davon ebenso Zeugnis<br />

ab wie die Aufgabe der Absicht, die<br />

Symbole der Union (Flagge, Hymne, Leitspruch<br />

und Europatag) vertraglich zu fixieren.<br />

Auch werden im Reformvertrag die eigentlich<br />

nur Staaten zukommenden Bezeichnungen<br />

„Gesetz“ bzw. „Rahmengesetz“ für die<br />

Rechtssetzungsakte fallengelassen.<br />

7. Nach der Einigung über die Grundlagen<br />

für den Reformvertrag sind viele Illusionen<br />

über „eine immer engere Union“ zerstoben.<br />

Die EU kann nun klarer als das wahrgenommen<br />

werden, was sie im Kern vor allem ist:<br />

Eine Union, der die auf Gewinnmaximierung<br />

gerichteten Gesetze des Marktes heilig sind.<br />

Kann angesichts der Krise bei den Beitrittsverhandlungen<br />

mit der Türkei nicht mehr<br />

von einer erfolgreichen Fortsetzung des Erweiterungsprozesses<br />

der EU gesprochen werden,<br />

so trifft dies angesichts des jetzt erteilten<br />

Mandats für die Regierungskonferenz auch<br />

für die Vertiefung der Integration zu. Es stellt<br />

sich nicht mehr die alte Frage: Erweiterung<br />

der EU oder Vertiefung der Integration?<br />

Mittlerweile findet beides nicht mehr statt.<br />

1 Vgl. dazu Andreas Wehr, Das Publikum verlässt den Saal,<br />

Nach dem Verfassungsvertrag: Die EU in der Krise, Köln,<br />

2006, S. 53 ff.<br />

2 Neues Bekenntnis zum freien Wettbewerb, in: Frankfurter<br />

Allgemeine Zeitung vom 25.06.2007<br />

Palästina: Zwei<br />

Regierungen und<br />

kein Staat<br />

Margret Johannsen<br />

Nach Monaten blutiger Auseinandersetzungen<br />

übernahm im Juni 2007 die „Islamische Widerstandsbewegung“<br />

Hamas die Macht im Gazastreifen.<br />

Die Kämpfe zwischen der 50 <strong>Jahre</strong><br />

alten „Staatspartei“ Fatah und ihrer 30 <strong>Jahre</strong><br />

jüngeren Rivalin hatten seit März 2006, als die<br />

Hamas-geführte Regierung ihre Amtsgeschäfte<br />

aufnahm, über 350 Menschen das<br />

Leben gekostet. Der in Ramallah residierende<br />

Vorsitzende der Palästinensischen Behörde<br />

(PA), Präsident Mahmud Abbas (Fatah), quittierte<br />

die militärische Niederlage der Fatah in<br />

Gaza mit der Erklärung des Ausnahmezu-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

stands, löste die von Ministerpräsident Ismail<br />

Haniyeh (Hamas) geführte Regierung der<br />

nationalen Einheit auf und berief eine Notstandsregierung<br />

unter Führung des bisherigen<br />

Finanzministers und ehemaligen Mitarbeiters<br />

der Weltbank Salam Fayyad (Dritter Weg).<br />

Zudem verbot Abbas die bewaffneten Kräfte<br />

der Hamas und ordnete ihre Entwaffnung an.<br />

Die Hamas-Führung erklärte ihrerseits die<br />

Maßnahmen des Präsidenten für illegal, weil<br />

sie vom Grundgesetz nicht gedeckt seien, und<br />

hielt an der bisherigen Regierung fest. Diese<br />

begann, den Sicherheitsapparat im Gazastreifen<br />

neu zu ordnen 1 und Gehälter an solche<br />

Angestellte des öffentlichen Dienstes auszuzahlen,<br />

die von den Gehaltslisten der Fayyad-<br />

Administration gestrichen worden waren, weil<br />

sie als Hamas-Gefolgsleute galten. Im „größten<br />

Freiluftgefängnis der Welt“ 2 kehrte wieder<br />

Ruhe ein – nur ab und zu gestört von israelischen<br />

Infanterie- und Luftangriffen.<br />

An Warnungen vor einer Fortsetzung des<br />

Wahlkampfes mit militärischen Mitteln hatte<br />

es nicht gefehlt, als Israel und mit ihm die USA<br />

und die Europäische Union im Frühjahr 2006<br />

einen Finanzboykott gegen die palästinensische<br />

Regierung verhängten und sie damit in<br />

den Bankrott trieben. 3 Um die von Israel einbehaltenen<br />

Mehrwertsteuer- und Zolleinnahmen<br />

sowie weiterhin Zuwendungen aus<br />

den USA und Europa zu erhalten, hätte die<br />

palästinensische Einheitsregierung gemäß den<br />

vom Nahost-Quartett (USA, Russland, EU<br />

und UNO) formulierten Kriterien: Israel förmlich<br />

anerkennen, jeglicher Gewalt abschwören<br />

und sich auf die Einhaltung aller bisherigen<br />

israelisch-palästinensischen Vereinbarungen<br />

verpflichten müssen. Dazu waren aber weder<br />

die Hamas-Regierung noch die Nachfolgeregierung<br />

der nationalen Einheit bereit.<br />

Allerdings hätte deren Regierungsprogramm 4<br />

durchaus die Handhabe für eine Aufhebung<br />

des Boykotts bieten können. Denn als<br />

Referenzrahmen für die Einheitsregierung<br />

nennt die Plattform die Resolutionen des<br />

Palästinensischen Nationalrats seit 1988 und<br />

die seit 1993 zwischen Israel und der PLO<br />

geschlossenen Abkommen sowie die Reso-<br />

AKTUELL 19<br />

lutionen der Arabischen Liga aus den <strong>Jahre</strong>n<br />

2002 bzw. 2007, die allesamt in der einen oder<br />

anderen Form für eine verhandelte Zwei-<br />

Staaten-Regelung als Kern einer Konfliktlösung<br />

eintreten. Darüber hinaus bot das<br />

Regierungsprogramm Israel eine umfassende<br />

Waffenruhe auf der Grundlage von Gegenseitigkeit<br />

an.<br />

Doch offenkundig legten weder Israel noch<br />

der Westen Wert darauf, die Pragmatiker in<br />

der Hamas zu stärken, die dabei sind, eine<br />

Rebellenorganisation zu einer politischen<br />

Partei zu transformieren. 5 Der Boykott wurde<br />

fortgesetzt und mit ihm die Chance vertan, die<br />

darin lag, dass Israel sich erstmals einer wahrhaft<br />

repräsentativen Regierung gegenüber<br />

sah, die Verträge nicht nur schließen, sondern<br />

auch würde durchsetzen können. Die in den<br />

Wahlen unterlegene Fatah deutete diese<br />

Politik als Signal, dass eine Teilung der Macht<br />

mit der Wahlsiegerin nicht im Interesse Israels<br />

und des Westens lag. Daraus eine implizite<br />

Aufforderung zum Putsch abzuleiten, lag nahe.<br />

Im Rückblick nehmen sich die eineinhalb<br />

<strong>Jahre</strong> seit dem Hamas-Sieg bei den Parlamentswahlen<br />

bis zu ihrer Machtübernahme im<br />

Gazastreifen wie die Chronik eines angekündigten<br />

Bürgerkrieges aus. Zwei Tage nach der<br />

Vereidigung der ersten Regierung Ismail<br />

Haniyehs Ende März 2006 gab es bei einem<br />

Schusswechsel in Gaza-Stadt zwischen Mitgliedern<br />

der „Volkswiderstandskomitees“ und<br />

Angehörigen der palästinensischen Sicherheitskräfte<br />

die ersten Toten. In den folgenden<br />

Monaten eskalierte die Gewalt und rief<br />

schließlich Saudi-Arabien auf den Plan, das<br />

den erstarkenden Einfluss Irans auf die Hamas<br />

fürchtete. Die im Februar 2007 in Mekka vereinbarte<br />

Teilung der Macht 6 gewährte jedoch<br />

nur eine kurze Atempause – die Einheitsregierung,<br />

die den drohenden „Bruderkrieg“<br />

abwenden sollte, hielt gerade mal drei Monate.<br />

Kern der Auseinandersetzungen war die<br />

Kontrolle über den Sicherheitsapparat. Mit<br />

der Ernennung Mohammed Dahlans zum<br />

Chef des Nationalen Sicherheitsrates, dem die<br />

Aufsicht über alle Sicherheitseinrichtungen in<br />

den palästinensischen Gebieten obliegt, setzte


20<br />

Margret Johannsen: Palästina: Zwei Regierungen und kein Staat<br />

Abbas seinen Anspruch auf die Konzentration<br />

der Staatsgewalt beim Präsidialamt zunächst<br />

durch. Dass er ausgerechnet Dahlan mit dieser<br />

Funktion betraut hatte, dürfte das Ende der<br />

Einheitsregierung beschleunigt haben. Als<br />

Chef der Präventiven Sicherheit, einer Art Geheimer<br />

Staatspolizei der PA, betrieb Dahlan in<br />

den 19<strong>90</strong>er <strong>Jahre</strong>n die gnadenlose Verfolgung<br />

der Hamas. Später galt er als Kopf der Pro-<br />

Fatah-Milizen im Gazastreifen. In Israel wie in<br />

der US-Administration genoss Dahlan große<br />

Sympathien 7 – vor allem in Washington galt<br />

der 46-jährige als Repräsentant der „jungen<br />

Garde“ der Fatah und Hoffnungsträger nach<br />

einem Generationswechsel in der Führung der<br />

säkularen Nationalbewegung. Die Hamas<br />

hatte also gute Gründe, ihren alten Widersacher<br />

auch in seinem neuen Amt zu fürchten.<br />

Dass Abbas’ Präsidentengarde mit Geld und<br />

Ausbildungshilfe aus Washington verstärkt<br />

wurde, dass eine neue Fatah-Miliz unter Führung<br />

Dahlans für den Einsatz im Gazastreifen<br />

entstand, dass Fatah-Kämpfer in Ägypten trainiert<br />

und mit Billigung Israels in den<br />

Gazastreifen geschleust wurde, verschärfte die<br />

Spannungen zwischen den bewaffneten Kräften<br />

der rivalisierenden Koalitionspartner. Am<br />

12. Juni kamen die Exekutivkräfte der Hamas,<br />

eine von ihr als Gegengewicht zu den Fatahdominierten<br />

Polizeikräften aufgebaute Truppe,<br />

dem befürchteten Putsch der Fatah zuvor<br />

und brachten den Sicherheitsapparat in einem<br />

generalstabsmäßig geplanten Feldzug in ihre<br />

Gewalt. Ihr militärischer Sieg kostete Dahlan<br />

den Job.<br />

Seit der Machtübernahme der Hamas im<br />

Gazastreifen sind die palästinensischen Autonomiegebiete<br />

nicht nur territorial, sondern<br />

auch politisch zweigeteilt. Die Regierung Fayyads,<br />

die ihre Basis in der Westbank hat, erhielt<br />

umgehend die Anerkennung Israels, der USA<br />

und der EU und die Zusage, sie mit Geld und<br />

Gesten guten Willens zu stärken. Die<br />

Regierung Haniyehs, die im Gazastreifen<br />

herrscht, wird weiterhin in der Erwartung boykottiert,<br />

dass die Palästinenser unter dem<br />

Druck von Not und Hoffnungslosigkeit ihren<br />

Irrtum vom Januar 2006 korrigieren, sich von<br />

der geächteten Hamas abwenden und der abgewählten<br />

Fatah eine neue Chance geben.<br />

Nach der Absetzung der Einheitsregierung<br />

regierte Abbas zunächst per Dekret, erhielt<br />

allerdings die Unterstützung des PLO-Zentralrats.<br />

Die von der Fatah dominierte PLO<br />

und ihre Organe besitzen nach der Lesart des<br />

Präsidenten eine höhere Legitimität als der<br />

Legislativrat, weil sie nicht nur die Palästinenser<br />

in den besetzten Gebieten, sondern auch<br />

die in der Diaspora lebenden repräsentieren.<br />

Während das Machtteilungsarrangement von<br />

Mekka noch vorgesehen hatte, dass die Hamas<br />

der PLO beitritt, ist hiervon unter den neuen<br />

Bedingungen der vertieften politischen Spaltung<br />

vorerst nicht mehr die Rede. Richtet man<br />

den Blick über Palästina hinaus auf die gesamte<br />

Region, so könnte noch mehr auf der<br />

Strecke geblieben sein: Das Experiment einer<br />

zur Integration in die Politik bereiten Variante<br />

des politischen Islam, durch freie Wahlen in<br />

Regierungsverantwortung zu gelangen, sich<br />

den demokratischen Spielregeln zu unterwerfen<br />

und trotz Wahlsieg die Macht mit den<br />

Verlierern zu teilen, ist vorerst gescheitert.<br />

Wird sich der „Bruderkrieg“ in der Westbank<br />

wiederholen? Vermutlich nicht. Zwar ist<br />

die Hamas auch in der Westbank populär.<br />

Aber sie ist politisch geschwächt, weil ein Teil<br />

ihrer zivilen Führungspersönlichkeiten (Minister,<br />

Abgeordnete, Bürgermeister) in Haft ist;<br />

ihr militärischer Flügel kann zudem angesichts<br />

der israelischen Militärpräsenz nur im Untergrund<br />

operieren. Für ein Show-down mit der<br />

Fatah sind dies schlechte Voraussetzungen.<br />

Auch umgekehrt kann bezweifelt werden, dass<br />

die Fatah den offenen Kampf mit der Hamas<br />

sucht. Zwar ist die Fatah in der Westbank besser<br />

verankert als im Gazastreifen, aber eine<br />

kohärente Bewegung ist sie nicht – weder an<br />

der Basis noch im Zentralkomitee ist die<br />

Entscheidung der Führung, im Gazastreifen<br />

die militärische Machtprobe mit der Hamas zu<br />

wagen, unumstritten. 8 Schließlich besteht die<br />

Krise der Fatah fort, die zu ihrer Wahlniederlage<br />

geführt hat; in weiten Teilen der Bevölkerung<br />

wirft man ihr Verknöcherung, Lagerkämpfe,<br />

Nepotismus, Korruption und Inef-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

fizienz vor. Der Fatah stehen natürlich noch<br />

andere Mittel als eine erneute militärische<br />

Machtprobe zur Verfügung, um sich der<br />

Konkurrentin in der Westbank zu entledigen.<br />

Die Sicherheitskräfte der PA, unterstützt von<br />

Fatahs Al-Aqsa Märtyrer Brigaden, haben<br />

damit begonnen, die Hamas-Strukturen zu<br />

zerschlagen, um, wie es heißt, eine Machtübernahme<br />

der Hamas in der Westbank zu verhindern.<br />

9 Überdies versorgen sie den israelischen<br />

Geheimdienst mit Informationen über vermeintliche<br />

Terroranschläge und deren Drahtzieher<br />

und sorgen auf diese Weise für eine weitere<br />

Dezimierung ihrer Widersacher. 10<br />

Wie kann es weitergehen? Israel scheint<br />

entschlossen, eine Wiederannäherung von<br />

Westbank und Gazastreifen zu torpedieren<br />

und verlangt von der EU dafür zu sorgen, dass<br />

niemand aus der internationalen Gebergemeinschaft<br />

die Isolierung des Gazastreifens<br />

durchbricht. 11 Die Westbank hingegen erhält<br />

eine Vorzugsbehandlung. Ministerpräsident<br />

Ehud Olmert hat angekündigt, schrittweise die<br />

seit Januar 2006 einbehaltenen Zoll- und<br />

Mehrwertsteuereinnahmen, insgesamt eine<br />

Summe von rund 700 Millionen US-Dollar,<br />

freizugeben und Anfang Juli wurde eine erste<br />

Rate von 118 Millionen US-Dollar an die PA<br />

überwiesen. Weitere Zahlungen kann Abbas<br />

nur erwarten, wenn er sich bewährt und vor<br />

allem keinen Versuch einer Versöhnung mit<br />

Hamas unternimmt. Von nahezu 11 000 palästinensischen<br />

Gefangenen entließ Israel 256<br />

vorzeitig aus der Haft. Es handelte sich überwiegend<br />

um Fatah-Mitglieder. Außerdem traf<br />

Israel Vorbereitungen, einige der rund 550<br />

Straßensperren und Kontrollpunkte in der<br />

Westbank zu beseitigen. Wie umfangreich die<br />

Erleichterung für den Personen- und Güterverkehr<br />

sein wird, ist allerdings ungewiss. Im<br />

Zweifelsfall entscheidet darüber das Militär<br />

nach Maßgabe dessen, was es als israelische<br />

Sicherheitsinteressen definiert. Eine Stärkung<br />

von Präsident Abbas verspricht Olmert sich<br />

auch von Fortschritten auf dem diplomatischen<br />

Parkett, z. B. der Erarbeitung einer Prinzipienerklärung<br />

über „die Konturen“ eines<br />

künftigen palästinensischen Staates, allerdings<br />

AKTUELL 21<br />

ohne die explosiven Themen wie den Grenzverlauf<br />

oder das Schicksal der Flüchtlinge anzusprechen.<br />

12 Derart umworben wehrte Abbas<br />

zunächst alle Avancen der abgesetzten Regierung<br />

ab, den Riss zu kitten. Haniyeh hatte<br />

eine Wiederauflage des Arrangements zur<br />

Teilung der Macht unter Einbeziehung des<br />

Sicherheitsapparates vorgeschlagen; Abbas<br />

hingegen bestand auf einer Rückkehr zum<br />

Status quo ante als Vorbedingung für jeglichen<br />

Dialog.<br />

Auf die Frage, wie eine Zwei-Staaten-Regelung<br />

mit einem geographisch und politisch<br />

geteilten Palästina gefunden werden kann, hält<br />

bisher niemand eine Antwort bereit. Glaubwürdige<br />

Verhandlungen darüber sind nur auf<br />

der Basis eines Minimalkonsenses unter den<br />

Palästinensern möglich. Ohne die Mitwirkung<br />

der Hamas wird es für Israel auch keine glaubwürdigen<br />

Sicherheitsgarantien geben können –<br />

eine Vorbedingung für dessen Zustimmung zu<br />

einem Abzug aus den besetzten Gebieten und<br />

die Konstituierung eines palästinensischen<br />

Staates. Wenn eine Zwei-Staaten-Regelung<br />

noch auf der Agenda stehen sollte, ist darum<br />

ein zweiter Anlauf zur Bildung einer Regierung<br />

der nationalen Einheit unerlässlich –<br />

und mittelfristig der Beitritt der Hamas zur<br />

PLO. Erst eine um die moderaten Vertreter des<br />

politischen Islam erweiterte PLO wäre legitimiert,<br />

im Namen des palästinensischen Volkes<br />

ein „Ende des Konflikts“ zu deklarieren.<br />

Ob allerdings die Vision von zwei Staaten –<br />

Israel und Palästina – in sicheren Grenzen<br />

überhaupt noch eine realistische Perspektive<br />

zur Lösung des Nahost-Konflikts darstellt, ist<br />

keineswegs klar. Sollte es bei der Spaltung zwischen<br />

Westbank und Gazastreifen bleiben, so<br />

ist damit zu rechnen, dass an die Stelle einer<br />

abschließenden Regelung Interimsvereinbarungen<br />

zwischen Israel und der Westbank<br />

unter einer Führung treten, die sich vom<br />

bewaffneten Widerstand (Muqawama) verabschiedet<br />

hat. 13 Wenn diese Führung mit ihrem<br />

Verhandlungskurs scheitert, bleibt immer<br />

noch die Rückkehr zu dem Konzept der<br />

„Standhaftigkeit“ (Sumud), namentlich dem<br />

Festhalten am Land. 14 Der Widerstand der im


22<br />

Margret Johannsen: Palästina: Zwei Regierungen und kein Staat<br />

bewaffneten Befreiungskampf Geschlagenen<br />

kann dann z. B. Formen annehmen, wie sie aus<br />

den späten 1970er <strong>Jahre</strong>n in Erinnerung sind,<br />

als von einem Transfer von „Autorität“ an die<br />

Palästinenser noch keine Rede war. Damals<br />

entwickelten soziale Bewegungen in Bereichen<br />

wie Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft<br />

und Kultur Strategien zur Abkoppelung von<br />

der Besatzung. 15 Diese Form von „friedlicher<br />

Koexistenz“ der beiden Völker unter dem<br />

Dach eines im besten Fall benevolenten<br />

Besatzers würde Israel allerdings nicht aus der<br />

so genannten demographischen Falle befreien,<br />

die es vor die Wahl stellt, entweder seinen jüdischen<br />

Charakter aufzugeben oder ein Apartheidstaat<br />

zu werden.<br />

Für die Zukunft des Gazastreifens verheißt<br />

ein solches Szenario nichts Gutes. Dessen<br />

Führung hält vorerst an dem Konzept des legitimen<br />

Befreiungskampfes fest, wie es die in der<br />

UNO versammelte Staatengemeinschaft einst<br />

der palästinensischen Nationalbewegung zubilligte.<br />

Allerdings will der „Krieg gegen den<br />

Terror“ diesem Konzept die internationale<br />

Legitimität endgültig entziehen und einen<br />

Prozess zum Abschluss bringen, der mit dem<br />

Zerfall der Bipolarität in den 19<strong>90</strong>er <strong>Jahre</strong>n<br />

begann. Wenn der im Gazastreifen regierenden<br />

Hamas nun aber die Alternative versperrt<br />

bleibt, am Bau eines anerkannten palästinensischen<br />

Staates mitzuwirken, dann könnte das<br />

gescheiterte national-religiöse Projekt einer<br />

dritten Variante des politischen Islam weichen.<br />

Bereits <strong>heute</strong> muss Hamas sich im Gazastreifen<br />

mit Dschihadisten auseinander setzen,<br />

die al-Qaida nahe stehen und in dem übervölkerten<br />

Küstenstreifen von der Größe des<br />

Bundeslandes Bremen ihre Vorstellungen von<br />

Ordnung und Sitte mit Gewalt durchzusetzen<br />

trachten. Bekanntlich bieten gescheiterte Staaten<br />

terroristischen Netzwerken vom Schlage<br />

Al-Qaidas Operationsräume und versorgen<br />

sie mit Nachwuchs. Allerdings wäre der Gazastreifen<br />

im Ernstfall ungleich leichter als<br />

Afghanistan und der Irak von den Kämpfern<br />

des globalen Dschihad zu säubern. Will sich<br />

die EU wirklich darauf verlassen, dass Israel<br />

für sie dieses schmutzige Geschäft erledigt?<br />

1 Vgl. taschkil dschihaz istichbarati dschadid fi qita’ ghaza<br />

ya’amalu ‘ala hamayia al-aman ad-dachili (Aufbau eines<br />

neuen Nachrichtenapparats im Gaza-Streifen zur<br />

Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit), in: Al-Quds al-<br />

Arabi, 31.7.2007, www.alquds.co.uk/archives/2007/07Jul/<br />

31JulTue/qds05.pdf.<br />

2 So der Schweizer Bischof Pierre Bürcher bei einer Reise in<br />

das Heilige Land im Januar 2007, www.oessh.ch/seite74<br />

.htm.<br />

3 Vgl. Margret Johannsen, Frieden durch Diktat? Der lange<br />

Abschied von einer Verhandlungslösung im Palästina-<br />

Konflikt, in: Reinhard Mutz et al. (Hg.), Friedensgutachten<br />

2006, Münster 2006, S. 55-64.<br />

4 The Program of the National Unity Government, March<br />

2007, www.jmcc.org/politics/pna/nationalgovprog.htm.<br />

5 Vgl. Helga Baumgarten: Hamas. Der politische Islam in<br />

Palästina, München 2006.<br />

6 Vgl. Margret Johannsen, Vom Bürgerkrieg zur Koalition<br />

der Nationalen Einheit, in: Marxistische Blätter, 2/2007, S.<br />

19-23.<br />

7 Vgl. DEBKAfile, Hamas Pulls Ahead of Dahlan’s Forces<br />

in Gaza, 2. Februar 2007, http://debka.com/article.<br />

php?aid=1252.<br />

8 Vgl. Mark Perry, The Palestinian question: What now?,<br />

Conflicts Forum, 18. Juni 2007, http://conflictsforum.org/.<br />

9 Khaled Amayreh, Stonewalling in Ramallah, Al-Ahram<br />

Weekly, 5.-11.7.2007, http://weekly.ahram.org.eg/2007/<br />

852/re2.htm.<br />

10 Fatah and Israel / Allies, Inc., Haaretz, 27.7.2007, www.haaretz.com/hasen/spages/886740.html.<br />

11 Vgl. Barak Ravid, Livni to Solana: aid to PA must be apolitical,<br />

Haaretz, 22.7.2007, www.haaretz.com/hasen/spages/884494.html.<br />

12 Vgl. Aluf Benn et al., Olmert seeks outline of deal with PA<br />

before peace summit, Haaretz, 2.8.2007, www.haaretz.com/<br />

hasen/spages/888924.html.<br />

13 Vgl. Report: ‚Armed struggle’ excluded from PA government<br />

platform for the first time, Haaretz, 27.7.2007,<br />

www.haaretz.com/hasen/spages/886999.html.<br />

14 Vgl. Meron Benvenisti, Déjà vu, in: Haaretz, 3.8.2007,<br />

www.haaretz.com/hasen/spages/889392.html.<br />

15 Vgl. Dina Craissati, Social Movements and Democracy in<br />

Palestine: Politicization of Society or Civilization of<br />

Politics?, in: Orient, 1/1996, S. 11-136.


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Marc Chagall: Friede den Hütten, Krieg den Palästen!<br />

Tafelentwurf zur festlichen Auschmückung von Witebsk. 1918/1919<br />

AKTUELL 23


24<br />

<strong>Revolutionstheorie</strong> <strong>heute</strong><br />

<strong>90</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Oktoberrevolution</strong><br />

In seiner Arbeit „Die Klassenkämpfe in Frankreich“ schreibt Marx: „Die Revolutionen sind<br />

die Lokomotiven der Geschichte“. Mehr als für alle vorangegangenen Revolutionen gilt<br />

dies für die sozialistische <strong>Oktoberrevolution</strong> in Russland 1917. Sie war die erste siegreiche<br />

Revolution, in deren Ergebnis nicht eine Ausbeuterordnung durch eine andere abgelöst,<br />

sondern das Tor zu einer Gesellschaft ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen<br />

aufgestoßen wurde. Die Bedeutung dieses Fortschrittssprungs in der Entwicklung der<br />

menschlichen Gesellschaft kann auch durch den zeitweiligen Sieg der Konterrevolution<br />

nicht aufgehoben werden.<br />

Obwohl er noch in den Kinderschuhen steckte, hat der Sozialismus den Menschen in der<br />

Sowjetunion und den im Gefolge des Oktober entstandenen anderen sozialistischen<br />

Ländern bereits gewaltige soziale Errungenschaften gebracht: das Recht auf Arbeit, soziale<br />

Geborgenheit, Bildung für alle u. a. Unter dem Einfluss des Oktober wurde das imperialistische<br />

Kolonialsystem zum Einsturz gebracht. Und auch die von der Arbeiterbewegung in<br />

den imperialistischen Metropolen erkämpften sozialen und demokratischen Reformen<br />

hängen untrennbar mit dem Schock zusammen, den der Oktober und seine Folgen der<br />

Bourgeoisie versetzte. Zu seiner Bilanz gehört nicht zuletzt die konsequente Friedenspolitik<br />

des Sozialismus.<br />

Die Bourgeoisie nutzt die Niederlage des Sozialismus für soziale Revanche. Seine Errungenschaften<br />

werden geschleift, die in den Metropolen erkämpften Reformen zurückgerollt und<br />

die Entwicklungsländer noch rigoroser ausgeplündert. Die Repression im Innern wächst.<br />

Imperialistische Kriege sind zu einer permanenten Erscheinung geworden. Zugleich vollziehen<br />

sich mit den revolutionären Umbrüchen in der Produktivkraftentwicklung und der als<br />

Globalisierung bezeichneten neuen Stufe kapitalistischer Internationalisierung bedeutende<br />

Wandlungen in den Strukturen und Produktionsverhältnissen des imperialistischen<br />

Kapitalismus.<br />

Als Marxisten sind wir gefordert, aus diesen Veränderungen Schlussfolgerungen für die<br />

Weiterentwicklung unserer Theorie und Praxis im Kampf um die Überwindung des Kapitalismus<br />

zu ziehen. Das gilt auch für die marxistische <strong>Revolutionstheorie</strong>. Einige ihrer<br />

Aspekte werden im Schwerpunkt dieses Heftes aus Anlass des <strong>90</strong>. Jubiläums der <strong>Oktoberrevolution</strong><br />

auf den Prüfstand gestellt.


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Clara Zetkin über die<br />

<strong>Oktoberrevolution</strong> und<br />

die sozialistische<br />

Perspektive*<br />

Heinz Karl<br />

Zum 10. <strong>Jahre</strong>stag der <strong>Oktoberrevolution</strong><br />

schrieb Clara Zetkin: „Ein Beben ging durch<br />

die blutdampfende Welt, als Anfang November<br />

1917 die Meldung sie durchflog: In Russland<br />

haben die Arbeiter, geführt von der bolschewistischen<br />

Partei, unterstützt von den<br />

Bauern, in revolutionärem Kampfe die Staatsmacht<br />

erobert und in der neuen Staatsform<br />

der Sowjetordnung die Diktatur des Proletariats<br />

aufgerichtet ... Die trockene Nachricht<br />

kündete die von den Altmeistern des wissenschaftlichen<br />

Sozialismus klar vorausgesehene<br />

entscheidende Weltwende der Menschheitsgeschichte,<br />

kündete ein revolutionäres Geschehen<br />

von tieffurchender Tragweite.“ 1 Und<br />

bei ihrem letzten öffentlichen Auftreten, am 8.<br />

März 1933, bekräftigte Clara Zetkin: „Keine<br />

Macht der Welt kann die unsterbliche Bedeutung<br />

des Sowjetstaates aus der Geschichte tilgen.“<br />

2 Heute gibt es diesen Staat nicht mehr.<br />

Gilt Clara Zetkins Wertung dennoch? Ich<br />

denke, sie gilt nach wie vor.<br />

Dies unterstreicht auch Eric Hobsbawm,<br />

einer der bedeutendsten Historiker unserer<br />

Zeit, wenn er schreibt: „Die <strong>Oktoberrevolution</strong><br />

brachte die gewaltigste Revolutionsbewegung<br />

der modernen Geschichte hervor.“<br />

Sie mit der größten bürgerlichen Revolution,<br />

der Französischen Revolution von 1789, vergleichend,<br />

bescheinigt Hobsbawm der <strong>Oktoberrevolution</strong><br />

„ein sehr viel stärkeres und<br />

globaleres Echo als ihre(r) Vorgängerin. ... die<br />

faktischen Auswirkungen von 1917 waren bei<br />

weitem größer und anhaltender als die von<br />

1789.“ 3 Hobsbawm verweist auf ein entscheidendes<br />

Element dieser Einschätzung: „Der<br />

Sieg der Sowjetunion über Hitler war die<br />

Leistung jenes Regimes, das mit der Okto-<br />

THEMA 25<br />

berrevolution etabliert worden war ... Ohne<br />

die <strong>Oktoberrevolution</strong> bestünde die Welt<br />

(außerhalb der USA) <strong>heute</strong> wahrscheinlich<br />

eher aus einer Reihe von autoritären und<br />

faschistischen Varianten als aus einem Ensemble<br />

unterschiedlicher liberaler, parlamentarischer<br />

Demokratien.“ 4<br />

Die <strong>Oktoberrevolution</strong> 1917 bildete einen<br />

Knotenpunkt im Leben und Wirken Clara<br />

Zetkins. Dieses war in zwei historischen<br />

Epochen verankert. Vor dem Oktober 1917<br />

lagen – seit ihrem Eintritt in die Sozialistische<br />

Arbeiterpartei 1878 – fast vier Jahrzehnte<br />

politischen und theoretischen Kampfes in den<br />

Reihen der sozialistischen Bewegung. Franz<br />

Mehring sagt von ihr, dass „in der Kenntnis<br />

der marxistischen Theorie wenige Lebende<br />

sich mit Clara Zetkin messen können und<br />

sicherlich keiner ihr darin überlegen ist“. 5 Wie<br />

Rosa Luxemburg stand sie unwandelbar auf<br />

dem linken Flügel der Partei und bekämpfte<br />

unablässig die theoretischen und politischen<br />

Positionen, die in der sozialistischen Bewegung<br />

als „Revisionismus“ und „Reformismus“<br />

charakterisiert wurden. Mit August Bebel,<br />

Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Wilhelm<br />

und Karl Liebknecht und jahrzehntelang<br />

auch mit Karl Kautsky teilte sie die<br />

Auffassung, dass die bürgerliche Gesellschaft<br />

durch die proletarische Revolution überwunden<br />

werden müsse und diese aus einer wirklich<br />

tiefgehenden und umfassenden Krise dieser<br />

Gesellschaft hervorgehen könnte.<br />

Folgerichtig wertete sie die <strong>Oktoberrevolution</strong><br />

sofort als proletarische Revolution,<br />

als historischen Wendepunkt. Für<br />

Clara Zetkin war diese Revolution, die sie seit<br />

Jahrzehnten theoretisch antizipiert hatte, in<br />

der sie das Ziel ihrer politischen Tätigkeit<br />

erblickte, deren Ausbruch in Russland sie seit<br />

1<strong>90</strong>5 für möglich gehalten hatte, mit der die<br />

internationalen Beschlüsse von Stuttgart 1<strong>90</strong>7<br />

und Basel 1912 rechneten – für Clara war<br />

diese jetzt als Russische <strong>Oktoberrevolution</strong><br />

ins Leben getretene Revolution ein politisches<br />

und geistiges Schlüsselerlebnis.<br />

Die <strong>Oktoberrevolution</strong> war für sie – wie sie<br />

in einem Statement zu deren 10. <strong>Jahre</strong>stag


26<br />

Heinz Karl: Clara Zetkin – <strong>Oktoberrevolution</strong> und die sozialistische Perspektive<br />

erklärte – „das geschichtliche Reifezeugnis<br />

des Weltproletariats für seine Emanzipation“.<br />

6 Seit 1917 erörtert Clara Zetkin im<br />

Grunde kein wesentliches politisches oder<br />

theoretisches Problem ohne Bezug auf die<br />

<strong>Oktoberrevolution</strong> und deren Wirkungen.<br />

Ein Sieg der Bolschewiki!<br />

Bei den führenden Köpfen der Spartakusgruppe<br />

fand der Russische Oktober sofort ein<br />

starkes, zustimmendes Echo. Rosa Luxemburg<br />

feierte ihn Mitte November als „eine<br />

weltgeschichtliche Tat, deren Spur in Äonen<br />

nicht untergehen wird“ 7 . Aber ihre Begeisterung<br />

war gemischt mit Skepsis: „Natürlich<br />

werden sie sich ... nicht halten können ...“ 8 –<br />

und bald auch mit Unverständnis für den bolschewistischen<br />

„Friedensfanatismus“ 9 . Für<br />

Karl Liebknecht stand der „ungeheure Prozess<br />

der sozialen und wirtschaftlichen Revolutionierung<br />

Russlands ... im Beginn, vor unbegrenzten<br />

Möglichkeiten – weit größern als die<br />

Große Französ. Revolution“ 10 . In der Sowjetregierung<br />

erblickte er die Diktatur des Proletariats<br />

11 , hatte aber auch sein Problem mit der<br />

bolschewistischen Friedenspolitik 12 . „Die russische<br />

Revolution hat das Signal einer besseren<br />

Zukunft gegeben“ erklärte Franz Mehring.<br />

Er rügte „den Kleinmut“ derer, „die dem<br />

Wahne huldigen, durch einen Sonderfrieden<br />

entleibe die russische Revolution sich selbst“,<br />

fand es aber andererseits doch auch „zu<br />

beklagen, wenn sich die russische Revolution<br />

zu einem Sonderfrieden mit den Mittelmächten<br />

bereit erklärt“. 13<br />

Clara Zetkin sah schärfer und weiter. Bereits<br />

wenige Tage nach der Proklamation der<br />

Sowjetmacht am 9. November äußert sie sich<br />

(am 16. November 1917) in der Frauenbeilage<br />

der „Leipziger Volkszeitung“. Sie qualifiziert<br />

das Ereignis als „Triumph der konsequent<br />

festgehaltenen und durchgeführten grundsätzlichen<br />

und taktischen Auffassung der<br />

Bolschewiki“ 14 , welche die Diktatur des Proletariats<br />

angestrebt hätten. Diese hätten sich<br />

durchgesetzt, weil die Regierungsparteien einschließlich<br />

der Sozialrevolutionäre und der<br />

Menschewiki sich als vollkommen unfähig erwiesen,<br />

die vor der Revolution stehenden<br />

Aufgaben – namentlich das Friedensproblem<br />

und die Agrarfrage – zu lösen. Es zeigt sich<br />

hier eine bemerkenswerte Übereinstimmung<br />

mit der Einschätzung der Dinge, wie sie –<br />

allerdings ein Dreivierteljahr später – Rosa<br />

Luxemburg in ihrer Niederschrift „Zur russischen<br />

Revolution“ gibt. 15 Klarsichtig erkannte<br />

Clara Zetkin in der unbedingten und raschesten<br />

Herbeiführung des Friedens die Frage von<br />

Sein oder Nichtsein der Revolution, „die<br />

Kraftprobe der Reife und Macht“ 16 der revolutionären<br />

Bewegung und wichtigste internationale<br />

Wirkung der Revolution.<br />

In einem Artikel vom 30. November bekräftigte<br />

und konkretisierte Clara Zetkin ihre<br />

Einschätzung des Charakters der <strong>Oktoberrevolution</strong>.<br />

Zugleich setzte sie sich mit Auffassungen<br />

auseinander, die aus der sozialökonomischen<br />

und kulturellen Rückständigkeit<br />

Russlands ein zwangsläufiges Scheitern der<br />

Revolution folgerten, 17 wiederum in frappierendem<br />

Gleichklang mit Rosa Luxemburgs<br />

entsprechender Polemik gegen Kausky. 18 Wie<br />

Rosa in ihren Notizen vom Herbst 1918 wandte<br />

Clara Zetkin sich dagegen, die Frage der<br />

revolutionären Reife nur auf Grund der<br />

genannten Faktoren, nicht unter Beachtung<br />

der konkreten historischen und nationalen<br />

Bedingungen, sondern unter Verabsolutierung<br />

westlicher Maßstäbe und ohne gebührende<br />

Berücksichtigung des subjektiven Faktors<br />

zu beantworten.<br />

Bei aller Betonung der Schwierigkeiten<br />

zweifelt sie nicht daran, dass es der Sowjetmacht<br />

gelingen werde, sich zu behaupten.<br />

Diese Zuversicht korrespondiert mit ihrer<br />

Wertung der Sowjetmacht als erstmaliger<br />

Verwirklichung der Diktatur des Proletariats<br />

seit der Pariser Kommune. Gilbert Badia<br />

bemängelt in seiner Zetkin-Biographie, dass<br />

Clara die Errichtung der Sowjetmacht „ohne<br />

Vorbehalte von Anfang an gebilligt und verteidigt“<br />

19 hat, ebenso, dass sie von Anfang an<br />

den Leninschen Kurs auf unverzügliches Ausscheiden<br />

aus dem imperialistischen Krieg<br />

unterstützt. Doch in diesen Haltungen offen-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

bart sich ja gerade das außergewöhnliche politische<br />

und theoretische Format Clara Zetkins.<br />

Badia führt Claras Entschiedenheit neben<br />

politischen Motiven auch wesentlich auf<br />

gefühlsmäßige Momente zurück, wie „persönliche<br />

Verzweiflung“, die sie durch „politische<br />

Hoffnung“ zu kompensieren bemüht war. 20<br />

Eine solche Betrachtung, für die es in<br />

ihrem politischen Wirken keine realen<br />

Anhaltspunkte gibt, wird Clara Zetkin in keiner<br />

Weise gerecht. Ihren Urteilen lagen<br />

gründliche historisch-materialistische Einschätzungen<br />

der politischen Kräfte und der<br />

Kräfteverhältnisse zugrunde, die – wie die<br />

weitere Entwicklung ja mit aller Deutlichkeit<br />

zeigte – realistisch waren, auf einer gekonnten<br />

theoretischen Analyse fußten.<br />

„... für Rosa & die<br />

russische Revolution ...“<br />

Ende 1921/Anfang 1922 verfasste Clara Zetkin<br />

eine ihrer umfangreichsten Arbeiten: Um<br />

Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution.<br />

Anlass war, dass Paul Levi (von Dezember<br />

1920 bis Februar 1921 einer der Vorsitzenden<br />

der VKPD und im April 1921 aus<br />

der Partei ausgeschlossen) Ende 1921 Rosa<br />

Luxemburgs bereits erwähnte Niederschrift<br />

„Zur russischen Revolution“ publizierte, die<br />

sie im September/Oktober 1918 im Gefängnis<br />

– vor allem zu ihrer Selbstverständigung – verfasst<br />

hatte. Seinerzeit war nicht nur Leo<br />

Jogiches, sondern auch Paul Levi entschieden<br />

gegen eine Veröffentlichung gewesen. Levi<br />

versah sie mit einer Einleitung, die länger war<br />

als der Luxemburg-Text und seine Absicht<br />

deutlich werden ließ. Sie war von der ersten<br />

bis zur letzten Seite eine demagogische Denunziation<br />

der seit dem Frühjahr 1921 in<br />

Sowjetrussland durchgeführten Neuen Ökonomischen<br />

Politik.<br />

„Seit dem Februar 1921 hat die Politik der<br />

Bolschewiki einen völligen Umschwung erfahren.<br />

Konzession reiht sich an Konzession,<br />

Kompromiss an Kompromiss.“ 24 Lenin weise<br />

jetzt den Weg zur Restauration des Kapitalismus.<br />

„Nicht nur ökonomisch streichen die<br />

THEMA 27<br />

Bolschewiki ihre alten Ziele. Sie tun es auch<br />

ideell.“ 25 Levi begründet das mit Lenins Feststellung,<br />

dass man nicht auf Grund des Enthusiasmus<br />

unmittelbar, sondern auf Grund<br />

des persönlichen Interesses, der persönlichen<br />

Interessiertheit, der wirtschaftlichen Rechnungsführung<br />

gangbare Wege suchen müsse, 26<br />

der Levi dogmatisch Aussagen Lenins von<br />

1918 (!) und 1919 (!) entgegenstellte. Ein anderer<br />

Angriff Levis richtete sich gegen das<br />

Bündnis mit der werktätigen Bauernschaft,<br />

die der Arbeiterklasse „unversöhnlich“ 27<br />

gegenüberstehe; die Bolschewiki aber hätten<br />

sich für die Bauern, gegen die Arbeiter entschieden<br />

28 . Die NÖP bedeute „eine grundsätzliche<br />

Änderung der Sowjetrepublik in jeder<br />

Beziehung“ 29 . „Was also ist von der ‚Diktatur<br />

des Proletariats’ geblieben? Nichts.“ 30 Lenin<br />

gehe zum Kapitalismus wie die SPD zu<br />

Stinnes. Dies wecke Zweifel nicht nur an der<br />

Politik der KPR, sondern am Sozialismus<br />

überhaupt. „Womit sollen die deutschen Arbeiter<br />

Stinnes bekämpfen, wenn er ihnen aus<br />

der ‚Roten Fahne’ den Artikel von Lenin vorliest:<br />

‚Die persönliche Interessiertheit hebt die<br />

Produktion.’“ 31 Levi beschwor Rosa Luxemburg<br />

als Kronzeugin für seine von Dogmatismus<br />

und Antikommunismus getragenen Angriffe<br />

auf die KPR und behauptete, dass ihre<br />

Darlegungen von 1918 „ihr Urteil auch über<br />

die jetzige Politik der Bolschewiki ahnen lassen.“<br />

32 Clara Zetkin bemerkte dazu sarkastisch:<br />

„Zum ‚Ahnenlassen’ als entscheidendes<br />

Moment geschichtlicher Einschätzung fehlen<br />

uns noch Tischklopfen und Aussprüche eines<br />

Mediums als Äußerungen Luxemburgischen<br />

Geistes. Lebte Rosa noch, so würde sie sich<br />

derartigen politischen Spiritismus sehr<br />

unwirsch verbitten.“ 33<br />

Am 21. Januar 1922 teilte Clara Zetkin<br />

ihrem Sohn Maxim mit: „Ich habe zur Antwort<br />

auf Levis Veröffentlichung der ‚Nachlassbroschüre’<br />

Rosas eine große Arbeit gemacht,<br />

eine ganze Broschüre. ... Ich habe sie in<br />

gleicher Liebe für Rosa & die russische Revolution<br />

geschrieben.“ 34 Im Vorwort erläuterte<br />

sie: „Probleme der proletarischen Revolution<br />

bilden den Inhalt meiner Darlegungen.


28<br />

Heinz Karl: Clara Zetkin – <strong>Oktoberrevolution</strong> und die sozialistische Perspektive<br />

... Sie tragen nach meiner Ansicht dazu bei, die<br />

grundsätzlichen Unterschiede der politischen<br />

Einstellung zwischen kleinbürgerlich-demokratischen<br />

Reformsozialisten und revolutionären<br />

Kommunisten scharf hervortreten zu<br />

lassen.“ 35 In ihrer Schrift unterstrich sie Rosa<br />

Luxemburgs grundsätzliches Bekenntnis zur<br />

Politik der Bolschewiki. Sie hob hervor, dass<br />

Rosa sich in der Frage der Konstituante völlig<br />

revidiert hatte und verwahrte sich gegen Levis<br />

Bestreben, Rosas falsche Auffassungen in der<br />

Agrar- und Bündnispolitik gegen die Bolschewiki<br />

auszuspielen. Sie kritisierte Levis<br />

methodologischen Grundfehler des unhistorischen,<br />

undialektischen Herangehens: „Paul<br />

Levi hat die bolschewistische Agrarpolitik als<br />

‚Ding an und für sich’ behandelt, ohne nach<br />

dem geschichtlichen Boden zu fragen, auf<br />

dem sie sich durchsetzen muss.“ 36 Gegen Levis<br />

Hantieren mit abstrakten Demokratievorstellungen<br />

bemerkte sie: „Unbeschadet seines<br />

hehren, idealen Inhalts und Ziels hat es der<br />

wissenschaftliche Sozialismus im Gegensatz<br />

zu dem Utopismus abgelehnt..., ‚ewige sittliche<br />

Prinzipien’ als Grundlage der künftigen<br />

höheren sozialen Ordnung zu betrachten. Ihre<br />

tragende Kraft erblickt er in der Entwicklung<br />

der Produktivkräfte ...“ 37<br />

Erfahrungen und Lehren<br />

des ersten Versuchs<br />

Mit großer Aufmerksamkeit verfolgte Clara<br />

Zetkin den Versuch, die Sowjetrepubliken<br />

über verschiedene Zwischenstufen auf die<br />

Bahn einer sozialistischen Entwicklung zu leiten.<br />

Nachdrücklich verteidigte sie die NÖP als<br />

einen schrittweisen, realistischen Zugang in<br />

Richtung Sozialismus. Auf dem IV. Weltkongress<br />

der Komintern (1922) sagte sie von der<br />

Politik der sowjetischen Kommunisten, sie sei<br />

„der erste Versuch weltgeschichtlichen Maßes,<br />

den Marxismus aus einer Theorie zur Praxis<br />

zu machen, sie ist der erste große weltgeschichtliche<br />

Versuch, das Proletariat vom Objekt<br />

der Geschichte zu ihrem Subjekt zu erheben.“<br />

38 Sie machte damit deutlich, worin die<br />

Anziehungskraft des Sowjetstaates auf Kom-<br />

munisten und Revolutionäre in aller Welt lag,<br />

worauf sich insbesondere die Autorität der<br />

KPR(B) in der Komintern vor allem gründete.<br />

Als wichtigste Lehre der <strong>Oktoberrevolution</strong><br />

und der folgenden sowjetischen Entwicklung<br />

für die internationale Arbeiterbewegung<br />

betrachtete Clara Zetkin die Lösung<br />

der Machtfrage als unumgänglichen Durchgangspunkt<br />

auf dem Wege zum Sozialismus.<br />

Bei allen Erörterungen dieser Problematik<br />

müssen wir uns – so erklärte sie in ihrem Referat<br />

auf dem IV. Weltkongress – „über das<br />

Zentralproblem klarbleiben. Das Zentralproblem<br />

ist die Eroberung und Bewahrung der<br />

politischen Macht, ist die Staatsgewalt in den<br />

Händen des Proletariats. Mit ihr steht und<br />

fällt die Möglichkeit, die Gesellschaft zum<br />

Kommunismus umzuwälzen, und das als Werk<br />

des Proletariats selbst. Der Behauptung der<br />

Staatsmacht durch das Proletariat und für das<br />

Proletariat sind alle anderen Erwägungen<br />

unterzuordnen.“ 39<br />

Sie erläuterte diesen Kerngedanken durch<br />

den Vergleich der Erfahrungen in Russland<br />

und in Deutschland seit 1917/1918. In ihrem<br />

Bemühen, den Weg der <strong>Oktoberrevolution</strong> zu<br />

analysieren, seine Erfahrungen für die internationale<br />

revolutionäre Bewegung auszuwerten,<br />

nutzbar zu machen, widmete Clara sich<br />

natürlich auch dem Verhältnis von Allgemeinem<br />

und Besonderem im Komplex dieser<br />

Erfahrungen. In ihrer Schrift „Um Rosa<br />

Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution“<br />

betonte sie: „In der geschichtlichen<br />

Rechtfertigung der bolschewistischen Politik<br />

– in ihrer großen allgemeinen Linie – liegt<br />

gleichzeitig ihre Begrenzung.“ 40 Die russische<br />

Revolution habe wesentliche Züge des Kampfes<br />

der Klassen um den Sozialismus herausgearbeitet.<br />

„Jedoch das Wie ihrer Durchsetzung<br />

wird zweifellos sehr verschieden sein. Es<br />

hängt ab von dem großen Komplex vielgestaltiger<br />

und vielverschlungener Umstände, die in<br />

den einzelnen Ländern nebeneinander liegen,<br />

gegeneinander streiten und höchste geschichtliche<br />

Aktivität erlangen, wenn der Hammerschlag<br />

der Revolution die überkommenen<br />

sozialen Normen und Bindungen zerstört. Es


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

wird nicht zuletzt bestimmt werden von dem<br />

Reifegrad der kapitalistischen Wirtschaft für<br />

den Kommunismus und durch das Kräfteverhältnis<br />

der miteinander ringenden Klassen.“ 41<br />

„... schwierigste Probleme ...“<br />

Für Clara Zetkin stand es außer Frage, dass<br />

die sozialistische Umgestaltung der Sowjetunion<br />

eine reale Möglichkeit war. Zugleich<br />

war sie bemüht, die ungünstigen, die sozialistische<br />

Perspektive gefährdenden Momente und<br />

die Bedingungen ihrer Überwindung zu erfassen.<br />

Hier verwies sie vor allem auf die ökonomische<br />

und technische Zurückgebliebenheit<br />

des Landes und „in Verbindung damit die verhältnismäßige<br />

Schwäche, Unerfahrenheit,<br />

mangelnde Schulung und geringe Arbeitsdisziplin<br />

des Industrieproletariats, die in der<br />

Vergangenheit verwurzelte Betriebsweise,<br />

Mentalität und Kulturarmut der ungeheuren<br />

Mehrzahl der schaffenden Massen überhaupt“<br />

42 . Im Widerspruch zwischen dem Streben<br />

nach Verwirklichung des Sozialismus und<br />

den außerordentlich ungünstigen objektiven<br />

und subjektiven Voraussetzungen dafür erblickte<br />

Clara Zetkin „die Tragik der russischen<br />

Revolution“ 43 .<br />

Unter den Widersprüchen der Sowjetgesellschaft<br />

erachtete sie den zwischen sozialisierter<br />

Großindustrie und „der ganz überwiegend<br />

primitiven Landwirtschaft“ 46 als von besonderer<br />

Tragweite. Die private Bauernwirtschaft<br />

konserviere die niedrige Produktivität;<br />

zugleich erzeuge sie Kapitalismus und fördere<br />

die soziale Differenzierung. „Nebeneinander,<br />

sich kreuzend und verschlingend, laufen sozialistische<br />

und kapitalistische Entwicklungstendenzen.“<br />

47 Im agrarischen Charakter des<br />

Landes, in der Schlüsselrolle der Getreideernte<br />

und ihres möglichen Exportanteils für<br />

die Akkumulationskraft sah Clara Zetkin<br />

„schwierigste Probleme ..., die die Gefahr<br />

starker wirtschaftlicher, politischer und sozialer<br />

Krisen, das Abdrängen von kommunistischen<br />

Zielen in sich bergen“ 48 .<br />

Ein Ausweg aus dieser überaus komplizier-<br />

THEMA 29<br />

ten Situation eröffnete sich nach Clara Zetkin<br />

nur, wenn entweder die industrielle und proletarische<br />

Basis quantitativ und qualitativ entscheidend<br />

gestärkt würde oder aber von<br />

außen, durch neue Räterepubliken „mit höchster<br />

wirtschaftlicher Entwicklung und höchster<br />

Kultur“ 49 Unterstützung käme.<br />

Ein zweiter Aspekt, den Clara Zetkin<br />

ansprach, sollte sich als äußerst folgenschwer<br />

erweisen. Sie warnte davor, die Lösung der<br />

Machtfrage, so entscheidend sie auch sei, zu<br />

überschätzen, sie mit der sozialistischen<br />

Umwälzung selbst zu verwechseln, zu verkennen,<br />

dass sie nur an deren Aufgaben heranführe,<br />

nur Voraussetzungen zu ihrer Lösung<br />

schaffe. 50 Mit Nachdruck erklärte sie auf dem<br />

IV. Kongress der Komintern, dass „mit der<br />

Eroberung der politischen Macht und mit<br />

ihrer Behauptung das Proletariat noch nicht<br />

über den Berg gekommen ist, sondern erst<br />

dicht vor dem Berge steht. Es muss durch die<br />

Gesamtpolitik und namentlich durch die<br />

Wirtschaftspolitik“ 51 zum Sozialismus gelangen.<br />

Dabei gelte es, schwierige Probleme zu<br />

lösen, insbesondere das Verhältnis zwischen<br />

Stadt und Land, die Beziehungen zwischen<br />

dem Sowjetstaat und den wirtschaftlichen<br />

Organisationen der Werktätigen, den Ge−<br />

werkschaften und Genossenschaften, „zwischen<br />

den produzierenden Arbeitern auf der<br />

einen Seite und den Angestellten, Beamten in<br />

den Betrieben auf der anderen, der Bürokratie<br />

in den zentralen und lokalen Sowjetämtern“<br />

52 .<br />

In diesem Zusammenhang entwickelte<br />

Clara Zetkin den wichtigen Gedanken, dass<br />

die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft<br />

als „eine wirklich umwälzende Sozialreform“<br />

vollzogen werden könne. Ihre Basis<br />

ist „der Staat der fortgeschrittensten Arbeiterschutzgesetzgebung<br />

und sozialen Fürsorge“,<br />

ihre Träger, bewegende Kräfte sind<br />

Gewerkschaften und Genossenschaften.<br />

Diese „haben in Verbindung mit den Sowjetorganen<br />

die Durchführung der Arbeitsgesetzgebung<br />

und sozialen Fürsorge zu überwachen<br />

und ihre weitere, bessere Ausgestaltung zu<br />

bewirken“. 53 Später ergänzte und präzisierte


30<br />

Heinz Karl: Clara Zetkin – <strong>Oktoberrevolution</strong> und die sozialistische Perspektive<br />

sie diesen Gedanken durch die These, dass<br />

„nach der Machteroberung ... Reformen und<br />

Demokratie zu Bausteinen der sozialistischen<br />

Ordnung“ 54 werden. Diese Überlegungen korrespondierten<br />

mit Lenins Vorstellungen über<br />

die notwendige Entwicklung einer lebendigen<br />

sozialistischen Demokratie und über die Rolle<br />

des Genossenschaftswesens als einer Schlüsselfrage<br />

des sozialistischen Aufbaus, die er von<br />

der Gewerkschaftsdiskussion Ende 1920 bis<br />

zu seinen letzten Artikeln und Notizen 1923<br />

immer nachdrücklicher vorgetragen hatte.<br />

Diese von Clara Zetkin offensichtlich geteilten<br />

Vorstellungen wiesen den – nach Lenins<br />

Tod nur sehr inkonsequent, mit ganz wesentlichen<br />

Abstrichen und teilweise deformiert<br />

weiter gegangenen - Weg einer schrittweisen,<br />

realistischen, wissenschaftlich begründeten<br />

sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft.<br />

Um die sozialistische Perspektive<br />

Im Zusammenhang mit der Wiederherstellung<br />

der Volkswirtschaft in der UdSSR und<br />

der kapitalistischen Stabilisierung spitzten<br />

sich Mitte der Zwanzigerjahre die Debatten<br />

über die Perspektiven des sozialistischen<br />

Aufbaus zu. Nikolai Bucharin hatte 1920 in<br />

seinem Buch „Ökonomik der Transformationsperiode“<br />

die Perspektive einer Stärkung<br />

und Vermehrung der Sowjetstaaten entworfen<br />

55 . Danach hatte sich die revolutionäre<br />

Entwicklung verlangsamt. Auf dem IV. Weltkongress<br />

der KI (November/Dezember 1922)<br />

ging von den vier Referenten zum Thema<br />

„Fünf <strong>Jahre</strong> russische Revolution und die<br />

Perspektiven der Weltrevolution“ (W. I.<br />

Lenin, Clara Zetkin, Béla Kun, Leo Trotzki)<br />

letzterer besonders auf die ökonomischen<br />

Probleme ein. Er konstatierte, dass hinter dem<br />

Privatkapital der NÖP das Weltkapital stehe.<br />

Das Staatsmonopol sei „der Schutz gegen den<br />

Kapitalismus, der den beginnenden Sozialismus<br />

aufkaufen will“. 56 Trotzki fügte hinzu,<br />

dass „wir nicht mit der Ewigkeit rechnen,<br />

sondern mit einer gewissen geschichtlichen<br />

Periode, bis die großen westlichen Reserven,<br />

die zur Avantgarde werden müssen, auf die<br />

Bühne kommen.“ 57 „Wenn die kapitalistische<br />

Welt aber noch mehrere Jahrzehnte existiert,<br />

nun ja, – dann würde dies für das sozialistische<br />

Russland das Todesurteil bedeuten.“ 58<br />

Diesen Aussagen von großer Tragweite<br />

wurde von niemandem – weder direkt noch<br />

indirekt – widersprochen. Sie brachten offenbar<br />

die allgemeine Auffassung dieser Problematik<br />

zu Ausdruck.<br />

Drei <strong>Jahre</strong> später war mit der kapitalistischen<br />

Stabilisierung die Situation noch komplizierter,<br />

die Frage der Perspektive noch<br />

drängender geworden. Die Mehrheit der<br />

KPR(B), repräsentiert durch den Generalsekretär<br />

des ZK, Josef Stalin, den sowjetischen<br />

Regierungschef, Alexej Rykow, den angesehensten<br />

Theoretiker der Partei und der Komintern,<br />

Nikolai Bucharin, den Gewerkschaftsvorsitzenden,<br />

Michail Tomski und das Staatsoberhaupt,<br />

Michail Kalinin, trat unter diesen<br />

konkreten historischen Bedingungen für den<br />

fortschreitenden Aufbau des Sozialismus im<br />

Rahmen der UdSSR ein. Als wichtigste<br />

innen- und außenpolitische Bedingungen<br />

erachtete sie die Erhaltung und Festigung des<br />

Bündnisses mit den werktätigen Bauern und<br />

„normale“ Beziehungen zu den kapitalistischen<br />

Staaten. Eine Minderheit, repräsentiert<br />

durch die Politbüromitglieder Leo Trotzki,<br />

Grigorij Sinowjew (bis Herbst 1926 Vorsitzender<br />

der Komintern) und Lew Kamenew<br />

(bis Dezember 1925 Vorsitzender des Politbüros<br />

des ZK), verstand sich als linke Opposition.<br />

Sie stigmatisierte das Konzept der<br />

Mehrheit als „Ersetzung der internationalen<br />

revolutionären Perspektive“ durch eine „nationalreformistische<br />

Perspektive“ 59 .<br />

Am spektakulärsten prallten die divergierenden<br />

Positionen auf dem VII. Erweiterten<br />

EKKI-Plenum (November/Dezember 1926)<br />

zusammen. Leo Trotzki konstatierte eine<br />

„Abhängigkeit vom Weltmarkt, vom Kapitalismus,<br />

von seiner Technik und Wirtschaft“<br />

und erklärte: „In Wirklichkeit steht unser sozialistischer<br />

Staat immer – direkt oder indirekt<br />

– unter der vergleichenden Kontrolle des<br />

Weltmarktes. ... in letzter Instanz kontrolliert


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

die Weltwirtschaft jeden ihrer Bestandteile,<br />

auch wenn der betreffende Bestandteil unter<br />

der proletarischen Diktatur steht ...“ 60 Dies<br />

war alles andere als substanzlose Schwarzseherei;<br />

es warf reale Probleme auf, die für die<br />

Behauptung und Entwicklung des entstehenden<br />

Sozialismus von existenzieller Bedeutung<br />

waren. Sie konnten für ihn – wie die weitere<br />

Entwicklung bis 1989/<strong>90</strong> bewiesen hat – zu<br />

einer tödlichen Gefahr werden, wenn er auf<br />

sie keine offensive Antwort fand. Diese konnte<br />

grundsätzlich nur – wie von Lenin mit aller<br />

Schärfe herausgearbeitet – im konsequenten<br />

Kampf um die höhere Arbeitsproduktivität<br />

bestehen.<br />

Darauf aber ging Trotzki nicht ein. Er<br />

brachte seine – zweifellos ernstzunehmenden<br />

– Bedenken vor, ließ aber offen, welche<br />

Alternative zum Konzept der Mehrheit er<br />

habe. An anderer Stelle – in einem von ihm<br />

zustimmend zitierten Dokument der Opposition<br />

vom März 1927 – hieß es allerdings:<br />

„Das europäische Proletariat braucht für den<br />

Anlauf zur Machtergreifung viel weniger Zeit,<br />

als wir brauchen, um Europa und Amerika<br />

technisch einzuholen ... die proletarische<br />

Revolution in Europa ... wird ... uns um die<br />

Welttechnik bereichern ...“ 61 Dies macht deutlich,<br />

dass die trotzkistische Opposition das<br />

Problem wohl sah, aber die notwendigen Konsequenzen<br />

seiner Lösung sc<strong>heute</strong> und sich auf<br />

die Ebene der Spekulation begab, einen unsicheren<br />

Wechsel auf die Zukunft ausstellte,<br />

von dem niemand sagen konnte, wann er eingelöst<br />

würde, ja ob überhaupt. In seiner an<br />

den VI. Weltkongress 1928 gerichteten Kritik<br />

des Programmentwurfs der KI schrieb Trotzki:<br />

„Wir müssen ihnen (den sowjetischen<br />

Werktätigen – H. K.) sagen, dass wir erst dann<br />

auf den Weg eines wirklichen sozialistischen<br />

Aufbaus kommen, wenn das Proletariat der<br />

fortgeschrittensten Länder die Macht erobert<br />

hat ...“ 62 . Eine solche Konstellation hat sich<br />

aber bis <strong>heute</strong> nicht ergeben. Wie die Geschichte<br />

lehrte, gab es zur Entscheidung der<br />

KPR(B)-Mehrheit keine reale Alternative.<br />

Bucharin entgegnete Trotzki, er stelle die<br />

Frage einseitig, undialektisch, denn es „wird<br />

THEMA 31<br />

unsere ökonomische Basis immer fester unter<br />

der Voraussetzung, das wir unsere Verbindungen<br />

mit dem kapitalistischen Ausland auszunützen<br />

verstehen.“ 67 Alexej Rykow verwies<br />

darauf, dass Planwirtschaft, Außenhandelsmonopol<br />

und Industrialisierung die Abhängigkeit<br />

vom kapitalistischen Ausland verringern.<br />

Das Konzept der Opposition (erhöhte<br />

Besteuerung der Bauern und Preiserhöhungen<br />

für Industrieerzeugnisse) würde das<br />

Bündnis mit der Bauernschaft sprengen. 68<br />

Palmiro Togliatti (Ercoli) stellte fest, dass die<br />

Opposition keine Perspektive der Entwicklung<br />

und des Erfolges der russischen Revolution<br />

hat. „Dieser Mangel an Vertrauen, den ihr<br />

gegenüber der Möglichkeit des Aufbaus des<br />

Sozialismus habt, veranlasst euch fieberhaft<br />

nach den direkten Perspektiven zu suchen bei<br />

allen Fällen, die sich im Ausland ereignen<br />

(englischer Generalstreik usw.).“ 69 Clara<br />

Zetkin sprach gegen Ende der Debatte. Sie<br />

wandte sich dagegen, in den Werken der<br />

Klassiker nach Rezepten zu suchen. Man<br />

müsse bei ihnen vor allem die Arbeits- und<br />

Forschungsmethode lernen, um sie auf die<br />

höchst unterschiedlichen und sich ständig verändernden<br />

konkreten Umstände anzuwenden.<br />

Was den sozialistischen Aufbau angehe,<br />

so stehe nicht mehr „die abstrakte Frage: Ist<br />

der Sozialismus in einem Lande möglich, ohne<br />

dass ihm die Revolution in einigen hochentwickelten<br />

kapitalistischen Ländern in Gestalt<br />

von Sowjetstaaten Bundesgenossen an die<br />

Seite stellt?“ Durch die <strong>Oktoberrevolution</strong><br />

und die Behauptung der Sowjetmacht sei eine<br />

andere, „lebensstrotzende Frage ... auf die<br />

Tagesordnung der Geschichte gestellt“: Die<br />

„Aufrechterhaltung und Weiterführung des<br />

sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion<br />

...“ 70 Jetzt gehe es um das Wie und die Mobilisierung<br />

der Kräfte. Die kapitalistische Umwelt<br />

berge nicht nur Gefahren, sondern auch<br />

Möglichkeiten. Der Sowjetunion kämen zwei<br />

wichtige begünstigende Faktoren zugute: ihre<br />

gewaltige Ausdehnung und ihr Reichtum an<br />

natürlichen Ressourcen. Außerordentlich gefährlich<br />

– und auch den subjektiven Faktor<br />

lähmend – sei die Neigung der Opposition,


32<br />

Heinz Karl: Clara Zetkin – <strong>Oktoberrevolution</strong> und die sozialistische Perspektive<br />

sich „in Wunschvorstellungen über die proletarische<br />

Weltrevolution (zu) flüchten, die mit<br />

einem Schlag alle Probleme und Aufgaben<br />

lösen und alle Schwierigkeiten beseitigen<br />

wird.“ 71 Entschieden wandte sie sich gegen all<br />

jene – wie Ruth Fischer und die deutschen<br />

Ultralinken – „die sich mit Eifer auf die russische<br />

Frage stürzten, um dadurch zu verdekken,<br />

dass ihnen vollständig die politische<br />

Fähigkeit fehlt, die Probleme und Aufgaben<br />

der kommunistischen Partei im eigenen<br />

Lande auch nur richtig zu sehen und zu formulieren,<br />

geschweige denn zu lösen.“ 72 Eine<br />

zweifellos noch <strong>heute</strong> aktuelle Polemik.<br />

Clara Zetkin hat in allen politischen und<br />

theoretischen Debatten, in denen es um die<br />

<strong>Oktoberrevolution</strong>, ihre Erfahrungen und<br />

Lehren, die von ihr ausgehenden Wirkungen<br />

und Impulse ging, drei Grundpositionen vertreten.<br />

Erstens betonte sie immer die Machtfrage<br />

als die Kernfrage revolutionärer Prozesse und<br />

progressiver Gesellschaftsgestaltung.<br />

Zweitens kennzeichnete sie immer die<br />

Frage des Verhältnisses der Arbeiterklasse –<br />

der führenden Klasse im Kampf gegen das<br />

Kapital – zu den werktätigen Bauern und den<br />

Mittelschichten überhaupt (namentlich auch<br />

der Intelligenz), d. h. das Problem ihrer Hegemonie,<br />

als eine Lebensfrage jeder revolutionären<br />

Bewegung und jedes revolutionären<br />

Staates.<br />

Drittens betrachtete sie – unter den Bedingungen<br />

der Diktatur des Proletariats – die<br />

volle Entfaltung der Sozialreform im weitesten<br />

Sinne (d. h. einschließlich der Umgestaltung<br />

des kulturellen Lebens usw.) und die<br />

volle Verwirklichung einer lebendigen sozialistischen<br />

Demokratie als wichtigste Formen<br />

und Methoden einer schrittweisen sozialistischen<br />

Umwälzung der Gesellschaft in Richtung<br />

einer immer vollständigeren und umfassenderen<br />

Verwirklichung sozialistischer Verhältnisse.<br />

Clara Zetkin lenkt immer wieder das Augenmerk<br />

auf die beiden entscheidenden, mit<br />

der <strong>Oktoberrevolution</strong> beginnenden Wirkungen<br />

der sozialistischen Umwälzung der Ge-<br />

sellschaft: zum einen die Entmachtung des<br />

Kapitals mit all ihren sozialen und kulturellen<br />

Folgen und sich eröffnenden Möglichkeiten;<br />

zum anderen das auf eine feste staatliche<br />

Basis gestellte Ringen um den Frieden.<br />

Anmerkungen<br />

* Dem Text liegt ein Vortrag auf der Konferenz des Marxistischen<br />

Arbeitskreises zur Geschichte der deutschen<br />

Arbeiterbewegung bei der Partei Die Linke, der Geschichtskommission<br />

beim Parteivorstand der DKP und<br />

der Marx-Engels-Stiftung „Die <strong>Oktoberrevolution</strong> 1917 -<br />

eine weltgeschichtliche Zäsur“ am 17. März 2007 in Berlin<br />

zu Grunde.<br />

1 C. Zetkin: Für die Sowjetmacht.Artikel, Reden und Briefe<br />

1917-1933, Berlin 1977, S. 406.<br />

2 Ebenda, S. 475/476.<br />

3 E. Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte<br />

des 20. Jahrhunderts, (München Wien 1995), S. 79.<br />

4 Ebenda, S. 22.<br />

5 F. Mehring: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Berlin 1963, S.<br />

506.<br />

6 Das neue Rußland, 1927, Nr. 9/10, S. 15.<br />

7 R. Luxemburg: Gesammelte Briefe, Bd. 5, Berlin 1984, S.<br />

329. – So am 24. November an Luise Kautsky; ähnlich<br />

(„schon ihr Versuch ist epochemachend“) am gleichen<br />

Tage an Franz Mehring (ebenda). Dies sind die frühesten<br />

dezidierten Aussagen Rosa Luxemburgs zur <strong>Oktoberrevolution</strong>.<br />

Am 15. November hatte sie Mathilde Wurm<br />

geschrieben: „Um die Russen bangt mein Herz sehr,<br />

ich erhoffe leider keinen Sieg der Leninisten, aber immerhin<br />

– ein solcher Untergang ist mir doch lieber als<br />

‚Lebenbleiben für das Vaterland’ ...“ (ebenda, S. 322).<br />

8 Ebenda, S. 329.<br />

9 Ebenda, S. 344.<br />

10 K. Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. IX,<br />

Berlin 1968, S. 371.<br />

11 Vgl. ebenda, S. 385.<br />

12 Vgl. ebenda, S. 386.<br />

13 F. Mehring: Ges. Schriften, Bd. 15, Berlin 1973, S. 760, 759.<br />

14 C. Zetkin: Für den Frieden. In: Für die Sowjetmacht, S. 34.<br />

15 Vgl. R. Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin<br />

1974, S. 338-341.<br />

16 C. Zetkin: Für den Frieden, S. 37.<br />

17 C. Zetkin: Der Kampf um Macht und Frieden in Rußland.<br />

In: Für die Sowjetmacht, S. 43-46.<br />

18 Vgl. R. Luxemburg: Ges. Werke, Bd. 4, S. 332-334.<br />

19 G. Badia: Clara Zetkin. Eine neue Biographie, Berlin<br />

(1994), S. 157.<br />

20 Ebenda, S. 161/162.<br />

21 Vgl. ebenda, S. 157.<br />

22 Vgl. R. Luxemburg: Ges. Briefe, Bd. 5, S. 319, 322, 329, 332,<br />

344; dies.: Ges. Werke, Bd. 4, S. 334, 338-341, 365.<br />

23 Vgl. R. Luxemburg: Ges. Werke, Bd. 4, S. 397 ff.<br />

24 Rosa Luxemburg und die Freiheit der Andersdenkenden,<br />

Berlin (19<strong>90</strong>), S. 182.<br />

25 Ebenda, S. 218.<br />

26 Vgl. W. Lenin: Zum vierten <strong>Jahre</strong>stag der <strong>Oktoberrevolution</strong>.<br />

In: Werke, Bd. 33, Berlin 1962, S. 38.<br />

27 R. Luxemburg u. die Freiheit der Andersdenkenden, S.<br />

220.<br />

28 Vgl. ebenda, S. 217.


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

29 Ebenda, S. 212.<br />

30 Ebenda, S. 221.<br />

31 Ebenda, S. 231.<br />

32 Ebenda, S. 181.<br />

33 C. Zetkin: Um Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen<br />

Revolution, Hamburg 1922, S. 132/133.<br />

34 Stiftung Archiv d. Parteien u. Massenorganisationen d.<br />

DDR im Bundesarchiv, NY 4005/64, Bl. 60.<br />

35 C. Zetkin: Um R. Luxemburgs Stellung, S. XIV.<br />

36 Ebenda, S. 162.<br />

37 Ebenda, S. 139.<br />

38 C. Zetkin: Fünf <strong>Jahre</strong> russische Revolution und die<br />

Perspektiven der Weltrevolution. Referat auf dem IV.<br />

Kongress der KI. In: Für die Sowjetmacht, S. 298.<br />

39 Ebenda, S. 291.<br />

40 C. Zetkin: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. II,<br />

Berlin 1960, S. 465.<br />

41 Ebenda, S. 465/466.<br />

42 C. Zetkin: Die Russische Revolution auf dem IV. Weltkongress<br />

der Kommunistischen Internationale. In: Die<br />

Kommunistische Internationale, 4. Jg., H. 24/25, S. 11.<br />

43 C. Zetkin: Fünf <strong>Jahre</strong> russische Revolution, S. 272.<br />

44 Ebenda, S. 273.<br />

45 Ebenda.<br />

46 C. Zetkin: Die Bedeutung der aufbauenden Sowjetunion<br />

für die deutsche Arbeiterklasse, Berlin 1926, S. 7.<br />

47 Ebenda.<br />

48 Ebenda.<br />

49 C. Zetkin: Fünf <strong>Jahre</strong> russische Revolution, S. 273.<br />

50 Vgl. C. Zetkin: Die weltgeschichtliche Bedeutung des ersten<br />

Arbeiterstaates. In: Für die Sowjetmacht, S. 424.<br />

51 C. Zetkin: Fünf <strong>Jahre</strong> russische Revolution, S. 2<strong>90</strong>.<br />

52 Ebenda.<br />

53 Ebenda, S. 289.<br />

54 C. Zetkin: Die weltgeschichtliche Bedeutung des ersten<br />

Arbeiterstaates, S. 424.<br />

55 Vgl. N. Bucharin: Ökonomik der Transformationsperiode.<br />

Mit Randbemerkungen von Lenin, Berlin (19<strong>90</strong>), S. 243-<br />

250.<br />

56 Protokoll des Vierten Kongresses der Kommunistischen<br />

Internationale. Petrograd – Moskau vom 5. November bis<br />

5. Dezember 1922, Hamburg 1923, S. 283.<br />

57 Ebenda, S. 287.<br />

58 Ebenda, S. 289.<br />

59 Protokoll. Erweiterte Exekutive der Kommunistischen<br />

Internationale, Moskau, 22. November-16. Dezember<br />

1926, (Hamburg 1927), S. 685 (L. Kamenew).<br />

60 Ebenda, S. 588.<br />

61 L. Trotzki: Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion<br />

und wohin treibt sie? 1936, (Essen 19<strong>90</strong>), S. 297.<br />

62 L.Trotzki: Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter<br />

der permanenten Revolution, (Frankfurt a. M. 1981), S.<br />

172.<br />

63 Vgl. Protokoll. Erweiterte Exekutive, S. 679/680.<br />

64 Ebenda, S. 683.<br />

65 Ebenda, S. 685.<br />

66 W. I. Lenin: Über das Genossenschaftswesen. In: Werke,<br />

Bd. 33, S. 457.<br />

67 Protokoll. Erweiterte Exekutive, S. 595.<br />

68 Vgl. ebenda, S. 722, 725/726.<br />

69 Ebenda, S. 629.<br />

70 C. Zetkin: Für die Sowjetmacht, S. 394.<br />

71 Ebenda, S. 401.<br />

72 Ebenda, S. 392.<br />

THEMA 33<br />

Die <strong>Oktoberrevolution</strong><br />

und der Kommune-<br />

Entwurf von Karl Marx<br />

Uwe-Jens Heuer<br />

Die Bedeutung, die Marx und Engels den Erfahrungen<br />

der Pariser Kommune beimaßen,<br />

kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass<br />

sie vor allem ihretwegen 1872 im Vorwort zur<br />

neuen Ausgabe des Manifests das Programm<br />

für stellenweise veraltet erklärten (MEW<br />

18/96).<br />

Auslösend für die Kommune war der<br />

deutsch-französische Krieg, war der ruhmlose<br />

Zusammenbruch des Kaiserreichs Napoleons<br />

III. Am 31. Oktober kam es auf Grund von<br />

Gerüchten über einen beabsichtigten Waffenstillstand<br />

unter der Losung „Es lebe die Kommune,<br />

wir wollen Waffen“ zur ersten großen<br />

Massenaktion, der aber noch einmal eine Niederlage<br />

zugefügt werden konnte. Die einzige<br />

bewaffnete Macht in Paris war die Nationalgarde,<br />

der alle Männer von Paris angehörten.<br />

Am 28. Januar 1871 wurde der Waffenstillstand<br />

geschlossen, am 24. Februar ein ZK der<br />

Nationalgarde gebildet, dem keine bekannten<br />

Personen angehörten. Nachdem die in Bordeaux<br />

tagende Nationalversammlung den<br />

Waffenstillstand bestätigt hatte, wurde die<br />

Entwaffnung der Nationalgarde verfügt. Mit<br />

dem Versuch, die 250 Kanonen der Nationalgarde<br />

zu entführen, wurde der Aufstand ausgelöst.<br />

Staatschef und Regierung flohen nach<br />

Versailles, gefolgt von den Beamten. Die bürokratisch-militärische<br />

Staatsmaschine hatte ihre<br />

Tätigkeit eingestellt.<br />

Das ZK der Nationalgarde übergab die<br />

Macht der am 26. März gewählten Pariser<br />

Volksvertretung, der Kommune. Ihren 85<br />

Mitgliedern – darunter 25 Arbeiter – oblag<br />

nun die Aufgabe, eine neue Macht zu organisieren.<br />

Marx und Engels hatten sich vorher<br />

entschieden gegen eine solche Machtergreifung<br />

gewandt. Marx sah in einem von ihm<br />

entworfenen Schreiben des Generalrats der 1.


34<br />

Uwe-Jens Heuer: Die <strong>Oktoberrevolution</strong> und der Kommune-Entwurf<br />

Arbeiterinternationale von Anfang 1870<br />

allein in England „einen Hebel für eine ernsthafte<br />

ökonomische Revolution“. In einem<br />

Brief an Engels vom 12. Februar schrieb er,<br />

Deutschland sei viel reifer als Frankreich und<br />

werde den Franzosen weit über den Kopf<br />

wachsen (MEW 16/386; 32/443). Am 9. September<br />

1870 erklärte der Generalrat eine<br />

Machtergreifung unter den konkreten Bedingungen<br />

für „eine verzweifelte Torheit“. Die<br />

französischen Arbeiter dürften sich nicht „beherrschen<br />

lassen durch die nationalen Erinnerungen<br />

von 1792“ (MEW 17/277).<br />

Der Pariser Kommune waren bis zu ihrer<br />

blutigen Niederschlagung nur 72 Tage gegeben.<br />

Sie löste das stehende Heer auf, garantierte<br />

die absolute Autonomie aller Kommunen<br />

Frankreichs. Sie legte das Höchstgehalt<br />

ihrer Mitglieder und Angestellten entsprechend<br />

dem Einkommen gut bezahlter Arbeiter<br />

fest, trennte die Kirche vom Staat, verbannte<br />

die religiösen Symbole aus den<br />

Schulen, schaffte die Nachtarbeit für Bäckergesellen<br />

und alle am Arbeitsplatz verhängten<br />

Geldstrafen und Lohnabzüge ab. Die von<br />

ihren Unternehmern verlassenen Fabriken<br />

sollten von den Beschäftigten in Betrieb genommen<br />

werden.<br />

Es gab viele Versäumnisse und Halbheiten.<br />

Marx kritisierte vor allem, dass nicht<br />

sogleich nach Versailles marschiert worden<br />

war, dass man es versäumt habe, sich der Bank<br />

von Frankreich zu bemächtigen. Später, im<br />

Februar 1881 schrieb Marx, nun allerdings in<br />

anderer Richtung, dass man damals „mit<br />

einem geringen Quantum common sense ...<br />

einen der ganzen Volksmasse nützlichen<br />

Kompromiss mit Versailles“ hätte „erreichen<br />

können“ (MEW 35/160). Engels formulierte<br />

in seiner Einleitung zu den „Klassenkämpfen<br />

in Frankreich“ 1895 nicht minder entschieden:<br />

„Ebenso unfruchtbar wie 1848 die Überrumpelung<br />

blieb 1871 der geschenkte Sieg“ (ebenda<br />

22/517).<br />

In seiner Schrift über den „Bürgerkrieg in<br />

Frankreich“ räumte Marx aber den Fehlern<br />

und Halbheiten nur wenig Platz ein. Das war<br />

nicht nur der Verteidigung der Kommune ge-<br />

gen den Feind geschuldet. Marx sah in der<br />

Kommune vornehmlich eine Bestätigung seiner<br />

theoretischen Konzeption. Sie war für ihn<br />

das welthistorische Experiment, durch das die<br />

Richtigkeit seiner Theorie bestätigt wurde. Es<br />

war möglich, wenn auch nur 72 Tage, eine<br />

Ordnung ohne die alte bürokratisch-militärische<br />

Maschinerie zu gestalten. Die Arbeiterklasse<br />

hatte, spontan, ohne von der Marxschen<br />

Theorie auszugehen, Formen entwikkelt,<br />

die den Staat ersetzen konnten. Das war<br />

die entscheidende Schlussfolgerung, die Marx<br />

zog. Deshalb hatte er es unternommen, wie<br />

Engels 1884 an Eduard Bernstein schrieb, „die<br />

unbewussten Tendenzen der Kommune ihr als<br />

mehr oder weniger bewusste Pläne“ (MEW<br />

36/79) zugut zu bringen und damit einen<br />

Entwurf der politischen Zukunft vorzulegen.<br />

Marx resümierte noch einmal die Analysen<br />

des „18. Brumaire“, die ja immerhin schon<br />

zwanzig <strong>Jahre</strong> zurück lagen, zur zentralisierten<br />

Macht des bürgerlichen Staates. Die Pariser<br />

Kommune hatte in seinen Augen die Möglichkeit<br />

einer nichtstaatlichen Ordnung gezeigt<br />

und damit die einer sozialen statt einer nur<br />

politischen Revolution. Die Arbeiterklasse<br />

könne „nicht die fertige Staatsmaschine einfach<br />

in Besitz nehmen und diese für ihre eigenen<br />

Zwecke in Bewegung setzen“. Das allgemeine<br />

Stimmrecht sollte „dem in Kommunen<br />

konstituierten Volk dienen, wie das individuelle<br />

Stimmrecht jedem anderen Arbeitgeber<br />

dazu dient, Arbeiter, Aufseher und Buchhalter<br />

in seinem Geschäft auszusuchen“. Die Kommunalverfassung<br />

würde „dem gesellschaftlichen<br />

Körper alle die Kräfte zurückgegeben<br />

haben, die bisher der Schmarotzerauswuchs<br />

‚Staat’, der von der Gesellschaft sich nährt und<br />

ihre freie Bewegung hemmt, aufgezehrt hat“<br />

(MEW 17/336-341). Im ersten Entwurf war in<br />

Bezug auf den Staat sogar von einer „Boa constrictor“<br />

die Rede gewesen, die den Gesellschaftskörper<br />

umklammere. Darüber hinaus<br />

war dort die Kommune als eine „Revolution<br />

gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche<br />

Fehlgeburt der Gesellschaft“ charakterisiert<br />

worden. „Sie war nicht eine Revolution,<br />

um die Staatsmacht von einer Fraktion der


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

herrschenden Klasse an die andre zu übertragen,<br />

sondern eine Revolution, um diese abscheuliche<br />

Maschine der Klassenherrschaft<br />

selbst zu zerbrechen“ (ebenda 538, 541). Entscheidende<br />

Bestandteile der neuen Ordnung<br />

ohne Staatsmaschine waren die Ersetzung des<br />

stehenden Heeres durch das bewaffnete Volk,<br />

die Kommune als nicht parlamentarische, sondern<br />

arbeitende Körperschaft, ihre Mitglieder<br />

verantwortlich und jederzeit absetzbar, die<br />

Besorgung des öffentlichen Dienstes für<br />

Arbeiterlohn und die lokale Selbstregierung<br />

„nun nicht mehr als Gegengewicht gegen die,<br />

jetzt überflüssig gemachte, Staatsmacht“<br />

(ebenda 338-341).<br />

Marx hat das Gesamtgebäude dieses Entwurfs<br />

der neuen politischen Ordnung ohne<br />

Staat auf einem unsicheren Grund errichtet.<br />

Das betraf nicht nur die einmalig günstigen<br />

Umstände, sondern vor allem die zu bewältigenden<br />

politischen und ökonomischen Widersprüche.<br />

Er hatte Gewaltanwendung gegen<br />

die Feinde der Kommune gefordert, aber war<br />

sie mit der konsequenten unmittelbaren<br />

Demokratie zu vereinbaren? Wie verhielt sich<br />

der Entwurf der Pariser Kommune zur vom<br />

Proletariat auszuübenden Diktatur? Noch<br />

schwieriger stand es um die ökonomische<br />

Entwicklung. Die Kommune beseitigte nicht<br />

den Klassenkampf, aber sie wollte die „Enteignung<br />

der Enteigner“. Die Arbeiterklasse<br />

wisse, dass sie „lange Kämpfe, eine ganze<br />

Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen<br />

hat, durch welche die Menschen wie die<br />

Umstände gänzlich umgewandelt werden. Sie<br />

hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur<br />

die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit<br />

zu setzen, die sich bereits im Schoß der<br />

zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft<br />

entwickelt haben“ (ebenda 342 f.). Im ersten<br />

Entwurf hatte Marx noch deutlicher davon<br />

gesprochen, dass die Kommune das rationelle<br />

Zwischenstadium schaffe, in welchem der<br />

Klassenkampf „seine verschiedenen Phasen<br />

auf rationellste und humanste Weise durchlaufen<br />

kann“. Sie könne sowohl gewaltsame<br />

Reaktionen und ebenso gewaltsame Revolutionen<br />

hervorrufen, damit auch „sporadische<br />

THEMA 35<br />

Sklavenhalter-Rebellionen“ (ebenda 545 f.).<br />

Marx hatte seinen Gegenentwurf zur bürgerlichen<br />

Staatlichkeit entwickelt, als Möglichkeit,<br />

nicht als bewiesene Notwendigkeit. Die<br />

Probe auf die Realität war noch abzulegen.<br />

Die Neuaufnahme des<br />

Kommune-Entwurfs durch<br />

Lenin und der Kurswechsel<br />

Der Kommune-Entwurf wurde in der russischen<br />

<strong>Oktoberrevolution</strong> noch einmal wieder<br />

aufgenommen. Der Verlauf der Ereignisse, die<br />

Bereitschaft, eine Gesellschaft gewaltsam zu<br />

beseitigen, die seit 1914 derart Ungeheuerliches<br />

zu verantworten hatte, dem Krieg den<br />

Bürgerkrieg zu erklären, auch die Härte, in der<br />

die Auseinandersetzungen vornehmlich in<br />

Russland und der Sowjetunion geführt wurden,<br />

das alles ist ohne den ersten Weltkrieg, der eine<br />

ganze Generation prägte, nicht zu erklären.<br />

Der Weltkrieg löste, je länger das Morden<br />

dauerte, eine Gegenbewegung aus. Hatte er<br />

zuerst in allen Ländern zu einem Ausbruch des<br />

Nationalismus geführt, so wuchsen dann auch<br />

Gegenkräfte. Und wie von Lenin als einzigem<br />

früh erkannt, gab es gerade in Russland die<br />

Möglichkeit, dem Krieg durch Revolution ein<br />

Ende zu machen. Am 27. Februar 1917 wurde<br />

durch den Aufstand der Arbeiter und Soldaten<br />

die Dynastie der Romanows gestürzt. Überall<br />

bildeten sich Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten.<br />

Neben den Sowjets entstanden<br />

Koalitionsregierungen aus Vertretern der<br />

bürgerlichen Parteien, der Menschewiki und<br />

der Sozialrevolutionäre, die mit Alexander<br />

Fjodorowitsch Kerenski seit dem 7. Juli den<br />

Ministerpräsidenten stellten. Lenin sah in dieser<br />

„Doppelherrschaft“ die Möglichkeit, die<br />

demokratische Revolution in eine sozialistische<br />

überzuleiten. Er knüpfte an die Geschichte<br />

an, allerdings nicht mehr wie vorher<br />

an die Jakobiner, sondern an die Pariser<br />

Kommune. Wenige Tage vor seinem Aufbruch<br />

aus dem Schweizer Exil nach Russland formulierte<br />

Lenin erstmals den Entwurf der Pariser<br />

Kommune als Tagesprogramm, also die Ersetzung<br />

der Staatsmaschinerie durch „die un-


36<br />

Uwe-Jens Heuer: Die <strong>Oktoberrevolution</strong> und der Kommune-Entwurf<br />

mittelbare Macht bewaffneter und organisierter<br />

Arbeiter“ 1 . In den berühmten Aprilthesen,<br />

die Lenin unmittelbar nach seiner Ankunft in<br />

Russland verkündete, nahm er diesen Entwurf<br />

voll auf. Er forderte statt der parlamentarischen<br />

Republik „Abschaffung der Polizei, der<br />

Armee, der Beamtenschaft, Entlohnung aller<br />

Beamten, die durchweg wählbar und absetzbar<br />

sein müssen, nicht über den Durchschnittslohn<br />

eines guten Arbeiter hinaus“ und die Nationalisierung<br />

des gesamten Bodens, die Verschmelzung<br />

aller Banken zu einer Nationalbank,<br />

die Kontrolle der gesamten Produktion.<br />

(LeW 24/5-6). Diese Macht, so schrieb er<br />

wenig später, sei eine revolutionäre Diktatur,<br />

also eine „Macht, die sich unmittelbar auf die<br />

revolutionäre Machtergreifung stützt ... und<br />

nicht auf ein von einer zentralisierten Staatsmacht<br />

erlassenes Gesetz“. Lenin zitiert sogar<br />

die Formulierung von Engels, dass sie in mancher<br />

Hinsicht „schon kein Staat im eigentlichen<br />

Sinne mehr“ sein werde (ebenda 20,<br />

52 f.). Während eine Reihe der führenden Bolschewiki<br />

die Wendung Lenins mit Zurückhaltung<br />

betrachteten, trat Trotzki sofort an die<br />

Seite Lenins und gab seine bisherige Sonderposition<br />

auf. 2<br />

Im August 1917 hat Lenin sich dann mit<br />

dem Werk „Staat und Revolution“ das Ziel<br />

gestellt, „mittels der Wiederherstellung der<br />

wahren Marxschen Lehre vom Staat“ die theoretische<br />

Grundlage der unmittelbar bevorstehenden<br />

Revolution verbunden mit einer Abrechnung<br />

mit dem „Kautskyanertum“ zu geben<br />

(ebenda 25/397 f.). Er bezog sich sehr ausführlich<br />

auf die Arbeiten von Marx und<br />

Engels. Dabei steht erneut der Entwurf der<br />

Kommune im Mittelpunkt. Auf die Frage, ob<br />

nicht eine solche Selbstregierung des Volkes<br />

Utopie sei, antwortet er: „Die kapitalistische<br />

Kultur hat die Großproduktion, hat Fabriken,<br />

Eisenbahnen, Post,Telefon u. a. geschaffen und<br />

auf dieser Basis sind die meisten Funktionen<br />

der alten ‚Staatsmacht’ so vereinfacht worden<br />

... „dass diese Funktionen alle Leute, die des<br />

Lesens und Schreibens kundig sind, ausüben<br />

können“ und von Vorgesetzten jetzt nicht mehr<br />

die Rede sein könne (ebenda, 433). Einen<br />

gewissen Fremdkörper in der Argumentation<br />

bildete der Bezug auf die „Kritik des Gothaer<br />

Programms“. In der ersten Phase des Kommunismus<br />

bleibe das bürgerliche Recht als<br />

Regulator bestehen und mit ihm auch der bürgerliche<br />

Staat, „denn Recht ist nichts ohne<br />

einen Apparat, der imstande wäre, die Einhaltung<br />

der Rechtsnormen zu erzwingen“<br />

(ebenda, S. 481, 485). Es sei jetzt Rechnungsführung<br />

und Kontrolle notwendig. „Die<br />

gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine<br />

Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn<br />

sein“, was nichts weniger als unser Ideal, aber<br />

als Stufe notwendig sei (ebenda 488). An anderer<br />

Stelle war davon die Rede, den Kommunestaat<br />

mit den Errungenschaften des Staatskapitalismus<br />

zu verbinden. „Der Sozialismus ist<br />

nichts anderes als staatskapitalistisches Monopol,<br />

das zum Nutzen des ganzen Volkes angewandt<br />

wird“. Wir müssten „die fortgeschrittenen<br />

Länder auch ökonomisch einholen und<br />

überholen“. (ebenda 369 f., 375)<br />

Diese Arbeiten Lenins sind von innerer Widersprüchlichkeit<br />

gekennzeichnet. Auf der<br />

einen Seite soll ein „Kommunestaat“, ein<br />

Staat, der schon eigentlich kein Staat mehr ist,<br />

geschaffen werden, auf der anderen Seite soll<br />

bürgerliches Recht bestehen bleiben, ist vom<br />

staatskapitalistischen Monopol, ist von einem<br />

Büro und einer Fabrik die Rede. Lenin wollte<br />

einerseits den tiefsten Sehnsüchten der unter<br />

dem Krieg, dem reaktionären Beamtentum,<br />

der Herrschaft der Gutsbesitzer leidenden<br />

Menschen entsprechend den „Schmarotzer<br />

Staat“ verabschieden und damit die Massen<br />

zur Revolution aufrufen. Auf der anderen<br />

Seite wollte er in der internationalen Diskussion<br />

der Marxisten „seine“ Revolution legitimieren.<br />

Und schließlich wusste er, dass es ohne<br />

Diktatur, ohne staatliches Eigentum nicht<br />

abgehen würde, was notwendig der Selbstregierung<br />

widersprach. Je näher die Stunde der<br />

Machtergreifung heranrückte, desto mehr<br />

Aufgaben wurden vom Realisten Lenin dem<br />

„Kommunestaat“ übertragen, der damit drohte,<br />

den Entwurf der Kommune zu sprengen.<br />

Nach dem Sturz der provisorischen Regierung<br />

am 7. November 1917 rollte eine Woge


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

der Sowjetbildung durch das Land. Der Kommunestaat<br />

schien Wirklichkeit geworden. Sehr<br />

schnell aber entwickelte sich die Notwendigkeit<br />

der Schaffung eines eigenen Apparates<br />

der neuen Macht. Den Anfang machte die<br />

neugebildete Rote Armee. Dann stellte Lenin<br />

mit äußerster Entschiedenheit in der Schrift<br />

„Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ im<br />

April 1918, nicht einmal ein halbes Jahr nach<br />

dem Beginn der Revolution, die Frage der<br />

Disziplin für die gesamte Verwaltung, für die<br />

Volkswirtschaft. Gleichzeitig forderte er die<br />

Gewinnung bürgerlicher Spezialisten „durch<br />

ausserordentlich hohe Gehälter“ unter „Abweichung<br />

von den Prinzipien der Kommune“<br />

(ebenda 27/239). Aus der maschinellen Großindustrie<br />

ergäbe sich notwendig die „unbedingte<br />

und strengste Einheit des Willens ..., der<br />

die gemeinsame Arbeit von Hunderten, Tausenden<br />

und Zehntausenden Menschen leitet“<br />

durch die Unterordnung „unter den Willen<br />

eines Einzelnen“ (ebenda 259). Lenin wollte<br />

diese diktatorische Leitung mit der Kontrolle<br />

von unten verbinden, sah darin eine Verwirklichung<br />

des Prinzips des demokratischen<br />

Zentralismus. Aber er wusste natürlich genau,<br />

dass er damit einen grundlegenden Kurswechsel<br />

gegenüber den vorrevolutionären Ankündigungen<br />

vollzog.<br />

Das wurde von Kritikern sofort deutlich<br />

gemacht. Nikolai Iwanowitsch Bucharin veröffentlichte<br />

eine wohlwollende Rezension von<br />

„Staat und Revolution“. Lenin antwortete ihm<br />

kühl und entschlossen, „dass Bucharin das, was<br />

man sehen musste, übersehen hat, und das<br />

geschah deshalb, weil er seine Rezension im<br />

April schrieb, aber zitierte, was bereits für den<br />

April veraltet war, was dem Gestern angehört,<br />

nämlich, dass man den alten Staat zerschlagen<br />

muss“. Besonders empört hätte die linken<br />

Kommunisten die Forderung, bei den Organisatoren<br />

der Trusts Sozialismus zu lernen, aber<br />

nur sie besäßen in der Praxis der Organisation<br />

die Kenntnisse, die uns fehlen. Ohne eine solche<br />

Radikalität der Fragestellung würde die<br />

Revolution im <strong>Jahre</strong> 1793 stehen bleiben<br />

(ebenda 293, 286). Wenn Genosse Bucharin<br />

sage, dass es Leute gäbe, die 4 000 Rubel be-<br />

THEMA 37<br />

ziehen und die man deshalb erschießen müsse,<br />

so antworte er, Lenin, dass man solche Leute<br />

suchen müsse. Er zitierte abschließend sogar<br />

gegen Bucharin aus einer „autoritativen Broschüre“<br />

Kautskys: „Sie werden die These<br />

Kautskys nicht widerlegen können, dass man<br />

die Großproduktion aus Erfahrung kennen<br />

muss“ (ebenda 301, 304 f.). Lenin erwartete<br />

nach wie vor den Ausbruch der Revolution im<br />

Westen. Aber bis dahin müsse man noch mehr<br />

als Peter I. vom Westen lernen, „ohne dabei<br />

vor barbarischen Methoden des Kampfes<br />

gegen die Barbarei zurückzuschrecken“ (ebenda,<br />

333). Das war die erste vieler Auseinandersetzungen,<br />

bis Stalin ihnen ein Ende setzte.<br />

Zwei Thesen von Marx und<br />

Engels zum Staat widerlegt<br />

Für heutige neue Überlegungen zur Frage der<br />

Demokratie gehe ich davon aus, dass jedenfalls<br />

zwei Thesen von Marx und Engels zum<br />

Staat mir durch die Entwicklung des vorigen<br />

Jahrhunderts widerlegt erscheinen. Bei der<br />

ersten These handelt es sich um das rasche<br />

Fortwerfen der politischen Hülle, um das baldige<br />

Absterben des Staates nach der siegreichen<br />

proletarischen Revolution. Die Entwicklung<br />

im „Realsozialismus“ gab keinerlei<br />

Anhaltspunkt für die Herausbildung eines<br />

Staates „im nicht eigentlichen Sinne“. Das<br />

betrifft nicht nur die Entwicklung in der<br />

Sowjetunion, wo der Staat immer mehr zur<br />

zentralen Antriebskraft wurde, die Zentralisierung<br />

der Macht einen welthistorischen<br />

Höhepunkt erreichte und das politische System<br />

in einem für den Aufbau des Sozialismus<br />

nicht reifen Lande unter den Bedingungen der<br />

kapitalistischen Umkreisung, der Kriegsdrohung,<br />

viele über die Erfordernisse einer Erziehungsdiktatur<br />

hinausgehende exzessiv diktatorische,<br />

ja barbarische Züge trug.Aber auch<br />

in den Ländern, die in Europa nach 1945 den<br />

Weg der Volksdemokratie gegangen sind, war<br />

vom Absterben des Staates nicht die Rede,<br />

auch wenn öfter die Verwirklichung der Prinzipien<br />

der Pariser Kommune beschworen, die<br />

DDR als „Staat im nicht eigentlichen Sinne“


38<br />

Uwe-Jens Heuer: Die <strong>Oktoberrevolution</strong> und der Kommune-Entwurf<br />

charakterisiert wurde. 3 Es erwies sich, dass das<br />

sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln<br />

eine staatliche Wirtschaftsplanung in<br />

mehr oder weniger dirigistischer Form erforderte,<br />

dass die Verteilung nach der Leistung<br />

der staatlich sanktionierten rechtlichen Regelung<br />

bedurfte, dass bei fortbestehenden Ausbeuterklassen<br />

Repression notwendig blieb,<br />

aber auch nach deren Enteignung fortbestand,<br />

dass vornehmlich die äußere Auseinandersetzung<br />

mit den bürgerlichen Nachbarn ohne<br />

Staat nicht auskam bis hin zum Extrem der<br />

Errichtung der Mauer an der Westgrenze der<br />

DDR. Die Repression nahm sicherlich im<br />

Laufe der <strong>Jahre</strong> ab, blieb aber bestehen. Der<br />

Staat fiel keineswegs von selbst. Er ist nicht<br />

minder zählebig als die Gesetze des Marktes.<br />

Die damalige Gleichsetzung von Diktatur<br />

des Proletariats und Demokratie als Macht des<br />

Volkes negierte ein spezifisches Demokratieproblem,<br />

da ohnehin das Volk herrsche. Lenin<br />

hatte demgegenüber immer zwischen diktatorischer<br />

Unterdrückung und Demokratie unterschieden.<br />

Dort, wo es Unterdrückung, wo es<br />

Gewalt gäbe, gäbe es keine Freiheit, keine<br />

Demokratie. Ohne Aufhebung der Staatsmacht<br />

sei „der wahre Demokratismus, d. h.<br />

Gleichheit und Freiheit, nicht erreichbar.“ 4<br />

Solange der Staat als Zwangsinstrument besteht,<br />

ist vollständige Demokratie nicht möglich.<br />

Insofern konnte sinnvoll nicht von der<br />

vollständigen Volksherrschaft gesprochen werden,<br />

sondern „nur“ von der Demokratisierung<br />

des bestehenden Staates. Demokratisierung<br />

bedeutet nicht Herrschaft oder Macht des Volkes,<br />

sondern Erhöhung seines Einflusses auf<br />

den „eigenen Staat“.<br />

Nun könnte man den Einwand erheben,<br />

dass sich das alles aus der Tatsache ergäbe,<br />

dass sich der Sozialismus nur in einem Teil der<br />

Welt entwickelt hat. Ich will deshalb noch<br />

einen Schritt weitergehen und die Behauptung<br />

aufstellen, dass wir uns für die absehbare<br />

Zukunft von dem Ziel einer Gesellschaft ohne<br />

Macht und Herrschaft verabschieden sollten.<br />

Es war ausgedrückt im Marxschen Entwurf<br />

der Pariser Kommune und wurde dann kurze<br />

Zeit (1917) von Lenin aufgenommen. Es wur-<br />

de dann in der DDR als bereits verwirklicht<br />

charakterisiert (DDR kein Staat im eigentlichen<br />

Sinne mehr). Demokratie wurde nicht<br />

als Entwicklungsprozess gesehen, sondern als<br />

ein für allemal erreicht.<br />

Domenico Losurdo bezeichnete die Überlegungen<br />

von Marx und Engels zum Absterben<br />

des Staates als anfechtbar. Sie hätten<br />

sich aus den historischen Erfahrungen mit den<br />

Militärdiktaturen in Frankreich einerseits und<br />

der für notwendig gehaltenen Abweisung<br />

anarchistischer Kritik andererseits ergeben. Es<br />

ging um den Versuch, „der drohenden Anklage<br />

des Etatismus zu entgehen“. Lenin hätte<br />

1917 in „Staat und Revolution“ in der notwendigen<br />

Abrechnung mit dem Sozialchauvinismus<br />

den Marxismus auf den Anarchismus heruntergebracht.<br />

5 Ich denke <strong>heute</strong>, dass für den<br />

in der Schweiz, einem entwickelten kapitalistischen<br />

Land, lebenden Lenin sein Kommune-<br />

Entwurf in erster Linie für das Vorantreiben<br />

der Revolution, nicht aber für den neuen Staat<br />

gedacht war. Nur so ist wohl der rasche Paradigmenwechsel<br />

zu erklären.<br />

Es gibt viele Ursachen für die Fortexistenz<br />

des Staates für alle absehbare Zukunft. Allein<br />

solange es Knappheit gibt, wird es einen Staat<br />

geben müssen. Eine durchgreifende Lösung<br />

zur Rettung der Umwelt ist wohl erst recht<br />

ohne Einsatz des Staates unmöglich.<br />

Widerlegt ist zweitens gleichermaßen die<br />

Annahme von Marx und Engels von der sich<br />

ständig verstärkenden Zentralisierung des<br />

bürgerlichen Staates und die damit verbundene<br />

Aufassung, dass es keine demokratischen<br />

Verbesserungen geben könne, die in der kommunistischen<br />

Bewegung fortwirkte, aber auch<br />

die Vorstellung von Bernstein und Kautsky<br />

und der sich auf sie stützenden Sozialdemokraten<br />

von der ständigen Entwicklung der<br />

Demokratie.<br />

Marx hatte dem Ausbau des Staatsapparats<br />

Napoleons des III. die Revolution kontrapunktisch<br />

gegenübergestellt. Diese Zentralisation<br />

der Macht trug dazu bei, eine entsprechende<br />

Zentralisation der Gegenmacht zu fordern,<br />

eben in Gestalt der Diktatur des Proletariats.<br />

Der erste Weltkrieg mit seiner massi-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Wladimir Koslinski. Die Toten der Pariser Kommune sind unter dem roten<br />

Sowjetbanner auferstanden. 1921. Rostafenster<br />

THEMA 39


40<br />

Uwe-Jens Heuer: Die <strong>Oktoberrevolution</strong> und der Kommune-Entwurf<br />

ven Verstärkung des Zentralismus rief erneut<br />

die Forderung nach einer adäquaten Gegenmacht<br />

hervor. Der sich dann in Europa entwickelnde<br />

Faschismus wirkte als Beweis für<br />

die Entschlossenheit der Bourgeoisie, ihre<br />

Herrschaft mit rücksichtsloser Gewalt zu verteidigen.<br />

Die ständige Entwicklung der Demokratie<br />

hatte nicht stattgefunden. Erst nach<br />

1945 gab es erstmals für eine längere Periode<br />

eine in bestimmtem Umfang auf Integration<br />

zielende Staatsmacht in Gestalt der bürgerlichen<br />

repräsentativen Demokratie. Das war<br />

dem Scheitern des Faschismus, den Kämpfen<br />

der linken Bewegung, der Entwicklung des<br />

Wohlfahrtsstaates, aber auch der Systemkonkurrenz<br />

geschuldet.<br />

Generell ist <strong>heute</strong> das allgemeine Wahlrecht<br />

in den entwickelten bürgerlichen Staaten<br />

gewährleistet ebenso wie die Gesetzgebungskompetenz<br />

des gewählten Parlaments, das seinerseits<br />

den Regierungschef mit der Regierungsbildung<br />

beauftragt.Auf dieser Grundlage<br />

gibt es aber dann eine Reihe wesentlicher formeller<br />

und informeller Einschränkungen, die<br />

es letztlich auch hier ausschließen, von Herrschaft,<br />

von Macht des Volkes zu sprechen.<br />

Auch hier kann es also nur um Demokratisierung<br />

im Sinne einer Erhöhung des Einflusses<br />

des Volkes im bürgerlichen Staat gehen.<br />

Bürgerliche (liberale) Demokratie<br />

und Kolonialismus<br />

Noch ein weiterer Gesichtspunkt ist von großer<br />

Bedeutung. Die Entwicklung der bürgerlich-parlamentarischen<br />

Demokratie und ihrer<br />

Freiheitsrechte im Innern ist eng verknüpft mit<br />

kolonialer Unterdrückung nach außen. Der<br />

Zynismus der damaligen und heutigen Bourgeoisie<br />

kommt gerade darin zum Ausdruck,<br />

dass sie aus den zu Hause bestehenden „demokratischen“<br />

Verhältnissen das Recht ableitet,<br />

andere Völker auszubeuten und zu unterdrükken,<br />

wobei dies eben im Namen der Demokratie<br />

geschieht. Eine Nation kann aber nicht<br />

frei werden, „und zugleich fortfahren, andre<br />

Nationen zu unterdrücken“ erklärte Engels<br />

1847 (MEW 4/417). Die Zustimmung des eige-<br />

nen Volkes, das ja auch bestimmte Früchte<br />

genießt, kann die Unterdrückung anderer<br />

Völker nicht rechtfertigen. Deshalb erhob die<br />

von Marx verfasste Inauguraladresse der soeben<br />

gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation<br />

vom 28. 9. 1864 die Forderung, „die<br />

einfachen Gesetze der Moral und des Rechts,<br />

welche die Beziehungen von Privatpersonen<br />

regeln sollten, als die obersten Gesetze des<br />

Verkehrs von Nationen geltend zu machen“<br />

(MEW 16/13).<br />

Die dem gerade entgegenstehende Gegenüberstellung<br />

von guten Demokratien und<br />

bösen Diktaturen und die damit verbundene<br />

Aufhebung der formellen Gleichheit der<br />

Staaten ist das ideologische Zentrum der bürgerlichen<br />

Ideologie seit 1917. Bestimmte Regime<br />

der guten Art dürfen Regime der<br />

schlechten Art angreifen. Für diesen Konflikt<br />

gilt demnach auch nicht das Völkerrecht, wie<br />

im Zusammenhang mit dem Irakkrieg wieder<br />

ganz unverhohlen erklärt wurde. Hat man<br />

dann den Krieg gewonnen, ist der Ruf nach<br />

freien Wahlen erst einmal erledigt, weil man<br />

eine antiimperialistische Mehrheit der „Befreiten“<br />

fürchtet.<br />

Jede Opposition gegen den global aktiven<br />

Imperialismus, wenn sie ein ganzes Land erfasst,<br />

muss sich, wenn sie dauerhaft bleiben<br />

soll, auf die Staatsmacht stützen. Gerade deshalb<br />

ist der Kampf gegen die „Schurkenstaaten“<br />

ein zentraler Bestandteil der imperialistischen<br />

Strategie. Das allgemeine Wahlrecht<br />

dient dabei der eigenen Legitimation, sein<br />

Fehlen der Delegitimation des Opfers. Die<br />

ungeheure ökonomische und ideologische<br />

Dominanz des Imperialismus kann tatsächlich<br />

bedeuten, dass der „Schurkenstaat“ eine solche<br />

Selbstlegitimation scheuen muss. Das ist<br />

unzweifelhaft ein wesentliches demokratisches<br />

Manko. Domenico Losurdo stellt aber mit<br />

Recht die Frage: „Wie sollte das nikaraguanische<br />

Volk (19<strong>90</strong>, U.-J. Heuer) frei wählen können<br />

mit dem Messer des Embargos an der<br />

Gurgel und angesichts der Drohung, die<br />

Aggression in großem Maßstab wiederaufzunehmen?“<br />

Und zu Kuba schreibt er: „Ein Sieg<br />

des Parteienpluralismus etwa in Kuba nach


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Jahrzehnten eines erbarmungslosen Embargos<br />

und des Drucks eines monströsen Militär- und<br />

Medienapparats würde zwar die Lage von<br />

wenigen ‚Dissidenten’ verbessern und wahrscheinlich<br />

Fortschritte in Sachen Meinungsund<br />

Versammlungsfreiheit mit sich bringen.<br />

Doch zugleich würden die ökonomischen und<br />

sozialen Rechte und die nationalen Rechte des<br />

kubanischen Volkes liquidiert, und auf internationaler<br />

Ebene würde das Recht des Stärkeren<br />

bestätigt. Insgesamt wäre das ein verheerendes<br />

Debakel für die Sache der Demokratie.“ 6 Ein<br />

imperialistischer Staat mit freien Wahlen ist<br />

nicht demokratischer als ein Staat, der sich seiner<br />

Übermacht durch bestimmte diktatorische<br />

Maßnahmen erwehrt und in dem der reale<br />

Einfluss der Massen keineswegs geringer ist.<br />

Die Forderung nach freien Wahlen an die<br />

Adresse der Opferstaaten läuft auf deren<br />

Kapitulation durch eine Abwahl des Systems<br />

hinaus. Die Kritik an mangelnder Demokratie<br />

bedeutete in den politischen Krisen der sozialistischen<br />

Staaten die Kritik am fehlenden<br />

Recht, das System abzuwählen. Das System<br />

steht dagegen bei Wahlen in den imperialistischen<br />

Staaten gar nicht zur Abstimmung, die<br />

wirklich (ökonomisch) Mächtigen werden<br />

nicht gewählt und können folglich auch nicht<br />

abgewählt werden.<br />

Die imperialistische Kriegspolitik führt<br />

<strong>heute</strong> auch in der Innenpolitik zu verschärfter<br />

Repression. Ralf Dahrendorf hat hinsichtlich<br />

des politischen Systems der entwickelten<br />

Staaten eine durchaus pessimistische Voraussicht<br />

entwickelt: „Globalisierung bedeutet,<br />

dass Konkurrenz groß und Solidarität klein<br />

geschrieben wird.“ Sie sei der Demokratie<br />

nicht förderlich, weil sie „dem einzigen Domizil<br />

der repräsentativen Demokratie, das bisher<br />

funktioniert hat, dem Nationalstaat, die<br />

ökonomische Grundlage“ entzieht. Sie leistet<br />

eher autoritären als demokratischen Verfassungen<br />

Vorschub. „Ein Jahrhundert des Autoritarismus<br />

ist keineswegs die unwahrscheinlichste<br />

Prognose für das 21. Jahrhundert.“ 7<br />

Alles das macht die Notwendigkeit deutlich,<br />

die absolute Gegenüberstellung von – auf<br />

die Wahlen konzentrierter, wenn nicht redu-<br />

THEMA 41<br />

zierter – Demokratie und einer sich durch die<br />

Verteidigung von Interessen des Volkes legitimierenden<br />

Diktatur in Frage zu stellen. Ein<br />

wichtiger Ansatz hierfür könnte der Begriff der<br />

Demokratisierung als Schlüsselbegriff bilden.<br />

Luciano Canfora hat eine umfassende<br />

„Kurze Geschichte der Demokratie“ vorgelegt<br />

(Köln 2006). Für ihn setzte die Demokratiepraxis<br />

erst seit dem 18. Jahrhundert ein, vornehmlich<br />

in den beiden großen Revolutionen,<br />

der französischen und der russischen. Als<br />

Maßstab im Vergleich der englischen, der USamerikanischen<br />

und der französischen Revolution<br />

wählt er ihr Verhältnis zur Sklaverei<br />

(S. 29 f., S. 57 f.). Ein Schlusskapitel trägt die<br />

Überschrift „Der kalte Krieg: Die Demokratie<br />

auf dem Rückzug“.<br />

Der Rückzug der Demokratie wurde für<br />

Canfora durch den McCarthyismus eingeleitet<br />

(S. 283), dem das Ziel eines Rollback der<br />

Sowjetunion entsprach (S. 285). Dazu gehörten<br />

in der BRD Globke und das KPD-Verbot<br />

(S. 298) und die dann beschlossene Sperrklausel<br />

von 5 Prozent, als erstem Eingriff in<br />

das Verhältniswahlrecht. „Die praktisch ohne<br />

Unterbrechung geführten Kolonialkriege“<br />

vergifteten die Atmosphäre (S. 291). De<br />

Gaulle führte ein gemischtes Wahlystem mit<br />

einem Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen<br />

zur Vernichtung der KP ein. Die<br />

Kommunisten erlangten 20,1 Prozent der<br />

Stimmen, aber nur 10 Mandate. Damit wurde<br />

die Vorherrschaft des gemischten Systems eingeleitet<br />

(S. 303 f.). Notwendig drängten sich<br />

den Wählern der KP „zwei vorteilhafte Optionen<br />

auf: entweder gleich die Partei zu wählen,<br />

die (im zweiten Wahlgang, U.-J. H.) von<br />

ihrer Stimme profitiert, oder erst gar nicht zur<br />

Wahl zu gehen“ (S. 307). Es kommt „auf einem<br />

anderen Weg erneut zu dem Phänomen, das<br />

typisch war für die Epochen des beschränkten<br />

Wahlrechts: zu einer drastisch reduzierten<br />

Vertretung der weniger ‚wettbewerbsfähigen’<br />

Klassen“ also „zur Umsetzung des ‚gemischten<br />

Systems’“, „ein bisschen Demokratie und viel<br />

Oligarchie“. (S. 308) Ich wurde übrigens bei<br />

einer gemeinsamen Tagung der Ausschüsse für<br />

Deutsche Einheit am 26. Juli 19<strong>90</strong> genau mit


42 Uwe-Jens Heuer: Die <strong>Oktoberrevolution</strong> und der Kommune-Entwurf<br />

dieser Frage konfrontiert, als es um die 5-Prozent-Klausel<br />

für das gesamte Wahlgebiet ging.<br />

Richard Schröder (SPD/DDR) erklärte, das<br />

Parlament sei „kein Repräsentantenhaus, das<br />

möglichst das politische Spektrum des Landes<br />

vollständig widerspiegeln soll. Das ist Aufgabe<br />

der Medien“ und dem dann von Hans-Jochen<br />

Vogel (SPD-BRD) mit den Worten sekundiert<br />

wurde, „Die Parteienzersplitterung war mit<br />

eine der Ursachen und der Schwierigkeiten<br />

des Endes der Weimarer Republik“. Gleichzeitig<br />

sinkt die Effizienz der Parlamente und<br />

das Ansehen der Parlamentarier. „Die ‚weiche’<br />

Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts<br />

wird durch das freundliche Zugeständnis kompensiert,<br />

sich in regelmäßigen Abständen<br />

durch Wahlen zu legitimieren“ (S. 312). Das<br />

Ziel besteht darin, „die radikalen Minderheiten<br />

in den ‚Überflussgesellschaften’ daran<br />

zu hindern, in diesem System mitzureden und<br />

es zu stören“ (S. 315). Es siegt eine gemischte<br />

Verfassung, in der im Zentrum nur die<br />

Reichen zählen. „Und der Rest der Welt wird<br />

mit der Waffe in der Hand in Reih und Glied<br />

gebracht“ (S. 324).<br />

Canfora schließt dann mit einem Hinweis<br />

auf Aristoteles, der den Begriff der Demokratie<br />

„von der Vorstellung der einfachen<br />

numerischen Mehrheit befreit“. Benedetto<br />

Croce war gegen Demokratie, weil sie, um mit<br />

Aristoteles zu sprechen, die Klassenbeziehungen<br />

„mit einem tendenziellen ‚Übergewicht<br />

des demos’ verband“. Toqueville verfocht die<br />

Freiheit gegen die Demokratie (S. 354 f.). Im<br />

20. Jahrhundert wurde sie dann zum positiven<br />

Gegenpol des „Sozialismus“ oder „Kommunismus“.<br />

Arthur Rosenberg habe mit Recht<br />

darauf hingewiesen, „dass man ‚Demokratie’<br />

nicht auf ein Synonym für ‚parlamentarisches<br />

System’ reduzieren kann und dass Russland im<br />

Jahr eins der Revolution eine ‚Demokratie’,<br />

die zeitgenössische französische Dritte Republik<br />

aber eine ‚Oligarchie’ war“(S. 355).<br />

„Was am Ende – oder besser: beim gegenwärtigen<br />

Stand der Dinge – die Oberhand gewonnen<br />

hat, ist die ‚Freiheit’. Sie ist im Begriff,<br />

die Demokratie zu besiegen. Wohlgemerkt<br />

nicht die Freiheit aller, sondern die Freiheit<br />

derjenigen, die aus dem Konkurrenzkampf als<br />

die ‚Stärkeren’ hervorgehen (seien es Staaten,<br />

Regionen oder Individuen).“ Die Freiheit aber<br />

herrsche entweder total oder gar nicht „und<br />

jede Begrenzung zugunsten der weniger<br />

‚Starken’ wäre eine Einschränkung der anderen“<br />

(S. 256). Die Freiheit hat in den reichen<br />

Ländern gesiegt. „Die Demokratie ist auf andere<br />

Epochen verschoben und wird von anderen<br />

Menschen neu konzipiert werden. Vielleicht<br />

nicht mehr von Europäern.“ (S. 357)<br />

Mit diesem Schluss ist ein ganz anderes<br />

Gegensatzpaar entwickelt, oligarchischer Liberalismus<br />

(verbunden mit (Neo-)Kolonialismus)<br />

oder Demokratismus. Im Interesse der<br />

Demokratisierung kann es allerdings auch liegen,<br />

Gewalt anzuwenden, Freiheiten einzuschränken.<br />

Die Behauptung, dass jeder Schritt<br />

demokratisch sein muss, ist eben nichts anderes<br />

als eine Phrase. Bertolt Brecht schrieb zum<br />

Aufstand der „vollkommen Ehrlichen“: Diese<br />

„Geschichte zeigt, wie ein Unternehmen zur<br />

Einführung der Demokratie durch (vorzeitige)<br />

Demokratie verunglückt. Die Erarbeitung<br />

einer Grundlage für Demokratie kann in den<br />

seltensten Fällen auf demokratische Weise<br />

erfolgen.“ Demokratisches Verhalten sei „ein<br />

solches Verhalten, das Demokratie ermöglicht,<br />

nicht eines, das Demokratie zeigt.“ 8 Gewalt<br />

kann diesen Prozess behindern, aber auch<br />

befördern. Dialog gehört zur Demokratie.<br />

Aber totale Freiheit aller auf jeder Entwicklungsstufe<br />

dürfte für absehbare Zeit unmöglich<br />

sein.<br />

1 Lenin, Werke, Berlin 1955 ff., hinfort als LeW zitiert, Bd.<br />

23 S. 372.<br />

2 L. Trotzki, Mein Leben, Berlin 19<strong>90</strong>, S. 297 f.<br />

3 Vgl. dazu die bei U.-J. Heuer, Marxismus und Demokratie,<br />

Berlin bzw. Baden-Baden 1989, S. 363-367 angeführten<br />

Autoren.<br />

4 W. I. Lenin, Staat und Revolution 1917, W. I. Lenin, Werke<br />

Bd. 25, Berlin 1960, S. 475, W.I. Lenin, Thesen und Referat<br />

auf dem I. Kongress der Kommunistischen Internationale,<br />

1919, W.I. Lenin, Werke Bd. 28, Berlin 1959, S. 481.<br />

5 D. Losurdo, Der Marxismus Antonio Gramscis, Hamburg<br />

2000, S. 95-97, S. 109, S. 97.<br />

6 D. Losurdo, „Die Demokratie als universeller Wert“,<br />

Marxistische Blätter 2001, H. 1, S. 23, 22.<br />

7 R. Dahrendorf, An der Schwelle zum autoritären<br />

Jahrhundert, DIE ZEIT 14.11.1997.<br />

8 B. Brecht Tui-Geschichten 1933 Große kommentierte<br />

Berliner und Frankfurter Ausgabe XVII 1989 S. 105.


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Revolutionen – noch<br />

Lokomotiven<br />

der Weltgeschichte?<br />

Nina Hager<br />

Die <strong>Jahre</strong> 1989/<strong>90</strong> stellten nach Ansicht des<br />

marxistischen Historikers Eric Hobsbawm<br />

das Ende des kurzen 20. Jahrhunderts dar,<br />

dessen Beginn er mit 1914, dem Ausbruch des<br />

Ersten Weltkrieges ansetzte. Es war ein<br />

bewegtes, kurzes Jahrhundert.<br />

„Die Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg“,<br />

so Hobsbawm in seinem Buch „Das<br />

Zeitalter der Extreme“, „wurzelten … in der<br />

Auflehnung gegen das, was die meisten Menschen<br />

durchlebt und zunehmend als sinnlose<br />

Schlachterei begriffen hatten. Es waren<br />

Revolutionen gegen den Krieg.“ 1<br />

Die Revolution in Russland fand ihre Basis<br />

auch im Dekret über den Boden und mit der<br />

Enteignung der Fabrikherren und der Verstaatlichung<br />

der Banken sowie dem Sowjetsystem,<br />

in der ersten Möglichkeit der bisher in<br />

Russland unterdrückten Menschen die gesellschaftlichen<br />

Veränderungen mit zu gestalten.<br />

Die Revolutionen an der Peripherie des früheren<br />

russischen Reiches, vor allem in Mittelasien,<br />

in der Mongolei, in China richteten sich<br />

vor allem gegen Feudal- und Fremdherrschaft<br />

sowie gegen koloniale Unterdrückung. Auch<br />

hier gab es – wie in den Revolutionen nach<br />

dem 2. Weltkrieg – eine Einheit in der Vielfalt.<br />

2<br />

Hobsbawm wollte – angesichts der Niederlage<br />

von 1989/ <strong>90</strong> – keine Aussagen darüber<br />

treffen, wie „die zukünftige Gestalt einer<br />

Landschaft“ aussehen würde, die „durch die<br />

tektonischen Erschütterungen des kurzen 20.<br />

Jahrhunderts bereits zur Unkenntlichkeit verändert<br />

wurde und die von den zur Zeit stattfindenden<br />

Erschütterungen noch unkenntlicher<br />

gemacht wird.“<br />

In seinen Schlussbemerkungen verweigerte<br />

sich Hobsbawm zudem der Frage, ob und wie<br />

die Menschheit ihre Probleme lösen wird. Er<br />

THEMA 43<br />

sah damals wenig Anlass, hoffnungsvoll in die<br />

Zukunft zu schauen. 3 „Wir wissen nicht,<br />

wohin wir gehen. Wir wissen nur, dass uns die<br />

Geschichte an diesen Punkt gebracht hat, und<br />

wir wissen auch weshalb ... Wenn die Menschheit<br />

eine erkennbare Zukunft haben soll,<br />

dann kann sie nicht darin bestehen, dass wir<br />

die Vergangenheit und Zukunft lediglich fortschreiben.<br />

Wenn wir versuchen, das dritte<br />

Jahrtausend auf dieser Grundlage aufzubauen,<br />

werden wir scheitern. Und der Preis für<br />

dieses Scheitern, die Alternative zu einer<br />

umgewandelten Gesellschaft, ist Finsternis.“ 4<br />

Die Frage nach dem „Ob“ ist auch <strong>heute</strong><br />

nur schwierig zu beantworten, obgleich es<br />

<strong>heute</strong> viel mehr Anlass für die Überzeugung<br />

gibt, dass sich etwas verändert und verändern<br />

lässt. Nicht nur wegen der Entwicklungen in<br />

Lateinamerika.<br />

Es bleibt auch die nicht weniger komplizierte<br />

Frage nach dem „Wie“ gesellschaftlicher<br />

Umbrüche.<br />

In diesem Zusammenhang will ich mich auf<br />

einen Aspekt, auf die Revolutionsfrage beschränken,<br />

soweit sie unmittelbar mit der dialektisch-materialistischenEntwicklungsauffassung<br />

zusammenhängt. Der Abschied einer<br />

Reihe von Linken vom Revolutionsbegriff<br />

nach 1989/<strong>90</strong> stellt in diesem Zusammenhang,<br />

so der marxistische Revolutionsforscher Manfred<br />

Kossok bereits im Jahr 1992, „keinen<br />

Lösungsweg“ dar 5 bzw. ist keine Antwort auf<br />

die Frage nach dem „Wie“.<br />

Die dialektisch-materialistische<br />

Entwicklungsauffassung<br />

Vor über 150 <strong>Jahre</strong>n gebrauchte Karl Marx<br />

das Bild: „Die Revolutionen sind die Lokomotiven<br />

der Geschichte“ 6 . Diese Äußerung<br />

bezog sich damals auf einen anhaltenden<br />

Prozess revolutionärer gesellschaftlicher Veränderungen<br />

in Frankreich und auf die agierenden<br />

Klassenkräfte, die er in seiner Arbeit<br />

„Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis<br />

1850“ genau analysierte.<br />

Fast 100 <strong>Jahre</strong> nach der großen Revolution<br />

von 1789 hatte sich in Frankreich die kapita-


44<br />

Nina Hager: Revolutionen – noch Lokomotiven der Weltgeschichte?<br />

listische Gesellschaft durchgesetzt. Allerdings<br />

stand die französische Revolution nicht am<br />

Anfang des bürgerlichen Revolutionszyklus,<br />

der mit den Entwicklungen in Oberitalien, in<br />

den Niederlanden, in England und den USA,<br />

teilweise sogar schon 200, 150 <strong>Jahre</strong> zuvor an<br />

der Peripherie feudaler Macht begonnen<br />

hatte 7 . Sie war der Höhepunkt eines lange<br />

währenden grundsätzlichen gesellschaftlichen<br />

Umbruchs.<br />

Frankreich war in der Folge der Großen<br />

Revolution im 19. Jahrhundert aber auch der<br />

Ausgangspunkt wichtiger revolutionärer proletarischer<br />

Erhebungen, die die längst vergessene<br />

Forderung nach Gleichheit, Freiheit und<br />

Brüderlichkeit wieder auf die Tagesordnung<br />

setzten.<br />

Die Pariser Kommune von 1871 war das<br />

erste deutliche Signal dafür, dass die tatsächliche<br />

Lösung der Widersprüche der nun aktuellen<br />

kapitalistischen Entwicklung nur in der<br />

Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft<br />

bestehen kann.<br />

Mit dem Revolutionsbegriff wird in der<br />

marxistischen Entwicklungs- und Geschichtstheorie<br />

der Übergang von einer Gesellschaftsformation<br />

zu einer höheren Qualität gesellschaftlicher<br />

Entwicklung beschrieben. Revolutionäre<br />

Umbrüche bereiten sich in evolutionären<br />

Entwicklungsetappen vor. 8 Lenin sah<br />

wie Marx revolutionäre Perioden als „die lebendigsten,<br />

wichtigsten, wesentlichsten, entscheidendsten<br />

Momente in der Geschichte<br />

der menschlichen Gesellschaften“. 9<br />

Marx schrieb im Vorwort zu seiner Arbeit<br />

„Zur Kritik der politischen Ökonomie“ über<br />

die Ursachen und den Charakter revolutionärer<br />

gesellschaftlicher Umwälzungen: „Es ist<br />

nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr<br />

Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches<br />

Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer<br />

gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die<br />

materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft<br />

in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen<br />

... innerhalb deren sie<br />

sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen<br />

der Produktivkräfte schlagen diese<br />

Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt<br />

dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein.<br />

Mit der Veränderung der ökonomischen<br />

Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure<br />

Überbau langsamer oder rascher um.“ 10<br />

Dabei ist vorausgesetzt, dass die dialektisch-materialistische<br />

Entwicklungsauffassung<br />

sowie die marxistische Geschichtstheorie<br />

Entwicklungsprozesse nicht mechanistisch beschreiben<br />

und um einen Automatismus der<br />

Geschichte geht es schon gar nicht. Solche<br />

vereinfachten Vorstellungen hat es in Theorie<br />

und Politik der Arbeiterbewegung seit Ende<br />

des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts gegeben.<br />

Man war damals der Meinung, dass alle<br />

Geschehnisse im Gang der Geschichte<br />

zusammenfließen, dass die Arbeiterbewegung<br />

beständig stärker wird und daher zwangsläufig<br />

die Arbeiterklasse die politische Macht<br />

erringen und den Übergang zu einer sozialistischen<br />

Gesellschaft in die Wege leiten wird.<br />

Einseitigkeit oder Wunschdenken traten<br />

später auch beim Aufbau sozialistischer Gesellschaften<br />

an die Stelle wirklicher wissenschaftlicher<br />

Grundlegung politischer Praxis.<br />

Sowohl der Charakter gesellschaftlicher Entwicklungsgesetze<br />

wie die widerspruchsvolle<br />

Einheit von Stagnationen, Regressionen und<br />

Fortschritt in der Entwicklung, die Möglichkeit<br />

von Tendenzwenden bzw. Tendenzbrüchen<br />

wurden dabei nicht beachtet. Dahinter<br />

steckte – was Marx nicht hatte – die Vorstellung<br />

von einem „allgültigen Geschichtsfahrplan<br />

mit einem unverrückbaren Ziel“.<br />

Es geht also mit der dialektisch-materialistischen<br />

Entwicklungstheorie nicht um völlige<br />

„Durchschaubarkeit“ und Voraussehbarkeit<br />

der Geschichte der Gesellschaft.<br />

Die marxistische Sicht<br />

Entwicklung, auch der Gesellschaft, bedeutet<br />

aus marxistischer Sicht zunächst allgemein<br />

• Entstehung anderer, neuer und höherer Qualitäten,<br />

wobei die Entstehung höherer Qualitäten<br />

entscheidend ist. Die höhere Qualität ist<br />

an Entwicklungskriterien zu messen – unabhängig<br />

davon, welchen Bereich wir untersuchen.<br />

Um Entwicklungsprozesse zu analysieren


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

ist zunächst die Ausgangsqualität, die das Wesen<br />

einer Erscheinung bestimmt, zu erfassen.<br />

• nicht nur stetigen Fortschritt. Sie schließt<br />

mögliche Tendenzwenden, ja Tendenzbrüche,<br />

Stagnation und Regression ein. Tendenzen<br />

sind abschätzbar, aber die Zukunft ist offen.<br />

Es gibt keine eherne Notwendigkeit. Das<br />

Verhältnis von Gesetz und Zufall, die Entstehung<br />

von unterschiedlichen Möglichkeiten<br />

(Möglichkeitsfeldern) im Entwicklungsprozess,<br />

Existenz- und Begleitbedingungen spielen<br />

eine Rolle. Möglichkeiten verwirklichen<br />

sich unter bestimmten Bedingungen (dazu<br />

gehört in der Gesellschaft das Handeln von<br />

Menschen, Interessengruppen, Parteien) mit<br />

einer bestimmten Wahrscheinlichkeit.<br />

Aus unserer Sicht gibt es keinen treffenderen<br />

Begriff für grundlegende gesellschaftliche<br />

qualitative Umbrüche als den Revolutionsbegriff.<br />

Ursprünglich stammt der Revolutionsbegriff<br />

aus der Naturwissenschaft, vor allem der<br />

Astronomie. Er beschrieb dabei zunächst<br />

noch keine Entwicklungsprozesse.<br />

Aber die Epochenwende 1789, die große<br />

bürgerliche Revolution in Frankreich, brachte<br />

den „modernen politischen“ Revolutionsbegriff<br />

hervor. Übrigens sogleich aber auch<br />

sein Gegenstück, den Begriff der Konterrevolution<br />

11 . Mit der französischen Revolution von<br />

1789 erhielt die uralte Frage nach der richtigen<br />

Gesellschaft, in der die Menschen frei und<br />

gleich sind und jeder die Möglichkeit hat, am<br />

Reichtum der Gesellschaft zu partizipieren,<br />

unmittelbare Aktualität. Zum ersten Mal entstand<br />

eine bis dahin nicht gekannte Verbindung<br />

zwischen politischer Theorie und<br />

revolutionärer Praxis 12 .<br />

Revolutionen sind Ausdruck radikalen<br />

Umbruchs, „Knotenpunkte“ der Weltgeschichte.<br />

Revolutionäre Epochen sind komplexe<br />

Erscheinungen, die die Gesellschaft in<br />

ihrer Ganzheit umwälzen. Weil in den revolutionären<br />

Epochen die gesellschaftliche<br />

Entwicklung beschleunigt wird und die<br />

geschichtsgestaltende Kraft der Klassen und<br />

Volksmassen besonders deutlich zutage tritt,<br />

nannte Marx die Revolutionen eben „Lokomotiven<br />

der Geschichte“.<br />

THEMA 45<br />

Alle Veränderungen, die mit dem Revolutionsbegriff<br />

in Beziehung gesetzt werden<br />

– so unterschiedlich sie auch sind – haben aus<br />

marxistischer Sicht zwei wesentliche Eigenschaften<br />

gemeinsam:<br />

• Erstens bezieht sich der Revolutionsbegriff<br />

auf den Prozess der Ablösung einer bestehenden<br />

und die Entstehung einer neuen Gesellschaft.<br />

Bei einer Revolution handelt es sich<br />

um eine grundlegende qualitative Veränderung<br />

der wesentlichen Eigenschaften und<br />

Merkmale gesellschaftlicher Verhältnisse, Bedingungen<br />

und Beziehungen. In der marxistischen<br />

Philosophie spricht man an dieser Stelle<br />

von Grundqualität, ihrer Veränderung und<br />

von der Entstehung einer neuen, höheren<br />

Grundqualität.<br />

• Zweitens geht es im Zusammenhang mit<br />

dem Begriff der Revolution immer um Veränderungen,<br />

die Fortschritt bedeuten. Der<br />

grundlegende Begriffsinhalt von „Revolution“<br />

– qualitative Veränderung in Richtung<br />

Fortschritt – ist auch im Begriff der sozialen<br />

Revolution enthalten, aber darauf nicht beschränkt.<br />

Hauptkriterium der Betrachtung unter<br />

Marxistinnen und Marxisten für die gesellschaftliche<br />

Höherentwicklung waren in der<br />

Vergangenheit dabei vor allem der Entwicklungsstand<br />

und die Entwicklungsmöglichkeiten<br />

der Produktivkräfte, was Auswirkungen<br />

auf die Entwicklung in allen anderen Bereichen<br />

des gesellschaftlichen Lebens hat.<br />

„Fortschritt“ bedeutete zugleich, dass die bislang<br />

unterdrückten Klassen die Unterdrückung<br />

und die bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse<br />

überwinden konnten und politische<br />

wie ökonomische Macht erlangten.<br />

Die sozialistischen Revolutionen der Vergangenheit<br />

sind – auch wenn mit ihnen im<br />

Gegensatz zu vorhergehenden revolutionären<br />

Umbrüchen die Ausbeutung des Menschen<br />

durch den Menschen grundsätzlich überwunden<br />

wurde – noch nicht zu dem notwendigen<br />

Punkt gelangt, alle oligarchischen und patriarchalischen<br />

Verhältnisse zu beseitigen. Aus<br />

Erfahrung und heutiger Sicht gehört deshalb<br />

als weiteres unverzichtbares Kriterium für die


46<br />

Nina Hager: Revolutionen – noch Lokomotiven der Weltgeschichte?<br />

Bestimmung gesellschaftlichen Fortschritts<br />

die Frage: Inwieweit eröffnet eine Gesellschaft<br />

die Möglichkeit, dass sich Menschen –<br />

unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, ihres<br />

Geschlechts, ihrer Begabung, ihrer Fähigkeiten<br />

– tatsächlich allseitig bilden, sich frei<br />

entwickeln und entfalten können, inwieweit<br />

ermöglicht also eine Gesellschaft – wenn auch<br />

in einem historischen Prozess –, tatsächlich<br />

„alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der<br />

Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein<br />

verlassenes, ein verächtliches Wesen ist ...“ 13<br />

Und wie geht sie vor allem mit denen um,<br />

die schwach sind?<br />

Inwieweit ist also ein selbstbestimmtes und<br />

selbstgestaltetes Leben der Einzelnen gemeinsam<br />

mit den Anderen in Würde, Frieden,<br />

Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, in<br />

sozialer Sicherheit, aber auch in Verantwortung<br />

für die Natur und die materiell-stofflichen<br />

Ressourcen, tatsächlich möglich?<br />

Noch einige Anmerkungen:<br />

Erstens: In unserem heutigen marxistischen<br />

Sprachgebrauch findet der Begriff „Revolution“<br />

auch andere Anwendung. Er ist<br />

nicht mehr nur auf soziale und politische Prozesse<br />

beschränkt.<br />

Georg Fülberth und Michael Krätke<br />

machen beispielsweise darauf aufmerksam,<br />

dass der moderne Kapitalismus durch eine<br />

ganze Serie von „Revolutionen“ zustande<br />

kommt: „Nicht nur „industrielle“ Revolutionen<br />

sind wichtig, die „agrarische“ Revolution, die<br />

Transportrevolution, die „finanzielle“ Revolution<br />

des 18. Jahrhunderts, ebenso wie die<br />

„kommerzielle“ Revolution kurz darauf, spielen<br />

eine nicht weniger wichtige Rolle in der<br />

Entwicklung des Kapitalismus. Solche Revolutionen<br />

ereignen sich in der Geschichte des<br />

Kapitalismus immer wieder – in jüngster Zeit<br />

haben wir wieder eine finanzielle Revolution<br />

erlebt, die zum Verschwinden der Banken, wie<br />

wir sie kannten, zur Erfindung und Verbreitung<br />

der Finanzderivate und zum virtuellen<br />

Geld geführt hat.“ 14<br />

Im Zusammenhang mit grundsätzlich neuen<br />

Entwicklungen im System der Produktivkräfte<br />

sprechen wir beispielsweise seit vielen Jah-<br />

ren auch von einer wissenschaftlich-technischen<br />

Revolution.<br />

Einmal abgesehen davon, dass sie tief greifende<br />

Veränderungen auf dem Gebiet der Information<br />

und Kommunikation, im Bereich<br />

der Biotechnologie und Genetik, im Werkstoffbereich<br />

usw. betrifft und bis in den Bereich<br />

von Nanotechnologie reicht: Im Vergleich<br />

zur industriellen Revolution im 18. und<br />

19. Jahrhundert haben die Ergebnisse der heutigen<br />

wissenschaftlich-technischen Revolution<br />

weitaus gravierendere Auswirkungen auf das<br />

Leben aller Menschen; sei es durch technische<br />

Verbesserungen der Lebensumstände, durch<br />

Zerstörungen der Umwelt oder längerfristige<br />

Wirkungen.<br />

Mit der Entwicklung der modernen Produktivkräfte<br />

entstehen neue Möglichkeiten<br />

gesellschaftlicher Entwicklung, der umfassenden<br />

Umwälzung der Produktions- und Lebensweise,<br />

aber auch neue Gefahren und<br />

Grenzen. Die Frage nach den künftigen<br />

grundlegenden sozialen und politischen Veränderungen<br />

hängt damit viel enger zusammen<br />

als in früheren gesellschaftlichen Entwicklungsstadien.<br />

Zweitens: Wir müssen beachten, dass historisch<br />

unter dem Begriff der sozialen Revolution,<br />

auch wenn es letztlich immer um die<br />

Frage nach dem grundsätzlichen Bruch mit<br />

bestehenden Verhältnissen und nach der<br />

Entstehung einer höheren Qualität gesellschaftlicher<br />

Entwicklung geht, zudem sehr<br />

unterschiedliche konkrete Entwicklungen<br />

gefasst werden.<br />

Der Sturm auf die Bastille in Paris 1789<br />

oder der Sturm auf das Winterpalais in<br />

Petrograd im Oktober 1917 waren in der<br />

Geschichte als Ereignisse eher Ausnahmen.<br />

Soziale und politische Revolutionen nehmen<br />

lange Zeiträume in Anspruch. Revolutionäre<br />

Brüche mit überlebten gesellschaftlichen<br />

Systemen waren niemals Augenblicksereignisse,<br />

sondern umfassende, vielschichtige, oftmals<br />

langwierige historische Prozesse. In<br />

ihnen wurde prinzipiell immer die Macht- und<br />

die Eigentumsfrage gestellt. Ergebnis des<br />

komplexen historischen Prozesses waren


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Erscheinungsformen einer neuen gesellschaftlichen<br />

Produktionsweise mit dem – den historischen<br />

Umständen, Besonderheiten usw. entsprechenden<br />

– Überbau. Dabei gab es immer<br />

Phasen der Stagnation und sogar der<br />

Regression, ehe sich diese Grundqualität der<br />

neuen Gesellschaft durchsetzen konnte.<br />

Marxistisch inspiriert?<br />

Mit 1989/ <strong>90</strong> ist offenbar der alte Streit in der<br />

Linken neu entbrannt. Die Unterschiede zeigen<br />

sich nicht nur in der Programmatik. Und<br />

es gibt noch einige Ergänzungen zum alten<br />

theoretischen Streit. Über die SPD müssen<br />

wir in diesem Zusammenhang wohl nicht<br />

mehr reden. Sehr wohl aber über die Linkspartei,<br />

mit der sich im Lande viele Hoffnungen<br />

verbinden.<br />

2004 reduzierten Michael Brie und Dieter<br />

Klein in Thesen zu einer internationalen Konferenz<br />

in ihrem Beitrag „Die Wege – Revolution,<br />

Reform, Transformation – marxistisch<br />

inspirierte Überlegungen“ unter anderem<br />

die Position Rosa Luxemburgs zur Frage<br />

der Sozialreformen zunächst allein auf die<br />

Rolle von Reformen für die Vorbereitung der<br />

Revolution: „Sie schien eine Position zu vertreten,<br />

die den Kampf um die sozialen, kulturellen<br />

und politischen Interessen der Arbeiter<br />

und anderer Teile des Volkes auf ein bloßes<br />

Mittel der Vorbereitung auf den revolutionären<br />

Kampf reduzierte, auch wenn sie selbst<br />

dies weder so sah noch praktizierte … Es ging<br />

vor allem darum, den ‚Gewalthaufen‘ zu stärken<br />

und zusammenzuhalten. Der Kampf um<br />

Reformen sei dabei nur eines der Mittel.“ 15<br />

Dieses Herangehen wird dann – „marxistisch<br />

inspiriert“ – der gesamten ihr folgenden<br />

Bewegung unterstellt, die den Kampf um Reformen<br />

den „opportunistischen“ und „reformistischen“<br />

Kräften überlassen hätte. Nachdem<br />

dies geschehen ist, wird behauptet, die<br />

Trennung zwischen Reform und Revolution<br />

müsse aufgehoben werden.<br />

Ist es aber nicht vielmehr so, dass es ein im<br />

Laufe der Geschichte wechselndes Verhältnis<br />

von evolutionären und revolutionären, von<br />

THEMA 47<br />

quantitativen und qualitativen Veränderungen<br />

gibt? Reform und Revolution demnach<br />

als zwei Momente gesellschaftlicher Entwicklung<br />

und der Kämpfe um gesellschaftliche<br />

Veränderungen zu betrachten sind und nur<br />

der Begriff der „Revolution“ den grundlegenden<br />

qualitativen Umbruch kennzeichnet? Wo<br />

ist hier eine Trennung?<br />

Hier sei kurz daran erinnert, was Rosa<br />

Luxemburg tatsächlich geschrieben hatte. Sie<br />

sah sich bekanntlich 1898/1899 genötigt, eine<br />

prinzipielle Polemik gegen Bernstein zu führen.<br />

Die „Erkenntnis, dass Bernstein die Arbeiterbewegung<br />

auf die Bahnen des Trade-<br />

Unionismus drängen und damit objektiv die<br />

Selbstständigkeit der deutschen Sozialdemokratie<br />

als Klassenorganisation des Proletariats<br />

aufheben wollte“, bestimmte die Richtung<br />

ihres Kampfes. 16<br />

Im Vorwort zu ihrer Schrift „Sozialreform<br />

oder Revolution“ schrieb sie: „Der Titel der<br />

vorliegenden Schrift kann auf den ersten<br />

Blick überraschen. Sozialreform oder Revolution?<br />

Kann denn die Sozialdemokratie gegen<br />

die Sozialreform sein? Oder kann sie die soziale<br />

Revolution, die Umwälzung der bestehenden<br />

Ordnung, die ihr Endziel bildet, der<br />

Sozialreform entgegenstellen? Allerdings<br />

nicht. Für die Sozialdemokratie bildet der alltägliche<br />

praktische Kampf um soziale<br />

Reformen, um die Besserung der Lage des<br />

arbeitenden Volkes noch auf dem Boden des<br />

Bestehenden, um die demokratischen Einrichtungen,<br />

vielmehr den einzigen Weg, den<br />

proletarischen Klassenkampf zu leiten und<br />

auf das Endziel, auf die Ergreifung der politischen<br />

Macht und die Aufhebung des Lohnsystems<br />

hinzuarbeiten. Für die Sozialdemokratie<br />

besteht zwischen der Sozialreform und<br />

der sozialen Revolution ein unzertrennlicher<br />

Zusammenhang ...“ 17<br />

Der Kampf um Reformen war auch für<br />

Lenin eingebettet in den Kampf für die sozialistische<br />

Umgestaltung. Aber er ist kein Selbstzweck,<br />

dient nicht nur der „Vorbereitung der<br />

Revolution“ sondern dient der Verbesserung der<br />

sozialen und kulturellen Lebenslage des Proletariats<br />

und der Erweiterung seiner Spielräume.


48<br />

Nina Hager: Revolutionen – immer noch Lokomotiven der Weltgeschichte?<br />

„Lenin“, so Josef Schleifstein, „weist darauf<br />

hin, dass von allen Strömungen der Arbeiterbewegung<br />

nur der Marxismus das Verhältnis<br />

von Reform und Revolution richtig bestimmt<br />

habe. Auch während des ersten Weltkrieges<br />

und danach fordert er, dass die Marxisten keineswegs<br />

auf den Kampf um Reformen verzichten<br />

dürfen; die Opportunisten wären nur<br />

froh, sagt er, wenn die Marxisten ihnen allein<br />

den Kampf um Reformen überließen.” 18<br />

Wolfgang Eichhorn verwies 2005 darauf,<br />

dass die „geschichtlichen Inhalte von Themen<br />

wie Reform, Revolution, Fortschritt“ <strong>heute</strong><br />

nicht die gleichen sind „wie die vor hundert<br />

<strong>Jahre</strong>n. Sie haben sich verändert, und sie werden<br />

sich weiter verändern.“ 19 Aber sie sind<br />

nicht obsolet geworden.<br />

Brie und Klein unterstellten in ihrem Beitrag<br />

auch, dass der „orthodoxe Marxismus“<br />

ein sehr beschränktes Revolutionsverständnis<br />

habe. Aus dieser Behauptung folgern sie: „Sozialistische<br />

Umwälzung wird nicht mehr ausschließlich<br />

als ‚Tag der Entscheidung‘ gedacht,<br />

sondern als Prozess, der durch Veränderung<br />

von Kräfteverhältnissen, von<br />

Macht- und Eigentumsstrukturen, von institutioneller<br />

Innovation, von über den Kapitalismus<br />

hinausweisenden Reformen <strong>heute</strong> und<br />

hier beginnen kann.<br />

Nicht jede soziale oder demokratische<br />

Reform drängt Kapitalismus zurück, aber es<br />

steht die Frage, ob es nicht solche gibt, die ein<br />

derart ‚transformatives‘, dem Wesen nach<br />

revolutionäres Potential haben. Rosa Luxemburg<br />

scheint in den Räten solche Elemente<br />

und Prinzipien einer neuen Gesellschaft gesehen<br />

zu haben, die es auch unabhängig von der<br />

Übernahme der politischen Macht im Staat<br />

durchzusetzen gelte. Wenn dies richtig ist,<br />

dann überwand sie im Ansatz die alte Trennung<br />

von Weg und Ziel, Reform und Revolution,<br />

damit beginnt sie Positionen zu entwickeln,<br />

in denen der Weg ein realer Fortschritt<br />

auf dem Weg zum Ziel ist (nicht mehr nur im<br />

Sinne der Zuspitzung der Widersprüche und<br />

der Festigung eines revolutionären Bewusstseins)<br />

und das Ziel sich direkt mit der Art und<br />

Weise des alltäglichen Kampfes und konkre-<br />

ten Interessenvertretung so verbindet, dass<br />

dabei reale Fortschritte hin zum realen Ziel<br />

erreicht werden können. Eine solche Position<br />

könnte in Überwindung des alten Gegensatzes<br />

von Reform und Revolution als<br />

sozialistische Transformationspolitik bezeichnet<br />

werden, eine Politik, die die realen<br />

Verhältnisse, die Eigentums- und Machtverhältnisse<br />

so zu verändern sucht, dass dabei der<br />

Kapitalismus zurückgedrängt wird und<br />

Ansätze nichtkapitalistischer Verhältnisse<br />

entstehen.“ 20<br />

„Transformation“ wird dabei „als Prozess<br />

progressiver Zurückdrängung und Überwindung<br />

der Kapitaldominanz über Wirtschaft<br />

und Gesellschaft“ 21 verstanden, nicht als<br />

Kampf um die Veränderung des Kräfteverhältnisses,<br />

um die Einschränkung, Zurückdrängung<br />

und letztlich grundlegende Veränderung<br />

der Macht- und Eigentumsverhältnisse<br />

wie sie beispielsweise im Programm der<br />

DKP im Kapitel „Unser Weg zum Sozialismus“<br />

im Zusammenhang mit der Frage nach<br />

der Notwendigkeit antimonopolistischer<br />

Umwälzungen als Voraussetzung für die Öffnung<br />

des Weges zum Sozialismus problematisiert<br />

wird.<br />

Die Autoren der programmatischen Eckpunkte<br />

der Partei „Die Linke“ haben den<br />

„Transformationsbegriff“ und das „Transformationsprojekt“<br />

übernommen, „das den<br />

Wandel in den kapitaldominierten Gesellschaften<br />

mit der Überwindung der Kapitaldominanz<br />

verbindet“ 22 . Der Sozialismus<br />

taucht in den gegenwärtigen programmatischen<br />

Eckpunkten, die ein wichtiges Gründungsdokument<br />

„Der Linken“ sind, nur noch<br />

als „demokratischer Sozialismus“ auf. Der soll<br />

Ziel, Weg und Wertesystem sein. Weitergehende,<br />

konkretere Vorschläge wurden bislang<br />

nicht berücksichtigt.<br />

In den Eckpunkten heißt es: „Ziel des demokratischen<br />

Sozialismus, der den Kapitalismus<br />

in einem transformatorischen Prozess<br />

überwinden will, ist eine Gesellschaft, in der<br />

die Freiheit des anderen nicht die Grenze, sondern<br />

die Bedingung der eigenen Freiheit ist.“<br />

Einmal abgesehen davon, dass man auch


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

über den zweiten Teil dieses Satzes reden<br />

müsste, taucht der grundlegende Begriffsinhalt<br />

von „Revolution“ nicht auf. Wird der<br />

Bruch mit den bestehenden Macht- und<br />

Eigentumsverhältnissen noch gedacht? Oder<br />

müssen wir „unorthodox“ ganz anders denken?<br />

Aber was? Kann man mit dem Begriff<br />

„Transformation“ besser grundlegende qualitative<br />

gesellschaftliche Veränderungen in<br />

Richtung Fortschritt beschreiben?<br />

Transformation (Umformung) bedeutet zunächst<br />

nur allgemein die Veränderung der<br />

Gestalt bzw. Form bzw. Struktur. Von „revolutionären<br />

Transformationsprozessen“ oder reformerischen<br />

Transformationen zu sprechen,<br />

macht vielleicht noch Sinn, um qualitative<br />

Umwandlungs- oder Umformungsprozesse zu<br />

bekräftigen und Unterschiede aufzuzeigen.<br />

Transformationsprozesse können jedoch auch<br />

ohne Verlust der Substanz bzw. des Inhaltes<br />

erfolgen. Dies bedeutet, dass mit diesem<br />

Begriff also nicht unbedingt die Veränderung<br />

des Wesens, der Grundqualität verbunden<br />

wird. Auch in den Naturwissenschaften hängt<br />

dieser Begriff in der Regel nicht mit der<br />

Veränderung des Wesens einer Erscheinung,<br />

der Veränderung der Grundqualität zusammen.<br />

In den bürgerlichen Sozial- und Politikwissenschaften<br />

wird unter Transformation<br />

eine strukturelle Umformung, Umwandlung<br />

oder Veränderung wie beispielsweise die<br />

Umwandlung von Plan- in Marktwirtschaften<br />

(das wird als Transformationsökonomie<br />

bezeichnet), aber auch die Veränderung von<br />

einer Gesellschaftsform in eine andere, eines<br />

politischen Systems in ein anderes verstanden.<br />

Er beschreibt also alle möglichen Veränderungen,<br />

aber nicht notwendig die Veränderung<br />

des Wesens, der Grundqualität einer<br />

Gesellschaft in Richtung gesellschaftlicher<br />

Fortschritt.<br />

Übrigens – hier sei ein Einschub gestattet –<br />

gab es nach 19<strong>90</strong> in der sozialwissenschaftlichen<br />

Forschung über einige <strong>Jahre</strong> eine regelrechte<br />

Flut von Arbeiten, die sich mit der<br />

„Transformation“ der ostdeutschen Wirtschaft<br />

und Gesellschaft bzw. entsprechenden<br />

THEMA 49<br />

Prozessen in anderen Ländern Osteuropas<br />

beschäftigten. Wir haben diesen Prozess dagegen<br />

immer als einen historisch beispiellosen<br />

kapitalistischen Rückgewinnungs-, Ausplünderungs-<br />

und Restaurationsprozess, also als<br />

den Sieg einer Konterrevolution benannt. Mit<br />

dem Transformationsbegriff handelt es sich<br />

um einen Begriff, der eher Herrschaftsverhältnisse<br />

verschleiert als sie offenzulegen.<br />

Auch dieses Beispiel zeigt, mit „Transformationen“<br />

werden die grundlegenden gesellschaftlichen<br />

Widersprüche im Land wie international<br />

nicht gelöst werden können. Eine<br />

Lösung der Probleme der Menschen ist im<br />

Rahmen dieser Gesellschaft nicht mehr möglich.<br />

Nicht nur die Wahlerfolge der Linkspartei,<br />

sondern auch Aktionen in den Betrieben, die<br />

Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm<br />

usw. zeigen, das sich Einstellungen wandeln.<br />

Es ist – trotz der vielen kritischen<br />

Stimmen im Land und auch in anderen Ländern<br />

– aber noch ein langer Weg, Menschen zu<br />

überzeugen, Kräfte zu sammeln, zu gemeinsamen<br />

Aktionen, zu gemeinsamen Zielvorstellungen<br />

zu kommen. Und es ist ein noch längerer<br />

Weg, dass dieser gemeinsame Kampf in<br />

grundlegenden Veränderungen mündet.<br />

Und zugleich waren die gesellschaftlichen<br />

Möglichkeiten für eine fortschrittliche Entwicklung<br />

nie so beschränkt wie <strong>heute</strong>. Aus<br />

unserer Sicht sind die Spielräume für Sozialreformen<br />

unter den Bedingungen eines „globalisierten“<br />

Kapitalismus und neoliberaler Politik<br />

– Schäubles Vorhaben zum Abbau von politischen<br />

Grundrechten sind dabei zum Beispiel<br />

nur ein Moment einer massiven und wirksamen<br />

ökonomischen, politischen und ideologischen<br />

Gegenstrategie – enger geworden.<br />

Wer die Ursachen von Ausbeutung und<br />

Entfremdung, von Krieg und Hunger, von<br />

Armut und Verzweiflung, von Arbeitshetze<br />

und Arbeitslosigkeit, von Umweltzerstörung,<br />

Diskriminierung, Rassismus, Chauvinismus<br />

und Unterdrückung beseitigen will, der muss<br />

den Kapitalismus grundsätzlich in Frage stellen.<br />

Bleiben wir also beim Revolutionsbegriff,


50 Nina Hager: Revolutionen – noch Lokomotiven der Weltgeschichte?<br />

beim scheinbar „alten“, „orthodoxen“ Instrumentarium.<br />

Das heißt aber auch, weiter daran<br />

zu arbeiten, Vereinfachungen und theoretische<br />

Fehler zu überwinden.<br />

Georg Fülberth und Michael R. Krätke<br />

schrieben in ihrer Arbeit „Neun Fragen zum<br />

Kapitalismus“: „Es gibt Konjunkturen der<br />

Revolten und Rebellionen, aber sie kommen<br />

unweigerlich zurück, da ihre Ursachen im<br />

Kapitalismus ständig aufs Neue reproduziert<br />

werden. Im Weltmaßstab betrachtet, ist es<br />

auch dem mobilsten Kapital bisher noch nicht<br />

gelungen, den Revolten und den organisierten<br />

Rebellionen, die es selbst hervorruft, auf<br />

Dauer zu entkommen … Mit der Abwanderung<br />

des Kapitals, mit der räumlichen Verlagerung<br />

der kapitalistischen Produktion werden<br />

die der kapitalistischen Produktionsweise<br />

eigentümlichen Konflikte und Kämpfe nur<br />

verlagert und verschoben, nicht aufgehoben.<br />

Immer schon, auch im 19. und 20. Jahrhundert,<br />

gab es Gegenbewegungen gegen die Entfesselung<br />

der ‚Märkte‘, gegen die zerstörerischen<br />

Folgen des Kapitalismus. Es gibt sie auch<br />

<strong>heute</strong>.“ 23<br />

Und im DKP-Programm heißt es: „Nur der<br />

revolutionäre Bruch mit den kapitalistischen<br />

Macht- und Eigentumsverhältnissen beseitigt<br />

letztendlich die Ursachen von Ausbeutung<br />

und Entfremdung, Krieg, Verelendung und<br />

Zerstörung unserer natürlichen Umwelt. Die<br />

Durchsetzung der elementaren Menschenrechte<br />

für alle Bewohner dieser Erde ist nur in<br />

einer Gesellschaft zu verwirklichen, die auf<br />

dem Gemeineigentum an Produktionsmitteln<br />

beruht und in der Demokratie mit der politischen<br />

Macht des arbeitenden Volkes verwirklicht<br />

wird. “ 24<br />

1 E. Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte<br />

des 20. Jahrhunderts. München 1995. S. 77<br />

2 M. Kossok: Der historische Ort der Französischen<br />

Revolution. In: Marxistische Blätter, 2/89. S.14<br />

3 Ebenda. S. 719<br />

4 Ebenda. S. 720<br />

5 J. Schleifstein: Ziel, Inhalt und Formen des Kampfs der<br />

Arbeiterklasse.Aus: Einführung in das Studium von Marx,<br />

Engels und Lenin. Abgedruckt in: Marxistische Blätter<br />

5/1995 S. 19<br />

6 K. Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850.<br />

In: MEW, Bd. 7, S. 85<br />

7 M. Kossok: Was bleibt von der Revolution und ihrer<br />

Theorie? In: Z, Nr. 12/ 1992, S.9<br />

8 Vgl. W. I. Lenin : Gegen den Boykott. In: LW, Bd. 13, S. 24<br />

9 Ebenda<br />

10 K. Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. In: MEW,<br />

Bd. 13, S. 9<br />

11 Vgl.: Manfred Kossok, In Tyrannos. Revolutionen der<br />

Weltgeschichte. Leipzig 1989. Vergleiche auch: Die Große<br />

französische Revolution. Hrsg. Kurt Holzapfel unter<br />

Mitwirkung von Walter Markov. Berlin 1989<br />

12 Vgl. Manfred Kossok, In Tyrannos. A. a. O.<br />

13 K. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie.A.<br />

a. O., S.385<br />

14 G. Fülberth/ M. R. Krätke: Neun Fragen zum Kapitalismus.<br />

Rosa-Luxemburg-Stiftung. Texte 36. S. 25<br />

15 Michael Brie und Dieter Klein in Thesen zu einer internationalen<br />

Konferenz in ihrem Beitrag „2. Wie: Die Wege –<br />

Revolution, Reform, Transformation – marxistisch inspirierte<br />

Überlegungen“. S. 3 f.<br />

16 G. Radczun: Rosa Luxemburg in dieser Zeit. In: Rosa<br />

Luxemburg. Ausgewählte politische Schriften in drei<br />

Bänden. Band 1. A. a. O.<br />

17 R. Luxemburg: Sozialreform oder Revolution? In: R.<br />

Luxemburg. Ausgewählte politische Schriften in drei<br />

Bänden. Bd. 1. A. a. O. S. 48<br />

18 Vgl. J. Schleifstein. A. a. O. S. 24/25<br />

19 Wolfgang Eichhorn: Gegenständlichkeit, Subjektivität<br />

und die Geschichte (Manuskript)<br />

20 Michael Brie und Dieter Klein in Thesen zu einer internationalen<br />

Konferenz in ihrem Beitrag „2. Wie: Die Wege –<br />

Revolution, Reform, Transformation – marxistisch inspirierte<br />

Überlegungen“. S. 5<br />

21 Ebenda. S. 2<br />

22 Ebenda. S. 18<br />

23 Georg Fülberth/ Micheal R. Krätke: Neun Fragen zum<br />

Kapitalismus. A. a. O. Rosa-Luxemburg-Stiftung. Texte 36.<br />

S. 46 f.<br />

24 Programm der DKP<br />

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MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Wo geht’s denn hier zu<br />

den Veränderungen?<br />

Leo Mayer<br />

1. Wir leben in einer paradoxen Welt<br />

- Rostock/Heiligendamm im Juni 2007: Zehntausende<br />

demonstrieren, blockieren und diskutieren.<br />

Zugehörig zu christlichen Gruppen,<br />

der globalisierungskritischen Bewegung, Gewerkschaften,<br />

linken Organisationen und<br />

Parteien, eint sie der Protest gegen eine Weltordnung,<br />

die von den Regierungschefs der<br />

G7/G8 repräsentiert wird. Kapitalismuskritische<br />

und antikapitalistische Positionen sind<br />

bei allen zu finden.<br />

Zur gleichen Zeit streiken über 20 000<br />

Beschäftigte bei der Telekom. Sie wehren sich<br />

gegen die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen<br />

und die mit der Ausgliederung verbundene<br />

existenzielle Unsicherheit.Auch dort<br />

finden kapitalismuskritische Positionen wachsende<br />

Resonanz.<br />

Zwei Beispiele, wie bei einer zunehmenden<br />

Zahl von Menschen die Einsicht zunimmt,<br />

dass die gesellschaftlichen Probleme nicht<br />

innerhalb und mit dem Kapitalismus lösbar<br />

sind. Die Ansprüche an eine andere Welt – gerecht,<br />

solidarisch, friedlich – sind vorhanden.<br />

Doch zugleich wird auch keine Möglichkeit<br />

gesehen, dieses kapitalistische System zu<br />

überwinden. Es scheint keinen Ausweg und<br />

keine realistische Alternative zu geben. Alles<br />

scheint blockiert zu sein.<br />

- Weil es im Kapitalismus keine Lösung der<br />

Probleme gibt, wächst die Notwendigkeit einer<br />

radikalen Kapitalismuskritik und die Suche<br />

nach grundsätzlichen Alternativen. Aber zugleich<br />

wächst die Dringlichkeit von sofortigen<br />

Reformen zur Verbesserung der Lebenssituation<br />

und der Erweiterung demokratischer<br />

Freiheiten sowie zur gesellschaftlichen Kontrolle<br />

der wissenschaftlich-technischen Entwicklung.<br />

Die rasante Entwicklung der Produktivkräfte<br />

und die voranschreitende Globalisierung<br />

bringen diese in immer stärkeren<br />

THEMA 51<br />

Konflikt mit ihrer kapitalistischen Hülle und<br />

verstärken so die Tendenz, den Kapitalismus<br />

zu sprengen; eine Voraussetzung für den<br />

Übergang zum Sozialismus. Doch zugleich<br />

rufen die destruktiven Tendenzen der<br />

Produktivkraftentwicklung immer größere<br />

Katastrophen hervor und gefährden sogar die<br />

Existenz der menschlichen Gattung.<br />

- Obwohl Globalisierung und neoliberale Umwälzungen<br />

dem Reformismus den ökonomischen<br />

Boden entzogen haben, erleben linksreformistische<br />

Positionen einen enormen Aufschwung<br />

und Zulauf.<br />

2. Reformen und sozialistische Politik<br />

Nahezu alle linken Kräfte treten unter verschiedenen<br />

Bezeichnungen für eine Politik<br />

progressiver Reformen als Alternative und zur<br />

Überwindung des Neoliberalismus ein; bezeichnet<br />

als „Politikwechsel“, als „neue soziale<br />

Idee“ oder als „Wende zu demokratischem<br />

und sozialem Fortschritt“. Trotz großer Gemeinsamkeiten<br />

in der Richtung und den<br />

Inhalten einer Reformpolitik werden doch die<br />

Zielstellungen einer Reformpolitik unterschiedlich<br />

beantwortet. Es gibt, z. T. auch abhängig<br />

von den Zielstellungen, unterschiedliche<br />

Antworten auf die Fragen, welche politischen<br />

Spielräume für Reformen im heutigen<br />

Kapitalismus vorhanden sind und welche<br />

Kräftekoalitionen für eine Reformpolitik gewonnen<br />

werden können.<br />

Grob skizziert lassen sich drei Positionen<br />

benennen:<br />

1. über Reformen zum Sozialstaat der 70 er<br />

<strong>Jahre</strong> zurückzukehren;<br />

2. mittels Reformen den entfesselten globalen<br />

Kapitalismus zu bändigen und zu zivilisieren;<br />

3. Reformen als Teil einer Strategie zur Öffnung<br />

eines Weges zum Sozialismus.<br />

Bei dieser letztgenannten Konzeption hängen<br />

Reformen mit dem Kampf um Hegemonie,<br />

dem Aufbau von Gegenmacht und der<br />

Gewinnung der Mehrheit für den Kampf um<br />

eine sozialistische Gesellschaft zusammen.<br />

Der Kampf um Reformen muss nicht nur zur<br />

Verbesserung der Lebenssituation großer


52<br />

Leo Mayer: Wo geht’s denn hier zu den Veränderungen?<br />

Teile der Bevölkerung und der Erweiterung<br />

demokratischer Freiheiten beitragen, sondern<br />

auch zur Veränderung der Lebenseinstellungen,<br />

der Erwartungen und des Handelns breiter<br />

Massen. Denn mit dem Kampf um<br />

Veränderungen sollen sich auch die Handelnden<br />

verändern. Dementsprechend müssen<br />

Reformen auf die Veränderung der Verhältnisse<br />

zielen, aus denen die Interessen der Menschen<br />

erwachsen: auf die ökonomische Basis,<br />

den institutionellen Überbau und die Kultur.<br />

In einem langanhaltenden Kampf um strukturelle<br />

Reformen sollen die Macht des Kapitals<br />

und die Wirkung der Kapitallogik eingedämmt<br />

und schrittweise Positionen in der Gesellschaft<br />

und auch in Teilen des Staates von<br />

den progressiven Kräften besetzt werden.<br />

Dieser Kampf verläuft immer noch innerhalb<br />

des Kapitalismus, geht aber von der Marxschen<br />

Erkenntnis aus, dass der Kapitalismus<br />

sich mit Krisen und Brüchen entwickelt. In<br />

diesen Krisen und Umbruchphasen eröffnen<br />

sich Möglichkeiten revolutionärer gesellschaftlicher<br />

Umwälzungen. Diese Möglichkeit<br />

kann jedoch nur in dem Maße zur Realität<br />

werden, wie eine organisierte gesellschaftliche<br />

und politische Kraft existiert, die bewusst diese<br />

Möglichkeit nutzt. Mit dem Kampf um Reformen<br />

erarbeiten sich die fortschrittlichen<br />

Kräfte politische Handlungsfähigkeit und bereiten<br />

sich auf die „Möglichkeit“ vor.<br />

In dieser Konzeption sollen mit Reformen<br />

die progressiven Tendenzen der gesellschaftlichen<br />

Entwicklung befördert werden. Den<br />

Kapitalismus zeichnet die „fortwährende Umwälzung<br />

der Produktion, die ununterbrochene<br />

Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände“<br />

aus. „Alle festen eingerosteten Verhältnisse<br />

mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen<br />

Vorstellungen und Anschauungen werden<br />

aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie<br />

verknöchern können.“ Diese Beschreibung<br />

der Existenzbedingung des Kapitalismus<br />

durch Marx im Manifest wird uns gegenwärtig<br />

durch die mit dem neoliberalen, globalen<br />

Kapitalismus verbundenen gesellschaftlichen<br />

Umwälzungen anschaulich vor Augen geführt.<br />

So naheliegend es ist, in diesen Umbruchzei-<br />

ten das Alte, vermeintlich „Sichere“ retten zu<br />

wollen, so sollen fortschrittliche Reformen<br />

doch nicht zur Aufrechterhaltung des Alten<br />

dienen, sondern für das Neue vorbereiten. Es<br />

gilt, in den durch den Neoliberalismus hervorgerufenen<br />

Zersetzungen des Alten – wie z. B.<br />

der Arbeitsbeziehungen, Traditionen, Sitten,<br />

Geschlechterverhältnisse, kurz, der gesamten<br />

Arbeits- und Lebensweise, aber auch in der<br />

Zersetzung der arbeitenden Klasse und ihrer<br />

Neuzusammensetzung – die Ansatzpunkte für<br />

progressive Veränderungen zu suchen.<br />

Dies setzt eine genaue Analyse der Entwicklung<br />

der kapitalistischen Produktionsweise<br />

voraus. Ohne einen zeitgemäßen Marxismus<br />

lässt sich diese Aufgabe nicht lösen.<br />

3. Reformen im globalen Kapitalismus<br />

Der Kampf um Reformen muss in einer radikal<br />

veränderten Welt geführt werden:<br />

- der Realsozialismus ist verschwunden,<br />

- der Kapitalismus hat sich konkurrenzlos über<br />

den Globus ausgebreitet,<br />

- der „permanente Krieg“ wurde zum Normalzustand,<br />

um die gegenwärtige imperialistische<br />

Weltordnung aufrechtzuerhalten,<br />

- die traditionelle Arbeiterbewegung als gewerkschaftliche,<br />

kulturelle und politische Bewegung<br />

existiert nicht mehr.<br />

Bei der Frage nach Reformen im globalen<br />

Kapitalismus zeigen uns die Erfahrungen der<br />

zurückliegenden <strong>Jahre</strong>, dass es nicht mehr<br />

gelungen ist, progressive Reformen durchzusetzen,<br />

dass das Handeln und die Aktivitäten<br />

der sozialen Bewegungen ohne sichtbare<br />

Wirkungen für die politischen Entscheidungen<br />

der Herrschenden geblieben sind.<br />

- Trotz einer weltweiten Bewegung gegen den<br />

Krieg, wurde der Krieg gegen den Irak<br />

geführt. Die nächsten Kriege werden vorbereitet.<br />

- Im deutschen Bundestag entscheiden zwei<br />

Drittel der Abgeordneten in allen wichtigen<br />

Fragen gegen den Willen von zwei Dritteln der<br />

Bevölkerung.<br />

- Trotz großer Mobilisierungen in verschiedenen<br />

Ländern Europas zur Verteidigung sozia-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

ler Rechte und der Arbeitsrechte, gegen Privatisierung<br />

öffentlichen Eigentums und der<br />

sozialen Sicherungssysteme, gegen die Deregulierung<br />

der Arbeitsmärkte wurden die meisten<br />

Kämpfe verloren. Im besten Fall konnte<br />

das Tempo der neoliberalen Umstrukturierung<br />

verringert werden. Selbst Erfolge wie die<br />

Ablehnung der EU-Verfassung durch die<br />

Volksabstimmungen in Frankreich und den<br />

Niederlanden oder die Abwehr der EU-<br />

Richtlinie zur Deregulierung der Hafenarbeit<br />

geben nur eine Atempause.<br />

- In Deutschland hat die IGM im Jahr 2003 mit<br />

dem Kampf um die 35-Stunden-Woche in<br />

Ostdeutschland erstmals in 50 <strong>Jahre</strong>n einen<br />

Streik verloren. Das war der Auftakt, zu einem<br />

Angriff auf ganzer Linie, die 35-Stunden-<br />

Woche zurückzurollen, die Arbeitszeit total zu<br />

flexibilisieren und die Löhne zu senken. Mit<br />

der Niederlage von ver.di im Kampf gegen die<br />

Ausgliederungspläne der Telekom wurde den<br />

Gewerkschaften eine strategische Niederlage<br />

beigebracht.<br />

- Obwohl <strong>heute</strong> die Arbeitsproduktivität so<br />

stark wie nie zunimmt, wird der dadurch erzeugte<br />

Überschuss an gesellschaftlichem<br />

Reichtum dem Mechanismus der Umverteilung<br />

entzogen. Die globalen Renditevorgaben<br />

durch die Finanzmärkte und die Orientierung<br />

auf den Weltmarkt bewirken, dass das transnationale<br />

Kapital jede Investition in die Gesellschaft<br />

bekämpft, weil sie als inakzeptabler<br />

Entzug von Ressourcen betrachtet wird, die<br />

für den Überlebenskampf auf dem Weltmarkt<br />

benötigt werden.<br />

Auf diese Weise wächst die Kluft zwischen<br />

Arm und Reich und es wird unaufhörlich die<br />

gigantische Masse des auf dem Globus anlagesuchenden<br />

Kapitals gespeist.<br />

Die alte Weisheit des fordistischen Zeitalters,<br />

dass Autos keine Autos kaufen, hat für die<br />

hierzulande dominierenden Konzerne und die<br />

politikbestimmenden Wirtschaftseliten jeden<br />

Wert verloren. Für die Konzerne ist der Produktionsstandort<br />

zum ausschließlichen Kostenfaktor<br />

geworden. Je erfolgreicher man<br />

diese zu minimieren versteht, desto höher die<br />

Chance, auf anderen Märkten andere Kon-<br />

THEMA 53<br />

kurrenten niederzuzwingen, um so selbst dort<br />

zu wachsen, wo die Nachfrage stagniert.<br />

So ist die wachsende und sich verfestigende<br />

Armut und die Vermarktlichung / Flexibilisierung<br />

der Arbeitskraft ein struktureller und<br />

funktioneller Bestandteil dieses auf den<br />

Weltmarkt gerichteten Modells.<br />

Diese Entwicklungen führen zu der<br />

Schlussfolgerung, dass die Logik bzw. Regulationsweise<br />

des heutigen, globalen Kapitalismus<br />

inkompatibel ist mit sozialen und demokratischen<br />

Zugeständnissen und Reformen.<br />

Vom Sozialstaatskompromiss …<br />

Natürlich mussten soziale Rechte, kürzere<br />

Arbeitszeiten, höhere Löhne, etc. immer – zum<br />

Teil über durchaus auch harte Verteilungskonflikte<br />

– gegen die Unternehmer erkämpft werden.<br />

Aber wenn sie erkämpft waren, dann<br />

konnten sie in das Regulierungsmodell bzw. in<br />

die Logik des Nachkriegskapitalismus eingebaut<br />

werden. Und sie waren damit in den folgenden<br />

Auseinandersetzungen der Ausgangspunkt<br />

für weitere Verbesserungen. Denn diese<br />

Verbesserungen und Reformen waren Bestandteil<br />

des Regulationsmodells des Kapitalismus<br />

der Nachkriegszeit. Die sozialstaatliche<br />

Regulierung hatte nämlich nicht nur<br />

einen sozialpolitischen Aspekt (Absicherung<br />

in Notfällen), sondern durchaus auch eine<br />

ökonomische Funktion: die Erhöhung der<br />

Reallöhne im Maße des Produktivitätsfortschritts<br />

und die Sicherung der Masseneinkommen<br />

auch in konjunkturellen Schwächeperioden,<br />

bei Krankheit und im Alter förderte<br />

und stabilisierte die Nachfrage und damit die<br />

stark vom Binnenmarkt abhängige Kapitalverwertung.<br />

Basierend auf dynamischem Wirtschaftswachstum,<br />

stärkerer Binnenmarktorientierung,<br />

einem staatlichen Sektor und staatlicher<br />

sozialer Regulierung bestand ein Zusammenhang<br />

zwischen Produktivitätsfortschritt und<br />

sozialem Fortschritt. Dieser Zusammenhang<br />

entstand nicht im Selbstlauf, sondern wurde<br />

durchgesetzt und vermittelt durch den gewerkschaftlichen<br />

Kampf und nicht zuletzt durch die


54<br />

Leo Mayer: Wo geht’s denn hier zu den Veränderungen?<br />

Systemkonkurrenz mit den sozialistischen<br />

Ländern.<br />

Die Gewerkschaftsbewegung konnte bedeutende<br />

soziale Errungenschaften und Zugeständnisse<br />

von Seiten des Kapitals erkämpfen;<br />

immer mit einem Kampf und einer politischen<br />

Orientierung innerhalb des kapitalistischen<br />

Systems. Ein ganzes Geflecht von Tarifvertragssystem,<br />

Sozialsystemen, Sozialgesetzgebung,<br />

Betriebsverfassungsgesetz, etc. wurde<br />

zur institutionellen Absicherung dieses Klassenkompromisses<br />

und zur Entschärfung von<br />

Klassenkonflikten entwickelt.<br />

Der Klassenkompromiss basierte auf einer<br />

Logik, bei der es im Kern um die Förderung<br />

des Industriestandortes Deutschland (der inländischen<br />

Möglichkeiten der Profitproduktion)<br />

ging und Auslandsinvestitionen für die<br />

Gewinnung neuer Märkte und Absatzchancen<br />

getätigt wurden. Der darauf aufbauende Export<br />

förderte unter dem Strich die Schaffung<br />

von industriellen Arbeitsplätzen. Dies stärkte<br />

den Einfluss der Gewerkschaften.<br />

Die Zollschranken waren höher als <strong>heute</strong>,<br />

damit waren den Exporten Grenzen gesetzt.<br />

Der Kapitalverkehr war stärker reglementiert,<br />

daher war die Fähigkeit eines Staates, die Auslandsinvestition<br />

mit wirtschaftspolitisch sinnvollen<br />

Auflagen hinsichtlich Beschäftigung<br />

und Wachstum zu verknüpfen, deutlich höher<br />

als <strong>heute</strong>. Die Freiheit des Warenverkehrs war<br />

wegen viel höherer Transport- und Kommunikationskosten<br />

real viel begrenzter als sie es<br />

<strong>heute</strong> ist. Damals konnten die Beschäftigten in<br />

den Industrieländern weit weniger mit einer<br />

Verlagerungsoption bedroht werden.<br />

Aber es war eben eine ganz bestimmte<br />

historische Konstellation – geprägt von den<br />

inneren ökonomischen Bedingungen wie auch<br />

den äußeren der Systemkonkurrenz –, auf<br />

deren Basis der sozialstaatliche Klassenkompromiss<br />

möglich war. Beide Aspekte treffen<br />

<strong>heute</strong> nicht mehr zu.<br />

… zur sozialen Konfrontation<br />

Die Zeit der Systemkonkurrenz war nicht nur<br />

eine zeitweilige Unterbrechung des Austra-<br />

gens zwischenimperialistischer Widersprüche<br />

mit militärischen Mitteln. Unter dem Druck<br />

der Systemkonkurrenz und in ihrem Schatten<br />

vollzog sich ein globaler Strukturwandel. Es<br />

bildeten sich Strukturen eines transnationalen<br />

Kapitalismus heraus, dessen Kern die transnationalen<br />

Konzerne und Finanzgruppen bilden.<br />

Mit der Entwicklung des Weltmarktes zum<br />

einheitlichen Feld der kapitalistischen Konkurrenz,<br />

mit der Herausbildung Transnationaler<br />

Konzerne als strukturbestimmendes<br />

Kapitalverhältnis (die Multis bestimmen weltweit<br />

die Bedingungen von Produktion, Handel,<br />

Investitionen, Technologie, Konsumgewohnheiten,<br />

…), mit dem Wirken von globalen<br />

Renditevorgaben und mit dem Primat globaler<br />

Wettbewerbsfähigkeit zerbricht dieser frühere<br />

Zusammenhang zwischen Produktivitätsfortschritt<br />

und sozialem Fortschritt. Mit dem<br />

Wegfall der Systemkonkurrenz entfällt auch<br />

die politische Notwendigkeit für Zugeständnisse.<br />

Die Logik bzw. Regulationsweise des heutigen,<br />

globalen Kapitalismus ist inkompatibel<br />

mit sozialen und demokratischen Zugeständnissen<br />

und Reformen. Jeder Cent, jede Minute<br />

Arbeitszeitverkürzung muss nicht nur gegen<br />

die Unternehmer, sondern auch gegen die<br />

„Logik“ des globalen Kapitalismus durchgesetzt<br />

werden. Soziale Kompromisse widersprechen<br />

einer Logik, die auf Profitmaximierung<br />

durch globale Kostensenkung zielt und dabei<br />

auch die Zerstörung des industriellen Standortes<br />

Deutschland tendenziell in Kauf nimmt.<br />

Das heißt nicht, dass dem Kapital keine<br />

Zugeständnisse mehr abgerungen und in dem<br />

einen oder anderen Fall nicht soziale Zugeständnisse<br />

erkämpft werden könnten. Das ist<br />

tatsächlich eine Frage des Kräfteverhältnisses.<br />

Aber diese Zugeständnisse sind dem Modell<br />

des heutigen Kapitalismus wesensfremd. Sie<br />

werden nicht mehr integriert in die Regulationsweise<br />

des globalen Kapitalismus. Sie<br />

sind ein Fremdkörper, der so schnell als möglich<br />

wieder abgestoßen wird. Deshalb sind<br />

erkämpfte Zugeständnisse und Errungenschaften<br />

nicht mehr Ausgangsbasis für weitere<br />

Kämpfe, sondern sofort ständigen Angriffen


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

des Kapitals ausgesetzt; das Rollback ist das Bestimmende<br />

für den neoliberalen Kapitalismus.<br />

Ökonomie und Politik<br />

Nach dem Grundsatz, dass eine bestimmte<br />

Ökonomie eine bestimmte Politik bedingt –<br />

und das eine jeweils die Existenzbedingung<br />

des anderen ist –, bedingen globaler Kapitalismus<br />

und Neoliberalismus einander. Wobei die<br />

politische Herrschaft auf ökonomischer Herrschaft<br />

beruht und dieser entspringt. Beim<br />

Neoliberalismus handelt es sich eben nicht um<br />

eine von den Herrschenden bevorzugte<br />

Politik, die man je nach politischer Konjunktur<br />

wählen oder abwählen kann, sondern um eine<br />

innere Notwendigkeit des globalen Kapitalismus<br />

in der heutigen Zeit. Es kann auch keine<br />

stabile „Koexistenz“ zwischen der neoliberalen<br />

Logik der globalen Wettbewerbsfähigkeit<br />

einerseits und sozialstaatlichen Maßstäben in<br />

der Politik andererseits geben. Der Widerspruch<br />

zwischen beiden Ebenen wird zugunsten<br />

der Herrschaftsstruktur der Ökonomie<br />

gelöst. Wenn es nicht gelingt, eben dort – also<br />

in den Eigentumsverhältnissen – zu substanziellen<br />

Reformen zu kommen, dann, so ist zu<br />

schlussfolgern, wird die Logik der Ökonomie<br />

die Entsprechung in Politik und Gesellschaft<br />

erzwingen. Staatliche Politik hat unter diesen<br />

Bedingungen die Aufgabe, den Standort für<br />

den internationalen Vorteilsvergleich des<br />

transnationalen Kapitals attraktiv zu machen –<br />

durch Flexibilisierung und Senkung der Kosten<br />

der Arbeitskraft, Schwächung der Gewerkschaften,<br />

Reduzierung der steuerlichen Belastung<br />

und ökologischer Auflagen etc.<br />

Selbstverständlich sind Varianten möglich;<br />

zwar nicht beliebig, aber in historisch bestimmten<br />

Bandbreiten; abhängig vom Klassenkampf,<br />

aber auch von der Orientierung der<br />

herrschenden Klasse im Blickwinkel internationaler<br />

Konkurrenz und Rivalität. Wenn<br />

allerdings keynesianische Reformer die darauf<br />

beruhende „relative Selbstständigkeit“<br />

von Staat und Gesellschaft gegenüber der<br />

ökonomischen Struktur und auf dieser Basis<br />

die Kombination von kapitalistischer Wirt-<br />

THEMA 55<br />

schaft und sozial gestalteter Gesellschaft behaupten,<br />

rücken sie das eigentliche Kernproblem<br />

jeder sozialistischen Strategie aus<br />

dem Blickfeld: dass alternative Reformen nur<br />

im Kampf gegen das transnationale Kapital<br />

durchgesetzt werden können und Eingriffe in<br />

die ökonomische Struktur, in die Eigentumsverhältnisse<br />

einschließen müssen.<br />

Zu berücksichtigen ist zudem, dass es sich<br />

beim neoliberalen gesellschaftlichen Block<br />

von Beginn an um einen transnationalen<br />

Block handelt, der die transnationalen Strukturen<br />

und Institutionen gezielt zur Umwälzung<br />

der nationalen politischen, wirtschaftlichen<br />

und gesellschaftlichen Strukturen einsetzt.<br />

Mit dem Aufbau und der Ausdehnung<br />

supranationaler Regulierungsinstitutionen<br />

(staatlicher wie IWF, WB, WTO, G7, NATO,<br />

EU, .. sowie transnationaler Nichtregierungsorganisationen<br />

wie European Round Table of<br />

Industrialists ERT, Transatlantic Business<br />

Dialogue, Internationale Handelskammer etc.<br />

und v. a. durch die Macht der Multis und der<br />

Finanzmärkte), wird die neoliberale Strukturpolitik<br />

gegenüber den Staaten durchgesetzt<br />

und die neoliberale Hegemonie auf einer<br />

transnationalen Ebene gesichert; auch gegenüber<br />

Staaten, die mit dem Neoliberalismus<br />

brechen wollen.<br />

Des Weiteren gibt es – und das hängt damit<br />

zusammen – für eine reformorientierte Politik<br />

oder einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ – im<br />

Unterschied z. B. zum New Deal oder zur Situation<br />

nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges<br />

– keine Unterstützung durch relevante<br />

Kapitalinteressen, die mehr zu Binnenmarkt,<br />

Staatsinterventionismus und sozialer Regulierung<br />

tendieren würden. Es existiert eine<br />

weltweite Hegemonie des transnationalen<br />

Finanzkapitals, das keinen Schritt hinter die<br />

durchgesetzte Liberalisierung und Globalisierung<br />

der Finanzmärkte und der Weltwirtschaft<br />

zurück will; das darauf drängt, alle<br />

Hemmnisse und Barrieren für die weltweite<br />

freie Zirkulation des Kapitals zu beseitigen.<br />

Und das bereit ist, für die Erreichung dieser<br />

Ziele skrupellos alle Mittel einzusetzen – von<br />

wachsendem Zwang und Repression im


56<br />

Leo Mayer: Wo geht’s denn hier zu den Veränderungen?<br />

Inneren bis zum permanenten Krieg und<br />

einem neuen Kolonialismus nach außen.<br />

Das Dilemma alternativer Reformpolitik<br />

zeigt sich beispielhaft an der Position von<br />

Michael Brie, einem Theoretiker der PDS und<br />

der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Einerseits<br />

schätzt er ein, dass es keine „anhaltende<br />

Balance“ zwischen Kapitalverwertungsinteressen<br />

und den Interessen der Gesellschaft<br />

geben kann. Ihm ist auch klar, dass im Neoliberalismus<br />

„anders als im fordistischen wohlfahrtsstaatlichen<br />

Kapitalismus eine sozialdemokratische<br />

Strategie auf stärkste systemimmanente<br />

Grenzen (stößt)“ (Michael Brie, Die<br />

Linke – was kann sie wollen?, Supplement der<br />

Zeitschrift Sozialismus 3/2006, S. 39). Dennoch<br />

ist er der Meinung, dass „der Spielraum für<br />

Versuche einer solchen Balance noch nicht<br />

erschöpft (ist)“. Diesen Spielraum will er mit<br />

Hilfe einer sozialdemokratischen Reformpolitik<br />

ausnutzen, der auch nach seiner Definition<br />

nicht an einer Überwindung der herrschenden<br />

Eigentums- und Machtverhältnisse gelegen ist.<br />

Aber er geht davon aus, dass man die neoliberale<br />

ökonomische Struktur der Wirtschaft mit<br />

Hilfe einer sozialdemokratischen Regulation<br />

bremsen und zähmen, es also eine längerfristige<br />

Koexistenz von neoliberaler Wirtschaft und<br />

sozialerer Gesellschaft geben könne. Die<br />

Linke könne dann, nach dieser These, in dieser<br />

Phase die Kräfte zur Überwindung des Neoliberalismus<br />

sammeln.<br />

Aber es kann nicht von Balance die Rede<br />

sein, sondern von Konflikt in einem „Nullsummenspiel“.<br />

Was das neoliberale Kapital gewinnt,<br />

verlieren die ihm <strong>heute</strong> ausgelieferten<br />

Menschen. Und umgekehrt. Angesichts der<br />

Tiefe der Widersprüche, der durch die neoliberale<br />

Globalisierung hervorgerufenen Zerstörungen<br />

und der Interessen der den neoliberalen<br />

Block dominierenden Kräfte ist ein „sozial<br />

abgefederter Neoliberalismus“ keine Alternative.<br />

Der neoliberale Block – und dazu gehört<br />

auch die Sozialdemokratie – drängt auf<br />

eine Radikalisierung des neoliberalen Umbaus,<br />

der zwangsläufig mit dem Übergang zu Zwang<br />

und autoritären Mitteln und Strukturen verbunden<br />

ist.<br />

Die systemimmanenten Spielräume für<br />

demokratische und soziale Reformen sind<br />

weitgehend erschöpft. Der Philosoph Ralf<br />

Dahrendorf beschreibt die Situation folgendermaßen:<br />

„Es gibt Zeiten, in denen soziale<br />

Konflikte und ihre wissenschaftliche Erörterung<br />

einen fundamentalen oder konstitutionellen<br />

Charakter annehmen. Das war im 18.<br />

Jahrhundert der Fall … es gilt am Ende des 20.<br />

Jahrhunderts wieder. In solchen Zeiten stehen<br />

die Spielregeln von Herrschaft und Gesellschaft<br />

selbst zur Diskussion.“ (nach PDS Pressedienst,<br />

Nr. 20/2005, S. 12)<br />

Reform und Systemfrage<br />

Bedeutet dies nun aber, dass wir den Kampf<br />

um Reformen – für Vollbeschäftigung, soziale<br />

Sicherung, Mitbestimmung … – aufgeben, weil<br />

diese ohnehin nicht durchzusetzen seien?<br />

Ganz im Gegenteil!<br />

Trotz jahrzehntelanger neoliberaler Propaganda<br />

und neoliberaler Umwälzung hat der<br />

Sozialstaat bei der Mehrheit der Menschen<br />

immer noch einen sehr hohen Stellenwert. Mit<br />

dem Kampf um Reformen kann an diesem<br />

Massenbewusstsein und an den von der Sozialdemokratie<br />

geprägten Vorstellungen angeknüpft<br />

werden. Es geht dann aber darum, nach<br />

Wegen zu suchen, wie dieses reformistische<br />

Bewusstsein in antikapitalistisches Bewusstsein<br />

transformiert werden kann.<br />

Zum anderen nehmen soziale Konflikte<br />

und der Kampf um Reformen im heutigen<br />

Kapitalismus einen so fundamentalen Charakter<br />

an, dass soziale und demokratische Reformen<br />

enger mit der Notwendigkeit grundlegender<br />

struktureller, antimonopolistischer Umgestaltungen<br />

und einer tiefgreifenden Demokratisierung<br />

von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft<br />

verbunden sind. Das heißt aber auch,<br />

dass in alle Forderungen und Kämpfe um<br />

Reformen der Grundgedanke des „Systembruchs“,<br />

die Notwendigkeit einer sozialistischen<br />

Umwälzung der bestehenden Eigentums-<br />

und Machtverhältnisse zu tragen ist. Der<br />

spezifische Beitrag der Marxisten ist, die<br />

Kämpfe um Reformen auf einen revolutionä-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

ren Prozess zur Überwindung des Kapitalismus<br />

auszurichten: Kampf nicht gegen die<br />

Folgen, sondern gegen die Wurzeln der kapitalistischen<br />

Gesellschaftsordnung.<br />

Die Aufgabe der DKP und der anderen<br />

marxistischen Kräfte liegt denn auch weniger<br />

darin, „radikalere und weitergehende Forderungen“<br />

als die anderen Teile der gesellschaftlichen<br />

und politischen Linken zu stellen, sondern<br />

in der Erarbeitung politischer Strategien<br />

zur Durchsetzung des Reformprogramms und<br />

der Förderung der notwendigen Kämpfe. Dabei<br />

steht der außerparlamentarische Kampf<br />

und die Stärkung der Organisiertheit der<br />

Arbeiterbewegung und der sozialen Bewegungen<br />

im Zentrum. In diesen Auseinandersetzungen<br />

muss die marxistische Linke zu<br />

der Erkenntnis beitragen, dass ein Politikwechsel<br />

ohne Eingriffe in die monopolistischen<br />

Eigentums- und Verfügungsrechte nicht<br />

zu haben ist, und dass der Kapitalismus überwunden<br />

werden muss, weil er keines der<br />

Probleme der arbeitenden Menschen lösen<br />

kann und zum Hemmnis der Entwicklung der<br />

Menschheit geworden ist.<br />

Wer Reformen dieser Art durchsetzen will,<br />

muss sich darüber im Klaren sein, dass damit<br />

erstens die Bundesrepublik aus dem Verbund<br />

des globalen Kapitalismus herausgelöst würde<br />

und dass zweitens dieses Herauslösen nicht<br />

stattfinden kann, ohne dass bestehende internationale<br />

Regularien und Abhängigkeiten<br />

geändert werden. Eine sozialistische Reformpolitik<br />

steht also vor der Aufgabe, im internationalen<br />

Bereich auf Kontrollen zu dringen,<br />

die den Durchgriff des transnationalen Kapitals<br />

auf die nationale Wirtschaft eindämmen<br />

und gleichzeitig die Ausstiegsoption – Kapitalflucht,<br />

Standort- und Arbeitsplatzverlagerung,<br />

Währungsspekulation etc. – verlegen.<br />

Dies dürfte gerade in einem Land wie der<br />

Bundesrepublik Deutschland eine riesige<br />

Herausforderung werden. Unter den großen<br />

Industrieländern weist die deutsche Wirtschaft<br />

den größten „Offenheitsgrad“ auf. Export<br />

und Import von Waren und Dienstleistungen<br />

betragen 75 Prozent des gesamten<br />

Bruttoinlandsprodukt. Die Verflechtung mit<br />

THEMA 57<br />

dem globalen Finanzmarkt geht noch darüber<br />

hinaus. Im Jahr 2004 beliefen sich die Wertpapiertransaktionen<br />

Deutschlands mit dem<br />

Ausland auf über 12 000 Mrd. Euro, das Sechsfache<br />

des BIP. (siehe isw-Report Nr. 66, S. 49).<br />

Aber es ist nicht nur die Internationalisierung<br />

von Handel und Finanzen. Gerade die<br />

Meldungen der letzten Wochen machen<br />

schlaglichtartig deutlich, wie die Konzerne die<br />

Transnationalisierung der Produktion, d. h.<br />

den Ausbau globaler Entwicklungs- und Produktionsnetzwerke<br />

vorantreiben.<br />

Hand in Hand damit geht die Internationalisierung<br />

der Eigentumsverhältnisse. „Adieu<br />

Deutschland, der DAX haut ab“, überschrieb<br />

die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung<br />

(18.1.2006) ihre Untersuchung über die großen,<br />

im Deutschen Aktienindex notierten Unternehmen.<br />

Bei 20 Unternehmen liegen mehr<br />

als 40 Prozent des Aktienkapitals in ausländischer<br />

Hand; mit zwei Ausnahmen liegt der<br />

Auslandsumsatz über 50 Prozent, bei mehr als<br />

der Hälfte sogar über 70 Prozent; bei nahezu<br />

allen ist mehr als die Hälfte der Belegschaft<br />

im Ausland beschäftigt.<br />

Damit ist auch zweierlei klar.Weil diese Reformen<br />

in einem Land alleine kaum realisierbar<br />

sind, wird mit einem Reformprogramm<br />

dieser Art auch die Veränderung Europas auf<br />

die Tagesordnung gesetzt. Der Kampf gegen<br />

die EU-Richtlinie zur Hafenarbeit, der Widerstand<br />

gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie,<br />

der Widerstand gegen die EU-Verfassung,<br />

die Sozialforumsbewegung, die Formierung<br />

der Partei der Europäischen Linken, das<br />

sind Ansätze zur Herausbildung eines grenzüberschreitenden<br />

Handelns.<br />

Auf jeden Fall wird eine überzeugende, faszinierende<br />

Vision für einen Richtungswechsel<br />

– für eine „andere Welt“ – nicht am Grünen<br />

Tisch entstehen, sondern sie wird aus den<br />

durch den Neoliberalismus hervorgerufenen<br />

gesellschaftlichen Widersprüchen, aus der<br />

breiten Diskussion der linken Kräfte und aus<br />

den sozialen Kämpfen heraus entstehen. Die<br />

Linke und der anti-neoliberale Reformblock<br />

können hegemonial werden, wenn sie die<br />

Interessen und Hoffnungen der arbeitenden


58<br />

Hans-Peter Brenner: Marxismus • Revolutionäre Situationen • Gegenwart<br />

Menschen, der Jugend, der Arbeitslosen, Rentner<br />

und sozial Ausgegrenzten aufgreifen und<br />

deren privaten und beruflichen Leben mit<br />

einem alternativen gesellschaftlichen und politischen<br />

Projekt wieder eine Perspektive geben<br />

können.<br />

Allerdings sollten wir beachten, dass es<br />

nicht die sozialen Verwerfungen und Widersprüche<br />

selbst sind, die zu Protest, Widerstand<br />

und Kampf um Alternativen führen. Ob die<br />

Widersprüchen zu Resignation und Anpassung<br />

oder zu Protest, Widerstand und Kampf<br />

um Alternativen führen, das hängt von der<br />

Interpretation der Widersprüche ab. Und hier<br />

liegt eine der besonderen Herausforderungen<br />

für die DKP und die marxistische Linke insgesamt.<br />

Literatur:<br />

Wie den Neoliberalismus überwinden, isw Report Nr. 65, isw<br />

München, September 2006<br />

Alternativen zum Neoliberalismus, isw Report Nr. 66, isw<br />

München, Juni 2006<br />

Der Marxismus über<br />

revolutionäre Situationen<br />

und die Gegenwart<br />

Hans-Peter Brenner<br />

Das Thema „Sozialismus“ macht wieder<br />

Schlagzeilen und der Begriff „Sozialismus im<br />

21. Jahrhundert“ ist – zumindest unter Linken<br />

- schon fast ein geflügeltes Wort geworden.<br />

Aber erklärte nicht ausgerechnet einer der<br />

wichtigsten Protagonisten des „Sozialismus im<br />

21. Jahrhundert“, Heinz Dieterich, dass dieses<br />

große „Historische Projekt“ etwas ganz Neues<br />

sei, was mit den bisherigen Erfahrungen des<br />

Marxismus-Leninismus und des „historischen<br />

Proletariats“, kaum noch etwas zu tun habe? 1<br />

Müssen wir uns also auf Reformmodelle beschränken,<br />

wie es die Theoretiker des „demokratischen<br />

Sozialismus“ schon immer geschrieben<br />

haben und wie es andere Vertreter<br />

eines „neuen unorthodoxen Sozialismus“<br />

<strong>heute</strong> betonen? Ist der revolutionäre Weg der<br />

<strong>Oktoberrevolution</strong> ein ein für alle Mal abgeschlossenes<br />

Ereignis, aus dem wir für <strong>heute</strong> gar<br />

nichts und kaum noch etwas nutzen können?<br />

Zunächst muss man jedoch ein erstes Missverständnis<br />

aus dem Wege räumen. Für revolutionäre<br />

Marxisten stand die Orientierung auf<br />

den revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus<br />

keineswegs im Gegensatz zum Kampf um<br />

Reformen und konkrete Verbesserungen in<br />

den alltäglichen Lebensbedingungen der<br />

arbeitenden Menschen. Dies gilt auch für die<br />

Gegenwart, wo unter den Bedingungen der<br />

sozialreaktionären Offensive des deutschen<br />

und internationalen Kapitals der Kampf um<br />

die Verteidigung früherer Reformerfolge derzeit<br />

im Mittelpunkt steht. Zudem muss man<br />

auch <strong>heute</strong> unterscheiden zwischen systemstabilisierenden<br />

Reformen und solchen Maßnahmen,<br />

die die negativen Folgen des kapitalistischen<br />

Systems einschränken und dabei auch<br />

Kräfteverhältnisse zugunsten weitergehender<br />

antikapitalistischer Ziele verändern.<br />

Der marxistische Begriff der „Revolution“<br />

besitzt insgesamt mehr als nur eine politische<br />

Dimension; er beinhaltet generell den strukturellen<br />

ökonomischen, sozialen, kulturellen und<br />

politischen Bruch mit der alten Gesellschaftsordnung<br />

und Produktionsweise, der „in letzter<br />

Instanz“ durch die dynamische Entwicklung<br />

der gesellschaftlichen Produktivkräfte und<br />

deren Kollision mit den alten Besitz- und<br />

Eigentumsverhältnissen herbeigeführt wird.<br />

„Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution<br />

ein.“ 2 Letzten Endes geht es jedoch in allen<br />

wirklichen Revolutionen um die Erkämpfung<br />

der politischen Macht. „Der Übergang der<br />

Staatsmacht aus den Händen einer Klasse in<br />

die einer anderen ist das erste, wichtigste,<br />

grundlegende Merkmal einer Revolution, sowohl<br />

in der streng wissenschaftlichen als auch


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

in der praktisch-politischen Bedeutung dieses<br />

Begriffs.“ 3<br />

Dies führt zu der Frage, wie ein solcher<br />

Wechsel in den Machtverhältnissen herbeigeführt<br />

werden kann. Die Eroberung und<br />

Sicherung der Staatsmacht im Zuge einer<br />

Volksrevolution ist kein Willkürakt einer kleinen<br />

Gruppe. Sie muss die Unterstrützung breiter<br />

Massen finden. Ihr Erfolg hängt von objektiven<br />

und subjektiven Voraussetzungen ab. Sie<br />

vollzieht sich als komplizierter Prozess, in dem<br />

es Etappen, jähe Wendungen und Rückschläge<br />

geben kann. Das klassische Beispiel einer<br />

erfolgreichen Revolution im 20. Jahrhundert<br />

ist die russische <strong>Oktoberrevolution</strong> unter<br />

Führung der Bolschewiki. Lehrreich ist aber<br />

auch die antifaschistische Aprilrevolution von<br />

1974 in Portugal und die Politik der Portugiesischen<br />

Kommunistischen Partei (PCP)<br />

vor und während der Revolution.<br />

Das Beispiel der portugiesischen<br />

„April-Revolution“<br />

Der PCP gelang es als einziger KP nach 1945<br />

in Europa, unabhängig vom hilfreichen Einfluss<br />

sowjetischer Truppen, eine erfolgreiche<br />

soziale, politische und militärische Erhebung<br />

und Volksrevolution gegen ein faschistisches<br />

Regime durchzuführen und (vorübergehend)<br />

eine Option für weitergehende sozialistische<br />

Veränderungen zu erkämpfen. Dies war das<br />

Resultat einer sehr klugen und langfristig<br />

angelegten Strategie des revolutionären<br />

Bruchs mit dem faschistischen Salazar-Regime,<br />

in der die portugiesischen Kommunisten<br />

systematisch die Leninsche <strong>Revolutionstheorie</strong><br />

ausschöpften und auf ihre nationalen<br />

Besonderheiten anwandten.<br />

Alvaro Cunhal, langjähriger Generalsekretär<br />

der PCP, schrieb bereits 1964 zu dieser<br />

Problematik folgendes: „(Der Sturz der Diktatur)<br />

entwickelt sich nicht gradlinig. Die<br />

Straße der Revolution ist kurvenreich und unregelmäßig.<br />

Es gibt Richtungen, die versucht<br />

werden und die man aufgeben muss. An dieser<br />

oder jener Stelle konzentriert der Gegner<br />

Kräfte und verhindert, dass man weiter-<br />

THEMA 59<br />

kommt. Man kommt auf einem Gebiet voran,<br />

weicht auf einem anderen zurück. Es gibt hier<br />

und da Pausen. Es gibt Bereiche, die Abstand<br />

zu anderen haben. Es gibt Siege und es gibt<br />

Niederlagen. Es gibt Verluste an Kadern und<br />

führenden Organisationen, die zeitweilig die<br />

Führung des Kampfes beeinträchtigen. Aber<br />

bei all diesen Unregelmäßigkeiten entwickelt<br />

sich insgesamt der revolutionäre Prozess, werden<br />

die verschiedenen Klassen nach und nach<br />

für die Aktion gewonnen, wird von elementaren<br />

Formen zu höheren Formen übergegangen,<br />

wird vom wirtschaftlichen zum politischen<br />

Kampf, von Forderungen und Petitionen zu<br />

Streiks, Demonstrationen und zu Zusammenstößen<br />

mit den Kräften der Repression übergegangen.<br />

Manche lehnen diesen allgemeinen Fortschritt<br />

der Bewegung der Volksmassen ab, weil<br />

er nicht an jedem Kampfabschnitt gleich kontinuierlich<br />

und ununterbrochen verläuft. Sie<br />

verlieren den Mut.“ 4<br />

Cunhal betonte also stark die Dialektik von<br />

Kontinuität und Diskontinuität innerhalb<br />

eines revolutionären Prozesses, der in seiner<br />

Konsequenz aber schließlich doch, im Wechsel<br />

von elementaren zu höheren und schärferen<br />

Kampfformen, zum Bruch mit dem bislang<br />

dominierenden politischen System führt.<br />

Cunhal schlussfolgerte aus der langen Periode<br />

vorangegangener Klassenauseinandersetzungen:<br />

Es sei ganz allgemein die „Aufgabe<br />

der Partei (sowie der demokratischen Kräfte<br />

im allgemeinen), nicht nur den Volkskampf zu<br />

stimulieren, der allein schon die Krise des<br />

Regimes verschärft, sondern sich auch darauf<br />

vorzubereiten, das Volk in der nahenden revolutionären<br />

Situation in den entscheidenden<br />

Endkampf zu führen. Wir müssen uns vergewärtigen,<br />

dass das Nahen der revolutionären<br />

Krise durch eventuelle plötzliche Ereignisse<br />

stimuliert werden kann, die den Unwillen des<br />

Volkes steigern und in den Regierungskreisen<br />

Verwirrung stiften.“ 5<br />

Es geht also darum, ein Gespür für das<br />

Entstehen einer umfassenden politischen<br />

Erschütterung zu entwickeln und den Zeitpunkt<br />

zu erfassen bzw. auch aktiv daran mitzu-


60<br />

Hans-Peter Brenner: Marxismus • Revolutionäre Situationen • Gegenwart<br />

wirken, an dem die Zuspitzung der Klassenauseinandersetzungen<br />

den Grad einer revolutionären<br />

Krise erreicht. Cunhal verwies in diesem<br />

Zusammenhang (zeitbedingt) auf die<br />

mögliche Rolle militärischer Niederlagen im<br />

portugiesischen Kolonialkrieg, die als „Beschleuniger<br />

des revolutionären Prozesses wirken“<br />

könnten. Dass genau dies zehn <strong>Jahre</strong> später<br />

der Fall war, macht deutlich, wie wenig spekulativ<br />

diese Hoffnung war. Der von den revolutionären<br />

Offizieren und Soldaten der<br />

„MFA“ in Verbindung mit der Volkserhebung<br />

in Lissabon durchgeführte Aufstand am<br />

24.4.1974 war ganz offenkundig sehr langfristig<br />

vorbereitet.<br />

Damit bestätigt der Verlauf der portugiesischen<br />

„April-Revolution“, dass bereits „kleinere<br />

Vorkommnisse“ als Funke des revolutionären<br />

Umbruchs und als Auslöser einer revolutionären<br />

Krise wirken können. Darauf hatte<br />

Lenin in einem Beitrag zur Verarbeitung der<br />

Erfahrungen der russischen Revolution von<br />

1<strong>90</strong>5 aufmerksam gemacht: „Die Erfahrungen<br />

der russischen Revolution wie auch die Erfahrungen<br />

anderer Länder erweisen unwiderleglich:<br />

Wenn die objektiven Voraussetzungen<br />

für eine tiefe politische Krise gegeben sind,<br />

dann können auch die kleinsten, vom wirklichen<br />

Herd der Revolution scheinbar weit<br />

weg liegenden Konflikte größte Bedeutung<br />

haben – als Anlass, als der Tropfen, der den<br />

Becher zum Überlaufen bringt, als Beginn<br />

eines Umschwungs in der Stimmung usw.“ 6<br />

Diese kleinen Vorkommnisse waren und<br />

sind auch <strong>heute</strong> gar nicht oder auch nur sehr<br />

schwer planbar oder vorhersehbar. Daher<br />

sagte Cunhal, dass eine revolutionäre Situation<br />

eine „objektive Situation (ist), die sich<br />

keinem vom Leben und der Erfahrung getrennten<br />

‚theoretischen’ Schema anpasst. Die<br />

subjektiven Bedingungen der Revolution sind<br />

eine andere Realität, die man von keinem<br />

Erfinder erbetteln kann.“ Das bedeute jedoch<br />

keinesfalls, dass man passiv auf einen „glücklichen<br />

Zufall“ warten müsse. Im Gegenteil.<br />

Aufgabe der marxistisch-leninistischen Kräfte<br />

ist es aktiv an der Entstehung solcher Auseinandersetzungen<br />

mitzuwirken, die zur Erosion<br />

der Macht und zur Vertiefung der Klassenauseinandersetzungen<br />

führen. Insbesondere<br />

erfolgt dies erfahrungsgemäß dadurch, dass sie<br />

aktiv daran mitwirken, Arbeiterkämpfe und<br />

Massenbewegungen in den Ballungszentren<br />

des Landes zu entwickeln und diese über die<br />

ökonomischen und sozialen Ziele hinaus auf<br />

die politische Ebene zu führen. „ ... Indem wir<br />

unsere Orientierung auf der Grundlage von<br />

Fakten definieren, arbeiten wir daran, die<br />

Entstehung einer revolutionären Situation zu<br />

beschleunigen und die politischen und organisatorischen<br />

Bedingungen so zu gestalten, dass<br />

wir auf der Höhe der Erfordernisse dieser Situation<br />

sind.“ 7<br />

Im April 1974 waren die portugiesischen<br />

Kommunisten „auf der Höhe“. Das „Subjektive“<br />

wurde zum „Objektiven“. Der militärische<br />

Faktor in Verbindung mit einem mutigen<br />

Ausbruch von Massenkundgebungen machte<br />

dem Faschismus auf revolutionäre Weise den<br />

Garaus.<br />

„Nicht mehr können“ und „Nicht<br />

mehr wollen“: das „Grundgesetz“<br />

der Revolution<br />

Um dieses Zusammenfallen von objektiven<br />

Bedingungen, subjektiver Handlungsbereitschaft<br />

und Änderungsmotivation ging es auch<br />

in den Gedanken und Erfahrungen, die Lenin<br />

nach dem Sieg der <strong>Oktoberrevolution</strong> im<br />

„Grundgesetz der Revolution“ zusammenfasste:<br />

„Erst dann, wenn die ‚Unterschichten’ das<br />

Alte nicht mehr wollen und die ‚Oberschichten’<br />

in der alten Weise nicht mehr können, erst<br />

dann kann die Revolution siegen. Mit anderen<br />

Worten kann man diese Wahrheit so ausdrükken:<br />

Die Revolution ist unmöglich ohne eine<br />

gesamtnationale (Ausgebeutete wie Ausbeuter<br />

erfassende) Krise.“ 8 Eine „gesamtnationale<br />

Krise“ führe jedoch nicht automatisch zu einer<br />

Politisierung der Volksmassen und zu einer<br />

Klarheit über Ziele und Methoden des Kampfes.<br />

Alvaro Cunhal erinnerte daran, dass das<br />

„Nicht-mehr-Wollen“ der unterdrückten Klassen<br />

sich oft nur „im spontanen Griff zum<br />

Kampf“ äußert und scheitern muss, „wenn die


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

organisierten politischen Kräfte es nicht verstehen,<br />

die Krise vorauszusehen, es nicht verstehen,<br />

die Gefühle und Stimmungen der<br />

Massen abzulauschen, und wenn sie es nicht<br />

verstehen, die Unzufriedenheit in praktische<br />

Formen des Kampfes zu überführen. Dieses<br />

‚Nicht-mehr-Können’ der herrschenden Klassen,<br />

die durch den Bankrott ihrer eigenen<br />

Politik erschüttert sind, äußert sich in Konflikten,<br />

in Desorientierung und in der eiligen<br />

und widersprüchlichen Suche nach Lösungen<br />

für ihre Schwierigkeiten.“<br />

Ohne die bewusst und entschlossen handelnde<br />

Organisation der marxistischen Revolutionäre,<br />

die eng mit entscheidenden Gruppen<br />

und Multiplikatoren der auf revolutionäres<br />

Handeln drängenden Arbeiter- und<br />

Volksmassen verbunden sind und ohne auch<br />

ein ausreichendes Maß an eigenen gut organisierten<br />

Kräften, die einer Konterrevolution<br />

energisch den Riegel vorschieben können,<br />

besteht die Gefahr, dass ein möglicher revolutionärer<br />

Umschwung mangels ausreichender<br />

Organisiertheit verpufft.<br />

Denn, so sagte Cunhal weiter – die „objektiven<br />

Bedingungen“ seien nicht ausreichend<br />

dafür, dass eine Revolution stattfinden kann.<br />

„Es ist notwendig, dass außer ihnen auch die<br />

‚subjektiven’ Bedingungen für die Revolution<br />

erfüllt sind, dass ein ‚Grad des Klassenbewusstseins<br />

und der Organisiertheit’ besteht,<br />

der den Erfordernissen des Kampfes in der<br />

revolutionären Situation entspricht.“ 9<br />

Dazu gehört ein hohes Maß an Entschlossenheit<br />

der revolutionäre Klasse. Revolutionäre<br />

Entschlossenheit fällt jedoch nicht<br />

vom Himmel. Sie setzt nicht nur eine individuelle<br />

subjektive Bereitschaft für ein kurzfristiges<br />

spontanes Engagement voraus, sondern<br />

erfordert eine innerhalb der revolutionären<br />

Klasse und ihrer Verbündeten stabile und<br />

gewachsene Entschiedenheit, sich auch über<br />

alle Widerstände hinwegzusetzen. In einem<br />

kurzen Artikel Lenins, geschrieben zwei <strong>Jahre</strong><br />

nach der <strong>Oktoberrevolution</strong>, verdeutlichte er,<br />

welches Bündel von revolutionären Tugenden<br />

und Einstellungen für den Erfolg der Revolution<br />

notwendig war: „Ausdauer, Beharr-<br />

THEMA 61<br />

lichkeit, Bereitschaft, Entschlossenheit und die<br />

Fähigkeit, hundertmal zu probieren, hundertmal<br />

zu korrigieren und um jeden Preis das Ziel<br />

zu erreichen – diese Eigenschaften hat das<br />

Proletariat 10, 15, 20 <strong>Jahre</strong> vor der <strong>Oktoberrevolution</strong><br />

entwickelt, es hat sie im Laufe der<br />

zwei <strong>Jahre</strong> nach der Revolution entwickelt,<br />

wobei es ungeheuere Entbehrungen, Hunger,<br />

Zerstörung und Elend ertragen musste. Diese<br />

Eigenschaften des Proletariats sind die Bürgschaft<br />

dafür, dass das Proletariat siegen<br />

wird.“ 10 Doch selbst wenn alle objektiven und<br />

subjektiven Voraussetzungen gegeben sind,<br />

vollzieht sich der entscheidende revolutionäre<br />

Bruch in der Regel nicht mit einem einzigen<br />

Schlag. Dabei konnte sich die revolutionäre<br />

Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts unter<br />

direktem Einfluss von Marx und Engels sowohl<br />

auf die Erfahrungen der großen bürgerlichen<br />

Revolutionen (und Konterrevolutionen) als<br />

auch auf die Erfahrungen der nationalen und<br />

antikolonialen Revolutionen und Kämpfe in<br />

Irland, Polen, Indien, China und auf dem amerikanischen<br />

Kontinent stützen.<br />

Auf dem „Haager Kongress“ der I. Internationale<br />

(1872) erläuterte Marx in einer Grundsatzrede,<br />

anknüpfend an die Erfahrungen der<br />

soeben niedergeschossenen „Pariser Commune“<br />

die Hauptziele und Kampfmethoden der<br />

revolutionären Arbeiterorganisationen so:<br />

„Der Arbeiter muss eines Tages die politische<br />

Gewalt ergreifen, um die neue Organisation<br />

der Arbeit aufzubauen; er muss die alte Politik,<br />

die die alten Institutionen aufrechterhält, stürzen,<br />

wenn er nicht, wie die alten Christen, die<br />

das vernachlässigt und verachtet haben, des<br />

Himmelreichs auf Erden verlustig gehen will.<br />

Aber wir haben nicht behauptet, dass die<br />

Wege, zu diesem Ziel zu gelangen, überall dieselben<br />

sein werden. Wir wissen, dass man die<br />

Institutionen, die Sitten und die Traditionen<br />

der verschiedenen Länder berücksichtigen<br />

muss und ich leugne nicht, dass es Länder gibt,<br />

wie Amerika, England und wenn mir eure<br />

Institutionen besser bekannt wären, würde ich<br />

vielleicht noch Holland hinzufügen, wo die<br />

Arbeiter auf friedlichem Wege zu ihrem Ziel<br />

gelangen können. Wenn das wahr ist, müssen


62<br />

Hans-Peter Brenner: Marxismus • Revolutionäre Situationen • Gegenwart<br />

wir auch anerkennen, dass in den meisten<br />

Ländern des Kontinents der Hebel unserer<br />

Revolutionen die Gewalt sein muss; die<br />

Gewalt ist es, an die man eines Tages appellieren<br />

musss, um die Herrschaft der Arbeit zu<br />

errichten.“ 10<br />

Und wie kommt man dahin? Das „Kommunistische<br />

Manifest“ sagt, „dass der erste<br />

Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung<br />

des Proletariats zur herrschenden Klasse, die<br />

Erkämpfung der Demokratie“ ist. 11 An anderer<br />

Stelle heißt es darin: „Sie (die Kommunisten)<br />

kämpfen für die Erreichung der unmittelbar<br />

vorliegenden Zwecke und Interessen der<br />

Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen<br />

Bewegung zugleich die Zukunft der<br />

Bewegung.“ Und in der sich gerade entwickelnden<br />

bürgerlichen Revolution von 1848 in<br />

Deutschland sahen sie „das unmittelbare Vorspiel<br />

der proletarischen Revolution“. 12<br />

Diese bereits bei Marx erkennbare Suche<br />

nach den geeigneten Formen des „Herankommens<br />

an die Revolution“, des Vorbereitens<br />

und Ausnützens einer revolutionären Situation<br />

unter den jeweiligen nationalen Besonderheiten<br />

und der Suche nach geeigneten „Übergangsformen<br />

zum Sozialismus“ wurde für<br />

Lenin und später für die „3. (Kommunistische)<br />

Internationale“ eine zentrale revolutionstheoretische<br />

Fragestellung. Sie war und ist auch für<br />

die deutsche marxistische Linke bis <strong>heute</strong> von<br />

großer Bedeutung geblieben. 13<br />

Die Bestimmung des „nächsten<br />

Schritts“ in der Revolution<br />

Lenin suchte immer wieder neu nach Möglichkeiten<br />

des „Hinüberwachsens der bürgerlich-demokratischen<br />

in die proletarisch-sozialistische<br />

Revolution“. Er sah dies als einen<br />

kontinuierlichen, einheitlichen revolutionären<br />

Prozess an. Demokratische und sozialistische<br />

Etappe seien nicht durch eine „chinesische<br />

Mauer“ getrennt. Nach der bürgerlichen Revolution<br />

im März 1917 stellte sich für die russische<br />

Linke deshalb erneut die zentrale Frage,<br />

welche Entwicklungsrichtung der revolutionäre<br />

Prozess jetzt einschlagen würde.<br />

Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem<br />

Exil überraschte Lenin in seinen „April-<br />

Thesen“ die Bolschewiki damit, dass er auf die<br />

rasche Fortsetzung der Revolution und auf<br />

den schnellen Übergang zu einer neuen<br />

Etappe orientierte, in der die Voraussetzungen<br />

für die Vorbereitung auf den Aufstand geschaffen<br />

werden sollten. Er erklärte vor der Petrograder<br />

Parteiorganisation der Bolschewiki:<br />

„Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in<br />

Russland besteht im Übergang von der ersten<br />

Etappe der Revolution, die infolge des ungenügend<br />

entwickelten Klassenbewusstseins und<br />

der ungenügenden Organisiertheit des Proletariats<br />

der Bourgeoisie die Macht gab, zur<br />

zweiten Etappe der Revolution, die die Macht<br />

in die Hände des Proletariats und der ärmsten<br />

Schichten der Bauernschaft legen muss.“ Das<br />

nächste Ziel beschrieb er so: „Keine parlamentarische<br />

Republik – von den Sowjets der Arbeiterdeputierten<br />

zu dieser zurückzukehren<br />

wäre ein Schritt rückwärts – sondern eine Republik<br />

der Sowjets der Arbeiter, Landarbeiterund<br />

Bauerndeputierten im ganzen Lande, von<br />

unten bis oben.“<br />

Aber auch das sei noch nicht die „sozialistische<br />

Republik“: „Nicht ‚Einführung’ des Sozialismus<br />

als unsere unmittelbare Aufgabe,<br />

sondern augenblicklich nur Übergang zur<br />

Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion<br />

und die Verteilung der Erzeugnisse durch<br />

den Sowjet der Arbeiterdeputierten.“ 14<br />

Die „revolutionäre Krise“ und<br />

die Frage des richtigen Zeitpunktes<br />

Die Leninsche Revolutionsstrategie bewies<br />

ihre historische Überlegenheit nicht nur durch<br />

ihre Hartnäckigkeit, mit der der Kurs auf die<br />

proletarische Revolution trotz aller zeitweiligen<br />

Rückschläge beibehalten wurde. In den<br />

sehr kritischen Monaten Juni/Juli und im<br />

September 1917 schien für viele Linke die<br />

Lage Anfang Juni 1917 bereits mehr als reif<br />

für eine „Machtergreifung“. Es kam zu großen<br />

Arbeiter- und Soldatendemonstrationen,<br />

die dadurch ausgelöst worden waren, dass die<br />

Provisorische Regierung unter Kerenski mit


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Unterstützung des Ersten Gesamtrussischen<br />

Sowjetkongresses, auf dem die Partei der<br />

Sozialrevolutionäre und die Menschewiki die<br />

Mehrheit innegehabt hatten, zu einer neuen<br />

Mobilmachung und Militäroffensive aufrief.<br />

Dies löste große Unruhe unter der kriegsmüden<br />

Bevölkerung aus. Doch die Bolschewiki<br />

ließen sich selbst angesichts großer bewaffneter<br />

Arbeitermassen zu diesem Zeitpunkt nicht<br />

zu einem „schnellen Zuschlagen“ hinreißen.<br />

Der geeignete Zeitpunkt für einen erfolgreichen<br />

bewaffneten Aufstand war nach genauer<br />

Analyse der Kräfteverhältnisse in den Sowjets<br />

und in der Armee noch nicht gegeben. Nach<br />

Lenins Berechnung hätte er zu diesem<br />

Zeitpunkt scheitern müssen.<br />

Und selbst noch im August/September 1917<br />

hieß das nächste taktische Ziel der Bolschewiki<br />

angesichts des drohenden Militärputsches unter<br />

Führung des zaristischen Generals Kornilow<br />

nicht „sofortige sozialistische Revolution“ und<br />

sogar auch nicht mehr „Sowjetmacht“ wie<br />

noch im April. Zur Abwehr einer „drohenden<br />

Katastrophe“ ging Lenin einen Schritt zurück.<br />

Er rief zu einer gemeinsamen Abwehrfront<br />

gegen die Putschisten auf und orientierte nun<br />

auf die Erkämpfung einer „revolutionär-demokratischen“<br />

Staatsmacht, die die zentralen ökonomischen<br />

und politischen Entscheidungen<br />

und Maßnahmen einleiten sollte, welche die<br />

Kapitalistenklasse schließlich endgültig von der<br />

Macht verdrängen sollten.<br />

Dies hätte auch letztmalig eine Form der<br />

friedlichen Machtergreifung ermöglicht. Von<br />

diesem raschen Wechsel auch von taktischen<br />

Orientierungen bei Beibehaltung des einmal<br />

für richtig erkannten strategischen Zieles profitierten<br />

in den folgenden entscheidenden<br />

Wochen die Bolschewiki enorm. Im Verlauf des<br />

Kampfes gegen den Kornilowputsch begann<br />

die Etappe der massenweisen Bolschewisierung<br />

der Sowjets. Dies wurde neben dem<br />

weiteren Ausbau des Einflusses der Bolschewiki<br />

in der Armee und der zunehmenden<br />

Kriegsmüdigkeit der entscheidende Faktor, der<br />

Lenin schließlich dazu bewog, noch vor dem<br />

Zusammentreffen des Sowjetkongresses die<br />

Partei unmittelbar in den Aufstand zu führen.<br />

Revolution auch in den<br />

Zentren des Imperialismus?<br />

THEMA 63<br />

Der Verweis auf die historischen Revolutionserfahrungen<br />

beantwortet nicht die Frage, wie<br />

<strong>heute</strong> eine revolutionäre Entwicklung in den<br />

Zentren des sich weltweit immer mehr vernetzenden<br />

Imperialismus möglich sein könnte.<br />

Viele Fragen scheinen mir <strong>heute</strong> noch nicht<br />

beantwortbar zu sein.<br />

Es gibt einerseits Faktoren und Widersprüche,<br />

die die Herausbildung einer revolutionären<br />

Entwicklung erschweren, dafür aber<br />

auch andere, die diesen Prozess erleichtern.<br />

Nach wie vor ist eine Einschätzung von Willi<br />

Gerns aus dem <strong>Jahre</strong> 1989 zutreffend, dass<br />

„trotz der Verschärfung der kapitalistischen<br />

Krisenerscheinungen das herrschende Monopolkapital<br />

aufgrund des großen ökonomischen<br />

Potentials der entwickelten kapitalistischen<br />

Länder und mit Hilfe staatsmonopolistischer<br />

Methoden (Dazu zählt besonders die<br />

bedeutend weiter angewachsene Macht der<br />

‚neuen Medien’. – HPB) noch immer in der<br />

Lage ist, die ‚Krise der Oberschichten’ zu mildern<br />

und das ‚Aufbegehren der Unterschichten’<br />

in Grenzen zu halten.“ 15<br />

Insbesondere die noch nicht abgeschlossene<br />

Verarbeitung der historischen Niederlage<br />

der Staaten des „realen Sozialismus“ zwischen<br />

1989/93 hat das Vertrauen in die „Machbarkeit“<br />

einer sozialistischen Alternative in<br />

breiten Teilen der Arbeiterbewegung nachhaltig<br />

beeinflusst. Zwar stimmen mittlerweile<br />

deutlich mehr Menschen der Meinung zu<br />

„Der Sozialismus ist eine gute Idee, aber sie<br />

wurde schlecht umgesetzt“, doch es besteht<br />

noch eine breite Kluft zwischen Parteienverdrossenheit,<br />

Unzufriedenheit und sogar Empörung<br />

über den mit dem Stichwort „Agenda<br />

2010“ verbundenen Sozialabbau und massenhaftem<br />

Widerstand.<br />

Wir wissen: Die konkreten, zu einer revolutionären<br />

Krise führenden Faktoren waren in<br />

der Geschichte vielfältig: in der russischen<br />

<strong>Oktoberrevolution</strong> war das in allererster Linie<br />

die Frage von Krieg und Frieden, außerdem<br />

die Frage der Bodenreform.


64<br />

Hans-Peter Brenner: Marxismus • Revolutionäre Situationen • Gegenwart<br />

In Portugal war es im Prinzip die Demokratie-Frage:<br />

die jahrzehntelange Repression<br />

des faschistischen Salazar-Regimes, vollstreckt<br />

durch den terroristischen Geheimdienst<br />

„PIDE“, war für immer breitere<br />

Massen unerträglich. Der „entfernte Funke“,<br />

der als Katalysator wirkte, waren die sinnlosen<br />

Opfer in den nicht mehr zu gewinnenden<br />

Kolonialkriegen in Angola und Mosambik.<br />

Welche Faktoren können möglicherweise<br />

in Westeuropa <strong>heute</strong> oder morgen eine Rolle<br />

spielen, welche „traditionellen“, welche neuen?<br />

Wird es mit z. B. der weiteren Entwicklung<br />

der imperialistischen Integration der EU<br />

noch denkbar sein, dass sich die Herausbildung<br />

einer revolutionären Situation auf<br />

einen einzelnen Nationalstaat beschränkt?<br />

Alte und neue Probleme, die zu einer<br />

revolutionären Lösung drängen<br />

Antworten darauf werden, wenn sie nicht spekulativ<br />

bleiben wollen, von der Erfahrung<br />

ausgehen müssen, dass es zu elementaren<br />

Einbrüchen in den Existenzbedingungen der<br />

breiten Masse der Bevölkerung kommt bzw.<br />

zu kommen droht, damit die weit verbreitete<br />

politische Abstinenz sich auflöst in Bereitschaft<br />

zum aktiven Protest und Engagement.<br />

Und die dem Kapitalismus wesenseigenen<br />

Antagonismen, insbesondere der Grundwiderspruch<br />

zwischen Lohnarbeit und Kapital,<br />

produzieren immer wieder neue Verunsicherung<br />

und krisenhafte Entwicklungen, die<br />

objektiv nach einer sozialistischen Lösung<br />

drängen.<br />

Existentiell gefährdet sind auch <strong>heute</strong> Millionen<br />

werktätiger Menschen in den europäischen<br />

Metropolen durch die Sorge um den<br />

Arbeitsplatz und um die Stabilität Existenz<br />

sichernder Einkommen. Die bereits im „Kommunistischen<br />

Manifest“ in ihren Grundzügen<br />

beschriebene Grundrichtung der zunehmenden<br />

Weltmarktorientierung des deutschen<br />

Imperialismus und der kapitalistischen Internationalisierung<br />

überhaupt hat dazu geführt,<br />

dass „mehr und mehr die letzten Schranken<br />

der nationalen Märkte niedergerissen“ werden.<br />

16<br />

Die Arbeits- und Lebensbedingungen der<br />

Werktätigen sind dadurch neuen Risiken und<br />

Abhängigkeiten ausgesetzt, die eine „wachsende<br />

Ungleichheit bei der Verteilung des<br />

gesellschaftlichen Reichtums und – tendenziell<br />

– die Zunahme von Armut und Verelendung<br />

bewirken und zu einer unaufhörlichen Umwälzung<br />

der gesellschaftlichen Verhältnisse<br />

und einer wachsenden Instabilität der Existenzbedingungen<br />

der Lohnabhängigen führen.“<br />

17<br />

Diese neue Stufe der Internationalisierung<br />

des Kapitalismus – vertieft besonders seit dem<br />

Wegbrechen des realen Sozialismus in der<br />

Sowjetunion und in den anderen Staaten des<br />

realen Sozialismus in Europa – erfordert objektiv<br />

eine stärkere Internationalisierung auch<br />

der Kooperation und wechselseitigen Unterstützung<br />

der antikapitalistischen Kräfte und<br />

Bewegungen. Dies ist aber im Prinzip keine<br />

grundsätzlich neue Erkenntnis bzw. Aufgabe.<br />

Bereits das Kommunistische Manifest endete<br />

bekanntlich mit der Losung „Proletarier aller<br />

Länder, vereinigt Euch!“ und das von Marx<br />

formulierte Gründungsdokument der I. Internationale,<br />

die sogenannte „Inauguraladresse“<br />

vom 28.9.1864, erinnert daran, dass diese internationale<br />

Verbindung lebensnotwendig sei.<br />

„Politische Macht zu erobern ist daher jetzt<br />

die große Pflicht der Arbeiterklassen. Sie<br />

scheinen dies begriffen zu haben, denn in<br />

England, Frankreich, Deutschland und Italien<br />

zeigt sich ein gleichzeitiges Wiederaufleben<br />

und finden gleichzeitige Versuche der Reorganisation<br />

der Arbeiterpartei statt. Ein<br />

Element des Erfolges besitzt sie, die Zahl.<br />

Aber Zahlen fallen nur in die Waagschale,<br />

wenn Kombination sie vereint und Kenntnis<br />

sie leitet. Die vergangene Erfahrung hat gezeigt,<br />

wie Missachtung des Bandes der Brüderlichkeit,<br />

welches die Arbeiter der verschiedenen<br />

Länder verbinden und sie anfeuern sollte,<br />

in all ihren Kämpfen für Emanzipation fest<br />

beieinanderzustehen, stets gezüchtigt wird<br />

durch die gemeinschaftliche Vereitlung ihrer<br />

zusammenhangslosen Versuche.“ 18


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Auch die Fragen von Krieg und Frieden<br />

bleiben virulent und drängen zu Lösungen jenseits<br />

des Imperialismus/Kapitalismus. Die Entwicklung<br />

der Bundeswehr zu einer im NATObzw.<br />

EU-Verbund weltweit operierenden<br />

Kolonialtruppe, bringt neue Risiken für Leib<br />

und Leben nicht nur der Soldaten, sondern<br />

auch der deutschen Zivilbevölkerung. „Hochrüstung,<br />

Rüstungsexport und das Schüren von<br />

Spannungen und Konflikten in verschiedenen<br />

Regionen steigern die atomare Bedrohung<br />

und die Gefahr eines für die ganze Menschheit<br />

verheerenden Krieges.“ Und „mit der Zuspitzung<br />

des Kampfes um die immer begrenzter<br />

werdenden Rohstoffquellen und um Vorherrschaft<br />

in der Welt“ besteht auch die Möglichkeit,<br />

dass „die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen<br />

zwischen imperialistischen<br />

Metropolen wieder akut werden kann.“ 19<br />

Deshalb werden insgesamt die alten klassischen<br />

Forderungen nach „Frieden, Arbeit,<br />

Brot“ auch weiterhin eine zentrale Rolle spielen<br />

müssen, wenn es darum geht, die Arbeiterbewegung<br />

für eine antikapitalistische Alternative<br />

zu gewinnen.<br />

Existentiell bedroht (objektiv) sind die<br />

Menschen auch in Europa aber auch durch<br />

neue Faktoren, z. B. durch die von Wissenschaftlern<br />

übereinstimmend prognostizierten<br />

Folgen des Klimawandels oder der sich immer<br />

wieder der Kontrolle entziehenden Atomindustrie<br />

oder anderer neuer Technologien aus<br />

dem Bereich der Genforschung und Manipulation<br />

am menschlichen, tierischen oder<br />

pflanzlichen Erbgut. Selbst wenn man propagandistische<br />

Übertreibungen und Spekulationen<br />

mit einkalkuliert, so ist es doch eine durch<br />

harte Daten und sich in der Gegenwart häufende<br />

Unwetterkatastrophen belegte Tatsache,<br />

dass die Menschen in Europa oder auch nur in<br />

Deutschland nicht auf einer heilen Insel leben,<br />

während weltweit die Menschheit mit Dürren<br />

und Hitzewellen oder sintflutartigen Überflutungen,<br />

Bodenerosion, Wassermangel und<br />

Hungersnöten zu kämpfen hat.<br />

Das DKP-Parteiprogramm zieht daraus<br />

mit Recht die folgende Schlussfolgerung: „Das<br />

kapitalistische Profitprinzip ist zu einer Gefahr<br />

THEMA 65<br />

für den Fortbestand der menschlichen Zivilisation<br />

geworden.“ 20<br />

Rosa Luxemburgs prophetischer Satz: „Sozialismus<br />

oder Barbarei!“ gewinnt schon deshalb<br />

eine bislang nicht bekannte neue Dimension<br />

und Aktualität.<br />

1 Vergl. Heinz Dieterich: Der Sozialismus des XXI. Jahrhunderts.<br />

Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach<br />

dem globalen Kapitalismus, S. 13<br />

2 K. Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort,<br />

MEW Bd. 13, S. 9<br />

3 W. I. Lenin: Briefe über die Taktik, Werke Bd. 24, S. 26<br />

4 Álvaro Cunhal: Kurs auf den Sieg, Berlin 1981, S. 214 f.<br />

5 dito, S. 196<br />

6 W.I. Lenin: Zur Beurteilung der gegenwärtigen Lage,<br />

Werke Bd. 15. S. 273<br />

7 Cunhal: a. a.O., S. 197<br />

8 W. I. Lenin: Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit<br />

im Kommunismus, Werke Bd. 31, S. 71 f.<br />

9 Cunhal: a. a.O. S. 195 f.<br />

10 K. Marx: Rede über den Haager Kongreß , MEW 18, S. 160<br />

11 K. Marx / F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei,<br />

Einzelbroschüre, S. 68<br />

12 dito, S. 82-83<br />

13 Vergl. Marxistische Blätter 3/04 mit den Materialien des<br />

„Leverkusener Dialogs“ diverser marxistischer Organisationen<br />

und Publikationen zum Thema „Übergänge zum<br />

Sozialismus: Streit unter Linken.“<br />

14 W. I. Lenin: April-Thesen, Ausgew. Werke II, S. 40-42<br />

15 W. Gerns: Revolution und revolutionäre Situation <strong>heute</strong>,<br />

in: Marxistische Studien, Jahrbuch des IMSF 14, 1989,<br />

S. 481<br />

16 Programm der Deutschen Kommunistischen Partei. Beschlossen<br />

vom 17. Parteitag der DKP, 8. April 2006, S. 8<br />

17 ebenda, S. 6<br />

18 K. Marx: Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation,<br />

MEW Bd 16, S. 12 f.<br />

19 Programm der DKP, S. 13 f.<br />

20 ebenda, S. 3


66<br />

Hans Heinz Holz: Revolutionäre Theorie für revolutionäre Praxis<br />

Revolutionäre Theorie<br />

für revolutionäre Praxis<br />

Hans Heinz Holz<br />

Der nachfolgende Aufsatz ist die nachträgliche<br />

Niederschrift eines Teils des frei gehaltenen Referats<br />

anlässlich des Kolloquiums des DKP-<br />

Bezirks Ruhr-Westfalen „Revolution der Philosophie<br />

– Philosophie der Revolution“ aus Anlass<br />

des 80. Geburtstags von Hans Heinz Holz<br />

am 24.2.2007 in Essen. Die Rekonstruktion des<br />

Vortrags fasst seine Gedanken zusammen.<br />

Unsere Veranstaltung bietet Gelegenheit,<br />

einen Blick voraus zu richten. Im Herbst werden<br />

wir eines großen Datums gedenken, der<br />

<strong>Oktoberrevolution</strong>, die mit einem Schlage das<br />

Gesicht der Welt veränderte. Jetzt ist erst<br />

Februar. Aber der Februar birgt den Keim<br />

zum Oktober. Die Kerenskis waren nur ein<br />

Zwischenspiel in der Geschichte, und die<br />

Menschewiki die verzagten Statisten auf einer<br />

Bühne, auf der das Drama der Revolution<br />

abrollte und der Titelheld Lenin hieß.<br />

Die Akte im Drama der Geschichte haben<br />

nicht die ausgewogene Kunstform eines Bühnenstücks.<br />

Zwischenspiele können über Gebühr<br />

lange dauern. Das sollten wir bedenken, wenn<br />

die Zeit seit 1989 unsere Ungeduld auf die Probe<br />

stellt und unseren revolutionären Elan ermüden<br />

lässt. Nicht immer reicht ein halbes Jahr, um<br />

die Zeichen der Zeit zu wenden. Auch wenn sie<br />

nun schon zwanzig <strong>Jahre</strong> versuchen, das Rad der<br />

Geschichte zurückzudrehen – die Schröder und<br />

Schäuble, die Merkel und Müntefering sind<br />

doch nur die Kerenskis, über die der Weltlauf<br />

hinweggehen wird, mit „eisernen Stiefeln“, wie<br />

Hegel sagte, der Zeitgenosse und Denker einer<br />

anderen großen Revolution. Dass wir im Tal vor<br />

dem hohen Berg, den wir wieder erklimmen<br />

müssen, nicht den Mut verlieren: dafür haben<br />

wir die Kraft unserer wissenschaftlichen Weltanschauung,<br />

die Lehren von Marx, Engels und<br />

Lenin und all jenen, die an diesem mächtigen<br />

Theoriegebäude weiter gebaut haben.<br />

Lenins Lektüre – blicken wir zurück!<br />

Von September bis Dezember 1914 liest<br />

Lenin aufs intensivste Hegels „Wissenschaft<br />

der Logik“ 1 , exzerpiert sie und annotiert sie<br />

mit philosophisch weitreichenden, für eine<br />

marxistische Philosophie grundlegenden Randbemerkungen<br />

und Kommentaren. 2 Gleichzeitig<br />

liest er auch und exzerpiert Feuerbachs<br />

Leibniz-Monografie. 3 In kurzer Zeit folgen<br />

Hegels „Vorlesungen über die Geschichte der<br />

Philosophie” 4 , weitere Hegel-Studien, die<br />

„Metaphysik des Aristoteles“, Lasalles Werk<br />

über Heraklit. 5 Das ist das vollgepackte Lektüre-Programm<br />

eines Philosophiestudenten,<br />

der sich in die Grundlagen der Dialektik einarbeiten<br />

möchte.<br />

Ein immenses Theorie-Paket, das tiefe Spuren<br />

in den späteren Schriften Lenins hinterlässt.<br />

Seinen späten Nachhall findet es in den<br />

Sätzen aus der Abhandlung „über den streitbaren<br />

Materialismus“, wo es heißt: „Die Mitarbeiter<br />

der Zeitschrift ‚Unter dem Banner des<br />

Marxismus’ müssen das systematische Studium<br />

der Dialektik Hegels vom materialistischen<br />

Standpunkt aus organisieren. ... Die Gruppe<br />

der Redakteure und Mitarbeiter der Zeitschrift<br />

sollte nach meiner Meinung eine Art ‚Gesellschaft<br />

materialistischer Freunde der Hegelschen<br />

Dialektik’ sein.“ 6 Nimmt man diesen<br />

Appell zusammen mit den Bemerkungen aus<br />

den „Logik“-Konspekten, so ergibt sich ein<br />

klares philosophisches Konzept: „Der historische<br />

Materialismus als eine der Anwendungen<br />

und Entwicklungen der genialen Ideen, der<br />

Samenkörner, die bei Hegel im Keimzustand<br />

enthalten sind. ... Man kann das ‚Kapital’ vom<br />

Marx und besonders das I. Kapitel nicht vollständig<br />

begreifen, ohne die ganze Logik von<br />

Hegel durchstudiert und begriffen zu haben.<br />

Folglich hat nach einem halben Jahrhundert<br />

nicht ein Marxist Marx begriffen!“ 7<br />

Das alles ist aber keine, an sich selbst schon<br />

bemerkenswerte, akademische Forschung um<br />

der Erkenntnis von Denk- und Weltanschauungsformen<br />

willen. Lenin treibt Philosophie-<br />

Studium in den ersten Monaten des aufregenden<br />

weltpolitischen Umbruchs, der durch den


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Beginn des Ersten Weltkriegs am 1. August<br />

1914 ausgelöst wurde. Die Widersprüche in<br />

der Konkurrenzordnung des kapitalistischen<br />

Systems sprengten die Klasseneinheit der<br />

Bourgeoisie, die sich bis dahin in Kompromissen<br />

über alle Rivalitäten hinweg erhalten<br />

hatte; in dem neuen Stadium des Imperialismus<br />

prallten die Gegensätze unversöhnlich<br />

aufeinander. Gleichstarke Machtgruppen des<br />

Kapitals standen einander gegenüber, eine<br />

musste die andere verdrängen, wenn sie ihren<br />

Anteil an der Ausbeutung vergrößern und<br />

letztlich die Führung auf dem Weltmarkt erringen<br />

wollte. Der Prozess, den man <strong>heute</strong><br />

„Globalisierung“ nennt, dessen strukturelle<br />

Bedingungen ja Marx schon in der Anfangsphase<br />

des kapitalistischen Weltmarkts analysiert<br />

hatte, 8 war in der Zeit vor dem Ersten<br />

Weltkrieg in sein akutes Stadium getreten und<br />

hatte sogleich die Zuspitzung der inneren<br />

Widersprüche des Imperialismus zu einem<br />

großen Krieg bewirkt. Seitdem verknüpft sich<br />

der Hauptwiderspruch zwischen den Klassen<br />

mit den Nebenwidersprüchen der imperialistischen<br />

Konkurrenten und das Begreifen der<br />

Bewegungsformen dieser doppelten Widersprüchlichkeit<br />

wird zum theoretischen Kernproblem<br />

der Strategie revolutionärer Veränderungen.<br />

Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert<br />

zugleich der sozialistischen Revolutionen<br />

und der Exzesse des Imperialismus.<br />

Die gegensätzlichen Kräfte führen einen<br />

„Kampf auf Leben und Tod“ 9 , dessen Härte<br />

sich daraus erklärt, dass nicht mehr die Herrschaftsformen<br />

zweier Gesellschaftsformationen<br />

im Widerstreit stehen, sondern zwei Typen<br />

von Gesellschaft überhaupt.<br />

Die Parteien der Arbeiterklasse in der II.<br />

Internationale hatten gegenüber der neuen<br />

Phase des Imperialismus – die Lenin dann als<br />

„imperialistische“ analysieren wird 10 – versagt<br />

und den Klassenkampf mit der Unterordnung<br />

unter die Interessen der nationalen Bourgeoisien<br />

preisgegeben. Arbeiter schossen an den<br />

Fronten auf Arbeiter. Die Ziele des Sozialismus<br />

schienen in weite Ferne gerückt, die<br />

Sozialisten hatten sich selbst eine vernichtende<br />

Niederlage beigebracht, die ihre politische<br />

THEMA 67<br />

Identität zerstörte. In der von Kautsky einst<br />

formulierten Alternative Sozialismus oder<br />

Barbarei (die später von Rosa Luxemburg<br />

wieder aufgenommen wurde) hatten die sozialdemokratischen<br />

Parteien sich auf die Seite<br />

der Barbarei geschlagen!<br />

Es war der harte Kern der organisierten<br />

Arbeiterklasse, der diesen Anpassungstendenzen<br />

widerstand: die Bolschewiki in Russland,<br />

die Spartakisten in Deutschland. Lenin,<br />

Liebknecht, Luxemburg 11 als ihre politischen<br />

und theoretischen Führer. Es galt, die Partei<br />

und Parteilichkeit, den klassenkämpferischen<br />

Elan der I. Internationale gegen Reformismus<br />

und Revisionismus, die sich in der II. Internationale<br />

durchgesetzt hatten, zu erhalten und<br />

ihn im Augenblick der Krise der bürgerlichen<br />

Gesellschaft und des Zusammenbruchs der<br />

reaktionären Monarchien in Russland und<br />

Deutschland mit revolutionärem Impuls zu<br />

erfüllen. Die historische Mission der Arbeiterklasse,<br />

den Sturz des Kapitalismus herbeizuführen<br />

und die Grundlagen für eine<br />

neue Gesellschaftsordnung zu legen, wurde<br />

nicht von den Mehrheitssozialisten wahrgenommen<br />

(und wird vielleicht aktiv nie von der<br />

Klassenmehrheit vorangetrieben, die eher<br />

passiv den revolutionären Prozess gutheißt<br />

und unterstützt 12 ).<br />

Nach 1914 galt es also, die Identität der<br />

Partei, wie sie durch Werk und Wirken von<br />

Marx und Engels repräsentiert wurde, gegen<br />

die Einbeziehung in den bürgerlichen Demokratie-Betrieb<br />

zu bewahren. Nicht Opposition<br />

im Kapitalismus, sondern Opposition<br />

gegen den Kapitalismus ist Sinn und Aufgabe<br />

einer Kommunistischen Partei. Diese Differenz<br />

ist eine innersozialistische Konfrontation,<br />

die sich auf allen Entwicklungsstufen wiederholt<br />

und für die der Kampf Lenins um die bolschewistische<br />

Linie der Partei beispielhaft ist<br />

– gerade auch in den Tagen, in denen er das<br />

Handeln der Klasse gegen das Zaudern der<br />

Führung durchsetzte und zum Siege führte.<br />

Wenn die Revolution auf das Bestehen<br />

einer integren, opferbereiten und wohl organisierten<br />

Partei angewiesen ist und ohne sie<br />

keine ineinander verwobene strategische


68<br />

Hans Heinz Holz: Revolutionäre Theorie für revolutionäre Praxis<br />

Linie und taktische Zielsetzung erhalten<br />

kann, so liegt auf der Hand, welche Ausrichtung<br />

das Klassenbewusstsein in den kommunistischen<br />

Parteien zu nehmen hat: Es<br />

muss den revolutionären Gehalt ihrer Ursprünge,<br />

ihrer „Prägung“ behalten. Die Einheit<br />

der Partei muss durch ihre Identität gewährleistet<br />

sein, nicht durch Kompromisse<br />

zwischen „Strömungen“ und „Linien“, die<br />

letzten Endes nur zu einander ausschließenden<br />

Fraktionen verkommen. Die Identität der<br />

Partei bekundet sich sowohl in ihren programmatischen<br />

Grundaussagen als auch in<br />

der Kontinuität ihrer Geschichte – ihrer Erfolge<br />

und Triumphe ebenso wie ihrer Fehler,<br />

gar Fehlentwicklungen und Niederlagen. Der<br />

Klassenkampf verläuft nicht ohne Widersprüche.<br />

Der historische Materialismus gibt<br />

uns das methodische Instrumentarium, diese<br />

Widersprüche zu erklären und sie kritisch zu<br />

reflektieren. Kritische Reflexion ist nicht<br />

moralisierend – das wäre Sozialdemokratismus<br />

seit Friedrich Albert Lange 13 –, sondern<br />

historisch realistisch. Nur so sind Lehren aus<br />

der Geschichte zu ziehen – Lehren aus der<br />

siegreichen <strong>Oktoberrevolution</strong>, Lehren aus<br />

der Niederlage von 1989. Die Lernbereitschaft<br />

schließt ein, dass wir unsere Geschichte<br />

nicht verleugnen oder verdrängen.<br />

Die DKP ist 1968 gegründet worden, aber<br />

sie ist die Partei von Rosa Luxemburg, Ernst<br />

Thälmann und Max Reimann und ihren<br />

Kampfgenossen. Der internationale Kommunismus<br />

ist der von Marx und Engels, von<br />

Lenin und Stalin, von Gramsci und Togliatti,<br />

von Dimitroff und Mao, von Cunhal und<br />

Castro. Es ist der Kommunismus, der seinen<br />

Internationalismus in der III. Internationale<br />

organisierte. Es ist der Kommunismus, dem<br />

mit der <strong>Oktoberrevolution</strong> der erste Durchbruch<br />

durch das System des Kapitalismus gelang<br />

und der in zwanzig <strong>Jahre</strong>n zur zweiten<br />

Weltmacht aufstieg – nicht nur im Sinne staatlicher<br />

Macht, sondern als geistige, kulturelle,<br />

weltanschauliche Alternative zur bürgerlichen<br />

Gesellschaft. Es ist der Kommunismus, dessen<br />

Existenz die Emanzipation der Kolonialvölker<br />

ermöglichte und unterstützte. Es ist der<br />

Kommunismus, der das Friedensprogramm<br />

der Vereinten Nationen mitentwarf und daran<br />

festhielt, als der US-Imperialismus – schon<br />

seit dem Korea-Krieg 1951 – wieder zur militärischen<br />

(und ohnehin stets zur ökonomischen)<br />

Aggressivität überging. Es sind Millionen<br />

Kommunisten in der ganzen Welt, die oft<br />

unter dem Einsatz ihres Lebens den Klassenkampf<br />

in ihrem Lande und den Kampf gegen<br />

den internationalen Imperialismus und Faschismus<br />

führen.<br />

Wer wollte dies verkleinern, weil im revolutionären<br />

Prozess, wie in jeder Revolution, die<br />

wir aus der Geschichte kennen, Gewalt und<br />

Unrecht geschehen (und Fehler sowieso)?<br />

Selbstverständlich muss in jedem Fall von<br />

Unrecht dem Widerstand entgegengesetzt werden;<br />

selbstverständlich müssen wir aus der Erforschung<br />

der Ursachen die Lehre ziehen, wie<br />

in Zukunft Unrecht und Fehlhandlungen zu<br />

vermeiden sind. Aber unsere Selbstkritik darf<br />

uns nicht von unserer Geschichte abschneiden,<br />

in der wir verwurzelt sind und aus der wir Kraft<br />

ziehen. Das ist keine Frage von Emotionen.<br />

Natürlich sind wir Kommunisten, weil uns die<br />

leidenschaftliche Empörung über Unterdrückung<br />

und Ausbeutung, über die Unmenschlichkeit<br />

der Klassengesellschaft, über Krieg und<br />

Zerstörung unserer Lebenswelt beseelt. Aber<br />

es zeichnet uns aus, dass wir im Dialektischen<br />

und Historischen Materialismus die Theorie<br />

haben, um die Widersprüche, die uns empören,<br />

aus ihren Entstehungs- und Existenzbedingungen<br />

zu begreifen und also die Mittel und<br />

Wege erkennen können, wie die Widersprüche<br />

aufzuheben sind.<br />

Das führt uns zurück zu Lenin. Verstehen<br />

wir: Der Erste Weltkrieg begann. Die Krise<br />

des Kapitalismus brach aus, das Jahrhundert<br />

der Revolutionen bereitete sich vor. Und<br />

Lenin – las Philosophie!<br />

Das Studium der großen Dialektiker –<br />

Heraklit, Aristoteles, Leibniz, Hegel, eine ausgewählte<br />

Ahnenreihe der Philosophiegeschichte<br />

– stand im Dienste der politischen<br />

Praxis. Wer die logische Struktur des Widerspruchs<br />

und seine ontologische Realität als<br />

Prinzip der Wirklichkeit und Grund ihrer Be-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

wegungsform nicht begreift, dem bleiben<br />

auch die geschichtlichen und gesellschaftlichen<br />

Prozesse irrationale und zufällige Erscheinungen<br />

einer unverstandenen Macht. Ohne<br />

die materialistische Dialektik kann ihm die<br />

Geschichte nur als blindes Schicksal oder dem<br />

Menschen verborgener Ratschluss Gottes<br />

entgegentreten. Lenins leidenschaftlicher<br />

Atheismus ist motiviert von dem Streben, die<br />

Welt begreifbar zu machen, damit sie der<br />

Freiheit des aus Vernunft handelnden Menschen<br />

zugänglich sei. Theorie als Theorie für<br />

eine Praxis, die nicht willkürlich ist, sondern<br />

den rational rekonstruierbaren Gesetzen der<br />

Natur sich fügend, gestaltend in sie eingreift.<br />

Das ist der Geist der europäischen Moderne,<br />

der Aufklärung, der Geist von Galilei und<br />

Bacon, von Leibniz und Einstein.<br />

Theoria cum praxi hatte Leibniz der Königlich<br />

Preussischen Akademie der Wissenschaften<br />

(deren Erbe die Akademie der Wissenschaften<br />

der DDR und nach deren illegaler<br />

Abwicklung nun die Leibniz-Sozietät<br />

angetreten hat) 1700 in ihr Wappen geschrieben.<br />

Mit diesem Motto im Kopf formulierte<br />

Marx die 11. Feuerbachthese: „Die Philosophen<br />

haben die Welt nur verschieden interpretiert,<br />

es kömmt darauf an, sie zu verändern.“<br />

14 Nur Banausen lesen sie so, als habe<br />

Marx die Philosophie abgetan und einem<br />

schnöden Praktizismus gehuldigt. Jede Theorie<br />

ist immer Interpretation der Wirklichkeit.<br />

Es ist eine naive Illusion, es könne eine Beschreibung<br />

von Sachen geben, der nicht schon<br />

eine Bedeutung aus unserer Perspektive, unserer<br />

Interessenlage beigelegt ist. Der dialektische<br />

Materialismus ist kein naiver Realismus.<br />

Dass wir die Welt nach unseren Zwecken<br />

verändern, geht nicht ohne Interpretation dessen,<br />

wie sie sein könnte, indem sie ist, wie sie<br />

ist. 15 In der Praxis wird das krude ontische Ansich-sein,<br />

das der sensualistische Materialismus<br />

zu erkennen meint, in das ontologische<br />

Verhältnis seiner Widerspiegelung im Bewusstsein<br />

als Voraussetzung des Handelns<br />

überführt. Nicht Praxis statt Theorie, sondern<br />

durch Theorie vermittelte Praxis ist das<br />

Programm, das Marx gegen Feuerbach auf-<br />

THEMA 69<br />

stellt: „Der Hauptmangel alles bisherigen<br />

Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet)<br />

ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit,<br />

Sinnlichkeit nur unter der Form des<br />

Objekts oder der Anschauung gefasst wird;<br />

nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit,<br />

Praxis, nicht subjektiv. ... Feuerbach will sinnliche<br />

– von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedne<br />

Objekte; aber er fasst die menschliche<br />

Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche<br />

Tätigkeit.“ 16<br />

Gegen den von der Praxis abgelösten Theorie-Begriff,<br />

der seit der Antike das abendländische<br />

Denken prägte 17 , musste ein neues Konzept<br />

von Theorie entwickelt werden, das nicht<br />

mehr von der Subjekt-Objekt-Dualität und der<br />

Fixierung auf die Identität des angeschauten<br />

Gegenstands ausging. In der Praxis erweist sich<br />

die Einheit von handelndem Subjekt und<br />

behandeltem Objekt wie auch die Veränderlichkeit<br />

und Bewegung (und also Nicht-Identität)<br />

des scheinbar identischen Seienden. 18<br />

Der abstrakt-leere Seinsbegriff konkretisiert<br />

sich im Begriff der Materie samt ihren<br />

Bewegungsformen. Lenin hat begriffen, dass<br />

der ontologische Entwurf von Engels 19 die natürliche<br />

Formbestimmtheit für die allgemeine<br />

strukturelle Begründung der Praxis – sowohl<br />

als produktive in der Arbeit wie als organisierende<br />

in der Politik – in den Blick bringt.Theorie<br />

erweist sich als notwendig in der Praxis enthalten.<br />

Sie ist deren Reflexionsgestalt. 20<br />

Partei und Parteilichkeit<br />

Die Griechen unterschieden Poiesis und<br />

Praxis. Poiesis ist das schaffende, herstellende<br />

Tun, das naturgemäß jeder einzelne verrichten<br />

muss, auch wenn er es mit anderen und in<br />

wechselseitiger Hilfeleistung verrichtet. Praxis<br />

dagegen ist etwas Real-Allgemeines; in ihr<br />

verschmelzen die Menschen zu einem „Körper“<br />

(einer „Körperschaft“), dessen Verhaltensregeln<br />

nicht mehr ausschließlich von den<br />

Antriebsmomenten der Individuen bestimmt<br />

sind, sondern der übergeordneten Norm des<br />

Ganzen folgen. Praxis ist nicht das einzelne<br />

Tun, sondern das „Tun aller und jedes“


70<br />

Hans Heinz Holz: Revolutionäre Theorie für revolutionäre Praxis<br />

(Hegel). 21 Sie realisiert sich in der gesellschaftlichen<br />

Arbeit und vergegenständlicht<br />

sich in deren Produkt. Sie realisiert sich ebenso<br />

in der Organisation der gesellschaftlichen<br />

Arbeit und des gesellschaftlichen Lebens insgesamt<br />

– und das heißt notwendig in der Koordination<br />

und Kooperation von mehreren,<br />

die eine sie übergreifende Gemeinschaft, eine<br />

Gruppe bilden. Ähnliche oder gleiche Interessen<br />

sind es, die eine Gruppe zusammenbinden<br />

und zu einer handelnden Einheit<br />

machen. Praxis als Organisation des gesellschaftlichen<br />

Lebens ist Politik. Politische<br />

Praxis ist die einer Gruppe oder Partei. Politisches<br />

Handeln ist immer Handeln in einem<br />

Kollektiv und durch ein Kollektiv. Subjekte<br />

der Politik sind die Parteien als Gruppen mit<br />

gemeinsamen Interessen, Zielen und Handlungsregeln.<br />

22<br />

Diese allgemeine Verfasstheit von Politik<br />

radikalisiert sich im revolutionären Geschehen.<br />

Eine durchstrukturierte Herrschaftsorganisation<br />

muss aufgebrochen, und zerstört<br />

werden. Einem funktional auf Repression<br />

ausgerichteten Apparat stünde eine amorphe<br />

Masse hilflos gegenüber, wenn sie nicht eine<br />

eigene Kampfordnung bilden würde. Die<br />

Organisiertheit ist Voraussetzung, dass der<br />

Protest zum Klassenkampf, dass die Rebellion<br />

zur Revolution werden kann.<br />

Die Einsicht, dass Reformen die allgemeine<br />

Krise des Gesellschaftssystems nicht beheben<br />

können, dass vielmehr in der Phase der<br />

allgemeinen Krise nur eine Veränderung des<br />

Systems als solches eine Abhilfe schafft – das<br />

ist eine theoretische Einsicht, die mit den<br />

Methoden der Dialektik und Systemtheorie<br />

gewonnen werden kann. Zunächst aber werden<br />

die drückenden Lasten der Krise von den<br />

Menschen an den sie betreffenden Erscheinungen<br />

wahrgenommen, gegen sie richtet sich<br />

der Unmut und der Protest. Die Verallgemeinerung,<br />

die es erlaubt, die Einzelerscheinungen<br />

als Ausfluss des Wesens, der Entstehungsbedingungen<br />

und Bewegungsformen<br />

des Systems zu erkennen, setzt gedankliche<br />

Abstraktionen und Zusammenfassungen –<br />

den „Gesamtzusammenhang“ (Engels) 23 –<br />

voraus, die sich umso weniger unmittelbar<br />

aufdrängen, je komplexer und unübersichtlicher<br />

die Vernetzung gesellschaftlicher Prozesse<br />

geworden ist. Im Unternehmer, dem<br />

„Patron“ des Betriebs, konnte der Arbeiter<br />

noch den Klassenfeind persönlich erkennen;<br />

wer aber zeigt ihm diese Person noch in einer<br />

Aktiengesellschaft. die mit guten Grund auf<br />

Französisch „Societé anonyme“ heißt? Die<br />

Emotionen bleiben singulär, sie entzünden<br />

sich am Erlebnis, nicht an Begriffen.<br />

Für die Erarbeitung der begrifflichen Erkenntnis<br />

und deren Verbreitung, sodass sie die<br />

Massen ergreifen und zur materiellen Gewalt<br />

werden kann 24 , bedarf es eines Organs. Das ist<br />

die revolutionäre Partei – revolutionär, weil<br />

sie den Systemcharakter der Krise erkennt<br />

und darum die Veränderung der Gesellschaft<br />

zu ihrem politischen Ziel macht; nicht nur im<br />

einfachen „Nein“ zum Bestehenden, sondern<br />

gemäß der dialektischen Logik im Entwurf<br />

einer anderen Gesellschaftssystematik, 25 die die<br />

„bestimmte Negation“ der bestehenden ist,<br />

also die Aufhebung der Negation durch eine<br />

neue Position („Negation der Negation).“ 26<br />

Werden die Massen spontan duch Emotionen<br />

zum Widerstand geführt – die immer<br />

wieder aufflammenden und verlöschenden<br />

Protestbewegungen sind deren Ausdruck – so<br />

kann es nur und muss die Aufgabe jenes<br />

Organs der Theorie-Praxis-Einheit, der revolutionären<br />

Partei, sein, diese Emotionen in<br />

Aktivitäten zu überführen, die aus Einsichten<br />

gesteuert werden und sich zu einem konsistenten<br />

und konsequenten Dauerverhalten<br />

festigen. Das ist die Avantgarde-Rolle, die<br />

eine kommunistische Partei nicht preisgeben<br />

darf, aber sich auch nicht anmaßen kann; sie<br />

muss aus der Überzeugungskraft der Theorie<br />

und dem glaubwürdigen und unermüdlichen<br />

Einsatz in der alltäglichen politischen Praxis<br />

entspringen und auf die Massen überspringen.<br />

Das erfordert eine hohe Leistungsbereitschaft<br />

und Moral ihrer Mitglieder und Funktionäre.<br />

Gerade dadurch haben sich in Kampf- und<br />

Verfolgungssituationen Kommunisten immer<br />

wieder ausgezeichnet und das Vertrauen auch<br />

der Mitbürger gewinnen können, die selbst


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Fritz Cremer. Lithografie zu Alexander Bloks Poem „Die Zwölf”<br />

THEMA 71


72<br />

Hans Heinz Holz: Revolutionäre Theorie für revolutionäre Praxis<br />

sich vor den Schwierigkeiten revolutionären<br />

Handelns sc<strong>heute</strong>n.<br />

Die Überzeugungskraft der Theorie des<br />

dialektischen und historischen Materialismus<br />

und die darin begründete Kosequenz politischen<br />

Handelns beruht darauf, dass dem bürgerlichen<br />

Relativismus, der beliebige, auch<br />

einander widersprechende, Meinungen mit<br />

gleicher Geltung nebeneinander zulässt (erkenntnistheoretischer<br />

Pluralismus), die Insistenz<br />

auf einem Wahrheitsbegriff entgegengesetzt<br />

wird, der die Verbindlichkeit und Richtigkeit<br />

des als wahr Behaupteten meint. Diese<br />

Wahrheitskonzeption würde dogmatisch versteinert,<br />

wenn sie nicht die geschichtliche Veränderung<br />

der Wirklichkeit berücksichtigen<br />

würde. Was jetzt ist, muss nicht so bleiben und<br />

bleibt nicht so. Aussagen, für die wir Wahrheitsgehalt<br />

beanspruchen, werden über Sachverhalte<br />

getroffen, wie sie an sich und in Bezug<br />

auf systematische Zusammenhänge, die<br />

wir erkennen, zur Zeit der Aussage sind; sie<br />

sind historisch relativ, aber nicht beliebig.<br />

Absolut sind Wahrheiten nur, wenn sie sich<br />

auf Konstanten der Natur, der Logik und der<br />

Vergesellschaftungsformen beziehen. In jeder<br />

anderen Hinsicht ist „absolute Wahrheit“ ein<br />

Grenzbegriff, der eine Erkenntnis meint, der<br />

wir uns im Erkenntnisprozess annähern, ohne<br />

die Grenze je zu erreichen (schon weil sie sich<br />

auch stets verschiebt). Lenin hat diese Differenz<br />

von absoluter und relativer Wahrheit als<br />

Moment einer dialektischen Erkenntnistheorie<br />

klar herausgearbeitet. 27<br />

Wahrheit hat in diesem Sinn einen Status,<br />

der auf den historischen Stand der Erkenntnis<br />

und der gesellschaftlichen Entwicklung relativ<br />

ist und in einer wissenschaftlichen Weltanschauung<br />

als System von Sachverhaltserklärungen<br />

und Handlungsanweisungen durch die<br />

Übereinstimmung mit den Ergebnissen der<br />

Praxis gestützt wird (Kriterium der Praxis).<br />

Das System ist ein „offenes System“ 28 , das<br />

heißt es entwickelt sich parallel zu den Veränderungsprozessen<br />

in der Wirklichkeit und<br />

in den Wissenschaften. Materialistisch ist es,<br />

wenn es den Gesetzmäßigkeiten in der Natur<br />

und Gesellschaft folgend die Fortentwicklung<br />

der Produktionsverhältnisse und den Fortschritt<br />

der wissenschaftlichen Erkenntnis<br />

theoretisch abbildet. Die Richtung des Fortschritts<br />

bestimmt sich entsprechend diesen<br />

Gesetzmäßigkeiten aus dem gattungsgeschichtlichen<br />

Ziel der Menschen, in vernünftiger<br />

Selbstbestimmung, mithin mit Rücksicht<br />

auf das Allgemeine, frei zu leben. In der<br />

Geschichte, die als eine Geschichte von Klassenkämpfen<br />

abläuft, ist die Partei jener Klasse,<br />

die die bestehenden Herrschaftsverhältnisse<br />

in emanzipatorischer Absicht bekämpft,<br />

die Trägerin des historischen Fortschritts; sie<br />

ersetzt Unfreiheit durch größere Freiheit –<br />

und selbst wenn sie unterliegt, sind die von ihr<br />

in die Welt gesetzten Gedanken doch zumindest<br />

ein „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“<br />

29 , weil diese Gedanken, einmal geäußert<br />

und niedergelegt, nicht verloren gehen und in<br />

späteren Zeiten weiterwirken.<br />

Das System der Erkenntnisse (unter Wahrung<br />

wissenschaftlicher Erkenntniskriterien)<br />

an der Existenz, den Zielen und Strategien<br />

dieser Partei zu orientieren, besagt Parteilichkeit.<br />

Der Sinn des Wortes ist nicht „parteiisch“,<br />

sondern „auf die Partei bezogen“. Historische<br />

Wahrheit hat ihren Ort in der Partei<br />

des Fortschritts.<br />

So waren die Aufklärer antiklerikal, mechanisch-materialistisch<br />

(entsprechend dem<br />

Stand der Naturwissenschaften), bürgerlichdemokratisch.<br />

30 Heute ist der Ort der Wahrheit<br />

die Kommunistische Partei als die Partei<br />

der nach-kapitalistischen, sozialistisch-kommunistischen<br />

Gesellschaftsordnung – auch<br />

dann, wenn sie Fehler macht, Unrichtiges für<br />

wahr hält, Unrecht begeht. Die Korrektur des<br />

Falschen muss sich innerhalb des Rahmens<br />

einer fortschrittlichen wissenschaftlichen<br />

Weltanschauung, ihrer politischen Strategie,<br />

also innerhalb der Organisation vollziehen –<br />

sonst wird sie reaktionär, historisch rückwärts<br />

gewandt, konterrevolutionär. Parteilichkeit<br />

der Wahrheit ist eine politische Kategorie und<br />

heißt: theoretische Erkenntnis in der Perspektive<br />

des revolutionären Ziels.<br />

Wahrheit ist nicht kompromissfähig; sie ist<br />

wahr oder es ist keine Wahrheit – „das Wahre


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

ist die Norm seiner selbst und des Falschen“<br />

(verum est norma sua et falsi – Spinoza). 31<br />

Gefahr des Revisionismus<br />

Es ist schon nicht leicht, in einer Umwelt von<br />

Schein und Bewusstseinsmanipulation, von<br />

Falschinformationen und Lügen an einer parteilichen<br />

Wahrheit festzuhalten. Dazu gehört<br />

Parteilichkeit nicht nur als Erkenntnisprinzip,<br />

sondern auch als Charakterhaltung. Schwerer<br />

noch ist es aber, selbst bei Bewahrung der<br />

Prinzipien in der Theorie, in der politischen<br />

Alltagspraxis die revolutionäre Unbedingtheit<br />

nicht zu verlieren, wenn im faktischen<br />

Handeln bestenfalls kleinere Verbesserungen<br />

für die Lebensbedingungen der Menschen,<br />

Reformen von kleinerer oder größerer Reichweite<br />

durchzusetzen sind, die am Wesen des<br />

Systems und seiner Krisenhaftigkeit nichts<br />

ändern und sogar den Schein seiner Veränderbarkeit<br />

erwecken mögen. Es ist immer<br />

richtig, für das unmittelbare Wohl der Menschen<br />

zu kämpfen. „Es ist des Menschen gutes<br />

Recht auf Erden, weil er ja nur kurz lebt, glücklich<br />

zu sein“ (Brecht). 32 Es gibt auch das kleine<br />

Glück punktueller Befriedigungen – die<br />

Lohnerhöhung, den Platz im Kinderhort, die<br />

momentane Erhaltung des Arbeitsplatzes.<br />

Das muss ernst genommen werden.<br />

Aber wenn diese Unmittelbarkeit unseren<br />

politischen Einsatz, unsere Aufmerksamkeit<br />

und Zielrichtung ganz erfüllt, ist es zu wenig.<br />

Der revolutionäre Umsturz, den wir im Prinzip<br />

wollen, rückt dann in utopische Ferne, wird<br />

zum Ideal. Schon Kant sah sich genötigt, gegen<br />

den opportunistischen Verzicht auf die Prinzipien<br />

zu polemisieren. Er verwarf „den Gemeinspruch:<br />

Das mag in der Theorie richtig<br />

sein, taugt aber nicht für die Praxis“ und kam<br />

nach einer sorgfältigen Analyse der sich darin<br />

bekundenden (theoriefeindlichen) Einstellung<br />

zu dem Schluss: „Was aus Vernunftgründen für<br />

die Theorie gilt, das gilt auch für die Praxis.“ 33<br />

Wir würden indessen einem falschen Subjektivismus<br />

verfallen, wollten wir die Neigung<br />

zu revisionistischen Anpassungen an die bestehenden<br />

Verhältnisse nur menschlicher<br />

THEMA 73<br />

Schwäche zur Last legen. Die spielt natürlich<br />

auch eine Rolle, ebenso wie mangelnde Erkenntnis<br />

und vorschnelle Akzeptanz von einseitigen<br />

oder falschen Deutungen der Phänomene.<br />

Aber das eigentliche Problem des<br />

Revisionismus liegt tiefer. Es ist die strukturelle<br />

Zweideutigkeit einer revolutionären<br />

Partei in einem nichtrevolutionaren Stadium<br />

des Gesellschaftsprozesses. Sie muss um Erfolge<br />

im System kämpfen, obwohl sie das System<br />

ablehnt. Sie gewinnt vielleicht einen kleinen<br />

Anteil an der Macht – auf der Ebene der<br />

Kommunen, der Provinzen, der Länder; oder<br />

gar einen großen Anteil, wie einst die Italienische<br />

Kommunistische Partei, die in volkreichen<br />

Regionen und Städten bis zu absoluten<br />

Mehrheiten errang; sie konnte manches Gute<br />

bewirken, aber das System von Ausbeutung<br />

und kapitalistischer Herrschaft abschaffen<br />

konnte sie nicht und löste sich schließlich im<br />

Einheitsbetrieb des bürgerlich-demokratischen<br />

Staats auf. 34<br />

Der Revisionismus ist die permanente Gefahr<br />

des politischen Alltags in nichtrevolutionären<br />

Zeiten. Er ist eine Form des Klassenkampfs<br />

in revolutionären Parteien selbst, die<br />

eine unzweideutige Linie gegen alle Anpassungstendenzen<br />

verteidigen müssen. Keine<br />

kommunistische Partei ist frei davon. Nur die<br />

äußerste Präzision der Theorie als Leitungsinstrument<br />

der Strategie kann das Einsickern<br />

revisionistischer Abweichungen verhindern.<br />

Eine Front des ideologischen Klassenkampfs<br />

ist die innerparteiliche; allerdings kann eine<br />

rücksichtlos geführte Diskussion das theoretische<br />

Niveau der Partei heben und sie zum<br />

Medium von Bewusstseins- und Willensbildung<br />

machen, wenn sie sachbezogen bleibt<br />

und nicht in persönliche Polemiken oder Gegnerschaften<br />

ausartet. Einhelligkeit als Konfliktvermeidungsverfahren<br />

würde das Erfahrungspotential<br />

der Partei nicht ausschöpfen<br />

und die Bereitschaft hemmen, sich mit Entwicklungen<br />

auseinanderzusetzen.<br />

Man muss wohl zwischen einem vorrevolutionären<br />

und einem nachrevolutionären Revisionismus<br />

unterscheiden. Lenin hat richtig<br />

vorhergesehen, dass sich nach einer sozialisti-


74<br />

Hans Heinz Holz: Revolutionäre Theorie für revolutionäre Praxis<br />

schen Revolution, zumal noch in einem ökonomisch<br />

und institutionell rückständigen<br />

(frühkapitalistischen) Lande, der Klassenkampf<br />

verschärfen müsse; Stalin hat diese<br />

Auffassung übernommen. Die Asymmetrie<br />

von Sieg der Revolution und Zunahme des<br />

Klassenkampfs hat zwei leicht einsehbare<br />

Gründe. Die bürgerliche Revolution konnte<br />

sich auf die Herausbildung kapitalistischer<br />

Produktionsverhältnisse in der Endphase des<br />

feudalen Absolutismus stützen und eine bereits<br />

hegemoniale Bourgeoisie als Träger der<br />

neuen Ordnung zur Macht bringen. Einer sozialistischen<br />

Revolution geht die Ausbildung<br />

sozialistischer Produktionsverhältnisse nicht<br />

voraus; sie muss diese erst aufbauen und dabei<br />

mit der Existenz der Bourgeoisie rechnen, die<br />

möglichst lange möglichst wenig Sozialismus<br />

zu akzeptieren bereit ist, wenn sie nicht gar<br />

die revolutionären Veränderungen rückgängig<br />

machen will; andererseits ist die revolutionäre<br />

Klasse auf das technische und administrative<br />

Know-how der Bourgeoisie angewiesen.<br />

Lenin hat auf dieses Dilemma immer wieder<br />

hingewiesen. Aus dieser Situation ergeben<br />

sich Einbruchstellen für die bürgerliche Ideologie<br />

und außerdem das langfristige Überdauern<br />

der bürgerlichen Lebensweise mit ihren<br />

nichtsozialistischen Lebenserwartungen, Ver−<br />

haltensformen, Weltanschauungsgehalten.<br />

Zum zweiten wird aus dem kapitalistischen<br />

Umfeld dieser neuen und zunächst isolierten<br />

sozialistischen Gesellschaft eine dauernde<br />

ideologische Unterwanderung und konterrevolutionäre<br />

Infiltration stattfinden, um wieder<br />

kapitalistische Verhältnisse herzustellen. Und<br />

diese Infiltration wird umso mehr Resonanz<br />

und Stützpunkte in einem sozialistischen<br />

Land finden, je länger und ungestörter die alten<br />

bürgerlichen Elemente noch fortexistieren.<br />

Lenin hat diesen Widerspruch ausdrücklich<br />

als einen Grund für die Ubergangsform<br />

der Diktatur des Proletariats benannt. Die<br />

Entwicklung der Sowjetunion bis hin zum<br />

programmatischen Verrat Gorbatschows hat<br />

die Fortdauer der bürgerlichen Ideologie und<br />

ihren zunehmenden politischen Einfluss bestätigt<br />

und der westlichen Strategie der Aus-<br />

höhlung des Sozialismus Spielraum gegeben. 35<br />

Vorrevolutionär entspringt der Revisionismus<br />

aus der Verzögerung des revolutionären<br />

Umsturzes. Die richtige Strategie, innerkapitalistische<br />

Reformen zum Hebel für die Vorbereitung<br />

revolutionärer Veränderungen zu<br />

machen, schließt eine langfristige Zeitplanung<br />

ein, je stärker noch die Macht des Kapitals<br />

ökonomisch und institutionell ist. Die Schritte<br />

in diesem langfristigen Prozess beginnen sich<br />

zu verselbstständigen, das Ziel zu verblassen.<br />

Das ist der Hintergrund für Eduard Bernsteins<br />

Pragmatismus: „Der Weg ist alles, das<br />

Ziel ist nichts.“ Ideologische Grundlage für<br />

diese in Opportunismus mündende Augenblicksorientierung<br />

war die Umformung revolutionärer<br />

Handlungsorientierung in den<br />

„Standpunkt des Ideals“ 36 – jene neukantianische<br />

Rücknahme der historischen Härte des<br />

Klassenkampfs in eine moralisierende, von<br />

den tatsächlichen Machtstrukturen absehende<br />

Vorstellung, eine „gerechtere Welt“ sei durch<br />

Appell an das Wohlwollen der Herrschenden<br />

und durch Reformen in der Verteilung des<br />

gesellschaftlichen Reichtums möglich. Wenn<br />

statt von den Notwendigkeiten der Produktionsweise<br />

von den Ungleichheiten der Distribution<br />

ausgegangen wird, fällt man zurück<br />

auf den vormarxschen, vorwissenschaftlichen<br />

Sozialismus, auf die Utopie. Die unaufhebbaren<br />

Widersprüche von kapitalistisch erforderlichem<br />

Wachstum auf der Grundlage der privaten<br />

Aneignung des Mehrwerts, also Ausbeutung,<br />

sollen dann in einer funktionalen Wirtschaftsordnung<br />

nach keynesianischem Modell<br />

ausgeglichen werden. So schlägt das sozialistische<br />

„Ideal“ wieder in antisozialistische Praxis<br />

um und erweist sich als Illusion. Die Fortsetzung<br />

kapitalistischer Ausbeutung und Herrschaft<br />

bekommt nur eine neue Maske.<br />

Gegen die Gefahr des Revisionismus – in<br />

beiden historischen Phasen und Formen gibt<br />

es nur eine Gegenwehr: an der revolutionären<br />

Theorie von Marx, Engels und Lenin nicht zu<br />

rütteln. Neue Entwicklungen im Kapitalismus<br />

müssen unter Anwendung der Prinzipien des<br />

Marxismus-Leninismus analysiert und theoretisch<br />

verarbeitet werden. Jedes Zugeständnis


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

an die bestehenden Herrschaftsverhältnisse,<br />

die Interessen der privaten Kapitaleigner und<br />

die Mechanismen kapitalistischer Produktionsverhältnisse<br />

ist eine Bresche, durch die<br />

die konterrevolutionären Tendenzen in die<br />

kommunistische Bewegung eindringen. Der<br />

Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften<br />

in Osteuropa liefert das Anschauungsmaterial<br />

dazu.<br />

Eine revolutionäre Praxis braucht eine<br />

revolutionäre Theorie – eine hoch entwickelte<br />

materialistische Dialektik. Das können wir<br />

von Lenin und seiner philosophischen Lektüre<br />

im Augenblick des Ausbruchs der Weltkrise<br />

lernen. Er hat uns eingeschärft: „Ohne<br />

revolutionäre Theorie kann es auch keine<br />

revolutionäre Bewegung geben.“ 37<br />

1 Berlin 1961 ff., W. I. Lenin, Werke (LW), Band 38, Berlin<br />

1964, S. 77 - 229.<br />

2 Vgl. Hans Heinz Holz, Einheit und Widerspruch. Problemgeschichte<br />

der Dialektik in der Neuzeit, Band III,<br />

Stuttgart und Weimar 1997, S. 361 ff.<br />

3 LW 38, S. 63 - 76.<br />

4 LW 38, S. 231 - 306.<br />

5 LW 38, S. 307 ff.<br />

6 LW 33, S. 219 f.<br />

7 LW 38, S. 180 und 170.<br />

8 Vgl. Stichwort Weltmarkt in Sachregister Marx/Engels<br />

Werke, Köln 1983, mit den entsprechenden Fundstellen.<br />

Siehe z. B. Marx/Engels Werke, (MEW), Berlin 1956 ff.<br />

Band 25: „... die industrielle Produktion, für die die beständige<br />

Erweiterung des Markts Lebensbedingung ist. ...<br />

Der industrielle Kapitalist hat beständig den Weltmarkt<br />

vor sich.“<br />

9 Hegel entwickelt die Geschichtsform des „Kampfs auf<br />

Leben und Tod“ aus deren abstrakter Gestalt des Verhältnisses<br />

von Selbstbewusstsein. Doch ist diese abstrakte<br />

Gestalt die Widerspiegelung der Struktur gesellschaftlicher<br />

Herrschaftsausübung und der in ihr auftretenden<br />

Klassenkämpfe.“ Zu Herr und Knecht als Bewusstseinsform<br />

und als Gesellschaftsverhältnis vgl. Hans Heinz<br />

Holz, Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel. Zur<br />

Interpretation der Klassengesellschaft, Neuwied und<br />

Berlin 1968. – Zum Widerspiegelungschscarakter der<br />

Hegelschen Philosophie: Ders., Einheit und Widerspruch,<br />

a. a. O., Band III, S. 161 ff.<br />

10 LW 22, S. 189 ff. Der Imperialismus als höchstes Stadium<br />

des Kapitalismus –Vgl. auch LW 39, Hefte zum Imperialismus<br />

(aus dem Nachlass).<br />

11 Es ist darum sinnvoll, die alljährliche Gedenkkundgebung<br />

zum Andenken an die ermordeten Rosa Luxemburg und<br />

Karl Liebknecht mit dem Namen Lenins zu verknüpfen zu<br />

den drei großen L.<br />

12 Wenn Kommunisten stets um die Einheit der Arbeiterklasse<br />

ringen, dann tut es gut zu wissen, dass Zustimmung<br />

nicht notwendig aktive Teilnahme am revolutionären Umsturz<br />

bedeutet; dass aber Zustimmung das notwendige<br />

THEMA 75<br />

Medium ist, in dem die Tätigkeit der Aktivisten sich wirkungsvoll<br />

entfalten kann. Vgl. die zahlreichen Zeugnisse<br />

in LW 26 - 28. Vgl.<br />

13 Hans Heinz Holz, Materialismus von Lange zu Lenin, in:<br />

TOPOS Heft 11, 1998, S. 27 ff.<br />

14 Karl Marx, MEW 3. S. 7.<br />

15 Vgl. Hans Heinz Holz, Weltentwurf und Reflexion. Versuch<br />

einer Grundlegung der Dialektik, Stuttgart und Weimar<br />

2005, insbesondere S. 359 ff.<br />

16 Karl Marx, Feuerbachthesen, MEW 3, S. 5.<br />

17 Vgl. die Fundstellen zum Stichwort theoria bei Hermann<br />

Bonitz, Index Aristotelicus, Darmstadt 1955.<br />

18 Hegel prägt die Formel: Identität von Identität und Nicht-<br />

Identität.<br />

19 Vgl. Hans Heinz Holz, Einheit und Widerspruch, Band III,<br />

a. a. O. S. 311 ff.<br />

20 Das ist der Sinn der Widerspiegelungstheorie. Vgl. Hans<br />

Heinz Holz, Widerspiegelung, Bielefeld 2003. – Ders.<br />

Weltentwurf und Reflexion, a. a. O., S. 199 ff.<br />

21 In der Praxis handelt jeder einzelne, aber stets mit dem<br />

Handeln aller anderen einzelnen vermittelt, sodass die<br />

Praxis insgesamt als Tun aller durch das Tun jedes einzelnen<br />

hindurch ist.<br />

22 Es versteht sich: Diese Definition gilt von der Klassenund<br />

Konkurrenz-Gesellschaft. Die Organisationsform der<br />

klassenlosen Gesellschaft wird eine andere sein.<br />

23 Friedrich Engels, Dialektik der Natur, MEW 20, S. 307.<br />

24 Karl Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie.<br />

Einleitung, MEW 1, S. 385.<br />

25 Vgl. Hans Heinz Holz, Sozialismus statt Barbarei, Essen<br />

1999.<br />

26 Hegel setzt die Gleichung: gleich gültig = gleichgültig.<br />

27 Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, LW 13.<br />

28 Jeroen Bartels, Hans Heinz Holz, Jos Lensink, Detlev<br />

Pätzold, Dialektik als offenes System, Köln 1986.<br />

29 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke (Suhrkamp) Band<br />

12, S. 32.<br />

30 Vgl. Bernhard Groethuysen, Philosophie der französischen<br />

Revolution, Neuwied und Berlin 1971. – Werner Krauss/<br />

Hans Mayer (Hrsg.) Grundpositionen der französischen<br />

Aufklärung, Berlin 1955.<br />

31 Spinoza, Ethik, Teil II, Lehrsatz 43, Anmerkung.<br />

32 Bertolt Brecht, Dreigroschenoper.<br />

33 Immanuel Kant, über den Gemeinspruch:Das mag in der<br />

Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Werke<br />

ed. W. Weischedel, Band VI, Darmstadt 1964, S. 125 ff.<br />

34 Dies gilt nicht nur für die aus der Italienischen Kommunistischen<br />

Partei hervorgegangene Partei des demokratischen<br />

Sozialismus, sondern auch die in kommunistischem<br />

Vorzeichen abgespaltene Rifondazione Communista.<br />

35 Gewiss war der Revisionismus nicht der einzige Grund<br />

für den Zerfall der sozialistischen Gesellschaft in der<br />

Sowjetunion; aber er hatte eine zentrale Bedeutung für<br />

das Zusammenwirken der verschiedenen Zerfallsursachen<br />

und -prozesse.<br />

36 Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, 2.<br />

Auflage 1873, Schlusskapitel: Der Standpunkt des Ideals.<br />

Vgl. auch ders., Die Arbeiterfrage, Winterthur 1870.<br />

37 LW 5, S. 379 ( Was tun?).


76<br />

Robert Steigerwald: Die Moskauer Prozesse<br />

„Koba, wozu brauchst<br />

Du meinen Tod?“<br />

Zu den Moskauer Prozessen 1936/38<br />

Robert Steigerwald<br />

Der Antikommunismus wird in den Monaten,<br />

da sich die Moskauer Prozesse von 1936 bis<br />

1938 jähren, äußerlich das Geschehene verurteilend,<br />

innerlich jedoch die Ermordung so<br />

vieler gestandener Revolutionäre genießen.<br />

Manche Kommunisten/Sozialisten beiderlei<br />

Geschlechts sind wütend, wenn auch wir auf<br />

diese Prozesse zu sprechen kommen und meinen,<br />

das sei Defätismus (politische und ideologische<br />

Entwaffnung der eigenen Reihen).<br />

Mit diesem Vorwurf begehen sie gleich eine<br />

ganze Reihe von Fehlern.<br />

1. Defätismus? Man soll Ursache und Wirkung<br />

nicht verwechseln. Die ideologische und<br />

politische Entwaffnung unserer Reihen findet<br />

nicht dadurch statt, dass wir uns mit wirklichem<br />

Geschehen auseinandersetzen. Der Vorwurf<br />

wäre aber berechtigt, wenn diese nötige<br />

Auseinandersetzung in antikommunistischer<br />

Manier stattfände. Natürlich wird der Gegner<br />

mit einem Riesenschwall von Lügen arbeiten.<br />

Das ist so seit Jahr und Tag und wird auch in<br />

der Zukunft so bleiben.<br />

2. Die Tuchatschewski-Affäre (dazu später)<br />

hat die Rote Armee beim Überfall Nazideutschlands<br />

zu furchtbaren Opfern, das Land<br />

fast an den Rand des Zusammenbruchs geführt:<br />

Das war de facto Defätismus!<br />

3. Wer in solchen Fällen schweigt, gibt zu<br />

erkennen, dass er ein schlechtes Gewissen hat.<br />

Übrigens: das müssen wir auch haben. Und<br />

gerade deshalb müssen wir uns zum Thema<br />

äußern.<br />

4. Das Problem, um das es geht, stellt eine<br />

riesige Hürde zwischen uns und jenen vor<br />

allem jungen Menschen dar, die wir für unsere<br />

Sache gewinnen wollen. Wenn wir sie<br />

ansprechen wollen, müssen wir uns dem<br />

Thema stellen, müssen klar sagen, was wir<br />

über das Geschehene wissen, ob wir dafür trif-<br />

tige Gründe oder Verbrechen sehen, ob wir<br />

uns darüber Gedanken machen, wie man solche<br />

Dinge in Zukunft vermeiden kann. Wenn<br />

uns das nicht gelingt, bleiben die Türen zu uns<br />

verschlossen, da können wir noch so viel Positives<br />

über den zunächst unterlegenen Sozialismus<br />

mitteilen. Außerdem haben diese Ereignisse<br />

tiefgreifend und langwierig gewirkt.<br />

Nicht nur in der Sowjetunion, sondern in der<br />

kommunistischen Weltbewegung als Ganzer.<br />

Wir spüren die Nachwirkungen doch noch<br />

<strong>heute</strong>.<br />

Worum geht es?<br />

Um mehrere große Prozesse, die von 1936 bis<br />

1938 in Moskau stattfanden. Betroffen waren<br />

alle noch lebenden bekannten führenden Genossen:<br />

Sinowjew, Kamenew, Bucharin, Rykow,<br />

Pjatakow, Radek, eine Gruppe hoher<br />

militärischer Führer und viele weitere Personen.<br />

Von den 25 Genossen, die zwischen<br />

1919 und 1921 dem Zentralkomitee der Bolschewiki<br />

angehörten, starben nur vier nicht<br />

infolge der Prozesse, von den 32 Mitgliedern<br />

des Politbüros in den <strong>Jahre</strong>n 1919 bis 1932<br />

wurden 17, von den früheren Volkskommissaren<br />

18, von den Botschaftern und Gesandten<br />

16 hingerichtet. Von den ZK-Mitgliedern,<br />

gewählt vom XVII. Parteitag, fielen 70 Prozent<br />

und von seinen 1 966 Delegierten 1 108<br />

den „Maßnahmen“ zum Opfer. 1 Die Liste ist<br />

längst nicht vollständig. Gemäß <strong>heute</strong> zugänglichem<br />

sowjetischen Archiv-Material wurden<br />

damal 681 692 Hinrichtungen vorgenommen. 2<br />

Manche wollen wegen der historischen Zusammenhänge<br />

die Prozesse rechtfertigen: Der<br />

Machtantritt der Nazis in Deutschland hatte<br />

die politischen Gewichte in Mitteleuropa erschüttert.<br />

Thälmanns Wort von 1932: „Wer<br />

Hindenburg wählt, wählt Hitler! Wer Hitler<br />

wählt, wählt den Krieg!“ oder Stalins Worte<br />

auf dem KPdSU-Parteitag von 1934, mit der<br />

Hitler-Partei sei jene Partei in Deutschland an<br />

die Macht gelangt, welche die Kriegserklärung<br />

an die Sowjetunion in der Tasche<br />

habe. Es war völlig klar, dass sich die Sowjetunion<br />

auf diese neue Situation einstellen mus-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

ste. Die Nazis brachen eine Festlegung des<br />

Versailler Vertrags nach der anderen: 1934<br />

Aufhebung der Entmilitarisierung des Rheinlands,<br />

1936 Einführung der allgemeinen Wehrpflicht,<br />

1938 „Anschluss“ Österreichs. Die<br />

Westmächte fielen Hitler nicht in den Arm.<br />

Beim Bürgerkrieg in Spanien hatten sie sich<br />

ebenso „neutral“ verhalten wie bei Mussolinis<br />

Überfall auf Äthiopien. England schloss ein<br />

Abkommen mit Nazideutschland über dessen<br />

Seeaufrüstung. Beim Verrat in München warfen<br />

die Westmächte die Tschechoslowakei<br />

Hitler zum Fraß vor. Stalin musste erkennen,<br />

dass nicht nur Nazideutschland den Krieg<br />

gegen die Sowjetunion plante, sondern dass<br />

die Westmächte in diesem Krieg „Schmiere“<br />

für Hitler stehen würden. Wenn immer mal<br />

wieder über Stalins Paranoia spekuliert wird –<br />

es gab wirklich eine Paranoia: Stalin musste<br />

sich entweder auf diesen Krieg oder auf die<br />

„Zusammenarbeit“ mit Nazideutschland einstellen<br />

– und die Geschichte lief darauf hinaus,<br />

dass er jede der „irrsinnigen“ Varianten<br />

„ausprobieren“ musste (wobei die Westmächte<br />

durch die sowjetische, meinetwegen die<br />

Stalinsche Außenpolitik schließlich doch in<br />

den gemeinsamen Krieg gegen Hitler-Deutschland<br />

gezwungen wurden und Stalin Hitler, wie<br />

es Thälmann vorausgesagt hatte, das Genick<br />

brach).<br />

Angesichts dieser geradezu verrückten<br />

Sachlage musste sich die sowjetische Führung,<br />

und das hieß nun einmal Stalin, darüber Gedanken<br />

machen, wie es um das militärische<br />

Potential, um Ruhe und Frieden im Land<br />

bestellt sei. Zu den historischen Zusammenhängen<br />

gehört auch die wechselvolle Geschichte<br />

des Sowjetlandes selbst. Die war verbunden<br />

mit nicht wenigen Auseinandersetzungen,<br />

hatte auch zur Bildung von Lagern<br />

und Fraktionen geführt. Roy Medwedjew berichtet,<br />

dass es im Zusammenhang mit dem<br />

XVII. Parteitag zu einer geheimen Opposition<br />

gegen Stalin kam, der z. B. Ordshonikidse und<br />

Mikojan angehörten und die die Ersetzung<br />

Stalins durch Kirow erstrebte. 3<br />

Wie also stand es um die innere Stabilität<br />

des Landes, wie würde sie sich im Fall des<br />

POSITIONEN 77<br />

Krieges mit dem hoch gerüsteten deutschen<br />

Imperialismus bewähren? Wenn schon die<br />

Deutschen im ersten Weltkrieg, an zwei Fronten<br />

Krieg führend, der russischen Armee<br />

schwerste Niederlagen zufügten, wie würde es<br />

sein, wenn das Sowjetland sich allein mit<br />

einem solchen Gegner herumschlagen müsste?<br />

Könnte es nicht im Fall von Niederlagen,<br />

von ernsten Prüfungen des Landes, der Armee,<br />

zu Rissen in der Heimat, ja sogar zu Verrat<br />

kommen? Gab es eine „fünfte Kolonne“<br />

(das Wort, eine feindliche Macht im eigenen<br />

Hinterland bezeichnend, war noch nicht<br />

„geboren“) im Sowjetland? Worauf könnte sie<br />

sich stützen?<br />

Es ging um Fragen des Lebens und Überlebens<br />

der Sowjetmacht. Nicht nur Stalin stellte<br />

sich solchen Fragen: „Wir hätten größere<br />

Verluste im Krieg erleiden können – vielleicht<br />

sogar eine Niederlage –, wenn die Führung instabil<br />

gewesen wäre und interne Uneinigkeit<br />

wie Risse in einem Felsen entstanden wäre<br />

…Wären keine brutalen Maßnahmen ergriffen<br />

worden, hätte es die Gefahr einer Spaltung<br />

der Partei gegeben.“ 4 Es gibt sogar im<br />

letzten Brief, den Bucharin aus der Todeszelle<br />

an Stalin schrieb, einen Hinweis darauf, dass<br />

auch ihn diese Frage quälte: „Es existiert<br />

irgendeine große und kühne politische Idee<br />

einer generellen Säuberung a) im Zusammenhang<br />

mit einer Vorkriegszeit, b) im Zusammenhang<br />

mit dem Übergang zur Demokratie.<br />

Diese Säuberung erfasst a) Schuldige, b) Verdächtige<br />

und c) potentiell Verdächtige …Wäre<br />

ich völlig davon überzeugt, dass Du genau<br />

so denkst, so wäre es mir bedeutend leichter<br />

ums Herz.“ 5 (Vor seiner Ermordung bat er um<br />

einen Zettel und einen Bleistift. Beides wurde<br />

ihm gewährt. Er schrieb darauf: „Koba, wozu<br />

brauchst Du meinen Tod?“ Koba, das war einer<br />

der Umgangsnamen Stalins.) 6<br />

Die Frage, wie eine Staats- und Parteiführung<br />

auf Gefahren dieser Art reagiert, kann<br />

nicht am Maßstab des sogenannten normalen<br />

Verhaltens beurteilt werden. Es gab sicher<br />

eine Anzahl von Gründen für die Moskauer<br />

Prozesse, sicherlich Feinde der Partei, des<br />

Staates, auch Stalins persönlich, und es gab


78<br />

Robert Steigerwald: Die Moskauer Prozesse<br />

natürlich auch „Rivalen“ und folglich gab es<br />

auch „persönliche“ Gründe (Abrechungen).<br />

Doch man sagt, die Prozesse hätten dem<br />

Schutz des Landes gedient. Auch in der DKP<br />

gibt es bis <strong>heute</strong> Genossinnen und Genossen,<br />

die die Prozesse mit solchen „Argumenten“<br />

rechtfertigen. Denn es geht ja doch gegen all<br />

unsere ideologischen, politischen und moralischen<br />

Überzeugungen anzunehmen, dass<br />

Kommunisten, Sozialisten, eine sozialistische<br />

Staatsmacht anders handeln könnten als zur<br />

Abwehr größter Gefahren wirklich nötig sein<br />

müsste.<br />

Haben also die Maßnahmen tatsächlich<br />

dem vorgegebenen Zweck gedient? Hat die<br />

faktische Enthauptung der Roten Armee, hat<br />

die im Gefolge der Tuchatschewski-Affäre<br />

erfolgte Vernichtung ihrer militärischen und<br />

politischen Führung bis hinab auf die Ebene<br />

der Bataillone dem Schutz des Landes gedient?<br />

Dies hat doch dazu geführt, dass der<br />

kopflos gemachten Armee beim Beginn des<br />

Naziüberfalls furchtbare Verluste zugefügt,<br />

das Land fast an den Abgrund gestoßen werden<br />

konnte.<br />

Haben die Prozesse Beweise für das Vorhandensein<br />

einer „Fünften Kolonne“ im Land<br />

erbracht? Und wenn es solches Potential gegeben<br />

habe, wie groß es hätte sein können? Zu<br />

fragen ist, wie solches „Beweismaterial“ herausgefunden<br />

wurde, auch zu fragen ist nach<br />

der Verhältnismäßigkeit der durchgeführten<br />

Maßnahmen und angewandten Mittel.<br />

Dazu gibt es Feststellungen eines Mannes,<br />

der es nicht nur wissen musste, sondern selbst<br />

neben Stalin führend an den „Maßnahmen“<br />

beteiligt war. Die Rede ist von Molotow. Im<br />

<strong>Jahre</strong> 1973 sagte er in einem Interview: „Die<br />

Geständnisse“ (der Moskauer Prozesse)<br />

„schienen nicht echt und übertrieben zu sein.<br />

Ich erachte es für unvorstellbar, dass Rykow,<br />

Bucharin und sogar Trotzki den sowjetischen<br />

Fernen Osten, die Ukraine und selbst den<br />

Kaukasus an eine fremde Macht abtreten wollten.<br />

Das schließe ich aus.“ 7 Aber gerade wegen<br />

dieser Vorwürfe wurden Bucharin und Rykow<br />

erschossen! „Es ist tatsächlich sehr traurig, dass<br />

so viele unschuldige Menschen sterben mus-<br />

sten.“ 8 „Ich unterschrieb Listen mit Namen von<br />

Menschen, die aufrechte und engagierte<br />

Bürger gewesen sein könnten.“ 9 Auf den Listen<br />

befanden sich mehrere zehntausend Namen.<br />

Sicher waren das nicht alles unschuldige Menschen.<br />

Er gab auch zu Protokoll, dass im<br />

Zusammenhang mit den Verfolgungen Sippenhaftung<br />

betrieben wurde.<br />

Halten wir fest: Falsche Geständnisse, viele<br />

unschuldige Menschen. Vor dem Hintergrund<br />

solcher Selbstzeugnisse Molotows und anderer<br />

Genossen: Wo ist da die „Fünfte Kolonne“?<br />

Sie existierte in erfolterten „Geständnissen“.<br />

Mehr gab es nicht. Zumal Bucharin<br />

erklärte, seit sieben <strong>Jahre</strong>n keine Meinungsverschiedenheit<br />

mit der Partei, der Parteiführung,<br />

der Parteilinie mehr gehabt zu haben. In<br />

seinem letzten – bereits erwähnten – Brief an<br />

Stalin aus der Todeszelle schrieb er „Ich<br />

schreibe diesen Brief wahrscheinlich als meinen<br />

letzten Brief vor meinem Tode. … Am<br />

Rande des Abgrunds stehend, aus dem es kein<br />

Zurück gibt, gebe ich Dir mein allerletztes<br />

Ehrenwort, dass ich die Verbrechen, die ich<br />

während der Untersuchung zugegeben habe,<br />

nicht begangen habe … In all den letzten <strong>Jahre</strong>n<br />

habe ich mich ehrlich und aufrichtig an die<br />

Parteilinie gehalten …“ 10<br />

Irrsinnigste Geständnisse – nicht nur jene<br />

Bucharins – wären unnötig gewesen, hätte es<br />

in den Prozessen materielle Beweismittel gegeben.<br />

Wenn es um Verschwörungen jenes<br />

Ausmaßes gegangen wäre, bei so vielen Zehntausenden<br />

Betroffenen, hätte man unweigerlich<br />

mehr für die Prozesse zu Händen gehabt<br />

als nur „Geständnisse“ als einzige Prozessmittel.<br />

Aber wie sagte Bucharin im Prozess<br />

dazu? „Geständnisse der Angeklagten sind<br />

nicht verbindlich, Geständnisse der Angeklagten<br />

sind ein mittelalterliches juristisches Prinzip.“<br />

Wie es im Mittelalter zu Geständnissen<br />

kam, war natürlich Bucharin bekannt, sein<br />

Wort war also durchaus als Anspielung auf die<br />

Prozesse zu verstehen. Als er in der Plenartagung<br />

des ZK, die seine Verfolgung betrieb,<br />

erklärte: „In bin nicht Sinowjew und nicht<br />

Kamenew und werde mich nicht selbst bezichtigen“,<br />

fuhr ihm Molotow ins Wort: „Wenn Sie


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

nicht gestehen, dann beweisen Sie damit, dass<br />

Sie ein faschistischer Söldling sind! …. Wenn<br />

wir Sie verhaften, dann werden Sie gestehen!“ 11<br />

Bucharin hat gestanden<br />

Tuchatchewski war der Oberbefehlshaber der<br />

Sowjetarmee, er wurde der Planung eines<br />

militärischen Putsches gegen die Sowjetführung<br />

beschuldigt und deswegen hingerichtet.<br />

Die „Affäre“ wird als gezielte Provokation<br />

entsprechender Stellen im faschistischen<br />

Deutschland dargestellt, die in bestimmten<br />

Kreisen der sowjetischen Sicherheitsorgane<br />

bereitwillig aufgegriffen wurde.<br />

Dennoch: Nehmen wir an, die Putschpläne<br />

hätte es gegeben, so stellen sich folgende Fragen:<br />

Rechtfertigte der Verrat des militärischen<br />

Oberbefehlshabers (der natürlich Mitwisser<br />

und Mistreiter haben muss) das, was der<br />

Hinrichtung Tuchatschewskis und anderer<br />

folgte? Im Ergebnis wurden vernichtet: drei<br />

von fünf Marschällen, 13 von 15 Armeegenerälen,<br />

62 von 85 Korps-Kommandeuren, 110<br />

von 195 Divisions-Kommandeuren, 220 von<br />

406 Brigade-Kommandeuren. Verhaftet wurden<br />

6 000 Offiziere vom Oberst aufwärts, davon<br />

wurden 1 500 hingerichtet. Die Gesamtzahl<br />

der bei dieser Kampagne ermordeten Offiziere<br />

betrug – die Zahlen sind unterschiedlich<br />

– mindestens 20 000. Faktisch wurde dadurch<br />

mittelbar dem Feind geholfen – und das<br />

war Defätismus!<br />

Wie reagierte Hitler auf diese Hinrichtung<br />

einer angeblichen Fünften Kolonne, war er<br />

betroffen über diesen „Verlust“ seines angeblichen<br />

Potentials in der SU? Darüber sprach<br />

Keitel während des Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesses:<br />

„Stalin hat 1937 die erste<br />

Garnitur seiner Offiziere liquidiert.“ Und<br />

„die neue Generation verfügt noch nicht über<br />

die Hirne, die gebraucht werden.“ 12<br />

Es gibt über jeden Zweifel erhabene Zeugen,<br />

Zeugen aus der deutschen kommunistischen<br />

Bewegung. Werner Eberlein berichtet,<br />

sein Vater Hugo, enger Freund Lenins und<br />

Rosa Luxemburgs, Mitbegründer von KPD<br />

und Komintern, sei gefoltert worden. „Man<br />

POSITIONEN 79<br />

habe von ihm ein Geständnis über eine angebliche<br />

Agententätigkeit Wilhelm Piecks“ (!)<br />

„erpressen wollen und ihm bei Verhören<br />

einen Lungenriss zugefügt“. 13 In einem Brief<br />

an das Politbüro der KPD, den er herausschmuggeln<br />

konnte, berichtete Hugo Eberlein,<br />

man habe ihn mit Faustschlägen und<br />

Fußtritten gefoltert, wenn er ohnmächtig<br />

geworden sei, habe man ihm Opium gespritzt,<br />

damit man ihn weiter foltern konnte. Er habe<br />

nicht gestanden. Er wurde erschossen. 14 Weitere<br />

unverdächtige Zeugenaussagen: Bernhard<br />

Koenen (er war in der DDR Erster Sekretär<br />

der Bezirksorganisation Sachsen-Anhalt<br />

der SED) berichtete Wilhelm Pieck von seiner<br />

Folter und konnte führende NKWD-Funktionäre<br />

als Folterer benennen. Genosse Kerff,<br />

früherer preußischer Landtagsabgeordneter,<br />

mit den Merkmalen schwerster Folter aus<br />

dem KZ im Reichstagsbrandprozess vorgeführt,<br />

konnte über Folter in NKWD-Haft<br />

berichten. Die Leitung der Moskauer Parteiorganisation<br />

der KPD konnte über mehr als<br />

zweihundert Fälle willkürlicher Maßnahmen<br />

gegen Genossen berichten. 15<br />

Was hier geschah, konnte nicht mit der Bedrohung<br />

durch Nazideutschland gerechtfertigt<br />

werden. Wir müssen mit aller Deutlichkeit<br />

sagen: Es wurden in durch nichts zu rechtfertigenden<br />

Weise Verbrechen gegen alles verübt,<br />

was für Kommunisten auf der Grundlage ungeschriebener<br />

Gesetze kommunistische Moral<br />

ausmacht.<br />

Wenn man nicht in den Fehler verfallen<br />

will, geschichtliches Geschehen eines solchen<br />

Ausmaßes aus der Psyche eines Einzelnen zu<br />

erklären muss man nach objektiven Bedingungen<br />

fragen, die solche Prozesse möglich<br />

machten.<br />

Die Verhältnisse waren für die <strong>Oktoberrevolution</strong><br />

äußerst ungünstig, doch war sie<br />

nötig, wenn Russland aus dem Völkergemetzel<br />

des Ersten Weltkrieges herausgerissen,<br />

Möglichkeiten geschaffen werden sollten für<br />

den Frieden, für die Übergabe des Bodens an<br />

die Bauern, die ihn bearbeiteten, für die Lösung<br />

der kulturellen und nationalen Probleme<br />

des Vielvölkerstaates. Im Bürgerkrieg und in


80<br />

Robert Steigerwald: Die Moskauer Prozesse<br />

der Intervention mit ihrem Massenelend, der<br />

Hungersnot, dem Ausbluten der ohnehin<br />

nicht sehr starken Arbeiterklasse an den<br />

Fronten – also der entscheidenden Basis der<br />

Revolution – wurde es unvermeidbar, dass die<br />

Partei die Aufgaben der zerrütteten Staatsmacht<br />

übernehmen musste. Nicht breit entfaltete<br />

Demokratie stand auf der Tagesordnung,<br />

sondern eiserne Disziplin und härteste<br />

Zentralisation aller Kräfte des Landes.<br />

Auf solchem Boden können Bedingungen<br />

für Entartungserscheinungen entstehen, aber<br />

sie müssen nicht entstehen. Lenin hatte oft<br />

und keineswegs um geringfügige Dinge ernste<br />

Meinungsverschiedenheiten mit solchen Mitstreitern<br />

wie Bucharin, Kollontai, Kamenew,<br />

Sinowjew, auch Stalin und Ordshonikidse,<br />

nicht zuletzt Trotzki. Es ist Lenin nicht eingefallen,<br />

darin die Potenz für eine „Fünfte<br />

Kolonne„ zu sehen, die man vorsorglich kalt<br />

zu stellen (oder gar umzubringen) habe, er hat<br />

diesen Genossen hohe und höchste Funktionen<br />

in Partei und Staat anvertraut. Unter<br />

solchen Bedingungen spielen Eigenschaften<br />

führender Persönlichkeiten eine durchaus<br />

zentrale Rolle. Lenin hat diese in seinem sogenannten<br />

Testament angeführt. Aber, um kein<br />

Missverständnis aufkommen zu lassen:An der<br />

Herausbildung autoritärer Strukturen, durch<br />

oben erwähnte Bedingungen begünstigt, waren<br />

verschiedene Parteiführer aktiv beteiligt,<br />

keinesfalls nur Stalin. Bucharin war beispielsweise<br />

zunächst dabei sein engster Verbündeter.<br />

Aber auch Kirow und Molotow, Ordshonikidse<br />

und andere hatten ihren Anteil.<br />

Sicher erleichterte das Fehlen einer längeren<br />

demokratischen Tradition diese Vorgänge<br />

und die schon von Lenin gesehene und entschieden<br />

bekämpfte Herausbildung von Bürokratie<br />

(zumal einer solchen mit zaristischem<br />

Hintergrund) bereitet den Boden für die<br />

Mentalität des Gehorchens, die dann auch<br />

durch Privilegien abgesichert werden kann.<br />

Dies hat die schleichende Deformation der<br />

Partei und des Staatsapparates, die Herausbildung<br />

eines autoritären Führungsstils bewirkt.<br />

Das wiederum führt dazu, mögliche „Rivalen“<br />

des Autokraten und deren Anhang auszu-<br />

schalten. Ohne solche Verhältnisse hätte es<br />

die schlimmen Entartungserscheinungen im<br />

Land und die sie begleitenden, die autoritäre<br />

Führung absichernden Prozesse nicht geben<br />

können.<br />

Sicherlich mag es hilfreich sein, wenn wir<br />

darauf aufmerksam machen, dass es die sowjetischen<br />

Kommunisten waren, die aus eigener<br />

Kraft diese schlimmste Seite in der Geschichte<br />

der kommunistischen Bewegung beendet<br />

und jene rehabilitiert haben, denen damals<br />

schwerstes Unrecht widerfahren ist. An<br />

der Art und am Umgang (oder Nicht-Umgang)<br />

der KPdSU mit diesen Problemen wird<br />

harsche Kritik geübt. Die SED hat zum Beispiel<br />

erst Mitte der Achtzigerjahre aus Moskau<br />

Listen bekommen mit Namen von Genossinnen<br />

und Genossen, von denen man bis<br />

dahin geglaubt hatte, sie seien während des<br />

Krieges, in der Illegalität usw. ums Leben<br />

gekommen, in Wahrheit aber waren sie Opfer<br />

des Terrors. 16<br />

Bei dieser Kritik muss aber auch berücksichtigt<br />

werden, wie die konkreten Bedingungen<br />

damals in der KPdSU waren, welche vielfältigen<br />

Hindernisse einer wirklichen „Aufarbeitung“<br />

des Geschehens im Wege standen.<br />

Viele Materialien waren nicht bekannt. Mancher<br />

Betroffene, manche Betroffene war nicht<br />

fähig, über das zu sprechen, was ihnen widerfahren<br />

ist. Es gab nicht wenige Kommunistinnen<br />

und Kommunisten, die schon mit jenen<br />

unzureichenden Bekanntmachungen damals<br />

schwerste Probleme hatten – und es gab auch<br />

ernsten Widerstand von Stalin-Anhängern,<br />

die nicht bereit oder fähig waren anzuerkennen,<br />

dass es sich bei dem „Enthüllten“ um<br />

wirkliche Verbrechen gehandelt hat. Das<br />

muss gegen alle jene festgehalten werden, die<br />

immer noch das damalige Geschehen entschuldigen,<br />

rechtfertigen, bestreiten wollen.<br />

Übrigens habe ich diese Haltung nur bei solchen<br />

Genossinnen und Genossen angetroffen,<br />

die selbst nicht in die Mühle geraten waren,<br />

von den selbst Betroffenen hat keiner nach<br />

Rechtfertigungsgründen für den Terror gesucht,<br />

höchstens haben sie zum Thema geschwiegen.


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Auch ich habe mir lange nicht vorstellen<br />

wollen oder können, dass Sozialisten, Kommunisten<br />

zu derlei Taten fähig sein würden,<br />

habe sie sogar zu rechtfertigen gesucht und<br />

mich dabei ausgerechnet an den Materialien<br />

jener orientiert, welche die „Geständnisse“<br />

zusammengebracht haben – als Beispiel sei<br />

ein ganz schlimmes Buch genannt, es hieß<br />

„Die große Verschwörung“ und erweckte den<br />

Eindruck, als sei die <strong>Oktoberrevolution</strong> und<br />

die folgende Geschichte des Landes, von den<br />

Personen Lenins und Stalins abgesehen, das<br />

Werk einer riesigen Verbrecherbande gewesen.<br />

Erst nachdem ich Genossinnen und Genossen<br />

kennen gelernt habe, die dem Terror<br />

entkommen konnten, Kommunisten geblieben<br />

sind, oft in herausragenden Positionen in<br />

der Partei- oder Staatsführung (etwa als<br />

Sekretäre des ZK der illegalen KPD) wichtige<br />

Funktionen innehatten, begann ich zu lernen<br />

und ich kann nicht vergessen, wenn mir<br />

Genossen, deren Totenrede ich gehalten habe,<br />

kurz vor ihrem Tod sagten: Sie schämten sich,<br />

über das zu reden, was ihnen widerfahren sei.<br />

Zwei der drei kommunistischen Lagerältesten<br />

des KZ Buchenwald seien nicht dort, sondern<br />

in Workuta umgekommen. 17<br />

Einige Bemerkungen zu den nötigen Lehren.Wir<br />

müssen uns gründlich damit befassen,<br />

was solche Exzesse ermöglichte, welche Sicherungen<br />

dagegen möglich sein könnten. Und<br />

da kommen wir nicht an der Frage vorbei, wie<br />

es um die Sowjetmacht bestellt war und wie es<br />

um den Aufbau einer künftigen sozialistischen<br />

Staatsmacht bestellt sein könnte. Es geht also<br />

um ernste Lehren aus unserer Geschichte.<br />

Meines Erachtens muss die Konzeption<br />

aufgegeben werden, wie sie den Räten zugrunde<br />

lag, dass im Sowjet die Einheit der Gewalten<br />

besteht, dass gesetzgebende, vollziehende<br />

und juridische Gewalt sich in der Hand<br />

des gleichen Kollektivs (im Falle Stalins sogar<br />

der einer einzelnen Person!) befinden. Im<br />

Falle einer autoritären Staatsstruktur ist da<br />

die Willkürherrschaft „normal“.<br />

Es geht um die strikte Einhaltung sozialistischer<br />

Gesetze, um die Einrichtung entsprechender<br />

Kontrollsysteme (möglicherweise<br />

POSITIONEN 81<br />

durch ein der sozialistischen Verfassung verpflichtetes<br />

Verfassungsgericht, durch eine Verwaltungsgerichtsbarkeit<br />

– sodass den Einzelnen<br />

und Kollektiven das Recht eingeräumt<br />

wird, juristische und politische Entscheidungen<br />

überprüfen zu lassen). Das läuft auf die<br />

Trennung der Gewalten, der legislativen, exekutiven<br />

und juristischen Gewalt eines sozialistischen<br />

Staates hinaus.<br />

Es ist auch zu bedenken, dass ein neuer<br />

Anlauf zum Sozialismus bei uns nur möglich<br />

sein dürfte, wenn breiteste Massen des Volkes<br />

diesen Anlauf bewirken, und eine solche<br />

Volksbewegung wird durchaus nicht homogen<br />

in sozialer, politischer und weltanschaulicher<br />

Hinsicht sein. Das aber hätte Konsequenzen<br />

für eine sich aus solch einer Bewegung ergebende<br />

Staatsmacht. Es sind Koalitionsregierungen<br />

und politisch-parlamentarische Fraktionen<br />

möglich, das also wäre der Staatstyp<br />

der demokratischen Republik, ganz so, wie<br />

ihn der späte Engels einmal meinte. Es müssen<br />

auch Konsequenzen hinsichtlich des Charakters<br />

der Partei, der Rolle und Bedeutung<br />

der Gewerkschaften und anderer gesellschaftlicher<br />

Institutionen gezogen werden.<br />

Im neuen Programm der DKP wird versucht,<br />

unsere Vorstellungen zu entwickeln,<br />

wobei wir wissen, dass sich die Realität, gerade<br />

auch in der Zukunft, nicht allein gemäß<br />

unserer Wünsche und Vorstellungen verhalten<br />

wird.<br />

An der Tatsache der genannten Verbrechen<br />

kann nicht gezweifelt werden, auch nicht<br />

daran, dass letztlich die Verantwortung dafür<br />

bei Stalin lag. Aber aus der gleichen Logik<br />

folgt auch die Verantwortung für das, was<br />

unter seiner Führung an weltgeschichtlich<br />

Bedeutendem stattfand! Stalin gehört mit diesem<br />

grässlichen Widerspruch nun einmal zu<br />

den weltgeschichtlich bedeutenden Persönlichkeiten,<br />

und mit Widersprüchen solcher Art<br />

sind so ziemlich alle großen Persönlichkeiten<br />

der Geschichte behaftet, ja man kann sie<br />

eigentlich nur in dieser Widersprüchlichkeit<br />

verstehen – sofern sie fortschrittlich gewirkt<br />

haben. Sicher stellt sich die Frage, wie solche<br />

Widersprüche „aufzuheben“ seien. Ich denke,


82<br />

Robert Steigerwald: Die Moskauer Prozesse<br />

der Historiker Isaac Deutscher hat dies im<br />

Falle Stalins versucht und bewältigt:<br />

„Das Volk, dessen Führung Stalin übernahm,<br />

konnte man – abgesehen von einer<br />

kleinen Gruppe Gebildeter und von fortschrittlichen<br />

Arbeitern – mit Recht als eine<br />

Nation von Wilden bezeichnen. Damit soll<br />

nichts über den russischen Volkscharakter<br />

gesagt werden. Russlands Rückständigkeit,<br />

sein asiatischer Zug, waren nicht die Schuld,<br />

sondern die Tragödie des Landes. Stalin unternahm<br />

es, um einen berühmten Ausspruch zu<br />

zitieren, die Barbarei mit barbarischen Mitteln<br />

auszutreiben. Aber gerade durch die Art<br />

der angewandten Methode kehrte wieder vieles<br />

ins russische Leben zurück, was man als<br />

Barbarei hinausgeworfen zu haben glaubte.<br />

Trotzdem hat die Nation auf fast allen Gebieten<br />

ihrer Existenz Fortschritte erzielt. Ihre<br />

Produktionskapazität, die im <strong>Jahre</strong> 1930 noch<br />

nicht einmal an die eines europäischen Mittelstaats<br />

heranreichte, wurde so rasch und umfassend<br />

erweitert, dass Russland <strong>heute</strong> (1948)<br />

die erste Wirtschaftsmacht Europas und die<br />

zweite in der Welt ist. In wenig mehr als einem<br />

Jahrzehnt verdoppelte sich die Zahl der russischen<br />

großen und mittleren Städte. Die<br />

Stadtbevölkerung stieg um dreißig Millionen.<br />

Die Zahl der Bildungsstätten aller Arten und<br />

Grade vervielfachte sich in eindrucksvoller<br />

Weise. Ganz Russland wurde in die Schule<br />

geschickt.“ Deutscher geht auf die Kulturpolitik<br />

Stalins ein, beschönigt die repressiven<br />

Maßnahmen nicht, verweist aber auf die<br />

gewaltigen Anstrengungen, um das Kulturerbe<br />

der Vergangenheit der jungen Generation<br />

zu vermachen. Und schreibt dann weiter:<br />

Man könne solcher Gründe wegen „Stalin<br />

nicht mit Hitler zu den Tyrannen zählen, in<br />

denen man später nur noch eine absolute<br />

Wertlosigkeit und Nutzlosigkeit sieht. Hitler<br />

war der Führer und zugleich Ausbeuter einer<br />

sterilen Gegenrevolution, während Stalin der<br />

Führer und zugleich Ausbeuter einer tragischen,<br />

widerspruchsvollen und schöpferischen<br />

Revolution war. Wie Cromwell und Robespierre<br />

und Napoleon begann Stalin seine<br />

Laufbahn als Diener eines aufständischen<br />

Volkes, zu dessen Herrn er sich dann machte.<br />

Wie Cromwell verkörperte Stalin die Kontinuität<br />

der Revolution durch all ihre Phasen<br />

und Metamorphosen, obwohl seine Rolle<br />

zunächst weniger bedeutend war als die<br />

Cromwells. Wie Robespierre hat er seine eigene<br />

Partei verbluten lassen. Wie Napoleon<br />

baute er ein halb revolutionäres, halb konservatives<br />

Imperium auf und trug die Revolution<br />

über die Grenzen seines eigenen Landes hinaus.<br />

Das Gute an Stalins Werk wird seinen<br />

Schöpfer ebenso sicher überdauern wie dies<br />

bei Cromwell und Napoleon der Fall war.<br />

Aber um es für die Zukunft zu erhalten und<br />

zu seinem vollen Wert zu entfalten, wird die<br />

Geschichte das Werk Stalins vielleicht noch<br />

genauso streng läutern und formen müssen<br />

wie sie einst das Werk der britischen Revolution<br />

nach Cromwell und das Werk der<br />

französischen Revolution nach Napoleon<br />

gereinigt und neu geformt hatte.“ (Isaac Deutscher,<br />

Stalin. Eine politische Biographie. Argon<br />

Verlag Berlin 1967, S. 717 ff.) Ich weiß, dies<br />

alles zu verstehen ist nicht leicht – aber die<br />

Geschichte ist nun einmal nicht, wie Hegel<br />

schrieb, der Ort des Glücks.<br />

1 Nikita S. Chrustschow, Über den Personenkult und seine<br />

Folgen, Bericht an den XX. Parteitag der KPdSU, in:<br />

Günter Judick/Kurt Steinhaus, Hrsg. „Stalin bewältigen.<br />

Dokumente und Aufsätze“, Edition Marxistische Blätter,<br />

1989, S. 123 ff.<br />

2 Diese Zahl entspricht auch ungefähr den Angaben, die<br />

Roy Medwedjew in „Moscow News“ am 1. Januar 1989<br />

machte, dort S. 11 und 12.<br />

2 Roy Medwedjew, Das Urteil der Geschichte, Dietz Verlag<br />

Berlin 1992, Band 2, S. 12.<br />

3 Chuev, Felix, Molotow, Remembers: Inside Kremlin Politics:<br />

Conversations with Felix Chuev, Chikago: I. R. Dee,<br />

1993, S. 256 f.<br />

4 Ein unbekannter Brief Nikolai Bucharins an Josef Stalin<br />

(geschrieben am 10. Dezember 1937), in russischer<br />

Sprache zum erstenmal veröffentlicht in: Istoschnik.<br />

Dokumenty russkoi istorii, Heft 1, 1993. übersetzt von<br />

Wladislaw Hedeler/Ruth Stoljarowa.<br />

5 ebenda und Roy Medwedjew, Das Urteil der Geschichte,<br />

Dietz Verlag Berlin 1992, Band 2, S. 61.<br />

6 Chuev,, S. 278.<br />

7 ebenda, S. 264.<br />

8 ebenda, S. 297.<br />

9 ebenda, S. 277 f.<br />

10 Roy Medwedjew, Das Urteil der Geschichte, Dietz Verlag<br />

Berlin 1992, Band 2, S. 48.<br />

11 Kratkaja istorija Welikoi Otetschestwennoi woiny, Moskau<br />

1965. S. 39 f.


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

12 A. J. Poltorak, Njurnbergski epilog, Moskau 1965, S, 324 f.<br />

13 Werner Eberlein, „Geboren am 9. November”. Das Neue<br />

Berlin 2002, S. 72.<br />

14 ebenda, S. 74.<br />

15 Zu Koenen, Kerff usw. siehe: Herbert Wehner: Zeugnis,<br />

Köln 1982, S. 213.<br />

16 Mitteilung Kurt Hagers, bezeugt von Nina Hager.<br />

17 Mitteilung Emil Carlebachs.<br />

Schostakowitsch und<br />

die Delegitimierung<br />

sozialistischer Kunst<br />

Eine Nachlese zum<br />

Schostakowitsch-Jahr<br />

Thomas Metscher<br />

1. Mechanismen einer<br />

ideologischen Rezeption<br />

Der künstlerische Rang Schostakowitschs,<br />

dies hat das vergangene Jahr eindrucksvoll<br />

demonstriert, kann <strong>heute</strong> als durchgesetzt gelten.<br />

Er wird weltweit gespielt und gehört und<br />

ist, noch vor seinem Landsmann Prokofjew,<br />

bei Publikum und Fachwelt als einer der<br />

ersten Komponisten der musikalischen Moderne<br />

anerkannt. Kein anderer sowjetischer<br />

Künstler genießt <strong>heute</strong> auch nur annähernd<br />

eine solche weltweite Hochschätzung bei<br />

Kennern und interessierten Laien zugleich.<br />

Mit Recht wurde im letzten Jahr nicht nur<br />

Mozarts gedacht, es wurde mit und neben diesem<br />

auch an Schostakowitsch erinnert, und so<br />

schief es ist, letzteren gegen Mozart auszuspielen,<br />

1 so bewegt er sich, bei aller historischen<br />

Differenz, doch auf einem analogen<br />

POSITIONEN 83<br />

Niveau des ästhetischen Ranges – nicht zuletzt<br />

auch durch die Meisterschaft in allen<br />

Formen der Musik. 2 Beider Werke sind für<br />

jeweils ihre Zeit Jahrhundertwerke, und sie<br />

sind Menschheitswerke zugleich.<br />

Damit freilich stellt sich für den Umgang<br />

mit Schostakowitsch im Rahmen und vom<br />

Standpunkt der in unserer Gesellschaft herrschenden<br />

und sie beherrschenden Kunstideologie<br />

ein Problem von nicht geringem Gewicht.<br />

Sozialistische Kunst von höchster ästhetischer<br />

Qualität, zumal im „realen Sozialismus“<br />

entstandene, ist ein Ding, das nicht sein<br />

kann. In der ideologischen Matrix der gegenwärtigen<br />

Welt ist so etwas nicht vorgesehen,<br />

und wenn es vorkommt, ist es aus der Welt zu<br />

schaffen. Der Sachverhalt ist durch viele<br />

Beispiele belegt, der Fall Brechts ist der in<br />

Deutschland bekannteste. 3 Wird dieser als großer<br />

Künstler akzeptiert, so wird bestritten,<br />

dass er Kommunist war, wird sein Kommunismus<br />

zugestanden, so wird er als Künstler dequalifiziert.<br />

Eine dritte Variante besteht darin,<br />

ihn moralisch zu denunzieren. Die sicherste<br />

Variante freilich ist die des Totschweigens und<br />

Vergessens, doch kann sie nur in weniger prominenten<br />

Fällen zum Einsatz kommen. Das ist<br />

der Mechanismus mit seinen Variablen. Bei<br />

Schostakowitsch kommt verschärfend hinzu,<br />

dass er, anders als Brecht, Eisler, Picasso,<br />

Neruda, Hikmet und andere aus der „westlichen“<br />

Welt stammende Kommunisten, Produkt<br />

einer real existenten sozialistischen<br />

Gesellschaft ist, sich selbst, nach eigener, oft<br />

geäußerter Bekundung, als „sowjetischer Bürger-Komponist“<br />

(Christopher Norris) verstand,<br />

sich, bei allen Schwierigkeiten mit der<br />

Stalinschen Kulturbürokratie, zu den Prinzipien<br />

und Idealen der sowjetischen Gesellschaft<br />

bekannte, von ihr mit höchsten Auszeichnungen<br />

und Würden bedacht wurde 4,<br />

größte Popularität und Anerkennung genoß,<br />

selbst Mitglied der Kommunistischen Partei<br />

war. Zudem sprechen seine Werke, seine<br />

Hauptwerke zumal, eine so deutliche Sprache<br />

in ihrer Stellungnahme gegen Krieg und<br />

Faschismus, gegen Rassenwahn und Antisemitismus,<br />

gegen die Unterdrückung der Frau, für


84<br />

Thomas Metscher: Nachlese zum Schostakowitsch-Jahr<br />

eine Welt realer Gleichheit und Freiheit, der<br />

sozialen Gerechtigkeit und des Friedens, der<br />

Sehnsucht und Suche nach menschlichem<br />

Glück, dass seiner Anerkennung als Komponist<br />

eines marxistischen Humanismus, den<br />

Prinzipien und Idealen des Kommunismus auf<br />

das Selbstverständlichste verbunden, der<br />

Sache nach nichts im Wege stehen dürfte. Und<br />

in der Tat gibt es eine Schostakowitsch-<br />

Rezeption, die diesem Sachverhalt entspricht.<br />

So wurde die Leningrader Symphonie bei<br />

ihrem Erscheinen und noch lange Zeit danach<br />

weithin als eindeutig antifaschistisches Werk<br />

rezipiert, als „Symphonie der Wut und des<br />

Kampfes“. Schostakowitsch, so hieß es, spräche<br />

nicht nur im Namen der Menschen der<br />

Sowjetunion, sondern im Namen der ganzen<br />

Menschheit. 5 In einer Schostakowitsch-Sendung<br />

des Bayerischen Rundfunks wird ein<br />

Amerikaner zitiert (er bleibt leider anonym),<br />

der inmitten des Kalten Krieges gesagt habe,<br />

„mit einem Land, in dem solche Musik komponiert<br />

wird, darf man keinen Krieg führen“. 6<br />

Noch im Todesjahr des Komponisten, 1975,<br />

würdigt ihn die britische Times auf ihrer<br />

Titelseite als „committed believer in communism<br />

and Soviet power“, 7 wie auch in zahlreichen<br />

älteren Kommentaren sozialistischer<br />

Humanismus und Antifaschismus als politischweltanschauliche<br />

Grundorientierungen seines<br />

Werks in der Regel nicht bestritten werden.<br />

Diese Rezeption freilich steht in Konflikt<br />

mit dem antikommunistischen Auftrag der<br />

<strong>heute</strong> herrschenden Kulturideologie. 8 Das<br />

Schostakowitsch-Jahr nun hat in aller Krassheit<br />

demonstriert, dass dieser mit dem Ende<br />

der Sowjetunion keineswegs suspendiert, sondern<br />

in voller Potenz in Aktion ist. Dabei gibt<br />

es im Fall Schostakowitschs freilich besondere<br />

Schwierigkeiten. Angesichts des formalen<br />

Ranges dieses Werks wie der Tatsache seiner<br />

weiten Akzeptanz ist der Weg einer ästhetischen<br />

Abwertung verstellt. Gleichfalls verstellt<br />

ist, angesichts der hohen Integrität der<br />

Person und Lebensführung, jeder Versuch<br />

einer moralischen Denunziation (die bei<br />

Brecht zumindest partiell funktionierte). Im<br />

Fall Schostakowitschs bleibt nur ein Weg<br />

übrig, das Ärgernis eines sozialistischen Künstlers<br />

von Weltrang aus der Welt zu schaffen,<br />

und das ist der „Nachweis“, dass dieser im<br />

Grunde gar kein Marxist, sondern ein geheimer<br />

Dissident und Antikommunist war, mit<br />

sehnsuchtsvollem Blick in den freien Westen.<br />

Wohlgemerkt: es geht nicht darum, dass bestimmte<br />

Akzente vorsichtig umgesetzt werden.<br />

Es handelt sich hier um eine groß angelegte<br />

Kampagne trügerischer Verfälschung<br />

von Leben, Lebensauffassung und Werkbedeutung,<br />

die dieser Form und in diesem Umfang<br />

wohl einmalig ist. Dies sei im Folgenden<br />

demonstriert.<br />

Symptomatisch für die vollzogene Rezeptionswende<br />

ist die am 28.09.2006 ausgestrahlte<br />

Sendung von Bayern 4 Klassik mit dem programmatischen<br />

Titel „Sozialistischer Staatskomponist<br />

und geheimer Regimekritiker: der<br />

Komponist Dimitri Schostakowitsch“. Der<br />

Sender, das sei ausdrücklich vermerkt, hat in<br />

der Regel ein sehr hohes Niveau. Diese<br />

Sendung jedoch ist ein Beispiel kruder Vulgärjournalistik<br />

– anders kann man diese<br />

Mischung von scheinwissenschaftlicher Trivialität,<br />

primitivstem Antikommunismus und<br />

frechster Sinnverdrehung nicht nennen. Ich<br />

übertreibe? Man höre. Sätze vom Typus: „das<br />

wichtigste Schaffensmotiv Schostakowitschs“<br />

bei der Produktion der Lady Macbeth von<br />

Mzensk war „die schreckliche Erkenntnis, dass<br />

der Mensch zu allem fähig ist“(10) 9 , „es gelang<br />

dem Komponisten auch unabhängig von den<br />

ideologischen, politischen und nationalen<br />

Faktoren etwas besonders Wichtiges und Menschliches<br />

zum Ausdruck zu bringen“ (4) ersetzen<br />

jeden Ansatz sinnvoller Kommentierung<br />

oder kritischer Analyse. Der Text ist voll davon.<br />

Das von ihm präsentierte Bild der<br />

Sowjetunion scheint von den finstersten Stücken<br />

des Archipel Gulag inspiriert. Die Stalinzeit<br />

ist ein einziges Inferno, wo Menschen „wegen<br />

eines unvorsichtigen Wortes, wegen eines<br />

Witzes oder nur aufgrund einer anonymen<br />

Denunziation verschwanden“, Schostakowitsch<br />

selbst ein Verfolgter. „Nacht für Nacht<br />

legte sich Schostakowitsch voll angezogen zum<br />

Schlafen, ein fertig gepacktes Köfferchen mit


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

allem Notwendigen stand bereit neben dem<br />

Bett. Stalins Schwarze Emissäre kamen immer<br />

in der Nacht.“ (13) Die Mythisierung Stalins<br />

und seiner Herrschaft tritt an den Platz der<br />

rationalen historischen Argumentation. Elementarste<br />

Kriterien von Wissenschaftlichkeit<br />

gehen dabei ohne jeden Skrupel über Bord. So<br />

heißt es zu Stalins Nationalitätenpolitik (die<br />

sicher eine von dessen Stärken war), dieser<br />

hätte „gnadenlos“ „die russischen Juden“ und<br />

die „nationalen Minderheiten“ (23) verfolgt..<br />

Stalin ist eben von Kopf bis Fuss Dämon: die<br />

Verkörperung einer „gemeinen, prinzipienlosen<br />

Macht, die ungeachtet aller Titel und<br />

Preise dich wie ein Tier von einem Moment<br />

zum anderen in den Kot treten und vernichten<br />

konnte“(28). Die Äußerungen zum politischgeschichtlichen<br />

Sinn der Werke Schostakowitschs<br />

haben den Charakter dummdreister<br />

Verdrehungen. Verdreht wird vor allem seine<br />

Einstellung zur Revolution, wie auch sein Eintritt<br />

in die Kommunistische Partei als „erzwungen“<br />

bezeichnet wird. Der frühe „Trauermarsch<br />

an die Opfer der Revolution“, den der<br />

Elfjährige komponierte, meine nicht die Opfer<br />

auf der Seite der Revolutionäre, sondern den<br />

bestialischen Mord „‚revolutionär‘ gestimmter<br />

Matrosen“ an zwei Mitgliedern der Provisorischen<br />

Regierung in einem Krankenhaus. (4)<br />

Zu deutsch: von Beginn an stand Schostakowitsch<br />

gegen die Revolution. Die ihr gewidmeten<br />

Werke, darunter immerhin mehrere<br />

Symphonien, wurden ihm wider Willen abgepresst,<br />

ja in der 11. Symphonie, „einem ernsten,<br />

tiefen Werk“, kämen „seine Gedanken<br />

über das Unheil jeder Revolution zum Tragen“<br />

(22) (die Symphonie behandelt die Revolution<br />

von 1<strong>90</strong>5). Die 13. Symphonie – „Babij Jar“:<br />

der Name einer Schlucht, in der 1941 34 000<br />

Juden von deutschen Truppen ermordet wurden<br />

– behandle gar nicht den faschistischen<br />

Mord an Juden, sondern den „russischen<br />

Antisemitismus“ (25) wobei auch Jewtuschenko,<br />

auf dessen Texte die Symphonie komponiert<br />

ist, unter der Hand zum „Protestlyriker“<br />

mutiert. Fazit der hier erzählten Geschichte:<br />

zwar wurde Schostakowitsch „zum Ende seines<br />

Lebens (...) wie kein anderer Künstler von<br />

POSITIONEN 85<br />

der Sowjetmacht ausgezeichnet“, doch „war er<br />

während seines ganzen Lebens von der<br />

Sowjetmacht gehetzt, verfolgt und unter<br />

Druck gesetzt worden“. Er war Opfer der<br />

Sowjetmacht und ihr geheimer Opponent.<br />

Nicht Hitler und der Faschismus waren seine<br />

Hauptgegner, sondern Stalin und die sowjetische<br />

Gesellschaft. Sie verkörpern das Böse. Sie<br />

sind gemeint, wenn die Sendung mythisierend<br />

mit den Worten schließt: Er war „der glükklichste<br />

Mensch – weil er das Ungeheuer besiegt<br />

hatte. (...) Alle Phasen der düsteren<br />

sowjetischen Epoche wurden von Schostakowitsch<br />

intensiv durchlebt. (...) Und seine<br />

Musik ist seine größte Heldentat, vollbracht<br />

im Namen der Würde des Menschen, die er<br />

durch alle diese schrecklichen und tragischen<br />

Zeiten bewahren konnte.(29)“ Die „schrecklichen<br />

und tragischen Zeiten“ – das ist die Zeit<br />

der ersten sozialistischen Gesellschaft.<br />

So simpel dieser Text gestrickt ist, für die<br />

gegenwärtige Schostakowitsch-Rezeption in<br />

Deutschland ist er durchaus symptomatisch.<br />

Er konzentriert in krudester Form, was sich<br />

dem Inhalt nach allerorten findet, auch in<br />

intellektuell anspruchsvollen Kontexten. Der<br />

hier erzeugte Trug wirkt in Konzertprogramme,<br />

Begleithefte musikalischer Einspielungen,<br />

selbst in die seriöse Forschung und anspruchsvolle<br />

Musikkritik hinein. So kommentiert das<br />

Begleitheft zur Einspielung der 7. Symphonie<br />

durch das London Philharmonic Orchestra<br />

unter Bernhard Haitink, die Quelle der<br />

Inspiration dieses Werks sei keineswegs die<br />

Belagerung Leningrads, sondern die „Lektüre<br />

der Psalmen Davids, insbesonders jene, die<br />

von Rache und Vergeltung handeln“, ihr Sinn<br />

stehe also nicht im Einklang mit der Ideologie<br />

der „politischen Herren und Meister“. Die<br />

gleiche Tendenz, wenn auch in subtilerer<br />

Gestalt, findet sich im Feuilleton der führenden<br />

deutschen Tageszeitungen, so in der<br />

Frankfurter Allgemeinen und der Süddeutschen<br />

Zeitung. 10 Ein Paradebeispiel ideologischer<br />

Rezeption bildet die autoritative Schostakowitsch-Monographie<br />

Krzystof Meyers.<br />

Man höre, was der gelehrte Autor zu den aus<br />

der Erfahrung des Kriegs hervorgegangenen


86<br />

Thomas Metscher: Nachlese zum Schostakowitsch-Jahr<br />

Symphonien zu sagen hat: „In Zeiten, in denen<br />

die Menschenwürde mit Füssen getreten<br />

wurde und die Kriegstragödie das Land überflutete,<br />

stellten Schostakowitschs Symphonien<br />

ein Symbol der Wahrheit und des unabhängigen<br />

Denkens. Der Komponist wurde (...)<br />

zum Gewissen der Nation, die in der Hölle des<br />

Stalinismus lebte.“ Seine Musik drücke „den<br />

Kampf des Guten mit dem Bösen aus“. 11 Hier<br />

wird Wissenschaft zur unfreiwilligen Selbstparodie.Wer<br />

die Geschichte nicht kennt, würde<br />

meinen, Stalin habe die Sowjetunion überfallen,<br />

die Hölle des faschistischen Kriegs wird<br />

zur Hölle des Stalinschen Systems. Es ist schon<br />

außerordentlich, was ideologischer Wahn aus<br />

einem angesehenen und auf anderer Ebene<br />

durchaus seriösen Wissenschaftler machen<br />

kann. 12 An die Stelle wissenschaftlicher Analyse,<br />

in der durchaus auch die Parteilichkeit<br />

eines Wissenschaftlers, auch die bürgerliche<br />

Parteilichkeit ihren Ort hat, tritt der Komplex<br />

ideologischen Scheins, innerhalb dessen alles<br />

erlaubt ist: Lüge, Trug, Verdrehung der Fakten<br />

(„Ideologie“ hier verstanden als von Vorurteilen<br />

geprägtes, Wirklichkeit entstellendes<br />

Bewusstsein). Die Macht dieses Scheins wirkt<br />

noch in die linke Schostakowitsch-Rezeption<br />

hinein. So wird auch in dem Beitrag von Rainer<br />

Balcerowiak zum 100. Geburtstag des<br />

Komponisten in der jungen welt vom 25.<br />

September 2006 die Auseinandersetzung mit<br />

Stalin in den Mittelpunkt von Schostakowitschs<br />

Leben und Schaffen gestellt - als<br />

Hauptproblem, das alle anderen Probleme<br />

überschattet. Und in einem Beitrag in der gleichen<br />

Zeitschrift vom 24. Oktober 2006 schreibt<br />

der gleiche Autor zur 13. Symphonie, dass<br />

deren erster Satz („Babij Jar“) „sich mit dem<br />

Antisemitismus der russischen Gesellschaft“<br />

auseinandersetze, der zweite („Der Witz“)<br />

„eine Abrechnung mit der stalinistischen<br />

Kulturpolitik“ sei, eine Deutung, die Text und<br />

Musik eklatant verfehlt. Gerade hier scheint<br />

das Vorurteil besonders zählebig zu sein. Noch<br />

in den im ganzen soliden und in der Sache richtigen<br />

Beiträgen Jürgen Meiers in UTOPIEkreativ<br />

und UZ findet sich diese Fehldeutung. 13<br />

Dabei sind in diesem Rezeptionskomplex<br />

zwei Varianten zu unterscheiden, eine stärkere<br />

und eine schwächere. Die stärkere leugnet<br />

jeden positiven Bezug Schostakowitschs zu<br />

Sozialismus und gesellschaftlichem System in<br />

der Sowjetunion, gibt die entsprechenden, im<br />

Grunde eindeutigen Aussagen des Komponisten<br />

als bloße Taktik, Opportunismus oder<br />

Camouflage aus, die schwächere stellt zwar<br />

nicht in Abrede, dass dieser „irgendwie“ der<br />

Idee des Sozialismus anhing, verschiebt aber<br />

den Schwerpunkt seines Werks auf die Auseinandersetzung<br />

mit Stalin und seiner Herrschaft.<br />

Plötzlich ist nicht mehr Hitler der<br />

Hauptfeind der zivilisierten Menschheit, an<br />

seine Stelle ist Stalin getreten.<br />

2. Die Schlüsselrolle der<br />

Wolkow-Memoiren<br />

Unverkennbar ist, dass sich in der Rezeption<br />

Schostakowitschs eine Wende vollzogen hat,<br />

die einer grundlegenden Revision des lange<br />

Zeit weithin geltenden Bildes von Werk und<br />

Person gleichkommt. Auslöser oder Anlass<br />

dafür war das Werk eines russischen Emigranten,<br />

Solomon Wolkow, das unter dem Titel<br />

Testimony: The Memoirs of Dmitri Schostakowitsch<br />

(Zeugenschaft: die Erinnerungen von<br />

Dimitri Schostakowitsch) 1979 in New York<br />

erschien. Wolkow zufolge handelt es sich dabei<br />

um einen von Schostakowitsch selbst autorisierten<br />

Band von Lebenserinnerungen, die dieser<br />

ihm in wesentlichen Teilen in mündlichen<br />

Gesprächen mitgeteilt habe, die er, Wolkow,<br />

aus der Sowjetunion herausgeschmuggelt habe<br />

und nun der interessierten Öffentlichkeit zu<br />

treuen Händen übergebe. Der Band stellt also<br />

den Anspruch größter Authentizität. In ihm<br />

nun wird ein Bild Schostakowitschs entworfen,<br />

das dem bis dahin akzeptierten in wesentlichen<br />

Punkten, vor allem politisch, widerspricht. Es<br />

legt die Grundlage der <strong>heute</strong> dominanten<br />

Rezeption, die Darstellung des Komponisten<br />

als eines „geheimen Regimegegners“ und Antikommunisten,<br />

in allen Varianten. Die Authentizität<br />

dieses Bandes wurde freilich schon bei seinem<br />

Erscheinen bestritten, und zwar nicht nur<br />

von sowjetischer Seite, zumal der Text von


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Widersprüchen und editorischen Diskrepanzen<br />

durchsetzt ist und Wolkow sich hartnäckig<br />

weigerte, das originale Material einer neutralen<br />

Überprüfung zugänglich zu machen. Ungeachtet<br />

dieser Tatsache wurde der Band von den<br />

ideologischen Meinungsmachern herrschender<br />

Wissenschaft und Presse begierig aufgenommen<br />

und seine Authentizität freudevoll unterstellt<br />

– lieferte er doch die perfekte Lösung für<br />

das Dilemma, einen Kommunisten als Künstler<br />

ersten Ranges anerkennen zu müssen. Frisch,<br />

fromm und fröhlich wird behauptet, der Streit<br />

um den Wolkow-Band wäre zugunsten seines<br />

Herausgebers entschieden, die Memoiren also<br />

authentisch 14 – noch zu einem Zeitpunkt, an<br />

dem die Beweise für das Gegenteil bereits<br />

gebracht worden waren. 15 Worum es sich bei<br />

diesen handelt, ist, wie Laurel E. Fays<br />

Untersuchung zeigt, eine recht undurchsichtige<br />

und daher zunächst nicht leicht dechiffrierbare<br />

Kontamination unterschiedlicher Materialien.<br />

Diese bestehen zum Teil aus bereits vorher veröffentlichen<br />

Texten Schostakowitschs, deren<br />

Authentizität in der Tat auch von diesem per<br />

Unterschrift bestätigt wurde, zu einem anderen<br />

Teil aus (angeblich) im mündlichen Gespräch<br />

mitgeteilten Äußerungen, deren Authentizität<br />

durch nichts belegt ist. Das eine oder andere<br />

kann geäußert worden sein, es kann auch nicht<br />

der Fall sein. Mit größter Sicherheit ist sehr viel<br />

vom Herausgeber erfunden. Überprüfbar ist<br />

gar nichts. Hinzu kommt, dass die Witwe des<br />

Komponisten keinerlei Erinnerung daran hat,<br />

dass ihr Mann überhaupt derart extensive<br />

Gespräche mit dem Herausgeber geführt habe,<br />

ja in so enger Freundschaft mit ihm verbunden<br />

gewesen sei, um derart vertrauliche – und politisch<br />

brisante – Gespräche mit ihm überhaupt<br />

führen zu können. Bezeichnend für den ideologischen<br />

Charakter des Unternehmens ist, dass<br />

es gerade die ungesicherten Textteile, die durch<br />

nichts belegten persönlichen Mitteilungen sind,<br />

aus denen die Revision des Schostakowitsch-<br />

Bildes abgeleitet wird. Angesichts dieser<br />

Sachlage ist es nicht verwunderlich, dass das<br />

Wolkowsche Werk als irrelevante Fälschung<br />

bezeichnet wurde. 16 Ja selbst seine Apologeten<br />

sprechen von einem „apokryphen“ Text, dem<br />

POSITIONEN 87<br />

sie gleichwohl gesicherte Erkenntnisse entnehmen<br />

zu können glauben. 17 Auch bei größter<br />

Zurückhaltung muss gesagt werden, dass die<br />

Wolkow-Memoiren aufgrund ihres bestenfalls<br />

dubiosen Status als Grundlage oder Quelle<br />

wissenschaftlicher wie kritischer Arbeit ohne<br />

Wert sind. „Wert“ freilich haben sie als „Argument“<br />

im Sinne des formierten Antikommunismus.<br />

Bezeichnend dafür Meyers Äußerung zu<br />

ihnen: „Auch wenn wir davon ausgehen, dass es<br />

sich bei diesem Buch um ein Apokryph handelt,<br />

können wir seinen Wert für die Biographie<br />

Schostakowitschs kaum überschätzen.“ 18 Die<br />

Aussage enthüllt ein fatales Bild von Bewusstseinsstand<br />

und Moral <strong>heute</strong> herrschender<br />

Wissenschaft. 19 Ich unterstelle einmal, dass der<br />

Kollege weiß, was das Wort „apokryph“ bedeutet<br />

(nach dem Duden bedeutet es „unecht“,<br />

„unterschoben“, ein Apokryph ist also ein<br />

„unechtes“ oder „unterschobenes“ Werk; wenn<br />

dies planvoll geschieht, dürfte von einer Fälschung<br />

gesprochen werden können). Seine<br />

Aussage heißt dann zu Deutsch: Wir geben zu,<br />

das Werk ist gefälscht (die Wolkow-Edition ist<br />

ja bewusst von ihrem Autor manipuliert und als<br />

etwas ausgegeben, was sie nicht ist), und doch<br />

ist es von „kaum zu überschätzender Bedeutung“.<br />

Eine logisch unsinnige Aussage, wenn es<br />

hier um die Vermittlung wahrer Informationen<br />

ginge, denn diesen Zweck wird es gerade nicht<br />

erfüllen können. Woher sollte man denn bei<br />

einem apokryphen Werk wissen, was wahr und<br />

was falsch, was authentisch und was erfunden<br />

ist? Eine „kaum zu überschätzende Bedeutung“<br />

aber hat diese Edition auf anderer Ebene,<br />

und das ist die ideologische – dient es doch<br />

dem höchsten aller Zwecke: dem heiligen<br />

Kampf gegen das Gespenst des Kommunismus.<br />

Es ist selten, dass sich die hier und <strong>heute</strong> herrschende<br />

Wissenschaft so offen in die Karten<br />

sehen lässt – wir sollten ihr dafür verbunden<br />

sein.<br />

3. Zur Lage sozialistischer Kunst<br />

im Sozialismus. Eine Notiz<br />

An dieser Stelle sei einem möglichen Missverständnis<br />

begegnet. Die Antwort auf einen sol-


88<br />

Thomas Metscher: Nachlese zum Schostakowitsch-Jahr<br />

chen Typ ideologischer Rezeption kann nicht<br />

darin bestehen, dass wir jetzt blind das Gegenteil<br />

behaupten und die Pressionen, denen<br />

Schostakowitsch unter der Stalindiktatur und<br />

ihrer Kulturbürokratie ausgesetzt war, in<br />

Abrede stellen oder herunterspielen. Diese<br />

Pressionen waren real, sie waren bedrängend<br />

und bedrohlich, und es steht jenseits jeden<br />

Zweifels, dass sie in der Biographie Schostakowitschs<br />

ihren Ort haben, dass dieser sich,<br />

gerade auch als sozialistischer Künstler, mit<br />

ihnen auseinandersetzte, dass sie mithin auch<br />

für sein Werk von Bedeutung sind. Die Frage<br />

ist allein die ihrer Gewichtung. Durch nichts<br />

ist zu belegen, dass sie den zentralen Gesichtspunkt<br />

dieses Werks bilden, wie durch<br />

nichts zu belegen ist, dass der Komponist jemals<br />

eine prinzipiell antisozialistische Einstellung<br />

hatte. Sein Problem war ein solches,<br />

das er mit vielen anderen sozialistisch orientierten<br />

Künstlern in der Sowjetunion und in<br />

den anderen sozialistischen Ländern teilte.<br />

Die Sachlage ist vielfach bekannt, belegt und<br />

erforscht. Die Pressionen durch die staatliche<br />

Bürokratie waren oft so stark, dass sie Künstler<br />

zum Verzweifeln oder Verstummen bringen<br />

konnten; auch dort, wo diese für ihre physische<br />

Sicherheit nicht zu fürchten brauchten.<br />

Man denke an die Angriffe, denen Hanns<br />

Eisler im Fall seiner Faustus-Oper ausgesetzt<br />

war. Sie führten letztlich zum Abbruch der<br />

Arbeit an dem ganzen Projekt. Willi Sitte hat<br />

in seinen Erinnerungen von ähnlichen Erfahrungen<br />

ergreifend berichtet. 20 Sicher waren<br />

die Formen der politischen und kulturbürokratischen<br />

Intervention in die künstlerische<br />

Arbeit in den sozialistischen Ländern unterschiedlich<br />

und sicher wurden sie unter Stalin<br />

am schärfsten geführt. Wie auch immer, in<br />

vielen Fällen liefen sie auf künstlerische und<br />

private Tragödien oder Fast-Tragödien hinaus<br />

und zeitigten auch dort, wo sie das Selbstbewusstsein<br />

von Künstlern nicht erschüttern<br />

konnten, höchst negative Folgen. 21 Kaum<br />

einer der großen Künstler in den Ländern des<br />

realen Sozialismus blieb von ihnen unberührt.<br />

Was aber meist verwischt wird, ist der<br />

Tatbestand, dass die Lage der sozialistischen<br />

Künstler in diesen Ländern psychisch, politisch,<br />

moralisch wie ästhetisch eine völlig andere<br />

war als die der sogenannten Dissidenten.<br />

Deren Lage war die des prinzipiell Oppositionellen,<br />

der durch die Verfolgung letztlich<br />

in seiner Grundüberzeugung bestätigt<br />

wird (Solschenyzin ist das klassische Beispiel<br />

dafür). Die Lage der sozialistischen Künstler<br />

war bedeutend komplizierter, nicht zuletzt<br />

auch im psychisch-moralischen Sinn, gingen<br />

die erfahrenen Pressionen doch von einer<br />

Gesellschaft bzw. deren Führung aus, die<br />

diese Künstler im Prinzip wie in vielen<br />

Einzelerscheinungen bejahten, der sie auf<br />

vielen Feldern mit Zustimmung begegneten.<br />

Was sie im Sinn hatten, war nicht die Abschaffung<br />

der sozialistischen Gesellschaft,<br />

sondern ihre Verbesserung, kulturpolitisch<br />

kein „prinzipienloser Liberalismus“, sondern<br />

„eine Befreiung sozialistischer Kunst von<br />

allen bürokratischen und dogmatischen Behinderungen“.<br />

22 Folglich waren hier die Konflikte<br />

und Krisen viel gravierender, das<br />

Resultat war oft ein unlösbares oder schwer<br />

lösbares Dilemma. 23 Wir können sicher sein,<br />

dass auch Schostakowitsch solche Krisen<br />

durchlebte, doch kann ihre Bedeutung, gerade<br />

auch für das kompositorische Werk, erst<br />

dann angemessen erfasst werden, wenn der<br />

Wust des ideologischen Scheins, der Werk<br />

und Person entstellt, abgeräumt ist. Dabei ist<br />

zu erkennen, dass solche Auseinandersetzungen<br />

und Krisen für die Integrität dieser<br />

Künstler, moralisch-politisch wie weltanschaulich-ästhetisch,<br />

ein Lackmustest waren.<br />

Sicher gab es solche, die dem Sozialismus aufgrund<br />

solcher Erfahrungen praktisch und<br />

ideell den Rücken kehrten, also das taten, was<br />

<strong>heute</strong> Schostakowitsch unterstellt wird. Die<br />

große Mehrzahl der bedeutenden unter ihnen<br />

aber blieb der großen Sache – dem „schwer<br />

zu machenden Einfachen“ (Brecht) – treu. Es<br />

ist dies sicher von Schostakowitsch zu sagen.<br />

Und diese Integrität zeigt sich, über alles Biographische<br />

hinaus, gerade dort, wo sich künstlerische<br />

Integrität zuallererst beweist: in den<br />

Werken selbst. Diesem Gesichtspunkt seien<br />

noch einige Gedanken gewidmet.


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Avantgardistischer<br />

Realismus in der Musik<br />

Bei aller Polemik gegenüber der hier analysierten<br />

Rezeption darf nicht vergessen werden,<br />

dass es eine sachliche und seriöse Forschung<br />

zu Schostakowitsch gibt, ganz sicher<br />

auf internationaler Ebene, wie auch die musikalische<br />

Rezeption oft genug seine ideologische<br />

Vermarktung konterkariert. Für die sachliche<br />

Forschung stehen nicht zuletzt die<br />

Arbeiten, die ein Machwerk wie die Wolkow-<br />

Memoiren der Fälschung überführten. Und<br />

wenn Maris Jansons, Chefdirigent des Symphonieorchesters<br />

des Bayerischen Rundfunks,<br />

in seinem Interview mit Wolfgang Schreiber in<br />

der Süddeutschen Zeitung vom 6. September<br />

2006 die Frage nach Rezeption und Aktualität<br />

der symphonischen Musik Schostakowitschs<br />

mit dem Hinweis auf die „Millionen von<br />

Kriegstoten in Russland“ wie die „Kriege in<br />

Vietnam und im Irak“ beantwortet, 24 so benennt<br />

er sehr klar die Perspektive, in der eine<br />

angemessene Rezeption dieses Werks <strong>heute</strong><br />

zu erfolgen hat.<br />

Das Beispiel für eine sachorientierte Deutung<br />

Schostakowitschs ist der von Christopher<br />

Norris 1982 herausgegebene Band Shostakowitsch.<br />

The Man and his Music. In ihm wird –<br />

ästhetisch, politisch und weltanschaulich –<br />

eine solide Grundlage gelegt, auf der weiter<br />

differenzierende Forschungen aufbauen können.<br />

Für Norris ist Schostakowitsch „a Soviet<br />

citizen-composer“ – „ein sowjetischer Bürger-<br />

Komponist“, Verkörperung der sowjetischen<br />

Musik in einem Zeitalter schärfster ideologischer<br />

Konflikte. Sein kompositorisches Hauptproblem<br />

sei, die Anforderungen seiner sozialistischen<br />

Orientierung mit der Suche nach<br />

einer authentischen musikalischen Sprache in<br />

Einklang zu bringen. 25 Ohne das Gewicht der<br />

Stalinschen Pressionen und die damit verbundenen<br />

künstlerischen, politischen und privaten<br />

Probleme zu minimieren, entwirft der<br />

Band das Bild eines Künstlers, der wie kein<br />

zweiter in der Sowjetunion die Position einer<br />

„sozialistisch engagierten Moderne“ (Werner<br />

Mittenzwei) kompositorisch verwirklicht hat<br />

POSITIONEN 89<br />

– ungeachtet aller erzwungenen und freiwilligen<br />

Kompromisse. Robert Stradling, der<br />

Schostakowitschs politisch-ästhetische Position<br />

am schärfsten ausarbeitet, nennt ihn<br />

„einen lebenslänglichen Kommunisten und<br />

überzeugten russischen Patrioten“ und<br />

schreibt: „Kein Komponist seit Beethoven<br />

stand der Geschichte seiner Zeit so nahe und<br />

hat mit der gleichen Konsequenz die Leiden<br />

und die Hoffnungen auszudrücken versucht,<br />

die er mit Millionen seiner Zeitgenossen teilte“.<br />

26 Er sei, seit dem Tod von Prokofjef und<br />

Eisenstein, „der hervorragendste sowjetische<br />

Künstler“. 27 Es ist diese Position, die dem ideologischen<br />

Konstrukt des „geheimen Dissidenten‚<br />

und antikommunistischen Regimegegners“<br />

am entschiedensten widerspricht. Sie<br />

ist, wie ich meine, gültig im Sinn einer Grundorientierung,<br />

die ausgearbeitet und differenziert<br />

werden muss. Alle vorliegende historisch-empirische<br />

Evidenz unterstützt sie.Auch<br />

die offen antikommunistisch orientierte<br />

Biographie Meyers vermag keine wissenschaftlich<br />

validen Argumente für das Gegenteil<br />

beizubringen 28 – die Gegnerschaft Schostakowitschs<br />

zur der Schdanowschen Kulturpolitik<br />

wird ja ohnehin von niemandem<br />

bestritten. So wird von Meyer nicht ohne Bedauern<br />

konstatiert, dass sich Schostakowitsch<br />

trotz der Pressionen, unter denen er litt, den<br />

sogenannten Dissidenten nie anschloß und<br />

keine ihrer Erklärungen unterzeichnete. 29<br />

Höchst bezeichnend auch sein Verhältnis zu<br />

Strawinsky, der, so erläutert Meyer mit<br />

Zufriedenheit, „die Bolschewiken und ihre<br />

Ideologie hasst“ 30 Bei allem musikalischen<br />

Respekt, den Schostakowitsch für ihn hegte,<br />

traten anläßlich eines Besuchs Strawinskys in<br />

der Sowjetunion gravierende Differenzen<br />

zwischen beiden hervor. „Beide trennte eine<br />

tiefe Kluft in ihren politischen, künstlerischen<br />

und ästhetischen Ansichten.“ 31 Worin diese<br />

bestand, dürfte nicht schwer zu erraten sein.<br />

Schostakowitschs Position politisch, weltanschaulich,<br />

ästhetisch ist mit dem Begriff<br />

einer sozialistischen Avantgarde wohl am<br />

besten zu beschreiben. 32 Er steht damit in der<br />

Linie von Künstlern wie Brecht, Eisler, Neru-


<strong>90</strong><br />

Thomas Metscher: Nachlese zum Schostakowitsch-Jahr<br />

da, Hikmet, Ritsos, MacDiarmid, Guttuso,<br />

Nono, Weiss, Sitte (um nur einige Beispiele zu<br />

nennen, es gibt viele mehr). Das meint erstens<br />

eine formale Avantgarde im Sinn einer Suche<br />

nach neuen Formen für den Versuch, eine veränderte<br />

Weltsituation, Aufbau wie Krise einer<br />

neuen Gesellschaft darzustellen. Das meint<br />

nicht den Bruch mit überlieferten Formen,<br />

sondern deren Überprüfung, Veränderung,<br />

Transformation den neuen Anforderungen<br />

entsprechend. Das schließt ganz sicher ein:<br />

Berechtigung, ja Notwendigkeit des formalen<br />

Experiments. Das meint zweitens aber auch,<br />

und dieses mit nicht geringerer Bedeutung: die<br />

politisch-weltschauliche Orientierung an Sozialismus,<br />

Kommunismus, Marxismus, sozialistische<br />

Zielsetzung, kommunistische Perspektive,<br />

nicht als etwas der Kunst Aufgesetztes,<br />

von außen an sie Herangetragenes, sondern als<br />

Aufgabe der ästhetischen Produktion, als<br />

kompositorisches Problem selbst. Politisch<br />

meint das die Sympathie mit bzw. das Engagement<br />

in sozialistischen oder kommunistischen<br />

Parteien, meint die Parteilichkeit des<br />

Künstlers, die Absage an jede Form des l’art<br />

pour l’art, weltanschaulich die Orientierung an<br />

einem konkreten (sozialistischen, in der entwickeltsten<br />

Gestalt marxistischen) Humanismus.<br />

Diese Avantgarde ist zugleich realistisch,<br />

wenn Realismus heißt: Grundorientierung der<br />

Kunst an einer vorgegebenen, auch außerhalb<br />

der Kunst existenten materiellen, natürlichgesellschaftlichen<br />

Wirklichkeit, an kollektiver<br />

wie individueller sozialer Erfahrung. 33 In diesem<br />

Rahmen nun ist durchaus auch, wie etwa<br />

von Brecht vertreten, ein sinnvoller Begriff des<br />

„sozialistischen Realismus“, der Konzepte von<br />

„Volkstümlichkeit und Realismus“ möglich; 34<br />

in einer Gestalt freilich, die von der offiziellen<br />

in wesentlichen Punkten abweicht. Es ist diese<br />

weltanschaulich-politische Orientierung, was<br />

die sozialistische Avantgarde von jeder bürgerlichen,<br />

den avantgardistischen Realismus von<br />

jedem Formalismus unterscheidet.<br />

Der vorstehende Text ist der Erste Teil einer<br />

größeren Arbeit von Thomas Metscher über<br />

„Sozialistische Avantgarde und Realismus –<br />

zur musikalischen Ästhetik Dmitri Schostakowitschs.<br />

Eine Nachlese zum Schostakowitsch-<br />

Jahr“, die in Kürze vollständig als MASCH-<br />

SCHRIFT im Neue Impulse Verlag erscheint.<br />

Interessenten bestellen diese Arbeit bitte<br />

beim Neue Impulse Verlag, telefonisch unter:<br />

0201 / 24 86 482, per Fax unter: 0201 / 24 86<br />

484,per E-Mail unter: NeueImpulse@aol.com.<br />

1 Wie es leider Rainer Balcerowiak in der Jungen Welt getan<br />

hat. Mozart agiert dort als „Salzburger Unterhaltungsmusiker“,<br />

dessen „überwiegend seichtes Werk mühelos<br />

in ein von Hintergrund- und Funktionsmusik geprägtes<br />

Rezeptionsverhalten“ einzugliedern sei. Schostakowitsch,<br />

wesentlich „unzugänglicher“, stelle größere Anforderungen<br />

an den Hörer (Junge Welt vom 25. September<br />

2006). Diese Charakterisierung Mozarts ist so unsinnig<br />

wie der Vergleich trivial ist: Alle moderne Musik ist für<br />

konventionelles Hören schwerer zugänglich als traditionelle<br />

Musik; über Qualität und Differenz ist damit noch<br />

gar nichts ausgesagt.<br />

2 Ich verweise auf das Werkverzeichnis in Krzystof Meyers<br />

autoritativer Monographie (K. Meyer, Schostakowitsch.<br />

Sein Leben, sein Werk, seine Zeit. Bergisch Gladbach<br />

1995, 587-606). Das Verzeichnis enthält: 7 Opern, 3<br />

Ballette, 1 Operette, 29 Orchesterwerke, 6 Konzerte, 22<br />

Suiten, 26 Werke für Kammermusik, 13 Klavierwerke, 5<br />

Werke für zwei Klaviere, 8 Werke für Chor und Orchester,<br />

3 Werke für Chor a Capella, 9 Werke für Singstimme und<br />

Orchester, 23 Werke für Singstimme und Klavier, verschiedene<br />

Vokalwerke, 45 Film- und Schauspielmusikwerke<br />

sowie 19 Transkriptionen und Orchestrierungen.<br />

3 Vgl. André Müller sen., Der neue Kreuzzug gegen Brecht.<br />

Marxistische Blätter, 4/2006, 17-19.<br />

4 Vgl. die Liste der Ämter, Würden, Preise und Auszeichnungen,<br />

die Meyer in seiner Schostakowitsch-Monographie<br />

aufführt (Meyer 1995, 580-82).<br />

5 Meyer 1995, 288.<br />

6 Sozialistischer Staatskomponist und geheimer Regimekritiker:<br />

der Komponist Dimitri Schostakowitsch. Bayern 4<br />

Klassik, 28. 09. 2006. Zitiert nach dem Skript der Sendung.<br />

7 The Times vom 11. August 1975.<br />

8 Die Untersuchung von Zeitpunkt und politisch-ideologischem<br />

Kontext dieses Rezeptionswechsels wäre eine lohnende<br />

Aufgabe, der freilich im Rahmen dieser Untersuchung<br />

nicht nachgegangen werden kann. Sie wäre in<br />

einen größeren ideologiegeschichtlichen Zusammenhang<br />

zu stellen: der seit dem Zusammenbruch der SU und des<br />

mit ihr verbundenen Sozialismus zu konstatierenden graduellen<br />

Zunahme der Delegitimierung jeder Form des<br />

Sozialismus und mit ihr der sozialistischen Kunst. Dieser<br />

Prozess hat sich im Verlauf des letzten Jahrzehnts verstärkt<br />

– er verläuft proportional zur weltweiten<br />

Erstarkung linker Bewegungen und Ideen. Teil davon ist<br />

der organisierte Erinnerungsverlust und programmatische<br />

Antisowjetismus, der gegenwärtig in den ehemals sozialistischen<br />

Ländern zu beobachten ist – der mit der partiellen<br />

Revision des Geschichtsbildes zugunsten des deutschen<br />

Faschismus keineswegs abgeschlossen sein dürfte.<br />

Dem korrespondiert die Delegitimierung des Marxismus<br />

als Theorie und des Kommunismus als politischer Be-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

wegung, die mittlerweile denunziatorische Züge besitzt<br />

und vor den gröbsten Klischees nicht zurückschreckt. An<br />

Primitivität übertrifft sie oft noch den „klassischen“ Antikommunismus<br />

aus den Tagen des kalten Krieges. Wie<br />

wenig dies auf Deutschland beschränkt ist, zeigt das jüngst<br />

erschienene Buch des renommierten, in Oxford lehrenden<br />

Historikers Robert Service, Comrades:A World History of<br />

Communism. In ihm wird der Marxismus als „inhärent<br />

gewalttätig und totalitär“ denunziert. Marx, Lenin und<br />

ihre Nachfolger, heißt es, hätten eine „perfekte Gesellschaft“<br />

und ein „Arbeiterparadies“ versprochen. Die Revolution<br />

wird als „Bazillus“, die kommunistischen Führer<br />

als „Narren“, „Wahnsinnige“ und „Gangster“ bezeichnet<br />

(interessant, dass in einer gerade erschienen Biographie<br />

des jungen Stalin dieser als „Gangster“ bezeichnet und<br />

mit dem Paten einer Mafia-Familie verglichen wird; vgl.<br />

Rezension von Peter Conrad zu Simon Sebag Montefiore,<br />

Young Stalin, Guardian Weekly vom 25. Mai 2007).<br />

Kommunisten sollten aufhören, über Einkerkerung, Folter<br />

und Tod zu ‚lamentieren‘, würden sie selbst doch eine<br />

‚Diktatur‘ errichten wollen. Nach Seumas Milne, der das<br />

Buch in The Guardian Weekly vom 25. Mai 2007 einer vernichtenden<br />

Kritik unterzieht, wird <strong>heute</strong> „die westliche<br />

Darstellung der sowjetischen Periode“ weitgehend unwidersprochen<br />

von „entschieden antikommunistischen Historikern“<br />

beherrscht (ebd).<br />

9 Ich zitiere nach dem mir vom Sender zur Verfügung<br />

gestellten Skript (Seitenzahl im fortlaufenden Text).<br />

10 Bezeichnend bereits der Titel von Reinhard J. Brembecks<br />

Beitrag zum 100. Geburtstag des Komponisten: „Populär<br />

wider Willen. Wie Dmitri Schostakowitsch in der Sowjetdiktatur<br />

zu einem Sprachrohr des unterdrückten Volkes<br />

wurde“ (Süddeutsche Zeitung Nr. 205 vom 6. September<br />

2006). Der Titel liest sich wie ein Programm der gegenwärtigen<br />

Schostakowitsch-Rezeption. Wie weit die ideologische<br />

Verdrehung zurück reicht, zeigt Alfred Beaujeans<br />

Rezensionsartikel von Einspielungen der Schostakowitsch-Symphonie,<br />

„Endlich freie Sicht auf den Kosmos“,<br />

in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. Februar<br />

19<strong>90</strong>. Selbst ein kluger Kritiker wie Joachim Kaiser ist<br />

nicht frei davon. So vermutet er in dem „Angst-Entsetzen“<br />

des Streichquartetts es-Moll Nr 15, opus 144 den<br />

Schatten Stalins (Schostakowitschs beklemmendes Vermächtnis.<br />

Süddeutsche Zeitung Nr. 287 vom 13. Dezember<br />

2006). Es kann sich hier aber bestenfalls um Stalins Geist<br />

handeln, denn das Opus 144 wurde im <strong>Jahre</strong> 1974 komponiert,<br />

Stalin starb 1953.<br />

11 Meyer 1995, 362.<br />

12 Meyers Buch ist materialreich, in vielen Teilen solide recherchiert<br />

und in diesen durchaus brauchbar. Es ist geradezu Paradigma<br />

eines unaufgelösten Widerstreits zwischen Wissenschaft und<br />

Ideologie in ein- und demselben Autor.<br />

13 Jürgen Meier, „für alle ist irgendwo ein Lächeln ...“.<br />

Dmitri Schostakowitsch zum 100. UTOPIEkreativ 196/<br />

Februar 2006, 103-08; auch Unsere Zeit vom 22.<br />

September 2006.<br />

14 Beaujean 19<strong>90</strong>.<br />

15 Der Beweis dafür, dass diese Memoiren ein zumindest in<br />

Teilen gefälschter, also nichtauthentischer Text sind wurde<br />

bereits 1980in einem Rezensionsartikel von Laurel E. Fay<br />

erbracht (Shostakovich versus Volkov:Whose Testimony?,<br />

The Russian Review, vol. 39, no. 4, October 1980, 484-93).<br />

Verdienstvoller Weise hat der Verein zur Förderung der<br />

wissenschaftlichen Weltanschauung, e.V. diesen Artikel<br />

POSITIONEN 91<br />

sowie weitere Materialien in einer Broschüre zum Schostakowitsch-Jahr<br />

zugänglich gemacht.<br />

16 Vgl. Alex Ross, Free Shostakovich! Indiana University<br />

Press 2004.<br />

17 Meyer 1995, 15f.; Ellen Kohlhaas, Der Volksheld ist ironisch.<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 45 vom 22.<br />

Februar 1996.<br />

18 Meyer 1995, 15f.<br />

19 dass die Ideologisierung des wissenschaftlichen Diskurses<br />

– und damit verbunden die Unterminierung wissenschaftlicher<br />

Qualität und Moral – mittlerweile ein Phänomen<br />

von internationaler Verbreitung ist, zeigt das oben angeführte<br />

Beispiel von Service (vgl. Fussnote 8).<br />

20 Gisela Schirmer, Willi Sitte. Farben und Folgen. Eine<br />

Autobiographie. Leipzig 2003.<br />

21 Ich erinnere allein an den Tatbestand, dass Peter Hacks‘<br />

Numa, eine der bedeutendsten Komödien deutscher<br />

Sprache, nie in der DDR aufgeführt wurde – sie ist bis<br />

<strong>heute</strong> ungespielt.<br />

22 Auf diese griffige Formel bringt Wolfgang Harich in seinen<br />

Lebenserinnerungen die kulturpolitische Position<br />

Brechts, die dieser aus den Erfahrungen des 17. Juni 1953<br />

zog (Harich, Ahnenpass. Versuch einer Autobiographie.<br />

Berlin o.J., 206). In diesen Zusammenhang gehört auch ein<br />

1953 verfasstes, von Werner Mittenzwei zitiertes Papier<br />

der Akademie der Künste der DDR, in dem sehr präzise<br />

von einer „Diktatur der Funktionäre über die Künstler“<br />

gesprochen wird (Mittenzwei, Die Intellektuellen. Literatur<br />

und Politik in Ostdeutschland. Leipzig 2001, 116).<br />

Beide Formulierungen dürften verallgemeinerbar sein.<br />

23 Man lese den bewegenden Brief, den Eisler am Ende der<br />

Auseinandersetzung um seinen Faustus an das ZK der<br />

SED schrieb. Das Dilemma des sozialistischen Künstlers<br />

in einem bürokratisch-autoritären Sozialismus wird genau<br />

auf den Punkt gebracht.: „Nach der Faustus-Attacke<br />

merkte ich, dass mir jeder Impuls, noch Musik zu schreiben,<br />

abhanden gekommen war. So kam ich in einen<br />

Zustand tiefster Depression, wie ich sie kaum jemals<br />

erfahren habe (...). Ich kann mir meinen Platz als Künstler<br />

nur in dem Teil Deutschlands vorstellen, wo die Grundlagen<br />

des Sozialismus aufgebaut werden“ (zit. nach<br />

Mittenzwei 2001, 110). Die Musik zum Faustus wurde nie<br />

geschrieben.<br />

24 Die Welt ist schwieriger – und Schostakowitsch darum<br />

spannender. Süddeutsche Zeitung Nr. 205 vom 6. September<br />

2006.<br />

25 Christopher Norris (Hrsg.), Shostakovich. The Man and<br />

his Music. London 1982, 7f. (die Übersetzungen aus dem<br />

Band stammen von mir, T. M.).<br />

26 Robert Stradling, Shostakovich and the Soviet System,<br />

1925-1975. In: Norris 1982, 1<strong>90</strong>.<br />

27 Ebd., 202.<br />

28 Neben den Wolkow-Memoiren sind es immer wieder angebliche<br />

„Erinnerungen“ von eingebildeten oder realen<br />

„Freunden“, die als Beweis für Schostakowitschs Antikommunismus<br />

angeführt werden – sämtlich Dissidenten,<br />

Emigranten, in allen Fällen passionierte Antikommunisten.<br />

Immer wieder genannt wird in diesem Zusammenhang<br />

Mstislaf Rostropowitsch – die Tatsache, dass dieser<br />

ein großer Musiker ist, qualifiziert ihn jedoch noch lange<br />

nicht zu einem zuverlässigen biographischen Zeugen. Er<br />

ist, da führt kein Weg vorbei, politisch eindeutig Partei.<br />

29 Meyer 1995, 494.<br />

30 Ebd., 438.


92<br />

Thomas Metscher: Nachlese zum Schostakowitsch-Jahr<br />

31 Ebd., 441.<br />

32 Mittenzwei spricht von einer „sozialistisch engagierten<br />

Moderne“ (Mittenzwei 2001, 97), ich ziehe den genaueren<br />

Begriff der Avantgarde vor, verstanden allerdings im Sinn<br />

einer konkreten Form-Inhalt-Dialektik, nicht als ein am<br />

rein Formalen orientierter Begriff. Avantgardistische<br />

Kunst ist, mit Ernst Bloch gesprochen, Kunst an der historischen<br />

Front der Zeit.<br />

33 Hier handelt es sich selbstredend um keinen formengeschichtlichen<br />

oder stilkritischen Realismusbegriff, sondern<br />

um einen ästhetiktheoretichen: die auf alle Künste zu<br />

beziehende Auffassung von Kunst als Mimesis („Nachahmung,<br />

Darstellung, Ausdruck“). Das meint aber nicht,<br />

wie Erik Fischer in seiner vorzüglichen Formanalyse der<br />

Lady Macbeth von Mzensk befürchtet, „die fragwürdige<br />

Präokkupation wissenschaftlicher Analysen durch eine ( )<br />

Inhaltsästhetik“ (Fischer, Zur Problematik der Opernstruktur.<br />

Das künstlerische System und seine Krisis im 20.<br />

Jahrhundert, Wiesbaden 1982, 154) – kein dialektischer<br />

Begriff des ästhetischen Realismus wird ‚Inhalt‘ losgelöst<br />

von künstlerischer Form betrachten (dazu etwa Metscher,<br />

Mimesis. Bibliothek dialektischer Grundbegriffe, Bielefeld<br />

2001). Nicht zu leugnen freilich ist, dass sich in den<br />

Vulgärformen marxistischen Denkens – und auf solche<br />

ausschließlich bezieht sich Fischer in seinem Buch –die<br />

„Dichotomie zwischen ‚Form‘ und ‚Inhalt‘“ (ebd., 156) in<br />

der Tat nachweisen lässt.<br />

34 Vgl. etwa Brechts Essay Volkstümlichkeit und Realismus.<br />

Zur Berliner<br />

Marxismus-Konferenz.<br />

Robert Steigerwald<br />

Vor gut zehn <strong>Jahre</strong>n fand in Hannover eine<br />

erste größere Marxismus-Konferenz statt. Ihr<br />

Motto war: „Marxismus vor dem XXI. Jahrhundert“.<br />

Etwa 700, in hohem Maße jüngere<br />

Teilnehmer hatten sich eingefunden, um die<br />

Beratungen in mehreren Plenarveranstaltungen,<br />

Einzelvorträgen und Arbeitsgemeinschaften<br />

zu verfolgen. Zu Beginn des <strong>Jahre</strong>s<br />

2006 gingen 17 Wissenschaftler, Publizisten<br />

und Politiker an die Öffentlichkeit, um zu<br />

einer neuen Marxismus-Konferenz aufzuru-<br />

fen, die dieses Mal unter dem Motto „Marxismus<br />

für das XXI. Jahrhundert“ stattfinden<br />

sollte. Der Aufruf fand ein breites Echo, so<br />

ziemlich alle linken Zeitungen/ Zeitschriften,<br />

Vereinigungen und eine größere Anzahl marxistischer<br />

Wissenschaftler und Politiker antikapitalistischer<br />

Orientierung meldeten ihre<br />

Bereitschaft zur aktiven Teilnahme an der<br />

Konferenz an. Unter ihnen waren Uwe-Jens<br />

Heuer, Erich Hahn, André Leisewitz, Frank<br />

Deppe, Hermann Klenner, Arno Klönne,<br />

Thomas Metscher, Wolfgang Fritz Haug,<br />

Norman Paech, Peter Strutynski, Ekkehard<br />

Spoo, Ekkehard Lieberam. Für die „Marxistischen<br />

Blätter“ – sie gehörten, wie auch die<br />

„Marx-Engels-Stiftung“, dem Einberuferkreis<br />

an – waren Robert Steigerwald und Werner<br />

Seppmann aktiv an der Vorbereitung und<br />

Durchführung der Tagung beteiligt, die vom<br />

20. bis 22. April dieses <strong>Jahre</strong>s in Berlin stattfand.<br />

In fünf Plenartagungen erörterten jeweils<br />

vier bis sechs Diskutanten solche Probleme:<br />

Sozialismus im 21. Jahrhundert; Mit Keynes<br />

aus der Krise?; Kampf um Demokratie und<br />

Menschenrechte; Für eine kämpferische Gewerkschaftsbewegung;<br />

Widerstand gegen<br />

Krieg und Ausbeutung. Zusätzlich gab es noch<br />

eine Podiumsdiskussion zum Thema Einheit<br />

der Linken. Angesichts der über 700 Teilnehmer,<br />

der zumeist gut besuchten und interessanten<br />

31 Plenar- und Einzelveranstaltungen<br />

mit etwa 80 Moderatoren und Referenten,<br />

einer solidarischen Grundstimmung auf der<br />

Konferenz und viel Aufmerksamkeit in<br />

Kreisen der marxistischen Linken hinsichtlich<br />

der Konferenz ist von einem Erfolg zu sprechen.<br />

Die Thematik entsprach den im Eröffnungsaufruf<br />

angesprochenen Fragen und<br />

diente den gegenwärtigen Erfordernissen,<br />

jedoch gelang es in den Plenarveranstaltungen<br />

kaum, zu theoretischen Verallgemeinerungen<br />

zu kommen. Ich sehe dafür folgende Gründe:<br />

Erstens: die nur zehnminütigen Beiträge<br />

machen gründlicheres und analytisches Herangehen<br />

nicht möglich. Zweitens: dies auch<br />

angesichts dessen, dass die Podiumsteilneh-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

mer unterschiedliche Ansichten haben können.<br />

Was die Initiatoren angeht, so sind unterschiedliche,<br />

nicht gegensätzliche Ausgangsüberlegungen<br />

zu beachten. Da es sich um das<br />

Gemeinschaftsunternehmen von Bündnispartnern<br />

handelte, wurde von Anfang an auf<br />

völlige Gleichberechtigung, solidarischen<br />

Umgang und Orientierung am Konsensprinzip<br />

bei der Auswahl der Themen und Referenten<br />

geachtet. Ausgeklammert wurden<br />

nur Kräfte, die sich im „Mitgestalten“ des<br />

Kapitalismus üben – dies ist ja kein Antikapitalismus,<br />

dem sich die Konferenz verschrieben<br />

hatte – und ausgeklammert blieben<br />

auch Kräfte, die, wie die MLPD, mit ihrem aggressiven<br />

Alleinvertretungsanspruch zu solcher<br />

Zusammenarbeit nicht fähig sind. Es ging<br />

also um ein weit gefasstes marxistisch-antikapitalistisches<br />

öffentliches Wirken im Rahmen<br />

der oben angedeuteten Grenzen.<br />

Den Einberufern schwebte vor, ein Beispiel<br />

für eine systematische und interessante Verbreitung<br />

des Marxismus als Grundlage der<br />

politischen Arbeit der antikapitalistischen<br />

Linken zu geben, ein Forum zu bieten, in dem<br />

darüber beraten werden sollte, wie die<br />

Schwäche der Gegenkräfte in der Bundesrepublik<br />

überwunden werden kann. Sie wollten<br />

zur Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus<br />

beitragen, um davon ausgehend die politische<br />

Handlungsorientierung für den Kampf<br />

der arbeitenden Klasse gegen Neoliberalismus<br />

und Kapitaloffensive genauer zu bestimmen.<br />

Strategisch wollten wir einen weiteren<br />

Schritt machen hin zu einer vernetzten<br />

marxistischen Linken, um sie einen realen<br />

Faktor im politischen Leben der Bundesrepublik<br />

werden zu lassen. Mehr oder weniger<br />

sind wir hinsichtlich aller dieser Ziele vorangekommen.<br />

Nicht zu übersehen ist der Wille<br />

und der Drang, weiter zu machen.<br />

Die Konferenz war hervorragend organisiert<br />

durch eine Org-Gruppe unter der<br />

Leitung der Genossen Mäde, Lieberam und<br />

Wiegel. Bekannte führende Genossen der<br />

DKP nahmen teil: Leo Mayer, Nina Hager,<br />

Georg Polikeit, Gerd Deumlich, Walter Listl,<br />

POSITIONEN 93<br />

Lothar Geisler, die schon benannten Genossen<br />

Seppmann, Steigerwald und andere.<br />

Bedacht werden sollte, dass die Teilnahme<br />

teuer war. Ich sprach einen Genossen aus<br />

Frankfurt, für den Fahrt und Unterkunft allein<br />

240 Euro kosteten. Dazu kamen Verpflegung,<br />

Buchkauf usw. Das möge bedacht werden,<br />

wenn der Ruf nach baldiger Fortsetzung<br />

ertönt. Dazu kommt ja noch, dass die<br />

Unkosten der Konferenz selbst auch aufzubringen<br />

waren und wir das Spendenvermögen<br />

unserer Freunde und Genossen nicht überstrapazieren<br />

können.<br />

Natürlich waren Genossen der PDS und<br />

der WASG stark bestrebt, die Prozesse ihrer<br />

Parteien ins Zentrum zu rücken, also die Konferenz<br />

als Plattform für ihre Auseinandersetzungen<br />

zu sehen.<br />

Die Teilnehmer kamen aus allen bekannten<br />

linken Bereichen.<br />

Es gab einige, aber keineswegs prägende<br />

Konflikte um die Gründe für die Niederlage<br />

des Sozialismus, um die Einschätzung Chinas<br />

und Kubas, wobei das trotzkistische Potential<br />

in diesen Fragen selbst nicht einig war. Ein<br />

weiteres Konfliktfeld war die Einschätzung<br />

der gewerkschaftlichen Entwicklungen.<br />

Vorbereitung und Auswertung erfolgten im<br />

wesentlichen durch „junge Welt“ und „UZ“.<br />

Es wird eine Broschüre mit den wesentlichen<br />

Materialien der Konferenz veröffentlicht, sodass<br />

man, statt sich in Vermutungen zu ergehen,<br />

dann sich selbst ein Bild vom Inhalt der<br />

Referate und Debatten machen kann.<br />

Über die weitere Arbeit wird nachgedacht.<br />

Es gibt bereits einige Vorschläge bzw. Überlegungen,<br />

über die beraten werden soll. Die<br />

Website der Konferenz ist auszubauen, allerdings<br />

ohne Forum, da dessen Betreuung zu<br />

aufwändig wäre. Möglich ist die Planung und<br />

Abstimmung von kleineren Folgekonferenzen,<br />

die die Anliegen der Marxismuskonferenz<br />

weiter verfolgen. Eine erste derartige<br />

Folgekonferenz soll eine Podiumsveranstaltung<br />

in Berlin am 13. Oktober 2007 zum<br />

Thema „<strong>90</strong> <strong>Jahre</strong> Staat und Revolution – Staat<br />

und Demokratie <strong>heute</strong>“ sein. Sie wird – nach<br />

gegenwärtigem Stand – von der MES, von


94<br />

Robert Steigerwald: Berliner Marxismus-Konferenz<br />

SALZ und von dem Kreis um Thomas Wagner<br />

getragen werden. Ziel dieser Veranstaltung<br />

wäre nicht zuletzt auch eine Debatte zwischen<br />

unterschiedlichen Richtungen der marxistischen<br />

Staats- und Demokratietheorie. Eine<br />

weitere Folgekonferenz könnte das Thema<br />

Marxismus und Ökologie erörtern, selbstverständlich<br />

auch unter Teilnahme nicht explizit<br />

marxistischer Kräfte um attac, Ökologische<br />

Linke und Ökosoz. Als weitere Themen bieten<br />

sich an: Internationale Dimensionen der<br />

Antiglobalisierungsbewegung,Antifaschismus<br />

und Antirassisimus, Migration und kulturelle<br />

Vielfalt, Sozialismus des 21. Jahrhunderts<br />

(international), Parteienfrage und außerparlamentarischer<br />

Kampf. Wichtige Aufgaben im<br />

Zusammenhang mit weiteren solchen Konferenzen<br />

wären die Gewinnung jüngerer<br />

Wissenschaftler beispielsweise für Plenardebatten<br />

und die Auswahl solcher Themen, die<br />

attraktiv für junge Leute sind, an marxistisches<br />

Denken heranführen und diesem wieder<br />

mehr praktische Relevanz in den sozialen und<br />

politischen Bewegungen verschaffen.<br />

Die April-Konferenz hat Folgen. So findet<br />

im November eine zweite Marxismus-Konferenz<br />

statt, an der Teilnehmer der April-<br />

Konferenz mitwirken. Wir meinen: Es kann<br />

gar nicht genug Marxismus-Konferenzen geben,<br />

sofern es eben um Marxismus und nicht<br />

nur um das Etikett geht. Einer Marxismus-<br />

Konferenz wünschen wir Erfolg.<br />

Sodann hat die Konferenz zu einigem<br />

Geräusch im Blätterwald geführt. So meinte<br />

das „Neue Deutschland“, wegen der „klare(n)<br />

antikapitalistischen Grundhaltung“ der Konferenz:<br />

„dieser Sound“ habe an „frühere<br />

Zeiten erinnert“. Die „Z Zeitschrift Marxistische<br />

Erneuerung“ meint, in der Konferenz<br />

sei gefordert worden, die neue Linkspartei als<br />

Weltanschauungspartei zu bilden. Im Unterschied<br />

zu solchen Stimmen gab es von Nichtteilnehmern<br />

die Vermutung, die Kommunisten,<br />

die dort aufgetreten seien, hätten sich<br />

nicht oder nicht genügend prinzipiell verhalten.<br />

Jemand bewertete die Konferenz als<br />

„Strömungstreffen“. Bei so vielen unterschiedlichen<br />

Bewertungen wäre es doch wohl das<br />

beste, man würde versuchen, sich an den<br />

Original-Materialien der Konferenz zu orientieren,<br />

und das ist, wenn dieser Bericht erscheint<br />

bereits möglich, weil dann die<br />

Broschüre mit den wesentlichen Texten der<br />

Konferenz vorliegen wird.<br />

Gegen Gewalt sein<br />

heißt Gegengewalt sein<br />

Mischa Aschmoneit<br />

Die Marxistischen Blätter thematisieren in<br />

Ausgabe 4/07 die Fragen, wessen Welt die Welt<br />

sei. Eisler beantwortet 1931 in der überarbeiteten<br />

Fassung des Solidaritätsliedes diese Frage<br />

bekanntlich so: „Proletarier aller Länder, einigt<br />

euch und ihr seid frei. Eure großen Regimenter<br />

brechen jede Tyrannei!“<br />

Regimenter, brechen – die Sprache der revolutionären<br />

Gewalt! In den MBl ist jedoch<br />

im durchaus interessanten Text von Peter<br />

Strutynski („Gewaltverhältnisse. Rostock,<br />

Heiligendamm und die Folgen“) nichts dergleichen<br />

zu lesen. Da heißt es hingegen: „Hier<br />

soll nun keineswegs der Versuch gemacht werden,<br />

den Spieß einfach umzudrehen und die<br />

Randalierer aus dem schwarzen Block zu entschuldigen.<br />

Mir geht es vielmehr darum, auf<br />

die strukturelle Ähnlichkeit des Verhaltens<br />

gewaltbereiter ‚Protestierer’ und gewaltbereiter<br />

‚Ordnungskräfte’ hinzuweisen. Zwischen<br />

ihnen besteht ein psychisch-mentaler symbiotischer<br />

Zusammenhang, der sich – beinahe gesetzmäßig<br />

– in einer Spirale der Gewalt entlädt,<br />

wenn die äußeren Rahmenbedingungen<br />

es zulassen.“ Und weiter: „Unnötig auch zu


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Wadim Falilejew. 1919. Revolutionstruppen. Linolschnitt<br />

sagen, dass eine an politischer Aufklärung interessierte<br />

globalisierungskritische und Friedensbewegung<br />

jegliche Gewalt bei Demonstrationen<br />

strikt ablehnen muss. Sie ist darauf<br />

nicht angewiesen, weil sie die besseren Argumente<br />

hat.“<br />

Das ist ein nobler, achtenswerter Pazifismus,<br />

jedoch keine marxistische Position zur<br />

Gewalt. Die blauen oder gar braunen Bände<br />

der Klassiker müssen nicht durchforstet werden,<br />

um das zu belegen – der berühmte<br />

Schluss des Manifestes möge genügen: „Die<br />

Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten<br />

und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären<br />

es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden<br />

können durch den gewaltsamen Umsturz<br />

aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen<br />

die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen<br />

Revolution zittern. Die Proletarier<br />

haben nichts in ihr zu verlieren als ihre<br />

Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.“<br />

Mein Text entsteht am <strong>Jahre</strong>stag der Erstürmung<br />

der Bastille durch Randalierer,<br />

denn Heinz Küppers definiert in seinem<br />

Wörterbuch der Umgangssprache „Randale“<br />

als „Aufruhr von Menschenmassen“. In der<br />

Französischen Revolution diente der verwandte<br />

Begriff des Vandalismus zur Abgrenzung<br />

einer idealen bürgerlichen Revolution<br />

von radikalen Kräften. Ihre Protagonisten<br />

wie etwa Robespierre seien die neuen<br />

Vandalen. Die Delegitimierung der Gewalt<br />

DISKUSSION 95<br />

der Unterdrückten hat Tradition, sie darf sich<br />

meines Erachtens jedoch nicht – zumal nicht<br />

als einzige (sic!) Position – in einer marxistischen<br />

Zeitung wiederfinden.<br />

Was macht Strutynski bezüglich des Gewaltthemas<br />

in seinem ansonsten in weiten<br />

Teilen völlig zutreffenden Text? Er psychologisiert.<br />

Zwischen dem spanischen Steineschmeißer<br />

und dem deutschen Polizisten<br />

bestünde ein symbiotischer, ein psychisch-mentaler<br />

Zusammenhang. Zu deutsch: Die beiden<br />

brauchen sich gegenseitig. Das ist nicht neu, das<br />

lesen aktive VVNler schon seit längerem in der<br />

bürgerlichen Presse – ihr und die Nazis, ihr<br />

braucht euch doch gegenseitig. Richtig wird so<br />

etwas auch durch den Abdruck in einer marxistischen<br />

Zeitschrift nicht. Der Polizist steht<br />

(ebenso wie der Bundeswehrsoldat) zunächst<br />

mal für den Schutz des kapitalistischen<br />

Systems. Dafür wird er bezahlt, trägt seine<br />

Haut zu Markte. Der Steinewerfer will protestieren,<br />

vielleicht gar das System stürzen –<br />

dafür nimmt er das Risiko an Leib und Leben<br />

auf sich. Das ist keine Symbiose, das ist erstmal<br />

(versuchter) Antagonismus.<br />

Strutynski fantasiert als nächstes eine<br />

Spirale der Gewalt herbei. Wo ist die Gewalt<br />

auf Seiten der Demonstranten, die auch nur<br />

annähernd das Ausmaß erreicht hätte wie auf<br />

Seiten der Polizei? Von der Polizei wurden u.<br />

a. Philipp Müller in Essen, Benno Ohnesorg in<br />

Berlin, Klaus-J. Rattay in Berlin, Olaf Ritz-


96<br />

Mischa Aschmoneit: Gegen Gewalt sein heißt Gegengewalt sein<br />

mann in Hamburg und Günter Saré in Frankfurt<br />

bei Demonstrationen getötet – die vollständige<br />

Liste der Opfer der Polizeigewalt ist<br />

sehr viel länger. Es gibt meines Wissens – mit<br />

Ausnahme der obskuren Todesschüsse an der<br />

Startbahn West, die nicht zu einer Eskalation,<br />

sondern zum Niedergang der Protestbewegung<br />

führten – keinen einzigen bei einer<br />

Demonstration getöteten Polizisten. Polizisten<br />

sind mit Schlagstöcken, Pistolen, Reizstoffsprühgeräten,<br />

Helmen, Schildern, Ganzkörperprotektoren<br />

etc. ausgerüstet – wo ist<br />

das vergleichbare Equipment der Demonstranten?<br />

An der Gewaltspirale wird nur von<br />

einer Seite gedreht, nämlich von oben, und<br />

jede Umdrehung soll als Optimierung der<br />

Inneren Sicherheit im Sinne der Aufstandsbekämpfung<br />

wirken. Denn weder die jeweilige<br />

Regierung noch das kapitalistische Gesellschaftssystem<br />

wird vor einer kerzenbewaffneten<br />

Demonstration, die „Wir sind das Volk!“<br />

bekundet, in die Knie gehen. Das war das<br />

Privileg des real gewesenen Sozialismus, der<br />

selbst in seiner Todesstunde noch Humanität<br />

bewies. Eine Humanität, die leider das (Wieder-)<br />

Auftauchen deutscher Soldaten in allen<br />

Teilen der Welt enorm beschleunigte.<br />

Weiter. Strutynski behauptet, dass eine an<br />

Aufklärung interessierte politische Bewegung<br />

jegliche Gewalt bei Demonstrationen strikt<br />

ablehnen müsse. Eine schöne Vorstellung, wie<br />

Peter an jenem 14. Juli 1789 den zur Bastille<br />

strömenden Handwerkern, Bauern und Tagelöhnern<br />

zugerufen hätte: „Lasst ab von eurem<br />

schändlichen Tun! Sonst wird’s nichts mit der<br />

Aufklärung.“ Man stelle sich weiter vor, sie hätten<br />

auf ihn gehört – welch ein Desaster.<br />

Strutynski glaubt, auf Gewalt nicht angewiesen<br />

zu sein, weil er die besseren Argumente habe.<br />

Besser als wer? Besser als diejenigen, die die<br />

Bastille, das Winterpalais, die Moncada oder<br />

die US-amerikanische Botschaft in Saigon<br />

stürmten? Der erste Weltkrieg wurde auch von<br />

den deutschen Soldaten, die die Gewehre herumdrehten,<br />

beendet. Es bedurfte dazu aber der<br />

Gewehre. Schon im zweiten Weltkrieg fehlte<br />

der überwältigenden Masse der Deutschen<br />

diese Bereitschaft zur Gewalt gegen die eige-<br />

nen Herrschenden. Bei den heutigen Kriegen<br />

können die Opfer des deutschen Militarismus –<br />

folgt man Strutynski – nur noch auf die besseren<br />

Argumente der deutschen Friedensfreunde<br />

hoffen. Knapp 100 <strong>Jahre</strong> nach dem Sozialistenkongress<br />

von Stuttgart wiederholt sich eine<br />

alte Auseinandersetzung. Die französischen<br />

Sozialisten um Jean Jaurès forderten (teilweise<br />

unterstützt von Lenin und Luxemburg) als<br />

Kern der Kongressresolution: „Die Verhütung<br />

und Verhinderung des Krieges ist durch nationale<br />

und internationale sozialistische Aktionen<br />

der Arbeiterklasse mit allen Mitteln, von der<br />

parlamentarischen Intervention, der öffentlichen<br />

Agitation bis zum Massenstreik und zum<br />

Aufstand, zu bewirken.“ Demgegenüber wollten<br />

die deutschen Sozialdemokraten um Bebel<br />

die Existenz der SPD nicht durch „Provokationen“<br />

wie den Aufruf zum Generalstreik gefährden<br />

und vom Aufstand gegen den Krieg<br />

nichts wissen. Sie sahen den kommenden<br />

Weltkrieg als Untergang des Kapitalismus und<br />

verkündeten: „Bis dahin können wir nichts tun<br />

als aufklären und Licht in die Köpfe zu bringen<br />

und organisieren.“<br />

Zurück im Heute – Marxisten und Pazifisten<br />

können eine lange Strecke des Weges zu<br />

einer besseren Welt gemeinsam gehen. Für<br />

Marxisten gilt, Pazifisten vor Angriffen von<br />

Rechten und Ultralinken in Schutz zu nehmen.<br />

Unzulässig ist jedoch eine Vermischung<br />

marxistischer mit pazifistischen Positionen.<br />

Eine Verabsolutierung einer Kampfform kann<br />

es auf marxistischer Basis nicht geben, ebensowenig<br />

wie die Delegitimierung revolutionärer<br />

Gewalt. Die jeweiligen revolutionären<br />

Organisationen bestimmen ihr Verhältnis zu<br />

konkreten Aktionsformen entsprechend ihrer<br />

Strategie und Taktik. Dabei kann es durchaus<br />

zu Widersprüchen zwischen Mitteln und Ziel<br />

kommen – Brecht fasst es als Bitte um<br />

Nachsicht für uns, die wir den Boden bereiten<br />

wollen für Freundlichkeit und selber nicht<br />

freundlich sein können.<br />

Strutynski kann auf Basis seiner – zu respektierenden!<br />

– pazifistischen Haltung auch<br />

nicht zu einer korrekten Analyse der konkreten<br />

Ereignisse bei der Rostocker Demonstra-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

tion finden. Jenseits der Frage, ob Gewalt<br />

gegen Angehörige der Repressionsorgane<br />

eines kriegführenden imperialistischen Staats<br />

moralisch zu rechtfertigen ist, war der Angriff<br />

auf ein einzelnes Polizeiauto ein Fehler, da<br />

erstens die Absprachen im Vorfeld solche Aktionen<br />

ausschlossen und zweitens dieser Angriff<br />

Wasser auf die Mühlen der reaktionären<br />

Sicherheitspolitiker und der Spalter in den<br />

verschiedenen Bündnisorganisationen waren.<br />

Davon zu unterscheiden ist jedoch die<br />

Gewalt, die anschließend von Demonstranten<br />

beim Schutz der Demonstration vor den<br />

Angriffen der Polizei eingesetzt wurde. Es ist<br />

eine Besonderheit der deutschen Kommunisten,<br />

dass sie sich von der Polizei meistens<br />

wehrlos zusammenknüppeln ließen und lassen.<br />

Das mag mit den unterschiedlichen historischen<br />

Erfahrungen während des Faschismus<br />

zusammenhängen (Beteiligung am bewaffneten<br />

Widerstand während des Faschismus und<br />

gesellschaftliche Akzeptanz dessen nach der<br />

Befreiung), aber die aktuellen Kämpfe der<br />

französischen, italienischen oder griechischen<br />

DISKUSSION 97<br />

Arbeiter (und darunter die Kommunisten)<br />

haben explizit keinen „gewaltfreien“ Charakter.<br />

Das war auch in Rostock zu beobachten,<br />

als die Abwehr der Polizeiangriffe stark von<br />

ausländischen Kollegen und Genossen mitgetragen<br />

wurde.<br />

Um ihrer Glaubwürdigkeit willen (die<br />

Vorbedingung des Erfolges ist) muss die systemüberwindende,<br />

die kommunistische Bewegung<br />

in der Lage sein, sowohl ihre eigenen<br />

Veranstaltungen/Demonstrationen und Strukturen<br />

vor staatlichen oder zunehmend auch<br />

faschistischen Angriffen in angemessener<br />

Weise zu schützen als auch Aktionsformen<br />

entwickeln, die effizient und massenhaft gegen<br />

die deutsche Kriegspolitik, den Sozialraub<br />

und die Repression nach Innen anwendbar<br />

sind. Und sie muss einen Weg aufzeigen, der<br />

glaubhaft zum Sozialismus führen kann –<br />

obwohl der Gegner schier unüberwindlich<br />

scheint. Er ist es nicht, sofern die Avantgarde<br />

der unterdrückten Klasse ihrer Aufgabe gerecht<br />

wird und alle Kampfformen klug zu<br />

kombinieren weiß.


98<br />

Finis Germaniae<br />

Georg Fülberth, Finis Germaniae – Deutsche<br />

Geschichte seit 1945, PapyRossa Köln 2007,<br />

ISBN 978-3-89438-360-2, 350 S., 19,60 Euro.<br />

„Finis Germaniae“ (Das Ende Deutschlands):<br />

Unter diesem programmatischen Titel hat Georg<br />

Fülberth in diesem Jahr eine Geschichte<br />

Deutschlands von 1945 bis 2006 herausgebracht.<br />

Sie beginnt mit der Kapitulation der<br />

Wehrmacht als dem Ende des Deutschen<br />

Reiches und endet vorläufig mit dem Herumschippern<br />

der Bundesmarine unter UNO-<br />

Mandat vor der Küste des Libanon, entsandt von<br />

der Großen Koalition aus der Union und der SPD.<br />

Dazwischen gibt es zwei deutsche Geschichten<br />

auf dem verkleinerten Territorium des ehemaligen<br />

Reiches – von der Einrichtung ihrer<br />

Besatzungsregime nach 1945 durch die Alliierten<br />

der Anti-Hitler-Koalition, über die Gründung<br />

und Existenz der beiden deutschen Staaten mit<br />

unterschiedlicher sozialökonomischer Verfassung<br />

bis 1989. Diese Geschichten spielen zunächst<br />

völlig unter der Direktion der Besatzungsmächte<br />

und in einem innigen deutschen<br />

Gegensatz als Agenten des Kalten Krieges. Das<br />

ändert sich nach und nach, aber unterschiedlich,<br />

und führt dann 1989 bis zur Selbstauflösung der<br />

Staatlichkeit der DDR und zur Auflösung der<br />

sozialistischen Gesellschaft. Wie bekannt, gingen<br />

beide in der alten BRD auf. Die machtpolitische<br />

Möglichkeit ergab sich aus der tiefen<br />

Existenzkrise des Staatssozialismus der SU, die<br />

sich dann in den nächsten <strong>Jahre</strong>n ebenfalls aus<br />

der Geschichte verabschiedete.<br />

Die Vereinnahmung der DDR schien mit der<br />

vergrößerten BRD endlich den deutschen<br />

Nationalstaat wieder herzustellen und damit<br />

die seit 1945 bestehende „Deutsche Frage“ endgültig<br />

zu beantworten – nicht aber die weiteren<br />

„Deutschen Fragen“ eines angeblichen „Sonderweges“<br />

und damit verbunden, der undemokratischen<br />

Traditionen und des Strebens nach<br />

Dominanz in Europa.<br />

Diese Sichtweise aus seinem vorherigen<br />

Versuch zur deutschen Nachkriegsgeschichte<br />

von 1999 (Berlin-Bonn-Berlin), hat sich für Fül-<br />

berth in seinem neuen Buch geändert. Gerade in<br />

dem Aufgehen Ostdeutschlands in der BRD sieht<br />

er nun das definitive Ende eines deutschen Nationalstaates<br />

alter Prägung. In seinen eigenen<br />

Worten aus dem „Gebrauchsanweisung“ überschriebenen<br />

Vorwort (S.7):<br />

„Was 19<strong>90</strong> wie die Wiederherstellung einer<br />

deutschen Nationalstaatlichkeit erschien, hat in<br />

Wirklichkeit nicht stattgefunden, und eine solche<br />

ist – sehen wir von allerlei heftig gepflegter<br />

Symbolik ab – auch nicht möglich. Die gesamtdeutsche<br />

Geschichte wurde irgendwann zwischen<br />

1945 und 1949 abgebrochen und 19<strong>90</strong><br />

nicht wiederhergestellt. Übrig blieb eine Region<br />

innerhalb des Kapitalismus – sagen wir: wie<br />

Katalonien. Von den anderen bisherigen europäischen<br />

Nationalstaaten kann dies ebenfalls<br />

gesagt werden. In diesem Buch wird das am<br />

deutschen Beispiel, das insofern keine Ausnahme<br />

ist, gezeigt.“<br />

Diese Bewertung der gegenwärtigen Nationalstaaten<br />

Europas gründet auf einigen tatsächlich<br />

gegebenen langfristigen Tendenzen:<br />

Die holprige Integration Europas zur Supranationalität<br />

und die parallele Integration der<br />

Weltwirtschaft, gemeinhin als „Globalisierung“<br />

missverstanden. Fülberth macht zudem geltend,<br />

dass die Regionen innerhalb der Nationalstaaten<br />

Europas als „Standorte“ wirtschaftlich<br />

bedeutender werden und auf diese Weise die<br />

Staatlichkeit geographisch von unten relativieren.<br />

Dass sich damit die imperialen Ambitionen<br />

Deutschlands oder seiner Großbourgeoisie in<br />

Europa und der Welt erledigt haben, dem ist<br />

unbedingt zuzustimmen; dass damit die<br />

Nationalstaaten als organisierende Überbauten<br />

des Kapitalismus in der Welt ihre besondere<br />

Rolle verloren hätten, dagegen nicht – und das<br />

gilt eben auch für das Europa der EU. Allerdings<br />

haben die nachmaligen Bündnispartner der<br />

USA, ihre West-Alliierten und ihre imperialen<br />

kapitalistischen Feinde des II Weltkrieges, ihre<br />

militärische Souveränität, traditionell als wesentliches<br />

Merkmal eines Staates nach außen<br />

angesehen, spätestens mit dem Sieg der Anti-<br />

Hitlerkoalition und dem folgenden Kalten Krieg<br />

gegen die UdSSR verloren – und sie danach nicht<br />

wirklich wieder gewonnen.


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Im Vorwort sieht Fülberth die Geschichte der<br />

kapitalistischen Nachkriegswelt und damit auch<br />

der Westzonen und der BRD durch zwei „Tatsachen“<br />

geprägt, die gleichzeitig auch zwei Phasen<br />

der Westgeschichte ergeben:<br />

• „Den Kalten Krieg und die gleichzeitige Herausbildung<br />

des Wohlfahrtsstaates 1945-1974<br />

• den Übergang zum Neoliberalismus seit 1974.“<br />

Für die SBZ und die DDR sieht er ebenfalls eine<br />

Zweiteilung, die durch<br />

• „Den Kalten Krieg, die Erweiterung und Stabilisierung<br />

des „Sozialistischen Weltsystems“<br />

1947-1975 und<br />

• Stagnation, Agonie und Zusammenbruch dieses<br />

Systems 1975-1989/91“<br />

bestimmt werde. Zufällig oder nicht, die Einteilung<br />

in zwei Phasen ist auch zeitlich sehr ähnlich.<br />

Auf dem Hintergrund dieser doppelten Zweiteilung<br />

zeichnet der Autor die Geschichte in<br />

Deutschland seit 1945 in insgesamt 18 chronologischen<br />

Kapiteln nach. Im ersten werden der Sieg<br />

der Anti-Hitler-Koalition und der Übergang zum<br />

Kalten Krieg zwischen den USA und der SU und<br />

ihren Blöcken kurz skizziert. Danach werden die<br />

Geschichten der Besatzungszonen der kapitalistischen<br />

„West“-Mächte und der sozialistischen SU<br />

mit der Spaltung, der Gründung von BRD und<br />

DDR und deren Existenz bis zum Ende der<br />

Zweistaatlichkeit 1989 abgehandelt. Bis zum<br />

Kapitel 14 folgen die Darstellungen von Zeitabschnitten<br />

für die BRD und für die DDR jeweils aufeinander,<br />

wobei die gewählten Abschnitte nicht<br />

immer identisch sind. So ergibt sich eine Art parallele,<br />

aber getrennte Darstellung der Entwicklungen<br />

in den beiden Staaten und Gesellschaften.<br />

Die Zeit ab 1989 bis 2006 wird dann in 4 weiteren<br />

Kapiteln geschildert und das Ganze mit einem<br />

kurzen Resümee abgeschlossen.<br />

In seinem Vorwort teilt Fülberth mit, dass<br />

sich der Text über die Westzonen und die alte<br />

BRD zum erheblichen Teil aus seinen Vorarbeiten<br />

zur Geschichte der BRD speist, die in mehreren<br />

Auflagen als „Leitfaden zur Geschichte der BRD“<br />

erschienen sind. Der Text zur DDR hat ebenfalls<br />

schon einen Vorläufer in dem o. g. vorherigen<br />

Versuch einer parallelen Geschichtsdarstellung<br />

der beiden deutschen Staaten von 1999 (Berlin-<br />

BÜCHER 99<br />

Bonn-Berlin). Dazu kommen noch einige wichtige<br />

Arbeiten, die den Versuch, in der DDR<br />

Sozialismus aufzubauen und zu entwickeln, kritisch<br />

darstellen und das Scheitern zu verstehen<br />

suchen.<br />

Auch wenn der Autor in seinem Vorwort die<br />

Absicht äußert, dass er die beiden Staaten und<br />

Gesellschaften immanent und nicht am Maßstab<br />

des je anderen darstellen will, ist das ein<br />

schwieriges Unterfangen. An Sachlichkeit, Distanz<br />

und wissenschaftlicher Korrektheit lässt er<br />

es nicht fehlen, aber der Blick auf die beiden<br />

Gesellschaften erfolgt doch aus einer je anderen<br />

Perspektive. Bei der BRD aus der Perspektive<br />

einer nüchternen Sympathie mit der jeweils linken,<br />

manchmal auch anti-kapitalistischen Opposition,<br />

die die Defizite der BRD und ihres<br />

Kapitalismus mehr oder weniger grundsätzlich<br />

kritisiert und ändern will. Bei der DDR aus der<br />

Distanz eines entfernten Sympathisanten, der<br />

schon länger das historisch unvermeidliche<br />

Scheitern mit ansehen musste, das sich dann<br />

mittels der weniger determinierten Einzelheiten,<br />

den Befürchtungen gemäß, durchsetzt.<br />

Insofern sind die beiden Textstränge, die in ihrer<br />

jeweiligen Einteilung in gewisser Weise plausibel<br />

erscheinen, doch recht verschieden.<br />

Für die Westzonen und die BRD nimmt die<br />

viele Stufen umfassende Integration in den<br />

Kalten Krieg und die Zusammenführung des<br />

kapitalistischen Europas, die Entlassung in die<br />

damit einhergehende politische und ökonomische<br />

relative Selbständigkeit und die dazu quer<br />

liegende Auseinandersetzung über die deutsche<br />

Einheit in den Anfangskapiteln den ersten Platz<br />

und den größten Raum ein. Die sich dagegen<br />

richtenden oppositionellen Tendenzen bekommen<br />

auf diese Weise ebenfalls ein starkes<br />

Gewicht, besonders wenn sie von links getragen<br />

wurden. Dagegen wird die üblicherweise als<br />

„Wirtschaftswunder“ mythologisierte kapitalistische<br />

Entwicklung, mit ihren außergewöhnlichen<br />

Wachstumsraten, der Beseitigung der<br />

Arbeitslosigkeit, des dramatischen Anstiegs des<br />

Lebensstandards der breiten Massen zunächst<br />

jeweils nur recht kurz angeführt. Erst nachdem<br />

dieser kapitalistische Sonnenschein von einigen<br />

Wolken in den 60ern und dann von Unwettern


100<br />

ab 1974 getrübt wird, bekommen die ökonomischen<br />

und sozialen Entwicklungen und die darauf<br />

zielende Politik das bestimmende Gewicht<br />

in Fülberths Darstellung.<br />

Man kann den Eindruck gewinnen, dass diese<br />

Gewichtung mit der Herkunft dieser Textteile<br />

aus dem „Leitfaden zur Geschichte der BRD“<br />

zusammen hängt. Dieser hatte ja auch die Funktion,<br />

die zunächst geschichtslose Linkswendung<br />

der akademischen Jugend Ende der 60er mit<br />

einer kritischen Vorgeschichte der BRD und ihrer<br />

Opposition etwas zu korrigieren. Damals schien<br />

es gerechtfertigt, die frühe Opposition in der<br />

BRD noch mit einem Aufschwung linker Perspektiven<br />

der sozial-liberalen Koalition zu verbinden.<br />

Nach deren Scheitern in vielen <strong>Jahre</strong>n kapitalistischer<br />

Krisenentwicklung und der folgenden<br />

neoliberalen wirtschaftspolitischen Praxis<br />

sowie ihrer geistig-politischen Hegemonie ist<br />

das wohl nicht mehr möglich.<br />

Die oben angesprochene Zweiteilung der<br />

Entwicklungen von BRD und DDR wird von<br />

Fülberth nicht nur mit den Oberflächenphänomenen<br />

des Aufstiegs, von Krisen und des Abstiegs<br />

vorgestellt. Diese Wendepunkte werden<br />

für beide Gesellschaften und beide sozialökonomischen<br />

Formen mit den tiefer liegenden Entwicklungen<br />

der Produktivkräfte in Verbindung<br />

gebracht: dem möglichen und notwendigen<br />

Übergang zu computergesteuerten Werkzeugmaschinen<br />

(CNC). Diese arbeits- und letztlich<br />

kapitalsparende technologische Entwicklungslinie<br />

konnte von der DDR, der SU und dem<br />

gesamten RGW nicht eigenständig entwickelt<br />

und wegen des Embargos der kapitalistischen<br />

Länder auch nicht mit Hilfe des Weltmarktes<br />

eingeführt werden. Dagegen war die BRD als Teil<br />

des kapitalistischen Weltmarktes in der Lage<br />

diese Entwicklungslinie für ihren Maschinenexport<br />

aufzugreifen und auch in die dafür erforderliche<br />

Produktion einzuführen. Allerdings<br />

wurde u. a. dadurch die Prosperitätskonstellation<br />

der Nachkriegszeit in der kapitalistischen<br />

Welt insgesamt einer wesentlichen Stütze beraubt,<br />

nämlich der Steigerung der Konsumnachfrage<br />

aus dem Steigen der Zahl der Arbeitskräfte<br />

und dem Steigen ihrer Entlohnung.<br />

Man könnte es noch schärfer als Fülberth<br />

ausdrücken: Der kapitalistischen Produktionsweise<br />

gelang die Entwicklung und ökonomische<br />

Beherrschung der neuen Produktivkraft, u. a. mit<br />

der weltweiten Arbeitsteilung zwischen den<br />

entwickelten kapitalistischen Ländern, während<br />

die sozialistischen Länder nicht nur an der Entwicklung<br />

und Einführung dieser Produktivkraft,<br />

die die Möglichkeiten des Sozialismus auf eine<br />

neue Stufe hätten heben können, gescheitert<br />

sind, sondern damit letztlich ihre Existenz verloren.<br />

Die konkrete Ausgestaltung der Produktionsverhältnisse<br />

im Sozialismus, in Form der<br />

mangelnden Arbeitsteilung im RGW und der<br />

Blockade der Umsetzung wissenschaftlicher<br />

Ergebnisse in technische Entwicklung und produktive<br />

Anwendung vor allem in der SU (außer<br />

vielleicht im Rüstungssektor), war das entscheidende<br />

Hemmnis seiner Entwicklung und ließ ihn<br />

letztlich scheitern. Da hätte Marx von seinen<br />

politischen Adepten sicher gerne mehr historische<br />

Phantasie, Vernunft und Konsequenz<br />

erhofft – an der wissenschaftlichen Einsicht in<br />

die Notwendigkeiten der sogenannten „WTR“<br />

hat es jedenfalls nicht gefehlt, wie die umfangreiche<br />

Literatur zu dem Thema in den sozialistischen<br />

Ländern zeigt.<br />

Diese oben skizzierte vertiefte analytische<br />

Betrachtung bei den beiden Wendepunkten in<br />

der DDR und der BRD hätte sicher auch manch<br />

anderen Kapiteln gut getan.<br />

Bleibt zum Schluß nachzutragen, was das<br />

Buch sonst noch bietet:<br />

Es umfasst 270 Seiten Text mit einem Anhang<br />

und ist wegen seines handlichen Formats,<br />

gebunden und als hardcover, gut für das Lesen<br />

und Nachschlagen geeignet. Im Anhang gibt es<br />

Anmerkungen mit begrenztem Umfang, ein<br />

Personenregister und eine längere, ausschließlich<br />

chronologische Zeittafel. Dazu gibt es ein<br />

Quellen- und Literaturverzeichnis, das für den<br />

Einführungscharakter des Buches erfreulich kurz<br />

ist, allerdings für diesen Zweck besser etwas<br />

kommentiert wäre.<br />

Insgesamt also ein gut lesbares Buch für alle,<br />

die einen ersten konzentrierten, problembezogenen<br />

und fortschrittsorientierten Überblick zur<br />

Episode des Sozialismus in Deutschland und zum<br />

vermeintlichen Triumphzug der BRD haben wol-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

len. Damit es zum einführenden Standardwerk<br />

für fortschrittlich interessierte Nicht-Wissenschaftlicher<br />

werden kann, fehlen noch einige<br />

Zutaten und in den ersten Kapiteln für die BRD<br />

eine etwas andere Gewichtung der Themen.<br />

Jörg Miehe<br />

Tabus der bundesdeutschen<br />

Geschichte<br />

Eckart Spoo (Hg.): Tabus der bundesdeutschen<br />

Geschichte, Verlag Ossietzky, Hannover 2006,<br />

244 S., ISBN 3-9808137-4-6,15,00 Euro.<br />

„‚Tabus der bundesdeutschen Geschichte’ ist ein<br />

weiteres Werk aus der alten Garde deutscher<br />

Antifaschisten, die sich als wahre Vertreter des<br />

‚besseren Deutschland’ ansehen. Das Buch ... will<br />

die ‚Vor- und Frühgeschichte der Bundesrepublik’<br />

thematisieren und dabei vor allem darauf<br />

hinweisen, dass ‚die alten Besitz- und<br />

Machtverhältnisse wiederhergestellt’ worden<br />

seien. In etlichen Beiträgen scheint die Sichtweise<br />

durch, ... die westdeutsche politische<br />

Klasse habe nichts besseres zu tun gehabt, als die<br />

politischen und ökonomischen Verhältnisse<br />

noch hinter die Reformen der Weimarer Republik<br />

zurückzudrängen.“ (Meine Hervorhebungen, HK)<br />

Mit diesen Worten beginnt eine Rezension<br />

des hier vorzustellenden Werks auf der Website<br />

„Kritische Geschichte“ eines „Netzwerks Gesellschaftskritik<br />

und Geschichtswissenschaft“. Und<br />

im folgenden wird dem Sammelband dann „ein<br />

ökonomistisch verkürzter und an einer besseren<br />

Wahrung deutscher Interessen orientierter<br />

Antifaschismus“ vorgeworfen – beides ohne<br />

auch nur den Schimmer eines Beleges.<br />

Solche sich „kritisch“ gebende Denunziationen<br />

verhelfen zwar noch nicht zu einem<br />

Lehrstuhl an deutschen Universitäten (dafür<br />

sind wohl massivere Anpassungsleistungen<br />

erforderlich), ließen ihren Autor Bernd Hüttner<br />

aber immerhin zum wohlbestallten Mitarbeiter<br />

der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) avancieren ...<br />

In einem hat Hüttner recht: „Die meisten<br />

Beiträge hätten so auch schon vor 20 <strong>Jahre</strong>n er-<br />

BÜCHER 101<br />

scheinen können.“ Er nennt das allerdings<br />

„geschichtslos“, wo es doch im Gegenteil heißen<br />

müsste: es wäre zu geschichtsgetreu, widerspräche<br />

deshalb dem herrschenden Zeitgeist und<br />

wäre damit karrieregefährdend selbst innerhalb<br />

einer sich als links verstehenden Institution wie<br />

der RLS, an Tatsachen zu erinnern und Wahrheiten<br />

auszusprechen, welche die Legende von der BRD<br />

als dem „besseren Deutschland“ konterkarieren.<br />

Genau dies aber tun die 29 Beiträge dieses<br />

Sammelbandes, die auf den Vorträgen einer<br />

Konferenz, die im Herbst 2005 in Hamburg stattfand,<br />

basieren. Sie stammen von Wissenschaftlern<br />

aus Ost und West, darunter auch einigen<br />

jüngeren Publizisten und Zeitzeugen. Der<br />

zeitliche Bogen spannt sich von der unmittelbaren<br />

Nachkriegszeit bis etwa Mitte der 60er<br />

<strong>Jahre</strong>; inhaltlich geht es vor allem um die personellen<br />

und institutionellen Kontinuitäten zwischen<br />

„Drittem Reich“ und BRD in Staat und<br />

Gesellschaft, aber z. B. auch das entsprechende,<br />

ebenfalls Kontinuität wahrende „breite System<br />

der Einschüchterung und Verfolgung gegen<br />

links“ (G. Judick).<br />

Ja, nicht wenig von dem, was dort zu lesen ist,<br />

ist zumindest dem Grundtenor nach „der alten<br />

Garde deutscher Antifaschisten“, aber auch<br />

interessierten 68ern bekannt: teils aus bitterer<br />

eigener Erfahrung – etwa mit der Adenauerjustiz<br />

und -polizei –, teils aus Veröffentlichungen<br />

wie dem „Braunbuch“ über „Kriegs- und Naziverbrecher<br />

in der Bundesrepublik“ oder dem<br />

„Graubuch“ zu „Expansionspolitik und Neonazismus<br />

in Westdeutschland“ – beides umfangreiche,<br />

wohlbelegte Dokumentationen, die<br />

bereits in den 1960er <strong>Jahre</strong>n in der DDR erschienen<br />

sind. (Der Bezug bzw. Besitz dieser Bücher,<br />

wie übrigens sogar der MEW, wurde noch in den<br />

70er <strong>Jahre</strong>n als Indiz für Verfassungsfeindlichkeit<br />

gewertet und zur Begründung von<br />

Berufsverboten herangezogen.)<br />

Der regierungsoffiziellen Propaganda stehen<br />

jährlich zig Millionen Euro – man denke nur an<br />

die Birthler-Behörde – zur Verfügung, um das<br />

„andere Deutschland“, die DDR, zu „delegitimieren“.<br />

Und sie kann dabei auf die fast einhellige<br />

Unterstützung eines gigantischen massenmedialen<br />

Apparats rechnen, der dasselbe Ziel ver-


102<br />

folgt. Deshalb ist es, um ein Wort Brechts aufzugreifen,<br />

auch in dieser Sache nötig, das tausendmal<br />

Gesagte noch einmal zu sagen. Es gibt<br />

Millionen junger Menschen, die das „tausendmal<br />

Gesagte“ noch nie gehört haben. Wer, wenn<br />

nicht wir, sollte die Kenntnisse und Erfahrungen<br />

der „alten Garde“ an sie weitergeben?<br />

Aber der vom unermüdlichen Eckart Spoo<br />

herausgegebene verdienstvolle Band bringt<br />

auch für Angehörige, selbst Historiker, meiner,<br />

der 68er Generation manches Neue und Überraschende.<br />

Ich denke etwa an Ludwig Elms Untersuchung<br />

von Adenauers Regierungserklärung<br />

1949 oder an Otto Köhlers Artikel „Selbstentnazifizierung“,<br />

in dem er dem – gefälschten –<br />

Lebenslauf Höpker-Aschoffs, des ersten Präsidenten<br />

des Bundesverfassungsgerichts, nachgeht.<br />

Und dem Umgang der „offiziellen“ BRD-<br />

Zeitgeschichtsschreibung damit ... Ein, zudem<br />

brillant geschriebenes, Musterbeispiel für investigativen<br />

Journalismus!<br />

Hermann Kopp<br />

Rechtsextremismus<br />

in Frankreich<br />

Bernhard Schmid, Das Frankreich der Reaktion –<br />

Neofaschismus und modernisierter Konservatismus,<br />

Pahl-Rugenstein-Verlag Nf., Bonn 2007,<br />

ISBN 978-3-89144-378-1, 194 S., brosch., 14,<strong>90</strong> Euro.<br />

Das Buch von Bernhard Schmid behandelt<br />

eigentlich zu mindestens 80 Prozent die jüngere<br />

Geschichte des französischen Rechtsextremismus.<br />

Schwerpunkt ist dessen Hauptformation,<br />

die LePen-Partei „Front National“ (FN).<br />

Der im Untertitel erwähnte „modernisierte<br />

Konservatismus“, also das Spektrum der „etablierten“<br />

bürgerlich-konservativen Rechtskräfte<br />

in seiner neuesten Ausprägung unter Sarkozy,<br />

wird dagegen weniger ausführlich behandelt.<br />

Die Erfolge der französischen Rechtsextremisten<br />

in den <strong>Jahre</strong>n 1995 – 2002 mit dem<br />

Höhepunkt des alarmierenden Wahlerfolgs von<br />

Le Pen im zweiten Wahlgang der Präsidentenwahl<br />

2002 und die darin sich ausdrückende<br />

Durchdringung eines Teils der französischen<br />

Gesellschaft mit der rechtsextremistischen rassistischen,<br />

nationalistischen und „Staatsautorität“<br />

propagierenden reaktionären Ideologie<br />

war sicher einer der Faktoren, die fünf <strong>Jahre</strong> später<br />

den Wahlerfolg Sarkozys ermöglichten.<br />

Zumal Letzterer sich im Wahlkampf viele Parolen<br />

der Rechtsextremisten zu eigen gemacht hatte.<br />

Aber zur Erklärung des „Sarkozy-Durchmarsches“<br />

bei der letzten Präsidenten- und Parlamentswahl<br />

reicht das nicht aus. Der „modernisierte<br />

Konservatismus“ und seine aktuelle konkrete<br />

Ausprägung à la Sarkozy umfasst mehr<br />

und hat tiefer liegende gesellschaftspolitische<br />

Wurzeln. Das wäre eine eigenständige und<br />

wahrscheinlich sehr viel umfangreichere Untersuchung<br />

wert, als sie in dem vorliegenden Buch<br />

mit seinen knapp 200 Seiten dargestellt werden<br />

konnte. Insofern erweckt der Buchtitel „Das<br />

Frankreich der Reaktion“ vielleicht größere<br />

Erwartungen, als der Text halten kann. Über die<br />

ideologischen Bezüge zum Rechtsextremismus<br />

hinaus wäre dabei wohl vor allem eine umfassendere<br />

Untersuchung der gegenwärtigen<br />

Interessen und Ziele der <strong>heute</strong> in Frankreich<br />

herrschenden Klasse, der im Unternehmerverband<br />

MEDEF sich ausdrückenden Kräfte des<br />

Großkapitals und der ihm dienenden Beamten-,<br />

Militär- und Politikerkaste erforderlich. Der<br />

Versuch dieser Kreise, die in Frage gestellte weltpolitische<br />

Rolle Frankreichs so gut wie möglich<br />

zu bewahren und wenn möglich wieder auszubauen,<br />

liefert meines Erachtens dafür den<br />

Schlüssel. Diese Zielsetzung korrespondiert mit<br />

der „Notwendigkeit“ der „Effektivierung“ des<br />

französischen Kapitalismus im Inneren. Deshalb<br />

der von Sarkozy im Zeichen der „nationalen<br />

Größe“ und der „Wertschätzung von Arbeit und<br />

Leistung“ vorangetriebene innenpolitische Angriff<br />

auf „alte“ sozialpolitische Errungenschaften,<br />

die von den französischen Gewerkschaften<br />

und Linken lange Zeit mit einigem Erfolg verteidigt<br />

werden konnten. Dazu wiederum gehört<br />

das Streben nach einer „strafferen Führung“ des<br />

Landes, eine repressivere Handhabung der<br />

Staatsgewalt und die Einschränkung demokratischer<br />

Rechte und Freiheiten wie des Streikrechts.<br />

Aber auch die von Sarkozy nach seinem<br />

Amtsantritt betriebene „Politik der Öffnung“ fin-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

det darin eine Erklärung. Sie zielt auf die Einbindung<br />

eines Teils der französischen Sozialdemokratie<br />

und auch von in Frankreich lebenden<br />

und zu einer gewissen etablierten Stellung<br />

gelangten Teilen der maghrebinischen Immigration<br />

als „linke Feigenblätter“ in die von den<br />

Rechten bestimmte neoliberale Staatspolitik.<br />

Hierzu gehört ebenfalls der Versuch eines<br />

Arrangements mit bestimmten Teilen der französischen<br />

Gewerkschaften zwecks Spaltung der<br />

Gewerkschaftsbewegung und Isolierung ihrer<br />

linken Strömungen. Auf diese Zusammenhänge,<br />

die in der französischen Debatte nach den<br />

Wahlen viel Beachtung fanden, geht das vorliegende<br />

Buch jedoch kaum ein – vielleicht konnte<br />

es aus Zeitgründen darauf auch noch gar nicht<br />

eingehen.<br />

Wer sich jedoch detailliert über die Entwicklung<br />

des französischen Rechtsextremismus<br />

in den letzten zwanzig <strong>Jahre</strong>n und speziell des<br />

„Front National“ (FN) informieren will, ist mit<br />

der Schrift von Bernhard Schmid gut bedient.<br />

Der seit 1995 in Paris lebende 36 <strong>Jahre</strong> alte Journalist,<br />

der u. a. für die Schweizer „Wochenzeitung“<br />

und verschiedene andere Medien tätig<br />

ist, liefert einen mit vielen Zitaten, Zahlen und<br />

Quellenangaben versehenen informativen<br />

Überblick über die politischen und ideologischen<br />

Wendungen, die den Aufstieg der 1972<br />

gegründeten „FN“ von einer Splitterpartei,<br />

bestehend aus ehemaligen Mittätern und Mitläufern<br />

des Vichy-Regimes, Ex-Kolonialfranzosen<br />

aus Algerien und autoritären katholischen<br />

Fundamentalisten, bis zu den Wahlerfolgen bei<br />

den Kommunalwahlen 1995 und dann bei der<br />

Präsidentenwahl 2002 wie auch die anschließende<br />

Phase der Stagnation und des Rückgangs<br />

begleiteten. Wir erfahren von den inneren<br />

Auseinandersetzungen der verschiedenen Strömungen<br />

in diesem Lager, von den verschiedenen<br />

politischen Kurswechseln der „FN“, vor allem<br />

aber von den Themen und Taktiken, mit denen es<br />

ihr gelang, nicht nur in den durch die kapitalistischen<br />

Krisenprozesse verunsicherten und<br />

bedrohten kleinbürgerlichen Mittelschichten,<br />

sondern auch in Teilen der Arbeiterklasse<br />

Einfluss zu gewinnen und eine gewisse Basis<br />

aufzubauen. Das ermöglicht einen Vergleich<br />

BÜCHER 103<br />

über Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit<br />

ähnlichen Entwicklungsprozessen in Deutschland<br />

und anderen EU-Staaten. Zu den Gemeinsamkeiten<br />

gehört, dass der Rechtsextremismus<br />

auch in Frankreich neben seinem ideologischen<br />

Gebräu aus Rassismus, Fremdenfeindlichkeit,<br />

Nationalismus und Autoritätspropaganda vor<br />

allem das Thema der „inneren Sicherheit“ und<br />

Kriminalitätsbekämpfung zu instrumentalisieren<br />

und sich darüber hinaus den Anstrich einer<br />

„sozialen Protestpartei“ gegen „das System“,<br />

sogar mit antikapitalistischen und „globalisierungskritischen“<br />

Standpunkten, zu geben versucht.<br />

Die detaillierte Darstellung der Versuche<br />

der französischen Rechtsextremisten, den sozialen<br />

Protest mit Hilfe der Parole von der „priorité<br />

nationale“, also der systematischen „Bevorzugung<br />

der Einheimischen“ in eine ausländerfeindliche<br />

Richtung zu kanalisieren, parallel zu<br />

den Bemühungen, auf dieser Grundlage auch<br />

eigene „Gewerkschaften“ und sogar „Suppenküchen“<br />

in als „soziale Brennpunkte“ geltenden<br />

Stadtteilen zu schaffen, erweitert unseren Blick<br />

auf das, was auch in unserem Land von den verschiedenen<br />

Fraktionen des Rechtsextremismus<br />

und Neofaschismus in dieser Hinsicht noch versucht<br />

werden könnte. Er dient damit der<br />

Schärfung unserer Wachsamkeit. Allerdings ist<br />

die Darstellung auch hier vorwiegend auf die<br />

Schilderung der taktischen Varianten und ideologischen<br />

Variationen des Rechtsextremismus<br />

konzentriert. Die Frage nach tiefer liegenden Zusammenhängen<br />

mit der gesamtgesellschaftlichen<br />

Entwicklung Frankreichs bleibt weitgehend<br />

unbehandelt. Beispielsweise welche Rolle<br />

spielen diese Kräfte <strong>heute</strong> in Frankreich aus der<br />

Sicht der herrschenden Klasse? Wie sind sie in<br />

die Strategie der die französische Gesellschaft<br />

dominierenden großkapitalistischen Kreise eingebunden?<br />

Welche Querverbindungen gibt es?<br />

Wer finanziert sie und aus welchen Gründen?<br />

Darüber hätte man gern mehr erfahren.<br />

Unbeschadet dessen bleibt das Buch jedoch<br />

eine aufschlussreiche Materialsammlung für<br />

alle, die sich mit dem Rechtsextremismus auseinandersetzen<br />

müssen – gerade auch für entsprechende<br />

Bewegungen außerhalb Frankreichs<br />

und speziell in unserem Land. Georg Polikeit


104<br />

Großer Widerspruch China<br />

Autorenkollektiv (Weidong Cao u. v. a.), Großer<br />

Widerspruch China. Argument Verlag, Hamburg<br />

2007, 310 Seiten, 22,00 Euro.<br />

Das Buch „Großer Widerspruch China“, erschienen<br />

als Doppelband der Zeitschrift Argument,<br />

hat es in sich: In 26 Beiträgen äußern sich 30<br />

Autoren über das gegenwärtige China, darunter<br />

bekannte Namen wie Thomas Heberer, Anita<br />

Chan, Rolf Geffken, Bettina Gransow und Oskar<br />

Negt. Für die Linke des deutschen Sprachraums<br />

scheint China kein einfaches Thema zu sein,<br />

denn nur wenige Veröffentlichungen haben sich<br />

in den letzten <strong>Jahre</strong>n mit den aktuellen<br />

Ereignissen in der Volksrepublik auseinandergesetzt.<br />

Eine schon etwas länger währende Debatte<br />

haben Martin Hart-Landsberg und Paul<br />

Burkett durch ihre Veröffentlichung „China and<br />

Socialism“, die zunächst als Doppelband der<br />

Monthly Review erschien, angeschoben. An ihrer<br />

weitreichenden Kritik der Verhältnisse in der VR<br />

China kommt derzeit wohl kaum ein „westlicher“<br />

Autor vorbei, der sich ernsthaft mit China<br />

befassen will. Einige ihrer Positionen finden sich<br />

folgerichtig auch im „Großen Widerspruch<br />

China“ wieder.<br />

Die „Weltmarktmacht China“ (Haug) wird in<br />

Deutschland bisher – massenmedial aufbereitet<br />

– mit Arbeitsplatzverlagerung und Umweltdumping<br />

assoziiert. Allzu häufig wird China in<br />

den Medien als Projektionsfläche missbraucht,<br />

um Besitzstandsängste zu schüren oder angebliche<br />

„deutsche Missstände“ indirekt zu thematisieren.<br />

Dabei wird konstatiert, dass alles, was in<br />

China vorhanden zu sein scheint, dem Standort<br />

Deutschland fehlt, um den Siegeszug als Exportweltmeister<br />

fortsetzen zu können: niedrige<br />

Löhne, flexible Arbeitszeiten, handlungsfähige<br />

Entscheidungsträger, niedrige Steuern usw. Der<br />

Argument-Redaktion sei Dank, in ihrer Veröffentlichung<br />

geht es endlich einmal um China, was<br />

einen tieferen Einblick in die Verhältnisse zulässt.<br />

Durch die Fülle von Beiträgen werden verschiedenste<br />

wichtige Themenbereiche abgedeckt,<br />

darunter die Frage der Arbeitsbeziehungen<br />

(Chan), die Lage der Frauen (Hong, Gransow, Wei,<br />

Wichterich, Spakowski), der ökologischen Auswirkungen<br />

des Wirtschaftswachstums (Dale<br />

Jiajun Wen) und des Nationalismus (Heberer/Senz).<br />

Die sich weiter auffächernde<br />

Themenbreite von Außenpolitik über Philosophie<br />

bis zu Beiträgen über Film und Musik lassen den<br />

„Großen Widerspruch China“ als einen (etwas<br />

überambitionierten) Versuch erscheinen, hier so<br />

etwas wie einen alternativen Länderbericht<br />

China vorzulegen. Trotzdem ist der Doppelband<br />

wertvoll, sind in ihm doch eine Reihe ernst zu<br />

nehmender Beiträge enthalten, die gewöhnlich<br />

in verschiedenen Zeitschriften verstreut sind.<br />

Stefan Schmalz beispielsweise behandelt die<br />

Besonderheiten des „nationalen Entwicklungsprojekts“<br />

China und dessen „organisierte strukturelle<br />

Heterogenität“ (33). Einerseits hält er fest,<br />

dass die voluntaristische Politik des „Großen<br />

Sprungs“ und der „Kulturrevolution“ großen<br />

Schaden anrichtete, andererseits sieht er gerade<br />

darin den „Ausgangspunkt für die wirtschaftspolitischen<br />

Erfolge der Reformpolitik nach Maos<br />

Tod“ (35). Merkmale dieser Reformpolitik seien u.<br />

a. eine „Entpolitisierung von Partei und Gesellschaft“,<br />

das Fehlen einer „handlungsfähigen<br />

Kapitalistenklasse“ (36) und das Agieren Chinas<br />

„als Bündnispartner der Staaten der Peripherie“<br />

(37). Der chinesische Entwicklungsprozess lässt<br />

sich nach Schmalz kaum in gängige Theoriemodelle<br />

einbinden, die „Janusköpfigkeit“ des<br />

chinesischen Modells trage „zur entwicklungstheoretischen<br />

Verwirrung“ bei (38).<br />

Boy Lüthje vom Institut für Sozialforschung<br />

sieht in der chinesischen Entwicklung eine „relativ<br />

erfolgreiche Transformation eines planwirtschaftlichen<br />

in ein kapitalistisches System“ bei<br />

„starke[r] Kontinuität in den politischen und<br />

sozialen Institutionen“ (61). Der Unternehmenstyp<br />

State Owned Enterprises (SOE, mehrheitlich<br />

in staatlichem Eigentum) sei <strong>heute</strong> dominierend,<br />

werde allerdings entsprechend marktwirtschaftlicher<br />

Gewinnorientierung geführt. Proteste<br />

gegen betriebliche Umstrukturierungen<br />

beschränken sich seiner Ansicht nach auf einzelne<br />

Ereignisse bzw. Personen und stellen die allgemeine<br />

Politik nicht in Frage.Während die wirtschaftliche<br />

Struktur Chinas sich verändert, sieht


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

er die Gewerkschaftsbewegung, die keine<br />

(Kampf-)Erfahrung habe, nicht auf die gegenwärtige<br />

Lage vorbereitet, während der Gesetzgeber<br />

auf „harmonische Arbeitsbeziehungen“<br />

(68) nach deutsch-skandinavischem Vorbild<br />

setze. Gleichzeitig weise die Tendenz in Richtung<br />

einer „wachsende[n] Differenzierung der betrieblichen<br />

Produktionsregime“ (74), die eher<br />

dem japanischen Muster entspräche. Er kommt<br />

zu dem Schluss:<br />

Das Studium dieser Entwicklung dürfte einen<br />

wesentlichen Beitrag zur Überwindung illusionärer<br />

Vorstellungen bezüglich der Perspektiven<br />

sozialistischer Theorie und Praxis der KPCh wie<br />

auch übertriebener Hoffnungen auf Massenwiderstand<br />

gegen den Neoliberalismus in China<br />

leisten. (74)<br />

Das Fortbestehen bzw. Wiederaufleben traditioneller<br />

Denkweisen in China haben mehrere<br />

Autoren zu ihrem Thema gemacht. Hong Tae-<br />

Hee behauptet sogar, die Kontinuität des „ungeheuerliche[n]“<br />

(sic!) chinesischen Staates, der<br />

„ohne besondere Einwände“ (124) von der<br />

Kulturrevolution über die Ereignisse 1989 bis hin<br />

zur weiterhin praktizierten Vollstreckung von<br />

Todesurteilen in der Gegenwart fortgeführt<br />

werde, lasse sich durch den Ahnenkult erklären,<br />

was bezweifelt werden darf. Augenscheinlich<br />

verschmelzen jedoch unreflektierte Teilaspekte<br />

chinesischer Tradition mit einer sich ausbreitenden<br />

Konsumgesellschaft, die in der Angleichung<br />

der Geschlechterrollen der Mao-Ära rückblickend<br />

eine „Anpassung an männliche Standards“<br />

erkennen will und der <strong>heute</strong> eine „Feminisierung<br />

des Frauenbildes“ (Spakowski, 153)<br />

entgegengestellt wird. Dieser Entwicklung kann<br />

sich auch eine sozialistische „Massenorganisation“<br />

wie der chinesische Frauenverband nicht<br />

entziehen.<br />

Der vielleicht wichtigste Beitrag stammt von<br />

den Autoren Heberer und Senz, da sie überzeugende<br />

Erklärungsansätze und Einschätzungen<br />

zum stärker werdenden Nationalismus in China<br />

vermitteln. Sie weisen zunächst auf „komplexe<br />

und sich verändernde chinesische Realitäten“<br />

(163) hin und sehen das „Hauptziel der Parteigründung“<br />

der KPCh nicht etwa in „der Emanzipation<br />

des Proletariats“, sondern in der<br />

BÜCHER 105<br />

„Befreiung der Nation“ (166). Innere Einheit<br />

werde von der chinesischen Führung als erforderliche<br />

Voraussetzung für Stabilität und<br />

Wachstum unter den vorgefundenen Bedingungen<br />

gesehen. Ziel sei vor allem ein souveränes<br />

und international anerkanntes China. Das<br />

Selbstbild der KPCh als einer Partei des ganzen<br />

Volkes wird so – und unter Berücksichtigung der<br />

Klassenkampferfahrung aus der Zeit der Kulturrevolution<br />

– leichter verständlich, denn eine entsprechende<br />

Modernisierungsideologie beansprucht<br />

eine „Identität von Sozialismus, Parteiherrschaft,<br />

Modernisierung und nationalem<br />

Interesse“ (170). Der von der KPCh propagierte<br />

Nationalismus greife zu diesem Zweck nicht nur<br />

auf konfuzianische Elemente zurück, sondern<br />

auch auf die Tradition antiimperialistischer<br />

Bewegungen aus der Zeit vor der Gründung der<br />

Volksrepublik. Nach Ansicht von Heberer und<br />

Senz ist dieser Nationalismus nicht mit dem<br />

Nationalismus in Europa gleichzusetzen.<br />

Weitere wertvolle Beiträge hätten es verdient,<br />

an dieser Stelle berücksichtigt zu werden. Rolf<br />

Geffken beispielsweise sieht beim Aufbau eines<br />

rechtsstaatlichen Systems in der VR vor allem das<br />

Problem, dass durch die Reformpolitik ein „Übergewicht<br />

der Regionen“ (79) entstanden ist, welches<br />

eine einheitliche Rechtspraxis in China<br />

erschwert. Seiner Auffassung nach kommt dem<br />

Recht in China „nur eine partielle Steuerungsfunktion<br />

zu, die im Wesentlichen [...] vom<br />

Kräfteverhältnis zwischen Region und Zentrale“<br />

(87) abhängig ist. Aber in diesem Beitrag, der<br />

fachliches Wissen um die Diskussionen der beteiligten<br />

gesellschaftlichen Kräfte in der Volksrepublik<br />

offenbart, zeigen sich Schwächen. Helmut<br />

Peters hat dem Doppelband den notwendigen<br />

Dienst erwiesen, exemplarisch in Bezug auf<br />

Geffkens Ausführungen Grundsätzliches zur<br />

Sprache zu bringen. Seine „Anmerkungen“ greifen<br />

ein Problem auf, das sich bei fast allen der<br />

beteiligten Autoren – als Ausnahmen können<br />

Heberer/Senz und Schmalz bezeichnet werden –<br />

finden lässt. Peters schreibt: „Der Beitrag hat keinen<br />

eindeutigen historisch-gesellschaftlichen<br />

Bezugspunkt zum Entwicklungsstand der chinesischen<br />

Gesellschaft“ (89). Die Transformation<br />

zum Kapitalismus werde von Geffken vorausge-


106<br />

setzt, nicht jedoch nachgewiesen. Tatsächlich<br />

gehen einigen der Autoren Begriffe wie „Staatssozialismus“<br />

(Haug), „Kapitalismus“ (u. a. Negt)<br />

oder auch „roter Neoliberalismus“ (Wichterich)<br />

sehr leicht von der Hand, ohne dass diese erläutert<br />

werden. Da es sich um Begriffe handelt, die<br />

Argument-Lesern häufig unterkommen dürften,<br />

erscheint die Anwendung in Bezug auf China<br />

offenbar unproblematisch. Es bleibt dann nur<br />

noch die Frage,„um welchen Kapitalismus es sich<br />

in China handelt; ist es ein politisch bedingter<br />

Kapitalismus, ein Händlerkapitalismus, Abenteurer-<br />

und spekulativer Kapitalismus?“ (Negt,<br />

25). Der Standpunkt der chinesischen Regierung<br />

oder der KPCh bzw. ihre Vorstellungen von einer<br />

„sozialistischen Marktwirtschaft“ werden nicht<br />

berücksichtigt bzw. erläutert. Doch soll eine derartige<br />

Publikation – immerhin ein Doppelband –<br />

einen Beitrag zum Verstehen chinesischer Realitäten<br />

leisten, so müssen sich diese Positionen<br />

darin wiederfinden. Die einleitende (Schutz-)Behauptung<br />

Haugs, der „Große Widerspruch China“<br />

sei einer im Marxismus (2), ist in dieser Hinsicht<br />

irritierend, denn gerade streitbare Beiträge, die<br />

sich um eine marxistische Position zu China<br />

bemühen, sind merklich unterrepräsentiert.<br />

Lars Mörking<br />

Neuer Imperialismus?<br />

Deppe, Frank u.a. (2004): Der neue<br />

Imperialismus. Distel Verlag, Heilbronn,<br />

ISBN 3-929348-35-7, 9,50 Euro.<br />

Die Wiederentdeckung des Imperialismus-Begriffs<br />

durch neokonservative Publizisten ist Ausgangspunkt<br />

des Buches „Der neue Imperialismus“.<br />

Ziel der Autoren um den Marburger Politikwissenschaftler<br />

Frank Deppe war es, dieser<br />

Imperialismus-Debatte auf den Grund zu gehen<br />

und „die theoretische und praktische Kritik am<br />

neuen Imperialismus [...] zu stärken“ (9).<br />

Auf 147 Seiten im Taschenbuch-Format gehen<br />

die Autoren überwiegend chronologisch vor.<br />

Gegliedert haben sie ihr Buch in aufeinander folgende<br />

Epochen, mit einer Beschreibung des<br />

jeweiligen historischen Kontextes sowie einer<br />

Darstellung und Bewertung der zeitgenössischen<br />

Imperialismustheorien.<br />

Die erste Epoche bezeichnen sie in Anlehnung<br />

an die Definition des Historikers Wolfgang<br />

J. Mommsen als das „Zeitalter des Imperialismus“,<br />

in dem sich die „wirtschaftlichen und politischen<br />

(vor allem: geopolitischen) Interessengegensätze<br />

zwischen den Staaten“ bis zu Weltkriegen<br />

zuspitzten (13). Neben der Imperialismustheorie<br />

des liberalen Ökonomen J. A. Hobson,<br />

deren Kern eine Unterkonsumtionstheorie<br />

ist, steht vor allem die marxistische Imperialismusdiskussion<br />

im Vordergrund. Dabei werden<br />

unterschiedliche Akzente im Verständnis des<br />

Imperialismus gegenübergestellt: Als „politische[r]<br />

Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation<br />

in ihrem Konkurrenzkampf um die<br />

Reste des [...] nicht-kapitalistischen Weltmilieus“<br />

(Luxemburg), als Ausdruck des tendenziellen<br />

Falls der Profitrate (Bucharin) sowie als<br />

Monopolisierung des Kapitals und höchstes Stadium<br />

des Kapitalismus (Lenin).<br />

Die zweite Epoche (1945 – 1970er) wird als<br />

„Zeitalter der Systemkonkurrenz“ bezeichnet<br />

und charakterisiert sich entsprechend aus den<br />

Bedingungen, wie sie die <strong>Oktoberrevolution</strong> 1917<br />

und die Neuordnung nach dem Zweiten<br />

Weltkrieges hinterlassen haben: Die Blockkonfrontation<br />

im Kalten Krieg, das Ende der Kolonialherrschaft<br />

und das Auftreten antiimperialistischer<br />

Bewegungen sowie eine widersprüchliche<br />

Entwicklung der kapitalistischen Ökonomien<br />

unter der Hegemonie der USA. Kennzeichnend<br />

hierfür sei das Bretton-Woods-<br />

System sowie die Etablierung des „fordistischen<br />

Akkumulationsregimes“ (vgl. 41-43).<br />

Neben angerissenen „neoimperialistischen“<br />

Theorien ist dabei die Darstellung der Theorie<br />

des „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ von<br />

Bedeutung. Diese Weiterentwicklung der Leninschen<br />

Imperialismustheorie geht von einer weiteren<br />

Konzentration des Kapitals sowie der stärkeren<br />

Rolle des Staats bei der Finanzierung der<br />

Großproduktion aus (vgl. 58).<br />

Die Krise des „fordistischen Akkumulations-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

regimes“, einhergehend mit dem Zusammenbruch<br />

des Bretton-Woods-Systems auf internationaler<br />

Ebene, leitete die Epoche des „Neuen<br />

Imperialismus“ ein. Mit Bezug auf Leo Panitch<br />

und Sam Gindin betrachten die Autoren diesen<br />

als „imperiale Ordnung mit den USA als Machtzentrum“<br />

(125). Die USA verfügten als einzige<br />

über die Fähigkeit, die Spielregeln des Weltmarktgeschehens<br />

zu bestimmen und politischmilitärische<br />

Macht zum Schutz dieser Ordnung<br />

anzuwenden (vgl. 124). Den „Euroimperialismus“<br />

bezeichnen sie als „eher [...] marginales politisches<br />

Projekt“ (129). Ferner benennen sie mit<br />

Bezug auf David Harvey die Ursachen der<br />

„neuen Formen der Gewalt“ seit dem Ende der<br />

Systemkonfrontation als „Akkumulation durch<br />

Enteignung“, in der dem Kapital „wieder jene<br />

Bereiche zur privaten Verwertung“ geöffnet<br />

werden, „die einst nicht profitabel genug waren<br />

oder durch Ergebnisse des Klassenkampfes in<br />

staatlicher Regie betrieben wurden“ (123).<br />

Diese „Akkumulation durch Enteignung“<br />

meint im Kern aber eine Zentralisation von<br />

Kapital und unterscheidet sich insofern von der<br />

Reproduktion des Kapitals auf erweiterter<br />

Stufenleiter: Es findet keine Produktion von<br />

Mehrwert statt, das gesellschaftliche Gesamtkapital<br />

bleibt unverändert 1 . Hier werden die<br />

Weichen für die programmatischen Elemente<br />

des Buches gestellt. Der dominierende Widerspruch<br />

im Kapitalismus liegt nicht mehr zwischen<br />

Kapital und Arbeit, sondern zwischen<br />

Globalisierungsverlierern und dem Kapital („Akkumulation<br />

durch Enteignung“). Den progressiven<br />

Teilen der Arbeiterklasse wird darin zwar<br />

eine „unentbehrliche Rolle“ (141) zugeschrieben,<br />

dennoch bemerken die Autoren: „Der Glaube an<br />

die befreiende Kraft der Arbeiterklasse [...] ist<br />

schwer angeschlagen“ (130) und es sei kaum<br />

anzunehmen, dass politisch stärker werdende<br />

soziale Bewegungen in der Zukunft auf politische<br />

Organisationskonzepte wie das einer nationalen<br />

Partei zur Machtergreifung im Staat<br />

zurückgreifen werden (vgl. 143 f.). Damit stellt<br />

sich natürlich die Frage, ob sich Subjekte von<br />

Gesellschaftsveränderung über ihr subjektives<br />

Wollen oder vielmehr durch ihre objektive Rolle<br />

im Produktionsprozess und damit der Mög-<br />

BÜCHER 107<br />

lichkeit zur Durchsetzung gesellschaftlicher<br />

Veränderungen definieren.<br />

Inhaltlich bleibt die Auseinandersetzung mit<br />

der Leninschen Imperialismustheorie, die auch<br />

in Form der Theorie des „staatsmonopolistischen<br />

Kapitalismus“ zweifelsohne einen gewissen<br />

Einfluss besaß, durchgängig oberflächlich.<br />

Die Frage, ob die Leninsche Theorie des monopolistischen<br />

Kapitalismus „die konzeptionelle<br />

Erfassung der wesentlichen Merkmale des<br />

Imperialismus im allgemeinen“ 2 darstellt, wird<br />

mit ihrer Einordnung in die Kategorie des<br />

„alten“, bzw. „klassischen Imperialimus“ beantwortet.<br />

2 In verschiedenen Abschnitten wird u. a.<br />

der Vorwurf des „Klassenreduktionismus“ beim<br />

Staatsverständnis geäußert (vgl. 63) oder auch<br />

Sätze wie: „Die Anhänger marxistisch-leninistischer<br />

Imperialismus-Theorien neigten stets<br />

dazu, die Rolle der Arbeiterklasse in den Metropolen<br />

für den Kampf zur Überwindung des<br />

Imperialismus zu übertreiben“ (142). Auch wird<br />

deutlich, dass die Abschnitte aus unterschiedlicher<br />

Feder stammen. Wird im Abschnitt zur<br />

Theorie Harveys noch ein Rückfall in „einfachen<br />

Klassenreduktionismus“ und damit das Schema<br />

der „klassischen Imperialismustheorien“ kritisiert,<br />

wird eine Seite weiter im Abschnitt<br />

„Antiimperialismus <strong>heute</strong>“ positiv auf Engels<br />

„ideellen Gesamtkapitalisten“ Bezug genommen<br />

(vgl. 118 f.). Hier wäre es sicherlich hilfreich<br />

gewesen, die Urheber der jeweiligen Kapitel zu<br />

kennzeichnen.<br />

Dennoch ist es den Autoren gelungen, einen<br />

empfehlenswerten Überblick von Imperialismustheorien<br />

unterschiedlicher Couleur vorzulegen.<br />

Der Beitrag zur Handlungsorientierung linker<br />

Politik und damit die besagte „praktische<br />

Kritik am neuen Imperialismus“ (9) erfüllt jedoch<br />

nicht die hohen Erwartungen des Lesers.<br />

Pablo Graubner<br />

1 Vgl. Knolle-Grothus, Ansgar/Hartmann, Peter (2005):<br />

Umrisse einer ökonomischen Analyse des Kapitalismus<br />

<strong>heute</strong>, Topos Sonderheft 1, Napoli, S.77, FN 61.<br />

2 Martínez, R. Cervantes / Chamizo, F. Gil / Alvarez, R. Regalado/Loureda,<br />

R. Zardoya (2000): Imperialimus <strong>heute</strong>. Neue<br />

Impulse Verlag, Essen, S. 48.


108<br />

Ein Plädoyer für die Zukunft<br />

Heinz Langer, „Kuba – La revolución<br />

dinámica/Die lebendige Revolution“. Verlag<br />

Wiljo Heinen, Böklund. 272 S. ISBN 978-3-939828-<br />

06-8; 12 Euro.<br />

„Solange ich schreiben kann, werde ich mich für<br />

dieses wunderbare Land einsetzen.“ Dies sagte<br />

Heinz Langer, als er zum Abschluss der Podiumsdiskussion<br />

beim UZ-Pressefest in der Casa<br />

Cuba sein neues Buch vorstellte. Damit legt der<br />

Autor und langjährige DDR-Botschafter auf<br />

Kuba seine zweite Studie über die größte Antilleninsel<br />

vor.<br />

In seiner Einleitung „Die kubanische Perspektive“<br />

lässt er keinen Zweifel an seiner eigenen<br />

Position, distanziert sich sowohl von den<br />

Versuchen, die kubanische Entwicklung mit der<br />

in den zerstörten sozialistischen Ländern<br />

Osteuropas gleichzusetzen als auch von modischen<br />

Kritiken aus der „vermeintlich linken<br />

Szenerie“. Sein unzweideutiges Bekenntnis zum<br />

sozialistischen Kuba trübt jedoch an keiner<br />

Stelle die rationalen Beobachtungen und realistischen<br />

Einschätzungen. Er belässt es keinesfalls<br />

bei der Aufstellung von Behauptungen, sondern<br />

belegt diese akribisch mit Zahlen, Daten<br />

und Fakten. Anhand der Geschichte Kubas<br />

belegt er, dass „die nationale Befreiungsrevolution<br />

faktisch mit dem ersten Unabhängigkeitskrieg<br />

1868 bis 1878 begann“ 4 und ihre Wurzeln<br />

vor allem „im gleichzeitigen Kampf gegen<br />

die Sklaverei, gegen Kolonialismus und für nationale<br />

Selbstverwirklichung hat. Das macht den<br />

einzigartigen Charakter der kubanischen Revolution<br />

in der Weltgeschichte aus“ und diese<br />

Werte bleiben von der Vertreibung der spanischen<br />

Conquista, dem Sturz der Batista-Tyrranei<br />

und dem Rauswurf der Yankees bis zum heutigen<br />

Kampf gegen alle Versuche der „Rückführung“<br />

des sozialistischen Kuba zum Kapitalismus.<br />

Denn dass es um diesen grundsätzlichen<br />

Klassenkampf geht, daran hegt Langer<br />

keinen Zweifel. In den Augen der USA war Kuba<br />

nicht nur aus geostrategischer Sicht immer<br />

bedeutsam, wie bspw. anhand der Monroe-<br />

Doktrin belegt wird. 1 Es waren und sind vor allem<br />

auch pure ökonomische Interessen der US-Imperialisten,<br />

deren Besitztümer auf Kuba im <strong>Jahre</strong><br />

1958 detailliert aufgezählt werden: Von den<br />

Bergwerken und dem Grundbesitz, der Zuckerwirtschaft<br />

und landwirtschaftlichen Nutzfläche<br />

bis hin zum Eisenbahnnetz, der Handelsflotte<br />

und den Erdölraffinerien – überall war die<br />

Kontrolle von US-Konzernen gegeben.<br />

So hatte der Kampf und Sieg der Rebellenarmee<br />

unter Führung von Fidel am 1. Januar 1959<br />

auch von Beginn an antikapitalistischen Charakter.<br />

Dies wiederum hatte, quasi naturgemäß,<br />

einen „nicht erklärten Krieg der USA gegen Kuba<br />

in bis dahin unbekannten Dimensionen zur<br />

Folge, der das Ziel hat, die kubanische Revolution<br />

zu zerstören, das Land zurückzuerobern und die<br />

neokoloniale Herrschaft wiederzuerrichten.“ Die<br />

angewandten Mittel werden u. a. in den Kapiteln<br />

„Das skandalöse Helms-Burton-Gesetz“, „Bushs<br />

Bemühungen um die Konterrevolution“, „Bush-<br />

Plan I (2004)“, „Bush-Plan II (2006)“ und „Die EU<br />

als Wasserträger der USA“ ebenso fakten- wie<br />

kenntnisreich geschildert.<br />

Doch Kuba widerstand, zunächst 30 <strong>Jahre</strong><br />

lang, auch mit aktiver Unterstützung des sozialistischen<br />

Lagers. Als diese 1989 auf einen Schlag<br />

ausblieb, wähnten sich die Kalten Krieger auch<br />

bezüglich Kubas am Ziel ihrer Träume. Doch hier<br />

irrten sich – wieder einmal – nicht nur diese,<br />

sondern auch manch linke Zauderer. Der Autor<br />

verweist auf die Rede Fidel Castros vom 26. Juli<br />

1988, in der dieser die sehr authentischen Bedingungen<br />

der kubanischen Revolution nachwies<br />

und entsprechend eigene Lösungen im<br />

Rahmen der vom III. Parteitag der PCC (1986)<br />

begonnenen rectificación (Kampagne zur Berichtigung<br />

von Fehlern) forderte. Langer führt<br />

gerade diese Rede Fidels als Beispiel gegen jene<br />

„linken Kritiker“ an, die behaupten, dass Kuba<br />

nur unter Verzicht auf seine explizit sozialistische<br />

Ausrichtung überleben könne. Verwiesen<br />

wird auf Fidels programmatische Rede vom 17.<br />

November 2005 in der er dargelegt hatte, dass<br />

die kubanische Revolution durch eigene Fehler<br />

zerstört werden könne.<br />

Die eigenständige und dynamische Entwicklung<br />

Kubas wird in mehreren Kapiteln detailliert<br />

und mit belastbarem Zahlenwerk beschrieben.


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

Allen, die Kuba „mangelnde Demokratie“ vorwerfen,<br />

begegnet Langer im Abschnitt „Sozialistische<br />

Demokratie in Kuba“ mit der Feststellung,<br />

dass die „Existenz wahrhaft demokratischer<br />

Verhältnisse überhaupt nicht von dem<br />

Bestehen mehrerer politischer Parteien abhängig<br />

ist (…) Politische Parteien sind Institutionen,<br />

die mehr oder weniger im 19. Jahrhundert entstanden.<br />

Die Demokratie aber als Idee gibt es<br />

schon mehr als zweitausend <strong>Jahre</strong>.“ Am Beispiel<br />

des basisdemokratisch orientierten kubanischen<br />

Demokratie- und Wahlsystems wird nachgewiesen,<br />

wie fortschrittlich dieses auch gegenüber<br />

der hiesigen „repräsentativen Demokratie“ ist.<br />

Der Autor skizziert die Lage Kubas zum Zeitpunkt<br />

des Wegfalls der sozialistischen Außenhandelspartner<br />

(85 %). Er beschreibt, dass bereits<br />

vor 1989 entstandene Widersprüche, die vor<br />

allem „in der konkreten halbkolonialen Struktur<br />

des Entwicklungslandes Kuba“ begründet waren,<br />

zu einer Lösung drängten und benennt vor allem<br />

die extensive Produktionsweise und daraus folgende<br />

sinkende Effizienz, einseitige Konzentration<br />

der Außenmärkte auf die anderen sozialistischen<br />

Länder und die dadurch bedingte hemmende<br />

Wirkung auf die eigene Volkswirtschaft,<br />

jahrhundertealte Abhängigkeit von der Monokultur<br />

Zucker. Zu einer „enormen Zuspitzung“<br />

kam es, hierzulande kaum registriert, schon 1986,<br />

als unter Gorbatschow der Zuckerpreis einseitig<br />

um 10,9 % reduziert wurde.<br />

Dem stellte der bereits erwähnte III. Parteitag<br />

der PCC sein „sehr mutiges Programm zur<br />

Wirtschaftspolitik mit Namen ‚zur Korrektur<br />

voluntaristischen und uneffektiven Wirtschaftens’”<br />

entgegen: Unterordnung der ökonomischen<br />

Mechanismen unter das Ziel des Aufbaus<br />

des Sozialismus; Entwicklung des Bewusstseins<br />

der Arbeiter als kollektive Produzenten und<br />

Eigentümer der Produktionsmittel, dem das<br />

Handeln der Verwaltung und der gesamten<br />

Leitung unterzuordnen ist; Aufgabe der Partei,<br />

die Menschen zur Realisierung der Aufgaben zu<br />

befähigen.<br />

Den Beschreibungen des Überlebenskampfes<br />

der kubanischen Revolution ab 1989/<strong>90</strong> stellt<br />

der Autor zwei zentrale Gründe des Erfolges dieser<br />

Bemühungen voran:<br />

BÜCHER 109<br />

„In dieser für die Revolution entscheidenden<br />

Situation, in der Kuba völlig auf sich allein gestellt<br />

war, bewährte sich erneut die feste Einheit<br />

der kubanischen Gesellschaft. Es muss erwähnt<br />

werden, dass die Nähe der Führung der Revolution<br />

zum Volk eine der größten Stärken der revolutionären<br />

Entwicklung in Kuba und auch überzeugender<br />

Ausdruck der Demokratie ist.“<br />

Geschildert werden nunmehr das Lebensmittelprogramm<br />

als Kernstück des Notstandsprogramms,<br />

die Dritte Agrarreform, die Konkretisierung<br />

der periódo especial en tiempos de paz<br />

(Spezialperiode in Friedenszeiten) durch den IV.<br />

Parteitag im Oktober 1991und die darauf fußende<br />

leichte ökonomische Erholung in Landwirtschaft<br />

und Industrie mit durchaus widersprüchlichen<br />

Tendenzen, die Anstrengungen in der Bauindustrie<br />

und dem Transportwesen, die strategische<br />

Neubestimmung in der Zuckerwirtschaft, die<br />

Impulse im Nickel- und Kobaltsektor, in der für das<br />

Überleben Cubas besonders wichtigen Energiewirtschaft,<br />

die Gesundung der Staatsfinanzen<br />

und planmäßige Neuorganisation der Finanzwirtschaft<br />

und Haushaltspolitik unter sozialistischem<br />

Vorzeichen, die Entwicklung des Tourismus,<br />

der Außen- und Binnenwirtschaft.<br />

Bei all diesen Schilderungen erweist sich der<br />

Autor weder als blasser Apologet noch als Kritikaster<br />

der „kubanischen Verhältnisse“ und bietet<br />

auch keine „einfachen Antworten“ an.<br />

Vielmehr wird, vor allem am Beispiel der<br />

Energieprobleme im <strong>Jahre</strong> 2003 dokumentiert,<br />

wie komplex und vielschichtig im realen Leben<br />

Ursachen und Wirkungen daherkommen.<br />

Im Kapitel „Festigung und Ausbau der Errungenschaften<br />

der Revolution“stehen – gemäß<br />

der Schwerpunktsetzung der kubanischen<br />

Revolution – die Volksbildung und das Gesundheitswesen<br />

an erster Stelle. Aus der Fülle der<br />

Fakten sei ein Beispiel herausgehoben: „In der<br />

Hauptstadt wurde bereits das in der Welt einmalige<br />

Ziel erfüllt, eine Klassenfrequenz von nur<br />

20 Schülern zu haben.“ Heinz Langer beweist<br />

darüber hinaus dass – entgegen der landläufigen<br />

Meinung, dass die Entwicklung der Wissenschaft<br />

ausschließlich in den Metropolen<br />

stattfinde – Kuba auch auf diesem Sektor Bahnbrechendes<br />

leistet.


110<br />

Trotz gewichtigen Zahlenmaterials werden<br />

die Themen „Kultur, Kunst, Sport“ auf zwei Seiten<br />

leider nur gestreift, hat doch das revolutionäre<br />

Kuba auch auf diesen Überbau-Sektoren<br />

trotz Blockade und anderer stetiger Behinderungen<br />

Außerordentliches geleistet.<br />

Die aktuelle ökonomische Lage zusammenfassend<br />

konstatiert Langer: „Die Bilanz der wirtschaftlichen<br />

Entwicklung der vergangenen <strong>Jahre</strong>,<br />

besonders seit 2004, stimmt insgesamt optimistisch.<br />

Es wird deutlicher, dass die strukturellen<br />

Missbildungen in der Wirtschaft, die aus Unterentwicklung<br />

und einseitiger Abhängigkeit entstanden<br />

waren und in den <strong>Jahre</strong>n der Sonderperiode<br />

noch potenziert wurden, schrittweise<br />

beseitigt werden und eine solide Basis geschaffen<br />

wird, die Vervollkommnung der sozialistischen<br />

Ziele strategisch möglich macht (…) Es hat sich<br />

gezeigt, dass sich eine Volkswirtschaft auch trotz<br />

gewaltiger Ausgaben für Sozialprogramme gut<br />

entwickeln kann.“ Angemessen differenziert werden<br />

die „bescheidenen Verbesserungen in der<br />

Lebenslage der Bevölkerung des Entwicklungslandes<br />

Kuba“ geschildert. Die Erhöhung der Bezüge<br />

der Werktätigen wird in den gesamtstaatlichen<br />

Kontext gestellt und auch die „außerordentlich<br />

ernste Problematik (…) der weiteren<br />

Existenz zweier Währungen“ wird benannt: „Sie<br />

ist eine Hauptquelle für soziale Ungleichheit,<br />

Schmarotzertum, unredliche Bereicherung und<br />

Korruption mit all seinen politisch-ideologischen<br />

Folgen. Nicht die Mangelwirtschaft ist es, die der<br />

Führung des Landes die Durchsetzung der sozialistischen<br />

Prinzipien von Gerechtigkeit so erschwert,<br />

sondern die noch weit verbreitete Möglichkeit<br />

zur Bereicherung außerhalb eines ordentlichen<br />

Arbeitsprozesses.“<br />

Zugleich werden die 2002 ins Leben gerufenen<br />

besonderen Programme zur Integration<br />

Jugendlicher in den Arbeits- und Lernprozess<br />

geschildert und resümiert: „Mit dieser großartigen<br />

Politik und dem kontinuierlichen Wirtschaftswachstum<br />

wurde es möglich, dass die<br />

Arbeitslosigkeit, eines der gravierenden Probleme<br />

der Menschheit, in Kuba von über 8 % im<br />

<strong>Jahre</strong> 1993 in 2005 auf 1,9% verringert werden<br />

konnte, was faktisch einer Vollbeschäftigung<br />

gleichkommt.“<br />

Die sozialistische Außenpolitik Kubas ist mittlerweile<br />

ebenso legendär wie die genannten sozialen<br />

Errungenschaften. Der Autor benennt sie als<br />

„Kampf für Gerechtigkeit und Würde“ 41 , schildert<br />

sie als erfolgreich und ebenso flexibel wie prinzipienfest.<br />

Bewertet werden die Beziehungen zu<br />

einzelnen Staaten, Ländergruppen und der UNO,<br />

wobei selbstverständlich die regionale Integration<br />

und die besonderen Beziehungen zu<br />

Venezuela und anderen befreundeten Ländern<br />

und die damit einhergehenden ökonomischen<br />

Vorteile eine herausragende Rolle spielen. Die<br />

Prinzipienfestigkeit spielt nicht zuletzt gegenüber<br />

der unwürdigen Haltung der EU, die bis in die<br />

jüngste Zeit geschildert wird, eine Rolle.<br />

Das vorletzte Kapitel widmet der Autor dem<br />

ideologischen Kampf: „Batalla de las Ideas“.<br />

Diese „Schlacht der Ideen“: bezieht sich auf ein<br />

breites Spektrum von Aufgaben. Langer datiert<br />

ihren Ausgangspunkt auf das V. Plenum der PCC<br />

im März 1996. Gemeint sind damit vor allem das<br />

Zurückdrängen der Einmischung sogenannter<br />

„Nichtregierungsorganisationen“ im eindeutigen<br />

Auftrag ausländischer Regierungen, aber<br />

auch der Kampf gegen die ideologischen Auswirkungen<br />

der periódo especial, „Erscheinungen<br />

der persönlichen Bereicherung, der Korruption,<br />

der Steuerhinterziehung, des illegalen Handels,<br />

der Prostitution und der Jugendkriminalität.“<br />

Diese Schlacht wird auf allen Ebenen geführt, in<br />

den Medien, den Verwaltungen, Betrieben,<br />

Schulen und Universitäten, wobei ganz bewusst<br />

– und exemplarisch für die kubanische Revolution<br />

– vor allem die Jugend und Studierenden<br />

an die Spitze dieser Auseinandersetzung berufen<br />

wurden: „Die zunehmend kritische<br />

Analyse der Entwicklung des Sozialismus ist ein<br />

langer, sich ständig wiederholender Prozess, der<br />

von Anfang der Revolution an charakteristisch<br />

für die Tätigkeit der kubanischen Partei ist.“ Entsprechend<br />

optimistisch schließt sich für Heinz<br />

Langer im Abschlusskapitel „Perspektiven Kubas<br />

und Lateinamerikas“ der Kreis zu seinen Eingangsbemerkungen.<br />

Die gesellschaftlichen und ökonomischen<br />

Perspektiven werden als stabil eingeschätzt, was<br />

jedoch auch „zweifellos den Widerstand der<br />

imperialistischen Monopole tendenziell anstei-


MARXISTISCHE BLÄTTER 5-07<br />

gend verschärfen“ werde. Langer verweist beispielhaft<br />

auf die vor 9 <strong>Jahre</strong>n ungerechtfertigt in<br />

den USA zu Höchststrafen verurteilten und seither<br />

dort inhaftierten antiterroristischen Kämpfer,<br />

die Miami 5. Es wird auf anhaltende antikubanische<br />

Umtriebe seitens der USA und der EU<br />

verwiesen und prognostiziert: „Diese gemeinsamen<br />

Aktionen und die zunehmenden Aktivitäten<br />

der Europäischen Gemeinschaft gegen<br />

Kuba und die voranschreitende antikapitalistische<br />

Entwicklung in Lateinamerika lassen weitere<br />

heftige Auseinandersetzungen in der Zukunft<br />

erahnen.“<br />

Das rundum empfehlenswerte Buch verfügt<br />

über einen ausführlichen Quellenanhang, zwei<br />

Cuba-Übersichtskarten (geografisch und politisch-administrativ)<br />

sowie ein kombiniertes<br />

Stichwort- und Namensregister. Es stellt eine<br />

umfassende und faktenreiche aktuelle Bestandsaufnahme<br />

dar und kann zugleich angesichts<br />

seines sehr großen Zahlen- und Datenmaterials<br />

als qualifiziertes Nachschlagewerk<br />

dienen. Für eine wünschenswerte 2. Auflage<br />

wäre, vor allem für „Cuba-Einsteiger“, eine Zeittafel<br />

im Anhang sicherlich sehr hilfreich.<br />

Heinz-W. Hammer<br />

1 S. S. 18 f.: Am 2. Dezember verkündete US-Präsident<br />

James Monroe den Quasi-Besitzanspruch der USA auf<br />

Lateinamerika und besonders den karibischen Raum.<br />

Berühmt wurde in diesem Zusammenhang das Zitat von<br />

dessen Amtsnachfolger John Quincy Adams: „Ein Apfel<br />

der bei einem Sturm vom Baum fällt, muss zwangsläufig<br />

vom Baum fallen. Kuba, das durch Gewalt von seiner<br />

natürlichen Verbindung mit Spanien getrennt wurde und<br />

unfähig ist, sich selbst zu erhalten, muss unweigerlich der<br />

nordamerikanischen Union zufallen, die aufgrund des<br />

nämlichen Naturgesetzes es nicht zurückweisen darf.“<br />

Immer brav geschlafen<br />

BÜCHER 111<br />

Jürgen Roth / Rainer Nübel / Rainer Fromm:<br />

Anklage unerwünscht! Korruption und Willkür in<br />

der deutschen Justiz. Eichborn Verlag,<br />

Frankfurt/Man 2007, 304 Seiten, 19,95 Euro<br />

„Manche haben einen Schutzengel, Daimler hat<br />

die Staatsanwaltschaft.“ So kommentierten<br />

Konzerninsider des Stuttgarter Unternehmens<br />

die Rolle der Stuttgarter Anklagebehörde, als es<br />

um die Aufklärung von mit Schmiergeldern verbundenen<br />

Auslandsgeschäften des schwäbischen<br />

Automobilherstellers ging. Auch der Spiegel<br />

hielt nicht hinterm Berg, als er der Stuttgarter<br />

Staatsanwaltschaft bescheinigte, dass sie<br />

sich „bislang als nicht gerade übereifrig erwiesen<br />

(habe), wenn es um den größten Steuerzahler<br />

der Region, den Daimler-Konzern, ging“.<br />

Für die Autoren des jetzt erschienenen<br />

Buches „Anklage unerwünscht! Korruption und<br />

Willkür in der deutschen Justiz“, wird „die Stuttgarter<br />

Justizbehörde diesem Ruf gerecht“. Als es<br />

um den Vorwurf ging, der Konzern habe fahrbare<br />

Abschussrampen für Skud-Raketen heimlich<br />

in den Irak geliefert, erteilte die Stuttgarter<br />

Justizbehörde „dem Konzern in Rekordtempo<br />

einen Persilschein: ‚Kein konkreter Verdacht‘“. So<br />

sei es bei vielen Justizbehörden fast wie ein<br />

Gesetz: Wenn es um Wirtschaftskriminalität<br />

gehe, übten sie vornehme Zurückhaltung. Der<br />

Ermittlereifer sinke dann oft proportional zu<br />

dem diskreten Druck, der auf den Hütern des<br />

Rechtsstaats laste. In solchen Fällen könne man,<br />

so die Autoren, die Faustregel ausmachen:<br />

Entweder werden nur die ausführenden<br />

Mitarbeiter oder Handlanger beschuldigt – als<br />

„Einzeltäter“ – oder die Ermittlungen werden<br />

nach einer gewissen Zeit eingestellt. Und das<br />

mit der nachdrücklichen Betonung, dass allen<br />

Verdachtsmomenten intensiv nachgegangen<br />

worden sei.<br />

Auch in der sogenannten Leuna-Affäre „(stellen<br />

sich) deutsche Strafverfolger bis hin zum<br />

Bundeskriminalamt (...) in trauter Einheit blind,<br />

taub und stumm“. Als die Augsburger Staatsanwaltschaft<br />

die Leuna-Akten abgab, weigerten<br />

„sich nicht weniger als sechs deutsche Staats-


112<br />

anwaltschaften, ein Ermittlungsverfahren wegen<br />

Bestechungsverdachts zu eröffnen“. Wo<br />

deutsche Ermittlungsbehörden hätten ansetzen<br />

können, passierte nichts. Für die Autoren ist es<br />

der „Skandal im Skandal“: Die deutsche Leuna-<br />

Spur wird in Deutschland nicht ermittelt. Selbst<br />

die Generalstaatsanwaltschaft in Karlsruhe<br />

habe am Ende die Schweizer Ermittlungsergebnisse<br />

wie eine heiße Kartoffel angefasst und<br />

rasch wieder fallen lassen. Staatsanwälte, die<br />

gegen dieses „System der kollektiven Arbeitsverweigerung“<br />

verstoßen und ihrem Auftrag als<br />

Strafverfolger nachkommen wollen, wurden von<br />

der „justizpolitischen Obrigkeit zurückgepfiffen“.<br />

Der Leuna-Fall sei in der bayrischen Justiz<br />

„vermintes Gelände“: nicht betreten, politische<br />

Einflussgefahr. Für die französische Untersuchungsrichterin<br />

Eva Joly „(ist) das Problem in<br />

Deutschland, dass die Staatsanwälte nicht unabhängig<br />

sind. Ohne unabhängige Staatsanwälte<br />

gibt es keinen echten Kampf gegen Korruption“,<br />

sagte sie im <strong>Jahre</strong> 2006 in einem Interview.<br />

Staatsanwälte zeigen erstaunlich oft ein<br />

Problem dabei, hinzusehen wo sie hinsehen sollten<br />

und wegzuschauen, wo sie im Prinzip nichts<br />

zu suchen haben. Während im thüringischen<br />

Mühlhausen ein Arbeitsloser nach einem<br />

Diebstahl von zwei Brötchen und einem Stück<br />

Kräuterbutter im Wert von fünfundachtzig Cent<br />

zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt<br />

wurde, stellte die Staatsanwaltschaft<br />

Mühlhausen ein Ermittlungsverfahren gegen<br />

hochrangige Manager wegen Insolvenzverschleppung<br />

ein. Hier belief sich der Schaden auf<br />

12 Millionen Euro. Die Autoren haben die Begründung<br />

für diese Einstellung herausgefunden:<br />

„Der Sachverhalt ist ausgesprochen komplex<br />

und schwierig, und eine Hauptverhandlung<br />

wäre mit einem enormen Aufwand verbunden.“<br />

Na bitte!<br />

Auch die Stuttgarter Staatsanwaltschaft, die<br />

„immer brav geschlafen“ hat, wenn es um<br />

Machenschaften des Daimler-Konzerns ging,<br />

zeigte erstaunlich „ausbrechenden Ermittlungswahn“,<br />

als sie „mit Sturheit ihre juristische<br />

Interpretation des Paragraphen 86 a des Strafgesetzbuches“<br />

verfolgte. So wurde in einem<br />

bundesweit bekannt gewordenen Fall ein<br />

Buchhändler zu einer Geldstrafe verurteilt, weil<br />

er durch den Verkauf von Buttons mit durchgestrichenen<br />

Hakenkreuzen dazu beigetragen<br />

haben soll, dieses wieder gesellschaftsfähig zu<br />

machen. Das Stuttgarter Landgericht folgte den<br />

Argumenten der Staatsanwaltschaft. Auch<br />

gegen den DGB-Chef Michael Sommer, der aus<br />

Solidarität bei einer Veranstaltung ebenfalls das<br />

Protestzeichen gegen Neonazis trug, ermittelte<br />

die Stuttgarter Staatsanwaltschaft. Der BGH<br />

machte diesem Spuk im März 2007 gottseidank<br />

ein Ende und korrigierte das Urteil des Landgerichts.<br />

Anhand skandalöser Fälle – darunter der<br />

sächsische Korruptionsskandal, der zwischenzeitlich<br />

zur Abberufung und Versetzung des<br />

sächsischen Verfassungsschutzpräsidenten geführt<br />

hat – machen die Autoren deutlich, wie der<br />

Rechtsstaat ausgehöhlt wird, weil die dritte<br />

Gewalt nicht mehr funktioniert und Staatsanwälte<br />

wegschauen, wenn nicht gar in Seilschaften<br />

mit Politikern und Wirtschaftsbossen<br />

verstrickt sind. Die Autoren zeigen insbesondere<br />

auch, wie couragierte Bürger sich gegen diese<br />

Mißstände wehren, aber auch Beispiele dafür,<br />

wie die Zivilcourage einzelner Bürger im Keim<br />

erstickt zu werden droht – weil nicht sein kann,<br />

was nicht sein darf.<br />

Dietmar Jochum


Es schreiben diesmal<br />

MISCHA ASCHMONEIT,<br />

Düsseldorf, Betriebsrat<br />

HANS-PETER BRENNER, Dr., Bonn,<br />

Diplompsychologe, MB-Mitherausgeber<br />

GERD DEUMLICH, ESSEN,<br />

MB-Redaktion<br />

GEORG FÜLBERTH, Prof. Dr.,<br />

Marburg, Politikwissenschaftler<br />

PABLO GRAUBNER,<br />

Marburg, Student der Informatik<br />

NINA HAGER, Prof. Dr., Berlin,<br />

Stellvertr. Vorsitzende der DKP,<br />

MB-Mitherausgeberin<br />

HEINZ W. HAMMER, Essen,<br />

Vorsitzender der FG BRD-Kuba e.V.,<br />

Regionalgruppe Essen<br />

UWE-JENS HEUER, Prof. Dr.,<br />

Berlin, Rechtswissenschaftler<br />

HANS HEINZ HOLZ, Prof. Dr.,<br />

San Abondio/Schweiz, Philosoph,<br />

MB-Mitherausgeber<br />

DIETMAR JOCHUM,<br />

Berlin, Journalist<br />

MARGRET JOHANNSEN, Hamburg,<br />

Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim<br />

Institut für Friedensforschung und<br />

Sicherheitspolitik an der Universität<br />

Hamburg (IFSH)<br />

HEINZ KARL, Prof. Dr.,<br />

Berlin, Historiker<br />

HERMANN KOPP, Düsseldorf,<br />

MB-Redaktion<br />

LEO MAYER, München, Ingenieuer,<br />

Mitgl. des Sekretariats des PV der DKP<br />

THOMAS METSCHER, Prof. Dr.,<br />

Grafenau, Literaturwissenschaftler<br />

VOLKER METZROTH,<br />

Fürfeld, Fernmeldehandwerker<br />

JÖRG MIEHE, Göttingen,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

LARS MÖRKING, Beijing/China,<br />

Redaktionsmitarbeiter bei China <strong>heute</strong><br />

GEORG POLIKEIT, Wuppertal,<br />

Journalist<br />

GREGOR SCHIRMER;<br />

Prof. Dr., Rechtswissenschaftler<br />

ROBERT STEIGERWALD,<br />

Dr. sc., Eschborn, MB-Redaktion<br />

ANDREAS WEHR,<br />

Berlin/Brüssel, Jurist<br />

Die Marx-Engels-Stiftung lädt ein zur Konferenz<br />

Die Linke und die Nation<br />

am 29./30. September in Berlin-Friedrichshain,<br />

Franz-Mehring-Platz 1 (ehem. ND-Gebäude),<br />

Willi-Münzenberg-Saal<br />

Beginn: Sa., 11.00 Uhr - Ende: So., 14.30 Uhr<br />

Das Thema Nation ist in der deutschen Linken – anders als etwa<br />

in der Frankreichs oder Italiens – ein weithin vermintes Gelände.<br />

Wer sich ihm, und sei es noch so vorsichtig, nähert, gerät rasch<br />

in den Verdacht des Chauvinismus, zumindest des Populismus.<br />

Der „antideutsche“ Diskurs, vorgegeben von Zeitschriften wie<br />

„konkret“ und „Jungle World“, wirkt weit in die intellektuelle<br />

Linke hinein. Argumente der Antideutschen werden auch von<br />

den Gegnern Lafontaines aus der früheren PDS genutzt, da sich<br />

der jetzige Co-Vorsitzende der Partei Die Linke nicht scheut, von<br />

Volk und Nation zu sprechen.<br />

Das gebrochene oder ungeklärte Verhältnis zur eigenen Nation<br />

und generell zu allem „Nationalen“ ist eine wichtige Ursache<br />

für die Schwäche der Linkskräfte in unserem Lande – bedeutet<br />

es doch, ein Feld, das für große Teile der Bevölkerung von zentraler<br />

Bedeutung ist, rechten Demagogen zu überlassen. Aber<br />

wie könnte ein richtiger Umgang mit dem Problem der Nation,<br />

mit der nationalen Geschichte und den nationalen Interessen<br />

aussehen? Unsere Konferenz, mit der die Tagung „Deutsche<br />

Arbeiterbewegung, Nation und Hegemonieproblem“ vom November<br />

2006 fortgesetzt wird, soll dazu beitragen, eine Antwort<br />

auf diese Fragen zu finden.<br />

Die Referenten und ihre Themen:<br />

ò Hans Coppi, Berlin: Nation und nationale Fragen in der<br />

Politik der kommunistischen Bewegung in Deutschland<br />

ò Ludwig Elm, Jena: Die Rechte und das Nationale. Falsche<br />

Antworten auf ein wirkliches Problem<br />

ò Jürgen Elsässer / Winfried Wolf: Streitgespräch „Die Linke<br />

und die Nation“<br />

ò Sabine Kebir, Berlin: Aufgaben einer nationalstaatlichen<br />

Kulturpolitik<br />

ò Domenico Losurdo, Urbino: Nationale Frage, Eroberung der<br />

Hegemonie und „deutscher Sonderweg“<br />

ò David Salomon, Marburg: Hegemonie, Staat und Kultur.<br />

Gramsci, die deutsche Linke und das Problem der Nation<br />

ò Manfred Szameitat, Frankfurt a. M.: Globalisierung und<br />

Nationalstaat<br />

Kostenbeitrag 10 Euro; ermäßigt: 5 Euro.<br />

Aus organisatorischen Gründen wären wir dankbar für eine<br />

Voranmeldung bei Hermann Kopp,<br />

Tel. 0211/6802828, gblomberg@t-online.de.


K 7141<br />

Postvertriebsstück<br />

Gebühr bezahlt<br />

Neue Impulse<br />

Verlag GmbH<br />

Hoffnungstraße 18<br />

45127 Essen<br />

Revolution war das Kriegskind des 20. Jahrhunderts: Besonders<br />

die Russische Revolution von 1917, die die Sowjetunion<br />

gebar, verwandelte sich ... in eine Revolution, die eine<br />

globale Konstante der Jahrhundertgeschichte wurde ...<br />

Die alte Welt war ganz offensichtlich zum Untergang<br />

verdammt. Die alte Gesellschaft, die alte Wirtschaft, das<br />

alte politische System hatten, wie es in einem alten chinesischen<br />

Sprichwort heißt, „das Mandat des Himmels<br />

verloren“. Die Menschheit wartete auf eine Alternative...<br />

Die Russische oder genauer: die bolschewistische Revolution<br />

vom Oktober 1917 war bereit, der Welt dieses<br />

Signal zu geben. Deshalb war sie für dieses Jahrhundert<br />

ein ebenso zentrales Ereignis, wie es die Französische Revolution<br />

von 1789 für das 19. Jahrhundert gewesen war...<br />

Rußland war derart bereit gewesen für eine soziale<br />

Revolution, dass sogar die Massen in Petrograd den Sturz<br />

des Zaren augenblicklich mit der Proklamation von universeller<br />

Freiheit, Gleichheit und direkter Demokratie<br />

gleichsetzten. Lenins außergewöhnliche Leistung bestand<br />

darin, dass er diesen unkontrollierbaren anarchischen<br />

Volksaufstand in eine bolschewistische Macht transformierte<br />

...<br />

Die Armen in den Städten forderten hauptsächlich Brot<br />

und die Arbeiter unter ihnen bessere Löhne und kürzere<br />

Arbeitszeiten. Die Forderungen jener 80 Prozent Russen,<br />

die von der Landwirtschaft lebten, gingen wie eh und je<br />

um ein Stück Land. Alle Gruppen aber wollten gemeinsam,<br />

dass der Krieg beendet werden sollte ... Wer ihre<br />

Forderungen übernahm – „Brot, Friede, Land“ –, fand<br />

sofort Unterstützung; und das waren vor allem Lenins<br />

Bolschewiken, deren kleine Truppe von nur wenigen<br />

Tausenden im März 1917 bis zum Frühsommer desselben<br />

<strong>Jahre</strong>s auf eine Mitgliederzahl von einer Viertelmillion<br />

angeschwollen war. Im Gegensatz zur Mythologie des<br />

Kalten Krieges, die in Lenin im Grunde nur einen Organisator<br />

von Staatsstreichen sah, war seine – und der Bolschewiken<br />

– einzig wirkliche Leistung, dass er zu erkennen<br />

in der Lage war, was die Massen wollten, und dementsprechend<br />

eben auch wusste, dass er führen musste,<br />

indem er ihnen folgte.<br />

Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, Weltgeschichte<br />

des 20. Jahrhundert

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