Horst Stowasser - hewpa.de.vu
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Wir können sagen, daß die meisten aktiven Anarchisten in freiheitlich-sozialen Bewegungen engagiert<br />
sind; man nennt dies <strong>de</strong>n ›sozialen Anarchismus‹. Hierbei gibt es die verschie<strong>de</strong>nsten Ansätze, Taktiken*<br />
und Vorgehensweisen, die in <strong>de</strong>r Regel eine konstruktive Zielrichtung haben. Die meisten wollen die<br />
bestehen<strong>de</strong> Gesellschaft im freiheitlich-sozialen Sinne verän<strong>de</strong>rn, die unfreien Institutionen nach Kräften<br />
zersetzen und gleichzeitig neue Mo<strong>de</strong>lle ausprobieren und heranwachsen lassen, die an die Stelle <strong>de</strong>r alten<br />
Strukturen treten sollen.<br />
Lei<strong>de</strong>r aber lassen es unsere Gesellschaften nur selten zu, daß <strong>de</strong>r Anarchismus konstruktiv tätig ist. Oft<br />
genug muß er sich auf reine Verteidigung beschränken. In <strong>de</strong>r Tat sind heute die meisten Anarchisten<br />
vollauf damit beschäftigt, auf die zunehmen<strong>de</strong> Einengung von Freiheit und Lebensgrundlagen zu<br />
reagieren. Solche ›reaktiven Kämpfe‹ — seien sie nun gegen Rüstung, Atomkraftwerke,<br />
Umweltzerstörung, Wohnungsnot, Armut, Behör<strong>de</strong>nsumpf, Polizeiwillkür, Justizarroganz, Entlassungen,<br />
soziale und geschlechtliche Diskriminierung*, tarifpolitische Erpressung o<strong>de</strong>r rechtsradikale Angriffe<br />
gerichtet — kennen wir alle aus Gegenwart und jüngster Vergangenheit. Gewiß sind sie notwendig und<br />
politisch wichtig, aber sie machen ›<strong>de</strong>n Anarchisten nicht aus: Nur allzuoft nämlich geht <strong>de</strong>n pausenlos<br />
Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n das Ziel verloren. Die Aktionen lösen sich meist, wenn <strong>de</strong>r Anlaß nicht mehr existiert, in<br />
Nichts auf. Sie bieten wenig Raum für konstruktive Ansätze, die auf eine neue Gesellschaft abzielen.<br />
Häufig benutzt sie das klug herrschen<strong>de</strong> System auch als ein Mittel, um die Kräfte ihrer Gegner in<br />
jahrelangen, aufreiben<strong>de</strong>n Kämpfen zu bin<strong>de</strong>n.<br />
Kein aufrechter Anarchist wür<strong>de</strong> sich solchen Kämpfen entziehen wollen und teilnahmslos<br />
Unterdrückung und Unrecht zusehen. Es kommt <strong>de</strong>m Anarchismus aber entschei<strong>de</strong>nd darauf an, die<br />
Verbindung zwischen bloßer Reaktion und <strong>de</strong>m konstruktiven libertären Element herzustellen. Mit<br />
an<strong>de</strong>ren Worten: Aus <strong>de</strong>m Kampf gegen Atomkraftwerke müßte ein Kampf für Ökologie wer<strong>de</strong>n und aus<br />
<strong>de</strong>m Kampf gegen Rüstung ein Kampf für eine friedliche Gesellschaft, aus gewerkschaftlicher Aktion<br />
müßten neue Wirtschafts- und Arbeitsmo<strong>de</strong>lle entstehen und so weiter. Denn all das ergäbe für<br />
Anarchisten nur dann wirklich einen Sinn, wenn sich schließlich alle diese Teilbereiche zum<br />
Gesamtkonzept einer an<strong>de</strong>ren Gesellschaft verbin<strong>de</strong>n. Kurz: <strong>de</strong>r Kampf gegen die alten Verhältnisse darf<br />
nicht zum Ritual* wer<strong>de</strong>n — er muß Ansätze für Neues hervorbringen: Wi<strong>de</strong>rstand gebiert Mo<strong>de</strong>lle.<br />
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Das ist leichter gesagt als getan. Die Inhaber <strong>de</strong>r Macht tun natürlich alles – bis hin zum Einsatz direkter<br />
Gewalt –, um eine freiheitliche Konkurrenz nie<strong>de</strong>rzudrücken, die ihnen diese Macht nehmen will.<br />
Deshalb hat es auch zu allen Zeiten Anarchisten gegeben, die das konstruktive Element <strong>de</strong>s Anarchismus<br />
irgendwann völlig aus <strong>de</strong>n Augen verloren. Voller Haß und Verzweiflung gingen sie dazu über, das<br />
System, wo immer sie konnten, direkt und frontal – also ›militärisch‹ – anzugreifen. Terror, bis dahin ein<br />
Monopol <strong>de</strong>s Staates und <strong>de</strong>r Kirche, wur<strong>de</strong> zeitweise das vorherrschen<strong>de</strong> Mittel einiger anarchistischer<br />
Strömungen. Der Höhepunkt dieser Gewaltphase <strong>de</strong>s Anarchismus lag zwischen 1891 und 1894; heute<br />
spielt Terror in <strong>de</strong>r libertären Bewegung keine Rolle mehr. Tatsächlich gibt es im mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus<br />
weit mehr Pazifisten als Befürworter irgendwelcher Formen von Gewalt. Dennoch hat jene kurze,<br />
historische Phase von Attentaten, Überfällen und Tyrannenmor<strong>de</strong>n bis heute das Bild vom Anarchisten<br />
nachhaltig beeinflußt: Ebensooft, wie Anarchismus mit ›Chaos‹ und ›Gesetzlosigkeit‹ gleichgesetzt wird,<br />
bringt man ihn auch mit ›Gewalt‹ und ›Terror‹ in Verbindung. Das ist allerdings Unfug, <strong>de</strong>nn die Frage<br />
<strong>de</strong>r Gewalt ist für <strong>de</strong>n Anarchismus we<strong>de</strong>r typisch noch prägend.<br />
Wie wir gesehen haben, ist das Aktionsfeld <strong>de</strong>s sozialen Anarchismus breit gefächert und entfaltet sich<br />
zwischen <strong>de</strong>n Polen Wi<strong>de</strong>rstand, Aktion, Konstruktivität, Aufklärung und experimentellen Mo<strong>de</strong>llen. Die<br />
allermeisten Anarchisten sind auf diesem breiten sozialen Terrain* irgendwo in irgen<strong>de</strong>iner Weise<br />
engagiert.<br />
Es gibt in<strong>de</strong>s auch Anarchisten, die <strong>de</strong>n Anarchismus mehr als private Lebensphilosophie verstehen und -<br />
aus welchen Grün<strong>de</strong>n auch immer - keinen Sinn darin sehen, unsere Welt tatsächlich verän<strong>de</strong>rn zu wollen.<br />
Diese ›philosophischen Anarchisten‹ pflegen entwe<strong>de</strong>r einen entsprechen<strong>de</strong>n Lebensstil - zum Beispiel