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<strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong><br />

FREIHEIT PUR<br />

Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Anarchie,<br />

Geschichte und Zukunft<br />

Paradoxerweise scheint <strong>de</strong>r Zusammenbruch <strong>de</strong>r kommunistischen Diktaturen das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r sozialen<br />

Utopien eingeläutet zu haben – obwohl <strong>de</strong>r Staatssozialismus zu keiner Zeit eine wirkliche Alternative<br />

war.<br />

Der kurzatmige Triumph <strong>de</strong>r westlichen Marktwirtschaft kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß<br />

gegenwärtig kein System in <strong>de</strong>r Lage ist, einen Ausweg aus <strong>de</strong>m ökologischen und ökonomischen<br />

Wahnsinn zu weisen, in <strong>de</strong>m wir leben. Deshalb dürften die nächsten Jahrzehnte eine Trendwen<strong>de</strong><br />

bringen, die uns alle zu einer ernsthaften Suche nach Mo<strong>de</strong>llen zwingen wird.<br />

Diese Entwicklung läßt das Interesse an sozialen Entwürfen wie<strong>de</strong>r wachsen, die bisher im Schatten<br />

stan<strong>de</strong>n. In seinem neuen Buch stellt <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong> die bestechendste jener »vergessenen Utopien« vor:<br />

<strong>de</strong>n Anarchismus.<br />

Anarchie – ein Wort, das von jeher Schrecken und Gruseln ausgelöst hat, entpuppt sich bei näherem<br />

Hinsehen als faszinieren<strong>de</strong> Wun<strong>de</strong>rtüte. Ihre im Grun<strong>de</strong> einfache Struktur beansprucht nicht weniger, als<br />

eine neue Grammatik menschlicher Struktur zu sein. Sie will das »brutale Chaos« unserer Gesellschaft<br />

durch das »sanfte Chaos« vernetzter horizontaler Gesellschaften ersetzen, in <strong>de</strong>r die Herrschaft <strong>de</strong>s<br />

Menschen über sich selbst und die Natur sinnlos wird.<br />

Packend erzählt, verständlich geschrieben und umfassend angelegt hat dieses Buch alle Aussichten, zum<br />

politischen Standardwerk zu wer<strong>de</strong>n. Neben einer kritischen Einführung in die freiheitliche I<strong>de</strong>enwelt und<br />

einer Reise durch die verblüffend reiche Geschichte anarchistischer Experimente widmet sich <strong>de</strong>r Autor<br />

auch Zukunftsszenarien, die in <strong>de</strong>r These gipfeln: »Die Gesellschaftsform <strong>de</strong>s kommen<strong>de</strong>n Jahrtausends<br />

wird eine an-archische sein.«<br />

<strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>, Jahrgang 1951, lebt als freier Autor in einem libertären Großprojekt in Süd<strong>de</strong>utschland.<br />

Abitur in Argentinien, Studium <strong>de</strong>r Landwirtschaft und Romanistik, Weltreisen. Autor zahlreicher Bücher<br />

und Aufsätze zu sozialen Themen. 1971 begrün<strong>de</strong>te er das anarchistische Dokumentationszentrum »Das<br />

AnArchiv«.<br />

Im Eichborn Verlag erschien 1986 <strong>de</strong>r Titel Leben ohne Chef und Staat – Träume und Wirklichkeit <strong>de</strong>r<br />

Anarchisten.<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

für Till<br />

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme: <strong>Stowasser</strong>, <strong>Horst</strong>: Freiheit pur: die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Anarchie,<br />

Geschichte und Zukunft/<strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>. - Frankfurt am Main : Eichborn, 1995 # ISBN 3-8218-0448-3<br />

©Vito von Eichborn GmbH & Co Verlag KG, Frankfurt am Main, Juli 1995<br />

Umschlaggestaltung: Rüdiger Morgenweck # Satz: Die Letter, Neustadt # Druck: Fuldaer Verlagsanstalt,<br />

Fulda<br />

Verlagsverzeichnis schickt gern: Eichborn Verlag, Kaiserstraße 66, D-60329 Frankfurt # eichborn.<strong>de</strong><br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

I n h a l t


Eine Art Einleitung: Vom Zorn und von <strong>de</strong>r Freiheit ... 7<br />

Teil 1: Die I<strong>de</strong>e<br />

Kapitel 1 Einiges zur Verwirrung .................................................<br />

10<br />

Kapitel 2 Der Begriff »Anarchie« ................................................<br />

13<br />

Kapitel 3 Wer ist Anarchist? .......................................................<br />

16<br />

Kapitel 4 Was wollen die Anarchisten? .........................................<br />

20<br />

Kapitel 5 Was tun die Anarchisten? ..............................................<br />

25<br />

Kapitel 6 Kritik am Staat ............................................................<br />

28<br />

Kapitel 7 Kritik an <strong>de</strong>r Demokratie ..............................................<br />

32<br />

Kapitel 8 Kritik am Kommunismus ................................................<br />

37<br />

Kapitel 9 Kritik am Patriarchat ....................................................<br />

41<br />

Kapitel 10 Freie Liebe und an<strong>de</strong>re praktische Nutzanwendungen ........<br />

44<br />

Kapitel 11 Kunst, Kultur, Lebensart...............................................<br />

50<br />

Kapitel 12 Small is beautiful – die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Vernetzung ....................<br />

54<br />

Kapitel 13 Chaos, o<strong>de</strong>r was ...? ..............................................<br />

64<br />

Kapitel 14 Eine an<strong>de</strong>re Ökonomie ...............................................<br />

71<br />

Kapitel 15 Radikale Ökologie .....................................................<br />

98<br />

Kapitel 16 Anarchismus und Organisation ...................................<br />

111<br />

Kapitel 17 Parteien, Räte, Selbstverwaltung ................................<br />

116<br />

Kapitel 18 Avantgar<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Hefeteig? ........................................


124<br />

Kapitel 19 Die freie Gesellschaft – eine Utopie? ...........................<br />

130<br />

Teil 2: Die Vergangenheit<br />

Kapitel 20 Frühformen <strong>de</strong>r Anarchie ................................................................<br />

141<br />

Kapitel 21 Die Zeit wird reif ............................................................................<br />

161<br />

Kapitel 22 »Eigentum ist Diebstahl!« – Proudhon und die Anfänge <strong>de</strong>s Anarchismus ...<br />

177<br />

Kapitel 23 Das große Ich - Stirner und <strong>de</strong>r Individualanarchismus .......................<br />

186<br />

Kapitel 24 Empörung und Revolte – Bakunin und <strong>de</strong>r kollektivistische Anarchismus<br />

191<br />

Kapitel 25 Ein folgenschwerer Streit: die Spaltung <strong>de</strong>r Ersten Internationale ..........<br />

211<br />

Kapitel 26 »Vive la Commune!« ......................................................................<br />

217<br />

Kapitel 27 »Hoch das Dynamit!« Der Anarchismus und die Bombe ......................<br />

225<br />

Kapitel 28 Gegenseitige Hilfe – Kropotkin und <strong>de</strong>r kommunistische Anarchismus ...<br />

237<br />

Kapitel 29 Hoffnung und Resignation: Revolution in Rußland ..............................<br />

252<br />

Kapitel 30 Die Machnotschina: Bauernguerilla in <strong>de</strong>r Ukraine .............................<br />

259<br />

Kapitel 31 Die Kommune von Kronstadt ..........................................................<br />

269<br />

Kapitel 32 Anarchosyndikalismus – Geburtshelfer <strong>de</strong>r Revolution ........................<br />

274<br />

Kapitel 33 Zwischen <strong>de</strong>n Kriegen ....................................................................<br />

282<br />

Kapitel 34 Der kurze Sommer <strong>de</strong>r Anarchie – Revolution in Spanien ....................<br />

301<br />

Kapitel 35 Das hoffnungsvolle Stiefkind: Anarchismus in Deutschland ..................<br />

314


Kapitel 36 Neubeginn auf Trümmern ................................................................<br />

331<br />

Kapitel 37 Mai '68 ........................................................................................<br />

340<br />

Kapitel 38 Anarchismus heute: von <strong>de</strong>r Organisation zum Wurzelwerk .................<br />

348<br />

Teil 3: Die Zukunft<br />

Kapitel 39<br />

Ist <strong>de</strong>r Anarchismus noch zu retten? .......... 369<br />

Kapitel 40<br />

Von <strong>de</strong>r Demokratie zur Akratie ............... 379<br />

Kapitel 41<br />

Ist die Zukunft an-archisch? ..................... 388<br />

Anhang : Fremdwortverzeichnis<br />

Bitte beachten Sie die Hinweise auf <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Seite!<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Hinweise zum Inhalt<br />

Die folgen<strong>de</strong>n Personen, Themen o<strong>de</strong>r Begriffe wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>m in Klammern genannten Kapitel<br />

behan<strong>de</strong>lt:<br />

+ Abolitionismus (Strafsystem/Kriminalität) (4, 19) + Alternativbewegung (38) + Anarchie in <strong>de</strong>r<br />

klassischen Antike (20) + APO (37) + Asien (Anarchismus) (33) + Australien (Anarchismus) (33) +<br />

Bewegung 2. Juni (38) + Buddhismus (20) + Chaostheorie (13) + Christentum und Anarchie (20) +<br />

Darwinismus (19, 28) + Deutsche Novemberrevolution (35) + »Committee of 100« (38) + »Commune<br />

von Dortmund« (35) + direkte Aktion (32) + Etymologie (d. Wortes Anarchie) (2, 21) + FAU (38) +<br />

FAUD (35) + freie Schule (10) + freie Vereinbarung (10) + Freigeld (14) + Frühlibertäre (21) +<br />

Frühsozialisten (21) + Gandhi, Mahatma (36) + Gewaltfrage (27) + gewaltfreier Anarchismus (27, 38) +<br />

Gesell, Silvio (14) + Godwin, William (21) + Goldman, Emma (10, 33) + Graswurzelbewegung (38) +<br />

Grüne (38) + Häretiker, Ketzer, Wie<strong>de</strong>rtäufer (20) + Henry, Emile (27) + italienische Fabrikräte (33) +<br />

Kabouters (38) + Kibuzzim (33) + Korea (Anarchismus) (33) + Landauer, Gustav (33, 35) +<br />

Lateinamerika (Anarchismus) (33) + Malatesta, Errico (33) + Michel, Louise (26) + Most, Johann (35) +<br />

Mühsam, Erich (35) + Münchner Räterepublik (35) + Nordamerika (Anarchismus) (33) +<br />

Projektanarchismus (33, 38) + RAF (38) + Ravachol, Clau<strong>de</strong> (27) + Sozialistischer Bund (33) + Spontis<br />

(37) + Taoismus (20) + Yippies (38).<br />

Begriffe, die sich aus <strong>de</strong>n Überschriften ergeben, sind in diesem Verzeichnis nicht genannt.<br />

Hinweise zum Buch<br />

Dieses Buch will seine Leser gleichzeitig informieren und unterhalten. Es soll ohne Vorkenntnisse<br />

allgemein verständlich und leicht lesbar sein. Deshalb habe ich auf langatmige Fußnoten und<br />

Quellenangaben verzichtet. Statt<strong>de</strong>ssen sind alle ungewöhnlichen Begriffe o<strong>de</strong>r Fremdworte bei ihrer<br />

ersten Nennung mit einem * gekennzeichnet, im Anhang alphabetisch aufgeführt und erklärt. Am En<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r meisten Kapitel fin<strong>de</strong>n sich Literaturverweise, die zum weiterlesen anregen sollen. Außer<strong>de</strong>m enthält<br />

das Buch im Anhang einen Adreßteil. Auf diese Weise sollte <strong>de</strong>m praktischen Nutzwert <strong>de</strong>r Vorrang vor<br />

<strong>de</strong>r Wissenschaftlichkeit geben wer<strong>de</strong>n.


Der erste Teil geht <strong>de</strong>r Frage nach: Was ist eigentlich Anarchie? Der Zweite Teil erzählt in zeitlicher<br />

Folge die vielfältige Geschichte <strong>de</strong>r An-Archismen. Im Dritten Teil geht es um die Zukunftsperspektiven<br />

an-archischer Szenarien. Die einzelnen Teile und Kapitel sind so angelegt, daß sie in <strong>de</strong>r Regel in sich<br />

geschlossen und verständlich sind. Deshalb kann das Buch ebensogut als Ganzes wie auch stückweise,<br />

vorwärts, rückwärts o<strong>de</strong>r an-archisch gelesen wer<strong>de</strong>n.<br />

I<strong>de</strong>e und Grundstruktur <strong>de</strong>s Buches bauen auf meinem 1972 veröffentlichten Titel »Was ist eigentlich<br />

Anarchismus?« auf.<br />

H. St.<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Eine Art Einleitung<br />

Vom Zorn und von <strong>de</strong>r Freiheit<br />

»Anarchie ist nicht eine Sache <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rungen, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Lebens.«<br />

– Gustav Landauer –<br />

AM ANFANG WAR DER ZORN. Der unsagbare, unzügelbare und unvorhersehbare Zorn, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />

Sklaven bisweilen überkommt und ihn dazu bringt, seinem Herrn entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Schä<strong>de</strong>l einzuschlagen<br />

o<strong>de</strong>r sich davonzustehlen. Zorn darüber, daß ein Mensch <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren befehlen darf. Wut über<br />

Knechtschaft und Unterdrückung. Haß auf die Arroganz <strong>de</strong>r Macht, die Menschen über Menschen<br />

ausüben.<br />

Zorn, Rebellion, Flucht – eine uralte Triebkraft menschlicher Geschichte, ein Teufelskreis, <strong>de</strong>ssen<br />

Grenzen schon ein rebellieren<strong>de</strong>r Sklave vor fünftausend Jahren kennengelernt haben mag. In dieser<br />

Sackgasse ohne Ziel hat sich ein Spartakus* genauso bewegt wie Michael Kohlhaas o<strong>de</strong>r ›Che‹ Guevara*,<br />

<strong>de</strong>nn alle mußten sich früher o<strong>de</strong>r später die Frage nach eben diesem Ziel ihrer Rebellion stellen.<br />

Die Freiheit, natürlich! Aber was genau ist das? Wo gab es sie? Konnte man irgendwohin gehen und sie<br />

fin<strong>de</strong>n? Be<strong>de</strong>utete die Flucht vor <strong>de</strong>r Herrschaft, die simple Abwesenheit <strong>de</strong>s Unterdrückers automatisch<br />

die Anwesenheit <strong>de</strong>r Freiheit? Und zeigt nicht alle Erfahrung, daß ›Freiheit‹ eine trügerische Hoffnung<br />

ist? Wird nicht doch immer nur eine Form <strong>de</strong>r Herrschaft durch eine an<strong>de</strong>re ersetzt? Vor allem aber: Ist<br />

<strong>de</strong>r Mensch zur Freiheit überhaupt fähig?<br />

Empörung, Wut, Rebellion sind negative Werte. Sie sagen nur, wie es nicht sein soll, aber nichts darüber,<br />

wie es an<strong>de</strong>rs, wie es besser sein könnte. Haß ist nicht konstruktiv*, er ist <strong>de</strong>struktiv – wie könnte es auch<br />

an<strong>de</strong>rs sein. Natürlich wäre es vermessen, von <strong>de</strong>m Sklaven, <strong>de</strong>r in seiner höchsten Drangsal gegen seinen<br />

Herrn rebelliert, auch sogleich einen fertigen Plan für eine freie Gesellschaft zu erwarten. Befreiung war<br />

und ist immer in erster Linie eine Reaktion auf Unfreiheit. Wenn sie aber dort stehenbleibt, wird sie<br />

niemals konstruktiv. Das jedoch be<strong>de</strong>utet, daß ›Befreiung‹ letztendlich nicht zur Freiheit führt.<br />

In diesem Spannungsfeld zwischen Zorn und Freiheit hat die Menschheit eine I<strong>de</strong>e geboren, die ebenso alt<br />

ist wie die Geschichte <strong>de</strong>r Herrschaft: <strong>de</strong>n Traum von <strong>de</strong>r Anarchie o<strong>de</strong>r, auf gut Deutsch gesagt, <strong>de</strong>r<br />

Herrschaftsfreiheit. Im Mittelpunkt dieser I<strong>de</strong>e steht die Frage, wie Zorn sich selbst überwin<strong>de</strong>n und<br />

Freiheit hervorbringen kann. Zweifellos sind Haß und Wut schlechte Ratgeber. Und ebenso klar ist, daß<br />

Freiheit nicht Mitteln <strong>de</strong>r Unfreiheit geschaffen wer<strong>de</strong>n kann. Wahr ist aber auch, daß meistens <strong>de</strong>r Zorn<br />

die erste Triebfe<strong>de</strong>r dafür war, über eine ›Gesellschaft <strong>de</strong>r Freiheit‹ überhaupt nachzu<strong>de</strong>nken und, vor<br />

allem, sie in die Tat umzusetzen. Theoretiker <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus haben dies die »schöpferische<br />

Kraft <strong>de</strong>r Empörung« genannt, zugleich aber<br />

7


--------------------------------------------------------------------------------<br />

unermüdlich darauf hingewiesen, daß man um <strong>de</strong>n Preis <strong>de</strong>s Scheiterns <strong>de</strong>r Freiheit niemals an diesem<br />

Punkt verharren darf.<br />

So ist <strong>de</strong>r Anarchismus – als befreien<strong>de</strong>r Kampf und Lehre von einer herrschaftsfreien Gesellschaft – von<br />

Anfang an in diesen Wi<strong>de</strong>rspruch hineingeboren und bis heute in ihn verstrickt: Wie läßt sich <strong>de</strong>struktiver<br />

Zorn in konstruktive Befreiung umwan<strong>de</strong>ln? Denn: was nützte je<strong>de</strong>s Aufbegehren gegen Unfreiheit, wenn<br />

an ihrem En<strong>de</strong> keine Freiheit stün<strong>de</strong>? Sie brächte nur neue Unterdrückung hervor, wenn – ja, wenn die<br />

Gedanken nicht über diese spontane Empörung, über Gefühle wie Rache und Wut hinausgingen.<br />

Empörung braucht also eine I<strong>de</strong>e, die in eine positive Utopie* mün<strong>de</strong>t; mit einem Wort: ein Ziel.<br />

Dieses Ziel macht das Wesen jener Bewegung aus, die unter <strong>de</strong>m Namen »Anarchismus« seit jeher<br />

Begeisterung und Schrecken gleichermaßen auslöste. Bunt, bizarr und wi<strong>de</strong>rsprüchlich wie Freiheit eben<br />

sein kann, verführerisch für die einen, Inbegriff <strong>de</strong>s Bösen für die an<strong>de</strong>ren, zieht sie sich seit<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rten wie ein bunter Fa<strong>de</strong>n durch die Geschichte <strong>de</strong>r Menschheit. Zwischen konsequentester<br />

Friedfertigkeit und verzweifelter Gewalt entfaltet sich diese I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Hoffnung, die die Menschen bis<br />

heute zu beflügeln vermag und ihre wahre Zukunft noch vor sich haben dürfte.<br />

Hiervon han<strong>de</strong>lt dieses Buch.<br />

Es geht <strong>de</strong>r Frage nach, ob Anarchie ein weltfrem<strong>de</strong>r Traum ist o<strong>de</strong>r ein noch zu realisieren<strong>de</strong>r Entwurf.<br />

Es versucht, das Knäuel <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>en, die diese radikale Philosophie von <strong>de</strong>r Freiheit bil<strong>de</strong>n, zu entwirren<br />

und einige seiner Fä<strong>de</strong>n zu verfolgen. Es berichtet von gescheiterten und erfolgreichen Versuchen, jenen<br />

Traum zu verwirklichen. Vor allem aber versucht es, einen Blick voraus zu tun – ein Szenario zu<br />

entwerfen und die These einiger zeitgenössischer Denker zu untersuchen, die behaupten, die<br />

Gesellschaftsform <strong>de</strong>s kommen<strong>de</strong>n Jahrtausends wer<strong>de</strong> eine an-archische* sein – o<strong>de</strong>r die Menschheit<br />

gehe unter.<br />

Die Wurzeln <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus sind sehr alt. Ihre Ursprünge verlieren sich im Dunkel <strong>de</strong>r<br />

Menschheitsgeschichte - schon <strong>de</strong>shalb, weil vor zwei-, dreitausend Jahren kaum ein Chronist* die<br />

›Geschichte <strong>de</strong>r Empörungen‹ für überliefernswert hielt. Erst etwa einhun<strong>de</strong>rtfünfzig Jahre jung ist<br />

hingegen das, was man <strong>de</strong>n ›mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus‹ nennen kann. Paradoxerweise ist er zwar<br />

ausgezeichnet dokumentiert, aber fast völlig unbekannt. Seine Suche nach einer künftigen Gesellschaft<br />

gebiert eine schier endlose Reihe von Revolten, I<strong>de</strong>en und konkreten Experimenten. Sie alle sind voller<br />

Spannung und Aktualität, und bei fast allen ging die Auflehnung <strong>de</strong>r Philosophie voraus.<br />

Auch was die persönliche Entwicklung betrifft, dürfte bei <strong>de</strong>n meisten Anarchisten irgendwann <strong>de</strong>r Zorn<br />

vor <strong>de</strong>r Utopie gestan<strong>de</strong>n haben. Die wenigsten Menschen sind aufgrund analytischer* Überlegung o<strong>de</strong>r<br />

durch philosophische Denkübungen zu <strong>de</strong>m Wunsch nach einer herrschaftsfreien Gesellschaft gelangt.<br />

Selbst Unterdrückung, Herrschaft und Ungerechtigkeit erlebt zu haben, war und ist noch immer die<br />

häufigste und kräftigste Triebfe<strong>de</strong>r, sich einer solchen I<strong>de</strong>e zu verschreiben.<br />

8<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

So gesehen ist das Potential möglicher Empörer unerschöpflich. Wohl je<strong>de</strong>r selbstbewußte Mensch kennt<br />

diesen Zorn. Vielleicht haben auch Sie sich schon einmal die Frage gestellt, wieso da eigentlich<br />

Menschen über Ihnen sind, die Ihnen Anweisungen geben und über Ihr Leben und Ihre Zukunft<br />

entschei<strong>de</strong>n dürfen: ein ganzes System <strong>de</strong>r Hierarchie*, von <strong>de</strong>m wir ja schließlich wissen, daß es alles<br />

an<strong>de</strong>re als gut funktioniert.


Das be<strong>de</strong>utet in<strong>de</strong>s nicht, daß alle Menschen, die unter Herrschaft lei<strong>de</strong>n, automatisch ›Anarchisten‹<br />

wären. Zum Anarchismus gehört immer auch die Suche nach Alternativen und Zukunftsmo<strong>de</strong>llen. Neue<br />

I<strong>de</strong>en für die Zukunft aber scheinen heute dringlicher <strong>de</strong>nn je. Die weltweiten Problemketten auf unserem<br />

Planeten verurteilen uns dazu, neue Lösungen zu fin<strong>de</strong>n. Lösungen, die in <strong>de</strong>r Lage wären, die überholten<br />

Vorstellungen von Zentralismus, Hierarchie, Konzentration und Wachstumswahn abzulösen. Bei dieser<br />

Suche kann uns <strong>de</strong>r reiche Fundus anarchistischer Erfahrung interessante Anregungen geben – gute wie<br />

schlechte. Nur zu einem taugt er nicht: zum blin<strong>de</strong>n Nacheifern.<br />

I<strong>de</strong>ologie*, Dogmatik* und Fanatismus* wi<strong>de</strong>rsprechen sozusagen <strong>de</strong>m Wesensgehalt <strong>de</strong>r Anarchie.<br />

Denn <strong>de</strong>r besteht, salopp ausgedrückt, aus ›Freiheit pur‹.<br />

9<br />

Teil 1 DIE IDEE<br />

Kapitel 1<br />

Einiges zur Verwirrung<br />

Das Wort ›Utopie‹ allein genügt zur Verurteilung einer I<strong>de</strong>e.<br />

Jack London<br />

WAS EIN ANARCHIST IST, weiß je<strong>de</strong>r: ein gewalttätiger Mensch, ein Terrorist zumeist, außer<strong>de</strong>m<br />

schmud<strong>de</strong>lig, die Unordnung liebend, Chaos verbreitend wo er geht und steht. Seine<br />

Lieblingsbeschäftigung besteht im Werfen von Bomben, die er üblicherweise unter einem wallen<strong>de</strong>n,<br />

schwarzen Umhang verbirgt, das Gesicht von einem aus <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong> gekommenen Schlapphut ver<strong>de</strong>ckt.<br />

Notfalls greift er auch zu Dolch o<strong>de</strong>r Revolver – Hauptsache, er kann seinen Blutdurst stillen.<br />

O<strong>de</strong>r aber er ist krank, erblich gar. Ein wissenschaftliches Standardwerk <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts <strong>de</strong>finiert<br />

Anarchisten schlicht als "Idioten o<strong>de</strong>r angeborene Verbrecher, die noch dazu allgemein humpeln,<br />

behin<strong>de</strong>rt sind und asymmetrische* Gesichtszüge tragen". Anarchie als Geisteskrankheit also - das erklärt<br />

und entschuldigt alles.<br />

Sodann die Variante <strong>de</strong>r Verblendung: Anarchisten seien "kleinbürgerliche Chaoten", die <strong>de</strong>n "objektiven<br />

Gang <strong>de</strong>r Geschichte" noch nicht erkannt hätten; lauter zwar in ihren Absichten, aber letztendlich doch<br />

"voluntaristische* Helfershelfer <strong>de</strong>r Konterrevolution". Deshalb gehörten sie als "Linksabweichler" auch<br />

am besten "liquidiert". Diese Tonart schlugen in <strong>de</strong>r Vergangenheit mit Vorliebe Marxisten aller<br />

Richtungen an, die inzwischen angesichts <strong>de</strong>s Scheiterns ihrer ›objektiven Geschichtswahrheiten‹ jedoch<br />

in Schweigen verfallen sind.<br />

Schließlich die mo<strong>de</strong>rne Definition — eine Mischung aus Psychoanalyse und Düsternis: Anarchisten<br />

wären <strong>de</strong>mnach frühkindlich geschädigte Psychoten*, die ihre privaten Probleme in abgrundtiefen Haß<br />

auf die Gesellschaft umwan<strong>de</strong>ln und sich zur Rechtfertigung eine ›Philosophie <strong>de</strong>s Nichts‹ schmie<strong>de</strong>ten.<br />

Sie seien ebensosehr zu bedauern wie zu bekämpfen.<br />

Tragisch, niemand scheint sie lieb zu haben, die Anarchisten.<br />

Sie ahnen schon, all dies ist Unsinn, und Sie ahnen richtig. Das macht die Sache allerdings nicht<br />

einfacher, <strong>de</strong>nn eine korrekte Definition ist schon <strong>de</strong>shalb schwierig, weil Anarchismus keine einheitliche<br />

Bewegung ist, son<strong>de</strong>rn eine vielfältige und damit auch wi<strong>de</strong>rsprüchliche. Das liegt in ihrem Wesen, <strong>de</strong>nn<br />

ihr Wesen ist Freiheit, und Freiheit ist nicht uniform.<br />

So gibt es unter Anarchisten <strong>de</strong>nn auch alle möglichen Überzeugungen und Strategien <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung.<br />

Von Ökologen* über Gewerkschafter, Pädagogen*, Siedler und Alternati<strong>vu</strong>nternehmer bis hin zu <strong>de</strong>n<br />

Befürwortern revolutionärer Gewalt und Anhängern strikter Gewaltfreiheit ist alles vertreten. Es fin<strong>de</strong>n<br />

sich unter ihnen Atheisten* und


10<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Religiöse, Asketen* und Schlemmer, Materialisten* und Esoteriker*. Für die einen ist <strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Hebel zur Überwindung <strong>de</strong>r Herrschaft die Erziehung, für die an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>r zivile Ungehorsam o<strong>de</strong>r die<br />

direkte Aktion; diese wollen mit <strong>de</strong>m gleichen Ziel Gegenstrukturen aufbauen, jene die Arbeiterschaft<br />

gewinnen; Selbstverwaltung ist das Credo* von manchen, auch Unterwan<strong>de</strong>rung ist für viele angesagt und<br />

wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re schwören auf Propaganda, Aufklärung o<strong>de</strong>r das vorgelebte Beispiel. Schließlich gibt es<br />

auch Individualisten, <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Rest <strong>de</strong>r Menschheit ziemlich schnuppe ist und last but not least noch<br />

immer welche, die davon träumen, diesem Rest <strong>de</strong>r Menschheit ihre Vorstellungen lieber mit Gewalt<br />

aufzuzwingen – mehr o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r sanft. Die Spezies <strong>de</strong>r blutrünstigen Bombenwerfen allerdings, die das<br />

Anarchismusbild so nachhaltig geprägt hat und die Phantasie <strong>de</strong>r Bürger so angenehm-gruselig beflügelt,<br />

ist, wie wir noch sehen wer<strong>de</strong>n, seit langem ausgestorben.<br />

Nun betrachten Anarchisten diese Vielfalt keineswegs als Makel, im Gegenteil, sie sehen darin eine<br />

Chance und Bereicherung – die Vorwegnahme jener Vielfalt, die sie in einer künftigen Gesellschaft<br />

anstreben. In <strong>de</strong>r Tat nimmt <strong>de</strong>r Anarchismus für sich in Anspruch, die einzige Gesellschaftsstruktur zu<br />

sein, die <strong>de</strong>r Tatsache Rechnung trägt, daß Menschen eben sehr unterschiedlich sind.<br />

Was aber haben Anarchisten <strong>de</strong>nn dann eigentlich gemeinsam? Gibt es überhaupt eine Berechtigung, von<br />

›Anarchismus‹ und ›Anarchisten‹ zu sprechen, wenn alles so schön beliebig ist? Versuchen wir es <strong>de</strong>r<br />

Einfachheit halber mit einer vorläufigen Kurz<strong>de</strong>finition, die sich lediglich auf die Gemeinsamkeiten<br />

beschränkt:<br />

Anarchisten streben eine freie Gesellschaft <strong>de</strong>r Gleichberechtigung an, in <strong>de</strong>r es keine Herrschaft von<br />

Menschen über Menschen mehr gibt. Die Mitglie<strong>de</strong>r einer solchen Gesellschaft sollen befähigt und<br />

ermutigt wer<strong>de</strong>n, ihre privaten und gesellschaftlichen Bedürfnisse ohne Hierarchie und Bevormundung<br />

mit einem Minimum an Entfremdung* selbst in die Hand zu nehmen. So soll eine an<strong>de</strong>re Ordnung<br />

entstehen, in <strong>de</strong>r Prinzipien wie die ›freie Vereinbarung‹, ›gegenseitige Hilfe‹ und ›Solidarität‹ an die<br />

Stelle heutiger Realitäten wie Gesetze, Konkurrenz und Egoismus treten könnten. Autoritärer<br />

Zentralismus wür<strong>de</strong> durch Fö<strong>de</strong>ralismus ersetzt: die <strong>de</strong>zentrale Vernetzung kleiner und überschaubarer<br />

gesellschaftlicher Einheiten. Menschenverachten<strong>de</strong> und umweltzerstören<strong>de</strong> Gigantomanie* wären dann<br />

absurd; an ihre Stelle träten freie Zweckzusammenschlüsse, die die Menschen auf <strong>de</strong>r Basis gleicher<br />

Rechte und Pflichten direkt miteinan<strong>de</strong>r eingingen. Beson<strong>de</strong>rs originell an diesen Vorstellungen ist die<br />

I<strong>de</strong>e, daß es auf einem geografischen Gebiet nicht mehr nur eine Gesellschaft gibt, einen für alle<br />

gleichermaßen verbindlichen Staat, son<strong>de</strong>rn eine Vielfalt parallel* existieren<strong>de</strong>r gesellschaftlicher<br />

Gebil<strong>de</strong>. "Anarchie ist eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften", wie es <strong>de</strong>r<br />

anarchistische Philosoph Gustav Landauer einst formulierte. Kurzum, und etwas einfacher gesagt:<br />

Anarchie ist nicht Chaos*, son<strong>de</strong>rn Ordnung ohne Herrschaft.<br />

In <strong>de</strong>r praktischen Umsetzung dieser eher abstrakten I<strong>de</strong>en sind sich wohl die meisten Anarchisten darin<br />

einig, daß gewisse Institutionen einer solchen freiheitlichen Gesellschafts-<br />

11<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

form hin<strong>de</strong>rlich sind, um es einmal freundlich auszudrücken. Zunächst <strong>de</strong>r Staat als Institution und<br />

autoritäres Ordnungsprinzip, ebenso aber auch <strong>de</strong>r ›Staat im Kopfe‹: Herrschaftsi<strong>de</strong>ologie und<br />

Autoritätsgläubigkeit. Ferner die ihn tragen<strong>de</strong>n Säulen wie Kapital, Polizei, Kirche, Justiz, Patriarchat, die<br />

angepaßten Massenmedien, die herkömmliche Erziehung, die klassische Kleinfamilie und <strong>de</strong>rgleichen<br />

mehr, womit wir bei <strong>de</strong>n "Lieblingsgegnern" angelangt sind, mit <strong>de</strong>nen sich Anarchisten traditionsgemäß<br />

und vorzugsweise auseinan<strong>de</strong>rsetzen.


Das alles ginge aber noch nicht wesentlich über das symbolhafte Bild jenes rebellieren<strong>de</strong>n Sklaven<br />

hinaus, das wir eingangs bemüht haben. Anarchisten wür<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Tat verantwortungslos han<strong>de</strong>ln, wenn<br />

sie sich darauf beschränken wollten, Negatives zu zerschlagen, ohne etwas Positives an seine Stelle setzen<br />

zu können. So zeichnen sich wirkliche Anarchisten immer auch dadurch aus, daß sie an Mo<strong>de</strong>llen für eine<br />

neue, freiheitliche Gesellschaft arbeiten und diese in praktischen Experimenten beispielhaft zu<br />

verwirklichen versuchen - auch wenn das im Rahmen <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n autoritären Wirklichkeit nur<br />

unvollkommen gelingen will.<br />

"Nett, aber naiv", so könnte man <strong>de</strong>n Tenor aller wohlwollen<strong>de</strong>n Kritiker zusammenfassen. "Das ist<br />

vielleicht ein schöner Wunschtraum, aber nicht zu verwirklichen. Der Mensch ist dazu nicht geschaffen,<br />

er ist egoistisch, er braucht Autorität und die strenge Hand von Moral, Gesetz und Ordnung. Und selbst<br />

wenn er so leben könnte - die Herrschen<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n ein solches System niemals zulassen, und da diese<br />

nicht zu besiegen sind, wird es beim Traum bleiben."<br />

Anarchisten behaupten natürlich das Gegenteil: für sie ist eine solche Gesellschaft nicht nur<br />

erstrebenswert, son<strong>de</strong>rn auch möglich. Und sie erklären auch, warum: Gera<strong>de</strong> weil <strong>de</strong>r Mensch egoistisch<br />

sei, so lautet eine ihrer Thesen, sei Anarchie eine adäquate Lebensform. O<strong>de</strong>r, daß Herrschaft und<br />

Autorität nicht dasselbe wären und erstere die Herausbildung einer wohlverstan<strong>de</strong>nen und positiven,<br />

nämlich freiwilligen ›Autorität‹ überhaupt erst verhin<strong>de</strong>re. Und natürlich brauche <strong>de</strong>r Mensch so etwas<br />

wie ›Moral‹ und eine ›Ordnung‹, aber nicht unbedingt die, die wir heute haben. Unsere Gesetze seien das<br />

ziemliche Gegenteil von Moral - Anarchie hingegen die moralisch höchste Form <strong>de</strong>r Ordnung, weil sie<br />

sich ihre Regeln und Grenzen freiwillig setze. Vor allem aber müsse es nicht eine Art <strong>de</strong>r Ordnung und<br />

eine Ethik* geben – es könnten <strong>de</strong>rer ruhig mehrere neben- und miteinan<strong>de</strong>r bestehen.<br />

So etwas klingt in <strong>de</strong>n Ohren staatlich geprägter Menschen – und das sind wir alle – paradox*. Diese<br />

vermeintlichen Paradoxien sollen uns jetzt nur am Ran<strong>de</strong> interessieren, <strong>de</strong>nn sie sind theoretisch,<br />

bestenfalls plausibel, und haben letztlich keine Beweiskraft. Beweiskraft hat das Beispiel, das<br />

Experiment. Wußten Sie, daß es in diesem Jahrhun<strong>de</strong>rt bereits große, funktionieren<strong>de</strong> anarchistische<br />

Gemeinwesen gab, ganze Län<strong>de</strong>r umfassend, mit Großstädten, Dörfern und Industrie, in <strong>de</strong>nen von <strong>de</strong>r U-<br />

Bahn über die Milchwirtschaft bis hin zum Schulwesen eine mo<strong>de</strong>rne Massengesellschaft nach anarchischem<br />

Muster funktionierte? O<strong>de</strong>r war Ihnen bekannt, daß es narchistischen Guerillaarmeen in<br />

12<br />

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<strong>de</strong>n zwanziger Jahren gelang, riesige Landstriche zu befreien, um in ihnen <strong>de</strong>n Aufbau einer Gesellschaft<br />

in freier Selbstverwaltung zu versuchen? Kein Mensch ahnt heute, daß das Mittel <strong>de</strong>s ›zivilen<br />

Ungehorsams‹ das Kolonialmächte in die Knie zwang und Regierungen stürzte, voll und ganz in <strong>de</strong>r<br />

Tradition <strong>de</strong>s gewaltfreien Anarchismus steht. Und wer weiß schon, daß es Anarchisten waren, die vor<br />

über siebzig Jahren bereits einen Sechsstun<strong>de</strong>ntag in <strong>de</strong>r Schwerindustrie erkämpften? Auf unseren<br />

Streifzügen durch die verzweigten Pfa<strong>de</strong> anarchistischer Experimente wer<strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>rartigen Beispielen in<br />

solch unterschiedlichen Län<strong>de</strong>rn wie Argentinien und Indien, Deutschland, <strong>de</strong>r Ukraine, Spanien und <strong>de</strong>r<br />

Mandschurei begegnen.<br />

Freilich, nichts von alle<strong>de</strong>m existiert mehr, und viele dieser großen und kleinen Experimente blieben in<br />

<strong>de</strong>r Praxis weit hinter <strong>de</strong>n hohen I<strong>de</strong>alen <strong>de</strong>s Anarchismus zurück. Wahr ist aber auch, daß kein einziges<br />

von ihnen an seinen eigenen Wi<strong>de</strong>rsprüchen zugrun<strong>de</strong> ging – sie wur<strong>de</strong>n samt und son<strong>de</strong>rs militärisch<br />

zerschlagen. Wahrlich ein ›schlagen<strong>de</strong>r‹ Beweis; allerdings keiner, <strong>de</strong>r die Unmöglichkeit einer<br />

anarchistischen Gesellschaft beweisen könnte.<br />

Heute existiert Anarchismus nur als Konzept*, als soziale Bewegung, und in beschei<strong>de</strong>nen praktischen<br />

Ansätzen. Der endgültige Beweis, ob Anarchie eine funktionsfähige Struktur ist, steht mithin noch aus;<br />

ebenso, ob sie eine wünschenswerte Lebensform ist. Das könnten schließlich nur diejenigen Menschen<br />

beantworten, die in ihr leben.


Literatur:<br />

/ Autorenkollektiv: Was ist eigentlich Anarchie? Berlin 1986 (6. Aufl.), Karin Kramer, 162 S.<br />

/ <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: Leben ohne Chef und Staat Berlin 1993 (10. Aufl.), Karin Kramer, 194 S., ill.<br />

/ Nicolas Walter Betrifft: Anarchismus Berlin 1984, Libertad, 160 S.<br />

/ Daniel Guérin: Anarchismus. Begriff und Praxis Frankfurt 1969, Suhrkamp, 164 S.<br />

/ April Carter: Die politische Theorie <strong>de</strong>s Anarchismus Berlin 1988, Ah<strong>de</strong>, 305 S.<br />

/ Paul Eltzbacher: Der Anarchismus Berlin o.J. [1900], Libertad, 305 S.<br />

/ Justus F. Wittkop: Unter <strong>de</strong>r Schwarzen Fahne Frankfurt 1973, Fischer, 270 S., ill.<br />

Kapitel 2<br />

Der Begriff "Anarchie"<br />

Warum mir aber in neuester Welt Anarchie gar so gut gefällt?<br />

Ein je<strong>de</strong>r lebt nach seinem Sinn, das ist nun also auch mein Gewinn!<br />

Ich laß' einem je<strong>de</strong>n sein Bestreben, um auch nach meinem Sinn zu leben.<br />

Johann Wolfgang v. Goethe<br />

DAS WORT ANARCHIE ist so alt wie die abendländische Zivilisation. Seit es Herrschaft gibt, gibt es<br />

auch I<strong>de</strong>en herrschaftsfreien Lebens, und seit <strong>de</strong>n alten Griechen ist uns das Wort an archia [áy apxía]<br />

überliefert. Es be<strong>de</strong>utet "keine Herrschaft", also die Abwesenheit von Macht und Hierarchie. Ein<br />

provokantes Wort, das in <strong>de</strong>n Köpfen <strong>de</strong>r Menschen augenblicklich schlimme Visionen erzeugt: Chaos,<br />

Unordnung, Verwil<strong>de</strong>rung, Zerstörung. So ist die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Wortes heute weitgehend auf die Ängste<br />

reduziert, die <strong>de</strong>n Normalbürger bei dieser Vorstellung befallen; sein eigentlicher Wortsinn ging dabei<br />

komplett verloren. Was blieb, waren griffige ›Übersetzungen‹ wie "Gesetzlosigkeit",<br />

13<br />

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"Zügellosigkeit", "Chaos". Das ist etwa genauso korrekt, wie wenn man die Begriffe "Zahnarzt" mit<br />

"Folter", "Liebe" mit "Sün<strong>de</strong>" o<strong>de</strong>r "Ökologie" mit "Rückschrittlichkeit" übersetzen wür<strong>de</strong>.<br />

In <strong>de</strong>r Umgangssprache mag dies ja noch als spontaner Ausdruck eines Angstgefühls hingenommen<br />

wer<strong>de</strong>n. Es geht jedoch um mehr als nur um Unwissenheit o<strong>de</strong>r Ungenauigkeit. Seit Jahrhun<strong>de</strong>rten wird<br />

im offiziösen Sprachgebrauch dieser negative Begriff von Anarchie verwen<strong>de</strong>t; seit <strong>de</strong>m 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />

in <strong>de</strong>r offensichtlichen Absicht, <strong>de</strong>n Anarchismus als Philosophie o<strong>de</strong>r politische Bewegung zu<br />

diskreditieren*. Aus diesem Grun<strong>de</strong> haben ganze Generationen von Politikern und Literaten,<br />

Kommunisten und Adligen, Pfarrern und Hausdamen diesen Begriff von Anarchie verbreitet. Für sie<br />

verbin<strong>de</strong>t sich das Wort mit einem kalten Schauer und <strong>de</strong>m Gedanken an Weltuntergang, und diese<br />

apokalyptische* Vision gaben sie millionenfach weiter.<br />

Selbst in seriösen Nachschlagewerken wie <strong>de</strong>m Du<strong>de</strong>n wird Anarchie vorzugsweise und durchaus falsch<br />

mit "Gesetzlosigkeit" o<strong>de</strong>r "Chaos im politischen Sinn" übersetzt. In <strong>de</strong>r Du<strong>de</strong>n-Redaktion aber sitzen<br />

gebil<strong>de</strong>te Leute, die auch Liebe nicht mit Sün<strong>de</strong> übersetzen. Es han<strong>de</strong>lt sich also nicht um irgendwelche<br />

unterschwelligen Ängste, son<strong>de</strong>rn darum, wie subtil* Sprache zur Meinungsmache benutzt wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Die Formel Anarchie = Gesetzlosigkeit ist ja nicht bloß sprachlich falsch und inhaltlich schief, sie soll<br />

beim Leser etwas bewirken. Die Vorstellung nämlich, daß bei einer Verwirklichung anarchistischer I<strong>de</strong>en<br />

die Gesellschaft zwangsweise ins Chaos stürzen müßte, und daß umgekehrt Herrschaft die einzig<br />

<strong>de</strong>nkbare Form <strong>de</strong>r Ordnung sei. Das aber ist Meinung, Spekulation*, vielleicht Manipulation* - mit einer<br />

korrekten Worterklärung hat es je<strong>de</strong>nfalls nichts zu tun.<br />

"Aber wollen <strong>de</strong>nn die Anarchisten nicht <strong>de</strong>n Staat abschaffen, sind sie nicht Gegner von Justiz, Polizei<br />

und Gesetzbuch, und ist es da nicht richtig, ihnen ›Gesetzlosigkeit‹ vorzuwerfen?" könnte man fragen.<br />

Ersteres stimmt, und <strong>de</strong>r Vorwurf wäre berechtigt, wenn <strong>de</strong>r Anarchismus an die Stelle dieser


Institutionen* keine an<strong>de</strong>ren Strukturen zu setzen wüßte. Die Ablehnung unseres heutigen Herrschafts-,<br />

Justiz- und Strafsystems heißt aber nicht, daß es keine Regeln, Vereinbarungen o<strong>de</strong>r ethische Grenzen im<br />

gesellschaftlichen Zusammenleben mehr gäbe. Es sind schließlich auch an<strong>de</strong>re Formen <strong>de</strong>nkbar. Daß die<br />

Inhaber <strong>de</strong>r Macht diese aus wohlverstan<strong>de</strong>nem Eigeninteresse bekämpfen, liegt auf <strong>de</strong>r Hand. Daß die<br />

Phantasie <strong>de</strong>r meisten Menschen nicht ausreicht, über das heute Bestehen<strong>de</strong> hinauszu<strong>de</strong>nken, ist<br />

wie<strong>de</strong>rum nicht Schuld <strong>de</strong>r Anarchisten. An<strong>de</strong>re Denker haben da mehr visionäres Vermögen bewiesen.<br />

Immanuel Kant <strong>de</strong>finiert Anarchie kurz und bündig als "Gesetz und Freiheit ohne Gewalt". Für ihn ist <strong>de</strong>r<br />

Begriff "Gesetz" eben nicht das Bürgerliche Gesetzbuch, son<strong>de</strong>rn die Gesamtheit sozialer Regeln.<br />

Ähnliches mußte Elisée Reclus im Sinn gehabt haben, als er postulierte*, "Anarchie ist die höchste Form<br />

<strong>de</strong>r Ordnung": Wenn Regeln unter Menschen freiwillig und ohne Gewaltanwendung eingehalten wer<strong>de</strong>n,<br />

so sei dies eine höhere Stufe gesellschaftlicher Entwicklung als die autoritäre, in <strong>de</strong>r soziales Verhalten<br />

durch <strong>de</strong>n Zwang <strong>de</strong>s Staates, die Drohungen <strong>de</strong>r Justiz und die Gewalt <strong>de</strong>r Polizei ständig erzwungen<br />

wer<strong>de</strong>n<br />

14<br />

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müßte. Pierre-Joseph Proudhon, einer <strong>de</strong>r Väter <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus, griff das Wort "Anarchie" in<br />

seiner ursprünglichen Be<strong>de</strong>utung wie<strong>de</strong>r auf und rührte es um 1840 mittels eines witzigen Dialogs mit<br />

einem Spießbürger in die Politik ein:<br />

"Sind Sie Republikaner?"<br />

"Republikaner, ja: aber dieses Wort ist mir zu ungenau. Res publica, das sind die öffentlichen Belange...<br />

die Könige sind auch Republikaner."<br />

"Nanu, Sie sind Demokrat?"<br />

"Nein."<br />

"Was, Sie wären Monarchist?"<br />

"Nein."<br />

"Konstitutionalist?"<br />

"Gott behüte!"<br />

"Dann sind Sie Aristokrat?"<br />

"Ganz und gar nicht."<br />

"Sie wollen eine gemischte Regierung?"<br />

"Viel weniger."<br />

"Was sind Sie also?"<br />

"Ich bin Anarchist".<br />

In <strong>de</strong>n Augen Proudhons waren Staat und Regierung die eigentlichen Unruhestifter, ständige Produzenten<br />

von Chaos, Ungerechtigkeit und Armut.<br />

Folgerichtig konnte nur eine von <strong>de</strong>r Regierungsgewalt befreite Gesellschaft in <strong>de</strong>r Lage sein, eine<br />

"natürliche Ordnung <strong>de</strong>r menschlichen Beziehungen", die "soziale Harmonie", wie<strong>de</strong>r herzustellen.<br />

Hierfür suchte er nach einem passen<strong>de</strong>n Begriff und verfiel auf <strong>de</strong>n alten griechischen Terminus an archia,<br />

<strong>de</strong>m er seinen genauen etymologischen* Sinn wie<strong>de</strong>rgab.<br />

Die Doppel<strong>de</strong>utigkeit <strong>de</strong>s Wortes Anarchie wur<strong>de</strong> dadurch jedoch nicht aus <strong>de</strong>r Welt geschafft. Bereits im<br />

alten Griechenland wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Begriff ambivalent* benutzt; seine negative Be<strong>de</strong>utung setzte sich vollends<br />

in <strong>de</strong>r Philosophensprache <strong>de</strong>s katholischen Mittelalters durch. Spätestens seit <strong>de</strong>r Aufklärung aber wird<br />

<strong>de</strong>r Begriff differenzierter* verwen<strong>de</strong>t. Wir wer<strong>de</strong>n diesen Wertewan<strong>de</strong>l gelegentlich wie<strong>de</strong>r aufgreifen.<br />

Allerdings ist es <strong>de</strong>r jeweils herrschen<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>ologie stets gelungen, <strong>de</strong>n Eingang solcher<br />

Unterscheidungen in die Umgangssprache zu verhin<strong>de</strong>rn. Heute ist <strong>de</strong>r Begriff Anarchie daher durchweg<br />

negativ besetzt. Entsprechend heftig war in Anarchistenkreisen die Diskussion um neue Namen, mit<br />

<strong>de</strong>nen man sich dieses Makels entledigen wollte. Einige nannten sich später "Fö<strong>de</strong>ralisten" (Anhänger<br />

eines nicht-zentralen Gemeinwesens auf <strong>de</strong>r Basis gleichberechtigter Kommunen), an<strong>de</strong>re "Mutualisten"<br />

(genossenschaftliche Ordnung auf <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>r gegenseitigen Hilfe und Solidarität), "Kollektivisten"


(Ordnung auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>r Gemeinschaftlichkeit) o<strong>de</strong>r "Syndikalisten" (libertäre Gesellschaft auf<br />

gewerkschaftlicher Basis). Alle diese Begriffe geben jedoch nur jeweils einen Teilaspekt anarchistischer<br />

Essentials* wie<strong>de</strong>r, und je<strong>de</strong>r von ihnen mußte im Laufe <strong>de</strong>r Zeit ähnliche Verdrehungen seiner<br />

Be<strong>de</strong>utung erfahren, wie das Wort Anarchie selbst. Auch das griechische Kunstwort Akratie, <strong>de</strong>ssen<br />

Be<strong>de</strong>utung<br />

15<br />

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mit <strong>de</strong>r von Anarchie fast i<strong>de</strong>ntisch ist, konnte sich nie auf Dauer durchsetzen. Die meisten Anarchisten<br />

sind schließlich zu <strong>de</strong>r Meinung gelangt, sie könnten sich nennen wie sie wollten, verleum<strong>de</strong>t wür<strong>de</strong>n sie<br />

immer – weshalb sie ebensogut bei <strong>de</strong>m problematischen Wort Anarchie bleiben und ihm einen positiven<br />

Inhalt geben könnten. Einzig <strong>de</strong>r um 1860 in Frankreich entstan<strong>de</strong>ne Ausdruck libertär (›freiheitlich‹ -<br />

nicht zu verwechseln mit liberal!) konnte sich weltweit durchsetzen und gilt heute als ein etwas weiter<br />

gefaßtes, im Grun<strong>de</strong> aber gleichwertiges Synonym* für anarchistisch.<br />

Kapitel 3<br />

Wer ist Anarchist?<br />

"Mir tut je<strong>de</strong>r leid,<br />

<strong>de</strong>r nicht mit zwanzig Anarchist war."<br />

- Clemenceau -<br />

MIT SICHERHEIT SIND MEHR MENSCHEN "ANARCHISTEN" als nur diejenigen, die sich so<br />

nennen. Viele wissen es nur nicht. Je<strong>de</strong>r kennt diese Art ›natürlicher Anarchisten‹: Menschen, die sich<br />

nicht gerne etwas vorschreiben lassen, die das, was man ihnen sagt, kritisch hinterfragen und die sich<br />

weigern, etwas bestimmtes zu glauben o<strong>de</strong>r zu tun, nur, weil es ihnen jemand, <strong>de</strong>r Macht hat, so sagt. Der<br />

Wi<strong>de</strong>rstand gegen Herrschaft zieht sich seit altersher als stetiger Strang durch die Geschichte von<br />

Individuen* und Gruppen: mal als listige Spaßvögel, mal als rebellieren<strong>de</strong> Aufrührer, mal als aufmüpfige<br />

Quer<strong>de</strong>nker. Ihre Taten und Figuren sind in Märchen, Lie<strong>de</strong>rn und Legen<strong>de</strong>n überliefen, und in aller Welt<br />

erfreuen sich diese Aktionen <strong>de</strong>r Kleinen gegen die Mächtigen <strong>de</strong>r ungeteilten Sympathie <strong>de</strong>s Publikums.<br />

Aktionen, <strong>de</strong>ren Zielscheibe die Autorität und <strong>de</strong>ren Wesen Freiheit und Gerechtigkeit sind.<br />

›Natürliche‹ und ›wirkliche‹ Anarchisten<br />

Das soll nicht heißen, daß <strong>de</strong>r Anarchismus etwa alle Quer<strong>de</strong>nker, kritischen Geister o<strong>de</strong>r Rebellen für<br />

sich vereinnahmen wollte. Das wäre eine für Anarchisten sehr untypische Einstellung, <strong>de</strong>nn es liegt ihnen<br />

fern, Menschen irgen<strong>de</strong>in Etikett aufzukleben. Sie sind an Inhalten interessiert, nicht an I<strong>de</strong>ologien.<br />

Historische Bewegungen in <strong>de</strong>n Sack ihrer Weltanschauung stecken zu wollen, wäre nicht nur unsinnig,<br />

es wür<strong>de</strong> auch <strong>de</strong>m anarchistischen Selbstverständnis wi<strong>de</strong>rsprechen.<br />

Dennoch muß man diese ›natürlichen Anarchisten‹ berücksichtigen, wenn man sich die Frage stellt, wer<br />

›Anarchist ist‹. Denn umgekehrt wäre es borniert*, nur diejenigen als Anarchisten zu bezeichnen, die sich<br />

offen und manchmal sehr lautstark so nennen und möglichst auffällig mit <strong>de</strong>r schwarzen Fahne we<strong>de</strong>ln.<br />

Es kostet schließlich nichts, sich ›Anarchist‹ zu nennen, und ob alle diejenigen, die dies tun, ihren eigenen<br />

I<strong>de</strong>alen gerecht wer<strong>de</strong>n, ist selbstverständlich eine offene Frage.<br />

16<br />

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Ähnliche Überlegungen gelten auch für frem<strong>de</strong> Kulturen o<strong>de</strong>r sogenannte ›primitive‹ Gesellschaften, von<br />

<strong>de</strong>nen einige ohne Regierung leben und in ihren Gemeinwesen die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re ›utopische‹ For<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>s klassischen Anarchismus seit jeher verwirklicht haben: Nieman<strong>de</strong>m wäre damit gedient, diesem<br />

sozialen Alltag <strong>de</strong>n Stempel ›anarchistisch‹ aufzudrücken. Soziologen und Völkerkundler ziehen hier <strong>de</strong>n<br />

Begriff "regulierte Anarchie" vor. Die Schlüsse aber, die wir aus solchen Gesellschaften ziehen können,<br />

sind für Anarchisten wichtig und oft fruchtbarer und lehrreicher als so mancher gelehrte Disput*.<br />

So interessant die Folgerungen sein mögen, die wir aus <strong>de</strong>r millionenfachen Existenz von Menschen<br />

ziehen dürfen, die ›Anarchisten‹ sind, ohne es zu ahnen, wollen wir uns hier <strong>de</strong>njenigen zuwen<strong>de</strong>n, die<br />

sich selber Anarchisten nennen und als Teil einer anarchistischen Bewegung verstehen. Interessanterweise<br />

waren viele dieser ›wirklichen‹ Anarchisten zuvor ›natürliche‹ Anarchisten, die irgendwann einmal ganz<br />

erstaunt ent<strong>de</strong>ckten, daß das, was sie schon immer dachten, einen Namen hat und tatsächlich als<br />

Philosophie und Bewegung bereits existierte.<br />

Wer also ist ›wirklicher‹ Anarchist?<br />

Zunächst einmal je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r sich so nennt, <strong>de</strong>nn niemand könnte es ihm ›verbieten‹. Nun sind Anarchisten<br />

aber für ihre Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten berüchtigt. Glücklicherweise gibt es jedoch eine Reihe von<br />

Übereinstimmungen, die auf die meisten Überzeugungsanarchisten zutreffen. Was also ist <strong>de</strong>r<br />

›gemeinsame Nenner‹?<br />

Checkliste <strong>de</strong>r Gemeinsamkeiten<br />

Im Zentrum anarchistischen Han<strong>de</strong>lns steht ein globaler* Freiheitsbegriff. Freiheit soll Ziel sein und<br />

gleichzeitig Mittel zur Erreichung dieses Ziels. Was aber ist ›Freiheit‹? Für Anarchisten ist dieses Wort<br />

mehr als ein liberaler Wischiwaschi-Begriff; sie haben daher stets versucht, ihn mit konkreten Inhalten,<br />

For<strong>de</strong>rungen und Mo<strong>de</strong>llen zu füllen. Dem Anarchismus genügen dabei keine Teilfreiheiten wie etwa <strong>de</strong>n<br />

Liberalen die Freiheit <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ls, <strong>de</strong>n Nationalisten die Freiheit <strong>de</strong>s Vaterlan<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Aufklärern die<br />

Freiheit <strong>de</strong>s Geistes. Freiheit sollte allumfassend und unteilbar sein, ein Prinzip*, das das menschliche<br />

Leben von <strong>de</strong>n persönlichsten und alltäglichsten Aspekten bis hin zu weltweiten Organisationsstrukturen<br />

bestimmt. Freiheit sei aber ein leeres Wort und wertlos, wenn es nicht mit sozialer Gerechtigkeit<br />

gekoppelt wäre. Und soziale Gerechtigkeit sei ohne soziale Gleichheit nicht <strong>de</strong>nkbar. Anarchisten sehen<br />

das so: Auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> sind theoretisch alle Menschen gleich frei, Millionär zu wer<strong>de</strong>n, aber wir alle wissen,<br />

daß diese ›Freiheit‹ ein inhaltsleerer Unsinn ist: Schließlich können wir nicht alle auf Kosten an<strong>de</strong>rer<br />

reich wer<strong>de</strong>n. An<strong>de</strong>rerseits ist es in unseren Gesellschaften einem Millionär ebenso verboten, unter einer<br />

Brücke zu schlafen wie einem Stadtstreicher - auch hier herrscht Gleichheit, aber es ist offensichtlich, daß<br />

diese An von ›Gleichheit‹ ohne soziale Gerechtigkeit wertlos ist.<br />

Darum ist Anarchismus, vereinfacht gesagt, die Verbindung von Freiheit und Sozialismus; für Freun<strong>de</strong><br />

griffiger Formeln könnten wir die Gleichung A = F + S aufstellen. Dabei<br />

17<br />

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wer<strong>de</strong>n wir noch sehen, daß <strong>de</strong>r Anarchismus unter "S" etwas völlig an<strong>de</strong>res <strong>de</strong>finiert als das, was man<br />

gängigerweise unter "Sozialismus" versteht und bisher nur aus <strong>de</strong>n kläglichen Mo<strong>de</strong>llen <strong>de</strong>s Marxismus<br />

o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie kennenlernen konnte.<br />

Michail Bakunin, die charismatische* Urgestalt <strong>de</strong>s Anarchismus, hat dieses Spannungsfeld zwischen<br />

sozialem und freiheitlichem Ansatz auf <strong>de</strong>n Punkt gebracht: "Freiheit ohne Sozialismus ist Privilegientum<br />

und Ungerechtigkeit - und Sozialismus ohne Freiheit ist Sklaverei und Brutalität". Wenn man be<strong>de</strong>nkt,<br />

daß er diesen Satz um 1870 nie<strong>de</strong>rschrieb, könnte man seine Sicht für gera<strong>de</strong>zu prophetisch* halten - wer<br />

konnte damals schon voraussehen, welche Wege <strong>de</strong>r ›unfreie Sozialismus‹ etwa in Rußland, Rumänien,<br />

Kambodscha o<strong>de</strong>r Ost<strong>de</strong>utschland gehen wür<strong>de</strong>!


Wir können sagen, daß die meisten aktiven Anarchisten in freiheitlich-sozialen Bewegungen engagiert<br />

sind; man nennt dies <strong>de</strong>n ›sozialen Anarchismus‹. Hierbei gibt es die verschie<strong>de</strong>nsten Ansätze, Taktiken*<br />

und Vorgehensweisen, die in <strong>de</strong>r Regel eine konstruktive Zielrichtung haben. Die meisten wollen die<br />

bestehen<strong>de</strong> Gesellschaft im freiheitlich-sozialen Sinne verän<strong>de</strong>rn, die unfreien Institutionen nach Kräften<br />

zersetzen und gleichzeitig neue Mo<strong>de</strong>lle ausprobieren und heranwachsen lassen, die an die Stelle <strong>de</strong>r alten<br />

Strukturen treten sollen.<br />

Lei<strong>de</strong>r aber lassen es unsere Gesellschaften nur selten zu, daß <strong>de</strong>r Anarchismus konstruktiv tätig ist. Oft<br />

genug muß er sich auf reine Verteidigung beschränken. In <strong>de</strong>r Tat sind heute die meisten Anarchisten<br />

vollauf damit beschäftigt, auf die zunehmen<strong>de</strong> Einengung von Freiheit und Lebensgrundlagen zu<br />

reagieren. Solche ›reaktiven Kämpfe‹ — seien sie nun gegen Rüstung, Atomkraftwerke,<br />

Umweltzerstörung, Wohnungsnot, Armut, Behör<strong>de</strong>nsumpf, Polizeiwillkür, Justizarroganz, Entlassungen,<br />

soziale und geschlechtliche Diskriminierung*, tarifpolitische Erpressung o<strong>de</strong>r rechtsradikale Angriffe<br />

gerichtet — kennen wir alle aus Gegenwart und jüngster Vergangenheit. Gewiß sind sie notwendig und<br />

politisch wichtig, aber sie machen ›<strong>de</strong>n Anarchisten nicht aus: Nur allzuoft nämlich geht <strong>de</strong>n pausenlos<br />

Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n das Ziel verloren. Die Aktionen lösen sich meist, wenn <strong>de</strong>r Anlaß nicht mehr existiert, in<br />

Nichts auf. Sie bieten wenig Raum für konstruktive Ansätze, die auf eine neue Gesellschaft abzielen.<br />

Häufig benutzt sie das klug herrschen<strong>de</strong> System auch als ein Mittel, um die Kräfte ihrer Gegner in<br />

jahrelangen, aufreiben<strong>de</strong>n Kämpfen zu bin<strong>de</strong>n.<br />

Kein aufrechter Anarchist wür<strong>de</strong> sich solchen Kämpfen entziehen wollen und teilnahmslos<br />

Unterdrückung und Unrecht zusehen. Es kommt <strong>de</strong>m Anarchismus aber entschei<strong>de</strong>nd darauf an, die<br />

Verbindung zwischen bloßer Reaktion und <strong>de</strong>m konstruktiven libertären Element herzustellen. Mit<br />

an<strong>de</strong>ren Worten: Aus <strong>de</strong>m Kampf gegen Atomkraftwerke müßte ein Kampf für Ökologie wer<strong>de</strong>n und aus<br />

<strong>de</strong>m Kampf gegen Rüstung ein Kampf für eine friedliche Gesellschaft, aus gewerkschaftlicher Aktion<br />

müßten neue Wirtschafts- und Arbeitsmo<strong>de</strong>lle entstehen und so weiter. Denn all das ergäbe für<br />

Anarchisten nur dann wirklich einen Sinn, wenn sich schließlich alle diese Teilbereiche zum<br />

Gesamtkonzept einer an<strong>de</strong>ren Gesellschaft verbin<strong>de</strong>n. Kurz: <strong>de</strong>r Kampf gegen die alten Verhältnisse darf<br />

nicht zum Ritual* wer<strong>de</strong>n — er muß Ansätze für Neues hervorbringen: Wi<strong>de</strong>rstand gebiert Mo<strong>de</strong>lle.<br />

18<br />

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Das ist leichter gesagt als getan. Die Inhaber <strong>de</strong>r Macht tun natürlich alles – bis hin zum Einsatz direkter<br />

Gewalt –, um eine freiheitliche Konkurrenz nie<strong>de</strong>rzudrücken, die ihnen diese Macht nehmen will.<br />

Deshalb hat es auch zu allen Zeiten Anarchisten gegeben, die das konstruktive Element <strong>de</strong>s Anarchismus<br />

irgendwann völlig aus <strong>de</strong>n Augen verloren. Voller Haß und Verzweiflung gingen sie dazu über, das<br />

System, wo immer sie konnten, direkt und frontal – also ›militärisch‹ – anzugreifen. Terror, bis dahin ein<br />

Monopol <strong>de</strong>s Staates und <strong>de</strong>r Kirche, wur<strong>de</strong> zeitweise das vorherrschen<strong>de</strong> Mittel einiger anarchistischer<br />

Strömungen. Der Höhepunkt dieser Gewaltphase <strong>de</strong>s Anarchismus lag zwischen 1891 und 1894; heute<br />

spielt Terror in <strong>de</strong>r libertären Bewegung keine Rolle mehr. Tatsächlich gibt es im mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus<br />

weit mehr Pazifisten als Befürworter irgendwelcher Formen von Gewalt. Dennoch hat jene kurze,<br />

historische Phase von Attentaten, Überfällen und Tyrannenmor<strong>de</strong>n bis heute das Bild vom Anarchisten<br />

nachhaltig beeinflußt: Ebensooft, wie Anarchismus mit ›Chaos‹ und ›Gesetzlosigkeit‹ gleichgesetzt wird,<br />

bringt man ihn auch mit ›Gewalt‹ und ›Terror‹ in Verbindung. Das ist allerdings Unfug, <strong>de</strong>nn die Frage<br />

<strong>de</strong>r Gewalt ist für <strong>de</strong>n Anarchismus we<strong>de</strong>r typisch noch prägend.<br />

Wie wir gesehen haben, ist das Aktionsfeld <strong>de</strong>s sozialen Anarchismus breit gefächert und entfaltet sich<br />

zwischen <strong>de</strong>n Polen Wi<strong>de</strong>rstand, Aktion, Konstruktivität, Aufklärung und experimentellen Mo<strong>de</strong>llen. Die<br />

allermeisten Anarchisten sind auf diesem breiten sozialen Terrain* irgendwo in irgen<strong>de</strong>iner Weise<br />

engagiert.<br />

Es gibt in<strong>de</strong>s auch Anarchisten, die <strong>de</strong>n Anarchismus mehr als private Lebensphilosophie verstehen und -<br />

aus welchen Grün<strong>de</strong>n auch immer - keinen Sinn darin sehen, unsere Welt tatsächlich verän<strong>de</strong>rn zu wollen.<br />

Diese ›philosophischen Anarchisten‹ pflegen entwe<strong>de</strong>r einen entsprechen<strong>de</strong>n Lebensstil - zum Beispiel


<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Bohemiens* o<strong>de</strong>r Nonkonformisten -, schreiben bisweilen kluge Bücher o<strong>de</strong>r sind <strong>de</strong>rart<br />

individualistisch, daß ihr ›Anarchismus‹ überhaupt keine praktischen Konsequenzen hat. Bis etwa 1840<br />

war <strong>de</strong>r ›philosophische Anarchismus‹ die am meisten verbreitete Strömung und brachte eine eher<br />

folgenlose Literatur hervor, in <strong>de</strong>r Überlegungen über die Anarchie und <strong>de</strong>n Gang <strong>de</strong>r Welt angestellt<br />

wur<strong>de</strong>n. Die meisten ›philosophischen Anarchisten‹ unserer Tage sind in keinerlei Bewegungen<br />

organisiert und wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>shalb auch nicht zum ›sozialen Anarchismus‹ gerechnet. Die sozial aktiven<br />

Anarchisten neigen dazu, ihre rein philosophischen Gesinnungsgenossen zu verachten. Das ist<br />

verständlich, wenn auch unklug, <strong>de</strong>nn immerhin trägt auch eine an-archische Attitü<strong>de</strong>* zur Schaffung<br />

eines gesellschaftlichen Klimas bei, das <strong>de</strong>m sozialen Anarchismus nur dienlich sein kann.<br />

Persönliche Konsequenzen<br />

Bisher haben wir uns nur mit <strong>de</strong>r ›Außenwirkung‹ <strong>de</strong>s anarchistischen Menschen befaßt. Wie aber steht es<br />

mit <strong>de</strong>n persönlichen Konsequenzen im eigenen Leben? Auch hier ist <strong>de</strong>r Anspruch in <strong>de</strong>r Regel groß:<br />

Anarchisten streben an, ihre I<strong>de</strong>ale nicht nur für eine ferne Zukunft zu konzipieren*. Sie möchten nach<br />

Möglichkeit schon hier und heute damit<br />

19<br />

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beginnen, sie zu verwirklichen und vorzuleben - und sei es auch nur in kleinen Ansätzen und so<br />

unzulänglich, wie dies inmitten einer autoritären Umgebung auch immer sein mag. Das be<strong>de</strong>utet<br />

natürlich, daß sie die Meßlatte anarchistischer Ansprüche auch an sich selbst legen müssen, was<br />

wie<strong>de</strong>rum zu Konsequenzen führt, die nicht immer leicht einzuhalten sind - beson<strong>de</strong>rs innerhalb einer<br />

Gesellschaft, die in fast allen Punkten das Gegenteil predigt und belohnt. Anarchistische Toleranz,<br />

Verzicht auf Herrschaft, an<strong>de</strong>re Umgangsformen zwischen Frauen und Männern, Kin<strong>de</strong>rn und<br />

Erwachsenen, Mehrheiten und Min<strong>de</strong>rheiten, eine souveräne* Einstellung zu Eigentum, Sexualität und<br />

Arbeit - all das und vieles mehr sind Dinge, an <strong>de</strong>nen eine anarchistische Ethik mit privaten<br />

Konsequenzen entwickelt und eingeübt wer<strong>de</strong>n will. Nach Tausen<strong>de</strong>n von Jahren staatlich-autoritärer<br />

Ethik ist dies kein leichtes Unterfangen, und etliche scheitern an ihren eigenen Ansprüchen. An<strong>de</strong>rerseits<br />

ist <strong>de</strong>r Anarchismus kein Mo<strong>de</strong>ll für Heilige, son<strong>de</strong>rn für Menschen. Das schließt das Recht mit ein,<br />

unvollkommen zu sein und Fehler machen zu dürfen. Vor allem aber - und das entpuppt sich oft als das<br />

Schwierigste - gibt es darüber, was ›richtig‹ und ›falsch‹ ist naturgemäß viele Meinungen. Der<br />

Anarchismus wür<strong>de</strong> sich in <strong>de</strong>m Moment selbst verraten, wo er diese Unterschie<strong>de</strong> zwangsweise<br />

weghobeln wollte. Die Tatsache aber, daß die meisten Anarchisten ihre Ansprüche zum Prüfstein ihres<br />

eigenen Lebens machen, zeigt, daß sie keine Doktrin* <strong>de</strong>r Zwangsbeglückung vertreten, in <strong>de</strong>r die<br />

Menschen irgendwelchen I<strong>de</strong>alen einer Avantgar<strong>de</strong> gehorchen sollen, die diese selbst nicht einzuhalten<br />

gewillt ist.<br />

Der Anarchismus ist ein großes Dach, ein Basar <strong>de</strong>r Vielfalt, ein Feld <strong>de</strong>s Experiments. Im Grun<strong>de</strong> kann<br />

sich je<strong>de</strong>r unter dieses Dach stellen und sagen "Ich<br />

bin Anarchist!". Darüber, ob das stimmt und was <strong>de</strong>r einzelne unter "Anarchismus" versteht, gibt es keine<br />

endgültige Antwort. Anarchismus ist Suche und Experiment unter <strong>de</strong>m Vorzeichen <strong>de</strong>r Vielfalt. Im<br />

Grun<strong>de</strong> ist je<strong>de</strong>r Anarchist, <strong>de</strong>r ernsthaft sucht.<br />

Literatur:<br />

/ Christian Sigrist: Regulierte Anarchie Frankfurt/M. 1979, Syndikat, 270 S.<br />

/ Harold Barclay: Völker ohne Regierung - eine Anthropologie <strong>de</strong>r Anarchie Berlin 1985, Libertad, 315<br />

S., ill.<br />

Kapitel 4<br />

Was wollen die Anarchisten?


Keine Macht für niemand!<br />

Ton-Steine-Scherben<br />

ES GIBT VIELE GUTE GRÜNDE, weshalb Anarchisten es immer vermie<strong>de</strong>n haben, verbindliche<br />

Programme für eine künftige Gesellschaft aufzustellen; <strong>de</strong>r Mangel an I<strong>de</strong>en gehört mit Sicherheit nicht<br />

dazu. Eher das Gegenteil: die Überzeugung, daß eine an-archische Gesellschaft sich aus vielen<br />

unterschiedlichen Gesellschaften, Formen und sozialen Organismen zusammensetzen wird, hat sie seit<br />

jeher davon abgehalten, schon jetzt die Utopie von morgen in das Korsett programmatischer Vorschriften<br />

zu zwängen.<br />

20<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Kein starres Programm<br />

Eine Gesellschaft nach <strong>de</strong>m Geschmack <strong>de</strong>r Anarchisten ist kein starres Gebil<strong>de</strong>, Anarchie wird nicht<br />

eines schönen Tages ›erreicht‹ sein. Niemand an<strong>de</strong>res als die an ihm beteiligten Menschen wer<strong>de</strong>n<br />

festlegen, wie sie leben und sich organisieren wollen, und <strong>de</strong>ren Vorstellungen wer<strong>de</strong>n vermutlich<br />

unterschiedlich sein. Deshalb müssen wir uns ›die Anarchie‹ als ein Gebil<strong>de</strong> vorstellen, das in einem<br />

bestimmten geografischen Raum nicht etwa nur eine Lebensform, eine Ethik, eine Art sozialer<br />

Organisation kennt, son<strong>de</strong>rn zur gleichen Zeit viele verschie<strong>de</strong>ne nebeneinan<strong>de</strong>r, die sich je nach<br />

Interessen, Neigung, Notwendigkeiten und Bedürfnissen frei verbin<strong>de</strong>n.<br />

Zugegebenermaßen eine schwierige Vorstellung für uns, die wir gewohnt sind, daß <strong>de</strong>r Staat auf seinem<br />

exakt <strong>de</strong>finierten Territorium eifersüchtig darüber wacht, daß alle seine Bürger einer Norm - <strong>de</strong>r<br />

staatlichen - gleichermaßen unterworfen sind. Wir kennen nichts an<strong>de</strong>res; entsprechend exotisch kommt<br />

uns die anarchistische Gesellschafts- und Organisationstheorie vor. Ihre Struktur wird oft als ein<br />

Netzwerk beschrieben, und aus <strong>de</strong>r Biologie wird das Bild <strong>de</strong>s Mycels bemüht - jener chaotischen<br />

Pilzgeflechte, die extrem vital und überlebensfähig sind. All das mag an dieser Stelle eher verwirrend als<br />

erklärend wirken - wir wer<strong>de</strong>n darauf noch eingehen.<br />

Im Augenblick soll uns genügen, daß auch bei <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>r anarchistischen Zielvorstellung <strong>de</strong>r<br />

Wunsch nach Vielfalt eine ein<strong>de</strong>utige o<strong>de</strong>r gar eine dogmatische Antwort verhin<strong>de</strong>rt.<br />

Ein weiterer Grund gegen eine anarchistische Programmatik sei noch genannt, auf <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>rs Bakunin<br />

hingewiesen hat. Für ihn kann eine völlig neue Gesellschaft nur aus <strong>de</strong>r völligen Überwindung <strong>de</strong>r alten<br />

Gesellschaft entstehen. Heutige Menschen, autoritär geprägt und staatlich geformt, seien kaum in <strong>de</strong>r<br />

Lage, wirklich neue I<strong>de</strong>en hervorzubringen; in all ihren Entwürfen schlummere <strong>de</strong>r Keim <strong>de</strong>s Alten, <strong>de</strong>r<br />

früher o<strong>de</strong>r später wie<strong>de</strong>r hervorbrechen müßte. Eine neue Gesellschaft, so Bakunin, könne nur aus<br />

Amorphismus entstehen, das heißt, aus <strong>de</strong>r Zerstörung <strong>de</strong>r alten. Der Vorwurf, Bakunin wolle erst alles<br />

›kaputtschlagen‹, um etwas Neues aufbauen zu können, tut ihm sicherlich unrecht. Mit <strong>de</strong>m Begriff<br />

›Zerstörung‹ verband er nicht, Städte o<strong>de</strong>r Fabriken in die Luft zu sprengen – ihm ging es um die<br />

Zerschlagung von Institutionen und Herrschaftsmechanismen. An<strong>de</strong>rerseits bleibt <strong>de</strong>r radikale Denker<br />

eine plausible Antwort darauf schuldig, wie er die Lücke zwischen Amorphie und neuer Gesellschaft zu<br />

schließen ge<strong>de</strong>nkt - wann und wo also neue ›Tugen<strong>de</strong>n‹ und Einrichtungen entstehen sollen. Spontaneität<br />

und Phantasie allein dürften dazu kaum ausreichen. Spätere anarchistische Denker haben diese Frage<br />

schlüssiger beantwortet; hier soll im Moment nur interessieren, daß <strong>de</strong>r von Bakunin eingebrachte<br />

Vorbehalt nichteinfach abgetan wer<strong>de</strong>n kann: daß nämlich Konzepte und Programme, die <strong>de</strong>r unfreien<br />

Atmosphäre einer autoritären Gesellschaft entstammen mit Sicherheit nicht so frei, kühn, souverän und<br />

visionär* sein können wie die I<strong>de</strong>en, die Menschen womöglich in einer befreiten Gesellschaft entwickeln<br />

könnten. Daher braucht <strong>de</strong>r Anarchismus weniger Programme und Regeln einer künftigen Gesellschaft,<br />

als vielmehr ein allgemeines Mo<strong>de</strong>ll wan<strong>de</strong>lbarer Strukturen.<br />

21


--------------------------------------------------------------------------------<br />

I<strong>de</strong>en und Positionen<br />

"Ja, zum Kuckuck, wollen die Anarchisten <strong>de</strong>nn überhaupt irgen<strong>de</strong>twas Konkretes, o<strong>de</strong>r verstecken sie<br />

sich nur hinter Ausflüchten, warum sie dieses o<strong>de</strong>r jenes nicht wollen - -?"<br />

Doch, es gibt konkrete Vorstellungen; die Anarchisten haben nur kein starres Programm daraus gemacht.<br />

Das Ziel <strong>de</strong>s Anarchismus ist die Abschaffung <strong>de</strong>r Herrschaft von Menschen über Menschen; im Zentrum<br />

seiner politischen Aktivität steht ein sozial geprägter Freiheitsgedanke. Hieraus leitet er die<br />

Notwendigkeit ab, <strong>de</strong>n Staat abzuschaffen. Der Staat sei schließlich kein Phantom, son<strong>de</strong>rn ein Ausdruck<br />

ganz bestimmter – vor allem wirtschaftlich bedingter – Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Es geht also<br />

nicht um die Feindschaft zu dieser Regierung o<strong>de</strong>r jenem Tyrannen, son<strong>de</strong>rn darum, <strong>de</strong>n Staat an sich zu<br />

bekämpfen und zugleich Alternativen zur Staatlichkeit zu entwickeln.<br />

Aus diesem allgemeinen Ziel ergibt sich eine Reihe praktischer For<strong>de</strong>rungen, I<strong>de</strong>en und Ziele, die sich die<br />

anarchistische Bewegung im Laufe ihrer Geschichte zu eigen gemacht hat:<br />

Gleiche Freiheit für alle Menschen einer Gesellschaft. Niemand soll herrschen, das Leben soll<br />

gemeinschaftlich von <strong>de</strong>n betroffenen Menschen selbst organisiert wer<strong>de</strong>n. Daraus ergeben sich soziale<br />

Systeme, in <strong>de</strong>nen soviel Kollektivität* wie nötig und soviel Individualität* wie möglich nebeneinan<strong>de</strong>r<br />

bestehen. Den Grad von ›nötig‹ und ›möglich‹ entschei<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r einzelne Mensch nach seinen Bedürfnissen,<br />

insofern er sich ›seine‹ Gesellschaft aussuchen o<strong>de</strong>r schaffen kann. Keine Gleichmacherei, aber gleiche<br />

Chancen und Rechte.<br />

Diese For<strong>de</strong>rung scheitert in erster Linie an wirtschaftlicher Ungerechtigkeit. Deshalb treten die<br />

Anarchisten für die Abschaffung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise ein, die sie als<br />

menschenverachtend, umweltzerstörend und in ihrem Wachstumszwang als irrational* ansehen. An ihre<br />

Stelle wollen sie nicht etwa die sozialistische Planwirtschaft setzen, son<strong>de</strong>rn eine <strong>de</strong>zentrale und<br />

fö<strong>de</strong>rierte solidarische Bedarfswirtschaft, in <strong>de</strong>r die Ökologie über <strong>de</strong>r Ökonomie* und die Bedürfnisse<br />

<strong>de</strong>r Menschen über <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>s Profits stehen.<br />

Eng mit <strong>de</strong>r sozialen Gleichheit verknüpft ist die For<strong>de</strong>rung nach Überwindung von Klassen, Schichten<br />

und Machthierarchien. Menschen sind nach anarchistischer Auffassung durchaus unterschiedlich und<br />

sollen es auch bleiben, aber keine soziale Schicht soll kraft ihrer Geburt o<strong>de</strong>r aus wirtschaftlichen,<br />

religiösen, rassischen o<strong>de</strong>r geschlechtlichen Grün<strong>de</strong>n Privilegien* genießen. Hieraus ergibt sich ein<br />

ganzer Katalog einzelner For<strong>de</strong>rungen, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r ›direkten Demokratie‹ über die Kritik an Religion,<br />

Patriarchat* und Familie bis hin zum Besitz- und Erbrecht reicht.<br />

Mit <strong>de</strong>r Überwindung <strong>de</strong>s Staates wer<strong>de</strong>n auch sein Apparat und seine Institutionen in Frage gestellt:<br />

Regierung, Bürokratie, Armee, Grenzen, Justiz, Polizei, Medienhoheit, Erziehungsmonopol* und<br />

<strong>de</strong>rgleichen. Für diejenigen Funktionen <strong>de</strong>s Staates, die ihrem Wesen nach notwendig sind, bemüht sich<br />

<strong>de</strong>r Anarchismus um die Schaffung alternativer Mo<strong>de</strong>lle. Ihre Basis sind gemeinsame Bedürfnisse, ihre<br />

Elemente* Selbstorganisation, freie Vereinbarung, <strong>de</strong>zentrale Vernetzung und autonome Fö<strong>de</strong>ration. Aus<br />

<strong>de</strong>n als überflüssig<br />

22<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

verstan<strong>de</strong>nen Staatsfunktionen erwachsen typisch anarchistische Aktionsfel<strong>de</strong>r wie beispielsweise <strong>de</strong>r<br />

Antimilitarismus, die freie Erziehung o<strong>de</strong>r die bürokratiefeindliche Selbstverwaltung.


Direkt nach <strong>de</strong>m Staat rangiert die Kirche als klassische freiheitshemmen<strong>de</strong> Institution. Die meisten<br />

Anarchisten sind Atheisten und lehnen Religion ab. Sie unterwerfen sich nicht gerne höheren Wesen o<strong>de</strong>r<br />

Mächten; die Kirche betrachten sie als eine gigantische* Einrichtung <strong>de</strong>r Verdummung. Dabei wollen<br />

Anarchisten nieman<strong>de</strong>m das Recht auf Glauben absprechen, solange dieser an<strong>de</strong>ren Menschen nicht die<br />

Freiheit einschränkt. Tatsächlich gibt es zwischen <strong>de</strong>r Ethik einiger Religionen und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Anarchismus<br />

zahlreiche Übereinstimmungen. Der Anarchismus ist <strong>de</strong>shalb eher antiklerikal* als antireligiös.<br />

In freien Gesellschaften darf es kein Eigentum an Menschen mehr geben. Anarchisten wen<strong>de</strong>n sich<br />

<strong>de</strong>shalb gegen die alltäglichen Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnisse - speziell die von Frauen<br />

und Kin<strong>de</strong>rn. Die meisten Libertären lehnen daher auch die Institution <strong>de</strong>r Ehe und <strong>de</strong>r ›bürgerlichen<br />

Kleinfamilie‹ ab. In ihr sehen sie eine wichtige Stütze <strong>de</strong>s Staates. Sie ziehen freiwillige<br />

Zusammenschlüsse nach <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>r Wahlverwandtschaft vor, etwa in Großfamilien,<br />

Wohngemeinschaften o<strong>de</strong>r Kommunen, <strong>de</strong>ren Zusammensetzung wechseln kann. Das be<strong>de</strong>utet übrigens<br />

nicht, daß alle Menschen so leben mußten, o<strong>de</strong>r daß sich zwei Menschen nicht etwa lebenslang lieben und<br />

›treu‹ sein dürften - vorausgesetzt, sie tun dies freiwillig und ohne <strong>de</strong>n erpresserischen Zwang <strong>de</strong>s<br />

Eherechts. Vielmehr geht es darum, auch an<strong>de</strong>re Formen zuzulassen, und die in normalen Familien<br />

übliche Hierarchie zu überwin<strong>de</strong>n: Frauen und Kin<strong>de</strong>r sollen als gleichberechtigte Menschen akzeptiert<br />

sein, und die religiös gefärbte Sexualmoral soll einer lustvollen Gleichberechtigung weichen. Das<br />

Patriarchat als die bei uns gängige Form <strong>de</strong>r Herrschaft steht damit automatisch im Zielkreuz<br />

anarchistischer Kritik.<br />

Eine noch so schöne Utopie kann nicht in einer sterben<strong>de</strong>n Welt ge<strong>de</strong>ihen. Der Mensch kann nur im<br />

Einklang mit seiner Umwelt überleben. Anarchisten gehen davon aus, daß die dringend nötigen<br />

ökologischen Verän<strong>de</strong>rungen so radikal sein müssen, daß sie im Rahmen einer kapitalistischen<br />

Wachstumswirtschaft kaum möglich sind. Sie meinen,, daß eine <strong>de</strong>zentrale Organisation kleiner Einheiten<br />

mit einer ›Bedürfniswirtschaft nach menschlichem Maß‹ die einzig wirklich ökologische<br />

Gesellschaftsstruktur ist und <strong>de</strong>shalb das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Zukunft sein wird.<br />

Kein Paradies<br />

Anarchisten räumen ein, daß es auch in einer libertären Gesellschaft Ungerechtigkeit, Kriminalität und<br />

Aggression geben wird. Anarchistische Mo<strong>de</strong>lle versprechen kein Paradies, son<strong>de</strong>rn versuchen,<br />

Strukturen zu entwickeln, in <strong>de</strong>nen sich soziales Fehlverhalten soweit reduziert, daß man mit <strong>de</strong>m<br />

verbleiben<strong>de</strong>n Rest an<strong>de</strong>rs verfahren kann. Kriminelle etwa sollten nicht als Delinquenten* angesehen<br />

und bestraft wer<strong>de</strong>n, ihnen müsse Hilfe erwachsen. Psychisch kranke Menschen dürften nicht isoliert,<br />

son<strong>de</strong>rn sollten in die Gesellschaft aufgenommen wer<strong>de</strong>n. Gefängnisse, psychiatrische Anstalten,<br />

Erziehungsheime und<br />

23<br />

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Strafen seien Bankrotterklärungen eines hierarchischen Systems vor Problemen, die es überwiegend selbst<br />

hervorbringe.<br />

Für einen Anarchisten ist Freiheit ein unteilbares Gut. In unseren Gesellschaften sind wenige Menschen<br />

›frei‹ auf Kosten <strong>de</strong>r Unfreiheit vieler - das gilt ökonomisch, politisch und psychisch. Mit Leichtigkeit<br />

gelingt es <strong>de</strong>n Massenmedien, die ›Freiheit‹, die sich reiche Menschen dadurch erkaufen können, daß sie<br />

ärmere Menschen ausbeuten, als das I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s ›freien Westens‹ zu verkaufen. Diese Ungerechtigkeit<br />

existiert nicht nur in <strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>rn, in <strong>de</strong>nen wir leben, son<strong>de</strong>rn in großem Maßstab auch weltweit<br />

zwischen armen und reichen Nationen, in <strong>de</strong>m Verhältnis zwischen "Erster", "Zweiter" und "Dritter<br />

Welt". Anarchisten treten <strong>de</strong>shalb für weltweite Mo<strong>de</strong>lle <strong>de</strong>r Vernetzung ein, die die wirtschaftliche und<br />

kulturelle Verskla<strong>vu</strong>ng überwin<strong>de</strong>n und allen Menschen ein Leben in Wür<strong>de</strong> und ohne Mangel bieten<br />

können. Dann wür<strong>de</strong>n Massenfluchten aus Armut vom Sü<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Nor<strong>de</strong>n, vom Osten in <strong>de</strong>n Westen<br />

von selbst aufhören; eine Gesellschaft ohne Grenzen müßte nicht länger eine Utopie bleiben. Das ist einer<br />

<strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>, weshalb sich <strong>de</strong>r Anarchismus gegen Imperialismus*, Rassismus* und Kolonialismus* in all


seinen alten und neuen Formen wen<strong>de</strong>t.<br />

Die Liste solcher anarchistischen Essentials* könnte man noch lange fortsetzen und sich dabei in Details<br />

verlieren. Sie alle sind in<strong>de</strong>s nichts an<strong>de</strong>res, als die praktische Nutzanwendung <strong>de</strong>s umfassen<strong>de</strong>n<br />

anarchistischen Freiheitsprinzips auf die soziale Realität, die uns umgibt. Auf diese Weise ist nun doch so<br />

etwas wie ein programmatischer Katalog libertärer For<strong>de</strong>rungen entstan<strong>de</strong>n. Aber auch für diesen<br />

›Katalog‹ gilt: Anarchie ist ständig <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung unterworfen. Sobald sie erstarrt und Dogmen gebiert,<br />

ist sie nicht mehr Anarchie. Phrasenhafter Antiimperialismus, gebetsmühlenhafter Klassenkampf o<strong>de</strong>r<br />

blin<strong>de</strong>r Geschlechterkrieg wer<strong>de</strong>n nicht etwa dadurch gescheiter, daß sie sich mit anarchistischer<br />

Globalität garnieren. Lei<strong>de</strong>r sind auch Anarchisten nicht immer so undogmatisch wie sie behaupten und<br />

keineswegs gegen doktrinäres Schwarzweiß<strong>de</strong>nken immun.<br />

Für einen Anarchisten kann sich alles än<strong>de</strong>rn: die Wahrnehmung, die Erfahrungen, die Prioritäten*, die<br />

persönlichen Einsichten und die eigene Kraft - nur nicht das Ziel. Das Ziel ist eine wahrhaft freie<br />

Gesellschaft. Alles weitere sind Mittel, dieses Ziel zu erreichen, und die richten sich nach <strong>de</strong>n<br />

Bedürfnissen <strong>de</strong>r beteiligten Menschen.<br />

Literatur:<br />

/ Errico Malatesta: Ein anarchistisches Programm Karlsruhe o.J., ABF, 15 S.<br />

/ Alexan<strong>de</strong>r Berkman: ABC <strong>de</strong>s Anarchismus Meppen 1971, AVN, 23 S.<br />

/ Nestor Machno: Das ABC <strong>de</strong>s revolutionären Anarchisten Osnabrück o.J., Packpapier, 40 S.<br />

/ Herbert Read: Philosophie <strong>de</strong>s Anarchismus Berlin 1982, AHDE, 34 S.<br />

/ Paul Goodman: Anarchistisches Manifest Westbevern 1977, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 64 S.<br />

/ Gruppi Anarchie Fe<strong>de</strong>rati: Ein anarchistisches Programm Berlin 1984, Libertad, 55 S.<br />

24<br />

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Kapitel 5<br />

Was tun die Anarchisten?<br />

Anarchisten bekämpfen keine Menschen, son<strong>de</strong>rn Institutionen.<br />

Buenaventura Durruti<br />

IHREN KAMPF GEGEN staatliche Strukturen und für eine freie Gesellschaft führen Anarchisten mit <strong>de</strong>n<br />

unterschiedlichsten Mitteln: durch Aufklärung und Medien, <strong>de</strong>n Aufbau von Gegenkultur und<br />

Selbstverwaltungsmo<strong>de</strong>llen ebenso wie durch Provokation, direkte Aktion, Streiks und Demonstrationen.<br />

All das ebensogut als Einzelkämpfer wie in losen Gruppen, Gewerkschaften o<strong>de</strong>r spezifischen<br />

Organisationen. In ihrer Geschichte versuchten sie alle Arten von Protest und Wi<strong>de</strong>rstand bis hin zur<br />

Schaffung befreiter Gebiete, in <strong>de</strong>nen soziale Experimente ge<strong>de</strong>ihen konnten. Eine Eroberung <strong>de</strong>r Macht<br />

im Staate jedoch, schrittweise politische Reformen im Rahmen <strong>de</strong>s Systems, die Beteiligung an Wahlen,<br />

politischen Parteien und Regierungen lehnen sie in <strong>de</strong>r Regel ab. Sehr früh haben sie die Erfahrung<br />

gemacht, daß staatliche Systeme eine große Integrationskraft* besitzen, und Macht korrumpiert*.<br />

Natürlich bewegen auch Anarchisten sich meist in kleinen Schritten auf ihr großes Ziel zu. Sie machen<br />

sich dabei aber nicht zum Teil <strong>de</strong>s Staates und seines Systems; ihre Mo<strong>de</strong>lle sind vielmehr so angelegt,<br />

daß sie ten<strong>de</strong>nziell gegen staatliche Institutionen gerichtet sind und Herrschaftsstrukturen zersetzen, um<br />

so in ihrem Schöße die Keime einer neuen, herrschaftsfreien Gesellschaft entstehen zu lassen.<br />

Destruktiver und konstruktiver Anarchismus<br />

Im Grun<strong>de</strong> gibt es zwei verschie<strong>de</strong>ne Vorgehensweisen <strong>de</strong>r Anarchisten. Die eine sieht in erster Linie <strong>de</strong>n


Gegner und versucht, ihn anzugreifen und seine Macht zu zerstören. Hier reduziert sich Anarchismus<br />

zumeist auf bloße Staatsfeindlichkeit; die Frage nach <strong>de</strong>m Aufbau einer an<strong>de</strong>ren Gesellschaft ist<br />

zweitrangig. Gedacht wird überwiegend in militärischem Kategorien*: Verteidigung, Angriff,<br />

Vernichtung <strong>de</strong>s Gegners. Solches Verhalten erschöpft sich fast immer in einer Geste <strong>de</strong>r<br />

Herausfor<strong>de</strong>rung.<br />

Die an<strong>de</strong>re sieht das Ziel als vorrangig an. Für sie ist <strong>de</strong>r Staat ein Hin<strong>de</strong>rnis auf <strong>de</strong>m Weg zu diesem Ziel,<br />

aber nicht <strong>de</strong>r indirekte Daseinszweck <strong>de</strong>s Anarchismus. Sowenig sie darum herumkommt, gegen dieses<br />

Hin<strong>de</strong>rnis zu opponieren und es zu bekämpfen, sosehr steht für sie doch die Frage nach konkreten und<br />

gangbaren Mo<strong>de</strong>llen im Vor<strong>de</strong>rgrund – Wege, die zu einer an-archischen Gesellschaft führen können.<br />

Etwas überspitzt könnten wir die eine Richtung <strong>de</strong>n <strong>de</strong>struktiven Anarchismus nennen, die an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>n<br />

konstruktiven. Die eine geht <strong>de</strong>n Gegner direkt und frontal an, die an<strong>de</strong>re versucht, ihn zu zermürben und<br />

überflüssig zu machen. Kampf o<strong>de</strong>r List, offene Feldschlacht o<strong>de</strong>r Katalysator* – das sind die extremen<br />

Pole anarchistischer Aktivitäten.<br />

Natürlich ist das grob vereinfacht, aber bei<strong>de</strong> Formen lassen sich nachweisen: Zwischen<br />

25<br />

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<strong>de</strong>m bombenwerfen<strong>de</strong>n Schlapphut-Anarchisten und <strong>de</strong>m körneressen<strong>de</strong>n Einsiedler, <strong>de</strong>r Liebe und<br />

Gewaltfreiheit predigt, gab es in <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung so ziemlich je<strong>de</strong>n <strong>de</strong>nkbaren Typus. Eines<br />

allerdings läßt sich klar sagen: Der berühmte Typ <strong>de</strong>s Verschwöreranarchos, <strong>de</strong>r sich voll Haß aufmachte,<br />

einen König in die Luft zu sprengen und glaubte, <strong>de</strong>r Staat wür<strong>de</strong> dadurch zusammenbrechen und die<br />

Anarchie kraftvoll erblühen, starb praktisch schon im vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rt aus.<br />

Diese sogenannte Propaganda <strong>de</strong>r Tat war nur eine unter <strong>de</strong>n zahllosen Aktionsformen, die <strong>de</strong>r<br />

Anarchismus hervorgebracht hat - eine relativ kurzlebige obendrein. Zuvor haben Anarchisten an<br />

Volksaufstän<strong>de</strong>n teilgenommen und Geheimgesellschaften gegrün<strong>de</strong>t, Arbeitervereine aufgebaut,<br />

Bibliotheken und Schulen eingerichtet. Tauschbanken und Konsumgenossenschaften gehörten genauso zu<br />

ihrem Repertoire* wie Zeitschriften, Theater und Gesangvereine – ebenso Bankräuber, die sich stolz<br />

Expropriateure* nannten und brav je<strong>de</strong>n Pfennig bei ihren politischen Organisationen ablieferten o<strong>de</strong>r<br />

Volksaufklärer, die mit <strong>de</strong>m Esel von Dorf zu Dorf zogen, <strong>de</strong>n Menschen das Alphabet beibrachten und<br />

ihnen das Nahen <strong>de</strong>r Anarchie verkün<strong>de</strong>ten.<br />

In späteren Jahren kamen unter <strong>de</strong>m Namen Anarchosyndikalismus* verstärkt die Gewerkschaften ins<br />

Spiel, mit <strong>de</strong>ren Hilfe Anarchisten eine freie Gesellschaft mit libertärer Wirtschaft aufbauen wollten –<br />

was sie für kurze Zeit auch tatsächlich schafften. Aus Volksaufstän<strong>de</strong>n entstand in an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn die<br />

Taktik <strong>de</strong>r Guerilla, die auch von Anarchisten genutzt wur<strong>de</strong> und vorübergehend in <strong>de</strong>r Lage war, die<br />

Staatsgewalt zu besiegen und große Gebiete zu befreien. Erst Jahrzehnte später sollte die<br />

Guerillabewegung, unter kommunistischem Vorzeichen zur reinen Taktik <strong>de</strong>r Machteroberung <strong>de</strong>gradiert,<br />

als Mittel <strong>de</strong>r Befreiung grandios scheitern. Seit <strong>de</strong>n Tagen Tolstois und <strong>de</strong>n Taten Gandhis setzte sich in<br />

anarchistischen Kreisen vermehrt die Form <strong>de</strong>s zivilen Ungehorsams durch, die eine beson<strong>de</strong>rs scharfe<br />

Waffe im Fundus <strong>de</strong>s gewaltfreien Aktions-Anarchismus darstellt. Nach Stu<strong>de</strong>ntenrevolten, autonomen<br />

Arbeiterkämpfen und heftigem Wi<strong>de</strong>rstand gegen Atomstaat, Militarismus und Wohnungsspekulation<br />

beginnen Anarchisten in unseren Tagen verstärkt mit <strong>de</strong>m Aufbau praktischer und lebendiger "Projekte".<br />

Diese Mo<strong>de</strong>lle allgemeiner Selbstverwaltung sollen im sozialen Alltag <strong>de</strong>r Menschen verankert sein und<br />

sich vom herrschen<strong>de</strong>n System nicht vereinnahmen lassen. Solche ›vorweggenommenen Utopien‹<br />

versuchen, in<strong>de</strong>m sie sich gegen Staatsgesellschaft wen<strong>de</strong>n, zugleich Experimentierfeld für eine<br />

nichtstaatliche Gesellschaft zu sein.<br />

Grundzüge anarchistischer Aktion


Ein typisches Kennzeichen anarchistischen Vorgehens ist die direkte Aktion. Anarchisten lieben gera<strong>de</strong><br />

Wege und mißtrauen Winkelzügen. Die Betroffenen wen<strong>de</strong>n sich mit Vorliebe direkt gegen die<br />

Verursacher ihres Problems, meist mit sehr wirkungsvollen Aktionen. Wo die einen Unterschriften gegen<br />

Wohnungsnot sammeln, wür<strong>de</strong>n Anarchisten eher ein leerstehen<strong>de</strong>s Haus besetzen – <strong>de</strong>r Prototyp* einer<br />

direkten Aktion. Die Frage, ob ein solches Han<strong>de</strong>ln legal o<strong>de</strong>r illegal ist, pflegen Anarchisten mit<br />

unbekümmertem Lachen zu<br />

26<br />

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ignorieren: ihnen steht menschliche Ethik über formalem Recht. Wenn jemand nichts zu essen hat, muß er<br />

sich Brot nehmen, auch wenn das Gesetz das Eigentum vor <strong>de</strong>m Hunger schützt. Direkte Aktionen<br />

können gewaltfrei o<strong>de</strong>r militant sein, lustig, symbolisch o<strong>de</strong>r unerhört praktisch; sie können von einem<br />

Menschen durchgeführt wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r von hun<strong>de</strong>rttausend – immer haben sie zwei entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Vorteile:<br />

sie führen in <strong>de</strong>r Regel ohne Umschweife zum Ziel und wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n meisten Menschen sofort<br />

verstan<strong>de</strong>n, eben weil sie direkt sind.<br />

Spontaneität* ist ein weiteres Merkmal anarchistischer Aktion. Sie ergibt sich aus <strong>de</strong>r Direktheit <strong>de</strong>r<br />

Betroffenen, <strong>de</strong>r dynamischen* Kraft <strong>de</strong>r Empörung und <strong>de</strong>r Lust an ungewöhnlichen Formen fast von<br />

selbst. Das Fehlen von Institutionen, Apparat und Bürokratie erleichtert spontanes Han<strong>de</strong>ln. Langweilige<br />

Entscheidungsfindung durch viele Instanzen o<strong>de</strong>r bie<strong>de</strong>re Vereinsmeierei sind in anarchistischen Kreisen<br />

sehr ungewöhnlich. Viel lieber wird einer spontanen und originellen I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Vorzug vor verkrusteter<br />

Routine gegeben. Spontan sein kann man alleine ebensogut wie in <strong>de</strong>r Gruppe, und letztendlich ist je<strong>de</strong>r<br />

Mensch frei, so zu han<strong>de</strong>ln, wie er es gegenüber seinen Überzeugungen und seinen Mitmenschen<br />

vertreten kann.<br />

Das ist natürlich ein heikler Punkt. Was ist, wenn Schüler mal ›ganz spontan‹ ihre Schule anzün<strong>de</strong>n?<br />

Möglich, daß bei diesem Gedanken so manches Pennälerherz höher schlägt, aber das wäre we<strong>de</strong>r eine<br />

direkte noch eine spontane Aktion im anarchistischen Sinne – <strong>de</strong>m steht ein dritter libertärer Grundsatz<br />

entgegen: die Anwesenheit <strong>de</strong>s Ziels in <strong>de</strong>n Mitteln: Das, was man erreichen will, muß auch in <strong>de</strong>r Wahl<br />

<strong>de</strong>r Mittel zum Ausdruck kommen. Freiheit kann nicht mit unfreien Metho<strong>de</strong>n erreicht wer<strong>de</strong>n, Wahrheit<br />

nicht durch Folter, Glück nicht durch Zwang und Frie<strong>de</strong> nicht durch Krieg. Das ist ein hoher moralischer<br />

Anspruch, und Anarchisten haben in <strong>de</strong>r rauhen sozialen Wirklichkeit damit auch zu allen Zeiten ihre<br />

Schwierigkeiten gehabt.<br />

Kann man seinen Gegner besiegen, ohne ihm weh zu tun? Wie sollte ein anarchistischer Milizionär im<br />

spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten kämpfen, wenn nicht mit <strong>de</strong>m Gewehr? Mit schönen Worten<br />

und einem Blümchen in <strong>de</strong>r Hand? Wohl kaum - obwohl die I<strong>de</strong>e so absurd nicht ist, <strong>de</strong>nn daß mit<br />

gewaltfreien Mitteln Revolutionen gewonnen wur<strong>de</strong>n und Armeen besiegt, dafür gibt es in <strong>de</strong>r Geschichte<br />

ebensogut Beispiele wie für <strong>de</strong>n Sieg durch das Gewehr. Trotz<strong>de</strong>m haben die Anarchisten in <strong>de</strong>r<br />

Spanischen Revolution richtig gehan<strong>de</strong>lt, als sie kämpften. Das Problem liegt woan<strong>de</strong>rs. In <strong>de</strong>r Tragik<br />

nämlich, daß anarchistische Bewegungen sich meistens die Form ihrer Aktion nicht aussuchen können –<br />

sie wird ihnen aufgezwungen. In Spanien begann die Revolution mit einem Putsch <strong>de</strong>r Faschisten, und<br />

nicht <strong>de</strong>r Anarchisten ...<br />

Nichts ist unanarchistischer als eine Armee, Krieg und Töten. Aber meist ließ die Geschichte <strong>de</strong>n<br />

Anarchisten nicht die ›Wahl <strong>de</strong>r Waffen‹. Um so mehr Grund für sie, auf diesem schwierigen Prinzip <strong>de</strong>r<br />

Anwesenheit <strong>de</strong>s Ziels in <strong>de</strong>n Mitteln zu beharren und es immer dort, wo sie die Formen <strong>de</strong>r Aktion<br />

bestimmen können, zu beherzigen.<br />

Zwischen Empörung, direkter Aktion, Spontaneität und <strong>de</strong>r Vision einer freien, menschlichen und<br />

gewaltfreien Gesellschaft gibt es kein besseres Regulativ*.<br />

27


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Kapitel 6<br />

Kritik am Staat<br />

Der Staat ist eine Abstraktion, die das Leben <strong>de</strong>s Volkes verschlingt -<br />

ein unermeßlicher Friedhof, auf <strong>de</strong>m alle Lebenskräfte eines Lan<strong>de</strong>s<br />

großzügig und andächtig sich haben hinschlachten lassen.<br />

- Michail Bakunin -<br />

"WAS SOLL AM STAAT <strong>de</strong>nn schon so schlimm sein, daß die Anarchisten sich <strong>de</strong>rart in ihn verbeißen?<br />

Sicher, <strong>de</strong>r Staat engt mich irgendwie ein, Politiker lügen, korrupte Beamte gibt es auch; das Finanzamt<br />

ist ein Raubritternest und die Armeen verpulvern unsere Steuergel<strong>de</strong>r. Aber <strong>de</strong>r Staat baut auch Straßen,<br />

unterhält Schulen, und wenn ich alt bin, hält er für mich meine Rente bereit. Lei<strong>de</strong>n die Anarchisten<br />

vielleicht unter einer Staatspsychose*, daß sie ihn für die Ursache allen Übels halten?"<br />

Solche Argumente sind je<strong>de</strong>m Anarchisten geläufig. Kaum jemand liebt <strong>de</strong>n Staat, viele schimpfen über<br />

ihn, und leicht stimmt <strong>de</strong>r Normalbürger auch mal einem Anarcho zu, wenn er gegen diese o<strong>de</strong>r jene<br />

Schweinerei wettert. Doch dann kommt stets das große "Aber ..." und das be<strong>de</strong>utet meist nichts an<strong>de</strong>res<br />

als: "Es könnte ja alles noch viel schlimmer sein". Die glühen<strong>de</strong>n Patrioten sind ausgestorben; mo<strong>de</strong>rne<br />

Staatsbürger haben eine negative I<strong>de</strong>ntifikation* mit <strong>de</strong>m Staat, und diese Haßliebe ist zäh und schwerer<br />

zu erschüttern als <strong>de</strong>r hohle Nationalismus vergangener Epochen – ein Phänomen, das Anarchisten<br />

übrigens oft unterschätzen.<br />

Nun ist ja die unbestreitbare Tatsache, daß alles noch schlimmer sein könnte, kein Grund, nicht dafür<br />

einzutreten, daß alles noch besser wer<strong>de</strong>n sollte. Eben das versuchen Anarchisten, wobei sie ständig an<br />

Grenzen stoßen, die <strong>de</strong>r Staat setzt. Sie haben dabei oft festgestellt, daß es auch mit seinen positiven<br />

Seiten nicht immer weit her ist. In <strong>de</strong>r Tat gibt es keine einzige Dienstleistung <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Staates, die<br />

spezifisch* staatlich wäre. Angefangen von <strong>de</strong>r Post über die Eisenbahn, Krankenhäuser, Straßen- und<br />

Brückenbau, Universitäten und Schulen bis hin zu Rentenversorgung, Altersversicherung und<br />

Arbeitslosenunterstützung hat sich <strong>de</strong>r Staat im Laufe <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rte eine ganze Latte positiver<br />

gesellschaftlicher Errungenschaften schlicht unter <strong>de</strong>n Nagel gerissen. Alle diese Einrichtungen<br />

entstan<strong>de</strong>n unabhängig von Regierungen aus <strong>de</strong>r Gesellschaft, und Gesellschaft ist nicht gleich Staat. Ihre<br />

Ursprünge liegen in Dorfgemein<strong>de</strong>n, Klöstern, Handwerkergil<strong>de</strong>n, Privatfirmen, Einzelinitiativen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

kollektiven Selbsthilfe Betroffener. Erst nach langer Zeit, oft unter Druck von Sozialreformern und gegen<br />

<strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rstand von Regierungen, haben sich Staaten solche Einrichtungen angeeignet. Ob unsere<br />

mo<strong>de</strong>rnen ›Sozialstaaten‹ mit ihrem bürokratischen Apparat diese Aufgaben optimal, human, gerecht und<br />

effektiv erfüllen, ist eine Frage, die selbst Politiker zunehmend bezweifeln. Die Tatsache, daß immer<br />

mehr dieser Bereiche in die Privatwirtschaft zurückgegeben wer<strong>de</strong>n – was natürlich kaum eine bessere<br />

Alternative ist –, läßt eher auf das Gegenteil schließen.<br />

Soziale Aufgaben machen <strong>de</strong>n Staat nicht aus. Was <strong>de</strong>n Staat tatsächlich ausmacht – und<br />

28<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

was er auch nie privatisieren wür<strong>de</strong> –, sind seine spezifischen Institutionen wie Regierung, Parlament,<br />

Bürokratie, Staatsbeamtentum, Steuerhoheit, Geld- und Erziehungsmonopol, Justiz, Polizei, Armee,<br />

Geheimdienste, Zoll, Fernseh- und Rundfunkhoheit und nicht zuletzt das Recht, je<strong>de</strong>n zu bestrafen und<br />

notfalls zu töten, <strong>de</strong>r gegen eines dieser Dinge aufbegehrt. Dies sind die eigentlichen Funktionen von<br />

Herrschaft – sie sind genuin* staatlich. Alles an<strong>de</strong>re ist usurpiert*.


Der mo<strong>de</strong>rne ›<strong>de</strong>mokratische‹ Staat ist noch kaum hun<strong>de</strong>rt Jahre alt, aber schon tut er so, als läge<br />

ausgerechnet im Sozialen sein Wesen.<br />

Arroganz <strong>de</strong>r Macht<br />

Wie anmaßend all diese spezifisch staatlichen ›Rechte‹ sind, wird ohne weiteres klar, wenn Jemand<br />

an<strong>de</strong>res als <strong>de</strong>r Staat sie in Anspruch nehmen wollte. Versuchen Sie einmal, von Ihren Mitmenschen unter<br />

<strong>de</strong>r Androhung von Strafe und Verfolgung regelmäßig Gel<strong>de</strong>r einzutreiben. Was wäre, wenn Sie auf die<br />

I<strong>de</strong>e verfielen, einen Menschen, <strong>de</strong>r gegen Ihre Grundsätze verstößt, jahrelang in einen kleinen Käfig zu<br />

sperren o<strong>de</strong>r sich das Recht herausnähmen zu entschei<strong>de</strong>n, daß er nicht länger leben darf und ihn<br />

umbrächten? O<strong>de</strong>r bezahlen Sie ein paar Männer, geben ihnen Helm, Knüppel und Pistole und lassen sie<br />

auf all diejenigen los, die an<strong>de</strong>rer Meinung sind o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Interessen verfolgen! Und wenn Sie gar in<br />

<strong>de</strong>r Lage wären, technische Einrichtungen zu schaffen, mit <strong>de</strong>nen Sie auf einen Schlag Millionen von<br />

Menschen töten und ganze Städte vernichten könnten – wie wür<strong>de</strong> man das wohl fin<strong>de</strong>n?<br />

Kein normaler Mensch wür<strong>de</strong> von sich aus zu einem solchen Horrorszenario greifen und schon gar nicht<br />

versuchen, das auch noch ethisch zu rechtfertigen. Im Gegenteil: solche Dinge sind bei uns mit Fug und<br />

Recht geächtet und verboten. Es wäre schlicht ›räuberische Erpressung‹, ›Freiheitsberaubung‹,<br />

›Körperverletzung‹, ›Mord‹, ›Bildung einer kriminellen Vereinigung‹, ›Terrorismus‹ o<strong>de</strong>r ›Völkermord‹.<br />

Tut <strong>de</strong>r Staat jedoch die gleichen Dinge, bekommen sie die Aura* ethischer Notwendigkeit und<br />

wohlklingen<strong>de</strong>re Namen: ›Steuerrecht‹, ›Justiz‹, ›To<strong>de</strong>sstrafe‹, ›Polizei‹, ›Armee‹, ›Verteidigung‹ o<strong>de</strong>r<br />

›mo<strong>de</strong>rne Waffensysteme‹. Wir alle kennen diesen Wi<strong>de</strong>rspruch: Töte ich einen Menschen als Bürger, bin<br />

ich ein Mör<strong>de</strong>r – tue ich es für <strong>de</strong>n Staat als Soldat, bin ich ein Held.<br />

Natürlich gibt es unzählige Rechtfertigungen für staatliche Privilegien: "Ohne die harte Hand <strong>de</strong>s Staates<br />

wür<strong>de</strong>n die Menschen sich gegenseitig zerfleischen". "Die Alternative zu staatlicher Unterdrückung wäre<br />

Chaos". Und die dreisteste von allen: "Der Staat, das sind wir ja selber, und er tut das alles nur, weil wir<br />

es wollen – zu unserem Besten und mit beachtlichem Erfolg."<br />

Bilanz <strong>de</strong>s Versagens<br />

Daß wir <strong>de</strong>r Staat seien, ist ein frommes Märchen, an <strong>de</strong>m eigentlich nur erstaunt, daß so viele Menschen<br />

daran glauben — wir wer<strong>de</strong>n uns dieser Frage im nächsten Kapitel zuwen<strong>de</strong>n. Daß er uns zu unserem<br />

Besten unterdrücke, ist ein groteskes* Argument, das uns selbst<br />

29<br />

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jegliche Mündigkeit abspricht. Aber es soll ja auch Kin<strong>de</strong>r geben, die nach einer Tracht Prügel von Eltern<br />

o<strong>de</strong>r Lehrer noch obendrein ein schlechtes Gewissen haben, sich bedanken und meinen, es geschähe ihnen<br />

recht.<br />

Ist aber trotz allem das staatliche System nicht recht erfolgreich?<br />

Wenn wir unter ›Anarchie‹ einmal die landläufige negative Be<strong>de</strong>utung verstehen wollen, nämlich Chaos,<br />

so haben wir sie heute: weltweit und flächen<strong>de</strong>ckend. Ein System, in <strong>de</strong>m genug Nahrung produziert wird<br />

und wo <strong>de</strong>nnoch täglich Zigtausen<strong>de</strong> Menschen verhungern, ist ein Irrsinn. Ein System, das periodisch<br />

organisierte Massenmor<strong>de</strong> anordnet, ist unmenschlich. Ein System, das diesen Planeten zunehmend<br />

ausplün<strong>de</strong>rt und unbewohnbar macht, ist selbstmör<strong>de</strong>risch. Ein System, das zehn Prozent <strong>de</strong>r Menschheit<br />

Reichtum beschert und die große Mehrheit <strong>de</strong>r Ärmsten immer weiter ausplün<strong>de</strong>rt, ist nie<strong>de</strong>rträchtig. Ein<br />

System, das seine Bürger nur dadurch davon abhalten kann, sich gegenseitig umzubringen, in<strong>de</strong>m es sie<br />

wie<strong>de</strong>rum selbst mit <strong>de</strong>m Tod bedroht, ist eine moralische Bankrotterklärung.<br />

Wenn Anarchisten in einer Diskussion ein solches System ernsthaft vorschlügen, wür<strong>de</strong>n sie mit Recht


ausgelacht. Man müßte sie Zyniker* nennen. Aber dieses System haben wir heute überall, es herrscht auf<br />

je<strong>de</strong>m Stückchen Land dieser Er<strong>de</strong>, und wir leben mittendrin. Es ist das staatliche System, das unterm<br />

Strich völlig versagt und weltweit ein Chaos von unvorstellbarem Ausmaß hervorbringt. Wir nehmen es<br />

nur nicht wahr, <strong>de</strong>nn wir sind gewohnt, in zweierlei Maß zu <strong>de</strong>nken. Vergessen wir nicht: Staat existiert<br />

nicht nur in unseren liberalen, westlichen Demokratien, in <strong>de</strong>nen es sich zugegebenermaßen besser leben<br />

läßt – Staat, das ist auch Bangla<strong>de</strong>sch und Burkina Faso, Haiti und Laos, Ruanda und Kambodscha. Idi<br />

Amin und Helmut Kohl, Saddam Hussein und Boris Jelzin, Hitler und Kennedy sind letztlich Vertreter<br />

<strong>de</strong>rselben Struktur. Die Unterschie<strong>de</strong> zwischen verschie<strong>de</strong>nen Regimen sind keine prinzipiellen<br />

Unterschie<strong>de</strong>, sie sind an<strong>de</strong>re Erscheinungsformen ein und <strong>de</strong>rselben I<strong>de</strong>e: <strong>de</strong>r Staatlichkeit.<br />

Der Staat als Interessengeflecht<br />

Derartige Kritik am Staat und seinen Organen ist typisch für <strong>de</strong>n Anarchismus. Für ihn ist <strong>de</strong>r Staat nicht<br />

zufällig in die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Unzulänglichkeit unserer Gesellschaft verwickelt, son<strong>de</strong>rn von vornherein<br />

<strong>de</strong>r falsche Denkansatz, eine untaugliche Organisationsstruktur. Er ist gewiß nicht die ›Ursache allen<br />

Übels‹, aber er bün<strong>de</strong>lt viele Übel, repräsentiert und verstärkt sie, erzeugt viele <strong>de</strong>r Probleme erst, die er<br />

dann zu bekämpfen vorgibt. Vor allem aber stehen Staaten je<strong>de</strong>r tiefgreifen<strong>de</strong>n sozialen Än<strong>de</strong>rung als<br />

Hin<strong>de</strong>rnis entgegen, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Staat ist ein Selbstzweck. Er will um je<strong>de</strong>n Preis überleben und darin ist er<br />

zäh und anpassungsfähig. Das Beispiel zahlloser Revolutionen, die mit freiheitlichen Ansprüchen<br />

angetreten waren, eine bessere Gesellschaft aufzubauen und zu neuer Diktatur wur<strong>de</strong>n, zeigt, wie<br />

hartnäckig sich Staatlichkeit, Zentralismus, Hierarchie und Bürokratie einnisten. Sie kämpfen äußerst<br />

erfolgreich um ihr Überleben und überwuchern alles Positive, fressen und verdauen es. Gustav Landauer<br />

hat dieses Dilemma in <strong>de</strong>n drastischen Satz gebracht: "Wer vom Staat ißt, stirbt daran."<br />

30<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Allerdings ist <strong>de</strong>r ›<strong>de</strong>r Staat‹ we<strong>de</strong>r ein Phantom* noch ein gefräßiges Fabeltier. Er ist ein ausgesprochen<br />

komplexes* Gebil<strong>de</strong> aus Interessen, von <strong>de</strong>nen die jeweilige Regierung eigentlich nur eine Riege relativ<br />

machtloser Repräsentanten ist. Wirtschaftliche Interessen und politische Macht sind ebenso Bestandteile<br />

<strong>de</strong>s ›Gebil<strong>de</strong>s Staat‹ wie psychologische, i<strong>de</strong>ologische, nationalistische, religiöse o<strong>de</strong>r militärische<br />

Komponenten. Alle sind miteinan<strong>de</strong>r verflochten und voneinan<strong>de</strong>r abhängig. Anarchisten haben <strong>de</strong>shalb<br />

nicht bestimmte Regierungen, Präsi<strong>de</strong>nten o<strong>de</strong>r Könige bekämpft; ihr Gegner war immer ›<strong>de</strong>r Staat an<br />

sich‹ in allen seinen Facetten*.<br />

Der Staat im Kopf<br />

Da viele Menschen <strong>de</strong>n Staat ebenfalls als alltäglichen Unterdrücker erleben, stellt sich die Frage, warum<br />

sie trotz<strong>de</strong>m so staatstreu bleiben. Zum einen gelingt es hervorragend, Zorn zu kanalisieren. Die Medien<br />

spielen hierbei eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle. Meinung wird bei uns täglich produziert, millionenfach und sehr<br />

erfolgreich. Schuld wird dabei im Detail gesucht, in Pannen, bei Min<strong>de</strong>rheiten o<strong>de</strong>r irgendwelchen<br />

›schlechten Menschen‹.<br />

Die >öffentliche Meinung< re<strong>de</strong>t uns ein, eine Nation sei eine ›Gemeinschaft‹, wir alle seien gleich, und<br />

<strong>de</strong>r Staat spiele lediglich <strong>de</strong>n unparteiischen Schiedsrichter. So wer<strong>de</strong>n die ungeheuren sozialen<br />

Unterschie<strong>de</strong> in einem je<strong>de</strong>n Staat vertuscht, und die Privilegien <strong>de</strong>r wirklich Mächtigen ver<strong>de</strong>ckt.<br />

An<strong>de</strong>rerseits tragen wir aber alle mehr o<strong>de</strong>r weniger auch einen ›Staat im Kopf‹ mit uns herum. Es ist, als<br />

hätten wir die Staatlichkeit mit Löffeln gefressen: <strong>de</strong>r Glaube an die Allmacht <strong>de</strong>r Obrigkeit steht im<br />

umgekehrten Verhältnis zum Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten. Der Staat hält uns in <strong>de</strong>m Glauben,<br />

daß er und nur er in <strong>de</strong>r Lage wäre, mit seinem Apparat, seinen Spezialisten und Fachleuten die<br />

komplexen Probleme <strong>de</strong>r Menschheit in <strong>de</strong>n Griff zu bekommen. Immer mehr Menschen erkennen zwar,<br />

daß das nicht stimmt, aber es fehlt die Alternative, und das macht mutlos. Und es mangelt an Freiräumen<br />

zum Experimentieren, an Mo<strong>de</strong>llen zum Anregen, Erfahrungen, die aus <strong>de</strong>m Experiment neue<br />

Gesellschaften entstehen lassen – Gesellschaften ohne Staat.


Anarchistische Staatskritik ist sehr alt und in vielem gera<strong>de</strong>zu prophetisch. Es ist, als hätten Anarchisten<br />

die staatlichen Abscheulichkeiten <strong>de</strong>s Zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rts von Auschwitz über Hiroshima bis<br />

Kambodscha vorausgesehen. In einer Zeit, als alle Welt glühen<strong>de</strong>n Patriotismus pflegte, und die Nation<br />

das Höchste war, schrieb Pierre-Joseph Proudhon die folgen<strong>de</strong>n bissigen Worte, die bis heute nichts an<br />

Aktualität verloren haben:<br />

"Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit<br />

Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert, eingeschätzt,<br />

abgeschätzt, zensiert, kommandiert zu wer<strong>de</strong>n durch Leute, die we<strong>de</strong>r das Recht noch das Wissen noch<br />

die Kraft dazu haben ... Regiert sein heißt, bei je<strong>de</strong>r Handlung, bei je<strong>de</strong>m Geschäft, bei je<strong>de</strong>r Bewegung<br />

notiert, registriert, erfaßt, taxiert, gestempelt, vermessen, bewertet, versteuert, patentiert, lizenziert,<br />

autorisiert, befürwortet, ermahnt, behin<strong>de</strong>rt, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu wer<strong>de</strong>n. Es heißt, unter<br />

<strong>de</strong>m<br />

31<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Vorwand <strong>de</strong>r öffentlichen Nützlichkeit und im Namen <strong>de</strong>s Allgemeininteresses ausgenutzt, verwaltet,<br />

geprellt, ausgebeutet, monopolisiert, hintergangen, ausgepreßt, getäuscht, bestohlen zu wer<strong>de</strong>n;<br />

schließlich bei <strong>de</strong>m geringsten Wort <strong>de</strong>r Klage unterdrückt, bestraft, heruntergemacht, beleidigt, verfolgt,<br />

mißhan<strong>de</strong>lt, nie<strong>de</strong>rgeschlagen, entwaffnet, geknebelt, eingesperrt, füsiliert, beschossen, verurteilt,<br />

verdammt, <strong>de</strong>portiert, geopfert, verkauft, verraten und obendrein verhöhnt, verspottet, beschimpft und<br />

entehrt zu wer<strong>de</strong>n. Das ist die Regierung, das ist ihre Gerechtigkeit, das ist ihre Moral. [...] Die Regierung<br />

<strong>de</strong>s Menschen über <strong>de</strong>n Menschen ist die Sklaverei. Wer immer die Hand auf mich legt, um über mich zu<br />

herrschen, ist ein Usurpator und ein Tyrann. Ich erkläre ihn zu meinem Fein<strong>de</strong>."<br />

Proudhon war einer, <strong>de</strong>r wissen mußte wovon er sprach: Im Frankreich <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts war er<br />

sowohl Abgeordneter <strong>de</strong>r Nationalversammlung als auch Gefängnisinsasse ...<br />

Literatur:<br />

/ Pierre-Joseph Proudhon: Ausgewählte Werke (Hrsg. v. Thilo Ramm), Stuttgart 1963, K. F. Koehler, 363<br />

S.<br />

/ Michail Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie (u.a. Schriften) Frankfurt 1972, Ullstein, 884 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Gott und <strong>de</strong>r Staat Reinbek 1969, Rowohlt, 245 S.<br />

/ Peter Kropotkin: Der mo<strong>de</strong>rne Staat in: "Der Staat" (Aufsatzsammlung), Frankfurt/M. o.J., Freie<br />

Gesellschaft, 125 S.<br />

/ Gustav Landauer: Entstaatlichung Wetzlar 1976, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 58 S.<br />

/ Stefan Blankertz, Paul Goodman: Staatlichkeitswahn Wetzlar 1980, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 160 S.<br />

/ Franz Oppenheimer: Der Staat Berlin 1991, Libertad, 160 S.<br />

32<br />

Kapitel 7<br />

Kritik an <strong>de</strong>r Demokratie<br />

Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber.<br />

– Volksweisheit –<br />

EIGENTLICH IST SCHON DAS WORT DEMOKRATIE eine Zumutung. ›Demokratie‹ heißt<br />

›Volksherrschaft‹. Herrscht irgendwo ›das Volk‹? Natürlich nicht, bestenfalls darf das Volk Menschen<br />

wählen, von <strong>de</strong>nen es sich beherrschen läßt. Und selbst die bekommt es vorsortiert angeboten.


Eine wirkliche Demokratie wäre, wenn das ganze Volk über das ganze Volk herrschte, also je<strong>de</strong>r Mensch<br />

je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren genausoviel zu sagen hätte, wie er sich von an<strong>de</strong>ren zu sagen lassen hat. Das ist entwe<strong>de</strong>r<br />

Unsinn o<strong>de</strong>r das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Herrschaft von Menschen über Menschen. Denn wenn je<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>n ›beherrscht‹,<br />

ist das genau dasselbe, wie wenn niemand herrscht. Da Menschen aber unterschiedliche Meinungen<br />

haben, kann solch eine Demokratie in einem Staat nicht funktionieren, es sei <strong>de</strong>nn, eine Meinung setzte<br />

sich durch und unterdrückte viele an<strong>de</strong>re. Genau das aber ist in unseren ›Demokratien‹ <strong>de</strong>r Fall. Der<br />

Unterschied zwischen Diktaturen und Demokratien besteht genau besehen darin, daß in ersteren eine<br />

Min<strong>de</strong>rheit die Mehrheit und in letzteren eine Mehrheit zahlreiche Min<strong>de</strong>rheiten unterdrückt. Bei<strong>de</strong>s aber<br />

ist eine Herrschaft einiger über viele, also eine Oligarchie* und keine Demokratie – auch, wenn sich die<br />

Herrschen<strong>de</strong>n ihre Herrschaft von einer Mehrheit legitimieren* lassen.<br />

32<br />

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Weil aber Menschen verschie<strong>de</strong>ne Meinungen haben, die sich eben nicht in einer Gesellschaft unter einen<br />

Hut bringen lassen, ist Demokratie – die Herrschaft aller über alle – entwe<strong>de</strong>r nur in kleineren Gruppen<br />

möglich o<strong>de</strong>r gar nicht. Ein Netz kleiner Gruppen, eine Fö<strong>de</strong>ration verschie<strong>de</strong>ner Gesellschaften aber ist<br />

nichts an<strong>de</strong>res als Anarchie. Wirkliche Demokratie ist also entwe<strong>de</strong>r an-archisch o<strong>de</strong>r unsinnig.<br />

Nun wissen wir ja alle, daß man bei uns unter ›Demokratie‹ etwas ganz an<strong>de</strong>res versteht, nämlich das<br />

parlamentarische System. Die meisten Menschen halten es für das beste aller Systeme. Zugegeben, es gibt<br />

schlechtere. Aber hier geht es nicht um die Frage, wie viele Menschen sich in <strong>de</strong>r ›parlamentarischen<br />

Demokratie‹ ziemlich wohl fühlen weil nichts besseres zur Hand ist, son<strong>de</strong>rn darum, ob <strong>de</strong>r<br />

Parlamentarismus überhaupt eine Demokratie ist.<br />

Natürlich gibt es auch hier einen Herrscher - statt <strong>de</strong>s Königs, Kaisers o<strong>de</strong>r Diktators eben einen<br />

Präsi<strong>de</strong>nten, Kanzler o<strong>de</strong>r Premierminister. Sie alle – die ›Diktatoren‹ wie die ›Demokraten‹ – sind<br />

Repräsentanten jener grundlegen<strong>de</strong>n staatlich wirtschaftlichen Interessen, die wir bereits betrachtet haben.<br />

Deshalb macht es für Anarchisten keinen Unterschied, ob sie diesen o<strong>de</strong>r jenen wählen o<strong>de</strong>r ob sie<br />

überhaupt wählen, <strong>de</strong>nn ihrer Meinung nach unterschei<strong>de</strong>n sie sich nur in ziemlich unwesentlichen<br />

Punkten. Im wesentlichen, in ihrer Einstellung zum Staat und <strong>de</strong>ssen Interessen, sind sie sich gleich. Der<br />

Anarchismus geht davon aus, daß Staatlichkeit im Grun<strong>de</strong> immer anti-freiheitlich eingestellt sein muß.<br />

Durch die Verlockungen <strong>de</strong>r ihr eigenen Hierarchie wird sie immer einen Repräsentanten* fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r ihre<br />

Interessen vertritt. Egal, ob ein bißchen linker o<strong>de</strong>r rechter, Hauptsache, es geht nicht ans Eingemachte -<br />

und dafür sorgen Grundgesetz und ›parlamentarische Spielregeln‹. Schlußendlich ist es auch egal, ob<br />

gewählt o<strong>de</strong>r nicht; aber gewählt ist im Zweifelsfalle besser, <strong>de</strong>nn je<strong>de</strong> Unterdrückung legitimiert sich am<br />

liebsten dadurch, daß die Unterdrückten sich ihre Unterdrücker selbst ausgesucht haben: die Regierung.<br />

Die wahren Mächtigen bleiben <strong>de</strong>zent im Hintergrund.<br />

Aber haben wir eigentlich eine Wahl?<br />

Wahlen ohne Alternative<br />

Eine Wahl ist eine Entscheidung zwischen zwei o<strong>de</strong>r mehreren Alternativen. Nehmen wir einmal an, Sie<br />

gingen in einen Supermarkt, in <strong>de</strong>r Absicht, Schokola<strong>de</strong> zu kaufen und dort fän<strong>de</strong>n Sie sich vor <strong>de</strong>r<br />

Möglichkeit, zwischen einundzwanzig verschie<strong>de</strong>nen Waschmitteln ›wählen‹ zu dürfen - und sonst<br />

nichts. Sie könnten sicher eine ›Wahl‹ treffen, aber nicht das wählen, was Sie wollen. Es wäre keine Wahl<br />

zwischen wirklichen Alternativen.<br />

Natürlich kann man sagen, die Partei X ist ein wenig liberaler, sozialer und freiheitlicher als die Partei Y.<br />

Wenn aber das Ziel Freiheit ist, und Freiheit nur ohne Staat und Regierung geht, alle Parteien aber Staat<br />

und Regierung sind, so kann ich eben nicht das wählen, was ich will. Ich muß es schon selber herstellen,<br />

erreichen, aufbauen. Wenn ich ein Leben ohne Regierung will, ist es absurd, mir die Leute auszuwählen,<br />

die mich regieren sollen.


33<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Anarchisten sehen dies alles aus einer sehr radikalen Perspektive: Wenn ich Gefängnisinsasse bin und<br />

freikommen möchte – so argumentieren sie –, wer<strong>de</strong> ich diese Freiheit nicht erreichen, in<strong>de</strong>m mir die<br />

Gefängnisverwaltung die Wahl <strong>de</strong>s Wachpersonals ermöglicht. Da mag es zwar Wärter geben, die nicht<br />

prügeln und mir <strong>de</strong>n Alltag erträglicher machen. Vielleicht ist es gut, wenn ich die wähle, dann geht es<br />

mir besser. Aber im Gefängnis sitze ich nach wie vor. Womöglich gewöhne ich mich sogar an <strong>de</strong>n Knast,<br />

ebenso wie meine Mitgefangenen: wir lassen uns in das System einspannen, genießen kleine<br />

Verbesserungen und vergessen das Ziel. Am En<strong>de</strong> beteiligen wir uns gar an einer<br />

Häftlingsselbstverwaltung und bewachen uns selbst.<br />

Ersetzt man die Begriffe ›Gefängnis‹ durch ›Kapitalismus‹ und ›Bewacher‹ durch ›Staat‹, so wird dieser<br />

Vergleich zum drastischen* Gleichnis <strong>de</strong>r jüngeren politischen Geschichte:<br />

Anarchisten haben seit jeher dafür plädiert, das Gefängnis nie<strong>de</strong>rzureißen und ein neues Leben zu<br />

beginnen. Kommunisten haben ein Loch in die Mauer gesprengt, sind ausgebrochen und haben an an<strong>de</strong>rer<br />

Stelle ein noch größeres Gefängnis gebaut. Sozial<strong>de</strong>mokraten haben gemeint, man könne <strong>de</strong>r<br />

Gefangenschaft auch entrinnen, in<strong>de</strong>m man zunächst die netteren Bewacher wählt und sich dann selber<br />

wählen läßt. Heute sind sie ab und zu Gefängnisdirektoren und mühen sich nach Kräften, daß es <strong>de</strong>n<br />

Insassen dann etwas besser geht.<br />

Betrachten wir statt <strong>de</strong>s Zielbegriffs ›Freiheit‹ einmal das reale Problem <strong>de</strong>r Umweltzerstörung, so wird<br />

die Absurdität parlamentarischer Wahlen noch augenfälliger: Stellen wir uns die Gesellschaft als einen<br />

Zug vor, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Abgrund einer ökologischen Katastrophe zufährt. Ein Gleis zweigt rechts ab und<br />

führt direkt ins Ver<strong>de</strong>rben, die mittlere Schiene ist etwas länger, und <strong>de</strong>r linke Abzweig fährt noch einen<br />

kleinen Umweg, lan<strong>de</strong>t am En<strong>de</strong> aber auch im selben Loch. Wahlen zwischen diesen drei<br />

Weichenstellungen sind keine Wahlen zwischen wirklichen Alternativen. Die wirkliche Alternative wäre,<br />

eine neue Gleisanlage zu bauen. Dafür sind die Anarchisten und dafür waren vor nicht allzulanger Zeit<br />

auch noch die Grünen. Inzwischen haben sie sich für das linke Gleis entschie<strong>de</strong>n, unter <strong>de</strong>r Bedingung,<br />

während <strong>de</strong>r Fahrt ein bißchen an <strong>de</strong>r Bremse ziehen zu dürfen.<br />

So stellt sich <strong>de</strong>n Libertären die Spielwiese <strong>de</strong>r parlamentarischen Demokratie dar: sie läßt <strong>de</strong>n Menschen<br />

die Illusion, etwas zu entschei<strong>de</strong>n, wo doch längst alles Wesentliche entschie<strong>de</strong>n ist und von uns gar nicht<br />

entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n darf.<br />

Genau das ist <strong>de</strong>r Grund, warum sich Anarchisten in <strong>de</strong>r Regel nicht an Wahlen beteiligen.<br />

Die meisten Menschen glauben an Wahlen o<strong>de</strong>r meinen zumin<strong>de</strong>st, die Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n<br />

einzelnen Parteien seien Grund genug, wenigstens das kleinere Übel zu wählen. Die Frage aber bleibt, ob<br />

sie dabei wirklich wählen. Zum Beispiel <strong>de</strong>n Bun<strong>de</strong>skanzler. Wählen wir ihn? Stellen wir die Kandidaten<br />

auf? Wir wählen allenfalls zwischen zwei längst gewählten Ähnlichkeiten. In Wahrheit hat kein einfacher<br />

Bürger einen tatsächlichen Einfluß auf das politische Geschehen seines Lan<strong>de</strong>s – das Vorrecht, das uns<br />

die parlamentarische Demokratie gewährt, ist, alle vier Jahre ein Kreuz auf einer Liste schon lange zuvor<br />

34<br />

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ausgewählter Menschen zu machen. Sind diese erst einmal gewählt, haben wir keinerlei Einfluß mehr auf<br />

ihr Han<strong>de</strong>ln. Im Prinzip können sie machen, was ihnen beliebt. Viele Politiker scheren sich schon am Tag<br />

nach <strong>de</strong>r Wahl nicht mehr um ihre Zusagen und <strong>de</strong>n Willen ihrer Wähler. Das steht, etwas feiner<br />

ausgedrückt, auch im Grundgesetz: Politiker sind nur ihrem Gewissen verantwortlich.


Hierarchie entfrem<strong>de</strong>t<br />

Das ist interessant. Eigentlich wird ein Mensch ja in ein Amt berufen, um dort <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>rer zu<br />

vertreten, die ihn gewählt haben und ihn für diese Arbeit bezahlen. Keiner Firma wür<strong>de</strong> es einfallen, einen<br />

Prokuristen einzustellen und ihm dann zu überlassen, was er auf diesem Posten tun will. In <strong>de</strong>r Politik<br />

aber verstößt die Bindung an ein Mandat gegen die Eigeninteressen <strong>de</strong>r Politiker. Sie dürfen das Prinzip<br />

<strong>de</strong>s Regierens niemals zugunsten einer direkten Demokratie o<strong>de</strong>r gar <strong>de</strong>r Selbstverwaltung in Frage<br />

stellen. Warum wohl wehren sich unsere Politiker so wortreich gegen die einfachsten Formen<br />

unmittelbarer Demokratie wie Volksbegehren o<strong>de</strong>r Volksentscheid? Vor allem, weil <strong>de</strong>r Staat ein<br />

Selbstzweck ist und seine Existenz gegen je<strong>de</strong> Konkurrenz verteidigen muß.<br />

Je höher die Ebene politischer Macht angesie<strong>de</strong>lt ist, <strong>de</strong>sto größer ist dieser Grad <strong>de</strong>r politischen<br />

Entfremdung zwischen Wähler und Gewähltem. Gibt es in <strong>de</strong>r Lokalpolitik bisweilen noch Möglichkeiten<br />

direkten Kontaktes, persönlicher Einflußnahme und unmittelbarer Kontrolle, so sind diese Möglichkeiten<br />

in <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>spolitik schon be<strong>de</strong>utend eingeengt. Wer aber jemals versucht hat, an ›seinen‹<br />

Bun<strong>de</strong>stagsabgeordneten ein Problem heranzutragen und sich davon eine Lösung erhoffte, weiß, wie<br />

aussichtslos solch ein Anliegen ist. Dies mag eine Erklärung dafür sein, daß manche Anarchisten an<br />

Kommunalwahlen teilnehmen, während sie die Landtags- o<strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>stagswahl boykottieren.<br />

Anarchie ist nicht wählbar<br />

Warum aber grün<strong>de</strong>n Anarchisten keine Partei? Sie könnten ihre Ziele doch in ein Programm schreiben,<br />

sich wählen lassen und, falls eine Mehrheit hinter ihnen steht, die Anarchie einführen.<br />

Die Grün<strong>de</strong>, das nicht zu tun, lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Anarchie läßt sich nicht<br />

›einführen‹. Man kann sie nicht einfach wählen - an einer solchen Gesellschaftsform muß man<br />

teilnehmen. Sie braucht Menschen, die selbst mit<strong>de</strong>nken und mithan<strong>de</strong>ln sowie eine Struktur, in <strong>de</strong>r<br />

Macht nicht mehr <strong>de</strong>legiert*, son<strong>de</strong>rn selbst ausgeübt wird. Selbstverständlich kennt auch das<br />

anarchistische System die Delegierung von Entscheidung, Ausführung und Funktion. Sie beruht jedoch<br />

auf Vertrauen – Macht verbleibt beim einzelnen Menschen, <strong>de</strong>r sich nach wie vor selbst ›regiert‹. Eine<br />

Regierung wählen, die mich nicht regiert, ist in<strong>de</strong>s ein Unding – und in Wahlen wer<strong>de</strong>n nun einmal<br />

Regierungen gewählt. Anarchie ist nicht Politik, son<strong>de</strong>rn das gesamte Leben. Und damit eine an-archische<br />

Gesellschaft funktioniert, müssen sich viele Dinge än<strong>de</strong>rn, und die än<strong>de</strong>rn sich nicht, in<strong>de</strong>m man eine<br />

politische Elite* wählt, son<strong>de</strong>rn in<strong>de</strong>m sich die Menschen mit ihrer Gesellschaft verän<strong>de</strong>rn.<br />

35<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Je<strong>de</strong> Wahl aber trägt dazu bei, Illusionen zu festigen. Die Illusion etwa, wir wür<strong>de</strong>n tatsachlich über unser<br />

Leben bestimmen, unser Schicksal aktiv gestalten. Die Illusion, wir hätten unsere Herrschaft selbst<br />

legitimiert, und die Herrscher han<strong>de</strong>lten in unserem Sinne. Vor allem aber die Illusion, daß über <strong>de</strong>n Weg<br />

parlamentarischer Wahlen wirkliche, grundlegen<strong>de</strong> Än<strong>de</strong>rungen möglich seien. Das ist jedoch so gut wie<br />

unmöglich. Wir brauchen uns nur anzuschauen was passiert, wenn Menschen, die tiefgreifen<strong>de</strong><br />

Än<strong>de</strong>rungen durchsetzen wollen, durch Wahlen an die Macht kommen. In Chile siegte 1972 eine linke<br />

Volksfront. Ihr Präsi<strong>de</strong>nt Salvador Allen<strong>de</strong>, ein Marxist, wollte soziale Gleichheit durchsetzen, aber das<br />

ist verboten. Gesetze und Verfassungen geben nur einen sehr engen Rahmen vor, in <strong>de</strong>m Än<strong>de</strong>rungen<br />

erlaubt sind. Dieselben Gesetze schützen genau die Dinge, die zu verän<strong>de</strong>rn wären, allem voran die<br />

Fragen von Eigentum, Hierarchie, Ungleichheit und Macht. Das Tragische an <strong>de</strong>m chilenischen Beispiel<br />

war, daß <strong>de</strong>r bie<strong>de</strong>re Allen<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Mächtigen nach nur einem Jahr durch einen Militärputsch gestürzt<br />

und getötet wur<strong>de</strong>, obwohl er, einmal an <strong>de</strong>r Macht, gar keine radikalen Verän<strong>de</strong>rungen mehr versuchte,<br />

son<strong>de</strong>rn sich strikt an die Gesetze hielt. Die Lehre hieraus ist einfach: Selbst wenn eine Mehrheit <strong>de</strong>n<br />

radikalen Wan<strong>de</strong>l wählt, wer<strong>de</strong>n die wirklich Mächtigen keine Verän<strong>de</strong>rung tolerieren und notfalls ihre<br />

eigenen Gesetze mit Füßen treten. Radikaler Wan<strong>de</strong>l muß in <strong>de</strong>r Wirklichkeit wachsen. Je breiter, stabiler<br />

und vernetzter dies geschieht, <strong>de</strong>sto schwerer ist er aufzuhalten.


Im Bann <strong>de</strong>s Parlamentarismus<br />

Europa wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten Zeuge zahlreicher Regierungswechsel, die Sozialisten o<strong>de</strong>r<br />

Sozial<strong>de</strong>mokraten an die Macht brachten: In Griechenland und Frankreich, Deutschland, Großbritannien,<br />

Spanien, Italien, Portugal o<strong>de</strong>r Schwe<strong>de</strong>n gaben sie mehr o<strong>de</strong>r weniger lange ›Gastspiele‹. Schon kleinste<br />

soziale Eingriffe führten sofort zu Reaktionen: Börseneinbrüche, Kapitalflucht, Unternehmerstreiks und<br />

-boykotte*, Verweigerung und passiver Wi<strong>de</strong>rstand bis hin zu Verleumdungen und Verschwörungen. Am<br />

En<strong>de</strong> reduzierte sich <strong>de</strong>r Unterschied zwischen ›sozialistischer‹ und ›konservativer‹ Politik auf die Frage,<br />

ob die Mehrwertsteuer o<strong>de</strong>r die Sozialhilfe um ein Prozent verschoben wird o<strong>de</strong>r nicht. Setzen wir gegen<br />

alle Zweifel einmal voraus, daß diese Parteien tatsächlich eine sozialere und freiere Gesellschaft wollten,<br />

so muß man die Bilanz* all dieser Regierungen ganz nüchtern so interpretieren: Im Rahmen staatlicher<br />

Gesetze und kapitalistischer Normen ist selbst die zaghafteste Verän<strong>de</strong>rung, die die Privilegien von Staat<br />

und Kapital gefähr<strong>de</strong>t, nicht möglich. Entwe<strong>de</strong>r schickt man Panzer o<strong>de</strong>r entzieht das Geld. Mitterand als<br />

›Sozialist‹ mußte sich genauso an die Gesetze halten wie Kohl als Konservativer, und bei<strong>de</strong> taten es<br />

vermutlich mit <strong>de</strong>rselben inneren Überzeugung, weil Sozialisten heute zu ebenso zuverlässigen Säulen<br />

staatlich-kapitalistischer Ordnung gewor<strong>de</strong>n sind wie Konservative.<br />

Nach Meinung <strong>de</strong>r Anarchisten kommt das daher, daß sie sich vor mehr als hun<strong>de</strong>rt Jahren auf das Spiel<br />

<strong>de</strong>s Parlamentarismus eingelassen haben. Sie hatten geglaubt, sie könnten die Spielleitung austricksen,<br />

aber die Spielregeln sind klug ausgedacht. Sein<br />

36<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Rä<strong>de</strong>rwerk mahlt stetig, arbeitet zäh und hat eine ungeahnte Kraft, Menschen in seinen Bann zu ziehen,<br />

zu korrumpieren und zu integrieren. Auch die nobelste I<strong>de</strong>e, je<strong>de</strong> noch so integre* Persönlichkeit bleibt da<br />

am En<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>r Strecke.<br />

Literatur: Errico Malatesta: In Wahlzeiten Meppen 1988, Ems Kopp, 30 S. / Rudolf Rocker: Wozu noch<br />

in die Parlamente? Reutlingen 1987, Trotz<strong>de</strong>m, 82 S. / Roben P. Wolff: Eine Verteidigung <strong>de</strong>s<br />

Anarchismus Wetzlar 1979, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 88 S, / <strong>de</strong>rs.: Das Elend <strong>de</strong>s Liberalismus Frankfurt<br />

1969, Edition Suhrkamp, 261 S.<br />

Kapitel 8<br />

Kritik am Kommunismus<br />

Ich verabscheue <strong>de</strong>n Kommunismus, weil er die Negation <strong>de</strong>r Freiheit ist,<br />

und weil ich mir nichts Menschenwürdiges ohne Freiheit vorstellen kann<br />

– Michail Bakunin – (1814 - 1876)<br />

AUCH KOMMUNISTEN REDEN VOM ABSTERBEN DES STAATES. Karl Marx sah darin sogar das<br />

Endziel <strong>de</strong>s Kommunismus. Sind Anarchisten und Kommunisten also fast dasselbe? Bitten wir die<br />

rebellieren<strong>de</strong>n Sklaven aus <strong>de</strong>r Einleitung um eine Antwort: Stellen wir uns vor, zwei Leibeigene, die ein<br />

und <strong>de</strong>mselben Herrn gehören, sinnen auf Abhilfe, <strong>de</strong>nken an Befreiung und erträumen eine neue<br />

Gesellschaft. Der eine repräsentiert die kommunistische I<strong>de</strong>e, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re die anarchistische. Seien wir<br />

außer<strong>de</strong>m ruhig ein wenig witzig und nennen aus gutem Grund <strong>de</strong>n ersten Karl, <strong>de</strong>n zweiten Michail.<br />

Karl, <strong>de</strong>r Kommunist, träumt davon, daß alle Sklaven sich zusammenschließen und das Landgut seines<br />

Herrn gewaltsam übernehmen. Er ist ein grüblerischer Denker und entwickelt in seinen freien Stun<strong>de</strong>n<br />

komplizierte Begründungen dafür, warum die Sklaven und nur die Sklaven dazu ausersehen sind, die


führen<strong>de</strong> Schicht <strong>de</strong>r neuen Gesellschaft zu bil<strong>de</strong>n. Hierzu wäre es nötig, zunächst eine Diktatur <strong>de</strong>r<br />

Sklaven zu errichten, die alles bis ins Kleinste kontrolliert, plant und leitet. Alle Menschen müßten gleich<br />

sein, gleich leben und gleich <strong>de</strong>nken. Nur Sklaven und <strong>de</strong>ren Nachkommen hätten, so Karl, das richtige<br />

›sklavische Bewußtsein‹ und nur sie wären dazu befähigt, diszipliniert, fleißig und anspruchslos zu<br />

arbeiten, um diese neue Gesellschaft aufzubauen. Dummerweise wollen die Sklaven davon aber nicht viel<br />

wissen, so daß Karl und seine Anhänger sie nach weiterem Grübeln für ›noch nicht reif‹ erklären. Sie<br />

grün<strong>de</strong>n daraufhin eine ›Partei <strong>de</strong>r Sklaven‹ mit <strong>de</strong>m Ziel, <strong>de</strong>ren Avantgar<strong>de</strong> zu sein und ihnen so zu<br />

ihrem Glück zu verhelfen. Karl und seine Freun<strong>de</strong> gehören zwar zu jenen Leibeigenen, die im Herrenhaus<br />

bessere Arbeiten verrichten und nicht auf <strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>rn schwitzen müssen, sind aber <strong>de</strong>nnoch zutiefst<br />

davon überzeugt, daß nur sie wirklich wissen, was die Arbeitssklaven wollen und was ihnen gut tut.<br />

Ebensowenig zweifeln sie daran, daß sie viel besser als <strong>de</strong>r Herr <strong>de</strong>s Landgutes in <strong>de</strong>r Lage sein wer<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>n La<strong>de</strong>n zu schmeißen. "Wenn wir erst an <strong>de</strong>r Macht sind und somit <strong>de</strong>n Sklaven das Landgut ja<br />

gehört", wird Karl nicht mü<strong>de</strong> zu predigen, "dann wer<strong>de</strong>n die<br />

37<br />

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befreiten Sklaven freiwillig und begeistert arbeiten und die Partei wird die Wirtschaft nach <strong>de</strong>n<br />

Bedürfnissen <strong>de</strong>r Sklaven hervorragend managen, <strong>de</strong>nn die Partei kennt ja diese Bedürfnisse besser als<br />

irgendwer sonst..."<br />

Da kann Michail nur lachen. Er ist mehr als skeptisch. "Mein guter Karl ..." sagt er und klopft ihm<br />

kopfschüttelnd auf die Schulter, "was du da vorhast, funktioniert so nicht! Du gibst uns Sklaven keine<br />

Freiheit, son<strong>de</strong>rn einen neuen Herrn: <strong>de</strong>ine Partei. Und ob die <strong>de</strong>n La<strong>de</strong>n besser schmeißt als unser alter<br />

Herr, bezweifle ich. Ich fürchte eher, ihr wer<strong>de</strong>t die Sklaven genauso auspressen wie <strong>de</strong>r Alte, und<br />

obendrein versteht ihr noch weniger vom Geschäft." Und dann erklärt er ihm seine I<strong>de</strong>e:<br />

"Mir geht es nicht darum, diesen La<strong>de</strong>n zu übernehmen und ihn in Schwung zu bringen, damit er besser<br />

funktioniert. Ich will etwas ganz Neues schaffen, ein Leben, in <strong>de</strong>m die Freiheit obenan steht und nicht<br />

die Wirtschaft o<strong>de</strong>r die Arbeit an sich. Das Dasein soll auch Spaß machen. Alles, was auf <strong>de</strong>m Gut getan<br />

wer<strong>de</strong>n muß, sollen die Menschen - und zwar alle Menschen! - selbst organisieren. Das, was sie zum<br />

Leben brauchen, können sie sehr gut selbst entschei<strong>de</strong>n. Nicht <strong>de</strong>r Herr, nicht die Partei <strong>de</strong>r Sklaven, nicht<br />

die Wissenschaft o<strong>de</strong>r die Wirtschaft dürfen ihnen ihr Leben vorschreiben - sie selbst sollen es<br />

bestimmen."<br />

Wenn die Sklaven sich befreien wollen, so Michail, dürften sie nicht die alte Form <strong>de</strong>r Sklaverei durch<br />

eine neue ersetzen. Es bestehe auch keine Notwendigkeit, <strong>de</strong>n riesigen Betrieb unbedingt zentral zu<br />

managen. Warum sollten nicht verschie<strong>de</strong>ne kleine, gut funktionieren<strong>de</strong> Betriebe daraus entstehen? Dann<br />

könnten sich Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen und Neigungen mit Gleichgesinnten<br />

zusammenschließen.<br />

"Vor allem aber", sagt Michail und hebt beschwörend die Arme, "kannst Du die Menschen niemals zu<br />

ihrem Glück zwingen! Auch unser Herr behauptet ständig, er tue alles nur zu unserem Besten und<br />

eigentlich ginge es uns Sklaven ja gut. Als ob wir nicht selbst wüßten, was wir wünschen und wie unser<br />

Glück aussehen könnte! Was wir vor allem erstmal brauchen, ist Freiheit und Brot. In <strong>de</strong>inem System,<br />

lieber Karl, kriegen wir garantiert keine Freiheit, und ob wir dafür dann Brot haben wer<strong>de</strong>n, ist sehr<br />

fraglich. Laß uns lieber überlegen, wie wir unsere Herrschaften überlisten, und wie wir dann eine ganz<br />

an<strong>de</strong>re Gesellschaft nach unseren Bedürfnissen schaffen. Du weißt so gut wie ich, daß wir Sklaven hinter<br />

<strong>de</strong>m Rücken unseres Herrn ja schon ganz an<strong>de</strong>rs miteinan<strong>de</strong>r verkehren. Im Alltag hilft doch je<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>m,<br />

so gut er kann. Niemand will, daß sich einer zum neuen Chef aufspielt. Das sind die I<strong>de</strong>en, aus <strong>de</strong>nen eine<br />

neue Gesellschaft entstehen muß und nicht die Diktatur <strong>de</strong>iner merkwürdigen Partei, die doch nur <strong>de</strong>n<br />

Herren nachäfft. Ich meine, wir sollten die Herrschaft abschaffen, nicht austauschen ...!"<br />

"Ja, ja ... das will ich letztendlich ja irgendwie auch", wirft Karl nun ungeduldig ein. "Aber du bist und<br />

bleibst halt ein Spinner. Wir hingegen sind Wissenschaftler, und wir haben erkannt, daß <strong>de</strong>r Gang <strong>de</strong>r


Geschichte die Sklaven zur herrschen<strong>de</strong>n Klasse bestimmt hat. Erst muß diese Klasse einmal eine<br />

knallharte Diktatur errichten, um ihre Fein<strong>de</strong> zu zerstören. Später dann stirbt die Herrschaft ganz von<br />

alleine ab ..."<br />

"Und warum...?"<br />

38<br />

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"Ganz einfach: weil keine objektiven Grün<strong>de</strong> mehr für ihre Existenz da sein wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn wir sind ja alle<br />

gleich!"<br />

So ein Quatsch! Und die Bonzen <strong>de</strong>iner Partei, sind die auch so gleich wie die Sklaven? Wer<strong>de</strong>n sie dann<br />

einfach aufhören <strong>de</strong>n Chef zu spielen und wie<strong>de</strong>r arbeiten wie die an<strong>de</strong>ren? Das kannst du <strong>de</strong>iner<br />

Großmutter erzählen!"<br />

"Ich wußte ja, daß man mit dir nicht re<strong>de</strong>n kann. Euch Anarchisten sollte man in <strong>de</strong>r Diktatur <strong>de</strong>r Sklaven<br />

am besten gleich mit umbringen ..."<br />

Wie schon so oft zuvor stampft Karl zornig mit <strong>de</strong>m Fuß auf, Michail rauft sich die Haare, und bei<strong>de</strong><br />

gehen zornig auseinan<strong>de</strong>r...<br />

Eine alte Polemik<br />

Dieser fiktive* Dialog entspricht in groben Zügen <strong>de</strong>r alten Polemik* zwischen Anarchisten und<br />

Kommunisten; wir brauchen nur die Wörter ›Sklaven‹ durch ›Proletarier‹* zu ersetzen, ›Herr‹ durch<br />

›Kapitalist‹ und ›Landgut‹ durch ›Staat‹.<br />

Wir sehen: Anarchisten und Kommunisten sind nicht ›fast dasselbe‹. Bei<strong>de</strong> kommen zwar aus <strong>de</strong>rselben<br />

geschichtlichen Epoche, bei<strong>de</strong> begannen ihr Wirken im Schoß <strong>de</strong>r ›Arbeiterklasse‹, bei<strong>de</strong> wollten Unrecht<br />

und Ungleichheit bekämpfen und bei<strong>de</strong> waren gegen das ›kapitalistische System‹. Zwischen ihrem<br />

Menschenbild, ihrer Vision einer neuen Gesellschaft und <strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n, diese zu erreichen, lagen jedoch<br />

von Anfang an Welten.<br />

In <strong>de</strong>r Tat geht <strong>de</strong>r Marxismus* und später insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r Leninismus* davon aus, die Macht im Staate<br />

zu erobern, eine Diktatur <strong>de</strong>s Proletariats mittels <strong>de</strong>r Kommunistischen Partei zu errichten und diesen<br />

›proletarischen Staat‹ zu einem starken, zentralen, alles kontrollieren<strong>de</strong>n Gebil<strong>de</strong> zu machen, <strong>de</strong>r dann –<br />

wie durch ein Wun<strong>de</strong>r – irgendwann einmal ›absterben‹ soll. Dieser autoritäre Sozialismus konnte<br />

selbstverständlich die Konkurrenz einer antiautoritären Alternative niemals neben sich dul<strong>de</strong>n.<br />

In <strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rts, als die Arbeiterbewegung noch in <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rschuhen<br />

steckte und all das nichts weiter als vage I<strong>de</strong>en und graue Theorie war, waren Kommunisten und<br />

Anarchisten in einer gemeinsamen Organisation zusammengeschlossen, <strong>de</strong>r ›Ersten Internationale‹. Schon<br />

damals haben Anarchisten mit erstaunlicher Klarheit vorausgesehen, wohin die diktatorischen<br />

Vorstellungen <strong>de</strong>r Kommunisten führen wür<strong>de</strong>n, sollten sie je an die Macht gelangen. Unser erfun<strong>de</strong>ner<br />

Dialog zwischen ›Karl‹ und ›Michail‹ hat in jenen Jahren in zahllosen Varianten zwischen Marxisten und<br />

Anarchisten immer wie<strong>de</strong>r stattgefun<strong>de</strong>n. Wortführer dieses Streits waren Karl Marx und Michail<br />

Bakunin. Während Marx <strong>de</strong>n Anarchisten die ›Wissenschaftlichkeit‹ absprach und sie als ›Kleinbürger‹<br />

brandmarkte, warf Bakunin ihm vor, sich zum "Chefingenieur <strong>de</strong>r Weltrevolution" aufzuspielen. Diese<br />

Polemik führte letztlich nicht zu besserer Einsicht, son<strong>de</strong>rn zur Spaltung <strong>de</strong>r Internationale. Seit 1872<br />

gehen Kommunisten und Anarchisten getrennte Wege. Wohin <strong>de</strong>r erstere geführt hat, ist bekannt. Was die<br />

Anarchisten angeht, so haben sie mit ihrer Kritik recht behalten, ohne in<strong>de</strong>s ihre Alternative durchsetzen<br />

zu können.


Natürlich stecken auch im Marxismus freiheitliche Elemente, und man hat oft darauf<br />

39<br />

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hingewiesen, daß <strong>de</strong>r Leninismus eigentlich eine Vergewaltigung <strong>de</strong>s Marxismus sei und <strong>de</strong>r Stalinismus*<br />

seine endgültige Pervertierung*. Das stimmt. Genauso richtig ist es aber, daß schon bei Marx die<br />

freiheitlichen Elemente eher kümmerlich und beliebig eingestreut waren, während das Zentralistische,<br />

Diktatorische und Autoritäre seine Lehre schlüssig durchzog und prägte. Nicht umsonst hat Bakunin ihn<br />

als einen "Preußen" charakterisiert. Wenn <strong>de</strong>r Marxismus also von späteren Generationen pervertiert<br />

wur<strong>de</strong>, so konnte dies nur allzu leicht geschehen, <strong>de</strong>nn die ›Perversion‹ war von vornherein angelegt.<br />

Überhaupt ist es problematisch, ›Kommunismus‹ zu sagen, wenn eigentlich ›Marxismus‹ o<strong>de</strong>r<br />

›Leninismus‹ gemeint ist. ›Kommunismus‹ bezeichnet genau genommen eine Gesellschaft <strong>de</strong>r Gleichheit.<br />

Eben das ist auch gemeint, wenn wir später vom "anarchistischen Kommunismus" etwa bei Peter<br />

Kropotkin hören wer<strong>de</strong>n. Das alles hat nichts mit <strong>de</strong>r tausendfältigen Sektenbewegung ›kommunistischer‹<br />

Parteien zu tun, die dafür sorgten, daß dieser Begriff für die meisten Menschen zu einer ungenießbaren<br />

Abscheulichkeit wur<strong>de</strong>.<br />

Aber zurück zum Marxismus:<br />

Viele Anarchisten haben durchaus Marxens wirtschaftliche Analysen und seine Kritik am Kapitalismus<br />

begrüßt. Einige seiner Thesen wur<strong>de</strong>n vorbehaltlos geteilt, was nicht verwun<strong>de</strong>rt, wenn man weiß, daß<br />

Marx auf wichtigen Vorarbeiten aufbaute, die <strong>de</strong>r Anarchist Proudhon geliefert hatte. Bakunin übersetzte<br />

das "Kommunistische Manifest" und Teile von Marx' Hauptwerk "Das Kapital" ins Russische. Die bisher<br />

einzige für <strong>de</strong>n Normalmenschen verständliche Zusammenfassung dieses komplizierten Buches schrieb<br />

<strong>de</strong>r radikale Sozial<strong>de</strong>mokrat und spätere Anarchist Johann Most und machte es so <strong>de</strong>n Arbeitern erstmals<br />

verständlich, für die es eigentlich hätte geschrieben sein sollen. Was aber Marxens Schlußfolgerungen<br />

angeht, so fan<strong>de</strong>n er und seine Nachfolger in <strong>de</strong>n Libertären immer engagierte Kritiker. Vor allem<br />

konnten sie nicht begreifen, wie er sich die überdrehte Theorie <strong>de</strong>s historischen und dialektischen<br />

Materialismus* aus<strong>de</strong>nken konnte, die <strong>de</strong>n Gang <strong>de</strong>r Geschichte gewissen "objektiven Wahrheiten‹<br />

unterordnet und mit fast religiöser Überzeugung vorauszusagen wagt, was, wann, wie und warum<br />

passieren muß: Alles sei wissenschaftlich beweisbar vorbestimmt. Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Menschen passen nicht in<br />

dieses Konzept.<br />

Die Geschichte hat gezeigt, daß sich Marxisten immer wie<strong>de</strong>r und sehr gründlich geirrt haben, bis hin zu<br />

ihrem eigenen Scheitern. Wenngleich es auch in <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung zeitweise be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong><br />

Ten<strong>de</strong>nzen gab, die mit <strong>de</strong>m Marxismus sympathisierten – namentlich nach <strong>de</strong>r russischen<br />

Oktoberrevolution von 1917 und in <strong>de</strong>r westeuropäischen Stu<strong>de</strong>ntenrevolte nach 1968 –, so haben sie<br />

doch in einem Punkt <strong>de</strong>m Marxismus nie über <strong>de</strong>n Weg getraut: in <strong>de</strong>r Schizophrenie* nämlich, daß aus<br />

einer Diktatur irgendwann einmal Freiheit erwachsen könne.<br />

Ein gutes halbes Jahrhun<strong>de</strong>rt vor <strong>de</strong>n stalinistischen Greueln in <strong>de</strong>r Sowjetunion schrieb Michail Bakunin:<br />

"Vorzugeben, daß eine Gruppe von Individuen, seien es die intelligentesten und mit <strong>de</strong>n besten Absichten,<br />

in <strong>de</strong>r Lage sind, die Seele, <strong>de</strong>r leiten<strong>de</strong> und vereinigen<strong>de</strong> Wille <strong>de</strong>r revolutionären Bewegung und <strong>de</strong>r<br />

Wirtschaftsorganisation <strong>de</strong>s Proletariats zu<br />

40<br />

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sein, ist eine solche Ketzerei gegen <strong>de</strong>n Gemeinsinn, daß man mit Erstaunen fragt, wie ein so intelligenter<br />

Mensch wie Herr Marx das hat <strong>de</strong>nken können. Die Einrichtung einer universellen Diktatur (...) wür<strong>de</strong>


genügen, die Revolution zu töten, alle Volksbewegungen zu lähmen und zu verfälschen (...). Man kann<br />

das Etikett wechseln, das unser Staat trägt, seine Form – aber im Grun<strong>de</strong> bleibt er immer <strong>de</strong>r gleiche.<br />

Entwe<strong>de</strong>r muß man diesen Staat zerstören, o<strong>de</strong>r sich mit <strong>de</strong>r schändlichsten und fürchterlichsten Lüge, die<br />

unser Zeitalter hervorgebracht hat, versöhnen: <strong>de</strong>r roten Bürokratie."<br />

Literatur: Michail Bakunin: Freiheit und Sozialismus Berlin o.J. (1980?), Libertad, 28 S. / Rudolf Rocker:<br />

Absolutistische Gedankengänge im Sozialismus Darmstadt o.J. (1951?), Die freie Gesellschaft, 47 S. /<br />

Luigi Fabbri, Ch. Cornelissen: Historische und sachliche Zusammenhänge zwischen Marxismus und<br />

Anarchismus Berlin o.J. (1971?), 75 S. / Johann Most: Marxereien, Eseleien und <strong>de</strong>r sanfte Heinrich<br />

Wetzlar 1985, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 192 S., ill. / F. Amilie, H.D.Bahr, A.Kresic, R.Rocker: Anarchismus<br />

und Marxismus Berlin 1973, Karin Kramer, 132 S. / Fritz Brupbacher: Marx und Bakunin Berlin 1976,<br />

Karin Kramer, 222 S. / Pierre Ramus: Die Irrlehre <strong>de</strong>s Marxismus Wien 1927, R. Löwit, 208 S. /<br />

Benjamin R. Tucker: Staatssozialismus und Anarchismus Berlin 1908, B. Zack, 14 S. / Maurice Cransion:<br />

Ein Dialog über Sozialismus und Anarchismus Berlin 1979, Libertad, 125 S. / Daniel Guerin:<br />

Anarchismus und Marxismus Frankfurt a.M. 1975, Freie Gesellschaft, 25 S. / Bernd E. Elsner: Was ich<br />

Dir noch sagen wollte, Kommunist Karlsruhe o.J. (1978?), Laubfrosch, 18 S. / Murray Bookchin: Hör zu,<br />

Marxist! Wilnsdorf o.J. (1978?), Winddruck, 64 S.<br />

Kapitel 9<br />

Kritik am Patriarchat<br />

Wir Frauen tragen schwer unter <strong>de</strong>r Last <strong>de</strong>r Macht, die die Männer seit vielen Generationen <strong>de</strong>r Barbarei<br />

auf uns gebracht haben. Der Feminismus ist darauf aus, sich von dieser Last zu befreien und nicht darauf,<br />

die Domänen <strong>de</strong>s ›starken Geschlechts‹ zu erobern. Wir wollen uns nicht vermännlichen.<br />

- Soledad Gustavo -<br />

ES GIBT EIN VERBINDENDES ELEMENT, das wie Kitt eine Einheit zwischen all <strong>de</strong>n bisher<br />

kritisierten Strukturen - Staat, ›Demokratie‹, ›Kommunismus‹ - herzustellen scheint, und das ist <strong>de</strong>r<br />

Mann. Besser gesagt: Das ›Prinzip <strong>de</strong>s Männlichen‹. Für viele Anarchisten bei<strong>de</strong>rlei Geschlechts ist es<br />

augenfällig und kaum ein Zufall, daß es Männer waren und sind, die autoritäre Strukturen erdachten,<br />

durchsetzten und beherrschten: Männer setzen Werte und schaffen entsprechen<strong>de</strong> Tatsachen.<br />

In <strong>de</strong>r Tat leben wir weltweit in einer Männerherrschaft, <strong>de</strong>m Patriarchat. Das Patriarchat hat eigene<br />

Strukturen, die alle Menschen prägen – Männer und Frauen. Diese Strukturen sind zäh, vereinnahmend<br />

und haben sich in <strong>de</strong>r Menschheitsgeschichte rücksichtslos durchgesetzt. Genau diese Qualitäten spielen<br />

in <strong>de</strong>r Patriarchatskritik eine zentrale Rolle: Die männliche Art zu <strong>de</strong>nken, zu han<strong>de</strong>ln und zu herrschen,<br />

die fast die Gesamtheit <strong>de</strong>s Lebens beansprucht und das Geschick <strong>de</strong>r Menschheit bestimmt – und damit<br />

unseres Planeten.<br />

Frauen wollen nicht die "besseren Männer" sein.<br />

An dieser Tatsache än<strong>de</strong>rt sich auch dann nichts, wenn Frauen sich mehr Rechte erkämpfen o<strong>de</strong>r ihnen<br />

diese ›zugestan<strong>de</strong>n‹ wer<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>r Rahmen bleibt <strong>de</strong>rselbe. Hat zu Beginn <strong>de</strong>r<br />

41<br />

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Frauenbewegung eine ›Befreiung <strong>de</strong>r Frau‹ im Vor<strong>de</strong>rgrund gestan<strong>de</strong>n, die darauf abzielte, Frauen gleiche<br />

Rechte wie <strong>de</strong>n Männern zu erstreiten, so ist dieser Ansatz mehr und mehr einer globalen, allumfassen<strong>de</strong>n<br />

Kritik an <strong>de</strong>n männlichen Werten an sich gewichen. Frauen wollten immer weniger so wer<strong>de</strong>n wie die<br />

privilegierten Männer, son<strong>de</strong>rn an<strong>de</strong>rs. Bei dieser Suche stießen sie folgerichtig auf weibliche Werte. Auf<br />

diese Weise hat die Diskussion um Freiheit und menschenwürdiges Leben neue Aspekte* und Inhalte


ekommen, die in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten zu einer Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Denkansatzes geführt haben –<br />

zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>n Kreisen, die sich überhaupt kritischen Gedanken aussetzen.<br />

Jahrzehntelang war die Ökonomie das zentrale Thema kritischer Menschen, <strong>de</strong>r Dreh- und Angelpunkt für<br />

die Frage nach sozialer Freiheit. ›Die Frau‹ war dabei ein sogenannter ›Nebenwi<strong>de</strong>rspruch‹; ihre<br />

Unterdrückung wür<strong>de</strong> sich mit gerechten wirtschaftlichen Verhältnissen in Nichts auflösen... Nun kamen<br />

plötzlich zornige Frauen daher und wiesen mit verblüffen<strong>de</strong>r Einfachheit darauf hin, daß die praktizierte<br />

Ökonomie ja wohl eine reine ›Männerwirtschaft‹ sei, und daß diese Art wirtschaftend zu unterdrücken<br />

männliche Qualität habe. Gleiches ließe sich unterm Strich über die Ursachen <strong>de</strong>r weltweiten<br />

ökologischen Katastrophe sagen, wie über die Art, mit <strong>de</strong>r die (Männer-) Gesellschaft glaubt, ihrer Herr<br />

zu wer<strong>de</strong>n. Hierarchie und Kirche, Medizin und Wissenschaft, Politik und Erziehung - all das wur<strong>de</strong> nun<br />

unter <strong>de</strong>m Aspekt <strong>de</strong>r Patriarchatskritik betrachtet und führte prompt zu <strong>de</strong>r Erkenntnis, daß es spezifisch<br />

männliche Formen und Strukturen seien, die sich durchgesetzt haben. Es han<strong>de</strong>lt sich dabei übrigens um<br />

dieselben Strukturen, die <strong>de</strong>r Anarchismus mit Vorliebe kritisiert.<br />

Auf <strong>de</strong>r Suche nach <strong>de</strong>n weiblichen Werten<br />

Der Kritik an typisch männlichen Werten folgte natürlich die spannen<strong>de</strong> Frage nach <strong>de</strong>r Qualität typisch<br />

weiblicher Werte, was wie<strong>de</strong>rum zahllose weitere Fragen aufwarf, die sich daraus ableiten. Etwa, ob<br />

solche Werte unabän<strong>de</strong>rlich und angeboren o<strong>de</strong>r gesellschaftlich bedingt und somit verän<strong>de</strong>rbar seien.<br />

Sind Frauen die besseren Menschen? Sollen Frauen gegen die Männer ihren eigenen Weg gehen und<br />

Männer ignorieren? Sollen sie statt <strong>de</strong>s Patriarchats ein Matriarchat durchsetzen, o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n Männern<br />

einen an<strong>de</strong>ren, neuen und gemeinsamen Weg suchen?<br />

Auch bei Frauen gibt es auf viele Fragen viele Antworten, und so gehen Meinungen und Überzeugungen<br />

in diesen Punkten auseinan<strong>de</strong>r. Und gewiß gibt es auch dogmatische Fraktionen in <strong>de</strong>r Frauenbewegung,<br />

ebenso wie es in ihr phantastische und erschrecken<strong>de</strong>, kluge und dumme Ansätze gibt, aufgesetzte<br />

Attitü<strong>de</strong>n und vergängliche Mo<strong>de</strong>n. Gera<strong>de</strong> Männer, die sich von selbstbewußten Frauen verunsichert<br />

fühlen, weisen gerne und mit Häme auf solche ›Schwachpunkte‹ hin, wobei sie natürlich verschweigen,<br />

daß dies ausnahmslos auf alle Bewegungen zutrifft, einschließlich <strong>de</strong>r anarchistischen. Worte wie dumm,<br />

erschreckend, aufgesetzt und modisch passen ebensogut auf vieles, was die Männergesellschaft an<br />

Typischem hervorgebracht hat...<br />

In Wirklichkeit sind die Frauen, die sich auf die Suche nach ihrer I<strong>de</strong>ntität begeben und<br />

42<br />

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diese mit <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r Menschheit verknüpft haben, erst am Beginn eines langen Weges. Das ist nicht<br />

erstaunlich:<br />

Zum ersten ist all das, was einst an weiblichen Traditionen existiert haben mag, heute verschüttet, um es<br />

gelin<strong>de</strong> auszudrücken. Auch Geschichtsschreibung, Philosophie und Kirche sind männliche Domänen,<br />

und Männer haben alles nur Er<strong>de</strong>nkliche getan, um jene Bereiche, in <strong>de</strong>nen Frauen die Gesellschaft<br />

prägten, zu verschleiern. Matriarchale Tradition und die mit ihr verbun<strong>de</strong>nen Erfahrungen müssen heute –<br />

unabhängig von <strong>de</strong>r Frage, ob das nun alles gut war o<strong>de</strong>r nicht – erst einmal mühsam rekonstruiert und<br />

erforscht wer<strong>de</strong>n: von <strong>de</strong>r mystischen* Kultur <strong>de</strong>r einstigen Weltengöttin Gaia bis hin zur ausgerotteten<br />

Welt <strong>de</strong>r letzten ›wissen<strong>de</strong>n Frauen‹, die man vor noch nicht allzulanger Zeit in einem perfekt<br />

organisierten Femizid* als ›Hexen‹ verbrannte. Dabei för<strong>de</strong>rt die unermüdliche Frauenforschung ständig<br />

neue Bruchstücke zu Tage. Mit Erstaunen ent<strong>de</strong>cken wir, daß es vor <strong>de</strong>m Patriarchat auch schon ein<br />

gesellschaftliches Leben gab. In ihm waren überwiegend Frauen tonangebend, und nach allem was wir<br />

wissen, scheint es da durchaus humaner und weniger hierarchisch zugegangen zu sein als bei allem, was<br />

folgte. Dieses Mosaik verschie<strong>de</strong>ner Gesellschaften wird heute unter <strong>de</strong>m Begriff Matriarchat<br />

zusammengefaßt.


Wohlverstan<strong>de</strong>ne Kritik am Patriarchat sollte übrigens keine ›Frauensache‹ sein, ist es aber ganz<br />

überwiegend. Das wird wohl auch so bleiben, solange Männer nicht begreifen, daß ›spezifisch weibliche‹<br />

Werte und Sichtweisen für sie nicht unbedingt eine Bedrohung sind, son<strong>de</strong>rn auch eine Bereicherung sein<br />

können.<br />

Nun will <strong>de</strong>r Anarchismus natürlich kein Matriarchat, son<strong>de</strong>rn ein Anarchat. Niemand soll herrschen,<br />

auch keine Frauen, selbst, wenn sie es ›besser‹ könnten. In diesem Sinne aber wird das antike Matriarchat<br />

von <strong>de</strong>n meisten Anarcha-Feministinnen auch nicht verstan<strong>de</strong>n - eher als eine Quelle <strong>de</strong>r Inspiration und<br />

Kritik, als Trümmerfeld verschütteter femininer* Tugen<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>nen wir einige heute vielleicht bitter<br />

nötig hätten.<br />

Die Kritik am Patriarchat ist <strong>de</strong>shalb mehr als nur ein ›interessanter Aspekt‹ o<strong>de</strong>r eine ›anregen<strong>de</strong><br />

Bereicherung‹ <strong>de</strong>s anarchistischen Standpunktes. Sie ist radikal und global; daß sie dabei zwangsläufig<br />

auch einseitig sein muß, ist klar – aber das muß eine psychologische o<strong>de</strong>r ökonomische Kritik <strong>de</strong>r<br />

bestehen<strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong> ebenso wie eine ökologische o<strong>de</strong>r ethische. ›Einseitig‹ ist schließlich auch <strong>de</strong>r<br />

Anarchismus selbst, aber bisweilen gibt es nichts, was Zusammenhänge klarer macht, als eine gewisse<br />

Einseitigkeit. So wie <strong>de</strong>r Blick durch eine Lupe o<strong>de</strong>r ein Mikroskop. Die Kritik am Patriarchat ist fraglos<br />

ein leistungsfähiges Mikroskop. Mit seinen Bil<strong>de</strong>rn können wir nicht alles, aber einiges interpretieren,<br />

was bisher mit Erfolg verdrängt wur<strong>de</strong>.<br />

Literatur: Eileen Power: Als Adam grub und Eva spann, wo war da <strong>de</strong>r E<strong>de</strong>lmann? - Das Leben <strong>de</strong>r Frau<br />

im Mittelalter Berlin 1984, Karin Kramer, 142 S. / Peggy Komegger, Carol Ehrlich: Anarcha-Feminismus<br />

Berlin 1979, Libenad, 120 S. / Emma Goldman: La Tragödie <strong>de</strong> l'Emancipation Feminine Orleans o.J.<br />

(1907?), 14 S. / Victor Yarros, Sarah E. Holmes: Die Frauenfrage Berlin o.J. (1908?), B. Zack, 22 S. /<br />

Berta Lask: Unsere Aufgabe an <strong>de</strong>r Menschheit Berlin 1923, Der Syndikalist, 60 S. / Cornelia Regln:<br />

Anarchismus und Frauenemanzipation in historischer Perspektive in: <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong> (Hrg): "Frauen <strong>de</strong>r<br />

Anarchie", Anarch. Wandkalen<strong>de</strong>r 1991, Neustadt/Wstr. 1990 / Marie-Theres Knapper: Feminismus,<br />

Autonomie, Subjektivität Bochum 1984, Germinal Verlag, 15 s S.<br />

43<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Kapitel 10<br />

Freie Liebe und an<strong>de</strong>re praktische Nutzanwendungen<br />

"Die Liebe ist eine Verächterin aller Gesetze, aller Vorschriften (...)<br />

Wenn die Welt jemals Gleichheit und Einigkeit hervorbringen wird,<br />

wird es nicht mehr die Ehe, son<strong>de</strong>rn nur noch Liebe geben!"<br />

- Emma Goldman -<br />

GENUG KRITISIERT! MECKERN IST KEINE ANTWORT und notorische Besserwisser sind nirgends<br />

beliebt. Anarchisten geht es ja nicht um Rechthaberei, son<strong>de</strong>rn um alternative Mo<strong>de</strong>lle - Lebensentwürfe,<br />

die sich von <strong>de</strong>n Standards* heutiger Gesellschaftsformen unterschei<strong>de</strong>n. Sie sollen alle Lebensbereiche<br />

umfassen, von größtmöglicher Freiheit geprägt sein und auf menschlicher Gegenseitigkeit beruhen. Je<strong>de</strong><br />

anarchistische Alternative ist daher im Grun<strong>de</strong> nichts weiter als die praktische Nutzanwendung dieses<br />

Prinzips auf eine konkrete Situation. Deshalb ist die Zahl <strong>de</strong>r Themen, zu <strong>de</strong>nen libertäre Alternativen<br />

entwickelt wur<strong>de</strong>n, unübersehbar groß. Betrachten wir daher zwei exemplarische* Beispiele.<br />

Beispiel "Freie Liebe"<br />

Die Freie Liebe ist ein von <strong>de</strong>r russisch-amerikanischen Anarchistin Emma Goldman popularisierter*<br />

Begriff - ein Schlagwort, das zu allen Zeiten die Phantasie <strong>de</strong>r Spießer zu beflügeln vermochte.


Verklemmte Zeitgenossen stellen sich darunter bis auf <strong>de</strong>n heutigen Tag nur allzugern eines vor:<br />

zügellosen Sex. Je<strong>de</strong> und je<strong>de</strong>r schläft mit je<strong>de</strong>m und je<strong>de</strong>r, es gibt we<strong>de</strong>r Bindungen noch<br />

Verantwortung, statt<strong>de</strong>ssen Gier, Wollust und Unmoral...<br />

In Wahrheit ist das anarchistische I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r Freien Liebe so ziemlich das Gegenteil all <strong>de</strong>ssen. Die<br />

wüten<strong>de</strong>n Reaktionen, die Emma Goldman erfahren mußte, spiegeln <strong>de</strong>nn auch mehr die voyeuristischen*<br />

Wunschphantasien <strong>de</strong>r meist männlichen Meinungsmacher wi<strong>de</strong>r, die angesichts einer ebenso brillant wie<br />

heftig vorgetragenen Kritik an <strong>de</strong>r Männergesellschaft reihenweise ausrasteten. Aber auch puritanische<br />

Vertreterinnen <strong>de</strong>r Frauenbewegung fan<strong>de</strong>n die political correctness* jener Tage verletzt und erklärten sie<br />

zu einer "Heidin", die "reif für <strong>de</strong>n Marterpfahl" sei.<br />

Was ist so schlimm an <strong>de</strong>r Freien Liebe?<br />

Nichts, außer daß sie die Erniedrigungen <strong>de</strong>r Ehe, die Fesseln <strong>de</strong>r Moral und die Unterdrückung in einer<br />

männerbestimmten Gesellschaft aufzeigt, um einen Weg aus dieser Abscheulichkeit zu weisen. Womit<br />

mehr als ein Tabu verletzt war. Für Emma Goldman kann eine menschliche Gesellschaft letztlich nur in<br />

einem verantwortungsvollen, gleichrangigen und stark gefühlsbetonten Miteinan<strong>de</strong>r von befreiten Frauen<br />

und Männern bestehen. Das heißt nicht, daß sie etwa Sympathien für das Patriarchat aufbrächte o<strong>de</strong>r gar<br />

die Fehlleistungen <strong>de</strong>r Männergesellschaft verniedlicht. Red Emma bleibt ihr Leben lang schonungslos<br />

offen – eine Streiterin gegen je<strong>de</strong> Art <strong>de</strong>r Verlogenheit. Gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb geißelt sie ebenso unnachsichtig<br />

das "Trauerspiel von <strong>de</strong>r Befreiung <strong>de</strong>r Frau", <strong>de</strong>nn sie ist radikaler und vorausschauen<strong>de</strong>r als viele ihrer<br />

Zeitgenossinnen. Für sie kann es keine Lösung sein,<br />

44<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

wenn sich die Frauenbewegung darin erschöpft, die Männergesellschaft einfach umzudrehen, in<strong>de</strong>m<br />

Frauen <strong>de</strong>n Beweis erbringen wollen, sozusagen die ›besseren Männer‹ zu sein. Bei <strong>de</strong>n damals<br />

tonangeben<strong>de</strong>n "Frauenrechtlerinnen", <strong>de</strong>ren "aseptischen* Puritanismus" sie als "Beschränktheit"<br />

anprangert, kommt sie mit solchen Attacken natürlich nicht gut an.<br />

Vehement* reklamiert* sie das Recht auf die eigenen Werte <strong>de</strong>r Frau, und die sind bei Emma Goldman<br />

immer stark gefühlsbetont, kämpferisch, selbstbewußt, spontan und auch erotisch. In fast romantischen<br />

Bil<strong>de</strong>rn beschwört sie die subversiven Kräfte, die in <strong>de</strong>r Befreiung von Frau und Mann liegen. Den<br />

"zwangsmäßigen, alten Jungfern" <strong>de</strong>r reinen Frauenlehre setzt sie ihre erfrischen<strong>de</strong>, lebensbejahen<strong>de</strong> und<br />

durchaus optimistisch angelegte These <strong>de</strong>r "freien Liebe" entgegen, in <strong>de</strong>r die Freiheit <strong>de</strong>r Sexualität eine<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielt. Und sie lebt sie auch vor, selbstbestimmt und provokant.<br />

Es geht ihr dabei nicht um ›Sex‹. Sexualität, Freiheit, Emotion, menschliche Wärme, Selbstbestimmung,<br />

bewußte Mutterschaft, Liebe, Revolution, Partnerschaft und Verantwortlichkeit sind bei ihr Begriffe, die<br />

alle etwas miteinan<strong>de</strong>r zu tun haben und untrennbar verbun<strong>de</strong>n bleiben müssen. Falls nicht, wür<strong>de</strong> sich<br />

auch nichts Wesentliches än<strong>de</strong>rn.<br />

Ihr Ansatzpunkt dabei ist die Ehe, die sie als sklavischen "Versicherungs- und Wirtschaftsvertrag"<br />

beschreibt, notwendig, um die Frauen in Abhängigkeit und <strong>de</strong>n Staat stabil zu erhalten. Ehe habe mit<br />

Liebe nichts zu tun und Liebe nichts mit Ehe: Wo keine Gefühle bestehen, könne die Ehe sie auch nicht<br />

herstellen, und wo sie existieren, brauche es die Ehe nicht. Folgerichtig wer<strong>de</strong> Sexualität - für Emma<br />

Goldman die "natürlichste und gesün<strong>de</strong>ste Sache" <strong>de</strong>r Welt – nach <strong>de</strong>r Hochzeit nur zu oft zur Prostitution<br />

um <strong>de</strong>n Preis <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Sicherheit. Die Alternative für die Frau bestün<strong>de</strong> höchstens in<br />

beruflicher Karriere. In dieser Gesellschaft jedoch, so zeigt sie auf, führe auch dies selten zur<br />

Unabhängigkeit <strong>de</strong>r Frau – geschweige <strong>de</strong>nn zu Freiheit o<strong>de</strong>r gar zu Glück.<br />

An die Stelle einer solchen Zwangsinstitution setzt Emma Goldman die freie Beziehung zwischen<br />

verantwortlichen Individuen. Die Sicherheit von Mutter und Kind soll – wenn eine Beziehung emotional


stirbt – nicht durch das künstliche Zwangskonstrukt einer Ehe garantiert wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn durch ein<br />

System gegenseitiger Hilfe in solidarischen Gemeinschaften, die allen Menschen Unabhängigkeit bieten –<br />

nicht nur wirtschaftliche. Gemeinschaften, in <strong>de</strong>nen Frauen in die Lage versetzt wären, auch ohne ›ihren<br />

Mann‹, mit o<strong>de</strong>r ohne Kind, <strong>de</strong>n eigenen Weg zu gehen. Das be<strong>de</strong>utete ihr zufolge das En<strong>de</strong> patriarchaler<br />

Erpreßbarkeit und <strong>de</strong>n Triumph ehrlicher Liebe in Selbstbestimmung. In letzter Konsequenz bedürfe es<br />

dazu einer neuen Gesellschaft. Genau <strong>de</strong>shalb war Emma Goldman Revolutionärin und nicht Reformistin.<br />

Gleichzeitig war sie insoweit konsequent und realistisch, die Umsetzung ihrer I<strong>de</strong>en nicht auf <strong>de</strong>n Sankt-<br />

Nimmerleinstag zu verschieben. Hier und heute müsse begonnen wer<strong>de</strong>n, solche Rechte einzufor<strong>de</strong>rn und<br />

entsprechen<strong>de</strong> Utopien in <strong>de</strong>n Kreisen emanzipierter Menschen vorzuleben.<br />

Natürlich beschränkt sich die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r freien Liebe nicht nur auf Frau und Mann, Mutter und Kind. Sie<br />

for<strong>de</strong>rt die freie Entscheidung <strong>de</strong>r Menschen für je<strong>de</strong> Art von Zuneigung und Sexualität. Das schließt<br />

homosexuelle* Liebe ebenso mit ein wie etwa Mehrfachbeziehungen<br />

45<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

o<strong>de</strong>r Selbstbefriedigung. Bis heute sind Lesben* und Schwule* Opfer von Verfolgung und Demütigung -<br />

umso lebhafter dürfen wir uns <strong>de</strong>n Skandal vorstellen, <strong>de</strong>n solche I<strong>de</strong>en um die Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong><br />

auslösten. Vom Untergang <strong>de</strong>r Zivilisation war die Re<strong>de</strong> und vom unnatürlichen Zwang zu Promiskuität*<br />

und sexueller Hochleistung. Das ist, wenn keine gewollte Verleumdung, zumin<strong>de</strong>st eine völlig falsche<br />

Auffassung von <strong>de</strong>r freien Liebe. Sie ist we<strong>de</strong>r ein Leistungssport noch eine Zwangsübung darin, mehrere<br />

Menschen lieben zu müssen und keine Eifersucht kennen zu dürfen. Sie schließt aber die Freiheit<br />

<strong>de</strong>rjenigen ein, die dies wollen o<strong>de</strong>r können, es auch zu tun.<br />

I<strong>de</strong>en dieser An waren zu jener Zeit zwar nicht mehr völlig neu - schon Bakunin und Kropotkin hatten<br />

sich für die Freiheit von Liebe und Sexualität ausgesprochen - aber noch allemal brisant*. Die<br />

Diskussionen in <strong>de</strong>r heutigen Frauenbewegung zeigen, wie aktuell sie nach wie vor sind. Generationen<br />

von Anarchistinnen und Anarchisten haben inzwischen versucht, die Visionen <strong>de</strong>r Emma Goldman zu<br />

leben - allen voran sie selbst. ›Freie Liebe‹ wur<strong>de</strong> ein fester Bestandteil anarchistischer Überzeugung, und<br />

viele machten ernst: Die Ehe als übliche Norm sozialer Organisation ist bei <strong>de</strong>n meisten Anarchisten -<br />

zumin<strong>de</strong>st theoretisch - verpönt; an ihre Stelle traten die verschie<strong>de</strong>nsten Formen offener Beziehungen.<br />

Von einzelnen Paaren über Gruppen, Gemeinschaften und Kommunen bis hin zu sozialen Großgebil<strong>de</strong>n<br />

wie <strong>de</strong>n libertären Kollektiven Spaniens o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Kibbuzim in Israel wur<strong>de</strong> und wird nach Alternativen<br />

zu <strong>de</strong>n sozialen Fesseln von Ehe und Abhängigkeit gesucht.<br />

Die Erfahrungen hierbei waren vielfältig und wi<strong>de</strong>rsprüchlich. Es gab ebensogut Tragödien wie Triumphe<br />

und niemand – am wenigsten Emma Goldman – hätte geglaubt, mit <strong>de</strong>m Konzept <strong>de</strong>r ›Freien Liebe‹ eine<br />

Zauberformel zur ungetrübten Glückseligkeit gefun<strong>de</strong>n zu haben. Neue soziale Umgangsformen fallen<br />

nicht vom Himmel, sie müssen erlernt wer<strong>de</strong>n. Eines aber scheinen all jene Versuche zu bestätigen: Eine<br />

ehrliche, offene und gleichberechtigte Beziehung zwischen <strong>de</strong>n Geschlechtern ist - auch wenn es ein<br />

schwieriges Lernen ist – möglich. Und sie ist gewiß menschlicher, freier und vielfältiger als die<br />

herkömmliche Institution <strong>de</strong>r Ehe.<br />

Die freie Schule<br />

Für Anarchisten ist auch das herkömmliche Erziehungssystem ein rotes Tuch. Ebenso wie in Ehe und<br />

Normfamilie, sehen sie im staatlichen Schulsystem eine tragen<strong>de</strong> Säule <strong>de</strong>r Macht - bei<strong>de</strong> trügen dazu bei,<br />

Hierarchie immer wie<strong>de</strong>r neu zu verinnerlichen:<br />

In <strong>de</strong>r Schule - gleichgültig ob staatlich o<strong>de</strong>r religiös geprägt - wür<strong>de</strong>n Untertanen hergestellt. Auch wenn<br />

als Erziehungsziel offiziell <strong>de</strong>r ›kritische und mündige Staatsbürger‹ gefor<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>, bleibe es immer<br />

noch beim Staatsbürger. Neben Lesen, Schreiben, Rechnen und viel ›Sachwissen‹ wer<strong>de</strong> vor allem eines<br />

gelehrt: Anpassung an die bestehen<strong>de</strong>n Gesellschaftsverhältnisse - zwar nicht als Lehrfach, aber überall<br />

versteckt. Und selbst das angeblich wertfreie ›Sachwissen‹ stecke bei näherem Hinsehen voller


Einseitigkeit, I<strong>de</strong>ologie und Phantasielosigkeit. Vielfalt, wirkliche Alternativen und vor allem Freiheit <strong>de</strong>s<br />

Lernens gebe es nicht.<br />

46<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Nach anarchistischer Auffassung ist Lernen in allen unseren Gesellschaften ein institutionalisierter*<br />

Zwangsprozeß, und <strong>de</strong>r Staat hält hierüber in <strong>de</strong>r Regel das Monopol. Er weiß auch, warum: Staatlich<br />

gesteuertes Lernen ist die beste Garantie dafür, daß alles beim alten bleibt. I<strong>de</strong>ologien mögen wechseln,<br />

Lehrpläne sich än<strong>de</strong>rn - die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n gesellschaftlichen Grundwerte, die vermittelt wer<strong>de</strong>n, tun es<br />

nicht. Egal, ob ich Mathe, Geschichte o<strong>de</strong>r Deutsch pauke, immer lerne ich auch mit, daß es oben und<br />

unten, Herrscher und Beherrschte, Staat und Autorität gibt. Dies in Frage zu stellen, wird an keiner Schule<br />

gelehrt.<br />

Eine freie Gesellschaft braucht freie Menschen. Wenn je<strong>de</strong> neue Generation von Kin<strong>de</strong>sbeinen an<br />

ten<strong>de</strong>nziell zur Unfreiheit erzogen wird, liegt es nahe, hier anzusetzen und für <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r Erziehung<br />

libertäre Alternativen zu entwickeln. Bei dieser praktischen Nutzanwendung <strong>de</strong>s Freiheitsprinzips geht es<br />

um dreierlei. Zum einen sollten <strong>de</strong>m Staat möglichst viele Kin<strong>de</strong>r entzogen wer<strong>de</strong>n. Das ist in erster Linie<br />

ein politisch-organisatorisches Problem. Zweitens sollten an<strong>de</strong>re Inhalte und Werte gelehrt wer<strong>de</strong>n. Das<br />

ist vor allem ein intellektuell*-theoretisches Problem. Nicht zuletzt sollten natürlich an<strong>de</strong>re Formen <strong>de</strong>s<br />

Lehrens und Lernens erprobt wer<strong>de</strong>n. Das ist ein überwiegend didaktisches* Problem. Viel Arbeit also<br />

und kein leichtes Unterfangen.<br />

Daß anarchistische Pädagogik nicht so aussehen konnte wie staatliche, war seit jenen Tagen klar, als<br />

Anarchisten begannen, "Freie Schulen" aufzubauen. Und das geschah schon im vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rt.<br />

Nicht auf das Drillen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r, ihre Ausrichtung auf eine I<strong>de</strong>ologie o<strong>de</strong>r die Aufnahme von möglichst<br />

viel Wissen kam es dabei an – und natürlich auch nicht darauf, aus <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Anarchisten von<br />

heute die Anarchisten von morgen zu züchten. Libertäre Eltern wünschten sich vielmehr Kin<strong>de</strong>r, die<br />

selbständig <strong>de</strong>nken, han<strong>de</strong>ln und entschei<strong>de</strong>n könnten, fähig zur Freiheit und ebenso tolerant wie<br />

selbstbewußt.<br />

Aber nicht nur die Kin<strong>de</strong>r, auch die Erwachsenen! Lernen und Lehren sollte nicht an ein Alter gebun<strong>de</strong>n<br />

sein, son<strong>de</strong>rn ein ständiger und gegenseitiger Prozeß - weitgehend selbstbestimmt und ›lebenslänglich‹,<br />

wenn es gewünscht wäre. Die Lerninhalte dürften nicht starr und für alle gleich sein, son<strong>de</strong>rn müßten sich<br />

nach <strong>de</strong>n individuellen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Talenten eines je<strong>de</strong>n Menschen richten. An erster<br />

Stelle stün<strong>de</strong>n nicht Leistungsdruck und Erfolg, die alle Menschen in die gleichen Formen pressen, die<br />

eine industrielle Leistungsgesellschaft so gut gebrauchen kann, son<strong>de</strong>rn die Talente und Vorlieben eines<br />

je<strong>de</strong>n – gleichgültig, ob intellektuell, handwerklich o<strong>de</strong>r musisch. Leistung, so die Anarchisten, erbringen<br />

Menschen viel lieber freiwillig und viel besser in <strong>de</strong>n Bereichen, für die sie begabt sind. Auch die<br />

Grenzen zwischen Lehren<strong>de</strong>n und Lernen<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n in Frage gestellt. Schüler sollten <strong>de</strong>n Unterricht<br />

genauso mitbestimmen und mitgestalten wie Lehrer.<br />

Das sind so weitreichen<strong>de</strong> und umwälzen<strong>de</strong> For<strong>de</strong>rungen, daß es angebracht erscheint, das Ganze gar<br />

nicht mehr ›Erziehung‹ o<strong>de</strong>r ›Pädagogik‹ zu nennen. Bildung, gegenseitiges Lernen o<strong>de</strong>r lernen<strong>de</strong>s Leben<br />

wären treffen<strong>de</strong>re Bezeichnungen. Das Ziel anarchistischer Bildung besteht schließlich darin, die<br />

künstliche Trennung zwischen Leben und Lernen aufzuheben; letztendlich soll dadurch einmal die<br />

›Institution Schule‹ – zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>r Form, wie wir sie kennen – überflüssig wer<strong>de</strong>n.<br />

47<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Zunächst einmal galt es aber, praktische Alternativen im Alltag aufzuzeigen. Und da gab es vor hun<strong>de</strong>rt


Jahren sehr handfeste Aufgaben. In einer Zeit, als Kin<strong>de</strong>r zu glühen<strong>de</strong>n Patrioten abgerichtet o<strong>de</strong>r zu<br />

gläubigen Katholiken geprügelt wur<strong>de</strong>n, war es schon ein enormer Fortschritt, wenn Unterricht<br />

rationalistisch*, frei von Religion, Rassismus, Nationalismus und Schlägen war. Wenn Kin<strong>de</strong>r ernst<br />

genommen wur<strong>de</strong>n und sich im Unterricht einbringen durften. Und wenn die Schule nicht nur <strong>de</strong>n<br />

Reichen offenstand.<br />

Leo Tolstoi, <strong>de</strong>r ›religiöse Anarchist‹, grün<strong>de</strong>t bereits 1859 die Schule von Jasnaja Poljana und gilt als<br />

Pionier <strong>de</strong>r libertären Pädagogik. Zum ersten Mal in großem Stil wer<strong>de</strong>n solche I<strong>de</strong>en jedoch in <strong>de</strong>r<br />

Bewegung <strong>de</strong>r ›freien Schulen‹ verwirklicht, die <strong>de</strong>r spanische Pädagoge Francisco Ferrer 1901 mit <strong>de</strong>r<br />

Gründung <strong>de</strong>r Escuela Mo<strong>de</strong>rna in Barcelona beginnt. Diese Art anarchistischer Schulen breiten sich in<br />

Spanien rasch aus und entstehen bald auch im Ausland. Zum ersten Male wer<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r systematisch <strong>de</strong>r<br />

Erziehung von Staat und Kirche entzogen. Die spanische Regierung muß Ferrers Schulwerk als ernste<br />

Bedrohung aufgefaßt haben, <strong>de</strong>nn 1909 wird <strong>de</strong>r fünfzigjährige Pädagoge aufgrund konstruierter<br />

Anschuldigungen vor Gericht gestellt. Man wirft ihm die ›geistige Urheberschaft‹ eines militanten<br />

Generalstreiks vor und verurteilt ihn in einem haarsträuben<strong>de</strong>n Prozeß zum To<strong>de</strong>. Die Vermutung, das<br />

Erziehungsmonopol sei ein wun<strong>de</strong>r Punkt <strong>de</strong>s Staates, hatte sich auf tragische Weise bestätigt ...<br />

Siebenundzwanzig Jahre nach Ferrers Hinrichtung sollte seine I<strong>de</strong>e einen späten Triumph feiern:<br />

Während <strong>de</strong>r spanischen Revolution gab es in manchen Provinzen <strong>de</strong>r Halbinsel mehr ›freie Schulen‹ als<br />

staatliche. Der neue Schultyp erwies sich hierbei als sehr attraktiv und erfolgreich.<br />

Die libertäre Pädagogik ist nicht bei Tolstoi und Ferrer stehengeblieben. Nicht nur die Zahl praktischer<br />

Versuche wuchs, auch die Inhalte und erzieherischen Konzepte wan<strong>de</strong>lten sich. Alice und Otto Rühle,<br />

Alexan<strong>de</strong>r S. Neill, Ivan Illich, João Freire o<strong>de</strong>r Joel Spring sind nur einige <strong>de</strong>r radikalen<br />

Erziehungskritiker und Schulpioniere, die auf <strong>de</strong>r libertären Tradition aufbauen konnten. Einiges von<br />

<strong>de</strong>m, was Ferrer - umwälzend für seine Zeit - for<strong>de</strong>rte, existiert heute sogar, zumin<strong>de</strong>st theoretisch, in<br />

vielen Schulen staatlicher Erziehungssysteme. Dabei sollte es ja nur ein Anfang sein. Wenngleich heute<br />

die Erfahrung größer, das Wissen über Lernpsychologie tiefer und die Experimente vielfältiger sind als<br />

vor hun<strong>de</strong>rt Jahren, ist doch das Ziel das gleiche geblieben: menschliche, freie Alternativen zum<br />

herkömmlichen Bildungssystem aufzubauen, in <strong>de</strong>nen selbstbestimmtes Lernen ohne Zwang und<br />

Hierarchie möglich wird. Längst ist diese Vorstellung von Erziehung keine anarchistische Domäne*<br />

mehr, was gewiß kein Scha<strong>de</strong>n ist. Vermutlich wissen die wenigsten Menschen, die heute freie Schulen<br />

aufbauen, um die libertären Wurzeln dieser Art von Pädagogik. Das Etikett tut auch wenig zur Sache,<br />

solange die Inhalte stimmen.<br />

Geblieben aber sind die Schwierigkeiten. Zwar wer<strong>de</strong>n Alternativpädagogen heute nicht mehr erschossen,<br />

aber nach wie vor reagiert <strong>de</strong>r Staat empfindlich, wenn Menschen versuchen, Kin<strong>de</strong>r seinem<br />

Erziehungsmonopol zu entziehen. Freie Schulformen wie etwa Summerhill in England o<strong>de</strong>r Tvind in<br />

Dänemark bleiben seltene und ständig bedrohte Ausnahmen, und überall in <strong>de</strong>r Welt wer<strong>de</strong>n weniger<br />

berühmte Schulen mißtrauisch<br />

48<br />

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beäugt, verfolgt o<strong>de</strong>r geschlossen. Beson<strong>de</strong>rs in Deutschland: Bei uns bewegt sich die Gründung einer<br />

freien Schule immer noch hart am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Kriminalität. Es liegt mit Sicherheit nicht an mangeln<strong>de</strong>m<br />

Interesse bei Eltern und Kin<strong>de</strong>rn, daß es hierzulan<strong>de</strong> gera<strong>de</strong> mal ein halbes Dutzend solcher Einrichtungen<br />

gibt.<br />

Die freie Vereinbarung<br />

Grundmuster <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n hier gezeigten Beispiele und vieler weiterer, die noch dargestellt wer<strong>de</strong>n könnten,<br />

ist die freie Vereinbarung. Was heißt das?<br />

Zunächst einmal, daß Menschen einan<strong>de</strong>r ernst nehmen. Sie erkennen an, daß je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re auch einen<br />

Willen hat, Interessen, Neigungen und Wünsche. Treten Menschen in Verbindung, müssen sich auch


diese Interessen verbin<strong>de</strong>n. Entwe<strong>de</strong>r, sie passen zusammen o<strong>de</strong>r nicht. Demzufolge gibt es dann eine<br />

Verbindung o<strong>de</strong>r eben keine. Manchmal passen sie auch nur ein wenig zusammen. Dann gibt es eine<br />

weniger intensive Verbindung – man nennt das auch Kompromiß –, o<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong> verzichten auf<br />

Gemeinsames. In<strong>de</strong>m aber Menschen zusammenkommen, gibt es Austausch. Erfahrungen wer<strong>de</strong>n<br />

gemacht, Lernprozesse fin<strong>de</strong>n statt, Meinungen können sich än<strong>de</strong>rn. Freiwillig, also selbstbestimmt und<br />

nicht – wie heute allgemein üblich – fremdbestimmt durch Vorschriften, Gesetze, Religion o<strong>de</strong>r<br />

moralischen Druck.<br />

Für Anarchisten gibt es keine gesun<strong>de</strong> Beziehung zwischen Menschen, wenn sie aus Zwang entsteht –<br />

we<strong>de</strong>r zwischen Frau und Mann, zwischen Schüler und Lehrer noch sonstwo. Der Mensch tue das am<br />

besten, wovon er überzeugt ist.<br />

So einfach ist die Grundi<strong>de</strong>e vom selbstbestimmten Han<strong>de</strong>ln und doch so an<strong>de</strong>rs als die Handlungsmuster<br />

<strong>de</strong>r gegenwärtigen Gesellschaften: Soziale Vereinbarungen, die unser heutiges Leben bestimmen, sind<br />

we<strong>de</strong>r frei noch recht eigentlich Vereinbarungen. Wir sind alle ungefragt <strong>de</strong>n selben Gesetzen<br />

unterworfen, die wir nicht gemacht haben. Hätten wir sie gemacht, wür<strong>de</strong>n wir sie wohl eher befolgen.<br />

Hätten wir uns an<strong>de</strong>re, bessere Regeln gegeben, die unseren Bedürfnissen mehr entsprechen, wären wir<br />

töricht, wenn wir überhaupt gegen sie verstießen.<br />

Dieses typisch anarchistische Credo vom selbstbestimmten Han<strong>de</strong>ln führt, wenn zwei o<strong>de</strong>r mehr<br />

Menschen an ihr beteiligt sind, zu einer freien Vereinbarung. Diese kann kurzfristig sein o<strong>de</strong>r ewig - und<br />

natürlich kann sie sich auch wan<strong>de</strong>ln. Sind viele Menschen an einer solchen Vereinbarung beteiligt,<br />

entsteht ein contrat social, ein "Gesellschaftsvertrag" auf Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit. So<br />

entwickeln sich an-archische Gesellschaften. Verschie<strong>de</strong>ne an-archische Gesellschaften können sich<br />

fö<strong>de</strong>rieren, und bil<strong>de</strong>n ein Netz1; verschie<strong>de</strong>ne Netze können nebeneinan<strong>de</strong>r bestehen.<br />

"Freie Liebe" und "freie Schule" sind nur zwei Beispiele freier Vereinbarung auf unterster Ebene. An<br />

ihnen sind wenig Menschen beteiligt - zwischen zwei und zweihun<strong>de</strong>rt. Das wäre noch keine an-archische<br />

Gesellschaft. Die müßte man sich als ein Puzzle aus vielen solcher Teilbereiche vorstellen, die in ihrer<br />

Gesamtheit die Vielfalt unseres Lebens ab<strong>de</strong>cken.<br />

1) Siehe Kapitel 12!<br />

49<br />

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Nach anarchistischer Auffassung bleibt dabei die selbstbestimmte freie Vereinbarung stets Grundmuster<br />

aller gesellschaftlichen Beziehungen: Egal, ob wir nun einen Handwerksbetrieb organisieren, weltweit<br />

gegen eine ökologische Katastrophe agieren, ob wir uns ineinan<strong>de</strong>r verlieben o<strong>de</strong>r einen<br />

Eisenbahnfahrplan aufstellen, ein Haus bauen, Kin<strong>de</strong>r aufziehen, ein Weizenfeld bestellen, Streit<br />

schlichten, in Urlaub fahren o<strong>de</strong>r eine Stadt sanieren – wenn dies nicht freiwillig und selbstbestimmt<br />

geschehe, wer<strong>de</strong> mit Sicherheit niemals das erreicht, was letztendlich Ziel je<strong>de</strong>r anarchistischen Utopie<br />

ist: frei zu leben.<br />

Literatur: Emma Goldman, Ma<strong>de</strong>leine Vernet u.a.: Die Freie Liebe Frankfurt a.M. o.J. (1974?), Freie<br />

Gesellschaft, 92 S. / Emma Goldman: Geleites Leben (Memoiren, 3 B<strong>de</strong>.) Berlin 1978 -1980, Karin<br />

Kramer, 1170 S,, ill. / Candace Falk: Liebe und Anarchie & Emma Goldman Berlin 1987, Karin Kramer,<br />

360 S. / Michail Bakunin: Die vollständige Ausbildung Köln 1976, Heinzelpress, 25 S. / Leo Tolstoi: Die<br />

Schule von Jasnaja Poljana Wetzlar 1980, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 155 S. / Ulrich Klemm (Hrsg.): Leo<br />

Tolstoi über Volksbildung Berlin 1985, Zehrling, 84 S. / Francisco Ferrer: Die freie Schule Berlin 1975,<br />

Karin Kramer, 187 S. / Pierre Ramus: Francisco Ferrer, sein Leben und sein Werk Paris 1910, Die Freie<br />

Generation, 112 S. / Ulrich Klemm (Hrsg.): Anarchismus und Pädagogik Frankfurt a.M. 1991, dipa, 251<br />

S. / <strong>de</strong>rs.: Anarchistische Pädagogik Siegen 1984, Winddruck, 111 S., ill. / Anarchismus und Schule<br />

(Werkstattbericht, 2 B<strong>de</strong>.) Grafenau 1985 /1988, Trotz<strong>de</strong>m, 165 /170 S. / Kerstin Steinicke: Erziehung<br />

und Bildung ohne Herrschaft Frankfurt a.M. 1995, F.A.U. Ffm., 87 S. / Otto Rühle: Erziehung zum


Sozialismus Berlin 1919, Gesellschaft und Erziehung, 64 S. /Alexan<strong>de</strong>r S. Neill: Theorie und Praxis <strong>de</strong>r<br />

antiautoritären Erziehung Reinbek 1969, Rowohlt, 338 S. / Rainer Nitsche, Ulli Rothaus: Offene Türen<br />

und an<strong>de</strong>re Hin<strong>de</strong>rnisse - Erfahrungen einer selbstverwalteten Schule Darmstadt 1981, Luchterhand / Paul<br />

Goodman: Das Verhängnis <strong>de</strong>r Schule Frankfurt a.M. 1975, Fischer, 128 S. / Peter Kropotkin: Die freie<br />

Vereinbarung Wetzlar 1972, An- Archia, 20 S./ Hans-Jürgen Degen (Hrsg.) Tu was Du willst Berlin<br />

1987, Schwarzer Nachtschatten, 270 S. / William O. Reichert: Anarchismus, Freiheit und Macht Siegen<br />

1983, Winddruck, 43 S.<br />

Kapitel 11<br />

Kunst, Kultur, Lebensart<br />

Unter allen schönen Künsten ist die Lebenskunst<br />

die schönste und schwierigste.<br />

- Jules Romains -<br />

LEBENDIGE ANARCHIE IST KEIN NEUES REGELWERK, son<strong>de</strong>rn eine I<strong>de</strong>e, das Leben freier zu<br />

gestalten. Leben aber ist nicht etwa nur essen, schlafen, wohnen, Arbeit o<strong>de</strong>r soziale Organisation. Leben<br />

ist allumfassend, bunt, vielfältig, kreativ*, chaotisch1. So sollte es nach anarchistischer Meinung<br />

je<strong>de</strong>nfalls sein. Wenn heutzutage das Leben <strong>de</strong>r meisten Menschen nicht allumfassend, bunt, vielfältig,<br />

kreativ und chaotisch ist, so ist das kaum ein Zufall, son<strong>de</strong>rn gewollt.<br />

Illusion als Ware<br />

Chaos, Vielfalt und Kreativität können für eine mo<strong>de</strong>rne Industriegesellschaft gefährlich sein. Darum<br />

wer<strong>de</strong>n Menschen in ihr nivelliert*. Ihre Kreativität wird ihnen abgekauft, auf <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r Produktion<br />

gelenkt und zum Beispiel <strong>de</strong>r Firma nutzbar gemacht. (Dabei spielt es keine Rolle, ob diese ›Firma‹ nun<br />

Aluminiumfelgen, Theaterinszenierungen, Babynahrung, Waffen o<strong>de</strong>r Kunstausstellungen ›produziert‹.)<br />

Was dann als Wunsch nach Bunt-<br />

1) Zur Verwendung <strong>de</strong>s Begriffes Chaos in diesem Buch vergleiche Kapitel 13!<br />

50<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

heit und Vielfalt noch übrig bleibt, wird über Mo<strong>de</strong>n, Trends o<strong>de</strong>r Zeitgeist-Epi<strong>de</strong>mien kanalisiert. Hierzu<br />

muß es konsumierbar gemacht und angeboten wer<strong>de</strong>n. Normalerweise reicht dazu <strong>de</strong>r Fernseher, in<br />

hartnäckigen Fällen muß schonmal ein Open-Air, ein Abenteuerurlaub o<strong>de</strong>r ein neues Cabriolet herhalten.<br />

All das kann man in Agenturen kaufen, buchen, or<strong>de</strong>rn, bestens geschmiert vom Gleitmittel ›Werbung‹.<br />

Ein kluges System, vor allem <strong>de</strong>shalb, weil die Nivellierten ihre Nivellierung kaum bemerken. Geschickt<br />

wird ihnen die Illusion belassen, sie seien tatsächlich kreativ, wo sie doch in Wirklichkeit vorgefertigte<br />

Ware konsumieren. Illusion, die man kaufen kann.<br />

Je<strong>de</strong>r Mensch ein Künstler?<br />

Der Wert, <strong>de</strong>n Kunst, Kultur und Lebensart in einer Gesellschaft anstelle von Konsum einnehmen, ist ein<br />

Gradmesser für Freiheit, <strong>de</strong>nn künstlerische Verwirklichung erfor<strong>de</strong>rt Kreativität, und Kreativität braucht<br />

<strong>de</strong>n Freiraum. Es verwun<strong>de</strong>rt daher nicht, daß im anarchistischen Denken – vor allem aber im<br />

anarchistischen Leben – Kunst, Kreativität und schöpferische Verwirklichung eine große Rolle spielen.<br />

Nicht in <strong>de</strong>m Sinne, daß es etwa eine anarchistische Kunsttheorie gäbe (es gibt, wen sollte es wun<strong>de</strong>rn,<br />

mehrere) o<strong>de</strong>r gar eine bestimmte anarchistische Kunstrichtung. Vielmehr ist die spontane


Verwirklichung schöpferischer I<strong>de</strong>en an sich ein logischer Bestandteil <strong>de</strong>r Anarchie. Und nichts an<strong>de</strong>res<br />

ist schließlich die Grundlage von ›Kunst‹. Da Anarchisten die spontane Selbstverwirklichung <strong>de</strong>s<br />

Menschen in allen Lebensbereichen for<strong>de</strong>rn, zielt ihr Lebensentwurf darauf ab, die Grenzen zwischen<br />

›Kunst‹ und ›Leben‹ aufzubrechen, ebenso wie die aka<strong>de</strong>mischen Grenzen zwischen verschie<strong>de</strong>nen<br />

›Kunstgattungen‹. Kreativität, so behaupten sie, sei zum Leben so wichtig wie Brot.<br />

Bei Anarchisten darf je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r mag, ›Künstler‹ sein, und allen an<strong>de</strong>ren ist es freigestellt, die<br />

künstlerischen Produkte zu mögen o<strong>de</strong>r nicht. Eine solche Auffassung zielt natürlich gegen einen elitären<br />

Kunstbegriff, <strong>de</strong>r von Kulturhistorikern, Galeristen, Profis und Kunstkritikern festgelegt wird. Uns<br />

interessiert hier aber nicht die Kunst als hochbezahltes Produkt <strong>de</strong>r Warengesellschaft, ebensowenig die<br />

gefällige Ästhetik <strong>de</strong>r happy few*, mit <strong>de</strong>nen sie die Welt in zwei Bereiche teilen: in das, was ›kulturell‹<br />

ist und was es nicht ist. O<strong>de</strong>r: in Unwürdige und Menschen, die ein Anrecht auf Kultur haben.<br />

Das be<strong>de</strong>utet keineswegs, daß Kunst ein Einheitsmatsch ohne Platz für geniale Begabungen o<strong>de</strong>r auch<br />

Berufskünstler wer<strong>de</strong>n soll – im Gegenteil: ein freier Rahmen ist nach anarchistischem Verständnis<br />

gera<strong>de</strong> die Voraussetzung für die ungebremste Entfaltung von Talenten. Heute hingegen diktiert <strong>de</strong>r<br />

Kunstmarkt, und was sich in ihm nicht durchsetzt, wird in aller Regel auch nicht anerkannt. Kunst und<br />

Kultur sind im Grun<strong>de</strong> Waren. Das führt fast immer zu einer Art Prostitution* <strong>de</strong>r Künstler an <strong>de</strong>n Markt<br />

o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Marktes an aktuelle Kunstmo<strong>de</strong>n. Einigen wenigen Künstlern beschert dieses System unerhörte<br />

Karrieren, <strong>de</strong>n großen Rest verurteilt es zur armseligen Ran<strong>de</strong>xistenz.<br />

In <strong>de</strong>r anarchistischen Vision wird Kunst im besten Sinne <strong>de</strong>s Wortes ›alltäglich‹. In <strong>de</strong>r libertären<br />

I<strong>de</strong>algesellschaft gibt je<strong>de</strong>r nach seinen Fähigkeiten und je<strong>de</strong>r nimmt nach seinen<br />

51<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Bedürfnissen. Der Mensch hätte also ein Anrecht auf Leben und wirtschaftliches Auskommen. Da<br />

Künstler ja auch (nur) Menschen sind, könnten sie frei und ohne wirtschaftliche Sorgen tätig sein. Es<br />

müßte we<strong>de</strong>r die Prostitution an <strong>de</strong>n Markt geben noch das systemkonforme* Auftragsschaffen, wie wir<br />

es aus <strong>de</strong>n untergegangenen ›realsozialistischen‹ Län<strong>de</strong>rn kannten - ein Phänomen, das uns in Literatur,<br />

bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Kunst, Musik und Drama <strong>de</strong>n unerträglichen Monumentalkitsch <strong>de</strong>s "sozialistischen Realismus"<br />

bescherte, an <strong>de</strong>m ›die Massen‹ wie an Ikonen* vorbei<strong>de</strong>filieren durften.<br />

Kunst und Anarchie<br />

Kein Wun<strong>de</strong>r, daß sich schon früh immer wie<strong>de</strong>r Künstler zum Anarchismus hingezogen fühlten. Sie<br />

haben ihn entschei<strong>de</strong>nd mitgeprägt. Dabei ist auch hier die Frage, ob diese sich nun als ›Anarchisten‹<br />

bezeichneten o<strong>de</strong>r bloß ›an-archisch‹ han<strong>de</strong>lten unerheblich. Das Spektrum* von Künstlern und Anarchie<br />

ist ein großes Durcheinan<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rsprüchlicher und gegensätzlicher Formen und steht für ein Verhältnis<br />

von Spannungen und gegenseitiger Inspiration, prall und verrückt wie das Leben. So unterschiedliche<br />

Namen wie Richard Wagner und John Cage, Heinrich Böll und Joseph Beuys, Oscar Wil<strong>de</strong>, George-<br />

Bernhard Shaw und Percy Shelley, Leo Tolstoi und Dario Fo, Rainer-Werner Fassbin<strong>de</strong>r und George<br />

Orwell, Walt Whitman und Ralph Waldo Emerson, Judith Malina und Traven, Franz Kafka, Jaroslav<br />

Hasek, Erich Mühsam und Georges Tabori, Konstantin Wecker und Jörge Luis Borges, Theodor Plivier,<br />

Peggy Parnass, Herbert Grönemeyer, Stephan Mallarme, Gustave Courbet, Rimbaud, Hans-Magnus<br />

Enzensberger, Ricarda Huch, Rio Reiser, Monika Maron, Leo Malet, Peter Härtling, Lina Wertmüller<br />

und... und... und... machen <strong>de</strong>utlich, daß es in diesem ›Spektrum‹ we<strong>de</strong>r um ein Glaubensbekenntnis noch<br />

um eine irgendwie geartete ›gemeinsame Linie‹ gehen kann und soll. Sie alle haben jedoch etwas mit<br />

Anarchie zu tun. Manche bezeichneten sich als Anarchisten, an<strong>de</strong>re verhielten sich so, wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re<br />

sympathisierten mit anarchistischen I<strong>de</strong>en und viele <strong>de</strong>r genannten setzten sich künstlerisch mit <strong>de</strong>r<br />

Anarchie auseinan<strong>de</strong>r.<br />

Obgleich Kunst und Anarchie so eng miteinan<strong>de</strong>r verquickt sind, hat es <strong>de</strong>nnoch keinen ›eigenen‹<br />

anarchistischen Kunststil gegeben. Das wäre auch paradox. Aber zahlreiche kulturelle Bewegungen, Stile


und Gruppierungen wur<strong>de</strong>n nachhaltig von Anarchisten o<strong>de</strong>r libertären I<strong>de</strong>en geprägt und fan<strong>de</strong>n zu<br />

durchaus eigenständigen, an-archischen Ausdrucksformen. Zu nennen wären hier französische<br />

Avantgardisten und Nachimpressionisten <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> wie Signac, Pissarro, Mirbeau, Tailha<strong>de</strong>,<br />

Seurat und Feneon o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kreis <strong>de</strong>r politisieren<strong>de</strong>n britischen Werkkunst-Designer um William Morris.<br />

Ebenso <strong>de</strong>r Dadaismus in <strong>de</strong>n zwanziger Jahren, <strong>de</strong>r Literatur, Theater und bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kunst umfaßte und<br />

aktionsorientierte Formen hervorbrachte, die wir heute ›Performance‹ nennen wür<strong>de</strong>n. Der bildnerische,<br />

filmische und literarische Expressionismus war traditionell eine anarchistische Domäne, ebenso wie in<br />

<strong>de</strong>r Gegenwartsmusik etwa <strong>de</strong>r Free-Jazz o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r politische Punk. Das beinhaltet keineswegs eine<br />

Geschmacksdiktatur – Anarchisten können sich genausogut für Klassik o<strong>de</strong>r Folklore begeistern und<br />

Punkmusik abscheulich fin<strong>de</strong>n –,<br />

52<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

son<strong>de</strong>rn eine große Offenheit gegenüber künstlerischen Ausdrucksformen. In <strong>de</strong>r bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Kunst weisen<br />

<strong>de</strong>r Surrealismus und <strong>de</strong>r art brut ebenso anarchistische Prägungen auf wie beispielsweise <strong>de</strong>r<br />

Konstruktivismus bei <strong>de</strong>n "Kölner Progressiven" in <strong>de</strong>r Weimarer Ära o<strong>de</strong>r stilistisch so unterschiedlich<br />

arbeiten<strong>de</strong> Künstler wie Enrico Baj, Flavio Constantini o<strong>de</strong>r Gerd Arntz. Sie alle eint nicht etwa ein<br />

gleicher Kunststil, son<strong>de</strong>rn ein ähnliches Kunstverständnis, <strong>de</strong>ssen Ausgangspunkte Freiheit, Experiment<br />

und Revolte sind. Die Werke von Gustave Courbet und Joseph Beuys sind kaum zu vergleichen, ihre<br />

Lebenseinstellungen sehr wohl. Gleiches gilt fürs Theater o<strong>de</strong>r Kino, wo die Arbeiten von Dario Fo,<br />

Franca Rame, Julian Beck und Georges Tabori äußerlich ebensowenig eine Einheit bil<strong>de</strong>n wie etwa die<br />

Filme von Rainer-Werner Fassbin<strong>de</strong>r, Lina Wertmüller o<strong>de</strong>r Jean Vigo. Formale Gemeinsamkeit braucht<br />

man da nicht zu suchen – sie läßt sich in <strong>de</strong>r Musik nicht zwischen John Cage und Konstantin Wecker<br />

fin<strong>de</strong>n, und in <strong>de</strong>r Literatur nicht zwischen Traven und Tolstoi.<br />

Der Anarchismus ›besitzt‹ also keine Kunstrichtung, er ist Kunst, in einer allumfassen<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utung.<br />

"Allumfassen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung" – das heißt auch, daß Kunst das Leben erfassen und durchziehen soll, damit<br />

so eine neue Kultur entsteht – eine Lebensart. Gemeint ist nicht snobistischer ›Lifestyle‹, <strong>de</strong>r an teure<br />

Accessoires gebun<strong>de</strong>n ist, die einen bestimmten Status* symbolisieren sollen, son<strong>de</strong>rn ein ›savoir vivre‹*<br />

unabhängig vom Geld. Das be<strong>de</strong>utet Abschied von reiner ›Erbauungskunst‹, ein Ausbrechen aus <strong>de</strong>n<br />

Ghettos von Museen, Galerien und Musentempeln. Das Leben selbst wür<strong>de</strong> zu einem ›Kunstwerk‹:<br />

Kunst, Alltag, Freu<strong>de</strong>, Protest, Genuß, Provokation, Spontaneität, Kreation und Kommunikation gingen<br />

eine kaum noch entwirrbare Verbindung ein, die in <strong>de</strong>r Lage wäre, Grenzen zu sprengen. Grenzen<br />

zwischen Menschen, Grenzen zwischen Lebensbereichen, Grenzen in Bewußtsein, Wahrnehmung und<br />

Ausdruckskraft.<br />

Im anarchistischen Milieu hat es immer wie<strong>de</strong>r Ansätze einer solchen libertären Kultur gegeben, die stets<br />

die Trennungen zwischen Kunst, Arbeit, Politik und Leben überschritten. Hier wäre die radikale Boheme<br />

Mitteleuropas mit ihrer typischen Szene von Kaffeehäusern, Ateliers und Kabaretts etwa in Paris, Berlin,<br />

Wien und Prag zu nennen, ebenso wie die proletarisch geprägte Bewegung <strong>de</strong>r ›Arbeiterkultur‹ im<br />

Umfeld kämpferischer Gewerkschaften mit seinen Theatern, seiner Literatur und Musik.<br />

Ein beson<strong>de</strong>rs bemerkenswertes Beispiel solch bunter Lebensart ist die als ›Künstlerkolonie‹ bekannt<br />

gewor<strong>de</strong>ne Siedlung Monte Verità, <strong>de</strong>ren Blütezeit vor <strong>de</strong>m ersten Weltkrieg lag. Auf diesem "Berg <strong>de</strong>r<br />

Wahrheit" in <strong>de</strong>r Südschweiz lebten Menschen, die gleichzeitig Handwerker und Künstler, Philosophen<br />

und Arbeiter, Revolutionäre und ›Unternehmer‹ waren. Anarchistische und kommunitäre I<strong>de</strong>en haben das<br />

Erscheinungsbild dieser Siedlung geprägt, <strong>de</strong>ren Wurzeln bis zu Bakunin reichen, <strong>de</strong>r sich in seinen<br />

letzten Lebensjahren im Tessin nie<strong>de</strong>rließ. Und natürlich gab sich alles, was damals in Revolutions- und<br />

Künstlerkreisen einen Namen hatte, hier ein Stelldichein, um sich von einer Lebensart<br />

53


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inspirieren zu lassen, in <strong>de</strong>r sich Wi<strong>de</strong>rsprüchliches zu einer an-archischen Symbiose von Kunst, Kultur<br />

und Leben verdichtete. – Fast das verkleinerte Abbild einer libertären Gesellschaft, eine Mischung aus<br />

Ernst und Freu<strong>de</strong>, Genuß und Askese, Plan und Verrücktheit. Eben: Lebensart.<br />

Literatur: Anarchismus in Kunst und Politik (Anthologie) Ol<strong>de</strong>nburg 1985, Universität Olb., 200 S. /<br />

Peter Heintz: Anarchistische Kunst in: Anarchismus und Gegenwart Berlin 1975, Karin Kramer, 159 S. /<br />

Rainer Mansfeld: Kunstspektakel, Anarchismus und politische Kunst heute in: Unter <strong>de</strong>m Pflaster liegt<br />

<strong>de</strong>r Strand Bd. 3, Berlin 1980, Karin Kramer, 191 S. / Herbert Read: Formen <strong>de</strong>s Unbekannten Zürich<br />

1963, Rhein-Vlg., 335 S., ill. / <strong>de</strong>rs.: The Meaning of Art London 1951, Faber & Faber, 224 S., ill. / <strong>de</strong>rs.:<br />

Arte, Poesia, Anarquismo Buenos Aires 1962, Reconstruir, 95 S. / <strong>de</strong>rs.: Al diabolo con la culturat<br />

Buenos Aires 1974, Proyecciön, 196 S. / Andre Reszler: La estética anarquista Mexiko-Stadt 1974, Fondo<br />

Cultura Económica, 138 S. / <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: Von <strong>de</strong>r Subkultur zur Gegenkultur in: Viva l'Anarchia -<br />

Bil<strong>de</strong>r anarchistischer Lebenskultur Neustadt/Wstr. 1992, An-Archia / H. U, Dohmen: Das Gesetz <strong>de</strong>r<br />

Welt ist die Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Welt - die rheinische Gruppe progressiver Künstler (1918-1933) Berlin 1976,<br />

Karin Kramer, 270 S., ill. / Imke Buchholz, Judith Malina: Living Theater heißt Leben München 1978,<br />

Trikont, 170 S., ill. / Monte Verità - Berg <strong>de</strong>r Wahrheit (Katalog) Berlin 1978, Aka<strong>de</strong>mie <strong>de</strong>r Künste, 191<br />

S., ill.<br />

54<br />

Kapitel 12<br />

Small is beautiful – die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Vernetzung<br />

Zum an<strong>de</strong>ren zeigt sich ein weiteres Phänomen in <strong>de</strong>r Entstehung vielfältigster Organisationen,<br />

die <strong>de</strong>n Menschen helfen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen (...)<br />

Dieses Phänomen ist zwar gegenwärtig nur in beschei<strong>de</strong>nen Ansätzen sichtbar,<br />

wird aber auf Dauer die Staatsmacht untergraben.<br />

Ja, ich <strong>de</strong>nke, es gibt Grund zu hoffen!<br />

– Noam Chomsky –<br />

DIE MEISTEN MENSCHEN BEFÄLLT DIE KALTE ANGST, wenn sie versuchen, sich Anarchie<br />

praktisch vorzustellen. Selbst, wenn sie anarchistische I<strong>de</strong>en durchaus sympathisch fin<strong>de</strong>n, bleibt es<br />

schwer vorstellbar, wie an-archische Strukturen die vielfältigen Aufgaben einer Massengesellschaft<br />

bewältigen sollten. Die ängstliche Frage lautet meist: "Wie wür<strong>de</strong>n anarchistische Organisationsformen<br />

<strong>de</strong>nn aussehen und können sie überhaupt funktionieren? Müßten wir dann nicht verhungern? Wür<strong>de</strong> die<br />

Welt nicht im Chaos untergehen?"<br />

Legitime Fragen, und Anarchisten täten gut daran, sie ernst zu nehmen. Oft neigen sie dazu, sich über die<br />

verängstigten Fragesteller lustig zu machen. Das hilft aber nicht.<br />

Eine an<strong>de</strong>re Struktur<br />

Es wäre unfair, von heutigen Anarchisten genaue Pläne davon zu verlangen, wie alle Funktionen einer<br />

libertären Gesellschaft im Detail aussehen und funktionieren sollen. Ganz abgesehen davon, daß sie das<br />

aus guten Grün<strong>de</strong>n auch gar nicht wollen wür<strong>de</strong>n1, wäre dies ebenso grotesk, wie wenn man etwa von <strong>de</strong>n<br />

Vorkämpfern <strong>de</strong>r Französischen Revolution o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Schöpfern <strong>de</strong>r amerikanischen Verfassung im 18.<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rt verlangt hätte<br />

1) Siehe Kapitel 4<br />

54


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vorauszusagen, wie in unseren republikanisch-<strong>de</strong>mokratischem Gesellschaften heute das Postwesen, die<br />

Arbeitslosenversicherung o<strong>de</strong>r die Güterproduktion funktionieren solle.<br />

Am Beginn einer je<strong>de</strong>n umwälzen<strong>de</strong>n gesellschaftlichen I<strong>de</strong>e steht eine neue Struktur, die sich erst in <strong>de</strong>r<br />

gesellschaftlichen Realität mit Inhalten füllt. Das ist beim Anarchismus nicht an<strong>de</strong>rs. An<strong>de</strong>rs ist, daß sich<br />

libertäre Strukturen von <strong>de</strong>n herkömmlichen grundlegend unterschei<strong>de</strong>n, und daß sie in einen Prozeß<br />

mün<strong>de</strong>n sollen, <strong>de</strong>r niemals in einer neuen, starren Struktur sein En<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>n darf: Libertäre Gesellschaft<br />

ist wan<strong>de</strong>lbar und vielfältig, <strong>de</strong>r Weg ist gleichzeitig auch Ziel.<br />

Die grundlegen<strong>de</strong> Struktur <strong>de</strong>s anarchistischen Gesellschaftsmo<strong>de</strong>lls ist eine Vernetzung von kleinen<br />

Einheiten.<br />

Menschen i<strong>de</strong>ntifizieren sich mit Dingen, die sie überschauen und verstehen. Je größer und<br />

unüberschaubarer gesellschaftliche Zusammenhänge sind, <strong>de</strong>sto größer wird die Entfremdung zwischen<br />

Institution und Mensch. Unsere heutigen Systeme versuchen, solche Entfremdung zu neutralisieren,<br />

in<strong>de</strong>m sie Eliten schaffen, <strong>de</strong>ren Wirken in <strong>de</strong>n meisten Län<strong>de</strong>rn scheinbar legitimiert ist, weil die<br />

Delegation von Macht durch Wahlen erfolgt. Die Probleme, die aus <strong>de</strong>r Entfremdung erwachsen, kriegen<br />

sie damit allerdings nicht in <strong>de</strong>n Griff, sie verwalten sie nur.<br />

Eliten bin<strong>de</strong>n Macht, bil<strong>de</strong>n Hierarchien, genießen Privilegien und entschei<strong>de</strong>n letztlich über das<br />

Schicksal aller Menschen. Der Blick in eine beliebige Tageszeitung wird uns davon überzeugen, daß sie<br />

das nicht einmal sehr erfolgreich tun. Eine solche Gesellschaft wi<strong>de</strong>rspricht in wesentlichen Punkten <strong>de</strong>r<br />

anarchistischen Vorstellung von Freiheit. Es ist eine Gesellschaft, an <strong>de</strong>r die meisten Menschen nicht<br />

teilnehmen. Also muß eine anarchistische Gesellschaft Strukturen bieten, an <strong>de</strong>r möglichst viele<br />

Menschen teilnehmen. Dies wäre gegeben, wenn die Teilnahme einfach ist und letztlich sogar Freu<strong>de</strong><br />

bereitete, <strong>de</strong>nn aktives Mitmachen in gesellschaftlichen Gebil<strong>de</strong>n funktioniert, solange sie Befriedigung<br />

bringt. Befriedigung stellt sich ein, wenn das Engagement <strong>de</strong>r Beteiligten Resultate zeitigt, die diese<br />

sehen, verstehen und nachvollziehen können. In genau diesem Maße wächst o<strong>de</strong>r schwin<strong>de</strong>t auch die<br />

I<strong>de</strong>ntifizierung mit einem sozialen System. In unseren Systemen entwickelt sich diese I<strong>de</strong>ntifizierung<br />

<strong>de</strong>rzeit gegen Null.<br />

Daher haben alle anarchistischen Gesellschaftsentwürfe stets darauf abgezielt, auf überschaubaren,<br />

kleinen Einheiten aufzubauen - was nicht heißen soll, daß sie dabei stehenbleiben. Solche sozialen<br />

Gebil<strong>de</strong> stellen sozusagen die kleinsten Einheiten dar, aus <strong>de</strong>nen sich an-archische Gesellschaften<br />

zusammensetzen<br />

Ich habe schon darauf hingewiesen, daß diese ›kleinen Einheiten‹ sowohl aus geografischen, sachlichen,<br />

technischen, i<strong>de</strong>ellen, ethischen o<strong>de</strong>r ästhetischen Grün<strong>de</strong>n entstehen können, ebenso wie aus<br />

gegenseitiger Sympathie o<strong>de</strong>r reinen Grün<strong>de</strong>n praktischer Vernunft; auch können zu gleicher Zeit auf<br />

gleichem Raum verschie<strong>de</strong>ne Einheiten nebeneinan<strong>de</strong>r bzw. miteinan<strong>de</strong>r bestehen. Ich kann zum Beispiel<br />

gleichzeitig als Bewohner einem Rat meines Stadtviertels angehören, als Vater einer Gruppe, die eine<br />

freie Schule betreibt,<br />

55<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

als Genießer einer Vereinigung "Anarchie und Luxus", als Schriftsteller einem gewerkschaftsähnlichen<br />

Berufsgremium, als verantwortungsvoller Mitmensch einem ökologischen Ausschuß, als Ästhet einer<br />

künstlerischen Boheme, als Journalist einer Zeitschriftenredaktion, als Kosmopolit* einer weltweiten<br />

Vereinigung von Esperantisten*, als Vielreisen<strong>de</strong>r einer Fö<strong>de</strong>ration, die die Fahrpläne <strong>de</strong>r Eisenbahn<br />

ausarbeitet und so weiter ...


"Aber, aber..." wer<strong>de</strong>n die Kritiker einwen<strong>de</strong>n, "das können Sie doch hier und heute alles auch." Und: "Ist<br />

das nicht ein bißchen viel Arbeit und Verantwortung auf einmal?" O<strong>de</strong>r:<br />

"Wieviele Menschen, glauben Sie, wer<strong>de</strong>n wohl so engagiert sein, und freiwillig Interesse für<br />

gemeinnützige Arbeiten aufbringen?!"<br />

Versuchen wir, diese Einwän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Reihe nach zu beantworten.<br />

Wür<strong>de</strong>n die Menschen mitmachen?<br />

Gewiß kann ich mich zwar hier und heute durchaus auch in all diesen Bereichen engagieren<br />

(vorausgesetzt, ich lebe nicht in Staaten wie Birma, Kuba, China, Äquatorialguinea o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Sudan).<br />

Aber es gibt zwei entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Unterschie<strong>de</strong>: Ich kann (sofern ich nicht zur Elite gehöre) bei all meinem<br />

Engagement nichts entschei<strong>de</strong>n und mein Engagement wird in <strong>de</strong>r Regel auch nichts bewirken.<br />

Engagement ist bei uns ein Zeitvertreib, ein Ventil für Unmut, bestenfalls ein gedul<strong>de</strong>tes Korrektiv für<br />

Arbeit, die sonst niemand machen o<strong>de</strong>r bezahlen will. Die Entscheidungen aber fallen an<strong>de</strong>rswo: im<br />

Machtapparat. In einer an- archischen Gesellschaft hingegen wären eben diese ›kleinen Einheiten‹ Träger<br />

<strong>de</strong>r Meinungsbildung, <strong>de</strong>r Lösungssuche, <strong>de</strong>r Konsensfindung* und gleichzeitig <strong>de</strong>r Entscheidung,<br />

Durchführung und Korrektur von Beschlüssen. Die an-archische Gesellschaft ist das Zusammenspiel<br />

dieser ›kleinen Einheiten‹. Es gibt keinen Machtapparat, kein bürokratisches Eigenleben, keine Eliten<br />

über ihnen. Statt<strong>de</strong>ssen gäbe es ein System von Selbstbestimmung, Selbstorganisation und<br />

Selbstverwaltung, getragen von <strong>de</strong>r Verbindung, Zusammenarbeit und Konsensfähigkeit vieler solcher<br />

›kleinen Einheiten‹. Eine solche Verbindung nennen wir Netzwerk.<br />

Ob die Menschen in einem solchen System nicht unter <strong>de</strong>r Überlastung zusammenbrächen, o<strong>de</strong>r ob das<br />

System nicht durch das Desinteresse <strong>de</strong>r Menschen versagen müßte, ist eine interessante Frage.<br />

Zunächst einmal möchte ich <strong>de</strong>r beeindrucken<strong>de</strong>n Liste von vorhin, in <strong>de</strong>r ich einige Möglichkeiten<br />

meines Engagements in einer libertären Gesellschaft aufzählte, eine wichtige Variante hinzufügen:<br />

Selbstverständlich hätte ich als <strong>de</strong>sinteressierter o<strong>de</strong>r auch nur als fauler Mensch das Recht zu sagen: "Ich<br />

engagiere mich für gar nichts!" Anarchie beruht auf Freiwilligkeit; erzwungene Teilnahme wäre kein<br />

Engagement, son<strong>de</strong>rn Knechtschaft und selbstverständlich gibt es auch ein "Recht auf Faulheit".<br />

Die anarchistische Gesellschaftstheorie spekuliert nun aber darauf, daß, weil sich die Menschen in<br />

solchen kleinen Einheiten direkt einbringen können, die Entfremdung gering bleibt und die I<strong>de</strong>ntifikation<br />

wächst. Wenn sich aber viele Menschen an sozialen Prozessen beteiligen, sinkt in gleichem Maße die<br />

Belastung <strong>de</strong>s Einzelnen. Machen genügend Men-<br />

56<br />

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schen mit, wäre Selbstverwaltung keine zusätzliche Bür<strong>de</strong> mehr, son<strong>de</strong>rn eine Selbstverständlichkeit, die<br />

nicht irgendwann ›nach Feierabend‹ stattfän<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn ständig und automatisch in allen Bereichen <strong>de</strong>s<br />

Lebens. Sie wäre zu einem Bestandteil von Arbeit und Alltag gewor<strong>de</strong>n. So wie <strong>de</strong>r Mensch es heute<br />

gewohnt ist, Anordnungen zu bekommen, könnte er es lernen und sich daran gewöhnen, selbst<br />

mitzuentschei<strong>de</strong>n.<br />

Auf diese Weise bekäme die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben eine an<strong>de</strong>re Qualität: sie<br />

wür<strong>de</strong> nicht nur erträglich, son<strong>de</strong>rn fast schon zu einer Art Befriedigung. Das setzt natürlich voraus, daß<br />

auch die Themen, Formen und Rahmenbedingungen an<strong>de</strong>rs aussähen als bisher üblich. Ich kann mir kaum<br />

vorstellen, daß ich auf Dauer unter <strong>de</strong>n Bedingungen dieser Gesellschaft Lust hätte, mich etwa nach acht<br />

Stun<strong>de</strong>n ermü<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Arbeit in einem geisttöten<strong>de</strong>n Job während meiner Freizeit noch um die Belange<br />

meines Stadtteils zu kümmern. Da wäre ich wohl eher froh, wenn sich da ›ein Amt‹ drum kümmerte.<br />

Aber diese Rahmenbedingungen sollen ja in einer libertären Gesellschaft ebenfalls spürbar an<strong>de</strong>re sein1.


Wenn wir uns heute soziales Engagement vorstellen, <strong>de</strong>nken wir automatisch an Vereine, Parteien,<br />

Interessenverbän<strong>de</strong>, Bürgerinitiativen und ähnliches. Dort besteht das frustrieren<strong>de</strong> Tagesgeschäft in<br />

Bürokratie, Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit Behör<strong>de</strong>n, Vereinsklüngelei und eng gesteckten Grenzen von<br />

›Zuständigkeit‹. Unser gesamtes Leben ist säuberlich portioniert und in dutzen<strong>de</strong> ›Bereiche‹ zerlegt, und<br />

über je<strong>de</strong>n Bereich wacht zu guter Letzt irgen<strong>de</strong>in Amt. Der Anarchismus hingegen zielt auf eine globale<br />

Organisation <strong>de</strong>s Lebens, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Mensch und seine gesellschaftliche Wirklichkeit als etwas Ganzes<br />

gesehen wird. Leben, Arbeit, Spaß und Freizeit sollen nicht länger künstlich getrennt bleiben. Das hätte<br />

zur Folge, daß Menschen, die sich in einer dieser ›kleinen Einheiten‹ mit irgen<strong>de</strong>twas beschäftigten, sich<br />

nicht für ein abstraktes Ziel abrackerten, das mit ihnen direkt wenig zu tun hat. Sie kümmerten sich<br />

vielmehr um Dinge, die ihr eigenes Leben ganz direkt, ganz konkret und ganz im Sinne ihrer Wünsche<br />

und Vorstellungen beeinflußten. Sie täten das am Arbeitsplatz und zu Hause, in <strong>de</strong>r Nachbarschaft und in<br />

spezifischen Gruppen. In vielen Fällen brauchte es dazu nicht einmal eine feste Struktur o<strong>de</strong>r ein<br />

beson<strong>de</strong>res Treffen – es wür<strong>de</strong> zu einer Handlungsroutine im Alltag. Dem Menschen wäre <strong>de</strong>r direkte<br />

Zugriff auf alle Bereiche seines Lebens zurückgegeben. Die Bereiche, in <strong>de</strong>nen ich mich als "aktiver<br />

Menschheitsbürgen in einem solchen System engagieren könnte, beträfen <strong>de</strong>mnach meine Arbeitswelt<br />

ebenso wie mein Vergnügen, meine Wohnsituation wie meine Gefühle, meine Ernährung wie mein<br />

persönliches Glück o<strong>de</strong>r meine soziale Sicherheit. Das hätte etwas mit meiner Lebensqualität zu tun und<br />

mit <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rer Menschen.<br />

Triebkraft menschlichen Engagements in einer libertären Gesellschaft wäre also in gewissem Sinne ein<br />

sozialer Egoismus*. Diese Art von "Egoismus" jedoch scheint mir <strong>de</strong>r ehrlichste und gesün<strong>de</strong>ste Impuls,<br />

<strong>de</strong>n ich mir <strong>de</strong>nken kann.<br />

Natürlich glauben auch Anarchisten nicht, daß sich in ihrer Gesellschaft alle Menschen engagieren. Das<br />

wäre auch nicht nötig. Wichtig ist zweierlei: Daß alle Menschen sich<br />

1) Siehe Kapitel 14 !<br />

57<br />

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einbringen können, und daß genug sich einbringen wür<strong>de</strong>n. Man kann Desinteresse nicht ›verbieten‹,<br />

höchstens Interesse wecken! Diese Betrachtungsweise ist zwar pragmatisch, aber in <strong>de</strong>m Moment, wo <strong>de</strong>r<br />

Anarchismus <strong>de</strong>n Elfenbeinturm <strong>de</strong>r reinen Theorie verläßt, muß er selbstverständlich pragmatisch<br />

<strong>de</strong>nken, was ihm gewiß nicht scha<strong>de</strong>t. Daß alle Menschen gleichermaßen überzeugt, begeistert und<br />

engagiert sein müssen, damit eine libertäre Gesellschaft funktioniere, ist übrigens ein frommes<br />

anarchistisches Märchen; schlimmer noch: es ist unanarchistisch. Ganz einfach <strong>de</strong>shalb, weil eine solche<br />

Vorstellung <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s Menschen und seiner Verschie<strong>de</strong>nheit nicht Rechnung trüge, son<strong>de</strong>rn ihm<br />

eine I<strong>de</strong>ologie überstülpen wür<strong>de</strong>. Je<strong>de</strong>s System aber, das auf hochmotivierte ›Heilige‹ setzt und<br />

›Mitläufer‹ verachtet, muß scheitern. Im übrigen ist auch <strong>de</strong>r einzelne Mensch kein statisches* Wesen.<br />

Je<strong>de</strong>r durchlebt Phasen von Aktivität und Rückzug, Begeisterung und Resignation. Das wür<strong>de</strong> einem anarchischen<br />

System auch nicht scha<strong>de</strong>n, da es auf einen ständigen Wechsel von Menschen bestens<br />

eingestellt ist, <strong>de</strong>nn es brauchte immer weniger <strong>de</strong>n Typ <strong>de</strong>r lebenslänglichen Fachleuten Daß auf diese<br />

Weise immer mehr Menschen sich Fähigkeiten, Wissen und Praktiken in allen möglichen Bereichen<br />

aneignen wür<strong>de</strong>n, liegt in einer solchen Gesellschaft auf <strong>de</strong>r Hand. Und das ist nach Ansicht <strong>de</strong>r<br />

Anarchisten auf Dauer das wirksamste Gegengift gegen Eliten, Bürokratie und Herrschaft.<br />

Kann Vernetzung funktionieren?<br />

Niemand weiß, ob sich dieses soziale Engagement in hinreichen<strong>de</strong>m Maße einstellen wür<strong>de</strong>. Alle sozialen<br />

Utopien sind Spekulation. Der springen<strong>de</strong> Punkt dabei ist natürlich die Funktionsweise <strong>de</strong>r Vernetzung.<br />

Wie soll das auf große Entfernungen geschehen? Wie in Gebil<strong>de</strong>n, die eben nicht mehr klein und<br />

überschaubar sind, etwa <strong>de</strong>r Stadt New York? Und was ist, wenn sich Anschauungen so wi<strong>de</strong>rsprechen,<br />

daß kein Konsens möglich ist?


Dieser letzten Frage wer<strong>de</strong>n wir in <strong>de</strong>n Kapiteln 17 und 19 nachgehen – die Antworten auf die an<strong>de</strong>ren<br />

Fragen liegen zum Teil schon in <strong>de</strong>r Struktur <strong>de</strong>r Vernetzungssysteme selbst. In <strong>de</strong>r anarchistischen<br />

Theorie funktionieren sie nach <strong>de</strong>mselben Prinzip wie die "kleine Grun<strong>de</strong>inheit", nur, daß sie sich mit<br />

Fragen überregionaler Be<strong>de</strong>utung befassen: Sie verbin<strong>de</strong>n frem<strong>de</strong> Menschen miteinan<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r<br />

organisieren <strong>de</strong>n Austausch von Wissen, Waren und Werten, die zu einem menschenwürdigen Leben<br />

nötig sind. Aber auch in ihnen entschei<strong>de</strong>n keine Eliten, auch in ihnen gilt nicht das Prinzip <strong>de</strong>r<br />

Hierarchie, auch ihre Handlungen entstehen in einem horizontalen Prozeß. Dabei sollen – und müssen –<br />

sie durchaus effektiv arbeiten und zuverlässig funktionieren. Überregional wichtige Aufgaben wer<strong>de</strong>n<br />

dabei selbstverständlich zentral gesteuert, nicht jedoch zentralistisch entschie<strong>de</strong>n – keinem Anarchisten<br />

wür<strong>de</strong> es einfallen, etwa die Flugsicherung spontan und <strong>de</strong>zentral zu ›organisieren‹. Daß es dabei dann<br />

eine Delegierung geben kann – etwa auf die Ebene von Ausschüssen und Räten - und durchaus auch<br />

kompetente und verantwortliche Fachleute, ist nur scheinbar ein Wi<strong>de</strong>rspruch: Entscheidungsfreiheit ist in<br />

erster Linie eine Frage <strong>de</strong>r Inhalte, nicht <strong>de</strong>r Techniken. Ob diese Ebenen bei <strong>de</strong>r reinen<br />

Vernunftkompetenz bleiben o<strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>rum neue Herrschaft hervorbringen, hängt entschei<strong>de</strong>nd von drei<br />

Voraussetzun-<br />

58<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

gen ab: Erstens, daß in <strong>de</strong>r Praxis eine Transparenz* dieser vernetzten Struktur bewahrt wird: Sie muß<br />

durchschaubar bleiben, damit sie von allen Interessierten verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann. Zweitens, daß es<br />

Systeme gibt, die gewährleisten, daß sie je<strong>de</strong>rzeit kontrollierbar, kritisierbar und verän<strong>de</strong>rbar sind.<br />

Drittens, daß die Vernetzungsstrukturen so aufgebaut sind, daß sie nicht als Entscheidungsebene, son<strong>de</strong>rn<br />

als Koordinationsebene' funktionieren. Sie sollen letztlich die von <strong>de</strong>n Menschen an <strong>de</strong>r Basis gefun<strong>de</strong>ne<br />

Richtung lediglich abstimmen, umsetzen und ausführen - notfalls auch zurückverweisen, wenn sich<br />

Ausführung o<strong>de</strong>r Abstimmung als unmöglich erweisen. Auch diese Frage wer<strong>de</strong>n wir im 17. Kapitel noch<br />

einmal aufgreifen.<br />

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, könnte Anarchie überregional funktionieren - zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>r<br />

Theorie. Dabei böten dann Entfernungen keine größeren Hin<strong>de</strong>rnisse als heute auch. Anarchisten wollen<br />

ja nicht grundsätzlich auf mo<strong>de</strong>rne Kommunikationsmittel verzichten, und prinzipiell reisefeindlich sind<br />

sie auch nicht. Zwar gehen sie kritischer und bewußter an elektronische Kommunikation heran, und ein<br />

wuchern<strong>de</strong>s Reise- und Transportwesen wür<strong>de</strong> sich in ihrem Mo<strong>de</strong>ll schon aus <strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong> reduzieren,<br />

weil eine <strong>de</strong>zentrale, libertäre Wirtschaft viele Dinge, die heute unnütze Transportwege erfor<strong>de</strong>rn, in <strong>de</strong>r<br />

Region erledigen könnte. An<strong>de</strong>rerseits sehen viele Anarchisten in mo<strong>de</strong>rner Kommunikationstechnik<br />

durchaus auch interessante Möglichkeiten für eine ›direkte, kommunikative Demokratie‹ libertären<br />

Zuschnitts, in <strong>de</strong>r immer mehr Informationen zugänglich und immer weniger Zentren, Wissenshierarchien<br />

und Schaltzentralen nötig wären. Obwohl hierbei auch die Gefahr eines Informationsüberflusses gesehen<br />

wird, verkennt man nicht Möglichkeiten, die die Elektronik zur technischen Lösung von<br />

Kommunikationsproblemen <strong>de</strong>r libertären Utopie beitragen könnte, die noch vor wenigen Jahrzehnten<br />

schier unlösbar schienen.<br />

Auch die Größe eines sozialen Gebil<strong>de</strong>s scheint grundsätzlich kein Hin<strong>de</strong>rnis für das Funktionieren<br />

libertärer Vernetzungsstrukturen zu sein. Zwar ist das ganze Schema anarchistischer Organisation<br />

absichtlich dafür ausgelegt, die kleine Einheit zu för<strong>de</strong>rn und das Entstehen großer Einheiten zu<br />

erschweren, aber das heißt nicht, daß sie nicht auch mit großen Gebil<strong>de</strong>n zurechtkommen wür<strong>de</strong>.<br />

Schließlich lassen sich in manchen Fällen größere Zusammenhänge nicht vermei<strong>de</strong>n, und manchmal sind<br />

sie einfach schon da. Wie zum Beispiel die Stadt New York.<br />

Nun mag es ja verschie<strong>de</strong>ne Ansichten darüber geben, ob ein <strong>de</strong>rartig monströses Gebil<strong>de</strong> überhaupt<br />

wünschenswert wäre. In <strong>de</strong>r Tat gibt es die Meinung, Megastädte wie Sao Paulo, Kalkutta, Mexico-City<br />

o<strong>de</strong>r New York überstiegen je<strong>de</strong>s menschliche Maß und gehörten als in je<strong>de</strong>r Hinsicht inhuman eigentlich<br />

abgeschafft. Die Kritiker beziehen sich dabei wohlgemerkt nicht etwa auf das großstadttypische Flair*<br />

o<strong>de</strong>r die unnachahmliche metropolitane* Kultur, son<strong>de</strong>rn auf die Auswirkungen eines urbanen* Molochs,<br />

<strong>de</strong>r an seinen eigenen sozialen Wucherungen erstickt. Lassen wir diese Frage offen und überlassen wir


ihre ›Lösung‹ getrost <strong>de</strong>n Leuten, die in ihnen zu leben verstehen o<strong>de</strong>r ihnen <strong>de</strong>n Rücken kehren wer<strong>de</strong>n.<br />

59<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Die Antwort auf unsere erste Frage aber fin<strong>de</strong>n wir überraschen<strong>de</strong>rweise in solchen Megastädten selbst.<br />

Gera<strong>de</strong> hier hat sich die Überlebensfähigkeit und das Funktionieren von Strukturen erwiesen, die glatt als<br />

›anarchisch‹ bezeichnet wer<strong>de</strong>n könnten, auch wenn kaum jemand das tut. Kalkutta beispielsweise ist eine<br />

x-Millionen-Stadt, die vom System faktisch aufgegeben wur<strong>de</strong>. Sie gilt als nicht reformierbar,<br />

unregierbar, die Behör<strong>de</strong>n haben aufgehört irgen<strong>de</strong>twas Kohärentes zu tun. Das Stadtplanungsamt ist seit<br />

langem verwaist, die sozialen Einrichtungen haben praktisch kapituliert. Theoretisch müßte diese Stadt<br />

schon längst zusammengebrochen sein, aber die Menschen in ihr leben weiter. Es gibt soziale Gebil<strong>de</strong>,<br />

Nachbarschaften, gegenseitige Hilfe, soziale Initiativen. Sie stemmen sich gegen Chaos, Kriminalität,<br />

Willkür, Spekulanten, Elend, Schmutz, Hunger und Krankheit. Und das Leben geht weiter. Aber keine<br />

dieser sozialen Zusammenhänge hat <strong>de</strong>n Anspruch o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Ehrgeiz, die ganze Stadt zu vertreten, zu<br />

managen o<strong>de</strong>r gar zu regieren. Ähnliches gibt es aus Sao Paulo zu berichten und aus Mexiko City. Und<br />

daß es in <strong>de</strong>n Schwarzenghettos von Chicago o<strong>de</strong>r New York trotz Elend, Kriminalität und<br />

Hoffnungslosigkeit eine starke soziale Solidarität gibt, die besser funktioniert als das staatliche<br />

Sozialprogramm, ist allgemein bekannt. All diese Strukturen funktionieren genau darum, weil sich hier<br />

Menschen selbst und direkt um ihre Probleme kümmern, in kleinen, überschaubaren Gruppen, inspiriert<br />

von einem positiv verstan<strong>de</strong>nen ›sozialen Egoismus‹.<br />

Bitte, Anarchisten behaupten nicht etwa, daß Kalkutta, Chicago o<strong>de</strong>r New York ihren<br />

Wunschvorstellungen einer libertären Gesellschaft entsprächen! Das ziemliche Gegenteil dürfte <strong>de</strong>r Fall<br />

sein. Was diese Beispiele zeigen sollen, ist, daß es gera<strong>de</strong> ›an-archische Strukturen‹ sind, die <strong>de</strong>n<br />

betroffenen Menschen dabei helfen, in absurd großen Gebil<strong>de</strong>n tatsächlich zu überleben. Sie erweisen<br />

sich dabei <strong>de</strong>n staatlichen Strategien* überlegen, die - nicht nur in <strong>de</strong>n Großstädten - mehr und mehr<br />

versagen.<br />

Es gibt also eine generelle Metho<strong>de</strong>, wie mit Hilfe an-archischer Strukturen die Probleme großer Gebil<strong>de</strong><br />

angegangen wer<strong>de</strong>n können, und die lautet, einfach ausgedrückt: das große Ding muß wie<strong>de</strong>r in kleine<br />

Dinge ›zerlegt‹ wer<strong>de</strong>n, damit es übersichtlich wird, ein menschliches Maß bekommt, und die betroffenen<br />

Menschen wie<strong>de</strong>r damit umgehen können. Erst dann engagieren sie sich wie selbstverständlich in ihrem<br />

gesellschaftlichen Umfeld. Keiner black community* in <strong>de</strong>r Bronx aber wür<strong>de</strong> es einfallen, etwa für alle<br />

Schwarzen New Yorks ›zuständig‹ zu sein o<strong>de</strong>r für sie zu sprechen. Viele solcher communities können<br />

jedoch zusammenarbeiten und gemeinsam gesellschaftliche Tatsachen schaffen, die <strong>de</strong>r Situation aller<br />

Schwarzen New Yorks gerecht wür<strong>de</strong>n. Das ist nur ein Beispiel eines sozialen Bereiches einer einzelnen<br />

Stadt. Und die sterben<strong>de</strong>n Metropolen sind nur ein einziges Beispiel für viele an<strong>de</strong>re groteske<br />

Großgebil<strong>de</strong>, die Zentralismus, Konzentration, und Macht<strong>de</strong>nken hervorbringen. Mit Leichtigkeit ließen<br />

sich Analogien* etwa in <strong>de</strong>m zusammengebrochenen Kunstgebil<strong>de</strong> <strong>de</strong>r ›Supermacht Sowjetunion fin<strong>de</strong>n.<br />

O<strong>de</strong>r, uns besser vertraut, in <strong>de</strong>m Beispiel, wie siebzehn Millionen Deutsche in <strong>de</strong>r DDR vierzig Jahre<br />

zentralistischer Planwirtschaft überlebten: in<strong>de</strong>m sie nämlich völlig ungelekt, planlos und intuitiv* eine<br />

mächtige Nebenrealität mit eigener Gegenökonomie schufen. Diese ›Sub-<br />

60<br />

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kultur‹, von <strong>de</strong>r offiziellen Gesellschaft ignoriert, grün<strong>de</strong>te sich auf kleine Gruppen nachbarschaftlicher<br />

Zusammenhänge: Schwarzarbeit, Improvisation, gegenseitige Hilfe, Materialklau, Solidarität, Sabotage,<br />

Tauschwirtschaft, Schwänzen, Gegenkultur und <strong>de</strong>n <strong>de</strong>zentralen Aufbau von Wi<strong>de</strong>rstand und Opposition.<br />

All das half nicht nur beim Überleben in einem nicht-menschengerechten System, son<strong>de</strong>rn führte einen


<strong>de</strong>r bestorganisiertesten und - geschützten Zentralstaaten <strong>de</strong>r Welt sang- und klanglos in <strong>de</strong>n<br />

Zusammenbruch. Das macht Mut! Die Tatsache, daß diese ›Kultur an-archischer Sekundärtugen<strong>de</strong>n‹<br />

ihrerseits so sang- und klanglos von unserer westlichen Vi<strong>de</strong>oclip-Gesellschaft geschluckt wer<strong>de</strong>n konnte,<br />

sagt wenig über die Qualität jener alten DDR-Anti-Gesellschaft aus - dafür umso mehr über <strong>de</strong>n Mangel<br />

an Kraft und Alternativen, etwa seitens <strong>de</strong>r west<strong>de</strong>utschen Libertären.<br />

Wir erleben heute weltweit <strong>de</strong>n schleichen<strong>de</strong>n Bankrott aller Organisations- und Steuersysteme, die auf<br />

Zentralismus, Hierarchie, Machtkonzentration und Wachstum aufgebaut sind. Solche Strukturen stoßen<br />

überall an ihre Grenzen und scheitern immer häufiger. Die unerwartete Krise <strong>de</strong>s ›Mo<strong>de</strong>lls Supermacht‹<br />

in West und Ost ist hierfür ein Indiz, und die Tatsache, daß Europa in einer kleinkarierten<br />

Nachahmungstat versucht, sich an diesen Geisterzug anzuhängen, beweist lediglich einen Mangel an<br />

Weitblick und Weltblick.<br />

Ist Vernetzung leistungsfähig?<br />

Spätestens hier stellt sich aber die Frage nach <strong>de</strong>r Leistungsfähigkeit <strong>de</strong>r anarchistischen Alternative. Ich<br />

bin dieser Frage bisher aus <strong>de</strong>m Blickwinkel <strong>de</strong>r Anarchisten nachgegangen. Been<strong>de</strong>n möchte ich die<br />

Betrachtung dazu mit <strong>de</strong>r Perspektive von Leuten, die eher zu <strong>de</strong>n Gegnern <strong>de</strong>r Anarchie zu rechnen sind.<br />

Multinationale Konzerne wie etwa VW o<strong>de</strong>r die IBM sind seit geraumer Zeit damit beschäftigt, ihre<br />

großen sozialökonomischen Gebil<strong>de</strong> in kleine, überschaubare Bereiche zu zerglie<strong>de</strong>rn. Hierarchische<br />

Strukturen wer<strong>de</strong>n abgebaut, gleichberechtigte Gruppen von Menschen sollen im Konsens<br />

Problemlösungen fin<strong>de</strong>n und dürfen auch mit entschei<strong>de</strong>n. Von größerer Transparenz und direkter<br />

Beteiligung <strong>de</strong>r Mitarbeiter erhoffen sich die Unternehmen verstärkte I<strong>de</strong>ntifikation und erhöhtes<br />

Engagement. Kommt uns das nicht bekannt vor? IBM nennt das natürlich nicht Selbstverwaltung o<strong>de</strong>r<br />

Anarchie, son<strong>de</strong>rn verkauft das als Teil seiner neuen corporate i<strong>de</strong>ntity. Bei <strong>de</strong>r UNESCO laufen<br />

Forschungsvorhaben, bei <strong>de</strong>nen es um ›Mo<strong>de</strong>lle weltweiter Vernetzung kleiner, <strong>de</strong>zentraler Einheiten‹<br />

geht. Mit Ähnlichem beschäftigt sich <strong>de</strong>r Club of Rome. Evangelische Aka<strong>de</strong>mien und Managerschulen,<br />

quer<strong>de</strong>nken<strong>de</strong> Jesuiten und ein leibhaftiger Berliner Innensenator stoßen bei ihrer verzweifelten Suche<br />

nach leistungsfähigeren Strukturen immer häufiger auf Mo<strong>de</strong>lle, wie sie Anarchisten seit Generationen<br />

nicht mü<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n zu vertreten. Ja, sogar das Österreichische Bun<strong>de</strong>sheer <strong>de</strong>nkt laut darüber nach, wie es<br />

seine Effektivität mit einem Abbau von Hierarchie, Zentralismus und Autorität för<strong>de</strong>rn könnte.<br />

Das muß man sich auf <strong>de</strong>r Zunge zergehen lassen: libertäre Strukturen zur Leistungssteigerung einer<br />

Armee!<br />

61<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Was will ich damit sagen? Nicht, daß all diese Herren mitsamt ihren Institutionen <strong>de</strong>n Weg zur Anarchie<br />

eingeschlagen hätten. In <strong>de</strong>n meisten Fällen haben sie gar keine Ahnung von <strong>de</strong>m an-archischen<br />

Hintergrund <strong>de</strong>ssen, was sie da zu ent<strong>de</strong>cken beginnen. Sie haben allenfalls die Hälfte <strong>de</strong>r Lösung<br />

gefun<strong>de</strong>n, und diese kaum richtig verstan<strong>de</strong>n. Ein leben<strong>de</strong>r Beweis hierfür ist zweifellos Hans A.<br />

Pestalozzi, ehemaliger Leiter <strong>de</strong>s Schweizer "Duttweiler-Instituts", einer renommierten europäischen<br />

›Denkfabrik für Führungskräfte‹: In <strong>de</strong>m Moment, als er bei seiner Suche nach Alternativen mit<br />

erkennbarer Freu<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>n Anarchismus stieß, wur<strong>de</strong> er gefeuert.<br />

Nein, meine Schlußfolgerung ist indirekt. Wir waren <strong>de</strong>r Frage nachgegangen, ob libertäre Strukturen als<br />

leistungsfähig einzuschätzen sind. Nun, hier haben wir prominenteste Vertreter <strong>de</strong>s kausalen* Denkens,<br />

Jünger <strong>de</strong>s technokratischen* Managements, Führungskräfte, die nur an greifbaren und handfesten<br />

Resultaten interessiert sind. Und ausgerechnet die kommen auf <strong>de</strong>r Suche nach Mo<strong>de</strong>llen, mit <strong>de</strong>nen sie<br />

glauben, Menschen zu motivieren, um das Funktionieren ihrer globalen Maschinerie zu retten, auf<br />

libertäre Strukturen. Wenn das kein Argument ist!


Ich teile von diesem Glauben übrigens nur <strong>de</strong>n ersten Teil: daß solche Strukturen die Menschen -<br />

zumin<strong>de</strong>st zeitweise - zu mehr Engagement bringen können. Aber mit Sicherheit wer<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>re<br />

Strukturen allein dieses System nicht retten können. Es ist nicht zu retten. Das war gemeint, als ich gera<strong>de</strong><br />

sagte: Sie haben nur die Hälfte verstan<strong>de</strong>n.<br />

Wenn ein Konzern wie IBM Autorität reduziert und Zentralismus abbaut, so tut er das mit einer ganz<br />

an<strong>de</strong>ren Absicht als Anarchisten, die gleiches for<strong>de</strong>rn. IBM will die Effektivität seines Konzerns steigern,<br />

seinen Profit maximieren. Der Rest <strong>de</strong>r Welt ist dabei ziemlich egal. Die zentralen Fragen von Herrschaft,<br />

Ausbeutung o<strong>de</strong>r etwa Ökologie stehen nicht zur Debatte. Anarchisten hingegen erhoffen sich von <strong>de</strong>n<br />

gleichen Strukturen ein Mittel zur Erreichung eines herrschaftsfreien Zustan<strong>de</strong>s, ein Instrumentarium für<br />

das Funktionieren <strong>de</strong>r Anarchie.<br />

Wir haben uns in diesem Kapitel mit Strukturen befaßt. Strukturen aber sind nur Formen. Es kommt<br />

jedoch ganz erheblich auf die Inhalte an, auf die Ethik, die mit <strong>de</strong>n Strukturen verbun<strong>de</strong>n wird. Gewisse<br />

Strukturen können für eine bestimmte Ethik beson<strong>de</strong>rs geeignet sein. Die Vernetzung <strong>de</strong>zentraler, kleiner<br />

Einheiten ist mit Sicherheit eine sehr geeignete Struktur für die anarchistische Ethik (und es ist sehr<br />

zweifelhaft, ob sie zur Rettung <strong>de</strong>r Profitwelt auch nur annähernd so gut taugt wie die erwähnten Herren<br />

sich das erhoffen) - aber von selbst und an sich besagt eine Struktur noch gar nichts über die Qualität<br />

<strong>de</strong>ssen, was dabei herauskommt. Zynischstes Beispiel dafür dürfte wohl die Tatsache sein, daß die Nazis<br />

es selbst in ihren Konzentrationslagern verstan<strong>de</strong>n, gewisse Formen <strong>de</strong>r ›Selbstverwaltung‹ von<br />

Gefangenen in <strong>de</strong>n Dienst ihrer Massenvernichtung zu stellen...<br />

Allerdings darf man nicht in <strong>de</strong>n Irrtum verfallen, eine gute Struktur schon <strong>de</strong>shalb als schlecht o<strong>de</strong>r<br />

verwerflich anzusehen, weil ein Gegner sie für die falschen Ziele einzusetzen versucht. Das ist genauso<br />

dumm wie <strong>de</strong>r Glaube daran, daß sich eine ›richtige Struktur‹ ohne die passen<strong>de</strong> Ethik in befreien<strong>de</strong><br />

Aktion und befreite Alternativen umwan<strong>de</strong>ln müsse.<br />

62<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Eines jedoch läßt sich aus all diesen Überlegungen ableiten: Anarchisten haben keineswegs ein Monopol<br />

auf gute I<strong>de</strong>en, und wenn an<strong>de</strong>re Menschen zu ähnlichen Erkenntnissen kommen, zeigt es im Grun<strong>de</strong> nur,<br />

daß libertäre I<strong>de</strong>en so abwegig nicht sein können. Darüber sollten Anarchisten sich eigentlich freuen.<br />

Statt<strong>de</strong>ssen erregen sie sich oft und gerne in rechthaberischer Eifersüchtelei und mokieren sich mit<br />

Vorliebe über frem<strong>de</strong>n Stallgeruch: Kommen die I<strong>de</strong>en nicht aus <strong>de</strong>m eigenen politischen Lager, bleiben<br />

sie in aller Regel verdächtig. Ich <strong>de</strong>nke hierbei weniger an IBM, son<strong>de</strong>rn mehr an Menschen wie Leopold<br />

Kohr, <strong>de</strong>n österreichischen Publizisten, <strong>de</strong>r das modisch gewor<strong>de</strong>ne Schlagwort small is beautiful prägte.<br />

Er war beileibe kein Anarchist, hatte im Gegenteil eher einen konservativ-katholischen Hintergrund, was<br />

ihn aber offenbar nicht daran hin<strong>de</strong>rte, in Fragen <strong>de</strong>r Gesellschaftsstruktur einen scharfen, analytischen<br />

Blick zu beweisen. O<strong>de</strong>r an die Diskussion in <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Naturwissenschaft, die heute mit Hilfe <strong>de</strong>r<br />

›Chaos-Theorie‹ das Paradox erforscht, daß es offenbar keine praktischen Regeln o<strong>de</strong>r überall gleich<br />

anwendbaren Naturgesetze von Ursache und Wirkung gibt, mit <strong>de</strong>nen die natürlichen Phänomene<br />

berechnet wer<strong>de</strong>n könnten, obwohl doch ›die Natur‹ in diesem Chaos erstaunlich vital und erfolgreich ihr<br />

Leben organisiert. O<strong>de</strong>r an die Zigtausen<strong>de</strong> von Menschen, die seit über 20 Jahren <strong>de</strong>n<br />

Organisationsformen von Vereinen und Parteien <strong>de</strong>n Rücken kehren, um ihre Anliegen in<br />

Bürgerinitiativen und Basisinitiativen zu vertreten, sich munter miteinan<strong>de</strong>r vernetzen und auf diese<br />

Weise die politisch-soziale Wirklichkeit unseres Lan<strong>de</strong>s spürbar beeinflußt haben.<br />

Ein Blick in die Praxis<br />

Es hat <strong>de</strong>n Anschein, daß sich die meisten Anarchisten mit <strong>de</strong>r einfachen Erkenntnis schwer tun, daß anarchische<br />

Strukturen, Formen und I<strong>de</strong>en nicht an anarchistische Theorie und I<strong>de</strong>ologie gebun<strong>de</strong>n sind.<br />

Dabei ließen sich für diese Annahme noch viele weitere Beispiele fin<strong>de</strong>n, und im Grun<strong>de</strong> müßten sie<br />

je<strong>de</strong>n Anarchisten ermutigen, zeigen sie doch, daß ihre I<strong>de</strong>en im Grun<strong>de</strong> so naheliegend sind, daß sie<br />

quasi überall ›in <strong>de</strong>r Luft liegen‹. Aber Anarchisten pflegen ihre Berührungsängste mit großer Hingabe


und überwin<strong>de</strong>n sie meist nur dann, wenn prominente Denker wie Pestalozzi o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Linguist und<br />

Strukturalist Noam Chomsky von sich aus zum Anarchismus fin<strong>de</strong>n. Dabei wür<strong>de</strong> es ihren<br />

Überzeugungen keineswegs wi<strong>de</strong>rsprechen, ein wenig mutiger querbeet und interdisziplinär* zu <strong>de</strong>nken<br />

und zu han<strong>de</strong>ln. Denn bei<strong>de</strong>s: intuitiv-anarchisches Spontanhan<strong>de</strong>ln und bewußt anarchistisches Vorgehen<br />

könnten sich ohne Frage gegenseitig bereichern.<br />

Dabei gibt es sie eigentlich schon, diese gegenseitige Verbindung, und die Grenze zwischen bewußtem<br />

und intuitivem Han<strong>de</strong>ln ist in vielen Fällen fließend. In zahllosen Bereichen <strong>de</strong>r Gesellschaft beginnt das<br />

Denken in hierarchischen Strukturen zu bröckeln, um einem Denken in an-archischen Strukturen Platz zu<br />

machen. Es ist dabei nicht immer genau auszumachen, ob dieser Prozeß nun ein bewußter Rückgriff auf<br />

<strong>de</strong>n Anarchismus ist o<strong>de</strong>r eine ›Eigenent<strong>de</strong>ckung‹. Im Grun<strong>de</strong> ist das auch keine wichtige Frage. Wichtig<br />

ist, wie sich <strong>de</strong>r Anarchismus hierzu verhält.1<br />

1) Siehe Kapitel 38!<br />

63<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Nach soviel Struktur, Theorie und Spekulation noch ein abschließen<strong>de</strong>r Blick in die Praxis. Alles, was in<br />

diesem Kapitel ausgebreitet wur<strong>de</strong>, ist vom Prinzip her nichts Neues im Anarchismus. Die Theorien von<br />

Dezentralität, kleinen Einheiten, Selbstorganisation und Vernetzung sind zwar in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten<br />

sehr viel klarer und schärfer entwickelt wor<strong>de</strong>n, im Grun<strong>de</strong> aber ein alter Hut. Früher nannte man<br />

Vernetzung eben Fö<strong>de</strong>ration – ein Wort, das im heutigen politischen Sprachgebrauch eine eher harmlose<br />

Be<strong>de</strong>utung bekommen hat, weshalb ich <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rneren Begriff vorgezogen habe.<br />

In <strong>de</strong>r Tat haben sich solche Strukturen bereits in etlichen anarchistischen o<strong>de</strong>r anarchoi<strong>de</strong>n* Beispielen<br />

praktisch bewährt. Alle kann ich hier nicht aufzählen, manche wer<strong>de</strong>n wir noch näher kennenlernen.<br />

Erinnern will ich nur daran, daß Anarchisten auf diese Weise zum Beispiel sehr effektiv die<br />

Millionenstadt Barcelona verwaltet haben1 und darüberhinaus das soziale Leben ganzer Provinzen. Die<br />

jüdischen Kibbuzim sind ein sehr lehrreiches Beispiel <strong>de</strong>zentraler Vernetzung, anarchistisch inspiriert und<br />

viel älter als <strong>de</strong>r Staat Israel2. Zur Blütezeit <strong>de</strong>s Anarchosyndikalismus haben sich Millionen von<br />

Mitglie<strong>de</strong>rn anarchistischer Gewerkschaften weltweit vernetzt und ohne Zentralismus und Hierarchie<br />

erfolgreich organisiert.3 Und die chaotisch-<strong>de</strong>zentrale Massenbewegung‹ eines Mahatma Gandhi zwang<br />

in Indien das britische Weltreich in die Knie - ohne Gewalt und ohne Machtapparat.4<br />

1-4) Siehe zu (1) Kapitel 44, zu (2) Kapitel 35, zu (3) Kapitel 32 und zu (4) Kapitel 36!<br />

Literatur:<br />

/ Colin Ward: Anarchismus als Organisationstheorie Siegen 1983, Winddruck, 43 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Harmonie durch Vielfalt in: Unter <strong>de</strong>m Pflaster liegt <strong>de</strong>r Strand Bd. 3, Berlin 1976, Karin Kramer,<br />

192 S.<br />

/ Paul Feyerabend: Experten in einer freien Gesellschaft ebda,<br />

/ George Woodcock: Das <strong>de</strong>zentrale Potential in: <strong>de</strong>rs.: Traditionen <strong>de</strong>r Freiheit Mülheim/ Ruhr 1988,<br />

Trafik, 144 S.<br />

/ Karl Hahn: Fö<strong>de</strong>ralismus, die <strong>de</strong>mokratische Alternative München 1975, E.A.Vögel, 357 S.<br />

/ N.N.: Die Organisation <strong>de</strong>r autonomen Zellen Osnabrück o.J. (1971?), 24 S.<br />

Kapitel 13<br />

Chaos, o<strong>de</strong>r was ...?<br />

"Was wissen wir, ob Weltenschöpfungen nicht die Folgen von stürzen<strong>de</strong>n Sandkörnchen sind?"<br />

- Victor Hugo -


GANZ GEWISS HABEN SIE SICH schon einmal über die Wettervorhersage geärgert. Ob sie stimmt<br />

o<strong>de</strong>r nicht, gleicht einem Lotteriespiel. Das reinste Chaos! Weshalb aber ist, bei all <strong>de</strong>n technischen<br />

Möglichkeiten, bei unzähligen Meßdaten und Computersimulation* keine genaue Prognose* möglich?<br />

Diese Frage stellte sich auch <strong>de</strong>r verzweifelte Meteorologe Edward Lorenz, <strong>de</strong>r eben dies 1963 im<br />

Massachusetts Institute of Technology versuchte. Bei nur minimalen Abweichungen seiner<br />

Ausgangsdaten kam es jedoch stets zu ungeheuer großen Abweichungen bei <strong>de</strong>n Resultaten. Lorenz stand<br />

vor <strong>de</strong>m Chaos, versuchte es zu ergrün<strong>de</strong>n und kam ihm auf die<br />

64<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Spur. Als Zwischenergebnis wur<strong>de</strong> die inzwischen oft kolportierte* Erkenntnis formuliert, daß theoretisch<br />

<strong>de</strong>r Flügelschlag eines Schmetterlings in China genügt, um zwei Wochen später in Amerika einen<br />

Wirbelsturm auszulösen.<br />

Hinter diesem scheinbaren Unsinn verbirgt sich die einfache Erkenntnis, daß die Natur nicht berechenbar<br />

ist, <strong>de</strong>nn sie ist ein ›komplexes System‹, <strong>de</strong>ssen Eigenschaften ›nicht linear*‹ sind. Die klassische<br />

Wissenschaft hingegen war stets von linearen Bedingungen ausgegangen, auf <strong>de</strong>nen sie ihre Naturgesetze<br />

aufbaute. Diese Naturgesetze ›stimmen‹ zwar, aber eben nur unter künstlich vereinfachten Bedingungen.<br />

Die zahlreichen ›Wechselwirkungen‹ im wichtlinearen Systemen Natur‹ aber führen zu <strong>de</strong>m, was wir alle<br />

aus eigener Lebensanschauung kennen: daß nämlich die meisten Naturphänomene nicht durchschaubar,<br />

nicht vorhersehbar und nicht berechenbar sind - mit einem Wort: chaotisch. Wie in Wirklichkeit (und<br />

nicht im Labor unter linearen, also vereinfachten Bedingungen) ein Pen<strong>de</strong>l schlägt, wohin eine<br />

Roulettekugel rollt, welche Gestalt eine Wolke annimmt, wie die Milch im Kaffee stru<strong>de</strong>lt, wie ein<br />

Gletscher o<strong>de</strong>r ein Baum wächst o<strong>de</strong>r wie sich eben das ›komplexe Phänomen Wette‹ entwickelt, kann<br />

gera<strong>de</strong> nicht vorhergesagt und berechnet wer<strong>de</strong>n. Außerhalb <strong>de</strong>s Labors und <strong>de</strong>r theoretischen<br />

Versuchsanordnungen, die alles Stören<strong>de</strong> eliminieren*, bestimmt eben nicht die gedanklich-abstrakte<br />

Vereinfachung, son<strong>de</strong>rn die tatsächlich-natürliche Komplexität. Und dabei sind nichtlineare<br />

›Aufbaumechanismen‹ am Werk, die dazu führen, daß sich scheinbar belanglos-minimale Schwankungen<br />

<strong>de</strong>r Anfangsbedingungen eines Zustan<strong>de</strong>s durch ›Rückkopplungen‹ <strong>de</strong>rart aufschaukeln, daß ihr<br />

Endzustand nicht mehr berechenbar ist. Wie eben jene Sache mit <strong>de</strong>m Schmetterling und <strong>de</strong>m<br />

Wirbelsturm.<br />

Minimale Unterschie<strong>de</strong> wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r klassischen Wissenschaft bisher vernachlässigt. Da die<br />

Wirklichkeit ›Natur‹ dies aber nicht tut, und da diese Kleinigkeiten enorme Auswirkungen haben, erweist<br />

sich die Vereinfachung <strong>de</strong>r ›linearen Wissenschaft als untauglich, die Natur völlig zu verstehen,<br />

geschweige <strong>de</strong>nn, sie zu beherrschen, was ja seit jeher <strong>de</strong>r Traum aller angewandten Wissenschaft war.<br />

Chaos ist, weil unberechenbar, auch unbeherrschbar.<br />

Edward Lorenz war unversehens auf atemberaubend spannen<strong>de</strong> Zusammenhänge gestoßen, die ihn nicht<br />

mehr losließen. Es war klar, daß sich Klima nicht prognostizieren* läßt, und es ließ sich auch sagen,<br />

warum. Statt sich weiter <strong>de</strong>r Wettervorhersage zu widmen, ging er <strong>de</strong>n Fragen nach, die sich aus dieser<br />

Tatsache ergaben und wur<strong>de</strong> so zu einem <strong>de</strong>r Begrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ssen, was wir heute salopp* die Chaostheorie<br />

nennen, von Wissenschaftlern aber lieber als Nichtlinearität, Strukturwissenschaft o<strong>de</strong>r Theorie<br />

komplexer Systeme bezeichnet wird. Aber das war erst <strong>de</strong>r Anfang.<br />

Etwa zur gleichen Zeit plagte sich <strong>de</strong>r polnischstämmige Physiker Benoit Man<strong>de</strong>lbrot in einem<br />

Forschungszentrum <strong>de</strong>r IBM bei New York mit Fehlern herum, die bei <strong>de</strong>r Datenübertragung durch<br />

Telefonleitungen immer wie<strong>de</strong>r auftraten. Diese Fehler schienen völlig chaotisch, hatten aber die<br />

merkwürdige Eigenschaft, stets gehäuft aufzutreten, unterbrochen von längeren fehlerfreien Perio<strong>de</strong>n.<br />

Solche fehlerfreien Abschnitte wie<strong>de</strong>rholten sich jedoch auch in je<strong>de</strong>r Fehlerhäufung wie<strong>de</strong>rum in <strong>de</strong>r<br />

selben Struktur. Je weiter er ins<br />

65


--------------------------------------------------------------------------------<br />

Detail ging, <strong>de</strong>sto kleiner erschien wie<strong>de</strong>r dasselbe Muster. Hinter dieser ›Selbstähnlichkeit‹ vermutete<br />

Man<strong>de</strong>lbrot mit Recht mehr als nur Zufall.<br />

Mit Hilfe <strong>de</strong>r experimentellen Mathematik versuchte er, das Chaos in Formeln zu fassen. Inzwischen<br />

stan<strong>de</strong>n leistungsfähige Computer zur Verfügung, die als fleißige Rechenknechte nicht nur unzählige<br />

Rechenvorgänge schnell erledigten, son<strong>de</strong>rn diese auch noch als Grafik auf <strong>de</strong>m Bildschirm abbil<strong>de</strong>n<br />

konnten. Man<strong>de</strong>lbrot unterzog Zahlen <strong>de</strong>r mathematischen Rückkopplung einer nichtlinearen Gleichung,<br />

aufgrund <strong>de</strong>ren Ergebnis entschie<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>, ob <strong>de</strong>r ›Punkt‹ abgebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n soll o<strong>de</strong>r nicht. Hinter <strong>de</strong>m<br />

Begriff ›Rückkopplung‹ verbirgt sich <strong>de</strong>r Trick, daß das Ergebnis wie<strong>de</strong>r in die Stanformel ›eingefüttert‹<br />

wird. Mit Hilfe einer relativ einfachen quadratischen Funktion wur<strong>de</strong> Man<strong>de</strong>lbrot 1980 zum Vater <strong>de</strong>s<br />

›Apfelmännchens‹, einer inzwischen berühmt gewor<strong>de</strong>nen Computerfigur, die ihren Spitznamen einer<br />

eigenartigen Symmetrie verdankt, die auf <strong>de</strong>n ersten Blick an mehrere aufeinan<strong>de</strong>rgesetzte Äpfel<br />

verschie<strong>de</strong>ner Größe erinnert. Sie ist nicht nur ästhetisch schön, son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>r Lage, optisch die<br />

›Selbstähnlichkeit‹ beeindruckend zu <strong>de</strong>monstrieren: In <strong>de</strong>n Konturen wie<strong>de</strong>rholen sich ständig und<br />

scheinbar wirr bizarre, verästelte Formen, die, je mehr man die Grafik rechnerisch vergrößert, immer<br />

wie<strong>de</strong>r in verwirren<strong>de</strong>r Vielfalt auftauchen. Sie sind sich alle irgendwie ähnlich aber nicht i<strong>de</strong>ntisch und<br />

erinnern verblüffend an Formen, wie wir sie auch aus <strong>de</strong>r Natur kennen.<br />

Solche Figuren zu ›berechnen‹ o<strong>de</strong>r zu ›vermessen‹, erwies sich als unmöglich. We<strong>de</strong>r ihrer Fläche noch<br />

ihrem Umfang war mit <strong>de</strong>n geometrischen Grun<strong>de</strong>lementen wie Linie, Fläche o<strong>de</strong>r Würfel beizukommen.<br />

I<strong>de</strong>alisiert-erdachte Objekte wie Pyrami<strong>de</strong>, Würfel o<strong>de</strong>r Kugel haben eine ganzzahlige Dimension, aber<br />

solche Körper gibt es in <strong>de</strong>r Natur nicht, wie je<strong>de</strong>s genaue Hinsehen beweist. Bei einem kugelförmigen<br />

Wollknäuel überzeugt <strong>de</strong>r bloße Anblick, beim Kopf <strong>de</strong>r Blick durch die Lupe und bei einer Kugel aus<br />

Elfenbein <strong>de</strong>r durch ein leistungsstarkes Mikroskop. Natürliche - also ›chaotische‹ - Objekte haben im<br />

Gegensatz dazu keine ganzzahlige Dimension, also nicht eins, zwei o<strong>de</strong>r drei, son<strong>de</strong>rn einen Wert<br />

dazwischen - im Fall <strong>de</strong>r Küstenlinie Englands etwa 1,5. Man<strong>de</strong>lbrot gab solchen Zwischendimensionen<br />

<strong>de</strong>n Namen ›Fraktale‹. Ihre Zahl ist ein brauchbares Maß dafür, wie ›zerklüftet‹ das fraktale Gebil<strong>de</strong> ist.<br />

Die Wissenschaft hatte also ent<strong>de</strong>ckt, daß sie etwa die Aufgabe "Berechnen Sie die Oberfläche einer<br />

Katze samt Haaren" nie wür<strong>de</strong> lösen können, und fahn<strong>de</strong>te erfolgreich nach <strong>de</strong>r Struktur dieses Problems.<br />

Fraktale sind <strong>de</strong>mnach nicht mehr recht Linie, aber auch noch nicht richtig Fläche; etwas, was es in <strong>de</strong>r<br />

Trigonometrie eigentlich nicht gibt. In <strong>de</strong>r Natur aber sehr wohl: Die meisten natürlichen Formen wie<br />

Pflanzen, Wolken o<strong>de</strong>r Gebirge haben ›fraktale Eigenschaften‹. Daher erstaunt es auch nicht, daß alle<br />

möglichen Computerbil<strong>de</strong>r, die aus verschie<strong>de</strong>nsten fraktalen Formeln entstehen, natürlichen Formen<br />

verblüffend ähneln. Ebenso sind viele natürliche Gebil<strong>de</strong> selbstähnlich. Wir kennen das vom Rand <strong>de</strong>s<br />

Farns ebenso wie von <strong>de</strong>n Verzweigungen und Verästelungen bei Baum und Blatt, bei Küstenlinien,<br />

Gebirgsformen, Gletscheroberflächen, Eiskristallen o<strong>de</strong>r Molekülstrukturen. Künstliche<br />

Selbstähnlichkeiten schafft <strong>de</strong>r Mensch als kreative Schöpfung etwa in Orna-<br />

66<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

mentmustern o<strong>de</strong>r Arabesken , die kleine Formen in großen wie<strong>de</strong>rholen und die wir vielleicht <strong>de</strong>shalb so<br />

reizvoll fin<strong>de</strong>n, weil sie uns - genau wie die fraktalen Computergrafiken - an Formen erinnern, die wir aus<br />

<strong>de</strong>r Natur kennen. Eben - chaotische Formen.<br />

Revolution <strong>de</strong>s Denkens<br />

Mit <strong>de</strong>n Begriffen ›nichtlinearer, komplexer Systeme‹ und <strong>de</strong>m Handwerkszeug <strong>de</strong>r ›fraktalen<br />

Dimension‹ war <strong>de</strong>r Startschuß zu <strong>de</strong>r wild wuchern<strong>de</strong>n, untereinan<strong>de</strong>r zerstrittenen und keineswegs<br />

abgeschlossenen neuen Denkrichtung Chaostheorie gefallen. Es gibt einen guten Grund, diese<br />

Entwicklung hier relativ ausführlich darzustellen: Die Chaostheorie steht für <strong>de</strong>n Beginn eines


wissenschaftlichen Paradigmenwechsels. Es geht also um eine Neufassung <strong>de</strong>r methodischen und<br />

philosophischen Herangehensweise <strong>de</strong>r Wissenschaft an Natur und Mensch, mithin um eine Revolution<br />

<strong>de</strong>s Denkens. Und Revolutionen <strong>de</strong>s Denkens ziehen auch Verän<strong>de</strong>rungen im sozialen Leben nach sich.<br />

Vor Newton galt die Bibel und nach Newton <strong>de</strong>r Determinismus*. Niemand wird behaupten, daß diese<br />

wissenschaftstheoretischen Hintergrün<strong>de</strong> nicht nachhaltig das reale Leben beeinflußt hätten. Nicht<br />

umsonst spricht man vom wissenschaftlichen ›Weltbild‹. Vor <strong>de</strong>r Aufklärung wur<strong>de</strong>n Menschen, die<br />

bestritten, daß die Sonne um die Er<strong>de</strong> kreiste o<strong>de</strong>r nicht an <strong>de</strong>n göttlichen Schöpfungsplan glaubten, als<br />

Ketzer verbrannt. Eine zwar weniger blutige aber trotz<strong>de</strong>m folgenschwere intellektuelle Tyrannei* lastet<br />

seit <strong>de</strong>r Aufklärung auf <strong>de</strong>njenigen, die <strong>de</strong>n Kern <strong>de</strong>s Determinismus anzweifeln, alles sei durch Ursache<br />

und Wirkung erklärbar, also vorhersehbar und berechenbar, wobei <strong>de</strong>r menschliche Wille keine<br />

Be<strong>de</strong>utung habe. Wie so oft bei <strong>de</strong>r Anwendung von Theorien nahm übrigens Newton selbst die<br />

Schlußfolgerungen aus seinen mechanischen Gesetzen bei weitem nicht so ernst wie seine späteren<br />

Anhänger.<br />

Seit Laplace unter Berufung auf Newton behauptete, die Welt sei im Grun<strong>de</strong> nichts als eine Summe von<br />

Maschinen und daher mit Hilfe <strong>de</strong>r Mechanik im Prinzip berechenbar, behauptete die Philosophie <strong>de</strong>r<br />

Aufklärung Ähnliches über das Wesen <strong>de</strong>s Menschen und die soziale Entwicklung. Der starre<br />

Determinismus von Marx' ›historischem Materialismus‹ ist davon nur ein legitimes Kind.<br />

Deshalb kann es uns nicht egal sein, wenn sich durch die Einsichten <strong>de</strong>r Chaostheorie plötzlich die<br />

Grenzen zwischen Physik und Ökologie, Chemie und Soziologie, Mathematik und Philosophie<br />

verwischen, und wenn die Wissenschaft beginnt, sich von theoretischen Mo<strong>de</strong>llen abstrakter<br />

Gleichmacherei abzuwen<strong>de</strong>n, um in die chaotischen Strukturen <strong>de</strong>r natürlichen Phänomene einzudringen.<br />

Uns interessiert hier nicht die höhere Mathematik, son<strong>de</strong>rn das neue Weltbild, das sich hinter <strong>de</strong>r<br />

Chaostheorie versteckt und hier und da zaghaft hervorschaut.<br />

Bruchstücke davon wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utlich, wenn etwa <strong>de</strong>r Physiker Bernd-Olaf Küppers vom Max-Planck-<br />

Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen davon spricht, daß "die kreative, bunte, vielgestaltige<br />

Welt nun wie<strong>de</strong>r ins Zentrum aka<strong>de</strong>mischer Neugier rückt". Nach seiner Interpretation <strong>de</strong>r Chaostheorie<br />

führen beispielsweise die erstmals untersuch-<br />

67<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

ten Rückkopplungs-Phänomene dazu, daß <strong>de</strong>r Endzustand eines Systems nicht ein für allemal fixiert ist,<br />

son<strong>de</strong>rn zum Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung wird. Sein Statement gipfelt in <strong>de</strong>r Aussage, daß<br />

sich die Welt selbst organisiert: "Treten natürliche Auslese- und Optimierungsprozesse hinzu, kann eine<br />

›Selbstorganisation‹ <strong>de</strong>r Materie in Gang kommen. (...) Dieselben Wechselwirkungen, die ein System<br />

nichtberechenbar machen, sind also letztendlich auch die Quelle für <strong>de</strong>ssen Komplexität." Küppers spricht<br />

hier nicht von Politik o<strong>de</strong>r sozialen Strukturen, son<strong>de</strong>rn von "Materie", fügt aber selbst hinzu: "Dies wird<br />

Rückwirkungen auf unser wissenschaftliches Weltbild haben und damit auch auf das Selbstverständnis<br />

<strong>de</strong>r Menschheit, <strong>de</strong>nn wissenschaftliche Erkenntnisse haben seit eh und je Weltanschauungen beeinflußt.<br />

(...) Sie [die Wissenschaft] macht auch das Unberechenbare wie<strong>de</strong>r ›berechenbar‹, in<strong>de</strong>m sie uns die<br />

Augen öffnet für Chaos und für Nichtlinearität als Quelle <strong>de</strong>r bunten Vielfalt unserer Welt."<br />

Nun gut, die Wissenschaft hat also die Komplexität <strong>de</strong>r realen Natur ent<strong>de</strong>ckt und beginnt, sie zu<br />

erforschen. Alles, was sie dabei nicht berechnen kann, nennt sie ›Chaos‹. Dabei ist ihr aufgegangen, daß<br />

ein Kopf keine Kugel ist, ein Penis kein Zylin<strong>de</strong>r und ein Busen kein Kegel, worüber sie sich sehr<br />

gewun<strong>de</strong>n hat — Sie und ich wissen das aber schon lange.<br />

Was hat das aber alles mit Anarchie zu tun?<br />

Direkt nichts, aber indirekt eine ganze Menge.


Das brutale und das sanfte Chaos<br />

Bisher wur<strong>de</strong> in diesem Buch das Wort ›Chaos‹ wi<strong>de</strong>rsprüchlich verwen<strong>de</strong>t. Einmal wur<strong>de</strong> behauptet,<br />

Anarchie sei kein Chaos, dann wie<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> Chaos im Leben gera<strong>de</strong>zu gefor<strong>de</strong>rt. Wie ist das zu erklären<br />

- sind Anarchos nun ›Chaoten‹ o<strong>de</strong>r nicht?<br />

Nun, ich habe das Wort ganz einfach im landläufigen Sinne benutzt, als Unordnung. Was aber heißt<br />

Unordnung eigentlich? Da gibt es zwei Sichtweisen:<br />

Zum einen, wenn etwas so chaotisch ist, daß nichts funktioniert. Dann bringt die Unordnung Katastrophen<br />

für das System hervor. Dies ist die negative Definition, und angewandt auf die menschliche Gesellschaft<br />

möchte ich sie das ›brutale Chaos‹ nennen. Diese Wortbe<strong>de</strong>utung von Chaos ist gemeint, wenn <strong>de</strong>r<br />

Anarchismus etwa die verheeren<strong>de</strong> Unordnung <strong>de</strong>s staatlichen Systems und seiner Wirtschaft kritisiert<br />

und von sich selbst behauptet, "Anarchie ist nicht Chaos, son<strong>de</strong>rn Ordnung ohne Herrschaft".<br />

Zum an<strong>de</strong>ren, wenn etwas so kompliziert ist, daß wir es nicht verstehen. Das be<strong>de</strong>utet keineswegs, daß<br />

dieses ›Chaos-System‹ etwa nicht funktionieren wür<strong>de</strong> - im Gegenteil! Etwas so komplex-chaotisches wie<br />

die Natur funktioniert hervorragend, nur, wir begreifen sie kaum, und <strong>de</strong>shalb nennen wir sie ›chaotisch‹.<br />

Diese positive Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Wortes ›Chaos‹ war angesprochen, wenn es beispielsweise im Kapitel über<br />

Lebensart hieß, das Leben solle "bunt, vielfältig, kreativ und chaotisch" sein. Im sozialen Bereich wür<strong>de</strong><br />

ich dies das ›sanfte Chaos‹ nennen.<br />

Was die wissenschaftliche Chaostheorie betrifft, so bezieht sie sich ganz ein<strong>de</strong>utig auf<br />

68<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

diese zweite Form. Sie beschreibt keine Systeme, die nicht funktionieren, son<strong>de</strong>rn Systeme, die<br />

funktionieren, ohne daß sie vorhersagbar wären. Küppers schreibt: "Chaos ist also hier im Grun<strong>de</strong><br />

genommen nur ein an<strong>de</strong>res Wort für das Unberechenbare".<br />

Im ›brutalen Chaos‹ gibt es kein System, es regiert <strong>de</strong>r zerstörerische Zufall. Im ›sanften Chaos‹ ist<br />

System, aber es ist schwer zu begreifen. Alles das, was die Chaostheorie beschreibt, ist Chaos mit System.<br />

Menschen und Moleküle sind nicht dasselbe<br />

Das scheint nun alles wun<strong>de</strong>rschön auf <strong>de</strong>n Anarchismus zu passen. Wir brauchen nur Molekülgitter mit<br />

Menschen gleichzusetzen, und schon erkennen wir, daß auch <strong>de</strong>r Anarchismus als soziale Theorie "bunt,<br />

vielfältig und komplex" ist, sich "selbstverwaltet" organisiert und ein System ist, <strong>de</strong>ssen "Endzustand<br />

Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung" ist. Auch <strong>de</strong>r Anarchismus schlägt eine Struktur vor, die uns<br />

›chaotisch‹ erscheint, weil wir sie nicht ohne weiteres verstehen, die aber - so behaupten wenigstens die<br />

Anarchisten - hervorragend funktioniert. Wun<strong>de</strong>rbar.<br />

Aber Vorsicht! Anarchismus ist nicht Natur und Natur ist nicht anarchistisch. Möglicherweise haben sie<br />

vergleichbare Strukturen, und Anarchisten vermuten, daß ihr horizontal-›chaotisches‹ Sozialsystem sich<br />

besser mit <strong>de</strong>r Natur verträgt, als das vertikal-hierarchische. Das mag stimmen, aber <strong>de</strong>nnoch ist es nicht<br />

dasselbe. Verfallen wir nicht in <strong>de</strong>n Fehler <strong>de</strong>r Aufklärung, die innere Logik von Newtons mechanischen<br />

Gesetzen einfach auf die Menschheit zu übertragen!<br />

Naturwissenschaften versuchen, die real existieren<strong>de</strong> Natur zu beschreiben, zu begreifen und zu<br />

interpretieren. Soziale Systeme aber kommen vom Menschen und sind für <strong>de</strong>n Menschen gedacht, sie sind<br />

subjektiv und in ihnen spiegeln sich neben Erkenntnissen auch Wünsche. Die Naturwissenschaft darf<br />

nicht sagen, wie sie's gerne hätte, son<strong>de</strong>rn, wie's ist. Der Mensch aber darf das wohl (und <strong>de</strong>r<br />

Anarchismus tut dies sehr heftig).


Nun scheinen zwar Chaosforscher wie <strong>de</strong>r Chemie-Nobelpreisträger Ilya Prigogine o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Stuttgarter<br />

Physikprofessor Hermann Haken auch die menschliche Gesellschaft als ein "nichtlineares, dynamisches<br />

System" zu betrachten, was man ja als sprachliche Analogie durchaus noch akzeptieren kann. Sobald aber<br />

die Naturwissenschaft beginnt, ihre Computersimulationen von Schneeflocken und Molekülketten auf die<br />

sozialen Zusammenhänge lebendiger Menschen zu projizieren, vergißt sie ganz einfach das, was <strong>de</strong>n<br />

Menschen ausmacht: <strong>de</strong>n subjektiven Faktor, o<strong>de</strong>r, an<strong>de</strong>rs ausgedrückt, <strong>de</strong>n Willen. Der Philosoph und<br />

Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend, <strong>de</strong>r durch seine "anarchistische Erkenntnistheorie" bekannt<br />

wur<strong>de</strong>, meint hierzu:<br />

"Was aber <strong>de</strong>n Prigogine selbst betrifft, so erfüllen mich seine I<strong>de</strong>en keineswegs mit Freu<strong>de</strong>. Was<br />

dahintersteckt, ist <strong>de</strong>r Versuch, eine anfassen<strong>de</strong> und einheitliche Theorie aller wichtigen Erscheinungen in<br />

<strong>de</strong>r Welt zu fin<strong>de</strong>n, das heißt, (...) eine neue intellektuelle Tyrannei, die selbst die Humanoria* auf die<br />

Monotonie* eines einzigen Schemas reduzieren will."<br />

Diese Befürchtung ist nicht so weit hergeholt. Heute wer<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Chaostheorie in<br />

69<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

einem Aufwasch die Bildung von Eiskristallen und die französischen Jugendrevolten, <strong>de</strong>r Umfang <strong>de</strong>s<br />

Apfelmännchens und die Geldzirkulation ›erklärt‹, und vermutlich wird es nicht mehr lange dauern, bis<br />

das Pentagon* an Microsoft <strong>de</strong>n Auftrag vergibt, die soziale Revolution zu simulieren und als fraktales<br />

Diagramm* auszudrucken.<br />

Im Moment ist die Chaostheorie eine Mo<strong>de</strong>erscheinung – ein Steinbruch, in <strong>de</strong>m sich je<strong>de</strong>r bedient.<br />

Während <strong>de</strong>r Göttinger Nobelpreisträger Manfred Eigen hier (durchaus seriös) die biochemischen<br />

Bausteine fin<strong>de</strong>t, um die Lücken <strong>de</strong>r Darwinschen Evolutionstheorie zu schließen, suchen sich zur<br />

gleichen Zeit (be<strong>de</strong>utend weniger seriös) sogenannte ›Kreationisten‹ die Brocken heraus, mit <strong>de</strong>nen sie<br />

glauben, die I<strong>de</strong>e eines ›göttlichen Schöpfungsplans‹ retten zu können, und es ist wohl nur noch eine<br />

Frage <strong>de</strong>r Zeit, bis die Chaostheorie auf <strong>de</strong>r Titelseite <strong>de</strong>s "Wachturm" zum Beweis von Jehovas Allmacht<br />

herangezogen wird. Das alles ist nicht die Schuld <strong>de</strong>r Chaosforschung, son<strong>de</strong>rn nur die übliche<br />

Begleiterscheinung eines je<strong>de</strong>n wissenschaftlichen Paradigmenwechsels, an die sich die Anarchisten (wie<br />

seriös auch immer) nicht anhängen müssen.<br />

Darum geht es auch gar nicht.<br />

Worauf es ankommt, ist meiner Meinung nach die Chance, die in einem neuen naturwissenschaftlichen<br />

Weltbild liegen kann:<br />

Wissenschaftliche Theorien sind Krücken, mit <strong>de</strong>ren Hilfe wir uns einen Weg durch die Realität bahnen.<br />

Sie sind nicht die Realität, son<strong>de</strong>rn Hilfsmittel zu ihrem Verständnis. Wenn heute gesagt wird, die<br />

Chaostheorie "löst die Newtonsche Physik ab", so ist das ausgemachter Unsinn. Nach wie vor ›stimmt‹<br />

je<strong>de</strong>r Versuch <strong>de</strong>r ›linearen‹ Mechanik im Labor, so wie er vorgestern gestimmt hat. Und offenkundig<br />

kommen wir im Maschinenbau mit <strong>de</strong>n mechanischen Gesetzen besser zurecht als mit <strong>de</strong>r Chaostheorie.<br />

Was neue Theorien verän<strong>de</strong>rn, ist das Weltbild, <strong>de</strong>nn sie verschieben <strong>de</strong>n Blickwinkel, unter <strong>de</strong>m<br />

Phänomene erforscht wer<strong>de</strong>n.<br />

Be<strong>de</strong>utung für <strong>de</strong>n Anarchismus<br />

Diese Verschiebung <strong>de</strong>s Blickwinkels ist für <strong>de</strong>n Anarchismus als soziale Theorie interessant.<br />

Bisher war die Wissenschaft auf Vereinfachung eingestellt, nun wen<strong>de</strong>t sie sich <strong>de</strong>r Komplexität zu. Die<br />

verhängnisvolle Einseitigkeit <strong>de</strong>s Determinismus kommt ein<strong>de</strong>utig aus <strong>de</strong>r Physik, jenem "terrible<br />

simplificateur"*, von <strong>de</strong>m kein geringerer als Albert Einstein sagte, daß seine "Klarheit und Einfachheit<br />

nur auf Kosten <strong>de</strong>r Vollständigkeit <strong>de</strong>r Erkenntnis" möglich ist. In <strong>de</strong>r realen Welt aber ist, wie <strong>de</strong>r


Wissenschaftsautor Rudolf von Wol<strong>de</strong>ck sagt, "Einfachheit eine sehr seltene Sache".<br />

Wenn aber die Wissenschaft – endlich! – Komplexität, Vielfalt, Gegensätzlichkeit, Buntheit und<br />

Steuerungssysteme <strong>de</strong>r Selbstorganisation in <strong>de</strong>n Phänomenen <strong>de</strong>r Natur ernst nimmt und erforscht, so<br />

kann das für die soziale Theorie <strong>de</strong>s Anarchismus indirekt einen positiven ›Klimawechsel‹ be<strong>de</strong>uten. Es<br />

wird die Bereitschaft erhöhen, auch im Politischen<br />

70<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

und Sozialen von solch schrecklich simplen Vereinfachungen Abstand zu nehmen wie <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s<br />

Staates, <strong>de</strong>r Hierarchie und <strong>de</strong>r sozialen Steuerung durch Befehl und Gehorsam. Und es könnte dazu<br />

beitragen, unkonventionelle Vorschläge zur sozialen Organisation nicht gleich <strong>de</strong>shalb als ›chaotisch‹<br />

abzulehnen, weil wir sie nicht ohne weiteres durchschauen und ihnen darum die Fähigkeit absprechen,<br />

daß sie tatsächlich funktionieren.<br />

Literatur:<br />

/ Bernd Olaf Küppers: Wenn das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile in: Chaos und Kreativität<br />

(Geo-Spezial) Hamburg 1990, Gruner+Jahr, 192 S., ill.<br />

/ Rudolf von Wol<strong>de</strong>ck: Formeln für das Tohuwabohu in: Das Chaos Berlin 1989, Kursbuch, 180 S., ill.<br />

/ Ilya Prigogine, Isabelle Stengers: Dialog mit <strong>de</strong>r Notar München 1981, Piper, 347 S.<br />

/ Friedrich Cramer: Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur <strong>de</strong>s Lebendigen Stuttgart 1989, DVA,<br />

320 S.<br />

71<br />

Kapitel 14<br />

Eine an<strong>de</strong>re Ökonomie<br />

Der persönliche Besitz ist die Bedingung <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Lebens.<br />

Fünftausend Jahre Eigentum beweisen: Das Eigentum ist <strong>de</strong>r Selbstmord <strong>de</strong>r Gesellschaft.<br />

Der Besitz ist rechtlich; das Eigentum ist wi<strong>de</strong>rrechtlich.<br />

Pierre-Joseph Proudhon<br />

Das Land <strong>de</strong>nen, die es bearbeiten!<br />

Losung in <strong>de</strong>r spanischen Revolution<br />

ICH FAHRE MIT MEINEM AUTO gegen einen Tanklastzug, <strong>de</strong>r Chemikalien gela<strong>de</strong>n hat, ins<br />

Schleu<strong>de</strong>rn gerät, umkippt und ausläuft. Mit Knochenbrüchen und Quetschungen befin<strong>de</strong> ich mich im<br />

Wrack meines Wagens, halb in eine Schil<strong>de</strong>rbrücke geschoben, die be<strong>de</strong>nklich ramponiert ist. Der<br />

Rettungshubschrauber bringt mich ins Krankenhaus, während die Feuerwehr <strong>de</strong>n Tanklastzug birgt. Nach<br />

zwei Wochen hat eine Spezialfirma das verseuchte Erdreich ausgehoben, die Autobahnmeisterei die<br />

Schil<strong>de</strong>rbrücke instandgesetzt und ein Versicherungsarzt mir lebenslange Berufsunfähigkeit attestiert.<br />

Nun bin ich Invali<strong>de</strong>.<br />

Man könnte meinen, ich hätte Pech gehabt.<br />

Nun ja, ich vielleicht, aber alles in allem war es ein Glücksfall. Ökonomisch gesehen. Die ganze<br />

Kalamität* hat nämlich das Bruttosozialprodukt um gut eine Million Mark gesteigert, und das ist in <strong>de</strong>r<br />

Volkswirtschaft unumstritten positiv. Denn unsere Wirtschaft fragt nicht nach einem vernünftigen Sinn,<br />

son<strong>de</strong>rn einzig nach <strong>de</strong>m monetären* Effekt. Nicht Vernunft ist ihr Motor, son<strong>de</strong>rn Wachstum.<br />

Mit einer Ökonomie, die eine Katastrophe als positiv verbucht, kann etwas nicht stimmen.<br />

Ein absur<strong>de</strong>s System und seine absur<strong>de</strong> Wissenschaft


Um sich die Verrücktheit unseres Wirtschaftssystems klarzumachen, ist es hilfreich, sich zunächst einmal<br />

ganz dumm zu stellen. Eine im positiven Sinne naive, das heißt unvoreingenommene, direkte und<br />

respektlose Herangehensweise an die so kompliziert erscheinen<strong>de</strong><br />

71<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Welt <strong>de</strong>r Ökonomie bewahrt uns vor <strong>de</strong>r Tragik <strong>de</strong>r Wirtschaftswissenschaftler: sie wissen ungeheuer viel<br />

und können ungeheuer wenig. Tatsächlich gleichen heutige Ökonomen hilflosen Theoriesilos, bis zum<br />

Rand mit Detailwissen vollgestopft, aber <strong>de</strong>nnoch ohne rechten Durchblick. Keiner von ihnen ist in <strong>de</strong>r<br />

Lage, mit <strong>de</strong>n zahllosen Instrumentarien <strong>de</strong>r Wirtschaftswissenschaften auch nur einen Aspekt heutiger<br />

Wirtschaftsprobleme zuverlässig zu steuern o<strong>de</strong>r gar zu lösen – seien es nun Inflation, Arbeitslosigkeit,<br />

Überproduktion o<strong>de</strong>r Hunger. In ihrer Hilflosigkeit gleichen sie Hautärzten, die, ebenfalls voll <strong>de</strong>r<br />

Theorie, angesichts eines rätselhaften Ekzems nichts an<strong>de</strong>res tun können, als zaghaft einmal diese<br />

Tinktur, einmal jene Salbe auszuprobieren in <strong>de</strong>r Hoffnung, mit viel Glück könnte ein passables Ergebnis<br />

herauskommen.<br />

Diese launige Einleitung hat ihren Grund. Sie soll uns <strong>de</strong>n Respekt vor einer ›Wissenschaft‹ nehmen, die<br />

sich selbst auf <strong>de</strong>n Sockel einer gewissen Heiligkeit gestellt hat, im Grun<strong>de</strong> aber ratlos vor einer wirren<br />

Realität steht: <strong>de</strong>m >Phänomen Wirtschaft< In über zweihun<strong>de</strong>rt Jahren Suche nach <strong>de</strong>n Grundprinzipien<br />

sogenannter >ökonomischer Gesetze< ist diese Ratlosigkeit kaum kleiner gewor<strong>de</strong>n. Es gab Zeiten, da<br />

vermuteten Ökonomen die Gesetze <strong>de</strong>r Wirtschaft in <strong>de</strong>n Teepreisen, in <strong>de</strong>r Goldmenge, in <strong>de</strong>r<br />

Sympathie, im lieben Gott o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Arbeit. Heute starren Legionen von Fachidioten auf Börsenin<strong>de</strong>xe,<br />

Bruttosozialprodukte, Inflationsraten, Zinssätze, Marktpreise und Diskonte. Und je<strong>de</strong> Schule bringt ihre<br />

eigene Wirtschaftstheorie hervor, verficht sie hartnäckig und experimentiert mit Millionen lebendiger<br />

Opfer. Funktionieren tut allerdings keine.<br />

Versuchen wir's mit <strong>de</strong>r ›Naivität‹ mal an einem beliebigen Beispiel: Wenn ich heute eine Deutsche Mark<br />

seriös und festverzinslich anlege – sagen wir, in Staatsanleihen zu 5 % Verzinsung –, dann können,<br />

abzüglich einer mit 5 % angenommenen jährlichen Inflation nach 800 Jahren 20 Milliar<strong>de</strong>n Menschen<br />

von <strong>de</strong>r Zinsrendite prima leben. Sie brächte nämlich etwa 500 Mark pro Kopf und Tag. Für viermal mehr<br />

Menschen, als heute auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> leben. Von nur einer Mark. Ohne einen Finger zu rühren. Ist das nicht<br />

toll?<br />

Das ist keine böswillig konstruierte Verdrehung, son<strong>de</strong>rn die Konsequenz einer ökonomischen<br />

Grundregel, die heute heilig ist und von nieman<strong>de</strong>m ernsthaft angezweifelt wird: <strong>de</strong>m Zins. Kluge<br />

Ökonomen wer<strong>de</strong>n entgegnen, daß dieser Fall unwahrscheinlich wäre, das hielte keine Bank und kein<br />

Staat 800 Jahre durch. Stimmt. Und genau darum geht es: Die Zinsi<strong>de</strong>e lebt vom exponentiellen*<br />

Wachstum. Sie kann auf Dauer nur funktionieren, wenn auch die Wirtschaft unendlich wächst.<br />

Exponentielles Wachstum aber ist nur theoretisch möglich. We<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Mensch noch die Umwelt kann sie<br />

verkraften. Es kommt in <strong>de</strong>r Natur nur als Abnormität vor, zum Beispiel als unkontrollierte Wucherungen<br />

von Körperzellen. Wir nennen das Krebs, und <strong>de</strong>r führt zum Tod <strong>de</strong>s betroffenen Körpers. Mit Recht<br />

betrachten wir dies als eine Krankheit. Das Absur<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Zinsi<strong>de</strong>e, im Frühstadium nicht augenfällig<br />

und schwer erkennbar, wird erst <strong>de</strong>utlich, wenn wir weit genug voraus<strong>de</strong>nken.<br />

Daher das Beispiel mit <strong>de</strong>n 800-jährigen Festgeld. Absurd ist nicht das Beispiel, son<strong>de</strong>rn die<br />

Wertvorstellung, auf <strong>de</strong>r es fußt.<br />

72<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Das führt dann etwa zu <strong>de</strong>m Zustand, daß je<strong>de</strong>s Baby in unserem Land schon mit <strong>de</strong>n annähernd 30.000


Mark Schul<strong>de</strong>n zur Welt kommt, die auch wir alle genauso auf <strong>de</strong>m Buckel haben, weil Staat, Län<strong>de</strong>r und<br />

Gemein<strong>de</strong>n je<strong>de</strong>s Jahr neue Schul<strong>de</strong>n machen, mit <strong>de</strong>nen sie die Zinsen <strong>de</strong>r Schul<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s vorherigen<br />

Jahres zahlen müssen, und so weiter ... Mittlerweile ist <strong>de</strong>r Zins- und Schul<strong>de</strong>ndienst im Bun<strong>de</strong>shaushalt<br />

fast doppelt so hoch wie <strong>de</strong>r riesige Verteidigungsetat! Die Bürger eines <strong>de</strong>r reichsten Län<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />

sind rechnerisch total verarmt. – Ist das nicht absurd?<br />

Ebenso absurd ist die I<strong>de</strong>ologie, die hinter diesen Beispielen steckt. Verzinsung, Wachstum,<br />

Spekulationskapital und arbeitsloses Einkommen sind die heiligen Eckpfeiler unserer<br />

›Wirtschaftsreligion‹. Im Grun<strong>de</strong> hängen alle Spekulanten und die meisten Ökonomen <strong>de</strong>r albernen I<strong>de</strong>e<br />

an, Reichtum (was sie mit Glück und Wohlstand gleichsetzen) könne letztlich aus sich heraus und von<br />

selbst entstehen. Angeblich arbeiten nicht Menschen, son<strong>de</strong>rn das Geld.<br />

Eine ganze Generation von Yuppies* fährt auf die Zeitgeist-Mo<strong>de</strong> dieses dümmlichen american dream ab,<br />

die besagt, wir alle könnten (auf Kosten an<strong>de</strong>rer) Millionär wer<strong>de</strong>n. Ich muß gar nicht son<strong>de</strong>rlich naiv<br />

sein, um einzusehen, daß das selbstverständlich nicht geht. Es können we<strong>de</strong>r 20 Milliar<strong>de</strong>n Menschen von<br />

<strong>de</strong>m theoretischen Zinsertrag einer Mark leben, noch alle Menschen von Börsenspekulation, weil es sich<br />

um Phantasiewerte han<strong>de</strong>lt. Hinter Spekulationsgewinnen steht nichts Reales; irgendjemand muß ja<br />

schließlich arbeiten, Waren, Werte und Dienstleistungen erzeugen. Absahnen können immer nur wenige<br />

und niemals alle — sonst funktioniert das System nicht. Aber trotz<strong>de</strong>m leben heute ganze Konzerne,<br />

Branchen und Klassen von nichts an<strong>de</strong>rem als von Spekulationsgewinn und Zinsertrag.<br />

Mit Geld zu han<strong>de</strong>ln, Werte hin- und herzuschieben ist das größte Geschäft aller Zeiten. Dabei geht es<br />

schon längst nicht mehr um Zinsen: Swaps, Derivate und Optionen heißen die neuesten Seifenblasen <strong>de</strong>r<br />

Spekulation – sogenannte "Buchgel<strong>de</strong>r" ohne realen Gegenwert, die in Deutschland noch vor Kurzem<br />

juristisch wie nicht einklagbare Wettschul<strong>de</strong>n behan<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>n. Seit sie jedoch an <strong>de</strong>n Börsen zugelassen<br />

wur<strong>de</strong>n, beherrschen sie <strong>de</strong>n Finanzmarkt und haben dazu beigetragen, daß auf <strong>de</strong>r Welt rechnerisch 30-<br />

50 mal mehr ›Geld‹ im Umlauf ist, als reale Werte existieren. Professionelle Finanzjongleure verdienen<br />

binnen Minuten schonmal ein paar Millionen Dollar; sie sind faktisch >mächtiger< als Regierungen und<br />

Notenbanken. Niemand hat sie jedoch gewählt, und niemand kann sie kontrollieren. Sie bewegen<br />

innerhalb weniger Stun<strong>de</strong>n Geldbeträge, für <strong>de</strong>ren Bewilligung ein Parlament eine halbe Legislaturperio<strong>de</strong><br />

brauchte.<br />

Natürlich bleiben da inflationshemmen<strong>de</strong> Steuerungskäufe <strong>de</strong>r Notenbanken wirkungslos. Und <strong>de</strong>r normal<br />

arbeiten<strong>de</strong> Mensch erwacht <strong>de</strong>s morgens, liest in <strong>de</strong>r Zeitung, daß ›seine Währung‹ über Nacht 10, 20<br />

Prozent an Wert verloren hat, und wun<strong>de</strong>rt sich — wo er doch immer so fleißig arbeitet... Aber auch die<br />

›ganz normalen‹ Finanzgeschäfte lohnen sich: Das Versicherungs- und Bankgewerbe weiß schon heute<br />

kaum mehr, wohin mit <strong>de</strong>m ganzen Geld; ihm gehört immer mehr Bo<strong>de</strong>n mit allem, was draufsteht. All<br />

das ist keine Fiktion*, das ist die traurige Realität: Wer arbeitend produziert, macht nicht das Geschäft,<br />

son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r unproduktiv spekuliert, kauft und verkauft.<br />

73<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

"Na bitte, es funktioniert also", sagen die Anhänger dieser I<strong>de</strong>e.<br />

Meine Naivität sagt mir in<strong>de</strong>s, daß diese Grundlage einer Wirtschaft keine Perspektive hat und nicht auf<br />

Dauer funktioniert. Sie ›funktioniert‹ nur für eine bestimmte Zeit und nur in begrenzten Gebieten. Sie<br />

›funktioniert‹ nur für wenige und immer auf Kosten an<strong>de</strong>rer Menschen, die die Zeche solcher künstlichen<br />

›Gewinne‹ bezahlen müssen – und auch das nur können, solange die Wirtschaft wächst. Deshalb ist<br />

Wachstum ein solch heiliger Bestandteil ökonomischen Glaubens.<br />

Ökonomen allerdings sind neunmalklug: Anhänger <strong>de</strong>s Wirtschaftswissenschaftlers Milton Friedman zum<br />

Beispiel, die sogenannten Chigaco Boys, propagieren allen Ernstes Südkorea als Mo<strong>de</strong>ll für an<strong>de</strong>re<br />

Entwicklungslän<strong>de</strong>r, mit <strong>de</strong>nen sich die Armut <strong>de</strong>r Dritten Welt beheben ließe. Korea hat tatsächlich <strong>de</strong>n<br />

Sprung von einem - finanziell gesehen - armen Agrarland zu einer <strong>de</strong>r reichsten Industrienationen in nur


zwanzig Jahren bewerkstelligt. Wie? In<strong>de</strong>m es, ähnlich wie Hong-Kong und Taiwan, die halbe Welt mit<br />

billigen Massenprodukten und industriellem Wegwerf-Tand überzieht — was nebenbei bemerkt nur mit<br />

<strong>de</strong>m Trick <strong>de</strong>r militärischen Kontrolle <strong>de</strong>r Arbeiterschaft und <strong>de</strong>ren Entrechtung möglich war.<br />

Ärmere Län<strong>de</strong>r müssen nun diese Waren zu überhöhten Preisen kaufen, während diese für ihre Rohstoffe<br />

und Agrarprodukte nur einen Spottpreis bekommen, <strong>de</strong>n die reichen Län<strong>de</strong>r noch dazu selbst festlegen<br />

dürfen. Das ist natürlich ein gutes Geschäft für Korea. Der Geniestreich <strong>de</strong>r Chicago Boys besteht nun in<br />

<strong>de</strong>r schier unglaublichen Aussage, das könnten doch alle an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>r auch so machen ...! Kann man<br />

sich etwas Dümmeres <strong>de</strong>nken? Muß ich naiv sein, um zu begreifen, daß nicht alle Menschen und alle<br />

Län<strong>de</strong>r reich wer<strong>de</strong>n können, in<strong>de</strong>m sie sich gegenseitig übervorteilen? Nun, Friedmans I<strong>de</strong>e war einen<br />

Nobelpreis wert; seine Crew hat das Rezept ausprobiert und damit ein halbes Dutzend Län<strong>de</strong>r wie Chile,<br />

Venezuela o<strong>de</strong>r Mexiko "saniert". Es erübrigt sich zu sagen, wer die Kosten dieser Scheinblüte am En<strong>de</strong><br />

›bezahlen‹ muß — was angesichts <strong>de</strong>r Zinsen nicht einmal mehr möglich scheint.<br />

So sehr die Absurdität auch auf <strong>de</strong>r Hand liegt, so sehr wird sie verdrängt. Schlimmer noch: Es wird nicht<br />

darüber nachgedacht. Ökonomen sind heute weiter <strong>de</strong>nn je davon entfernt, ethische Visionen einer<br />

menschenwürdigen Wirtschaftsgesellschaft zu entwickeln, ja - sie <strong>de</strong>nken nicht einmal im Rahmen <strong>de</strong>s<br />

heute Bestehen<strong>de</strong>n voraus. Sie sind zu Flickschustern eines unmöglichen Systems gewor<strong>de</strong>n.<br />

Trotz<strong>de</strong>m stehen Betriebswirte und Ökonomen gera<strong>de</strong> heute in <strong>de</strong>m Ruf, beson<strong>de</strong>rs smart und<br />

benei<strong>de</strong>nswert durchblickend zu sein; mo<strong>de</strong>rne Nationalökonomen wie Milton Friedman, Kenneth<br />

Galbraith o<strong>de</strong>r Paul A. Samuelson umgibt gar eine Aura gottgleicher Weisheit. Den Ausbund an Klugheit<br />

verkörpern angeblich die Notenbanker, die an <strong>de</strong>r Nahtstelle zwischen Theorie und Praxis stehen. Wie<br />

erbärmlich es jedoch um <strong>de</strong>ren Durchblick bestellt ist, mußte <strong>de</strong>r exponierte* <strong>de</strong>utsche Zinskritiker<br />

Helmut Creutz erfahren, <strong>de</strong>r einmal die seltene Gelegenheit bekam, <strong>de</strong>n damaligen<br />

Bun<strong>de</strong>sbankpräsi<strong>de</strong>nten Hans-Otto Pöhl auf diese Themen anzusprechen. Als er ihn fragte, was er von <strong>de</strong>r<br />

Zinsproblematik und <strong>de</strong>ren verheeren<strong>de</strong>n Auswirkungen auf Geldmenge, Schul<strong>de</strong>nentwick-<br />

74<br />

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lung und Umschichtung <strong>de</strong>r Einkommen halte, mußte dieser ziemlich unumwun<strong>de</strong>n zugeben, daß er sich<br />

darüber - noch keine Gedanken gemacht habe! Auch <strong>de</strong>r ebenfalls anwesen<strong>de</strong> Sparkassenpräsi<strong>de</strong>nt<br />

Helmut Geiger mußte passen... Solche hochbezahlten Koryphäen* <strong>de</strong>nken in ihrer professionell<br />

eingeschränkten Wahrnehmungsweise selten weiter als fünf Jahre voraus. Sie lenken aber nicht nur unsere<br />

Wirtschaft, sie entschei<strong>de</strong>n auf ›Weltwirtschaftsgipfeln‹ auch über Leben o<strong>de</strong>r Sterben <strong>de</strong>r Dritten Welt,<br />

und letztlich stellen sie in ihrer berufsbedingten Blindheit die Weichen für die Zukunft unseres Planeten.<br />

Soviel zum Thema Zins und Spekulationsgewinne, die hier nur als zwei Beispiele für die zahllosen<br />

Absurditäten unsere Ökonomie stehen. Tröstlich ist hierbei allenfalls <strong>de</strong>r Gedanke, daß dieser Unfug nicht<br />

nur mir, son<strong>de</strong>rn sicher auch Millionen an<strong>de</strong>ren Menschen täglich auffällt, sofern sie sich aus <strong>de</strong>n<br />

Nachrichten über die Triumphe <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Marketing informieren. Für wen mag es wohl einleuchtend<br />

sein, daß in Europa subventionierte* Nahrungsmittel vernichtet wer<strong>de</strong>n, während im Rest <strong>de</strong>r Welt<br />

minütlich 140 Menschen <strong>de</strong>n Hungertod sterben? Daß aber an<strong>de</strong>rerseits ein fadschmecken<strong>de</strong>r, wässriger<br />

Plantagenapfel aus Neuseeland, Südafrika o<strong>de</strong>r Chile um die ganze Welt ins Apfelland Deutschland<br />

transponiert wird, um hier verzehrt, verdaut und ausgeschissen zu wer<strong>de</strong>n, während bei uns<br />

wohlschmecken<strong>de</strong> Apfel am Baum verfaulen. O<strong>de</strong>r daß wir in Ostfriesland württembergische Butter<br />

kaufen, in Württemberg bayerische, in Bayern friesische und irische überall, während an<strong>de</strong>rnorts mit<br />

aufwendigen Verfahren überschüssige Milch verdampft, verpulvert, verfüttert wird. Ist es etwa vernünftig,<br />

daß sinnlose, überflüssige o<strong>de</strong>r bedrohliche Arbeit einzig aus <strong>de</strong>m Grund getan wird, weil sie<br />

Arbeitsplätze schafft (= ökonomisch sinnvoll), während dringend benötigte, gesellschaftlich sinnvolle<br />

Arbeit nicht verrichtet wird, weil sie nicht rentabel ist (= ökonomisch sinnlos). O<strong>de</strong>r daß ein Viertel <strong>de</strong>r<br />

Erwerbstätigen überhaupt keine Arbeit hat, während die restlichen drei Viertel immer noch volle acht<br />

Stun<strong>de</strong>n täglich in Streß und Hetze arbeiten müssen. Und so weiter...


Der Gipfel all dieser Absurditäten ist das ›Bruttosozialprodukt‹ die Summe aller Waren und<br />

Dienstleistungen eines Lan<strong>de</strong>s, sozusagen das gol<strong>de</strong>ne Kalb <strong>de</strong>r Ökonomen. Ist es hoch, wird eine<br />

Wirtschaft als gut funktionierend eingestuft, ist es niedrig, gilt eine Wirtschaft als krank. Macht man sich<br />

klar, daß je<strong>de</strong> Katastrophe, je<strong>de</strong>r Versicherungsfall, je<strong>de</strong>r Zinsgewinn, je<strong>de</strong>s Stück vernichtete Natur, je<strong>de</strong>r<br />

Unfall, je<strong>de</strong>r Krieg und je<strong>de</strong> Mark Sozialhilfe in dieses Bruttosozialprodukt eingehen, sollte eher das<br />

Gegenteil <strong>de</strong>r Fall sein. Wenn es etwas misst, dann <strong>de</strong>n Grad an Irrationalität einer Wirtschaft. Dabei ist<br />

es ebenso einleuchtend wie banal, daß in eine gescheite ökonomische Kosten-Nutzenrechnung die<br />

ökologischen Folgen ebenso hineingehören wie <strong>de</strong>r Verbrauch an Ressourcen. Keinem Fabrikanten wür<strong>de</strong><br />

es einfallen, bei <strong>de</strong>r Kalkulation Lagerbestän<strong>de</strong>, Reparaturen und Rohmaterial zu ›vergessen‹. In <strong>de</strong>r<br />

Volkswirtschaft jedoch geschieht dies ständig: Wirtschaftspolitische Entscheidungen schielen nur auf<br />

kurzfristige Rendite und die schnelle Steigerung <strong>de</strong>s Bruttoinlandprodukts. Ressourcenverbrauch und<br />

ökologische Kosten wer<strong>de</strong>n "<strong>de</strong>r Gesellschaft" hinterlassen. Mögen unsere Kin<strong>de</strong>r und Enkel sehen, wie<br />

sie damit klarkommen!<br />

75<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

All dies spüren die allermeisten Menschen und empfin<strong>de</strong>n es als verrückt. Um <strong>de</strong>n Preis <strong>de</strong>r<br />

Lächerlichkeit jedoch traut sich niemand, das zu sagen - die Ökonomen sind ja so klug, Ökonomie ist<br />

doch eine so komplizierte Wissenschaft, und da wir keine Fachleute sind, könnten wir uns am En<strong>de</strong><br />

blamieren... In Wahrheit blamiert sich die Wirtschaftswissenschaft. Darüber könnten wir eigentlich<br />

lächeln, wenn wir nicht gleichzeitig auch Opfer wären,<br />

Erst die ›naive Sicht‹, die respektlose Hinterfragung <strong>de</strong>ssen, was wir kennen und als gegeben hinnehmen,<br />

macht uns frei für einen Blick auf die Möglichkeiten, wie eine Ökonomie auch an<strong>de</strong>rs organisiert sein<br />

könnte. Und diese naive Sicht bekommen wir erst, wenn wir die hilflose Geschäftigkeit <strong>de</strong>r<br />

ökonomischen Halbgötter durchschaut haben. Eine gänzlich an<strong>de</strong>re Ökonomie aber ist nötig, <strong>de</strong>nn die alte<br />

hetzt sich in ihren immer enger wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Grenzen zu To<strong>de</strong> und nimmt uns mit auf diese Reise. Ohne<br />

eine an<strong>de</strong>re Ökonomie wird es auch keine freie Gesellschaft geben, ebenso, wie eine befreite Wirtschaft<br />

nicht in einer unfreien Gesellschaft funktionieren könnte. Denn ›Wirtschaft‹ ist nicht bloß irgen<strong>de</strong>in<br />

reformierbarer Teilbereich, son<strong>de</strong>rn eine prägen<strong>de</strong> Struktur <strong>de</strong>r ganzen Gesellschaft, die auf alle Bereiche<br />

<strong>de</strong>s Lebens wirkt. Eine libertäre Ökonomie ist somit zwar keine hinreichen<strong>de</strong>, aber eine notwendige<br />

Voraussetzung für eine libertäre Gesellschaft.<br />

Kritik <strong>de</strong>s Kapitalismus<br />

Die Erschütterung <strong>de</strong>s Vertrauens in die Klugheit <strong>de</strong>r herrschen<strong>de</strong>n Ökonomie allerdings ist noch keine<br />

ernstzunehmen<strong>de</strong> Kritik an ihr. Bevor wir uns also möglichen anarchistischen Wirtschaftssystemen<br />

zuwen<strong>de</strong>n, wollen wir die notwendige Polemik verlassen und die ebenso notwendige Skizze einer Kritik<br />

<strong>de</strong>r Ökonomie versuchen.<br />

Unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem wird Kapitalismus genannt, weil das Kapital in ihm maßgeblich<br />

bestimmt. Das Kapital sind die wirtschaftlichen Werte. Egal, ob es sich hierbei um Fabriken, Aktien,<br />

Gesellschaften, Banken, Bo<strong>de</strong>nschätze, Technologien, Immobilien o<strong>de</strong>r Grundbesitz han<strong>de</strong>lt, läßt sich ihr<br />

Wert immer in Geld ausdrücken. Kapital hat Eigentümer, und die können in <strong>de</strong>r Regel uneingeschränkt<br />

darüber verfügen. Diese Eigentümer wer<strong>de</strong>n als Kapitalisten bezeichnet. Da diese mit <strong>de</strong>m Kapital auch<br />

über die Produktionsmittel* verfügen, sind sie automatisch auch Eigentümer <strong>de</strong>r Arbeitsplätze.<br />

Unabhängig von je<strong>de</strong>r Art <strong>de</strong>r Regierung o<strong>de</strong>r Verfassung eines Lan<strong>de</strong>s sind Kapitalisten in <strong>de</strong>r<br />

gesellschaftlichen Wirklichkeit die Inhaber <strong>de</strong>r tatsächlichen Macht. Praktisch ist die Politik von <strong>de</strong>r<br />

Wirtschaft abhängig und nicht umgekehrt. Parlamente, Parteien, I<strong>de</strong>ologien und Regierungen sind oftmals<br />

nur ver<strong>de</strong>ckte Interessenvertreter <strong>de</strong>s Kapitals.


Diese Begriffe sind heute ziemlich aus <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong> gekommen, und niemand spricht mehr gerne in diesen<br />

Worten. Aber auch die netteren Re<strong>de</strong>wendungen aus <strong>de</strong>m Yuppie-Slang* än<strong>de</strong>rn nichts an diesen<br />

schlichten Tatsachen, die für je<strong>de</strong>n erkennbar auf <strong>de</strong>r Hand liegen. Allerdings müssen wir uns heute unter<br />

einem ›Kapitalisten‹ nicht mehr jenen häßlichen, dicken Mann mit Zylin<strong>de</strong>rhut und Zigarre vorstellen,<br />

<strong>de</strong>m das Geld aus <strong>de</strong>n Taschen kullert. Dieses Klischee hat nie gestimmt. Heute haben wir es tatsächlich<br />

meist mit Gesellschaften<br />

76<br />

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zu tun, Banken und multinationalen Firmennetzen. Deren Repräsentanten sind äußerlich recht<br />

unauffällige Herren, die in Aufsichtsräten, Direktionsteams und Finanztrusts wirken. Echte<br />

Privatunternehmer o<strong>de</strong>r Familienclans sind selten gewor<strong>de</strong>n. Das Gewebe kapitalistischer<br />

Besitzverhältnisse ist heute ungleich komplizierter und undurchschaubarer, und oft sind die Arbeitnehmer<br />

bis zu einem gewissen Gra<strong>de</strong> ihre eigenen Ausbeuter, in<strong>de</strong>m sie Kapitalanteile besitzen. An <strong>de</strong>n<br />

grundsätzlichen Strukturen <strong>de</strong>s Wirtschaftssystems und seinen Ungerechtigkeiten än<strong>de</strong>rt das allerdings<br />

nichts - im Gegenteil: die Kapitalinteressen sind dadurch eher noch besser organisiert und entsprechend<br />

mächtiger.<br />

Bis vor nicht allzulanger Zeit gab es zwei verschie<strong>de</strong>ne kapitalistische Systeme: <strong>de</strong>n Privatkapitalismus<br />

und <strong>de</strong>n Staatskapitalismus - das Wirtschaftssystem <strong>de</strong>r ›westlichen Welt‹ und das <strong>de</strong>s ehemaligen<br />

›Ostblocks‹. Bei<strong>de</strong> Formen haben entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Gemeinsamkeiten: Die Bedürfnisse <strong>de</strong>s Kapitals stehen<br />

über <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>r Menschen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Umwelt. In bei<strong>de</strong>n setzt eine wohlhaben<strong>de</strong> Min<strong>de</strong>rheit von<br />

Kapitaleignern ihre Interessen gegenüber <strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r arbeiten<strong>de</strong>n Menschen durch und bedient sich<br />

dabei <strong>de</strong>s Machtmittels ›Geld‹. Und bei<strong>de</strong> sind auf ständiges Wachstum angewiesen. Im Osten ist diese<br />

Wirtschaftsform inzwischen zusammengebrochen, bei uns existiert sie noch.<br />

Ihr Unterschied lag - abgesehen von <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ologie - wirtschaftlich hauptsächlich in <strong>de</strong>r Rolle, die <strong>de</strong>r<br />

Markt in ihnen spielte.<br />

Im Staatskapitalismus bestimmten Fachleute, Techniker und Politiker, was die Menschen brauchen und<br />

bekommen sollen, was wann, wo, wie und warum produziert und verteilt wer<strong>de</strong>n durfte und wem wieviel<br />

zugeteilt wur<strong>de</strong>. Ein solches System, in <strong>de</strong>m ein Bürokrat in Moskau entschied, wie ein Streichholz in<br />

Wladiwostok produziert und auf <strong>de</strong>r Krim verbrannt wird, nennen wir Planwirtschaft. Sie war aufwendig,<br />

brauchte einen riesigen, kostspieligen und korrupten* Beamtenapparat, plante an <strong>de</strong>n wirklichen<br />

Bedürfnissen <strong>de</strong>r Menschen vorbei, und ihr auffälligstes Merkmal war, daß sie nie funktionierte.<br />

Millionen Bürger <strong>de</strong>s ehemaligen Ostblocks können ein Lied davon singen, wie binnen drei Generationen<br />

ständiger Mangel und Bevormundung ihnen die anfängliche Begeisterung für ein System zerstörte, das<br />

einst mit <strong>de</strong>m Versprechen einer gerechten und menschlichen Welt angetreten war. Es erübrigt sich fast,<br />

darauf hinzuweisen, daß im Staatskapitalismus natürlich diejenigen, die das Kapital verwalteten, besser<br />

lebten als diejenigen, die dafür arbeiteten. Die neue Klasse aus Funktionären, Bürokraten, Technikern,<br />

Politikern und Militärs genoß zahllose Privilegien und strafte damit die I<strong>de</strong>ologie jenes ›Sozialismus‹<br />

Lügen, <strong>de</strong>r das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft von Gleichen vertrat. Und selbstverständlich wur<strong>de</strong><br />

auch im Staatskapitalismus <strong>de</strong>r größte Batzen für Unsinn ausgegeben, allem voran Militär, Rüstung und<br />

Raumfahrt. Der Kollaps <strong>de</strong>r sogenannten ›sozialistischen Län<strong>de</strong>n im Ostblock hing direkt mit <strong>de</strong>m<br />

Versagen ihrer Ökonomie zusammen.<br />

Übrig blieb <strong>de</strong>r Privatkapitalismus <strong>de</strong>r ›westlichen Welt‹. So, wie <strong>de</strong>r Staatskapitalismus sich in seiner<br />

eigenen Lebenslüge lieber ›Sozialismus‹ nannte, bedient sich auch <strong>de</strong>r Privatkapitalismus schicklicherer<br />

Namen: ›Soziale Marktwirtschaft o<strong>de</strong>r ›freier Markt‹. Lei<strong>de</strong>r ist dies ebensowenig wahr.<br />

77<br />

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Heute triumphiert <strong>de</strong>r Privatkapitalismus weltweit und feiert sich selbst als das beste aller Systeme, weil<br />

<strong>de</strong>r Staatskapitalismus gescheitert ist. Das ist ziemlich töricht. Vor lauter Überheblichkeit übersehen die<br />

Fans <strong>de</strong>r Marktwirtschaft, daß ihr System keineswegs das an<strong>de</strong>re ›besiegt‹ hat. Sie vermögen nicht zu<br />

erkennen, daß diese eine Form <strong>de</strong>s Kapitalismus zusammenbrach, weil sie versagte, und die Menschen sie<br />

nicht länger tragen wollten, und daß ein solcher Zusammenbruch <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Form - unserer - ebenso<br />

rasch blühen kann. Es han<strong>de</strong>lt sich hierbei um Arroganz und alberne Scha<strong>de</strong>nfreu<strong>de</strong>; eine irgendwie<br />

geartete Form grundsätzlicher Überlegenheit kann daraus aber nicht abgeleitet wer<strong>de</strong>n.<br />

Auch die privatkapitalistische Marktwirtschaft hat ihre Lebenslüge. Sie besteht in <strong>de</strong>r Annahme, daß alles<br />

das, was sich auf ›<strong>de</strong>m Markt‹ verkaufen läßt, auch gut, sinnvoll und vernünftig sei, und umgekehrt<br />

Dinge, die schlecht, sinnlos und unvernünftig sind, sich auf <strong>de</strong>m Markt auch nicht verkaufen ließen. Der<br />

Markt sei <strong>de</strong>r Spiegel <strong>de</strong>r Bedürfnisse und regele sich am allerbesten selbst. Diese Selbstregelung erzeugte<br />

im Wechselspiel von Angebot und Nachfrage einen gerechten Preis und sei daher zum Wohle aller<br />

Menschen. Diese wirtschaftliche Theorie nennen wir auch Liberalismus, und konsequenter Liberalismus<br />

gipfelt in <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s laissez faire* : Das freie Spiel <strong>de</strong>r Kräfte eines Marktes sollte tunlichst durch<br />

nichts gestört wer<strong>de</strong>n.<br />

Das klingt zu schön, um wahr zu sein.<br />

Nun läßt sich auch diese Theorie mit Hilfe unserer naiven Sichtweise leicht als das durchschauen, was sie<br />

ist: eine Hilfskonstruktion, mit die Kapitalisten ihre Interessen als die Interessen aller darstellen möchten.<br />

Das Bestreben aller Kapitaleigner ist es, ständig mehr Kapital zu erwirtschaften. Das müssen sich auch<br />

tun, <strong>de</strong>nn sonst wür<strong>de</strong> die Wirtschaftsordnung ›Kapitalismus‹ nicht funktionieren. Stimmte die These<br />

vom freien Markt wirklich, müßten aber irgendwann einmal Sättigungen eintreten und das Wachstum<br />

stehenbleiben o<strong>de</strong>r zurückgehen. Tut es aber nicht. Sobald es danach aussieht, ist Schluß mit <strong>de</strong>m ›freien<br />

Markts und Regierungen greifen hektisch ein mit Schutzzöllen, Kartellen*, Warenboykotten und notfalls<br />

auch mit Krieg.<br />

Wäre <strong>de</strong>r Liberalismus wahr, dürfte es keine überflüssigen, sinnlosen, schädlichen Produkte und<br />

Dienstleistungen geben. Wir alle wissen aber, daß es sie gibt. Nicht, weil die Konsumenten sie for<strong>de</strong>rten,<br />

son<strong>de</strong>rn weil Kapitaleigner daran verdienen können. Es gibt keinen ›Markt <strong>de</strong>r Konsumenten für<br />

Bun<strong>de</strong>swehr, Raumfahrt, Umweltgifte, Spekulationsgewinne o<strong>de</strong>r Kriege, trotz<strong>de</strong>m gehören sie zu <strong>de</strong>n<br />

wichtigsten Verdienstquellen <strong>de</strong>s Kapitals. Sobald das Interesse an einem Produkt (sprich: das Interesse<br />

<strong>de</strong>s Herstellers, dieses Produkt zu verkaufen) nicht über <strong>de</strong>n Markt entsteht, wird es künstlich hergestellt:<br />

durch Politik, Werbung, Suggestion*, aggressive Verkaufsstrategien o<strong>de</strong>r gesteuerte Mo<strong>de</strong>n. Bedürfnisse<br />

wer<strong>de</strong>n aufwendig und kunstvoll geweckt, nur damit die Wirtschaftsmaschine läuft. Ist das Wachstum<br />

gefähr<strong>de</strong>t und kein Krieg zur Hand, erfin<strong>de</strong>t man eben eine neue Generation noch höher auflösen<strong>de</strong>r, noch<br />

größerer und noch farbtreuerer Fernsehgeräte, die wir vorher we<strong>de</strong>r kannten noch vermißten, ohne die<br />

plötzlich aber niemand mehr leben kann. Energie, Rohstoffe, Kreativität, Arbeitskraft, Zeit und viel Geld<br />

wer<strong>de</strong>n für ein neues Massenprodukt verbraucht, und die vorherige Gene-<br />

78<br />

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ration von Fernsehern wan<strong>de</strong>rt auf <strong>de</strong>n Son<strong>de</strong>rmüll. Warum? Weil die Wirtschaft wachsen muß. Weil ein<br />

Markt geschaffen wer<strong>de</strong>n mußte für ein Produkt, das eigentlich nicht nötig ist, aber Profit abwirft. Hat<br />

man jemals gehört, daß ein Betrieb o<strong>de</strong>r ein Industriezweig befriedigt seine Tätigkeit einstellt, wenn eine<br />

Aufgabe vollbracht o<strong>de</strong>r ein Bedürfnis endlich befriedigt ist? Das wäre wirtschaftlich un<strong>de</strong>nkbar, obwohl<br />

es logisch gesehen doch so naheliegend ist. Ein Heimwerker ist froh, wenn er seine Gartenlaube<br />

fertiggestellt hat und beläßt es dabei; unsere Bauindustrie aber ist dazu verurteilt, bis in alle Ewigkeit<br />

weiterzubauen und wür<strong>de</strong> notfalls das ganze Land asphaltieren, nur weil unser rastloses<br />

Wirtschaftssystem keinen Stillstand kennt.<br />

Gäbe es ein ›freies Spiel <strong>de</strong>r Kräfte‹ auf <strong>de</strong>m Markt, dann könnte man in vielen Bereichen irgendwann<br />

auch einmal ›Feierabend machen‹ o<strong>de</strong>r die Produktion drosseln. Dann brauchte es auch keine Werbung


und keinen Zoll, we<strong>de</strong>r Subventionen noch Produktionsbeschränkungen, we<strong>de</strong>r Preispolitik noch<br />

Lebensmittelvernichtungen. Gibt es aber alles.<br />

Gäbe es einen ›freien Markt‹ hätten überflüssige Produkte keine Chance. Nichts wird aber so sehr<br />

verkauft, wie Dinge, auf die wir eigentlich recht gut verzichten könnten.<br />

Es gibt ihn eben nicht, jenen ›freien Markt‹ <strong>de</strong>r aus sich selbst heraus die wirtschaftlichen Belange einer<br />

Gesellschaft menschlich regelt. Das ist die Lebenslüge <strong>de</strong>r Marktwirtschaft - ebenso dick wie die <strong>de</strong>r<br />

staatskapitalistischen Planwirtschaft, sie sei vernünftig, zweckmäßig und sozial gewesen.<br />

Teil dieses ›freien Marktes‹ ist nach liberalistischer Überzeugung übrigens auch <strong>de</strong>r Mensch. Sein<br />

Geschick ›regele‹ sich ebenfalls im ›freien Spiel <strong>de</strong>r Kräfte‹. Ist beispielsweise ein Bedarf an Arbeitern<br />

vorhan<strong>de</strong>n, dürfen diese arbeiten, also Geld verdienen, also essen, also leben. Wenn nicht, haben sie eben<br />

Pech gehabt und müßten eigentlich sterben. Da so etwas die Theorie <strong>de</strong>r angeblich menschenfreundlichen<br />

Marktwirtschaft augenfällig wi<strong>de</strong>rlegen wür<strong>de</strong>, haben sich mo<strong>de</strong>rnere Staaten wie Deutschland dazu<br />

entschlossen, <strong>de</strong>r "Marktwirtschaft das Wörtchen ›sozial‹ voranzustellen. Es soll wenigstens niemand<br />

verhungern, auch wenn er auf <strong>de</strong>m Markt - in diesem Fall <strong>de</strong>m ›Arbeitsmarkt‹ - keinen Platz hat. Das ist<br />

zwar nett, aber letztendlich ein Almosen - ein Opfer, das zum Überleben <strong>de</strong>s Systems gebracht wer<strong>de</strong>n<br />

muß. Es macht die Absurdität <strong>de</strong>r herrschen<strong>de</strong>n Ökonomie aber um nichts besser, ebenso, wie es nichts an<br />

ihrer grundlegen<strong>de</strong>n Ungerechtigkeit än<strong>de</strong>rt.<br />

Was aber ist eigentlich das Ungerechte am Kapitalismus?<br />

Kurz gesagt: die ungleiche Verteilung <strong>de</strong>r Reichtümer im Rahmen eines Wirtschaftssystems, das sich<br />

sozial und ökologisch ausgesprochen verheerend auswirkt.<br />

Wir wissen, daß sich das Kapital akkumuliert - es häuft sich zunehmend in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n weniger<br />

Kapitaleigner an. Es gibt ganze Län<strong>de</strong>r, die praktisch einigen wenigen Familien ›gehören‹, und eine<br />

Handvoll multinationaler Konzerne teilt sich weltweit <strong>de</strong>n größten Brocken an Besitz. Dies führt zur<br />

Bildung von Monopolen* verschie<strong>de</strong>ner Art, die ganze Wirtschaftszweige kontrollieren. Monopole<br />

können die Preise ziemlich willkürlich diktieren; vom ›freien Markt‹ bleibt da nicht mehr viel übrig.<br />

Eines <strong>de</strong>r berüchtigsten Monopole<br />

79<br />

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bil<strong>de</strong>n die sogenannten Terms of Tra<strong>de</strong> an <strong>de</strong>n internationalen Börsen, mit <strong>de</strong>ren Hilfe die wohlhaben<strong>de</strong>n<br />

Industrienationen die Rohstoffpreise festsetzen. So nehmen die Reichen die Armen aus.<br />

Gleiches wie<strong>de</strong>rholt sich innerhalb eines Lan<strong>de</strong>s zwischen Reich und Arm o<strong>de</strong>r - an<strong>de</strong>rs ausgedrückt -<br />

zwischen ›Unternehmer‹ und ›Arbeitnehmer‹. Auch hier fin<strong>de</strong>t eine Ausbeutung statt. Ausbeutung ist das<br />

Grundprinzip <strong>de</strong>s Kapitalismus, und seine Anhänger sehen in ihm <strong>de</strong>n Motor für wirtschaftliche Aktivität.<br />

Die Ausbeutung beruht darauf, daß <strong>de</strong>r Unternehmer einen Mehrwert* erwirtschaftet - je größer, <strong>de</strong>sto<br />

besser. Aus <strong>de</strong>r Differenz von Lohn und Preis entsteht so <strong>de</strong>r Profit*, das eigentliche Ziel<br />

unternehmerischer Tätigkeit. Dieses Ziel ist also we<strong>de</strong>r sachlich, noch ethisch o<strong>de</strong>r inhaltlich, son<strong>de</strong>rn<br />

lediglich monetär <strong>de</strong>finiert: Der Profit muß aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r inneren Logik <strong>de</strong>s Kapitalismus immer<br />

möglichst groß sein und wachsen. Wir nennen das Profitmaximierung. So kommt es zu ungleichen Lohn-<br />

Preis-Spiralen, die die Preise schneller anwachsen lassen als die Löhne. Dies heizt wie<strong>de</strong>rum die<br />

Inflation* mit an und führt zu einer relativen Verelendung* <strong>de</strong>rjenigen, die keine Profite machen: <strong>de</strong>r<br />

Arbeiterschaft. Das be<strong>de</strong>utet günstigstenfalls eine Benachteiligung, oft aber sozialen Abstieg ausgerechnet<br />

für diejenigen, die durch ihre Arbeit die Werte herstellen, an <strong>de</strong>nen an<strong>de</strong>re verdienen.<br />

Hierin besteht die grundsätzliche Ungerechtigkeit <strong>de</strong>s Kapitalismus: <strong>de</strong>n Menschen, die die Werte<br />

schaffen, gehört nur ein kleiner Teil <strong>de</strong>r Früchte ihrer Arbeit; <strong>de</strong>n größeren Teil steckt <strong>de</strong>r Unternehmer


ein. Zwar tut er in <strong>de</strong>r Regel auch etwas dafür, aber sein Gewinn ist im Vergleich zu seiner geleisteten<br />

Arbeit riesengroß. Im Falle reiner Kapitaleigner fallen sogar immense Gewinne an, für die kein Finger<br />

krumm gemacht wer<strong>de</strong>n muß - wir sprechen dann von arbeitslosem Einkommen. Gerne rechtfertigen<br />

Unternehmer und Kapitaleigner ihre Gewinne mit <strong>de</strong>m Risiko, das sie angeblich trügen. Das aber ist eine<br />

rühren<strong>de</strong> Legen<strong>de</strong>: Im Falle unternehmerischer Mißerfolge zahlen Tausen<strong>de</strong> von Arbeitnehmern mit <strong>de</strong>m<br />

Verlust ihrer Ersparnisse o<strong>de</strong>r Arbeitsplätze; clevere Unternehmer fallen wie<strong>de</strong>r auf die Beine und<br />

grün<strong>de</strong>n eine neue Firma. Ähnliches gilt für das mehr o<strong>de</strong>r weniger regelmäßige Auftreten von<br />

verheeren<strong>de</strong>n Wirtschaftskrisen, die <strong>de</strong>n Kapitalismus heimgesucht haben und wie<strong>de</strong>r heimsuchen<br />

wer<strong>de</strong>n. Auch hier verelen<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r Regel nicht die Klasse <strong>de</strong>r Unternehmer, son<strong>de</strong>rn die Masse <strong>de</strong>r<br />

Menschen, die angeblich kein Risiko tragen.<br />

Eine an<strong>de</strong>re Erscheinungsform von Ungerechtigkeit in unserem Wirtschaftssystem ist, daß <strong>de</strong>r Mensch in<br />

ihm wenig be<strong>de</strong>utet. Er muß sich <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>s Produktionsprozesses anpassen, so sagt die<br />

ökonomische Logik. Daß sich die Form <strong>de</strong>r Arbeit nach <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>s Menschen richten könnte,<br />

ist natürlich eine ›naive‹ I<strong>de</strong>e... Um im Sinne <strong>de</strong>r Profitmaximierung Kosten zu sparen, müssen<br />

Arbeitnehmer oftmals stumpfsinnige, ermü<strong>de</strong>n<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r gefährliche Arbeit verrichten. Meist ist <strong>de</strong>r Mensch<br />

nur noch ein winziges Teil in einem Produktionsprozeß, von <strong>de</strong>m er keine Ahnung mehr hat; in <strong>de</strong>n<br />

seltensten Fällen hat er noch eine Beziehung zu <strong>de</strong>m, was er herstellt. Wir nennen das Entfremdung.<br />

Entfrem<strong>de</strong>te Arbeit macht we<strong>de</strong>r Spaß noch ist sie körperlich und geistig <strong>de</strong>m Menschen angemessen. Die<br />

Beziehung zwischen Mensch und Arbeit, die durchaus kreativ und befrie-<br />

80<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

digend sein könnte, wird in unserer Wirtschaftsform letztlich auch auf ein ›Geschäft‹ auf einem ›Markt‹<br />

reduziert: Der Unternehmer kauft vom Arbeitnehmer die Arbeitskraft. Arbeitskraft wird so zu einer<br />

›Ware‹ und Arbeit zu einer scheußlichen Sache, die niemand gerne o<strong>de</strong>r gar freiwillig tut.<br />

Manche Leser wer<strong>de</strong>n mir vorhalten, das alles sei maßlos übertrieben und im Grun<strong>de</strong> platter Marxismus.<br />

Geht es <strong>de</strong>n Arbeitern heute nicht be<strong>de</strong>utend besser als früher? Und <strong>de</strong>r Marxismus ist doch wohl nicht<br />

ohne Grund gescheitert!<br />

Bei<strong>de</strong>s stimmt, hat aber nichts mit <strong>de</strong>r vorgebrachten Kritik zu tun.<br />

Zweifellos geht es bei uns <strong>de</strong>njenigen, die für an<strong>de</strong>re Menschen arbeiten, heute besser als früher. Das<br />

än<strong>de</strong>rt allerdings nichts an <strong>de</strong>r Ungerechtigkeit bei <strong>de</strong>r Verteilung <strong>de</strong>s Profits und auch nichts an <strong>de</strong>r<br />

Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Bei<strong>de</strong>s wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n arbeiten<strong>de</strong>n Menschen<br />

erwirtschaftet, gehört ihnen aber nicht. Relativ gesehen wachsen die Gewinne <strong>de</strong>r Unternehmer nach wie<br />

vor schneller als die Einkommen <strong>de</strong>r Arbeitnehmer. Vor allem aber darf nicht vergessen wer<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r<br />

Wohlstand <strong>de</strong>r ›westlichen Welt‹ zu einem großen Teil auf <strong>de</strong>r hemmungslosen Ausbeutung <strong>de</strong>r<br />

Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika beruht. Der Schwerpunkt <strong>de</strong>r Ausbeutung hat sich heute<br />

global verschoben: von <strong>de</strong>n Klassen eines Lan<strong>de</strong>s zum Nord-Süd-Gegensatz. Deutsche sind nicht <strong>de</strong>shalb<br />

so wohlhabend, weil sie etwa so viel fleißiger, pünktlicher und disziplinierter wären als eine Bäuerin auf<br />

Sumatra, ein Minenarbeiter in Transvaal o<strong>de</strong>r ein Gaucho in <strong>de</strong>r Pampa. Eine Sekretärin in Sao Paulo<br />

muß genauso klotzen wie ihre Kollegin in München und ein Industriearbeiter auf <strong>de</strong>n Philippinen macht<br />

sich auf <strong>de</strong>r Arbeit keineswegs einen faulen Lenz. Trotz<strong>de</strong>m bleiben sie im Vergleich zu uns bettelarm,<br />

und viele ihrer Landsleute, die weniger ›Glück‹ haben, müssen hungern. Solche Ungerechtigkeit liegt im<br />

weltweiten Wirtschaftssystem begrün<strong>de</strong>t, das diese Län<strong>de</strong>r fest im Würgegriff ihrer Preis- und Zinspolitik<br />

hält. Wir alle - ob wir wollen o<strong>de</strong>r nicht - profitieren davon. Um es einmal krass zu sagen: Wir können<br />

uns eine Dose Ananas nur <strong>de</strong>shalb für 99 Pfennige kaufen, weil irgendwo in Angola Menschen<br />

verhungern.<br />

Was <strong>de</strong>n Vorwurf <strong>de</strong>s Marxismus angeht, so bleibt zu sagen, daß Marx ja beileibe kein Dummkopf war.<br />

Die Kritik, die er an <strong>de</strong>n kapitalistischen Zustän<strong>de</strong>n geübt hat, wird auch von Anarchisten überwiegend<br />

geteilt. Und er war nicht <strong>de</strong>r einzige, <strong>de</strong>r unsere Wirtschaftsform durchschaute. Proudhon, Bakunin,<br />

Kropotkin, Malatesta, Most, Rocker und viele an<strong>de</strong>re stimmten mit Marx in <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>r


kapitalistischen Plage in wesentlichen Punkten überein. Etwas ganz an<strong>de</strong>res sind die Schlußfolgerungen,<br />

die Marx daraus zieht. Sein autoritäres Gesellschaftssystem bleibt auf wirtschaftlichem Gebiet nichts<br />

weiter als ein negativer Abklatsch <strong>de</strong>ssen, was er kritisiert. Die leninistischen Vollstrecker seiner I<strong>de</strong>en<br />

schufen hieraus mit Hilfe <strong>de</strong>r allmächtigen Partei schließlich einen staatskapitalistischen Horrorstaat.<br />

Genau diese Kombination von Planwirtschaft und Parteidiktatur ist im ›Ostblock‹ gescheitert. Das<br />

be<strong>de</strong>utet aber keineswegs - auch wenn die Verfechter unserer Ökonomie<br />

81<br />

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das gerne so hätten - daß <strong>de</strong>shalb die Kritik, die Marxisten, Christen, Anarchisten, Moralisten,<br />

Philosophen, Ökologen, Politiker, Journalisten, Ökonomen und viele an<strong>de</strong>re Menschen an <strong>de</strong>r<br />

kapitalistischen Wirtschaftsordnung üben, ebenfalls überholt und vom Tisch wäre.<br />

So erkennen wir am Beispiel Marx, daß die richtige Kritik kein Garant dafür ist, auch die richtige<br />

Alternative zu fin<strong>de</strong>n. Für eine an<strong>de</strong>re Gesellschaft jedoch brauchen wir eine an<strong>de</strong>re Ökonomie.<br />

Wie sieht die in <strong>de</strong>r Vorstellung von Anarchisten aus?<br />

Eine anarchistische Ökonomie<br />

Anarchistische Wirtschaft beruht auf einer <strong>de</strong>zentralen Bedürfnisproduktion. Was heißt das?<br />

Zunächst mal, daß Produzenten und Konsumenten selbst bestimmen, was sie produzieren, wie sie<br />

produzieren und wie sie die Produkte verteilen. In staatlich-kapitalistischen Strukturen wäre das kaum<br />

durchführbar - in <strong>de</strong>zentral-anarchischen Strukturen hingegen bietet es sich gera<strong>de</strong>zu an. Dort wäre ja die<br />

Gesellschaft ohnehin <strong>de</strong>zentral und selbstverwaltet organisiert, dort wären Produzenten und Konsumenten<br />

größtenteils i<strong>de</strong>ntisch und dort bestün<strong>de</strong>n günstige Voraussetzungen für einen verantwortungsvollen<br />

Umgang mit Ressourcen*, Arbeitsprozessen und <strong>de</strong>r Auswahl <strong>de</strong>ssen, was wirklich gebraucht wird. Da in<br />

einer an-archischen Gesellschaft die Arbeiter gleichzeitig auch Besitzer ihrer Produktionsmittel wären,<br />

könnte zum Beispiel die Belegschaft eines Konzerns wie Daimler-Benz darangehen, die Produktionskraft<br />

dieses Giganten ›umzubauen‹. Etwa für ökologisch verträgliche Verkehrssysteme, alternative Energien,<br />

sanfte Technologie.<br />

Dort, wo benzinfressen<strong>de</strong> Nobelkarossen, Panzermotoren, Raumfahrttechnik o<strong>de</strong>r Kampfflugzeuge<br />

gebaut wer<strong>de</strong>n, kann man ja auch an<strong>de</strong>re Dinge herstellen. Es war niemals die Belegschaft, die<br />

entschie<strong>de</strong>n hat, was bei <strong>de</strong>r Daimler-Benz AG hergestellt wird, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Konzern. Und <strong>de</strong>r richtete<br />

sich hierbei nach <strong>de</strong>m Profit, und Automobil- und Rüstungstechnologie versprachen nunmal hohe Profite.<br />

Der einzelne Arbeiter dort baut Autos o<strong>de</strong>r Panzer nicht unbedingt aus innerer Überzeugung, son<strong>de</strong>rn weil<br />

er einen Arbeitsplatz braucht, um Geld zu verdienen. Was er produziert, bekommt er gesagt. In einer<br />

Gesellschaft, die in allen Bereichen auf freier, bewußter Entscheidung aufbaut, dürften nach Meinung <strong>de</strong>r<br />

Anarchisten gute Chancen bestehen, daß auch im wirtschaftlichen Bereich die Produzenten an<strong>de</strong>re<br />

Entscheidungen treffen als heute die Konzerne. Das gleiche gälte natürlich für Landwirtschaft,<br />

Konsumgüter und Dienstleistungen. Genau betrachtet wäre erst in dieser Bedürfnisproduktion das<br />

verwirklicht, was <strong>de</strong>r Liberalismus fälschlich für sich in Anspruch nimmt – daß sich nämlich ›<strong>de</strong>r Markt‹<br />

frei entfaltet und gemäß <strong>de</strong>n tatsächlichen Bedürfnissen <strong>de</strong>r Verbraucher produziert.<br />

Durch die <strong>de</strong>zentrale Vernetzung einer solchen Gesellschaft wür<strong>de</strong>n viele Waren, Produkte und<br />

Lebensmittel in <strong>de</strong>r näheren Umgebung erzeugt und verbraucht. Das könnte ganz beträchtliche<br />

Transport-, Lager- und Logistikkosten einsparen. Es reduzierte <strong>de</strong>n ökologischen Wahnsinn, daß viele<br />

Produkte aus reinen Grün<strong>de</strong>n eines Han<strong>de</strong>lsgewinns um<br />

82


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die ganze Er<strong>de</strong> hin- und her transportiert wer<strong>de</strong>n. Gleiches ließe sich für die Weiterverarbeitung von<br />

Rohstoffen erreichen, die sich heute – ebenfalls aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Profits – überwiegend die reichen<br />

Industrielän<strong>de</strong>r gesichert haben. Eine Vere<strong>de</strong>lung könnte ebensogut <strong>de</strong>zentral an <strong>de</strong>n Orten erfolgen, wo<br />

die Rohstoffe vorkommen. Import und Export wären dann nur noch für Produkte nötig, die etwa nur in<br />

bestimmten Klimazonen ge<strong>de</strong>ihen o<strong>de</strong>r an bestimmten Plätzen hergestellt wer<strong>de</strong>n können. Daher<br />

<strong>de</strong>zentrale Bedürfnisproduktion.<br />

Anarchistische Wirtschaftstheoretiker gehen davon aus, daß in einer solchen Wirtschaft am En<strong>de</strong> nur<br />

noch das hergestellt wür<strong>de</strong>, was alle Menschen <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> zum Leben, zum Vergnügen und zur<br />

Bequemlichkeit brauchen. Nicht mehr und nicht weniger.<br />

Einigen mag das jetzt be<strong>de</strong>nklich nach ›DDR-Wirtschaft‹ klingen: grau, phantasielos, knapp und<br />

einheitlich. In <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Libertären ist das allerdings barer Unsinn: Gera<strong>de</strong> in einer an-archischen<br />

Gesellschaft wer<strong>de</strong> es viel Raum für Individualität, Vielfalt und Phantasie geben, und auch ›Luxus‹ sei<br />

kein Tabu — sofern es sich dabei nicht um Protzerei auf Kosten an<strong>de</strong>rer han<strong>de</strong>lt, son<strong>de</strong>rn um Freu<strong>de</strong> am<br />

Genuß. In <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nartigsten Mikro-Gesellschaften könnten sich verschie<strong>de</strong>ne Menschengruppen<br />

auch nach verschie<strong>de</strong>nen Konsumbedürfnissen und Lebensgewohnheiten zusammenschließen: von<br />

bedürfnislos-grau bis genußvoll-schrill. Wer mehr konsumieren wolle, habe durchaus das Recht, sich<br />

diesen Mehrkonsum zu erarbeiten. Was jedoch nach anarchistischer Meinung verschwin<strong>de</strong>n soll, ist die<br />

Ausbeutung an<strong>de</strong>rer Menschen, <strong>de</strong>nn libertäre Wirtschaft müsse eine Solidarwirtschaft sein, die nicht auf<br />

parasitärer* Lebensweise aufbauen dürfe.<br />

Eine Ökonomie <strong>de</strong>s Verzichts?<br />

Das be<strong>de</strong>utet aber auch, daß wir nicht nur an ›uns‹ <strong>de</strong>nken können, son<strong>de</strong>rn auch an <strong>de</strong>n ›Rest <strong>de</strong>r<br />

Menschheit‹. Eine solche Solidarwirtschaft müßte weltweit wirken, o<strong>de</strong>r sie hätte ethisch versagt. Heute<br />

lebt <strong>de</strong>r kleinste Teil <strong>de</strong>r Menschen im Überfluß, während <strong>de</strong>r größte Teil nicht einmal genug zu essen<br />

hat.<br />

Heißt das, daß wir Verzicht üben müssen und verdammt wären, zu verarmen?<br />

Ja und nein. Verzicht üben müssen wir ganz sicherlich, aber nicht etwa <strong>de</strong>shalb, weil es nicht möglich<br />

wäre, allen Menschen ein lebenswertes Leben zu bieten, und wir darum ›unseren‹ Reichtum zu<br />

verschenken hätten. Wir wer<strong>de</strong>n so o<strong>de</strong>r so gezwungen sein, unseren manischen* Konsumgalopp zu<br />

bremsen, weil uns die Verschwendungsorgie, in <strong>de</strong>r wir leben, gera<strong>de</strong>wegs in katastrophale Sackgassen<br />

führt. Das hat wirtschaftliche und ökologische Grün<strong>de</strong>, und mit Anarchie nichts zu tun. In bei<strong>de</strong>n Fällen<br />

konsumieren wir mit unge<strong>de</strong>cktem Kredit, sowohl <strong>de</strong>m Geld gegenüber als auch <strong>de</strong>r Natur. Diese Grün<strong>de</strong><br />

wer<strong>de</strong>n immer augenfälliger, und sie bestehen mit o<strong>de</strong>r ohne Solidarwirtschaft. Auf <strong>de</strong>n hemmungslosen<br />

Verbrauch von Energien und Ressourcen, auf Prestige-Luxus und Konsumrausch als Ersatzbefriedigung<br />

für wirkliches Leben wird die Menschheit auf je<strong>de</strong>n Fall verzichten müssen, weil die Reserven, aus <strong>de</strong>nen<br />

wir uns bedienen, früher o<strong>de</strong>r später erschöpft sein wer<strong>de</strong>n.<br />

83<br />

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Ob das aber eine Verarmung be<strong>de</strong>utet, ist zu bezweifeln. Man könnte auch das Gegenteil vermuten. Mir<br />

scheinen eher diejenigen, die für ihr persönliches Glück computergesteuerte Tischfeuerzeuge,<br />

elektronische Zahnbürsten o<strong>de</strong>r Luxuslimousinen brauchen, verarmte Persönlichkeiten zu sein. Befriedigt<br />

er uns wirklich, <strong>de</strong>r Kauf neuer Möbel im Fünfjahresrhythmus, <strong>de</strong>n uns die hingepfuschten<br />

Spanplattenteile vorgeben, weil sie dann nämlich anfangen aus <strong>de</strong>m Leim zu gehen? Auch Manni Schmilz<br />

macht nicht gera<strong>de</strong> einen glücklichen Eindruck, wenn er seinen ratenfinanzierten, rallyegetunten,


tiefergelegten Turbola<strong>de</strong>rmanta schampooniert, mit <strong>de</strong>m er anschließend bei Wuppertal-Elberfeld im Stau<br />

stehen wird... Dabei habe ich gar nichts gegen die schöne Dinge im Leben und verachte nieman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r<br />

sich etwa für Motorsport begeistert – es geht um An<strong>de</strong>res: die Verödung unseres Lebens. Die Sinnleere<br />

<strong>de</strong>s Alltags, <strong>de</strong>r Trend zu Vereinzelung, Entfremdung und Vermassung treibt immer mehr Menschen<br />

dazu, eine Art Ersatzbefriedigung im Konsum zu suchen. Dabei wird die Qualität <strong>de</strong>s Konsums immer<br />

zweifelhafter, und die erwartete Befriedigung hält fast nie, was man sich von ihr verspricht.<br />

Die Frage, vor <strong>de</strong>r wir heute stehen, ist also nicht, ob wir so weiterleben können wie bisher, <strong>de</strong>nn das<br />

können wir ganz ein<strong>de</strong>utig nicht. Die Alternative lautet, ob wir mit unserer Luxusyacht stilvoll in <strong>de</strong>n<br />

Fluten eines bescheuerten Systems untergehen, o<strong>de</strong>r ob wir unser Schiff umtakeln und einen neuen Kurs<br />

einschlagen. Dieser neue Kurs be<strong>de</strong>utet zwar einen Verzicht auf einige Dinge und Gewohnheiten, aber<br />

nicht eine Verarmung unseres Lebens. Wir könnten statt<strong>de</strong>ssen eine völlig neue Lebensqualität gewinnen,<br />

die man nirgends für Geld kaufen kann, und vermutlich wären bei entsprechen<strong>de</strong>r Organisation nicht<br />

einmal Abstriche beim Lebensstandard hinzunehmen.<br />

Wie das?<br />

Durch Einsparung und Umverteilung. Folgen wir <strong>de</strong>r anarchistischen Wirtschaftsvision, so dürfen wir<br />

annehmen, daß in einer Gesellschaft <strong>de</strong>r konsequenten Bedürfnisproduktion die Menschen solche Dinge<br />

herstellen wer<strong>de</strong>n, die sie tatsächlich brauchen und haben wollen. Diese Gesellschaft brauchte keine<br />

Rüstung mehr, keine Raumfahrttechnologie, keine Werbung, keine künstlichen Mo<strong>de</strong>trends, keine<br />

gewollt konstruierten Verschleißprodukte, keine Prestigeausgaben, keine staatliche Repräsentation, keine<br />

Kriege, keinen Superluxus für die Superreichen, keinen unnützen Transport, keine Spekulationsgeschäfte<br />

und so weiter. Sie stün<strong>de</strong>, wie wir noch sehen wer<strong>de</strong>n, auch nicht unter <strong>de</strong>m Zwang, um je<strong>de</strong>n Preis<br />

Arbeitsplätze zu schaffen. Ebenso käme sie ohne Bürokratenheere aus, weil sie sich selbst verwalten<br />

könnte, ohne Sozialhilfe und Arbeitslosengel<strong>de</strong>r, weil sie ein Solidarsystem kleiner Gruppen wäre, und<br />

auch - wie noch zu zeigen ist - ohne <strong>de</strong>n teuren Repressionsapparat* von Justiz, Polizei, Strafvollzug.<br />

Auch im aufgeblähten Medienbereich wür<strong>de</strong>n die Menschen vermutlich auf einiges verzichten wollen.<br />

All das aber bin<strong>de</strong>t heute unglaubliche Mengen an Arbeitskraft, Kreativität, I<strong>de</strong>en, Ressourcen, Werten<br />

und Geld. Für die Herstellung und Verteilung von Waren, Lebensmitteln und Dienstleistungen wird schon<br />

heute <strong>de</strong>r geringere Teil menschlicher Arbeit auf-<br />

84<br />

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gewen<strong>de</strong>t - <strong>de</strong>r größere Teil wird verschwen<strong>de</strong>t und verpufft in ›Leistungen‹, die entwe<strong>de</strong>r niemand<br />

wirklich braucht, o<strong>de</strong>r die auf an<strong>de</strong>re Weise besser organisiert wer<strong>de</strong>n könnten. Alle Jahre wie<strong>de</strong>r gibt es<br />

Studien amerikanischer und europäischer Universitäten, die ausrechnen, wieviel Arbeitsstun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

Mensch bei einer konsequenten Bedürfnisproduktion noch leisten müßte, um <strong>de</strong>n Bedarf aller Menschen<br />

<strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> zu befriedigen. Zur Zeit liegen diese Zahlen zwischen drei und fünf Stun<strong>de</strong>n täglich, manche<br />

Anarchisten kommen mit ihren Rechenkunststücken sogar auf die phantastische Vision einer Fünf-<br />

Stun<strong>de</strong>n-Woche... Wie <strong>de</strong>m auch sei, die Welternährungsexperten <strong>de</strong>r Vereinten Nationen sind sich darin<br />

einig, daß allein <strong>de</strong>r weltweite Wegfall <strong>de</strong>r Rüstung genügend Kräfte und Mittel freisetzen wür<strong>de</strong>, um mit<br />

<strong>de</strong>m Hunger in <strong>de</strong>r Welt sofort Schluß zu machen.<br />

Geld<br />

Warum aber tut man es dann nicht? Die Antwort ist einfach: Wegen <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s. Es lohnt sich nicht, <strong>de</strong>n<br />

Hunger zu besiegen, und ist <strong>de</strong>shalb unvernünftig. Die hungern<strong>de</strong>n Menschen stellen keinen ›Markt‹ dar:<br />

sie sind zu arm, um zu bezahlen. Rüstung hingegen ist ein vernünftiges Geschäft, und <strong>de</strong>r Supercoup, von<br />

<strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r Rüstungsmanager träumt, ist <strong>de</strong>r Krieg, weil sich dabei nämlich die teuren Waffensysteme<br />

selbst vernichten, so daß sie anschließend wie<strong>de</strong>r neu gekauft wer<strong>de</strong>n müssen.


Geld ist die ›flüssige‹ Form <strong>de</strong>s Kapitals und mithin das charakteristische Merkmal kapitalistischer<br />

Ökonomie. Es ist die genialste Erfindung zur Aufrechterhaltung von Reichtum und Armut, von Hoffnung<br />

und Ungerechtigkeit. In einer anarchistischen Gesellschaft soll es – zumin<strong>de</strong>st in seiner jetzigen Form –<br />

verschwin<strong>de</strong>n.<br />

Warum eigentlich?<br />

Viele Menschen meinen, Geld sei eine sehr praktische Einrichtung, verhin<strong>de</strong>rt es doch erfolgreich, daß<br />

wir mit einer Gans unterm Arm herumlaufen müssen, um sie etwa gegen fünfeinhalb Brote und ein paar<br />

neue Sandalen einzutauschen. Geld sei ein Tauschäquivalent*, das <strong>de</strong>n Gegenwert von Arbeit, Leistung<br />

o<strong>de</strong>r Waren repräsentiere. "Geld ist geronnene Arbeit" behaupten einige Ökonomen. Schön, wenn es so<br />

wäre. Dann wäre in einer Gesellschaft, die nach wie vor auf <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>s Tausches basiert, ein solches<br />

Geld durchaus vernünftig. Lei<strong>de</strong>r aber ist Geld eben mehr als nur ein Warenersatz. Es hat in <strong>de</strong>n<br />

fünftausend Jahren, seit es von <strong>de</strong>n Sumerern erfun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>, unerhörte Eigenschaften entwickelt, die<br />

absolut nichts mit Tausch zu tun haben. So kann sich Geld wun<strong>de</strong>rsamerweise ohne eigenes Zutun<br />

vermehren, und je mehr Geld jemand hat, <strong>de</strong>sto leichter bekommt er noch mehr, ohne dafür arbeiten zu<br />

müssen. Geld kann man im Gegensatz zu Waren unbegrenzt aufbewahren und horten; man kann damit<br />

erpressen, spekulieren, es knapp halten o<strong>de</strong>r massenhaft in Umlauf bringen und damit gesellschaftliche,<br />

wirtschaftliche und politische Reaktionen hervorrufen, die nicht das Geringste mit <strong>de</strong>m Austausch von<br />

Leistungen o<strong>de</strong>r Waren zu tun haben. Mit ihm kann man Menschen und Meinungen kaufen, Krisen und<br />

Kriege provozieren. Es ist ein abstrakter* Wert, <strong>de</strong>r weit mehr kann, als alle Gänse, Brote und Sandalen<br />

<strong>de</strong>r Welt zusammen. Mit einem Wort: Geld kann sich in<br />

85<br />

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einer kapitalistischen Wirtschaft verselbständigen. Genau das ist seine Funktion in <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />

Wirtschaft.<br />

Kein Wun<strong>de</strong>r, daß Anarchisten das Geld abschaffen wollen.<br />

Wäre es aber nicht ganz praktisch, irgen<strong>de</strong>in an<strong>de</strong>res Tauschäquivalent zu haben, das nicht die negativen<br />

Eigenschaften <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s besäße? Die Antwort hängt davon ab, ob in <strong>de</strong>r angestrebten Gesellschaft nach<br />

wie vor getauscht wer<strong>de</strong>n soll, o<strong>de</strong>r ob alles allen frei zur Verfügung steht. Was die Anarchisten angeht,<br />

so gingen die Meinungen hierüber schon sehr früh auseinan<strong>de</strong>r.<br />

Bakunin hielt einen ziemlich direkten Tausch für nötig, da nicht unbegrenzt Waren zur Verfügung<br />

stün<strong>de</strong>n, und erst geleistete Arbeit das Recht auf Konsum begrün<strong>de</strong>. In seinem System <strong>de</strong>s<br />

"kollektivistischen Anarchismus" aus <strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rts ging er davon aus, daß<br />

je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Gesellschaft nehmen will, <strong>de</strong>r Gesellschaft auch geben müsse – sonst wür<strong>de</strong> am En<strong>de</strong><br />

niemand mehr arbeiten. Er for<strong>de</strong>rt, vereinfacht gesagt: "Je<strong>de</strong>m nach seiner Leistung". In diesem System<br />

wäre kein Platz für Leute, die auf Kosten an<strong>de</strong>rer leben, ausgenommen Kin<strong>de</strong>r, Alte, Kranke und<br />

Schwache.<br />

Kropotkin entwickelte schon wenige Jahrzehnte später eine weit kühnere und mo<strong>de</strong>rnere Vision <strong>de</strong>r<br />

libertären Gesellschaft, <strong>de</strong>n "kommunistischen Anarchismus". Er geht davon aus, daß je<strong>de</strong>r Mensch ein<br />

Recht auf Leben hat, und daß die Gesellschaft auch <strong>de</strong>n ernähren muß, <strong>de</strong>r nicht arbeitet. Seine Devise<br />

lautet, ebenfalls vereinfacht: "Je<strong>de</strong>r nach seinen Fähigkeiten, je<strong>de</strong>m nach seinen Bedürfnissen".<br />

Angesichts <strong>de</strong>s technischen Fortschritts und <strong>de</strong>r Chance, körperlich schwere Arbeit zunehmend von<br />

Maschinen verrichten zu lassen, schätzte Kropotkin die Möglichkeit <strong>de</strong>r Warenproduktion einer vom<br />

Kapitalismus befreiten Gesellschaft sehr hoch ein.<br />

Die Frage, ob Bakunin nicht eher <strong>de</strong>r Realist und Kropotkin ein zu großer Optimist gewesen sei, hat<br />

seither immer wie<strong>de</strong>r die Gemüter erhitzt. Tatsächlich haben Anarchisten aber unabhängig von dieser


theoretischen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung immer wie<strong>de</strong>r auch praktische Ansätze und Mo<strong>de</strong>lle entwickelt, in<br />

<strong>de</strong>nen bei<strong>de</strong> Varianten auftauchten. Wir können sie hier nicht im Einzelnen vorstellen, aber es gab sowohl<br />

völlig geldlose Experimente von Solidargemeinschaften, als auch Theorien und Experimente für eine<br />

an<strong>de</strong>re Art von Geld. Man probierte es mit Arbeitsgutscheinen, Tauschbons o<strong>de</strong>r Warencoupons, die mit<br />

Erfolg in Kooperativen, Kommunen o<strong>de</strong>r Gewerkschaften eingesetzt wur<strong>de</strong>n. Sie alle waren nur als<br />

Tauschäquivalente zu gebrauchen; es machte keinen Sinn, sie zu horten, man konnte mit ihnen nicht<br />

spekulieren, und Zinsen brachten sie auch keine. Natürlich waren sie außerhalb <strong>de</strong>r engen Grenzen<br />

solcher sozialen Experimente nichts wert - da gab es nach wie vor die staatliche Währung, und viele<br />

Bedürfnisse mußten dort befriedigt wer<strong>de</strong>n. Aber auch für solche Mischformen wur<strong>de</strong>n Lösungen<br />

entwickelt, die beim Übergang von einer kapitalistischen in eine anarchistische Wirtschaft helfen sollten.<br />

Der große Pionier libertärer Ökonomie war – lange vor Bakunin und Kropotkin – Pierre-Joseph<br />

Proudhon. Ihm verdanken wir neben umfangreichen Schriften zur anarchistischen Wirtschaftstheorie auch<br />

ein sehr frühes Experiment, das als Übergangsform innerhalb<br />

86<br />

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<strong>de</strong>s Kapitalismus gestartet wur<strong>de</strong>. Seine 1848 initiierte* Tauschbank sollte insbeson<strong>de</strong>re Arbeitern und<br />

Genossenschaften die Möglichkeit geben, gegen bei einer Tauschbörse einzubringen<strong>de</strong> Sachwerte<br />

zinslose ›Umlaufmittel‹ in Form von ›Tauschnoten‹ zu erhalten, die von allen Mitglie<strong>de</strong>rn anstelle von<br />

Geld akzeptiert wer<strong>de</strong>n mußten. Auch Kredite waren vorgesehen, und das Experiment zielte darauf ab,<br />

Projekte <strong>de</strong>r Arbeiter unabhängig vom Kapitalmarkt zu finanzieren. Wie so viele libertäre Versuche,<br />

wur<strong>de</strong> die Tauschbank kriminalisiert: Das Experiment en<strong>de</strong>te damit, daß Proudhon ins Gefängnis<br />

wan<strong>de</strong>rte...<br />

Eine an<strong>de</strong>re I<strong>de</strong>e, die bei Anarchisten sehr populär war, ist die sogenannte 'Freigeldtheorie' <strong>de</strong>s Deutsch-<br />

Argentiniers Silvio Gesell, in <strong>de</strong>m viele <strong>de</strong>n Erben <strong>de</strong>r Lehren Proudhons sehen. Sie entstand um die<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> und fand auch in bürgerlichen Kreisen großen Anklang, die darin ein Mittel zur<br />

Sanierung <strong>de</strong>r Wirtschaft erblickten. Der Clou an dieser I<strong>de</strong>e war, daß durch einen ›negativen Zins‹ <strong>de</strong>r<br />

Währung jeglicher Anreiz zu spekulativem Horten genommen wer<strong>de</strong>n sollte. Wenn jemand Geldmengen<br />

ansammelte, sollten diese anstatt monatlich Zinsen zu bringen, einen gewissen Prozentsatz an Wen<br />

verlieren. Spötter nannten diese Währung <strong>de</strong>shalb auch abschätzig "Schwundgeld". Sicher aber wäre so<br />

je<strong>de</strong>r bestrebt, Geld möglichst rasch wie<strong>de</strong>r auszugeben, und solange Geld zirkuliere, sei es sozial<br />

nützlich, da es zu gesellschaftlich nötiger Arbeit anrege. Ein solches System hätte <strong>de</strong>n Vorteil, daß es<br />

schon in einer Zeit angewandt wer<strong>de</strong>n könnte, in <strong>de</strong>r eine Gesellschaft noch nach <strong>de</strong>n Prinzipien <strong>de</strong>s<br />

Geldverkehrs funktioniert. Es wäre aber imstan<strong>de</strong>, <strong>de</strong>m Geld sofort einige seiner schlimmsten<br />

›Nebenwirkungen‹ zu nehmen und könnte schließlich in <strong>de</strong>m Maße, wie sich ein System <strong>de</strong>r<br />

Solidarwirtschaft durchsetzt, abgeschafft wer<strong>de</strong>n.<br />

Wie die meisten libertären Experimente fand auch die praktische Erprobung <strong>de</strong>s Freigel<strong>de</strong>s unter<br />

ungünstigen Vorzeichen statt. Auf Anregung Gustav Landauers, <strong>de</strong>r enge Verbindung zu Gesell hatte,<br />

wur<strong>de</strong> er als Finanzminister in die Münchner Räterepublik berufen, aber bevor das bereits gedruckte<br />

Schwundgeld in Umlauf gebracht wer<strong>de</strong>n konnte, wur<strong>de</strong> die Revolution bereits militärisch<br />

nie<strong>de</strong>rgeschlagen und Landauer ermor<strong>de</strong>t. Später erlebte Gesells I<strong>de</strong>e noch zweimal die praktisch<br />

Erprobung: 1932/35 im österreichischen Wörgl, wo es mit großem Erfolg offizielle Währung wur<strong>de</strong> und<br />

1961/62 im brasilianischen Porto Alegre, wo es in Zusammenarbeit mit Genossenschaften, Banken und<br />

Supermärkten als Parallelwährung zirkulierte. Bei<strong>de</strong> Versuche wur<strong>de</strong>n nach kurzer Zeit vom Staat, <strong>de</strong>r<br />

auf sein Geldmonopol pochte, verboten - in Österreich bezeichnen<strong>de</strong>rweise, nach<strong>de</strong>m immer mehr Städte<br />

und zuletzt die Gemein<strong>de</strong> Wien das Freigeld einführen wollten.<br />

Während Gesells "Schwundgeld" noch umständlich auf Papiercoupons gedruckt wur<strong>de</strong>, von <strong>de</strong>m<br />

monatlich ein Stück abgeschnitten wer<strong>de</strong>n mußte, eröffnen die Möglichkeiten mo<strong>de</strong>rner<br />

Computervernetzung viel weitreichen<strong>de</strong>re Perspektiven beim Übergang von <strong>de</strong>r Tausch- zur<br />

Solidarwirtschaft. Manche Anarchisten sehen beispielsweise in <strong>de</strong>n sogenannten Barter-Clubs* ein


mo<strong>de</strong>rnes Mo<strong>de</strong>ll, in <strong>de</strong>m die I<strong>de</strong>en Proudhons, Kropotkins o<strong>de</strong>r Gesells ungeahnte<br />

Anwendungsmöglichkeiten fin<strong>de</strong>n könnten. Diese Vereinigungen, die sich vor allem in <strong>de</strong>n USA großer<br />

Beliebtheit als Mittel eleganter Steuerhinterziehung erfreuen, bieten in einem Computernetz Waren und<br />

Dienstleistungen an, die je<strong>de</strong>r Teil-<br />

87<br />

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nehmer in Anspruch nehmen darf. Sie können aber nicht gekauft wer<strong>de</strong>n. Je nach <strong>de</strong>r Absicht <strong>de</strong>r<br />

Betreiber könnte es ein reines Tauschsystem sein, man könnte sich eine imaginäre ›Verrechnungseinheit‹<br />

als Alternativwährung schaffen, Kredite einräumen o<strong>de</strong>r auch ein freies Solidarsystem installieren, in <strong>de</strong>m<br />

je<strong>de</strong>r gibt, was er kann und nimmt, was er will. Je<strong>de</strong>r Teilnehmer kann je<strong>de</strong>rzeit seinen ›Kontostand‹ von<br />

Geben und Nehmen abrufen, und alle an<strong>de</strong>ren können wie<strong>de</strong>rum kontrollieren, ob jemand etwa zuviel<br />

entnimmt und damit das System gefähr<strong>de</strong>t. Alle Möglichkeiten anarchistischer Wirtschaftsethik sind in<br />

einem solchen System technisch angelegt, und es wür<strong>de</strong> sich durchaus als Instrument eignen, um <strong>de</strong>n<br />

heiklen Übergang von einer Tauschwirtschaft zu einer Solidarwirtschaft zu begleiten. Denn schließlich<br />

müßten Menschen auch erst einmal die tugendhafte Zurückhaltung, die Kropotkin ihnen netterweise<br />

zugesteht, in <strong>de</strong>r alltäglichen Praxis trainieren...<br />

Belassen wir es bei diesen drei Beispielen in <strong>de</strong>r Hoffnung, daß sie die Phantasie anzuregen vermochten<br />

und zeigen konnten, daß es neben <strong>de</strong>r uns geläufigen Geldwirtschaft mehr als nur eine Alternative gibt.<br />

Wen<strong>de</strong>n wir uns also zum Schluß noch einmal <strong>de</strong>r Zukunft zu: <strong>de</strong>r Frage, ob und wie eine i<strong>de</strong>ale<br />

anarchistische Ökonomie funktionieren könnte.<br />

Tauschen o<strong>de</strong>r geben ?<br />

Stehengeblieben waren wir bei <strong>de</strong>m Gegensatz zwischen Bakunin und Kropotkin, zu <strong>de</strong>m<br />

erfreulicherweise anzumerken ist, daß er sich in <strong>de</strong>r Praxis bisher wohl eher als ein Streit um die Bärte<br />

dieser bei<strong>de</strong>n ›Propheten‹ entpuppte: In <strong>de</strong>n wenigen großen anarchistischen Experimenten, die ganze<br />

Gesellschaften umfaßten, hat sich nämlich gezeigt, daß sie sich in Wirklichkeit weniger wi<strong>de</strong>rsprachen,<br />

als anzunehmen war. Das reale Leben brachte meist Mischformen hervor, bei <strong>de</strong>nen sich grob gesagt<br />

herausstellte, daß im internationalen Wirtschaftsverkehr und in Großstädten Geld vorerst notwendig blieb,<br />

im Tauschverkehr zwischen Industriezweigen o<strong>de</strong>r Gewerkschaftssektionen eine simple<br />

Verrechnungseinheit genügte, und in kleineren Zusammenhängen wie Dörfern, Belegschaften o<strong>de</strong>r<br />

Stadtteilen auch reine Solidarwirtschaft funktionierte. Heute neigen wohl die meisten Anarchisten zu <strong>de</strong>r<br />

Ansicht, daß Bakunins Mo<strong>de</strong>ll am Beginn einer anarchistischen Umwälzung die nahliegen<strong>de</strong>re Lösung<br />

ist, Kropotkins Vision hingegen das ethische und praktische Ziel anarchistischer Wirtschaft sein sollte.<br />

Gera<strong>de</strong> darum sind Mo<strong>de</strong>lle und Experimente, die Antworten auf die Frage nach <strong>de</strong>n Übergängen geben,<br />

so wichtig. Übergänge von "Kapitalismus" zu "Bakunin" und von "Bakunin" zu "Kropotkin", o<strong>de</strong>r, an<strong>de</strong>rs<br />

ausgedrückt, von Geld zu Tausch und von Tausch zu Solidarität.<br />

Nun erscheint uns, als Kin<strong>de</strong>rn dieser Gesellschaft und von ihr geprägt, die I<strong>de</strong>e eines Tausches sicherlich<br />

plausibler* als die I<strong>de</strong>e einer Solidarwirtschaft. Kropotkin kommt uns gegenüber Bakunin eher wie ein<br />

etwas weltfrem<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>alist vor.<br />

Ist das anarchistische Endziel, wo je<strong>de</strong>r gibt was er kann und nimmt was er braucht, vielleicht nur<br />

Spinnerei?<br />

Zunächst einmal muß gesagt wer<strong>de</strong>n, daß ja auch das Kropotkinsche I<strong>de</strong>al ein Tausch ist.<br />

88<br />

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Nur wird in einer geldfreien Wirtschaft nicht aufgerechnet, nicht unmittelbar und direkt getauscht und<br />

nicht systematisch kontrolliert. Statt<strong>de</strong>ssen wird alles ›in einen großen Topf geworfen‹, aus <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r<br />

nimmt, solange da ist, und in <strong>de</strong>n je<strong>de</strong>r aus wohlverstan<strong>de</strong>nem Eigeninteresse hineingibt, damit er nicht<br />

leer wird. Hierzu ein Beispiel:<br />

Ein Bäcker produziert Brötchen und ein Elektrotechniker baut Lichtanlagen. Der Techniker wird sich<br />

je<strong>de</strong>n Morgen beim Bäcker soviel Brötchen holen, wie er braucht. Sobald er beginnt, einen ganzen Sack<br />

abzuschleppen, wird <strong>de</strong>r Bäcker protestieren. Einen ganzen Sack abzuschleppen wäre aber sinnlos, <strong>de</strong>nn<br />

Brötchen schimmeln, und zum Tauschen gegen an<strong>de</strong>re Dinge taugen sie nicht, weil je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Mensch<br />

ebenfalls Brötchen nehmen kann, und <strong>de</strong>r Elektrotechniker je<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Gegenstand, sofern vorhan<strong>de</strong>n,<br />

ebenfalls gratis mitnehmen könnte. Mehr zu nehmen als man braucht, wür<strong>de</strong> einfach absurd, und das<br />

Horten von Gegenstän<strong>de</strong>n eine sinnlose Plage. Auch <strong>de</strong>r Warenbesitz als Ausdruck einer<br />

Klassenzugehörigkeit, Luxus als Symbol für Status und Macht, wür<strong>de</strong> in einer klassenlosen Gesellschaft<br />

seinen Sinn verlieren und zunehmend lächerlich wirken.<br />

Nun muß <strong>de</strong>r Elektrotechniker aber keinesfalls je<strong>de</strong>n Morgen beim Brötchenholen eine Lichtanlage o<strong>de</strong>r<br />

ein Stück davon o<strong>de</strong>r einen Trafo dalassen. Es wird nicht direkt getauscht. Hingegen kann sich <strong>de</strong>r<br />

Bäcker, wenn seine Installation nicht mehr taugt, sich eine neue einbauen lassen, ohne dafür etwa mit<br />

einem Lastwagen voll Brötchen zu ›bezahlen‹. Es kann auch sein, daß <strong>de</strong>r Bäcker niemals eine<br />

Lichtanlage braucht, aber trotz<strong>de</strong>m stehen Bäcker und Elektrotechniker in einem Tauschverhältnis<br />

miteinan<strong>de</strong>r, und zwar in einem indirekten: Der Bäcker beliefert das Reisebüro, wo <strong>de</strong>r Techniker seinen<br />

Urlaub bucht, das wie<strong>de</strong>rum von <strong>de</strong>r Druckerei beliefert wird, in die <strong>de</strong>r Techniker die gesamte Elektrik<br />

installiert hat... und tausend Verflechtungen mehr. Das ist nicht an<strong>de</strong>rs als heute auch und wäre auch für<br />

die Wirtschaftsbeziehungen von Großfirmen und ganzen Branchen <strong>de</strong>nkbar – nur mit <strong>de</strong>m Unterschied,<br />

daß in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>zentralen Bedürfniswirtschaft sich im Vergleich zur kapitalistischen Geldwirtschaft die<br />

Ungerechtigkeiten <strong>de</strong>s Reichtums und die ökologisch-sozialen Schä<strong>de</strong>n minimierten.<br />

Es han<strong>de</strong>lt sich also auch bei Kropotkin um einen Tausch - Tausch auf Kredit im positiven Sinne dieses<br />

Wortes, das vom lateinischen cre<strong>de</strong>re kommt, was soviel wie vertrauen o<strong>de</strong>r glauben heißt. Dieser<br />

›Kredit‹ gilt zwischen allen Teilnehmern einer solchen Gemeinschaft gegenseitig. Je<strong>de</strong>r von ihnen hat ein<br />

Interesse daran, diesen Kredit nicht zu mißbrauchen, damit seine Gemeinschaft und somit seine<br />

wirtschaftliche Existenz nicht gefähr<strong>de</strong>t wird.<br />

Die geldlose Solidar- und Bedürfniswirtschaft könnte die Menschen auch von einer Geißel <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />

Volkswirtschaft befreien, <strong>de</strong>m Arbeitsplatzargument. Der größte Unsinn und die schlimmste moralische<br />

Verwerflichkeit wer<strong>de</strong>n heute mit <strong>de</strong>m Vorhalt gerechtfertigt: "Aber das schafft doch Arbeitsplätze!" In<br />

Debatten über Wirtschaft ist es das mit Abstand beliebteste ›Totschlagargument‹, mit <strong>de</strong>m sich alles<br />

rechtfertigen läßt. Konsequente Ökonomisten müßten mit ihm eigentlich die Schließung <strong>de</strong>r<br />

Konzentrationslager 1945 bedauern – schließlich wur<strong>de</strong>n dort Arbeitsplätze vernichtet ...!<br />

Das Arbeitsplatzargument verliert in einer Solidarwirtschaft aber je<strong>de</strong>n Sinn. Ein ›Arbeits-<br />

89<br />

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platz‹ an sich ist ja ein inhaltsleerer Blödsinn. Er ist nur <strong>de</strong>shalb so wichtig, weil damit das Recht auf<br />

Verdienst = Leben gekoppelt ist. Eigentlich be<strong>de</strong>utsam ist ja nicht <strong>de</strong>r Arbeitsplatz, son<strong>de</strong>rn die Arbeit,<br />

das Produkt. Diese können sinnvoll o<strong>de</strong>r sinnlos sein. In <strong>de</strong>r Solidarwirtschaft aber müßte nichts mehr um<br />

seiner selbst o<strong>de</strong>r um <strong>de</strong>s Profits wegen hergestellt wer<strong>de</strong>n. Es ist nicht einzusehen, warum beispielsweise<br />

Militärs, die eine gesellschaftlich sinnlose Tätigkeit verrichten, nicht sinnvolle Arbeiten übernehmen<br />

könnten. In einer Übergangsphase könnte man sie dafür ja durchaus genauso entlohnen wie zuvor, aber<br />

immerhin fielen die Kosten für die Waffensysteme sofort weg; das ist lediglich eine Frage <strong>de</strong>r richtigen<br />

Umbaumo<strong>de</strong>lle. Irgen<strong>de</strong>ine Arbeit aber, die niemand braucht, nur <strong>de</strong>shalb zu verrichten, weil ich zum<br />

Leben einen Arbeitsplatz brauche - das ist schon eine ziemlich merkwürdige I<strong>de</strong>e, wenn man mal drüber<br />

nach<strong>de</strong>nkt. Und da es am En<strong>de</strong> für <strong>de</strong>rart viele Menschen gar nicht mehr genug sinnvolles zu tun gäbe,


dürfte <strong>de</strong>r Mensch getrost etwas langsamer treten und weniger arbeiten – ohne <strong>de</strong>shalb wirtschaftliche<br />

Nachteile befürchten zu müssen.<br />

Faule Menschen und eklige Arbeit<br />

Bleiben wir noch einen Augenblick bei <strong>de</strong>r Theorie einer anarchistischen I<strong>de</strong>algesellschaft: Dort sollen<br />

nach Kropotkin diejenigen, die sich an diesem ›indirekten Tausch‹ nicht beteiligen, nicht <strong>de</strong>m Hungertod<br />

überlassen wer<strong>de</strong>n. Auch Menschen, die <strong>de</strong>n Kredit mißachten in<strong>de</strong>m sie beispielsweise nicht arbeiten,<br />

sollen das Recht haben, zu nehmen. Das kommt vielen von uns absurd vor, dabei ist es gar nicht so<br />

ungewöhnlich. Das kann sich sogar unser Wirtschaftssystem leisten, obwohl es soviel Kraft verschwen<strong>de</strong>t<br />

und soviel Überflüssiges produziert. Schließlich zahlt es Sozialhilfe, ohne daran zu zerbrechen. Mehr<br />

noch: Wir ernähren heute - was gerne vergessen wird - zigtausen<strong>de</strong> von Parasiten mit, die nicht nur nichts<br />

herstellen, son<strong>de</strong>rn überdies auch noch superreich sind: die Kapitaleigner mit ihrem arbeitslosen<br />

Einkommen. Trotz<strong>de</strong>m geht unser System daran nicht zugrun<strong>de</strong>...<br />

Ob sie tatsächlich funktionieren wür<strong>de</strong>, hängt von zwei Fragen ab: Wieviele Menschen wer<strong>de</strong>n sich<br />

tatsächlich weigern zu arbeiten und etwas ›in <strong>de</strong>n Topf‹ zu geben? Und: Kann eine gut organisierte<br />

Wirtschaft in einer freiheitlichen Gesellschaft genügend Leistung erbringen, um alle Menschen – auch die<br />

›Faulenzer‹ – zu versorgen?<br />

Gewiß können wir über bei<strong>de</strong> nur spekulieren, aber Spekulation kann durchaus fundiert* sein. Was die<br />

zweite Frage angeht, so haben wir schon gesehen, daß mo<strong>de</strong>rne Wirtschaftsstudien genau in diese<br />

Richtung weisen: Es scheint heute unter seriösen Soziologen, Politologen und sogar voraus<strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n<br />

Ökonomen keine Frage zu sein, daß eine Bedarfsproduktion allen Menschen Nahrung und Wohlstand<br />

bieten könnte. Allerdings halten sie ihre Verwirklichung angesichts <strong>de</strong>r tatsächlichen Machtstrukturen und<br />

Kapitalinteressen für eine Utopie und machen zu Recht <strong>de</strong>n Vorbehalt geltend, daß das ungebremste<br />

Bevölkerungswachstum solche Hoffnungen je<strong>de</strong>rzeit durchkreuzen könnte. Manche Anarchisten sind da<br />

optimistischer: Der bekannte amerikanische Ökologe Murray Bookchin<br />

90<br />

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geht in seinen Schriften von einem ›Anarchismus <strong>de</strong>r Nach-Mangelgesellschaft‹ aus. Mangel wie wir ihn<br />

heute kennen sei ein künstlicher Zustand, <strong>de</strong>r in unserem Wirtschaftssystem begrün<strong>de</strong>t liege. Bookchin<br />

zweifelt nicht daran, daß – auch in ökologisch verträglicher Form – mehr erzeugt und besser verteilt<br />

wer<strong>de</strong>n könnte als dies heute <strong>de</strong>r Fall ist.<br />

Auch <strong>de</strong>r Rückblick auf historische Erfahrungen kann bei <strong>de</strong>r Beantwortung dieser Frage helfen. Wie<br />

produktiv war beispielsweise die libertäre Mischwirtschaft während <strong>de</strong>r spanischen Revolution? Zum<br />

großen Erstaunen beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r Wirtschaftstheoretiker geschah 1936 in <strong>de</strong>n befreiten Gebieten etwas,<br />

was es nach allen Gesetzen <strong>de</strong>r Ökonomie gar nicht hätte geben dürfen: Bei gleichzeitiger Lohnerhöhung,<br />

Reduzierung <strong>de</strong>r Arbeitszeit und Verbesserung sozialer Leistungen wur<strong>de</strong> die Produktion gesteigert. Und<br />

das, obwohl ›nebenbei‹ noch ein Krieg geführt wer<strong>de</strong>n mußte, also <strong>de</strong>nkbar ungünstige Bedingungen<br />

herrschten. Kein verantwortungsvoller Mensch wird allein aus einem so kurzen Experiment Rückschlüsse<br />

für eine künftige Gesellschaft ziehen wollen. Ohne Frage spielte die große Anfangseuphorie* eine Rolle,<br />

und wir wissen nicht, wie sich diese Wirtschaft in zehn o<strong>de</strong>r zwanzig Jahren entwickelt hätte. Tatsache ist<br />

aber, daß nicht die Wirtschaft scheiterte, son<strong>de</strong>rn die Politik: Das Experiment wur<strong>de</strong> zunächst durch<br />

zahllose Schikanen <strong>de</strong>r republikanischen Regierungen torpediert und schließlich vom siegreichen<br />

Faschismus zerschlagen.<br />

Die Grün<strong>de</strong>, die in Spanien ein solches ›anarchistisches Wirtschaftswun<strong>de</strong>r‹ ermöglichten, führen uns zu<br />

<strong>de</strong>r Beantwortung jener an<strong>de</strong>ren Frage: Wieviele Menschen wür<strong>de</strong>n sich für die Gesellschaft engagieren<br />

und wieviele wür<strong>de</strong>n sich ihr verweigern?


Offenbar spielt die Motivation <strong>de</strong>r Menschen hierbei eine wichtige Rolle. Engagement hängt entschei<strong>de</strong>nd<br />

von <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation ab, die je<strong>de</strong>r Mensch mit seiner Gesellschaft und daher mit seiner Arbeit hat. Der<br />

Begriff <strong>de</strong>r Motivation spielt heute in <strong>de</strong>n meisten ökonomischen Theorien von Markt und Arbeit eine<br />

untergeordnete Rolle. Kluge Ausbeuter wie IBM haben das erkannt, Betonköpfe wie die DDR-Ökonomen<br />

haben das ignoriert, bis ihr System zusammenbrach. In <strong>de</strong>r spanischen Revolution war das Gros <strong>de</strong>r<br />

Industrie- und Landarbeiter hochmotiviert. Sie wußten, daß sie etwas für sich taten, und daß ihr Versuch<br />

nur in einer solidarischen Gemeinschaft funktionieren konnte.<br />

Trotz<strong>de</strong>m gibt es faule Menschen und unangenehme Arbeit, die niemand tun will. Was ist damit?<br />

Die optimistische Annahme <strong>de</strong>r Anarchisten, daß sich in einer libertären Gesellschaft relativ wenig<br />

Menschen jeglicher Arbeit verweigern, fußt auf mehreren Überlegungen. Zuallererst glauben sie nicht,<br />

daß konsequentes Nichtstun angenehm ist. Der Mensch ist in <strong>de</strong>r Regel ein aktives Geschöpf, das sich<br />

betätigen will. Wirklich nichts im Leben zu schaffen ist für die meisten Menschen kein I<strong>de</strong>al - im<br />

Gegenteil: es wäre eine solch gräßliche Langeweile und nervtöten<strong>de</strong> Ö<strong>de</strong>, daß diese Vorstellung eher<br />

erschreckend als verlockend wirkt. Rentner, die von einem Tag auf <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren zur Untätigkeit verdammt<br />

wer<strong>de</strong>n, erleben diesen Zustand ebenso bedrückend wie Häftlinge, <strong>de</strong>nen die Arbeit in <strong>de</strong>r<br />

Gefängniswerkstatt verweigert wird. Selbst junge Menschen, die plötzlich ihren Arbeitsplatz<br />

91<br />

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verlieren, lei<strong>de</strong>n darunter, obwohl sie durch Arbeitslosengeld finanziell leidlich versorgt bleiben. Und das<br />

alles, obwohl Arbeit heutzutage alles an<strong>de</strong>re als angenehm und menschlich organisiert ist!<br />

Es ist eben eine ganz an<strong>de</strong>re Frage, ob die Arbeit, die wir heute zu verrichten gezwungen sind, gerne<br />

getan wird. Vor allem an<strong>de</strong>ren müssen wir arbeiten, um Geld zu verdienen und also leben zu dürfen. In<br />

<strong>de</strong>n wenigsten Fällen ist unsere Arbeit angenehm, daher wird sie in <strong>de</strong>n meisten Fällen ungern getan. Wir<br />

haben bereits gesehen, daß Anarchisten die kapitalistische Arbeit zu<strong>de</strong>m für entfrem<strong>de</strong>t halten. Der Grad<br />

<strong>de</strong>r Entfremdung soll in einer libertären Wirtschaft durch vielfältige Än<strong>de</strong>rungen im Arbeitsablauf<br />

entschei<strong>de</strong>nd reduziert wer<strong>de</strong>n. Alle Überlegungen hierzu laufen auf eine Verringerung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung<br />

hinaus und auf eine engere Verbindung zwischen <strong>de</strong>m Menschen und seinem Produkt, Es wur<strong>de</strong> ebenfalls<br />

schon erwähnt, daß die Arbeitszeit in einer <strong>de</strong>zentralen Bedürfnisproduktion auf Dauer drastisch gekürzt<br />

wer<strong>de</strong>n könnte. Es macht für viele Menschen einen großen Unterschied, ob sie vier o<strong>de</strong>r acht Stun<strong>de</strong>n<br />

arbeiten müssen - nicht ohne Grund ist Teilzeitarbeit so beliebt. Schließlich darf nicht vergessen wer<strong>de</strong>n,<br />

daß die lebendige und bunte soziale Umwelt, die eine anarchistische Umwälzung vermutlich mit sich<br />

brächte, natürlich beson<strong>de</strong>rs geeignet wäre, die so entstehen<strong>de</strong> Freizeit zu füllen. Wür<strong>de</strong>n wir hier und<br />

heute die Arbeitszeit auf vier Stun<strong>de</strong>n reduzieren, brächte das für viele Menschen sicherlich erhebliche<br />

›Freizeitprobleme‹ mit sich, die eher zu einem Anwachsen von sozialem Fehlverhalten, dumpfem<br />

Konsum, Alkoholverbrauch o<strong>de</strong>r Fernsehmanie führen wür<strong>de</strong>.<br />

Darüberhinaus braucht <strong>de</strong>r Mensch, um freiwillig und mit Überzeugung zu arbeiten, vor allem eine<br />

gewisse Sicherheit. Das bringt uns zu <strong>de</strong>r Frage nach Besitz und Eigentum.<br />

Eigentum und Besitz<br />

Hier müssen wir wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n guten, alten Proudhon zurückkommen, <strong>de</strong>r sich als einer <strong>de</strong>r ersten<br />

Anarchisten mit dieser Frage beschäftigte. 1840 brillierte* er mit seiner Denkschrift "Was ist Eigentum?",<br />

die in <strong>de</strong>m berühmt gewor<strong>de</strong>nen Satz gipfelte "Eigentum ist Diebstahl!" Das klingt schön schockierend,<br />

aber was be<strong>de</strong>utet es? Darf nieman<strong>de</strong>m mehr etwas ›gehören‹?<br />

Natürlich darf und muß es in einer anarchistischen Gesellschaft ›Besitz‹ geben. Anarchisten planen auch<br />

keinesfalls die Kollektivierung <strong>de</strong>r Zahnbürsten. Aber Besitz ist nicht dasselbe wie ›Eigentum‹, Proudhon<br />

unterschei<strong>de</strong>t hier sehr genau: Besitz setzt eine Nutzung voraus, einen Gebrauch von Werten. Ein Besitzer


kann durchaus über solche Werte verfügen, vorausgesetzt, er tut was damit. Arbeitet er mit diesen<br />

Werten, setzt er sie ein, um etwas Sinnvolles damit zu produzieren, profitiert auch die Gesellschaft.<br />

Eigentum hingegen ist das abstrakte Recht, mit Dingen nach Belieben zu verfahren; es entsteht zumeist<br />

als Profit infolge Ausbeutung. Daher das Urteil, Eigentum sei ›Diebstahl‹. Bei all<strong>de</strong>m geht es eben nicht<br />

um die ›Zahnbürsten‹, das heißt, um private Dinge, son<strong>de</strong>rn um das Eigentum an Produktionsmitteln :<br />

Fabriken, Län<strong>de</strong>reien, Unternehmen, Maschinen, Betriebe und so weiter. Selbstverständlich hätte in einer<br />

anarchistischen Gesellschaft je<strong>de</strong>s<br />

92<br />

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Mitglied ein Anrecht auf eine geschützte Privatsphäre und somit auch auf das Eigentum an persönlichen<br />

Dingen. Eigentum an Produktionsmitteln hingegen ist in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Anarchisten unsozial. Wieso, so<br />

fragen sie, darf ein junger Schnösel, <strong>de</strong>r vom Vater ein großes Landgut geerbt hat, die Äcker brach liegen<br />

lassen o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n spekulieren, während die Landarbeiter arbeitslos sind und hungern? Weil er<br />

Eigentümer ist. Wieso kann die Konzernleitung, die sich eine Aktienmehrheit verschafft hat, nach<br />

Gutdünken die Fabrik schließen o<strong>de</strong>r statt Fotoapparaten plötzlich Zielfernrohre bauen lassen? Weil sie<br />

Eigentümerin ist – ebenso wie die Immobilienholding, die Wohnhäuser verfallen läßt o<strong>de</strong>r die<br />

Holzgesellschaft, die be<strong>de</strong>nkenlos die letzten Urwäl<strong>de</strong>r abmäht.<br />

Eigentümer entschei<strong>de</strong>n eben nicht nur über das Schicksal <strong>de</strong>r Produktionsmittel, son<strong>de</strong>rn auch über das<br />

Schicksal <strong>de</strong>r Menschen. Nach anarchistischer Vorstellung aber darf nicht ein einzelner Mensch<br />

entschei<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r nach irgen<strong>de</strong>inem Gesetz zufällig <strong>de</strong>r Eigentümer ist, son<strong>de</strong>rn alle diejenigen, die damit<br />

arbeiten, darin, davon o<strong>de</strong>r damit leben o<strong>de</strong>r sonstwie direkt damit zu tun haben. Diejenigen also, die<br />

besitzen. Wir sprechen in diesem Falle von Kollektivbesitz, und in aller Regel sind solche Kollektive<br />

autonom. Sie bestimmen also selbst Art, Weise und Inhalt ihrer Arbeit, wobei sie - wie etwa im Falle <strong>de</strong>s<br />

Wal<strong>de</strong>s - natürlich auf Interessen Dritter und die sozialen Regeln Rücksicht nehmen müssen, die sich die<br />

Gesamtgesellschaft gegeben hat. Besitzer bleiben sie genau so lange, wie sie etwas damit tun. Wenn eine<br />

Belegschaft ›ihre‹ Fabrik schließt o<strong>de</strong>r eine landwirtschaftliche Genossenschaft ›ihren‹ Acker nicht mehr<br />

bestellt, ›gehören‹ sie ihnen auch nicht mehr und können von an<strong>de</strong>ren übernommen wer<strong>de</strong>n. Das ist <strong>de</strong>r<br />

Unterschied zwischen Eigentum und Besitz: Eigentum muß sich nach <strong>de</strong>n Gesetzen <strong>de</strong>s kapitalistischen<br />

Marktes richten, Besitz nach <strong>de</strong>n sozialen Ansprüchen <strong>de</strong>r Gesellschaft. Das gilt nicht nur für Kollektive,<br />

son<strong>de</strong>rn auch für Individuen: Selbstverständlich kann auch ein einzelner Handwerker o<strong>de</strong>r ein Bauer o<strong>de</strong>r<br />

ein Freiberufler ›seinen‹ Betrieb ›besitzen‹, ohne daß an<strong>de</strong>re ihn wegnehmen o<strong>de</strong>r ihm dreinre<strong>de</strong>n können.<br />

Dieses Prinzip wur<strong>de</strong> selten so kurz und schön auf <strong>de</strong>n Punkt gebracht wie in <strong>de</strong>r simplen Losung <strong>de</strong>r<br />

Bauern in <strong>de</strong>r spanischen Revolution: "Das Land <strong>de</strong>nen, die es bearbeiten!"<br />

Das alles hat sehr viel mit Motivation zu tun. Klare Besitzverhältnisse schaffen die nötige Sicherheit und<br />

tragen zur I<strong>de</strong>ntifikation <strong>de</strong>r arbeiten<strong>de</strong>n Menschen mit ihrem Betrieb bei, ohne die unsozialen<br />

Auswirkungen <strong>de</strong>s Eigentums in Kauf nehmen zu müssen.<br />

Nach anarchistischer Überzeugung führt die Summe all <strong>de</strong>r genannten Faktoren zu einer hohen<br />

Bereitschaft, in einer geldlosen Solidarwirtschaft zu arbeiten. Unter diesen Voraussetzungen sei eigentlich<br />

nicht einzusehen, warum sich die Menschen plötzlich massenhaft auf die faule Haut legen sollten.<br />

Außer<strong>de</strong>m, so die Argumentation <strong>de</strong>r Libertären, müßte <strong>de</strong>n Leuten klar sein, daß, sobald sie nichts mehr<br />

›in <strong>de</strong>n Topf‹ geben, solch hübsche Zustän<strong>de</strong> sehr bald ihr En<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n.<br />

Bleibt die Frage, ob Menschen ohne finanziellen Anreiz dann auch noch schmutzige, unangenehme und<br />

gefährliche Tätigkeiten verrichten wür<strong>de</strong>n. Auch diese Antwort steht und fällt mit <strong>de</strong>m Grad <strong>de</strong>r<br />

I<strong>de</strong>ntifizierung in <strong>de</strong>r Gemeinschaft. Gewiß kann noch viel mehr ›Dreckarbeit‹ automatisiert und durch<br />

Maschinen ersetzt wer<strong>de</strong>n - Kropotkin geriet<br />

93


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angesichts dieser Perspektive regelmäßig ins Schwärmen -, aber eben nicht alle. Niemand macht gerne<br />

<strong>de</strong>n Dreck <strong>de</strong>s Nachbarn weg o<strong>de</strong>r holt für an<strong>de</strong>re die Kastanien aus <strong>de</strong>m Feuer. Wenn Menschen es doch<br />

immer wie<strong>de</strong>r tun, dann gera<strong>de</strong> nicht unbedingt wegen <strong>de</strong>m beson<strong>de</strong>rs hohen finanziellen Anreiz - sonst<br />

müßten die Toilettenfrau o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Müllmann zu <strong>de</strong>n Höchstverdienern zählen. Freun<strong>de</strong> pflegen einen<br />

kranken Freund, Eltern wischen ihren Babys <strong>de</strong>n Hintern, und immer wie<strong>de</strong>r setzen auch wildfrem<strong>de</strong><br />

Menschen ihr Leben ein, um an<strong>de</strong>re wildfrem<strong>de</strong> Menschen aus Gefahr zu retten. In Revolutionen opfern<br />

sogar Tausen<strong>de</strong> ihr Leben, ohne einen Pfennig dafür zu bekommen. Warum?<br />

Neben genetisch* bedingtem sozialen Triebverhalten vor allem aus Überzeugung: aus Einsicht in die<br />

Notwendigkeit und aus einer Ethik heraus, die auch Unangenehmes o<strong>de</strong>r Gefährliches zu positiven<br />

Werten macht. Eine anarchistische Gesellschaft wür<strong>de</strong> die nötige Überzeugung zweifellos för<strong>de</strong>rn. Sie<br />

wäre außer<strong>de</strong>m darauf ausgelegt, Einsichten in Notwendigkeiten zu vermitteln. Und gewiß wür<strong>de</strong> sie<br />

versuchen, eine neue soziale Ethik zu entwickeln. So etwas geht nicht von heute auf morgen, aber es<br />

geschieht nie, wenn nicht die Weichen entsprechend gestellt wer<strong>de</strong>n. Bis es soweit ist, wäre es auch kein<br />

Unglück, wenn die betroffenen Menschen hin und wie<strong>de</strong>r durch <strong>de</strong>n Zwang <strong>de</strong>r Dinge zu Einsichten<br />

gelangten, die ihnen ihre Ethik noch nicht vermittelt. Beispielsweise, wenn in einem Stadtteil die<br />

Kanalisation verstopft ist. Spätestens dann wird einsichtig, daß Kanalreinigung eine höchst soziale<br />

Tätigkeit ist! Trotz<strong>de</strong>m ist es bei uns eine schlecht bezahlte Arbeit mit einem miserablen Ruf. Gera<strong>de</strong> die<br />

Struktur einer anarchistischen Gesellschaft böte aber hier die Möglichkeit, daß niemand lebenslang<br />

Kanalarbeiter zu sein brauchte. Warum nicht für ein Jahr nach <strong>de</strong>m Rotationsprinzip? Ich kann mir<br />

vorstellen, daß dies eine sehr wichtige Lebenserfahrung für Menschen sein könnte, die nur <strong>de</strong>shalb einen<br />

dünkelhaften Stolz pflegen, weil sie sich noch nie im Leben die Finger schmutzig gemacht haben...<br />

Aber bitte: Die Re<strong>de</strong> ist hier nicht von einem Zwangsarbeitsdienst. Bei Anarchisten ist Engagement<br />

immer insofern freiwillig, als niemand zu etwas gezwungen wird – es sei <strong>de</strong>nn, durch einen stinken<strong>de</strong>n<br />

Gully.<br />

Mehr noch: die anarchistische Utopie for<strong>de</strong>rt sogar ein ›Recht auf Faulheit‹. Paul Lafargue schrieb 1883<br />

eine sehr geistreiche Broschüre gleichen Namens, die bei seinem Schwiegervater Karl Marx alles an<strong>de</strong>re<br />

als Begeisterung auslöste. Sie war als Polemik gegen das seit 1848 in Frankreich verankerte "Recht auf<br />

Arbeit" gedacht und liefert eine gründliche Abrechnung mit <strong>de</strong>r scheinheiligen Lehre, die behauptet, daß<br />

ausgerechnet Arbeit <strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>s Lebens ausmache. Eine moralinsaure These, die <strong>de</strong>r Bourgeois*<br />

ebensogerne vertritt wie <strong>de</strong>r Kleriker und <strong>de</strong>r Marxist. Wenngleich Lafargues Argumentation in erster<br />

Linie auf die Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen abzielt, so bricht er doch auch ganz entschie<strong>de</strong>n<br />

und grundsätzlich eine Lanze für die Muße. Sie trage zur Sinnfindung <strong>de</strong>s Lebens ebenso bei wie kreative<br />

Arbeit, sie könne angenehm sein, lustvoll, geistreich und schöpferisch. Es leuchtet ein, daß sich<br />

Anarchisten einer solchen I<strong>de</strong>e nur anschließen konnten und diese For<strong>de</strong>rung gut lesbar auf ihre Fahnen<br />

schrieben...<br />

Tun wir aber nicht so, als wäre das so außergewöhnlich! Wer glaubt <strong>de</strong>nn bei uns auf-<br />

94<br />

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richtig, daß Arbeit <strong>de</strong>r Sinn <strong>de</strong>s Lebens sei? Sind wir nicht auch eine Freizeitgesellschaft? Und gibt es<br />

nicht auch bei uns viele Menschen, die möglichst viel faulenzen und sich, wo immer es nur geht, vor<br />

Arbeit drücken, ohne daß die Gesellschaft <strong>de</strong>swegen unterginge? Nur muß man es heutzutage heimlich,<br />

trickreich und verschämt tun, <strong>de</strong>nn die <strong>de</strong>rzeitige Moral stimmt nicht mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>rzeitigen Wirklichkeit<br />

überein.<br />

Die allermeisten Menschen aber halten eine ständige Muße nicht aus. Deshalb ist nicht anzunehmen, daß<br />

die Arbeit ausstürbe, wenn es ein Recht auf Faulheit gäbe. Es kommt ja auch niemand auf die I<strong>de</strong>e, daß


Menschen sich totfräßen, wenn es ein Recht auf Essen gäbe. Überdies gibt es im Leben eines je<strong>de</strong>n<br />

Menschen Phasen, in <strong>de</strong>nen plötzlich <strong>de</strong>r Drang zu ungeheurem Fleiß aufbricht, und dann wie<strong>de</strong>r Zeiten,<br />

in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Sinn nach Muße steht. Unser Wirtschaftssystem ist nicht in <strong>de</strong>r Lage, darauf Rücksicht zu<br />

nehmen. Arbeit ist in <strong>de</strong>r Regel zwischen 20 und 65 angesagt. Ununterbrochen und für alle. Erholung<br />

gibt's portioniert und massenmäßig vorbereitet in vier Wochen jährlichem Urlaub, und Muße wird ab 65<br />

diktiert, was viele Menschen dann einfach nicht mehr aushallen. Daß diese Regelungen nicht <strong>de</strong>r<br />

menschlichen Seele und Konstitution entsprechen, davon können Krankenkassen, Psychologen und<br />

Sozialarbeiter ein Lied singen... Anarchisten halten dagegen, daß in einer Gesellschaft nach ihrem<br />

Zuschnitt je<strong>de</strong>r Mensch soviel und solange arbeiten könnte, wie er mag. Er könnte sich schrittweise aus<br />

<strong>de</strong>m Produktionsprozeß zurückziehen und noch mit 80 gelegentlich an <strong>de</strong>r Werkbank stehen, sofern er<br />

Lust dazu hat. Im Laufe seines Lebens könnte er Phasen sozialer Arbeit mit Phasen <strong>de</strong>r Warenproduktion,<br />

<strong>de</strong>r schöpferischen Tätigkeit und <strong>de</strong>r Muße abwechseln lassen, solange die Gesellschaft in <strong>de</strong>r er lebt, ihm<br />

und allen an<strong>de</strong>ren genug zum Leben bietet. Und ob sie das kann, hängt eben genau davon ab, wieweit sich<br />

je<strong>de</strong>r Einzelne engagiert.<br />

Solange das gewährleistet ist, kann sich diese Gesellschaft auch <strong>de</strong>n Luxus leisten, Menschen<br />

mitzuernähren, die überhaupt nichts tun.<br />

Einen solchen Menschen wür<strong>de</strong> ich übrigens gerne einmal kennenlernen.<br />

Nun war es natürlich falsch, ständig von <strong>de</strong>r anarchistischen Gesellschaft zu sprechen. Wir wissen ja<br />

bereits, daß es nach anarchistischer Lesart nicht eine, son<strong>de</strong>rn viele geben soll. Ob nun je<strong>de</strong> einzelne<br />

dieser Gesellschaften genauso mit <strong>de</strong>r Faulheit und <strong>de</strong>r Motivierung verfahren wür<strong>de</strong>, bleibt ihr<br />

überlassen. Ich könnte mir vorstellen, daß es Gemeinschaften gäbe, die ›Faulenzer‹ ohne viel Aufhebens<br />

rausschmeißen wür<strong>de</strong>n. Das wäre ihr gutes Recht, ebenso wie es das Recht an<strong>de</strong>rer Gemeinschaften wäre,<br />

Faulheit zu tolerieren o<strong>de</strong>r zu kultivieren. Auch in vielen an<strong>de</strong>ren Punkten mußte meine Darstellung eine<br />

Vereinfachung bleiben – beispielsweise bei <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r Produktion und Verteilung von Gütern. Hier<br />

dürften Strukturen greifen – Räte, Komitees, Koordinationsgremien und Ausschüsse –, wie wir sie im<br />

vorigen Kapitel kennengelernt haben und wie wir sie im Folgen<strong>de</strong>n noch an anschaulichen Beispielen aus<br />

<strong>de</strong>r Praxis erleben wer<strong>de</strong>n. Wichtig war mir nicht das Detail, das ohnehin niemand voraussagen kann,<br />

son<strong>de</strong>rn die Beschreibung <strong>de</strong>r anarchistischen Vision.<br />

95<br />

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Schwieriges Um<strong>de</strong>nken<br />

Für die meisten Menschen ist <strong>de</strong>r wirtschaftliche Wohlstand das wichtigste im Leben - weit wichtiger oft<br />

als Gesundheit, Liebe, Lebensqualität o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Zustand unserer Umwelt. Man mag das bedauern, muß es<br />

aber akzeptieren. Unsere Welt ist arm an Visionen, und die Mächtigen fürchten sie mit Recht wie <strong>de</strong>r<br />

Teufel das Weihwasser, <strong>de</strong>nn meistens war die gesellschaftliche Vision <strong>de</strong>r Wegbereiter eines neuen<br />

gesellschaftlichen Systems.<br />

Dabei ist es gar keine Frage, daß unsere Gesellschaft neue Systeme braucht, unabhängig von politischen<br />

Etiketten und unabhängig von <strong>de</strong>n Wünschen <strong>de</strong>r Anarchisten: Ist es nicht eigentlich klar, daß eine<br />

Gesellschaft, in <strong>de</strong>r Arbeit zunehmend knapp wird, nicht <strong>de</strong>njenigen verachten darf, <strong>de</strong>r weniger arbeitet?<br />

Muß nicht die gesamte Arbeitsethik mitsamt ihrem wirtschaftlichen System radikal umgedacht wer<strong>de</strong>n,<br />

wenn sie heute noch immer genau das belohnt, was die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten zerstört?<br />

Radikale Denkansätze sind zwar rar, aber sie mehren sich - auch außerhalb anarchistischer Kreise. So ist<br />

es heute kein Einzelfall mehr, wenn etwa <strong>de</strong>r Historiker und Soziologe Christian Schütze, Publizist bei<br />

<strong>de</strong>r Süd<strong>de</strong>utschen Zeitung, in einem GEO-Essay mit <strong>de</strong>m Titel "Frie<strong>de</strong>n durch Faulheit" zu <strong>de</strong>m Schluß<br />

kommt: "Nicht <strong>de</strong>r Achtstun<strong>de</strong>ntag, son<strong>de</strong>rn die Nicht-Arbeit ist <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Menschen angemessene<br />

Zustand." Schütze tut das mit einem klar erkennbaren christlichen Hintergrund, aber in einer radikalen<br />

Klarheit, die ebensogut anarchistischer Denktradition Ehre machen wür<strong>de</strong>. Was wie<strong>de</strong>r einmal zeigt, daß


Anarchisten <strong>de</strong>n Durchblick nicht gepachtet haben.<br />

Mich diesem Thema so ausführlich zu widmen, hat mich die Erfahrung aus zwanzig Jahren Diskussion<br />

mit Menschen gelehrt, die mit Anarchismus nichts am Hut haben und aus gutem Grund skeptisch sind.<br />

Zum Beispiel jene alte Dame, die mich nach einem Vortrag fragte, ob sie ›in <strong>de</strong>r Anarchie‹ ihre<br />

Waschmaschine behalten dürfe.<br />

Ich habe ihr wahrheitsgemäß geantwortet, daß ich das nicht wissen könne, da sie ja solche<br />

Entscheidungen zusammen mit <strong>de</strong>n Menschen in ihrer sozialen Gemeinschaft zu treffen hätte. Für <strong>de</strong>n<br />

Fall, daß sie glaubte, in einer libertären Gesellschaft wür<strong>de</strong>n Waschmaschinen abgeschafft o<strong>de</strong>r<br />

beschlagnahmt, gelang es mir, sie zu beruhigen. Zusätzlich aber konnte ich ihre Phantasie durch eine<br />

positive Vision bereichern. Ich könnte mir gut <strong>de</strong>nken, so entgegnete ich ihr, daß sie ›in <strong>de</strong>r Anarchie‹ ein<br />

sehr enges Verhältnis mit <strong>de</strong>n Menschen <strong>de</strong>r Nachbarschaft haben könnte. Daß sich die Leute vielleicht<br />

nicht mehr wie heute hinter ihrer Wohnungstür verkriechen und sich kaum je gegenseitig helfen.<br />

Vielleicht wür<strong>de</strong> sie mit <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn spielen, o<strong>de</strong>r mit an<strong>de</strong>ren eine Gemeinschaftsküche betreiben,<br />

töpfern, gärtnern o<strong>de</strong>r irgendwelche verrückten Sachen auf <strong>de</strong>m Computer machen... Das schien ihr, die<br />

damals als alleinstehen<strong>de</strong> Rentnerin recht vereinsamt in einer Zweizimmerwohnung lebte, zu gefallen.<br />

Als ich sie dann fragte, ob sie mit diesen Leuten nicht vielleicht auch sämtliche Waschmaschinen, Autos<br />

o<strong>de</strong>r Gartengeräte zusammenlegen und gemeinsam nutzen könnte, weil es ja nicht gera<strong>de</strong> vernünftig wäre,<br />

wenn je<strong>de</strong>r alles mehrfach anschaffte und weil sechs Rasenmäher im Haus genau fünf zuviel wären, da<br />

sagte sie spontan: "Ja, sicher!".<br />

96<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Und nach einer nach<strong>de</strong>nklichen Pause fügte sie hinzu: "Aber nur, wenn man mir die Klei<strong>de</strong>r und<br />

Küchensachen nicht wegnimmt ... und meine Bücher ..." Es kostete mich nochmal einige Argumente, ihr<br />

zu erklären, daß man ihr in einer freien Gesellschaft nichts ›wegnehmen‹ wür<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn daß Sie ohnehin<br />

nur freiwillig geben könnte. Das beruhigte sie schließlich, und nach einer weiteren Pause ergriff sie erneut<br />

das Wort, wobei ich mir einbil<strong>de</strong>te, ihre Augen hätten ein wenig geleuchtet. Sie sagte dann, ohne jemals<br />

etwas von Proudhon, Bakunin o<strong>de</strong>r Kropotkin gehört zu haben, in etwa folgen<strong>de</strong>s:<br />

"Wissen Sie, das kann ja auch ganz schön sein, wenn die Kin<strong>de</strong>r zu einem kommen, und auch das mit <strong>de</strong>n<br />

Nachbarn, <strong>de</strong>m Garten und solche Dinge. Früher hatten wir Frauen immer zusammen Waschtag. Das war<br />

lustig, da gab's immer ein Schwätzchen. Und wenn mal einer etwas fehlte, hat immer eine an<strong>de</strong>re<br />

irgendwie ausgeholfen. Da kam keiner zu kurz! Aber heute gibt's ja keine Nachbarschaft mehr. Je<strong>de</strong>r<br />

kümmert sich nur um sich selbst. Und das mit <strong>de</strong>m Geld, da haben Sie recht. Das Geld hat das alles<br />

kaputtgemacht. Das war nämlich vor <strong>de</strong>r Währungsreform, und als es dann wie<strong>de</strong>r richtiges Geld gab, da<br />

hat je<strong>de</strong>r nur noch an sich selbst gedacht ..."<br />

Literatur:<br />

/ Pierre-Joseph Proudhon: Was ist das Eigentum? # Graz 1971 [Berlin 1896], Verlag für Sammler, 233 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Die Volksbank Wien 1985, Monte Verità, 53 S.<br />

/ Peter Kropotkin: Landwirtschaft, Industrie und Handwerk # Berlin 1976, Karin Kramer, 292 S.<br />

/ Adolf Damaschke: Die Anarchisten # in: <strong>de</strong>rs.: Geschichte <strong>de</strong>r Nationalökonomie Bd. 2, Jena 1920, G.<br />

Fischer, 415 S.<br />

/ Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit u.a. ausgewählte Texte Wien o.J. (1988?), Monte Verità, 188 S.<br />

/ Materialien zu einer Theorie <strong>de</strong>s Müßiggangs (Anthologie) o.O. 1981, Seminar sozialwissenschaftl.<br />

Studien, 113 S.<br />

/ Paul Robien: Das wirtschaftliche Chaos Berlin o.J. (1925?), Der freie Arbeiter, 14 S.<br />

/ Diego Abad <strong>de</strong> Santillin, Jùan Peiró: Ökonomie und Revolution Berlin 1975, Karin Kramer, 186 S.<br />

/ Erich Gerlach, Augustin Souchy: Die soziale Revolution in Spanien Berlin 1974, Karin Kramer, 236 S.<br />

/ N.N.: Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung Berlin 1970 [1930], ITPR, 176 S.<br />

/ Silvio Gesell: Die natürliche Wirtschaftsordnung (Kurzausgabe) Lü<strong>de</strong>nscheid 1950, Logos, 158 S.<br />

/ Klaus Schmitt (Hrg.): Silvio Gesell - 'Marx' <strong>de</strong>r Anarchisten? # Berlin 1989, Karin Kramer, 303 S., ill.


Helmut Creutz, Dieter Suhr, Werner Onken: Wachstum bis zur Krise? # Berlin 1986, Basis, 87 S.<br />

/ Dante Darwin: 5 Stun<strong>de</strong>n sind genug # Frankfurt/M. 1993, Manneck Mainhatten Verlag 234 S.<br />

/ Hans A. Pestalozzi: Nach uns die Zukunft # München 1985, Goldmann, 158 S.<br />

97<br />

Kapitel 15<br />

Radikale Ökologie<br />

Mit allem, was wir angefangen haben, sind wir in die Absurdität <strong>de</strong>s Gegenteils geraten: Mit <strong>de</strong>m<br />

Versuch, die Äcker fruchtbar zu machen, haben wir sie fast zu To<strong>de</strong> gefoltert. Mit <strong>de</strong>m Versuch, uns vor<br />

Fein<strong>de</strong>n zu schützen, sind wir so nah wie möglich an <strong>de</strong>n großen Weltbrand gekommen. In <strong>de</strong>m<br />

Bemühen, uns fortzubewegen, haben wir die Lebenswelt zerfetzt, in <strong>de</strong>r sich fortzubewegen lohnend<br />

wäre. Das Bestreben, auch die Kommunikation zu beschleunigen, hat das sprachlose Geschwätz und die<br />

Blindheit vor <strong>de</strong>n Bil<strong>de</strong>rn hervorgebracht. Der Versuch zu heilen und zu helfen gerät auf die<br />

unterschiedlichste Weise an die Grenzen <strong>de</strong>r Unmenschlichkeit.<br />

– Jürgen Dahl –<br />

WAS WÄRE, WENN DER MENSCH AUSSTIRBT? — Nichts weiter. ›Die Natur‹ — was immer das ist<br />

— wür<strong>de</strong> uns überleben, irgendwie. Schwer angeschlagen, verän<strong>de</strong>rt vielleicht, aber vital, dynamisch und<br />

chaotisch-anpassungsfähig. Das Leben ginge auch ohne uns weiter. Wenn wir uns die Natur als ein<br />

<strong>de</strong>nken<strong>de</strong>s Geschöpf vorstellen, müßte sie sogar überaus erleichtert sein, wenn die Gattung Mensch<br />

endlich verschwän<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn es gibt kein zweites biologisches Wesen, das im ›Gesamtsystem Natur‹ <strong>de</strong>rart<br />

verheerend wirkt.<br />

Die Menschheit hat in <strong>de</strong>r verhältnismäßig kurzen Zeit seit <strong>de</strong>m Auftreten ihrer Zivilisation eine<br />

grauenhafte Bilanz hinterlassen. Gefräßig, sich hemmungslos vervielfältigend, rücksichtslos und planlos<br />

ist sie dabei, alles nie<strong>de</strong>rzumachen, was ihr im Weg steht. Tierarten wer<strong>de</strong>n unwie<strong>de</strong>rbringlich<br />

ausgerottet, Waldregionen verschwin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n wird durchwühlt, geplün<strong>de</strong>rt und zerstört, Wüsten<br />

breiten sich aus, das Wasser wird knapp, die Luft wird vergiftet und die Atmosphäre fängt an, sich in ihre<br />

Bestandteile aufzulösen. Dafür breitet sich die Gattung Mensch rasend aus und nimmt je<strong>de</strong>n<br />

Quadratmeter bewohnbarer Oberfläche in Anspruch, um ihn mit System in unbewohnbare Oberfläche zu<br />

verwan<strong>de</strong>ln. Alles auf <strong>de</strong>r Welt teilt er in nützlich und schädlich auf, in konsumierbar und<br />

unkonsumierbar, in ökonomisch verwertbar und ökonomisch wertlos. Ein Schweizer Autoaufkleber bringt<br />

es auf <strong>de</strong>n Punkt: "Mein Auto fährt auch ohne Wald!"<br />

Konsequent hat <strong>de</strong>r Mensch diesen Weg verfolgt. Der Motor dieser Konsequenz ist die Wirtschaft, die für<br />

<strong>de</strong>n ›zivilisierten Menschen‹ über allem steht. Etwa ein Dutzend Tiere sind ›nützlich‹, sie wer<strong>de</strong>n<br />

industriell produziert, gequält, gemolken, geschlachtet, genetisch manipuliert und so effektiv wie möglich<br />

ausgebeutet. Der Rest ist ›unnütz‹ und wird Stück um Stück ausgerottet. Ein paar Exemplare überleben in<br />

Zoos, und bald genügt vielleicht ein Magnetband plus Genco<strong>de</strong>*, um sie hinreichend zu archivieren. Bei<br />

<strong>de</strong>n Pflanzen unterschei<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Mensch zwischen ›Nutzpflanzen‹ und ›Unkraut‹, und so verfährt er auch:<br />

Der Traum industrieller ›Pflanzenproduktion‹ (ich war versucht zu schreiben: "landwirtschaftlichen<br />

Anbaus", aber das stimmt schon nicht mehr) ist die im Labor genetisch optimierte Frucht, die in Hallen<br />

auf Styroporplatten mit Nährlösungen besprüht wird, we<strong>de</strong>r mit Er<strong>de</strong> noch Sonne in Berührung kommt<br />

und, nebenbei bemerkt, nahezu geschmacklos ist.<br />

98<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Fortschritt


Noch vor 20 Jahren hatte das Wort "Fortschritt" einen positiven Klang. Es ging voran, und daß alles<br />

immer besser wür<strong>de</strong>, daran bestand kein Zweifel. Fortschritt stand als Synonym für Vernunft, für das<br />

Richtige, das Bessere. Gera<strong>de</strong> auch die Linke bewertete alles nach <strong>de</strong>r Frage, ob etwas ›fortschrittlich‹ sei<br />

o<strong>de</strong>r nicht. Der Mensch, so glaubte man allgemein, könne mit Hilfe von Technik und Wissenschaft<br />

schließlich alle Probleme in <strong>de</strong>n Griff bekommen und - endlich - "die Naturgewalten besiegen". Als<br />

kleiner Bub fand ich das ganz ›natürlich‹.<br />

›Natürlich‹ aber kann für <strong>de</strong>n Menschen nur sein, in <strong>de</strong>r Natur und mit <strong>de</strong>r Natur zu leben. Die Natur<br />

könnte ohne <strong>de</strong>n Menschen ganz gut auskommen, <strong>de</strong>r Mensch ohne die Natur aber nicht. Sie ist <strong>de</strong>shalb<br />

jedoch nicht <strong>de</strong>r Feind <strong>de</strong>s Menschen, <strong>de</strong>n es zu besiegen gälte. Die Menschheit muß, um <strong>de</strong>n Preis <strong>de</strong>s<br />

Untergangs, lernen, sich ihrerseits nicht länger als Feind <strong>de</strong>r Natur zu verstehen.<br />

Die Lehre von <strong>de</strong>n Zusammenhängen <strong>de</strong>r Natur, ihrem Gleichgewicht und ihren vielfaltigen<br />

Wechselwirkungen samt <strong>de</strong>r Rolle, die <strong>de</strong>r Mensch darin spielt, nennen wir Ökologie.<br />

Seit etwa hun<strong>de</strong>rtfünfzig Jahren lebt die Menschheit im Vollrausch <strong>de</strong>s Glaubens an ihren technischen<br />

Fortschritt. Großspurig hat sie diesen Zustand das >industrielle Zeitalter< genannt, allerdings ist jetzt<br />

schon abzusehen, daß es kein ›Zeitalter‹ sein wird, son<strong>de</strong>rn eher eine katastrophale Episo<strong>de</strong>, die so o<strong>de</strong>r<br />

so rasch zu En<strong>de</strong> gehen wird. So o<strong>de</strong>r so – das heißt: mit o<strong>de</strong>r ohne Mensch.<br />

›Fortschritt‹ müßte also neu <strong>de</strong>finiert wer<strong>de</strong>n. Er kann nicht länger be<strong>de</strong>uten, die Natur zu unterwerfen.<br />

›Fortschritt‹, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Natur in Einklang kommen will, sollte eigentlich einen an<strong>de</strong>ren Namen<br />

bekommen, <strong>de</strong>nn das, was wir gemeinhin darunter verstehen, ist die Rücksichtslosigkeit eines technischen<br />

Fortschritts, <strong>de</strong>r im Dienste einer ebenso rücksichtslosen Ökonomie angetreten ist, die Natur genauso zu<br />

verknechten wie sie es mit <strong>de</strong>n an dieser Ökonomie beteiligten Menschen tut. Die I<strong>de</strong>e von <strong>de</strong>r<br />

›Herrschaft über die Natur‹ und <strong>de</strong>r ›Herrschaft über Menschen‹ ist halt eine Weltanschauung aus einem<br />

Guß.<br />

Ist es nicht vielleicht übertrieben, alles so schwarz zu sehen? Offenbar geht es uns doch ganz gut. Und die<br />

paar Folgeerscheinungen – sollten wir die nicht in <strong>de</strong>n Griff kriegen?<br />

Umweltschutz<br />

Vor hun<strong>de</strong>rtsechzig Jahren lebte eine Milliar<strong>de</strong> Menschen. Heute sind es knapp sechs. Um von einer<br />

Million auf die erste Milliar<strong>de</strong> zu kommen, mußten gut zehntausend Jahre vergehen, von <strong>de</strong>r zweiten auf<br />

die dritte Milliar<strong>de</strong> braucht es nur noch dreißig Jahre. Seit vor hun<strong>de</strong>rtfünfzig Jahren das Industriezeitalter<br />

begann, wur<strong>de</strong>n mehr Rohstoffe verbraucht als in <strong>de</strong>n dreitausend vorangehen<strong>de</strong>n Jahren zusammen. Das<br />

was <strong>de</strong>r Mensch ›Bo<strong>de</strong>nschätze‹ nennt, wird schwin<strong>de</strong>lerregend schnell verbraucht - und in absehbarer<br />

Zeit alle sein. Was man aus ihnen herstellt, wird rasch unbrauchbar und bleibt als Abfall, Müll, Schrott,<br />

Gift zurück. Was damit geschehen soll, weiß niemand. Bei <strong>de</strong>m, was <strong>de</strong>r Mensch<br />

99<br />

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›Vere<strong>de</strong>lung‹ nennt, entstehen neue Stoffe, die es vorher nicht gab, die nicht verrotten, nicht in <strong>de</strong>n<br />

natürlichen Kreislauf zurückkehren, und über <strong>de</strong>ren Wirkung man nichts weiß. In <strong>de</strong>r Natur geschehen<br />

alle Abläufe als Wechselwirkungen, die sehr komplex ablaufen. Wie sich die von uns erzeugten<br />

Abfallstoffe wechselwirkend auf die Natur – und damit auch auf uns – auswirken, läßt sich nicht<br />

vorhersagen, son<strong>de</strong>rn nur erfahren. Und die Erfahrungen zeigen, daß solche Stoffe die Grundlagen <strong>de</strong>r<br />

Natur zerstören. Dagegen kann man nichts wesentliches tun, außer, sie zu verpacken, verstecken,<br />

anzuhäufen o<strong>de</strong>r umzulagern. Das einzig Vernünftige wäre, aufzuhören, solche Stoffe zu produzieren.<br />

Aber das wür<strong>de</strong> eine an<strong>de</strong>re Ökonomie, eine an<strong>de</strong>re Lebensauffassung, ja, eine an<strong>de</strong>re Gesellschaft<br />

voraussetzen.


Statt<strong>de</strong>ssen wird versucht, die Folgen <strong>de</strong>r Technologie durch noch mehr Technologie ›in <strong>de</strong>n Griff‹ zu<br />

kriegen. Wir nennen das ›technischen Umweltschutz‹, und <strong>de</strong>r ist zur Zeit ganz groß in Mo<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn er ist<br />

ein expandieren<strong>de</strong>r* Wirtschaftszweig, <strong>de</strong>r Arbeitsplätze schafft. Und er tröstet die Menschen, in<strong>de</strong>m er<br />

Ängste beruhigt und schlechte Gewissen verdrängt.<br />

Ein Beispiel: Seit<strong>de</strong>m die Automobilindustrie <strong>de</strong>n Katalysator vermarktet, glaubt je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r ihn benutzt, er<br />

täte etwas für die Umwelt. Das ist falsch. Der Katalysator entlastet weniger die Natur als vielmehr das<br />

Gewissen seiner Käufer. Ich meine dabei gar nicht so sehr <strong>de</strong>n ›Nebeneffekt‹, daß die Kat- Technologie<br />

zusätzlich Distickstoffoxid in die Luft bläst, son<strong>de</strong>rn die simple Tatsache, daß seit <strong>de</strong>r ›Katalysatorära‹<br />

mehr Autos verkauft wur<strong>de</strong>n als je zuvor. Das heißt: <strong>de</strong>r Gesamtausstoß an Autoabgasen ist weiter<br />

gestiegen, erneut sind riesige Landschaftsflächen mit Asphalt überzogen wor<strong>de</strong>n, weiter sind<br />

Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong> Menschen im Verkehr gestorben, und ungebrochen sind die Berge von Automobilschrott<br />

angewachsen. Ohne <strong>de</strong>n Katalysator wäre zwar all das zweifellos noch schlimmer ausgefallen, aber solche<br />

Rechnerei ist für die Natur ohne Belang. Der Katalysatormensch tut also genau genommen nicht etwas für<br />

<strong>de</strong>n Umweltschutz, er tut nur etwas weniger gegen die Umwelt. Sich dabei als Umweltschützer zu fühlen<br />

ist etwa so falsch, wie wenn ein Ehemann, <strong>de</strong>r ›seine‹ Frau früher täglich schlug und jetzt ›nur noch‹<br />

dreimal wöchentlich, sich als Feminist fühlte.<br />

Umweltschutz ist nicht gleich Ökologie, und Technologie ist nicht gleich Umweltschutz. Natürlich ist<br />

gegen einen wirklichen Schutz <strong>de</strong>r Umwelt nichts zu sagen, <strong>de</strong>nn er schafft Erleichterung: eine<br />

Atempause, eine augenblickliche Verbesserung. Einen Katalysator einzubauen ist nicht schlecht, aber<br />

unsere heutige Automobilphilosophie ist falsch. Solange aber die Ursachen sich nicht än<strong>de</strong>rn, wer<strong>de</strong>n die<br />

Probleme immer wie<strong>de</strong>rkommen, größer als zuvor. Ernsthaft verstan<strong>de</strong>ne Ökologie kommt <strong>de</strong>shalb gar<br />

nicht drum herum, das Übel an <strong>de</strong>r Wurzel zu packen, und genau das heißt "radikal*". Ökologie, die nicht<br />

radikal ist, ist nicht wirklich ökologisch, son<strong>de</strong>rn schlichter ›Umweltschutz‹. Und Umweltschutz geht<br />

nach wie vor von <strong>de</strong>m Irrtum aus, daß wir uns netterweise um die arme, bedrohte Natur kümmern und ihr<br />

helfen müßten. Dabei bil<strong>de</strong>n wir uns ein, die Krone <strong>de</strong>r Schöpfung zu sein. Möglich. Der Nabel <strong>de</strong>r<br />

lebendigen Welt aber sind wir ganz gewiß nicht.<br />

Der Schutz <strong>de</strong>r Umwelt ist wichtig, dringend nötig und sollte, wo immer wir können, geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n:<br />

Als notwendige Voraussetzung für ein wirklich ökologisches Leben. Vieles von <strong>de</strong>m aber, was uns heute<br />

als ›Umweltschutz‹ verkauft wird, schützt die Umwelt<br />

100<br />

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gar nicht wirklich. Das gilt beson<strong>de</strong>rs für <strong>de</strong>n Trend, die Technologiefolgen mit immer noch<br />

aufwendigeren neuen Technologien zu ›bekämpfen‹. Je<strong>de</strong> Technologie bringt jedoch neue Probleme mit<br />

sich, neue Abfallstoffe, neue Ungleichgewichte in <strong>de</strong>r Natur, die wie<strong>de</strong>rum zu Wechselwirkungen führen,<br />

die dann mit neuen Technologien und so weiter...<br />

Seit man begonnen hat, unsere Kraftwerke zu entschwefeln, fällt in <strong>de</strong>n Filteranlagen<br />

schwermetallhaltiger Gips an. Der Fortschritt besteht darin, daß wir jetzt anstelle von zwei Millionen<br />

Tonnen Schwefeldioxid vier Millionen Tonnen giftigen Gips für alle Ewigkeit auf Deponien sicher<br />

verwahren müssen. Die allerneusten Waschmittelgrundstoffe, mit <strong>de</strong>nen die schädlichen Phosphate ersetzt<br />

wur<strong>de</strong>n, enthalten neue Stoffe, von <strong>de</strong>nen niemand weiß, wie sie in <strong>de</strong>r Natur wirken und wechselwirken.<br />

Sie gesellen sich zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren künstlichen Stoffen, von <strong>de</strong>nen wie<strong>de</strong>rum niemand weiß, ob es 50.000,<br />

60.000 o<strong>de</strong>r 70.000 sind, und von <strong>de</strong>nen wie<strong>de</strong>rum nicht bekannt ist, wie sie wirken und wechselwirken,<br />

wenn zwei o<strong>de</strong>r drei von ihnen aufeinan<strong>de</strong>rtreffen. Man wird es halt ausprobieren.<br />

Die Atomkraft, angepriesen als umweltschonen<strong>de</strong> Alternative zu <strong>de</strong>n knappen Rohölreserven, erzeugt<br />

heute neben elektrischer Energie vor allem unlösbare Entsorgungsprobleme. "Nichts macht die Absurdität<br />

unseres technischen Fortschritts <strong>de</strong>utlicher", schreibt <strong>de</strong>r Umweltkritiker Jürgen Dahl, "als die Tatsache,<br />

daß im zweiten Jahrtausend zur Erzeugung von Wasserdampf eine Asche produziert wird, die so giftig ist,<br />

daß sie noch im zweihun<strong>de</strong>rtsten Jahrtausend sorgfältig bewacht wer<strong>de</strong>n muß." Solche


Folgeerscheinungen von Folgeerscheinungen von Technologien lassen sich auch mit weiteren<br />

Technologien und Folgetechnologien nicht in <strong>de</strong>n Griff kriegen, son<strong>de</strong>rn nur dadurch, daß solche Asche<br />

gar nicht mehr entsteht.<br />

Zusammenhänge<br />

Umweltschützer ist heute je<strong>de</strong>r. Sogar die multinationalen Konzerne kokettieren erfolgreich mit diesem<br />

publikumswirksamen Begriff. Während sie ihre Werbeagenturen anweisen, nur noch "Anzeigen mit<br />

Umweltaussage" zu schalten, kleben sie grüne Punkte auf die falschen Packungen fragwürdiger<br />

Erzeugnisse. Zur gleichen Zeit sind ihre Produkt<strong>de</strong>signer schon dabei, die nächste ökologische<br />

Schweinerei auszuhecken und festzuklopfen. Auch Ökologen nennen sich heutzutage viele, meinen damit<br />

aber meistens konsequenten Umweltschutz. Es sind jedoch nur wenige, die die Zusammenhänge<br />

durchschauen. Dabei liegen sie offen zutage.<br />

Da gibt es erstens <strong>de</strong>n Zusammenhang zwischen Ökologie und Ökonomie. Wenn wir ein jährliches<br />

Wirtschaftswachstum von 4% annehmen, wie es unsere Regierung anstrebt, erschreckt das nichtmal die<br />

Umweltschützer. Das erscheint harmlos. Die meisten Menschen freuen sich sogar, <strong>de</strong>nn Wachstum ist ja<br />

gut. Machen wir uns aber klar, was das be<strong>de</strong>utet, so sind das im Laufe von fünfzig Jahren 100 %! Doppelt<br />

soviel Straßen, Häuser, Fabriken, Autos, Kampfflugzeuge. Doppelter Zuwachs an Krankheitskosten,<br />

Unfallopfern, Son<strong>de</strong>rmüll, Pestizi<strong>de</strong>n, Ölverbrauch. Doppelte Vernichtung von Wiesen, Wäl<strong>de</strong>rn,<br />

Fischbestän<strong>de</strong>n, Grundwasser, Atemluft. Gewiß, es be<strong>de</strong>utet auch doppelten ›Wohlstand‹ - erkauft<br />

101<br />

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jedoch mit doppelt soviel Versicherungen, Steuern, Ärger, Kleinkrediten, Streß, Krankheit, Frust und<br />

doppelt soviel Hungertoten weit, weit weg. Sind wir am En<strong>de</strong> doppelt so glücklich? Bringt uns das eine<br />

verdoppelte Lebensqualität? Eher wohl eine halbierte.<br />

Innerhalb einer Generation läuft es auf doppelten Konsum hinaus, bezahlt mit <strong>de</strong>r Verdoppelung all <strong>de</strong>r<br />

Scheiße, die mit dran hängt. Das ist nicht nur teuer bezahlt, das ist unbezahlbar. Denn die Natur<br />

interessiert sich we<strong>de</strong>r für unseren Wohlstand noch für unsere Kontoauszüge. Ökonomie ist ihr egal, und<br />

sie kippt einfach um.<br />

Natürlich sind das nur theoretische Zahlen. Nicht alles verdoppelt o<strong>de</strong>r halbiert sich. Wenn ich mir aber<br />

meinen Straßenatlas hernehme und ihn mit <strong>de</strong>m aus meiner Jugend vergleiche, die gera<strong>de</strong> mal 25 Jahre<br />

zurückliegt, weiß ich, wohin die Reise geht.<br />

Wie sehr unsere falsche Ökonomie auf die Ökologie wirkt, zeigt sich auch daran, daß je<strong>de</strong> Maßnahme <strong>de</strong>s<br />

Umweltschutzes einzig und allein über die Argumentation mit Geld verwirklichbar scheint. Nur dann<br />

wird etwas unternommen, wenn es ›sich rechnet‹. Steuervorteile, Subventionen, Abschreibungen,<br />

finanzielle Anreize, Arbeitsplätze – das sind die Bonbons, die ausgelegt wer<strong>de</strong>n müssen, damit einiges<br />

wenigstens weniger schädlich gemacht wird. Daß sich Staaten unter Strafandrohung in Sexualpraktiken,<br />

die Ordnung auf Friedhöfen o<strong>de</strong>r Bekleidungsvorschriften einmischen, erscheint uns normal. Das ist<br />

wirtschaftlich ja auch neutrales Terrain. Daß er aber unter Strafandrohung verbin<strong>de</strong>n, daß wir unsere<br />

Atmosphäre in ihre Bestandteile zerlegen, ist offenbar un<strong>de</strong>nkbar. Das könnte ja wirtschaftliche Verluste<br />

be<strong>de</strong>uten.<br />

Wenn eine beson<strong>de</strong>rs gekonnte Währungsspekulation über Nacht <strong>de</strong>n Dollarkurs um ein, zwei<br />

Prozentpunkte verän<strong>de</strong>rt o<strong>de</strong>r die Weltbank ihre Leitzinsen anhebt, wachsen über Nacht auch die<br />

Schul<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Entwicklungslän<strong>de</strong>r um etliche Milliar<strong>de</strong>n. Kann man es <strong>de</strong>n Regierungen von Län<strong>de</strong>rn wie<br />

Indonesien, Zaire, Brasilien o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Philippinen ver<strong>de</strong>nken, wenn sie daraufhin ihre letzten Wäl<strong>de</strong>r<br />

opfern, um das Holz zu verkaufen? Wir bezichtigen sie <strong>de</strong>s ökologischen Raubbaus. Dabei folgen sie<br />

hierin nur <strong>de</strong>n Regeln unserer Ökonomie, auf <strong>de</strong>ren korrekter Einhaltung wir an<strong>de</strong>rerseits so viel Wert


legen. Angesichts solcher Szenarien wird <strong>de</strong>r anarchistische Slogan plausibel, <strong>de</strong>r behauptet, in allen<br />

politischen Systemen sei die Unterjochung <strong>de</strong>s Menschen die Ursache für die Zerstörung <strong>de</strong>r Natur.<br />

"... weil die amerikanische Wirtschaft zur Zeit eine Rezession durchlebt" – so lautete die Begründung<br />

eines amerikanischen Präsi<strong>de</strong>nten, <strong>de</strong>r seine Unterschrift unter ein Abkommen verweigerte, das die<br />

Ausrottung weiterer Tierarten verhin<strong>de</strong>rn sollte. Wenn wir uns die Be<strong>de</strong>utung dieser Aussage klar<br />

machen, wird augenfällig, wie sehr wir alle – einschließlich <strong>de</strong>r Mächtigen! – Gefangene ökonomischer<br />

Zwänge sind.<br />

Wür<strong>de</strong> eine ökologische Gesellschaft <strong>de</strong>shalb einen ›Rückfall in die Steinzeit‹ be<strong>de</strong>uten, wie viele<br />

Menschen befürchten? Das ist Unfug, wenn nicht gezielte Stimmungsmache aus <strong>de</strong>n PR-Agenturen <strong>de</strong>r<br />

Atomindustrie. Weniger Konsum be<strong>de</strong>utet nicht automatisch weniger Lebensqualität und Wohlstand.<br />

Elektrischer Strom und Reiseverkehr, Konsumgüter und Unterhaltung, Transport, Genuß und<br />

Kommunikation – all das läßt sich natürlich auch<br />

102<br />

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ökologisch verträglich herstellen. Die Lichter wür<strong>de</strong>n mit Sicherheit nicht ausgehen, die hirnlose<br />

Verschwendung allerdings hätte ein En<strong>de</strong>. Aber – und das ist bitte nur ein Gedankenspiel! – selbst wenn<br />

wir keinen Strom mehr hätten, sollten wir nicht annehmen, daß das Leben verlöschen wür<strong>de</strong>... In<br />

Deutschland wur<strong>de</strong>n die letzten Gemein<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n dreißiger Jahren elektrifiziert, die ersten Städte achtzig<br />

Jahre zuvor. An all diesen Orten haben vorher tatsächlich Menschen ohne Strom gelebt! War <strong>de</strong>ren Leben<br />

nicht lebenswert, waren sie unglücklicher als wir? Viele Errungenschaften <strong>de</strong>r Technik, ohne die wir uns<br />

heute "ein Leben nicht mehr vorstellen können", gibt es auf <strong>de</strong>r meterlangen Meßlatte menschlicher<br />

Zivilisation erst auf <strong>de</strong>n letzten Millimetern. Die Behauptung, ohne sie könnten wir nicht mehr leben, ist<br />

einfach lächerlich. Sollten wir nicht fähig sein, auf einiges zu verzichten, wenn <strong>de</strong>r Preis dafür kollektiver<br />

Selbstmord wäre? Wie gesagt: Elektrizität bliebe uns durchaus erhalten. Auch ich will nicht auf einen<br />

Kühlschrank verzichten o<strong>de</strong>r im Winter frieren! Ein Weniger an Konsum aber kann für unser Leben<br />

durchaus ein Mehr an Qualität be<strong>de</strong>uten. Einschränkung jedoch ist unumgänglich.<br />

Es ist augenfällig, daß die logischen Folgen unseres Wirtschaftssystems an die Grenzen <strong>de</strong>r Natur stoßen.<br />

Kapitalorientierte Wirtschaft muß wachsen, sonst funktioniert sie nicht. Natur aber kann nicht ›wachsen‹,<br />

sie befin<strong>de</strong>t sich in einem Gleichgewicht: nichts ist unendlich, nichts unbegrenzt vorhan<strong>de</strong>n. Eine Weile<br />

hält die Natur unser Wachstum aus, und das tut sie schon ziemlich lange. Aber das Wachstum hat<br />

Grenzen.<br />

Wenn das so ist, können wir daraus nur <strong>de</strong>n Schluß ziehen, daß Ökonomie, so wie sie ist, mit Ökologie<br />

nicht zusammenpaßt.<br />

Zweitens gibt es <strong>de</strong>n Zusammenhang zwischen Herrschaft und Ökologie. In <strong>de</strong>n Büchern <strong>de</strong>r Genesis<br />

spricht Gott zu <strong>de</strong>n Menschen und gibt ihnen <strong>de</strong>n Auftrag, recht fruchtbar zu sein, sich zu vermehren, die<br />

Er<strong>de</strong> zu füllen, zu unterwerfen und zu beherrschen samt aller Natur - einschließlich <strong>de</strong>r "Fischbrut <strong>de</strong>r<br />

Meere und <strong>de</strong>n gefie<strong>de</strong>rten Tieren <strong>de</strong>s Himmels". Die Menschen <strong>de</strong>s christlichen Abendlan<strong>de</strong>s haben dies<br />

in aller Regel als Blankovollmacht zu rücksichtsloser Ausbeutung und Unterdrückung verstan<strong>de</strong>n. Von<br />

dieser autoritär-patriarchalen Lesart zehrt unsere Staatlichkeit bis auf <strong>de</strong>n heutigen Tag. Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r<br />

Herrschaft über die Natur aber scheint zur Lebenslüge und Sterbensphilosophie unserer Zivilisation zu<br />

wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Natur gibt es ein solches Prinzip nicht, o<strong>de</strong>r, falls wir <strong>de</strong>n Menschen mit seiner Zivilisation<br />

dazurechnen wollen: es ist ein beispielloser Vorgang. Kein an<strong>de</strong>res Lebewesen hat bisher die Ten<strong>de</strong>nz<br />

gezeigt, flächen<strong>de</strong>ckend alle an<strong>de</strong>ren Lebewesen zu beherrschen und zu unterdrücken. Daß <strong>de</strong>r Löwe<br />

"König <strong>de</strong>r Tiere" genannt wird, ist eine alberne menschliche Projektion. Eine systematische und<br />

allumfassen<strong>de</strong> Unterwerfung kennt nur <strong>de</strong>r Mensch. Gewiß gibt es in <strong>de</strong>r Natur Hierarchien, aber die<br />

Natur funktioniert nicht nach <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>r Unterwerfung aller an<strong>de</strong>rer Strukturen unter eine einzelne<br />

Struktur. Natur ist vielfältig und parallel organisiert. Nur so fin<strong>de</strong>t sie zu ihrem chaotischen, aber stabilen<br />

Gleichgewicht. Je<strong>de</strong> Hegemonie* einer Struktur, ihre Herrschaft über alles an<strong>de</strong>re, wür<strong>de</strong> dieses


Gleichgewicht zerstören.<br />

103<br />

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Drittens <strong>de</strong>n Zusammenhang zwischen Zentralismus und Ökologie. Natürliche Kreisläufe sind sehr<br />

effektiv, manchmal weltumspannend o<strong>de</strong>r auch winzig klein. Sie neigen aber nicht zur Zentralisierung, sie<br />

sind <strong>de</strong>zentral. Je<strong>de</strong>r funktioniert für sich in einem geschlossenen System, verschie<strong>de</strong>ne Systeme aber sind<br />

untereinan<strong>de</strong>r vielfältig vernetzt und letztlich hängen alle auf irgen<strong>de</strong>ine Art zusammen. Die<br />

Knotenpunkte solcher Netze sind zwar zentrale Schaltstellen, aber sie funktionieren nicht hierarchisch,<br />

son<strong>de</strong>rn wirken stets in alle Richtungen. Interaktion* bestimmt die ›Grammatik‹, die zwischen<br />

Lebewesen, Mineralien, Biotopen* und Biosphäre* besteht.<br />

Solche Zusammenhänge gehen weit über <strong>de</strong>n grünen Punkt, die Abgasson<strong>de</strong>runtersuchung und die Wahl<br />

<strong>de</strong>s richtigen Spülmittels hinaus. In unserem von Umweltproblemen bedrängten Alltag scheinen sie sehr<br />

weit hergeholt, zum Verständnis von Ökologie sind sie jedoch wichtig - vor allem zur Findung einer<br />

ökologischen Alternative.<br />

Ich habe die Behauptung aufgestellt, die Natur wür<strong>de</strong> im Zweifelsfalle <strong>de</strong>n Menschen eher überleben als<br />

daß <strong>de</strong>r Mensch ohne Natur auskäme. Ich kann das nicht beweisen und hoffe inständig, daß es nie<br />

bewiesen wer<strong>de</strong>n möge! Aber es ist wahrscheinlich, und alle Erfahrung spricht dafür, daß auch, wenn <strong>de</strong>r<br />

Mensch seine Lebensgrundlagen zerstört und ausstirbt, irgen<strong>de</strong>ine Art von Leben weiterbestehen, sich<br />

entwickeln und wie<strong>de</strong>r ein Gleichgewicht fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>.<br />

Aber warum?<br />

Weil die Natur an<strong>de</strong>rs organisiert ist als die menschliche Zivilisation und sich dadurch besser anpassen<br />

kann. Die heutige Gesellschaft ist zentralistisch, hierarchisch, uniform, expansiv, zerstörerisch und<br />

dominant. Natur ist das genaue Gegenteil: <strong>de</strong>zentral, vernetzt, chaotisch, lokal, schöpferisch und<br />

interaktiv.<br />

Kommt uns das nicht bekannt vor?<br />

Ohne Frage ist Natur ihrer Struktur nach an-archisch. Aber Vorsicht! Natur ist nicht anarchistisch und<br />

Anarchismus ist nicht natürlich. Platte Gleichsetzungen helfen hier nicht weiter, und die krampfhaften<br />

Versuche mancher Anarchisten, mit brachialen* Verbiegungen eine soziale I<strong>de</strong>e mit Naturphänomenen in<br />

Deckung zu bringen, sind nachgera<strong>de</strong> peinlich. Anarchismus ist ein gesellschaftliches Phänomen, das auf<br />

eine an<strong>de</strong>re Organisation <strong>de</strong>r menschlichen Zivilisation abzielt. Nicht mehr. Soziale Phänomene mit<br />

›Natur‹ gleichzusetzen ist Unsinn. Anarchie will nicht die Natur kopieren, son<strong>de</strong>rn das Leben <strong>de</strong>r<br />

Menschen an<strong>de</strong>rs organisieren. Es geht um etwas ganz an<strong>de</strong>res; Man darf vermuten, daß die Struktur <strong>de</strong>r<br />

Anarchie <strong>de</strong>r Struktur <strong>de</strong>r Natur angemessener wäre. Bei<strong>de</strong> könnten wahrscheinlich besser miteinan<strong>de</strong>r<br />

auskommen als dies mit unserer jetzigen Zivilisation <strong>de</strong>r Fall ist. Das ist alles, aber genau besehen nicht<br />

gera<strong>de</strong> wenig.<br />

Geschichte<br />

Diese augenfällige Affinität* zwischen Anarchismus und Ökologie gab es natürlich schon lange bevor <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>utsche Naturwissenschaftler Ernst Haeckel <strong>de</strong>n Begriff "Ökologie"<br />

104<br />

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einführte - ein Wort, das sich übrigens erst in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten endgültig durchgesetzt hat. Im<br />

Anarchismus war das Verhältnis zwischen sozialer Utopie und Natur, die Wechselwirkung zwischen<br />

Mensch und Umwelt, von Anfang an ein großes Thema, das immer wie<strong>de</strong>r in I<strong>de</strong>en und Taten einfloß.<br />

Der französische Anarchist Elisée Reclus (1830-1905) war einer <strong>de</strong>r ersten Geographen, <strong>de</strong>r die<br />

Oberfläche <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> nicht als Landkarte betrachtete, die von Staatsgrenzen, Bo<strong>de</strong>nschätzen und<br />

topographischen* Daten bestimmt war. Für ihn waren Natur, Mensch und soziale Organisation untrennbar<br />

miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n. Neben einer sehr populären neunzehnbändigen Geographie hinterließ er mit<br />

seinen Hauptwerken "Evolution und Revolution" und "Der Mensch und die Er<strong>de</strong>" erste geschlossene<br />

Gedankengebäu<strong>de</strong>, die wir heute als ökologisch bezeichnen wür<strong>de</strong>n.<br />

Reclus war eng mit Peter Kropotkin (1842-1921) befreun<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r als Geologe weltweite Anerkennung<br />

genoß, als Naturwissenschaftler und Anarchist aber rasch die engen Grenzen seiner Disziplin sprengte.<br />

Genaue Naturbeobachtungen auf ausge<strong>de</strong>hnten Reisen verband er – für damalige Zeiten unerhört – mit<br />

historischer Forschung und sozialphilosophischen Gedanken. So entstand ein Buch, das wir heute sehr<br />

wahrscheinlich <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>r ›Verhaltensforschung‹ zuordnen wür<strong>de</strong>n, und das 1902 unter <strong>de</strong>m Titel<br />

"Gegenseitige Hilfe in <strong>de</strong>r Tier- und Menschenwelt" erschien.<br />

Kropotkin zeigt auf, daß in <strong>de</strong>r Tierwelt neben Konkurrenzkampf und Hierarchie in ebenso großem Maße<br />

auch die gegenseitige Hilfe als natürliches Prinzip vorkommt und beim Überleben <strong>de</strong>r Art eine<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielt. Solidarität sei also we<strong>de</strong>r eine Erfindung <strong>de</strong>s Menschen, noch gar<br />

›unnatürlich‹. Er ergänzt diese Überlegung durch Beispiele aus <strong>de</strong>r menschlichen Sozialgeschichte: Auch<br />

hier habe stets Hierarchie parallel zur Solidarität existiert; Unterdrückung und gegenseitige Hilfe lägen<br />

dabei in einem ständigen Kampf miteinan<strong>de</strong>r. Aber auch Kropotkin setzt Natur nicht mit Anarchismus<br />

gleich, er zieht lediglich Analogieschlüsse: Ihm zufolge sind Herrschaft und gegenseitige Hilfe<br />

antagonistische* Verhaltensmuster, die in allen Lebewesen angelegt seien. Der Mensch sei ein soziales<br />

Wesen, das sich in Zivilisationen organisiert. Wenn in <strong>de</strong>r menschlichen Zivilisation seit vielen tausend<br />

Jahren Konkurrenz als höchster ethischer Wert geför<strong>de</strong>rt, belohnt und gepriesen wur<strong>de</strong> und eine Kultur<br />

<strong>de</strong>r Herrschaft hervorbrachte, so müßte sich in einer Gesellschaft, <strong>de</strong>ren höchster ethischer Wert<br />

gegenseitige Hilfe ist, mit <strong>de</strong>r Zeit Herrschaftslosigkeit durchsetzen können. Auch an<strong>de</strong>re Überlegungen<br />

Kropotkins, etwa die <strong>de</strong>zentralen Fö<strong>de</strong>rationen von Dorf-, Industrie- und Handwerksverbän<strong>de</strong>n, zeigen<br />

eine überraschen<strong>de</strong> Ähnlichkeit mit ökologischen Projekten und Vorstellungen unserer Tage.<br />

Auch das Problem <strong>de</strong>s Bevölkerungswachstums wur<strong>de</strong> in anarchistischen Kreisen sehr früh in seiner<br />

sozialen und ökologischen Be<strong>de</strong>utung erkannt. Im Gegensatz zu völkisch-rassistischen Gruppen, die das<br />

Thema im Sinne einer Unterwerfung und Dezimierung min<strong>de</strong>rwertiger Rassen‹ durch sogenannte<br />

›Herrenrassen‹ ausschlachteten, wiesen Anarchisten darauf hin, daß eine Überbevölkerung sowohl das<br />

Funktionieren einer libertären Utopie<br />

105<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

als auch die Harmonie dieser Gesellschaft mit <strong>de</strong>r Natur gefähr<strong>de</strong>n könnte. Eine Reduzierung <strong>de</strong>r<br />

Menschheit aber dürfe nur durch Geburtenbeschränkung erreicht wer<strong>de</strong>n, und die müßte freiwillig sein.<br />

Antworten suchten sie vor allem in <strong>de</strong>r Praxis. Die Bewegung <strong>de</strong>r Neo-Malthusianer war vor <strong>de</strong>m Ersten<br />

Weltkrieg in anarchistischen Kreisen sehr populär und wur<strong>de</strong> entschei<strong>de</strong>nd von ihnen mitgetragen. Der<br />

britische Nationalökonom Robert Malthus (1766- 1834) hatte als Erster auf die Gefahren eines<br />

exponentiellen Wachstums <strong>de</strong>r Bevölkerung hingewiesen und Elend und Hungerkatastrophen<br />

vorausgesagt. Seither war viel Zeit vergangen, und man hatte erkannt, daß sich Malthus' Voraussagen eher<br />

in Armutsais in Wohlstandsgesellschaften erfüllten — eine Beobachtung, die sich seither übrigens<br />

bestätigt hat.<br />

Der praktische Ansatz <strong>de</strong>r Neo-Malthusianer war die freiwillige Geburtenkontrolle durch Verhütung —<br />

ein Unterfangen, das bei Staat und Kirche auf heftigen Wi<strong>de</strong>rstand stieß. Der anarchistische Arzt Eugene<br />

Humbert etwa entwickelte die Vasektomie, eine reversible* Sterilisation <strong>de</strong>s Mannes. Sie sollte <strong>de</strong>n


Frauen die Bür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Empfängnisverhütung nehmen und <strong>de</strong>n Mann in die Verantwortung mit<br />

einbeziehen. Diese I<strong>de</strong>e, sofort verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>n Vorstellungen von freier Liebe und Sexualität, wur<strong>de</strong><br />

in anarchistischen Kreisen begeistert aufgenommen, kräftig propagiert und praktisch angewandt. Die<br />

Bewegung wur<strong>de</strong> jedoch rasch kriminalisiert, und viele Neo-Malthusianer wan<strong>de</strong>rten in die Gefängnisse.<br />

Dort fand auch Eugene Humbert <strong>de</strong>n Tod. Die Vasektomie jedoch hat alle Verfolgungen überdauert und<br />

erfreut sich heute auch in Deutschland und <strong>de</strong>n USA wie<strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>r Beliebtheit.<br />

Nun war all das aber noch kaum ›Ökologie‹ im heutigen Sinne. Das Ausmaß <strong>de</strong>r Naturzerstörung durch<br />

die industrielle Gesellschaft, die Verknappung <strong>de</strong>r Ressourcen und die Empfindlichkeit <strong>de</strong>s<br />

Naturgleichgewichts zeichneten sich noch nicht so stark ab und stan<strong>de</strong>n <strong>de</strong>shalb nicht im Mittelpunkt <strong>de</strong>s<br />

Interesses. Wer aber meint, Ökologie sei ein Thema, das die Menschen erst seit zwanzig Jahren<br />

beschäftigt, muß sich eines Besseren belehren lassen:<br />

Einen Wen<strong>de</strong>punkt im Verhältnis Mensch-Natur stellt <strong>de</strong>r Erste Weltkrieg dar. Nach 1918 können wir in<br />

vielen Län<strong>de</strong>rn, beson<strong>de</strong>rs in Deutschland, ein wachsen<strong>de</strong>s Naturbewußtsein feststellen, in <strong>de</strong>m nun auch<br />

zunehmend globale Zusammenhänge erkennbar wer<strong>de</strong>n. In einer bunten Bewegung, an <strong>de</strong>r Pazifisten und<br />

Bohemiens, Gewerkschafter und Naturromantiker, Vegetarier, Genossenschafter, Vagabun<strong>de</strong>n, Siedler,<br />

Handwerker, Künstler, Landwirte und zivilisationsmü<strong>de</strong> Propheten aller Couleur teilnehmen, erschüttert<br />

die technische Fortschrittsgläubigkeit <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> und rückt die Natur wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n<br />

Mittelpunkt <strong>de</strong>s Interesses. In dieser Bewegung spielen anarchistische I<strong>de</strong>en eine be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Rolle. Neu<br />

war auch, daß vermehrt das praktische Experiment in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund rückte. Über Mensch und Natur<br />

wur<strong>de</strong> nicht mehr nur philosophiert, es wur<strong>de</strong>n konkrete ›Mo<strong>de</strong>lle <strong>de</strong>r Tat‹ ausgedacht, gelebt und<br />

angeboten. Diese Ansätze sollten aufzeigen, daß ein an<strong>de</strong>res Leben möglich sei, und daß es hier und heute<br />

begonnen wer<strong>de</strong>n könne. Vielfach blieb es jedoch eher bei Symbolen, als daß konkrete Strategien für<br />

Umsturz<br />

106<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

und Umbau <strong>de</strong>r Industriegesellschaft entwickelt wur<strong>de</strong>n. Da gab es Siedlungsbewegungen, die sich auf<br />

Gustav Landauers Sozialistischen Bund beriefen, Landbesetzungen proletarischer Jugendlicher,<br />

Wan<strong>de</strong>rgruppen und Ferienkolonien, gewaltfreie Revolutionäre, die sich auf Gandhi bezogen und sogar<br />

eine Art früher ›Stadtindianer‹. In vielen dieser paradigmatischen Lebensexperimente läßt sich eine<br />

überraschend klare ökologische Analyse nachweisen. Der Ökoanarchist Paul Robien, <strong>de</strong>r bei Stettin eine<br />

"Naturwarte" betrieb, sprach bereits 1929 von Ölpest, vergifteten Wäl<strong>de</strong>rn und Atomkrieg, wofür er<br />

damals allerdings ungläubigen Spott erntete. Der schillern<strong>de</strong> Wan<strong>de</strong>rprediger und Egomane* Ludwig-<br />

Christian Haeusser griff sehr erfolgreich das Thema Zins und Inflation auf, und for<strong>de</strong>rte eine<br />

Bo<strong>de</strong>nreform, was ihm eine große Anhängerschaft und <strong>de</strong>n Beinamen "Inflationsheiliger" einbrachte.<br />

›Vagabun<strong>de</strong>n‹ wie Willy Ackermann mobilisierten über zwei Millionen zivilisationskritische Aussteiger,<br />

die über die Landstraßen wan<strong>de</strong>rten. Naturreligiöse Vegetarier vom Schlage eines Gusto Gräser übten<br />

einen nachhaltigen Einfluß auf Künstler wie Hermann Hesse o<strong>de</strong>r die Maler <strong>de</strong>r Worpswe<strong>de</strong>r<br />

Künstlerkolonie aus.<br />

Zum ersten Mal setzte sich nun auch in <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung in großem Maßstab <strong>de</strong>r Zweifel am<br />

industriellen Fortschritt fest, um <strong>de</strong>n Gedanken an ökologischen Naturschutz in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund treten<br />

zu lassen. Die Arbeiterbewegung tat sich hiermit naturgemäß schwer und hing in <strong>de</strong>r Regel weiter <strong>de</strong>m<br />

proletarischen Fortschrittsoptimismus an. Lei<strong>de</strong>r erkannten bei<strong>de</strong> Strömungen nicht die Chancen zu einem<br />

gemeinsamen Vorgehen. Diese ›sanfte Revolution war natürlich noch weniger in <strong>de</strong>r Lage, <strong>de</strong>m<br />

erstarken<strong>de</strong>n Faschismus Einhalt zu gebieten als die straff organisierte Arbeiterschaft. Hitler, <strong>de</strong>r sich<br />

seinerseits erfolgreich eines verkitschten Naturmythos bediente, setzte all <strong>de</strong>m ein En<strong>de</strong>. Nach 1945 brach<br />

in Sachen Ökologie zunächst eine lange Zeit <strong>de</strong>r Leere an, die erst nach <strong>de</strong>r antiautoritären<br />

Stu<strong>de</strong>ntenrevolte von 1968 wie<strong>de</strong>r mit neuem Leben gefüllt wur<strong>de</strong>.<br />

Im Gefolge <strong>de</strong>r '68er Revolten, die wie ein weltumspannen<strong>de</strong>s Lauffeuer die starren Formen <strong>de</strong>r<br />

Nachkriegsgesellschaft knackten, entstan<strong>de</strong>n schon in <strong>de</strong>n frühen 70er Jahren Bewegungen, die – teils


eformistisch, teils revolutionär – die Frage <strong>de</strong>r Ökologie in <strong>de</strong>n Mittelpunkt <strong>de</strong>s Bewußtseins <strong>de</strong>r<br />

Menschen rückten. Auslöser waren einerseits alarmieren<strong>de</strong> Studien wie die vom Club of Rome<br />

vorgestellten "Grenzen <strong>de</strong>s Wachstums", an<strong>de</strong>rerseits <strong>de</strong>r konkrete Wi<strong>de</strong>rstand gegen ökologisch<br />

bedrohliche Vorhaben wie Atomenergie, Wohnraumzerstörung, das Waldsterben, Müll<strong>de</strong>ponien, <strong>de</strong>n Bau<br />

von Großprojekten o<strong>de</strong>r die Bedrohung bestimmter Landschaften und Tierarten. Hieraus entstan<strong>de</strong>n in<br />

vielen Län<strong>de</strong>rn zeitweilig wahre Massenbewegungen, in Deutschland insbeson<strong>de</strong>re da, wo sich in <strong>de</strong>n<br />

80er Jahren Aktionsfel<strong>de</strong>r wie Antimilitarismus und Antiatomkampf zu einer ökologisch motivierten<br />

Frie<strong>de</strong>nsbewegung gegen die Rüstung verban<strong>de</strong>n.<br />

Die gera<strong>de</strong> erst wie<strong>de</strong>rerwachte und vergleichsweise schwache anarchistische Strömung in Deutschland<br />

konnte natürlich nicht verhin<strong>de</strong>rn, daß die Ausrichtung dieser Ansätze im Wesentlichen reformerisch<br />

blieb und letztendlich im umweltschützlerischen Parlamentarismus <strong>de</strong>r Grünen versan<strong>de</strong>te. An<strong>de</strong>rerseits<br />

ist die Rolle, die Anarchisten und libertäre I<strong>de</strong>en in dieser Bewegung spielten und spielen, nicht zu<br />

unterschätzen, auch wenn sie nicht immer<br />

107<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

erkennbar unter diesem Etikett auftrat. Sie folgte hauptsächlich zwei Strängen: Zum einen die radikale<br />

und militante Protestbewegung, die an punktuellen Kämpfen ansetzte und sich vor allem auf die Form <strong>de</strong>s<br />

direkten Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s konzentrierte. Ihre Aktionen trugen zwar dazu bei, gewisse Großprojekte eine<br />

Zeitlang zu behin<strong>de</strong>rn und die Probleme in die Medien zu bringen; ihr ständiger Aktionismus jedoch<br />

führte zu rascher sozialer Isolierung und einer atemlosen Kampfmentalität, die sich schließlich im Ghetto<br />

<strong>de</strong>r Scene einigelte. Der an<strong>de</strong>re Strang war von vornherein breiter angelegt und zielte darauf ab,<br />

konstruktive Elemente und anarchistische Essentials einzubringen. Auf i<strong>de</strong>ologische Reinheit und<br />

entsprechen<strong>de</strong> Rituale wur<strong>de</strong> dabei wenig Wert gelegt, und im allgemeinen agierte man hier gewaltfrei.<br />

Als beson<strong>de</strong>rs stabil und nachhaltig prägend erwies sich dabei die nach ihrer Zeitschrift benannte<br />

"Graswurzel"-Bewegung, die heute in ganz Deutschland mit einer "Fö<strong>de</strong>ration gewaltfreier<br />

Aktionsgruppen" vertreten ist.<br />

Anfänglich waren diese bei<strong>de</strong>n Stränge noch miteinan<strong>de</strong>r verwoben und nicht klar voneinan<strong>de</strong>r zu<br />

unterschei<strong>de</strong>n. Über solch hoffnungsträchtigen Bewegungen wie etwa <strong>de</strong>r Bauplatzbesetzung in Wyhl, <strong>de</strong>r<br />

"Freien Republik Wendland" o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Hüttendorf an <strong>de</strong>r Frankfurter Startbahn West bis hin zu <strong>de</strong>n<br />

großen Protesten gegen das Atomlager in Wackersdorf in <strong>de</strong>n achtziger Jahren, wehten die schwarzen,<br />

schwarzroten, grünen und bunten Fahnen noch einträchtig nebeneinan<strong>de</strong>r. Auf Dauer aber behauptete sich<br />

die breiter angelegte Strömung, während die reinen Militanzbewegungen je<strong>de</strong>smal in sich<br />

zusammenfielen, sobald <strong>de</strong>r konkrete Anlaß nicht mehr bestand. Sie bereitete auch <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>m<br />

heute neue, vorausschauen<strong>de</strong> libertär-ökologische Strategien aufzubauen versuchen.<br />

Natürlich waren und sind all das keine rein <strong>de</strong>utschen Phänomene; es wür<strong>de</strong> jedoch zu weit führen, an<br />

dieser Stelle auch auf an<strong>de</strong>re europäische Län<strong>de</strong>r einzugehen o<strong>de</strong>r die Analogien in Amerika, Australien<br />

und Asien vorzustellen.<br />

Aus <strong>de</strong>n USA kamen in<strong>de</strong>s praktisch wie theoretisch immer wie<strong>de</strong>r wichtige Impulse für ökologische<br />

Protestbewegungen, zivilen Ungehorsam und militanten Pazifismus. Nordamerikaner ist auch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>rzeit<br />

namhafteste Theoretiker <strong>de</strong>s Ökoanarchismus, Murray Bookchin. Er sieht praktische Schritte zur<br />

Erreichung eines ökologischen "Anarchismus <strong>de</strong>r Nach-Mangelgesellschaft" am ehesten im Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s<br />

libertarian municipalism*. Hinter diesem schwierigen Wort verbirgt sich eine Vernetzungsi<strong>de</strong>e von<br />

Menschen, Initiativen und Projekten, die über ein Engagement in <strong>de</strong>n Strukturen lokaler<br />

Verwaltungsgremien einen Prozeß <strong>de</strong>r Gesellschaftsverän<strong>de</strong>rung in Gang setzen soll. Dieses streng auf<br />

regionale Bereiche begrenzte Mo<strong>de</strong>ll zielt auf einen ökologischen Umbau ab und fußt auf<br />

basis<strong>de</strong>mokratischen Versammlungen. Entsprechen<strong>de</strong> Ansätze in <strong>de</strong>r kommunalen Politik sollen gestärkt<br />

und verankert wer<strong>de</strong>n, wobei man sich von <strong>de</strong>r Erfahrung aus konkreten Schritten und realen<br />

Experimenten gleichzeitig eine Bewußtseinsän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Menschen verspricht.


Versuch einer praktischen Synthese<br />

Solche Ten<strong>de</strong>nzen sind im Anarchismus seit <strong>de</strong>n 80er Jahren weltweit spürbar und haben ›frischen Wind‹<br />

in die von verstaubten Dogmen und ghettohafter Abkapselung heim-<br />

108<br />

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gesuchte libertäre Bewegung gebracht. Was <strong>de</strong>n ökologischen Aspekt angeht, so versucht beson<strong>de</strong>rs eine<br />

Strömung, die uns unter <strong>de</strong>m Namen "Projektanarchismus" noch öfter begegnen wird1, eine Art Synthese<br />

von ökologischem Umbau, libertärer Ethik und alternativer Ökonomie.<br />

In solchen Projekten könnte das ökologische Moment vielleicht die bloße radikale Kritik überwin<strong>de</strong>n und<br />

in <strong>de</strong>r Praxis greifen, ohne notwendigerweise in umweltschützen<strong>de</strong>n Reformismus zu verfallen. Nach<br />

Meinung seiner Anhänger sollten solche praktischen Ansätze zunehmend die reinen<br />

›Betroffenheitsgesten‹ ablösen, die in <strong>de</strong>r ›Öko-Szene‹ so weit verbreitet sind. Darum wer<strong>de</strong>n hier zum<br />

Beispiel ökologische und technologische Alternativen entwickelt, gebaut, benutzt, vorgeführt und auch<br />

vermarktet. Die Tatsache, daß solche Projekte eine wirtschaftliche Basis in Form von selbstverwalteten<br />

Betrieben haben, die ihrerseits politische und kulturelle Initiativen mitfinanziert, dürfte <strong>de</strong>r Ten<strong>de</strong>nz<br />

entgegenwirken, lediglich ökologischen Mo<strong>de</strong>n zu folgen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Markt zu bedienen.<br />

All dies zusammen för<strong>de</strong>rt gewiß die Überwindung <strong>de</strong>r Ghettosituation, in <strong>de</strong>r ökologisch bewegte<br />

Menschen von Außenstehen<strong>de</strong>n nur allzuoft als ›spinnerte Heilige‹ wahrgenommen wer<strong>de</strong>n. Die<br />

Menschen in solchen Projekten setzen auf die zahllosen sozialen Kontakte, bei <strong>de</strong>nen sie ihre an<strong>de</strong>re,<br />

komplexere Wirklichkeit zu vermitteln hoffen: Tag für Tag wür<strong>de</strong>n dabei Menschen angesprochen, <strong>de</strong>nen<br />

ein solches Leben sonst verrückt und utopisch vorkäme. Nur im vorgelebten Beispiel könne klargemacht<br />

wer<strong>de</strong>n, daß Ökonomie, Ökologie und soziale Organisation miteinan<strong>de</strong>r zu tun haben: Kun<strong>de</strong>n und<br />

Freun<strong>de</strong>, Nachbarn und Neugierige erlebten praktisch, daß in diesen Projekten ohne Chefs durchaus<br />

effektiv gearbeitet wer<strong>de</strong>. Man könne sehen, wie Menschen sich gegenseitig helfen, und das Leben<br />

dadurch eine an<strong>de</strong>re Qualität bekäme — jene bunte Vielfalt und Lebendigkeit, die in unseren Städten<br />

zunehmend verloren geht. Schließlich wür<strong>de</strong>n auch die Unterschie<strong>de</strong> zwischen Geldverdienen, Politik und<br />

Spaß mehr und mehr verwischen. Das alles, so die These, sei ein durch und durch ökologischer Ansatz<br />

und könne auf Dauer zweifellos subversiv sein.<br />

Konsequent kann ein ökologisches Projekt aber nur sein, wenn es auch etwas gegen die Wurzeln<br />

ökologischen Übels tut. ›Umweltschutz‹ ist nicht das Aufsammeln leerer Colabüchsen, son<strong>de</strong>rn etwas<br />

dafür zu tun, daß es keine Colabüchsen mehr zu geben braucht. Darum versuchen diese Pioniere libertärer<br />

Projekte, an<strong>de</strong>re Wirtschaftsformen zu praktizieren. So machen sie sich nicht vom Staat und seinen<br />

Gel<strong>de</strong>rn abhängig und vertrauen lieber auf ihre eigene Kraft, wobei sie - im doppelten Sinne <strong>de</strong>s Wortes -<br />

"alternative Energien" entwickeln. In ihren Betrieben vergeu<strong>de</strong>n sie kein Material, arbeiten<br />

umweltverträglich, und wenn sie bauen, dann selbstverständlich sparsam, biologisch und mit natürlichen<br />

Materialien. Mit all<strong>de</strong>m zeigen sie, daß ein ökologisch orientiertes Leben nicht nur möglich, son<strong>de</strong>rn auch<br />

lebenswert ist. Untereinan<strong>de</strong>r kann damit begonnen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Geldverkehr zu reduzieren und<br />

Leistungen auszutauschen. Das Leben einschließlich <strong>de</strong>r Betriebe ist dabei selbstorganisiert, man hilft<br />

sich gegenseitig und für verschie<strong>de</strong>ne Arbeiten wer<strong>de</strong>n gleiche Löhne ausgezahlt, die in je<strong>de</strong>m Betrieb die<br />

Belegschaft selbst festlegt.<br />

1) Siehe Kapitel 33 und 38!<br />

109<br />

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Schließlich praktizieren solche Projekte damit indirekt auch eine an<strong>de</strong>re Politik, und zwar in ihrem Alltag:<br />

in<strong>de</strong>m sie Chefs we<strong>de</strong>r brauchen noch haben und ihre Probleme <strong>de</strong>mokratisch besprechen, anpacken und<br />

lösen. Sie suchen dabei keine Mehrheitsentscheidungen, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Konsens und mischen sich direkt in<br />

ihre soziale Umgebung ein. Kurz: Sie trachten danach, Selbstorganisation, gegenseitige Hilfe und<br />

menschliche Umgangsformen in allen Lebensbereichen zu verwirklichen.<br />

All diese vielfältig verwobenen Verhaltensweisen, die solche Projekte auszeichnen, vermei<strong>de</strong>n<br />

Zentralismus, Hierarchie, Konzentration, Ressourcenverbrauch, Gigantomanie und Herrschaft von<br />

Menschen über Menschen. Dies hat mit Ökologie min<strong>de</strong>stens ebensoviel zu tun wie die Verwendung<br />

biologisch einwandfreier Wandfarbe.<br />

Fazit<br />

Jürgen Dahl schreibt, angesichts <strong>de</strong>s sozialen und ökologischen Wahnsinns, gleichnishaft über unsere<br />

Gesellschaft: "Es geht nicht mehr um die Reparatur <strong>de</strong>r Maschinen, son<strong>de</strong>rn um die Schließung <strong>de</strong>r<br />

Fabrik." Und er fährt fort: "Wenn es für die Wissenschaftler noch etwas zu tun gibt, dann eben dies: daß<br />

sie anfangen, darüber nachzu<strong>de</strong>nken, wie man aufhören könnte."<br />

Aber wer <strong>de</strong>nkt schon ans Aufhören? Nicht einmal die, die <strong>de</strong>n ökologischen Durchblick von Hause aus<br />

haben sollten, die Grünen. Sie scheinen zunehmend dabei mitwirken zu wollen, wie es trotz allem<br />

weitergehen kann. In libertären Projekten versucht man immerhin, mit <strong>de</strong>m Aufhören ernst zu machen<br />

und begibt sich auf die Suche nach praktischen Wegen, wie es danach weitergehen könnte. In einem<br />

radikal an<strong>de</strong>ren Ansatz, aber machbar.<br />

Ein solcher Weg kann nur an <strong>de</strong>n Wurzeln ansetzen.<br />

Alle Wurzeln <strong>de</strong>r ökologischen Krise aber liegen in unserem Wirtschafts- und Politiksystem. Unser aller<br />

Einstellung zu Natur, Umwelt, Konsum und Ausbeutung sind hiervon nur die folgerichtigen Ergebnisse.<br />

Darum versteht sich <strong>de</strong>r Anarchismus nicht als auch ökologisch, son<strong>de</strong>rn als notwendigerweise<br />

ökologisch - gera<strong>de</strong>so wie er sich als ökonomisch, politisch, sozial und kulturell verstehen muß.<br />

Literatur:<br />

/ Gerald O. Barney (Hrsg.) i. Auftr. d. US-State-Department/US-Council of Environmental Quality:<br />

Global 2000. Der Bericht an <strong>de</strong>n Präsi<strong>de</strong>nten Frankfurt/M. 1981 (28. Aufl.), Zweitausen<strong>de</strong>ins, 1508 S. +<br />

Anhang, ill.<br />

/ Jürgen Dahl: Die Verwegenheit <strong>de</strong>r Ahnungslosen Stuttgart 1992, Klett-Cotta, 155 S.<br />

/ Reiner Klingholz: Wahnsinn Wachstum Hamburg 1994, Gruner+Jahr, 271 S., ill.<br />

/ Ernest Callenbach: Ökotopia Berlin 1978, Rotbuch, 122 S.<br />

/ Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in <strong>de</strong>r Tier- und Menschenwelt Frankfurt/M. 1976, Ullstein, 555 S.<br />

/ Elisee Reclus: Evolution und Revolution Berlin 1977, Libertad, 50 S.<br />

/ Ulrich Linse: Ökopax und Anarchie – Eine Geschichte <strong>de</strong>r ökologischen Bewegungen in Deutschland<br />

München 1986, dtv, 192 S., ill.<br />

/ Rolf Cantzen: Freiheit unter saurem Regen – Überlegungen zu einem libertär-ökologischen<br />

Gesellschaftskonzept Berlin 1984, Clemens Zehrling, 78 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Weniger Staat – mehr Gesellschaft – Freiheit, Ökologie, Anarchismus Frankfurt 1987, Fischer,<br />

264 S.<br />

/ Murray Bookchin: Die Formen <strong>de</strong>r Freiheit – Aufsätze über Ökologie und Anarchismus Wetzlar 1977,<br />

Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 142 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Natur und Bewußtsein Wilnsdorf 1982, Winddruck, 80 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Die Ökologie <strong>de</strong>r Freiheit – Wir brauchen keine Hierarchien Weinheim 1985, Beltz, 451 S.<br />

/ Cornelia Wicht: Der ökologische Anarchismus Murray Bookchins Frankfurt/M. 1980, Freie<br />

Gesellschaft, 73 S.<br />

/ Gunnar Seitz: Kriegsdienst und ökologische Verweigerung Kassel 1987, Weber Zucht & Co, 96 S.<br />

/ Peter Zitzmann: Die ökologische Bedingung <strong>de</strong>r Entwicklung junger Menschen Grafenau 1989,<br />

Trotz<strong>de</strong>m, 250 S., ill.<br />

/ Ulrich Beck; Der anthropologische Schock – Tschernobyl und die Konturen <strong>de</strong>r Risikogesellschaft Bern<br />

1988, Ed. Anares, 54 S,


110<br />

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Kapitel 16<br />

Anarchismus und Organisation<br />

"Der Grundirrtum <strong>de</strong>r Anarchisten, die Gegner aller Organisation sind,<br />

ist die Annahme, Organisation sei ohne Autorität nicht möglich."<br />

Errico Malatesta<br />

ES WIRD ANARCHISTEN GEBEN, die alles, was ich bisher gesagt habe, rundheraus als baren Unsinn<br />

ablehnen und etwas an<strong>de</strong>res vertreten. Das sollte uns an dieser Stelle nicht mehr verwun<strong>de</strong>rn.<br />

Anarchismus muß in seiner Vielfältigkeit auch mit Dissens leben können.<br />

Ein gera<strong>de</strong>zu klassischer Dissens in <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung ist die Frage <strong>de</strong>r Organisation. Ich<br />

habe dieses Thema bisher elegant vermie<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m ich <strong>de</strong>n allgemeinen Begriff Strukturen verwen<strong>de</strong>t<br />

habe. Wie aber halten es Anarchisten mit <strong>de</strong>r Organisation?<br />

Die meisten von ihnen sehen Strukturen als die logische Konsequenz von Ordnung an, die dann zu einer<br />

An von Organisation führen. In seiner Geschichte hat <strong>de</strong>r Anarchismus daher neben einer ganz heftigen<br />

und nie en<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Organisations<strong>de</strong>batte auch eine ganze Reihe mehr o<strong>de</strong>r weniger typischer<br />

Organisationsformen hervorgebracht. Die meisten von ihnen waren nach <strong>de</strong>m gleichen Prinzip aufgebaut:<br />

Erstens sollten sie in ihren Formen weitgehend das Ziel wi<strong>de</strong>rspiegeln, sie durften also beispielsweise<br />

nicht hierarchisch, bürokratisch, autoritär o<strong>de</strong>r zentralistisch sein. Zweitens sollten sie in <strong>de</strong>r Lage sein,<br />

sich von einer vor-revolutionären in eine nach-revolutionäre Organisationsform zu verwan<strong>de</strong>ln, sei es im<br />

Verlauf eines raschen Umsturzes o<strong>de</strong>r auch einer längeren Transformation*. Drittens sollten sie in <strong>de</strong>r<br />

Lage sein, sich verän<strong>de</strong>rten Gegebenheiten anzupassen. Hierzu müßten sie transparent und zugänglich<br />

sein, ohne jedoch starr und dogmatisch zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Die Gegner <strong>de</strong>r Organisation<br />

Diese Ansichten wer<strong>de</strong>n nicht von allen Anarchisten geteilt. Unter <strong>de</strong>n Gegnern lassen sich zwei Gruppen<br />

unterschei<strong>de</strong>n.<br />

Die einen lehnen je<strong>de</strong> Art von Organisation strikt ab. Für sie besteht <strong>de</strong>r Anarchismus gera<strong>de</strong>zu darin, sich<br />

nicht zu organisieren. Sie fassen Anarchie zumeist als einen individuellen Lebensentwurf auf, <strong>de</strong>r sich im<br />

persönlichen Verhalten ausdrückt. Manchen genügt es, wenn sie durch das gelebte Beispiel auf ihre<br />

Mitmenschen wirken, an<strong>de</strong>ren ist auch dies gleichgültig, weil sie mit ihrer anarchistischen<br />

Lebensauffassung keinen Plan zur Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Gesellschaft verbin<strong>de</strong>n. Solche Standpunkte<br />

wi<strong>de</strong>rsprechen nicht <strong>de</strong>m libertären I<strong>de</strong>al und sind durchaus legitim. Inwieweit sie uns einer<br />

anarchistischen Gesellschaft näherbringen, ist eine an<strong>de</strong>re Frage, die solche Anarchisten aber kaum<br />

interessiert. Derartige Auffassungen fin<strong>de</strong>n sich häufig bei Anhängern <strong>de</strong>s individualistischen<br />

Anarchismus.<br />

Den an<strong>de</strong>ren Pol bil<strong>de</strong>n diejenigen Anarchisten, die auf die Anwesenheit <strong>de</strong>s Ziels in <strong>de</strong>n Mittel pfeifen,<br />

und ihre Organisationsformen nur auf <strong>de</strong>n jeweiligen Zweck ausrichten. Der Zweck heiligt dann die<br />

Mittel.<br />

111<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Für das "Pfeifen" hat es sicherlich auch gute Grün<strong>de</strong> gegeben. Es ist ohne weiteres einsichtig, daß eine


Anarchistengruppe zur Zarenzeit, bei <strong>de</strong>n Nazis, in Korea o<strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>r Francodiktatur we<strong>de</strong>r transparent<br />

noch zugänglich sein konnte. Daß Anarchisten sich da in kleinen, straff organisierten und konspirativ<br />

arbeiten<strong>de</strong>n Zellen organisierten, ist naheliegend. Solange das nur eine notwendige, zeitlich begrenzte und<br />

pragmatische Anpassung an eine Situation <strong>de</strong>r Unterdrückung war, war das auch nicht be<strong>de</strong>nklich. Das<br />

Beispiel <strong>de</strong>r spanischen CNT, die zwischen 1939 und 1976 fast vierzig Jahre im spanischen Untergrund<br />

aktiv war, zeigt, daß eine Organisation auch dann nicht militaristisch o<strong>de</strong>r autoritär wer<strong>de</strong>n muß: trotz<br />

strikter Konspiration blieb innerhalb <strong>de</strong>r einzelnen Gruppen und in <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>s französischen Exils die<br />

antiautoritär-anarchistische Struktur intakt.<br />

Be<strong>de</strong>nklich wird es jedoch, wenn aus <strong>de</strong>r Not geborene Organisationsformen zur Tugend wer<strong>de</strong>n. Im 19.<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rt, als vereinzelte und schwache anarchistische Gruppen sich überwiegend damit beschäftigten,<br />

›die I<strong>de</strong>en‹ zu verbreiten und sich gegen die Angriffe <strong>de</strong>s Staates zur Wehr setzten, entstan<strong>de</strong>n neben<br />

offen agieren<strong>de</strong>n Organisationen wie etwa <strong>de</strong>n Anarchistischen Fö<strong>de</strong>rationen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Internationalen<br />

Arbeiter-Assoziation auch eine Reihe verschwörerischer Zirkel: Geheimbün<strong>de</strong>, internationale<br />

›Brü<strong>de</strong>rschaften‹ und abgekapselte revolutionäre Gruppen, die teils parallel zu <strong>de</strong>n ›offenen‹ Strukturen<br />

arbeiteten, teils auf eigene Faust agierten. Bakunin beispielsweise spielte in bei<strong>de</strong>n eine Rolle: Er war eine<br />

treiben<strong>de</strong> Kraft in <strong>de</strong>r ›Internationale‹ und gleichzeitig eifriger Grün<strong>de</strong>r und Teilnehmer an geheimen<br />

Gesellschaften, vor allem mit Blick auf Rußland und die slawischen Län<strong>de</strong>r. Das ist bei einem Mann wie<br />

Bakunin, <strong>de</strong>r verfolgt, zum To<strong>de</strong> verurteilt, in Ketten gelegt und nach Sibirien verbannt wor<strong>de</strong>n war,<br />

gewiß verständlich. Das heißt jedoch nicht, daß dies eine im Sinne <strong>de</strong>s Anarchismus richtige<br />

Organisationsform sein muß. Geheimbün<strong>de</strong>lei unkontrollierter Gruppen neigt zu Despotismus*,<br />

Selbstgerechtigkeit und einer fatalen* Glorifizierung von Kampf und Hel<strong>de</strong>ntum. Außer<strong>de</strong>m sind sie<br />

leichte Beute von Spitzeln und Provokateuren, sobald diese Zugang in ihre Reihen gefun<strong>de</strong>n haben.<br />

Bakunin selbst wur<strong>de</strong> Opfer dieser Ten<strong>de</strong>nz.<br />

Geheimbün<strong>de</strong>, verschwörerische Zirkel und illegale Zellen können manchmal eine Notwendigkeit sein,<br />

eine i<strong>de</strong>ale anarchistische Organisationsform sind sie mit Sicherheit nicht. Die Geheimbün<strong>de</strong>lei <strong>de</strong>r<br />

siebziger Jahre <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts bereitete <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n für zwei Entwicklungen, die um die<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> unheilvolle Früchte tragen sollten: Einerseits die Phase terroristischer Attentäter, die<br />

die Anarchie "mit Bombe, Dolch und Dynamit" erzwingen zu können glaubten, und an<strong>de</strong>rerseits die<br />

Entstehung einer streng hierarchischen, in Zellen geglie<strong>de</strong>rten Partei von Berufsrevolutionären wie Lenin<br />

sie entwickelte, und die uns mit <strong>de</strong>n Bolschewiki eines <strong>de</strong>r politischen Monster dieses Jahrhun<strong>de</strong>rts<br />

bescherte.<br />

Da <strong>de</strong>n verschwörerischen Berufsrevolutionär die dunkel-romantische Aura <strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>nhaften umgibt, hat<br />

es immer wie<strong>de</strong>r Menschen gegeben, die sich von solchen Mythen angezogen fühlten und zu<br />

entsprechen<strong>de</strong>n Organisations- und Aktionsformen neigten. Zuletzt erlebte die <strong>de</strong>utsche Öffentlichkeit ein<br />

solches Drama Netschajewscher* Prägung,<br />

112<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

als die von anarchistischen I<strong>de</strong>en inspirierte ›Bewegung 2. ]uni‹ 1974 <strong>de</strong>n "Verräter" Ulrich Schmücker<br />

zum To<strong>de</strong> verurteilte und im Berliner Grunewald "hinrichtete". Schmücker hatte sich vom<br />

Verfassungsschutz benutzen lassen, war aber in erster Linie ein i<strong>de</strong>alistischer und unbedarft labiler<br />

Mensch, <strong>de</strong>r glaubte, seinen Genossen treu bleiben und <strong>de</strong>n Geheimdienst austricksen zu können. Ein<br />

typisches ›armes Würstchen‹, wie geschaffen, um als Täter und Opfer in die Organisationsform einer<br />

Guerillatruppe zu passen, die sich Menschlichkeit auf ihre Fahnen schrieb, <strong>de</strong>ren Han<strong>de</strong>ln jedoch<br />

menschenverachtend und <strong>de</strong>ren Struktur <strong>de</strong>spotisch war. Wenn man sich klarmacht, daß Menschen, die<br />

die Brutalität <strong>de</strong>s Staates überwin<strong>de</strong>n wollen, einen an<strong>de</strong>ren Menschen "zum To<strong>de</strong> verurteilen" und<br />

"hinrichten", wird <strong>de</strong>utlich, was passiert, wenn die Anwesenheit <strong>de</strong>s Ziels in <strong>de</strong>n Mitteln fehlt.<br />

Von <strong>de</strong>r Gruppe zur Fö<strong>de</strong>ration<br />

Der organisationsfeindliche Individualismus und die straff-<strong>de</strong>spotische Organisation von


Verschwörerzirkeln sind hier als Ausnahmen vorgestellt, sie bil<strong>de</strong>n im Anarchismus nur<br />

Ran<strong>de</strong>rscheinungen. Wie aber organisierten sich die anarchistischen Hauptströmungen?<br />

In <strong>de</strong>n Anfängen <strong>de</strong>r Bewegung waren es einfach Gruppen Gleichgesinnter, die Bücher lasen,<br />

diskutierten, und versuchten, das, was sie ent<strong>de</strong>ckt und erdacht hatten, unter die Leute zu bringen. Daran<br />

hat sich bis heute nicht viel geän<strong>de</strong>rt. Die ›Anarchogruppe‹ ist nach wie vor <strong>de</strong>r beliebteste Baustein <strong>de</strong>r<br />

anarchistischen Bewegung. Propaganda war seit jeher das, was in <strong>de</strong>n meisten von ihnen betrieben wur<strong>de</strong><br />

und noch immer wird. Deshalb gibt es auch so viele Gruppierungen, die sich um Zeitungen einer<br />

bestimmten Richtung scharen. Im anarchistischen Jargon* wer<strong>de</strong>n Gruppen, die eine bestimmte Richtung<br />

vertreten, Affinitätsgruppen genannt; frei übersetzt be<strong>de</strong>utet dies Gesinnungsgemeinschaft.<br />

Aus einzelnen Gruppen entstan<strong>de</strong>n Strukturen, die sich entwe<strong>de</strong>r einer bestimmten Aufgabe verschrieben<br />

o<strong>de</strong>r bestimmte Richtungen <strong>de</strong>s Anarchismus verfochten, oftmals auch bei<strong>de</strong>s zugleich. Da gab es<br />

Arbeiterassoziationen, Bildungsvereine o<strong>de</strong>r ›politische Clubs‹ sowie Gruppen, die auf Aufklärung,<br />

Gewerkschaftsstrategien, Pazifismus, Militanz o<strong>de</strong>r libertäre Projekte setzten.<br />

Sobald sich <strong>de</strong>r Anarchismus von <strong>de</strong>r Theorie in die Praxis begab, stand <strong>de</strong>r Anlaß im Vor<strong>de</strong>rgrund, die<br />

konkrete Aufgabe, die es zu bewältigen galt. Da kam es dann nicht mehr so sehr auf die<br />

Übereinstimmungen in <strong>de</strong>r Weltanschauung an, son<strong>de</strong>rn darauf. Mitakteure für das Ziel zu fin<strong>de</strong>n, die<br />

zwar im anarchistischen Sinne mitwirken sollten, ohne jedoch unbedingt Anarchisten sein zu müssen.<br />

Solche Gruppen wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Sprache anarchistischer Organisation Konsensgruppen genannt. Wir<br />

können das als Interessengemeinschaft übersetzen. Libertäre Gewerkschaften, freie Schulen,<br />

Genossenschaften o<strong>de</strong>r auch die "neuen sozialen Bewegungen", die in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik seit <strong>de</strong>n<br />

siebziger Jahren entstan<strong>de</strong>n, sind typische Konsensgruppen, in <strong>de</strong>nen Anarchisten aktiv waren o<strong>de</strong>r sind.<br />

Die spezifische Organisationsform, die sich aus bei<strong>de</strong>n Typen entwickelte, ist die Fö<strong>de</strong>ration, das heißt,<br />

ein freiwilliger, mehr o<strong>de</strong>r weniger fester, <strong>de</strong>zentraler Zusammenschluß verschie<strong>de</strong>ner Gruppen, die ein<br />

gemeinsames Interesse verbin<strong>de</strong>t. Eine Fö<strong>de</strong>ration weit-<br />

113<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

gehend autonomer Gruppen erfüllt im wesentlichen die For<strong>de</strong>rungen an anarchistische<br />

Organisationsformen, die wir kennengelernt haben. Da <strong>de</strong>r Anarchismus in <strong>de</strong>n ersten hun<strong>de</strong>rt Jahren<br />

überwiegend eine Arbeiterbewegung war, spielte <strong>de</strong>r Anarchosyndikalismus, mit <strong>de</strong>m wir uns noch<br />

ausführlich befassen wer<strong>de</strong>n, natürlich auch als Organisationsform eine beson<strong>de</strong>re Rolle. Aber auch solch<br />

ein anarchistischer Gewerkschaftsverband war seiner Struktur nach nichts an<strong>de</strong>res als eine Fö<strong>de</strong>ration,<br />

allerdings sehr spezialisiert und hochgradig organisiert. Die libertären Syndikate* lösten dabei souverän<br />

die For<strong>de</strong>rungen ein, die Anarchisten an ein Transformationsmo<strong>de</strong>ll stellen, in<strong>de</strong>m sie vor, während und<br />

nach <strong>de</strong>r Revolution eine passen<strong>de</strong> Organisationsstruktur bieten konnten. Dabei wur<strong>de</strong> bewiesen, daß<br />

auch diese aus großen ›Industriefö<strong>de</strong>rationen‹ bestehen<strong>de</strong>n libertären Organisationen keinen<br />

bürokratischen Apparat hervorbringen müssen. Die spanische CNT kam 1936 bei knapp zwei Millionen<br />

Mitglie<strong>de</strong>rn mit einem einzigen bezahlten Sekretär aus, und <strong>de</strong>r begnügte sich mit einem<br />

Facharbeitergehalt...<br />

Bewegung in Ratlosigkeit<br />

Wenn wir einmal vereinfacht alle die Menschen, die sich als Anarchisten verstehen und die Gruppen, die<br />

in diesem Sinne wirken, als eine anarchistische Bewegung betrachten, so gibt es eine solche Bewegung<br />

heute in etwa vierzig Län<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> mit beträchtlichen Unterschie<strong>de</strong>n in Stärke und Qualität. In<br />

manchen existieren noch die klassischen anarchistischen Organisationsformen, die gelegentlich auch<br />

ironisch die "offiziellen" genannt wer<strong>de</strong>n. Das sind lan<strong>de</strong>sweite Fö<strong>de</strong>rationen einerseits von<br />

anarchistischen Gruppen, an<strong>de</strong>rerseits von Syndikalisten* beziehungsweise Gewerkschaften. Bei<strong>de</strong> haben<br />

wie<strong>de</strong>rum ihre internationale Dachfö<strong>de</strong>ration, <strong>de</strong>r jeweils die meisten nationalen Fö<strong>de</strong>rationen<br />

angeschlossen sind. Für die Syndikalisten ist dies die AIT (Association Internationale <strong>de</strong>s Travailleurs –


<strong>de</strong>utsch: Internationale Arbeiter Assoziation, IAA), für die anarchistischen Fö<strong>de</strong>rationen die IFA<br />

(Internationale <strong>de</strong>s Fe<strong>de</strong>rations Anarchistes - <strong>de</strong>utsch: Internationale Anarchistischer Fö<strong>de</strong>rationen, IAF).<br />

Es han<strong>de</strong>lt sich dabei um verkable Organisationen mit allem was dazugehört: Statuten, Stempeln,<br />

Weltkongressen, Presseorganen, nationalen und internationalen Treffen, Kampagnen, Theoriediskussion<br />

und Koordination. Das hört sich beeindruckend an, sollte aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen,<br />

daß diese Fö<strong>de</strong>rationen durchweg sehr schwach sind, und nur ein Bruchteil <strong>de</strong>r Anarchisten in ihnen<br />

organisiert ist. In <strong>de</strong>r Praxis kommt solchen Weltfö<strong>de</strong>rationen heute nur noch geringe Be<strong>de</strong>utung zu. Ihre<br />

Funktion als Motor und kreative Stimulanz* in Praxis und Theorie <strong>de</strong>r Bewegung haben die "offiziellen<br />

Organisationen" weitgehend eingebüßt.<br />

Das hat damit zu tun, daß <strong>de</strong>r Anarchismus nach 1968 einen völligen Neubeginn durchmachen mußte und<br />

seither auf <strong>de</strong>r Suche nach neuen Formen ist. Die überkommenen Organisationen waren für viele kaum<br />

noch attraktiv o<strong>de</strong>r paßten nicht mehr zu <strong>de</strong>n neuen Aktionsfel<strong>de</strong>rn. Selbst in einem Land wie Frankreich,<br />

das eine sehr aktive anarchistische Fö<strong>de</strong>ration hat, fin<strong>de</strong>t ein großer Teil libertärer Aktivitäten außerhalb<br />

von ihr statt. Parallel zur Fö<strong>de</strong>ration Anarchiste existiert eine ganze Reihe weiterer Verbän<strong>de</strong>,<br />

Fö<strong>de</strong>rationen und<br />

114<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

lan<strong>de</strong>sweiter Zusammenschlüsse, teils mit Konsens-, teils mit Affinitätscharakter. Trotz<strong>de</strong>m sind viele<br />

aktive Anarchisten überhaupt nicht organisiert. Überall dort, wo, wie in Frankreich, die "offizielle"<br />

Organisation dynamisch und aktiv ist, kommt es in <strong>de</strong>r Regel auch zu einer guten Zusammenarbeit<br />

querbeet durch dieses Wirrwarr von Strukturen. In Deutschland gibt es keine klassische anarchistische<br />

Fö<strong>de</strong>ration, dafür aber eine recht rege libertäre Bewegung von auffälliger Vielfalt. Aus ihr sind mehrere<br />

lan<strong>de</strong>sweite Zusammenhänge hervorgegangen, von <strong>de</strong>nen sich nur eine in die Tradition einer klassischen,<br />

offiziellen Organisationsform gestellt hat.<br />

Der Anarchismus befin<strong>de</strong>t sich in einer Situation <strong>de</strong>s Umbruchs1, und mit ihm seine<br />

Organisationsformen. Alte Aktionsfel<strong>de</strong>r und Inhalte haben sich überlebt und sind mitsamt ihren<br />

hergebrachten Strukturen in tiefe Sinnkrisen gestürzt. Früher stand beispielsweise <strong>de</strong>r<br />

Anarchosyndikalismus für real existente kämpferische Gewerkschaften, also für ein starkes Konsens-<br />

Mo<strong>de</strong>ll. Heute gibt es nur noch in ganz wenigen Län<strong>de</strong>rn tatsächliche anarchistische Gewerkschaften o<strong>de</strong>r<br />

entsprechen<strong>de</strong> Ansätze. Die anarchosyndikalistischen Organisationen sind daher in <strong>de</strong>n meisten Fällen zu<br />

kleinen Propagandagruppen gewor<strong>de</strong>n, die die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Anarchosyndikalismus verbreiten und sich<br />

ansonsten an irgendwelchen aktuellen Bewegungen beteiligen. So ist die AIT heute genau genommen die<br />

Dachorganisation eines historischen Konsens-Mo<strong>de</strong>lls, die fast lauter Affinitätsgruppen vertritt – ein<br />

Paradox, in <strong>de</strong>m sich die Krise <strong>de</strong>r klassischen anarchistischen Organisationen wi<strong>de</strong>rspiegelt.<br />

Der neue Anarchismus hingegen hat noch überhaupt kein Organisationsmo<strong>de</strong>ll gefun<strong>de</strong>n. Zwar gibt es<br />

auch hier national und international mannigfachen Austausch: Treffen, Camps, Kongresse, Seminare,<br />

Feste, Netzwerke und Kampagnen - aber all das ist meist zufällig und selten dauerhaft. Manche<br />

Anarchisten meinen, genau das sei die angemessene Struktur <strong>de</strong>r neuen Bewegung: Nichts weiter als eine<br />

locker-leichte Vernetzung je nach Bedarf. Selbst wenn das richtig wäre – woran Zweifel erlaubt sind –,<br />

hat die Erfahrung <strong>de</strong>r letzten zwanzig Jahre gezeigt, daß solche unverbindlichen Kontakte je<strong>de</strong>nfalls nicht<br />

ausreichen. An<strong>de</strong>re sind <strong>de</strong>r Meinung, es genüge, die alten Fö<strong>de</strong>rationen mit neuem Leben und neuen<br />

Inhalten zu füllen. Wie <strong>de</strong>m auch sei: die neue libertäre Bewegung hat oft genug Reaktionsarmut,<br />

Initiativschwäche und einen erschrecken<strong>de</strong>n Mangel an Kraft und Aufmerksamkeit bewiesen, um zu<br />

zeigen, daß sie dringend neuer Organisationsformen bedarf.<br />

Organisation wäre vermutlich kein Heilmittel, aber gewiß ein notwendiger Schritt zur Überwindung<br />

dieser Schwäche einer Bewegung, die im realen Leben längst nicht die Rolle einnimmt, die sie aufgrund<br />

ihrer Stärke spielen könnte.


1) Vergleiche Kapitel 38 !<br />

Literatur:<br />

/ Errico Malatesta: Ein anarchistisches Programm vgl. Kap. 4!<br />

/ Rudolf Rocker: Anarchismus und Organisation Berlin 1978, Libertad, 47 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Über das Wesen <strong>de</strong>s Fö<strong>de</strong>ralismus im Gegensatz zum Zentralismus Frankfurt/M. 1979, Freie<br />

Gesellschaft, 318.<br />

/ Berthold Cohn: Sollen sich Anarchisten organisieren? Berlin o.J. (1928?), Der Freie Arbeiter, 8 S,<br />

/ Günter Bartsch: Der Internationale Anarchismus Hannover 1972, Nie<strong>de</strong>rs. Lan<strong>de</strong>szentrale f. pol.<br />

Bildung, 67 S.<br />

/ <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: Organisationspapier – Eine Denkschrift Wetzlar 1976, An-Archia, 12 S.<br />

/ Gruppi Anarchici Fe<strong>de</strong>rati: Ein anarchistisches Programm vgl. Kap. 4!<br />

/ N.N. International Blacklist San Francisco 1983, 140 S., ill.<br />

/ Peter Stipkovics (Hrsg.): Internationales Anarchistisches Adressbuch Wien 1982, Monte Verità, 18; S.,<br />

ill.<br />

115<br />

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Kapitel 17<br />

Parteien, Räte, Selbstverwaltung<br />

"Parteien sind zum Schlafen da –<br />

und zum schrecklichen Erwachen"<br />

Zeitung ›883‹, 1971<br />

"Verteilt die Macht, damit sie keinen mächtig macht!"<br />

Losung in Paris, Mai 1968<br />

IMMER WIEDER HAT DIE SPONTANE AKTION bedrängter Menschen die Theoretiker im Tiefschlaf<br />

überrascht. Bedrängte Menschen tun meist das Naheliegen<strong>de</strong>. Naheliegen<strong>de</strong>s geschieht spontan.<br />

Was ist in einer außergewöhnlichen Situation naheliegen<strong>de</strong>r, als sich zusammenzuhocken und zu<br />

beratschlagen? Das anstehen<strong>de</strong> Problem wird benannt, besprochen, man einigt sich auf eine<br />

Vorgehensweise, und wenn die Gruppe sehr groß ist, bestimmt man ein paar Personen <strong>de</strong>s Vertrauens mit<br />

<strong>de</strong>r Ausführung <strong>de</strong>ssen, was beschlossen wur<strong>de</strong>. Und die Gruppe paßt auf, daß alles auch so gemacht<br />

wird, bis zum nächsten Treffen. So einfach ist das.<br />

Räte<br />

So einfach ist auch die Grundi<strong>de</strong>e eines Rates. Räte bil<strong>de</strong>n das Organisationsmuster, auf <strong>de</strong>m die<br />

Selbstverwaltung aufbaut. Von allen bisher bekannten gesellschaftlichen Organisationsformen sind sie die<br />

<strong>de</strong>mokratischsten. Sie wur<strong>de</strong>n von keinem Theoretiker ersonnen, an keinem Schreibtisch erfun<strong>de</strong>n. Viele<br />

hun<strong>de</strong>rt Mal an <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten Stellen <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> sind sie immer wie<strong>de</strong>r aufgetaucht. Erfin<strong>de</strong>r solcher<br />

"Organe" waren stets Menschen, die sich gegen irgen<strong>de</strong>twas wehrten und begannen, ihre Angelegenheiten<br />

in die eigenen Hän<strong>de</strong> zu nehmen. Räte entstan<strong>de</strong>n unabhängig voneinan<strong>de</strong>r und unter verschie<strong>de</strong>nsten<br />

Namen immer wie<strong>de</strong>r in einem Akt <strong>de</strong>r Neuschöpfung. Sie waren überall etwas an<strong>de</strong>rs, paßten sich <strong>de</strong>n<br />

unterschiedlichen Gegebenheiten an, funktionierten aber stets nach <strong>de</strong>m gleichen einfachen Prinzip.<br />

Die ersten historisch belegten Räte fin<strong>de</strong>n wir im Umfeld <strong>de</strong>r Revolutionsarmee Oliver Cromwells, die im<br />

17. Jahrhun<strong>de</strong>rt in England König Karl I. besiegte. In <strong>de</strong>r Französischen Revolution von 1789 tauchen sie


wie<strong>de</strong>r auf, ebenso in <strong>de</strong>r Pariser Commune von 1871. In <strong>de</strong>n Russischen Revolutionen von 1905 und<br />

1917 sind sie zu einem festen Bestandteil <strong>de</strong>s revolutionären Prozesses gewor<strong>de</strong>n. 1918 bewähren sie sich<br />

in <strong>de</strong>r Novemberrevolution in Deutschland, 1920 in <strong>de</strong>r ukrainischen Guerilla und <strong>de</strong>n italienischen<br />

Fabrikbesetzungen, 1921 in <strong>de</strong>r ›Kommune von Kronstadt‹ 1922 fin<strong>de</strong>n wir sie im fernen Patagonien,<br />

1936 in <strong>de</strong>r Spanischen Revolution. 1956 entstehen in Ungarn Räte beim Aufstand gegen die<br />

stalinistische Diktatur, ab 1968 erneut in <strong>de</strong>r französischen und italienischen Industrie, 1971 in Polen,<br />

1980 im Iran und so weiter ... Es gibt unzählige Beispiele mehr.<br />

Immer waren sie zunächst eine spontan entstan<strong>de</strong>ne Ausdrucksform <strong>de</strong>r Unterdrückten. Überall da, wo<br />

eine Revolution sich wirklich durchsetzen konnte, wur<strong>de</strong>n sie dann zu<br />

116<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Organen einer neuen Ordnung. Typisches Merkmal einer solchen neuen Ordnung ist die<br />

Selbstverwaltung, die sich zu einem allgemeinen gesellschaftlichen Normalzustand entwickeln soll. Räte<br />

entfalten dabei eine sehr große Beweglichkeit und können sich neuen Situationen viel schneller anpassen<br />

als die in festen Formen erstarrten Parteien.<br />

Räte kommen, sowohl als geschichtliche Erfahrung wie als praktische Erscheinungsform, <strong>de</strong>r<br />

anarchistischen Vorstellung von einer horizontalen Glie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Gesellschaft sehr nahe. Sie sind jedoch<br />

nicht per se anarchistisch, und Anarchie ist nicht mit Räte<strong>de</strong>mokratie gleichzusetzen. Räte sind eine<br />

Ordnungsstruktur, die in einem anarchistischen Umgestaltungsprozeß brauchbar wäre.<br />

Daß sie nicht anarchistisch sein müssen, beweist die Pervertierung, die sie beispielsweise in Rußland<br />

erfuhren1, wo sich <strong>de</strong>r Staat schon bald nach <strong>de</strong>r Revolution <strong>de</strong>n Namen Sowjetunion gab. "Sowjet" heißt<br />

Rat. Hier kam es zu einer verhängnisvollen Verquickung von Basis<strong>de</strong>mokratie, die sich in <strong>de</strong>n<br />

entstan<strong>de</strong>nen und gut funktionieren<strong>de</strong>n Räten wi<strong>de</strong>rspiegelte, und <strong>de</strong>m Herrschaftsanspruch einer Partei,<br />

die die Sowjets Stück für Stück entmachtete und als rein formale Struktur ihrer Diktatur unterordnete.<br />

Je<strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Räte hiergegen wur<strong>de</strong> – wie etwa im Kronstädter Aufstand von 1921 – blutig<br />

nie<strong>de</strong>rgeschlagen. Heraus kam ein Superstaat, in <strong>de</strong>m die Räte nur noch als Garnierung dienten. Solche<br />

›Räte‹ üben keine reale Entscheidungsfunktion mehr aus. Sie haben ihre Macht an übergeordnete<br />

Interessen abgegeben, <strong>de</strong>nen sie dienen und unterworfen sind. In <strong>de</strong>r Regel sind das Parteiinteressen.<br />

Partei und Räte aber sind Prinzipien, die sich ausschließen. Sobald <strong>de</strong>r Rat sein wichtigstes Merkmal<br />

aufgibt, die Autonomie, hört er auf, befreien<strong>de</strong>s Instrument <strong>de</strong>r allgemeinen Selbstverwaltung zu sein. In<br />

Län<strong>de</strong>rn wie Kuba, Algerien o<strong>de</strong>r Jugoslawien wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n sechziger und siebziger Jahren versucht,<br />

staatliche Selbstverwaltung in Teilbereichen <strong>de</strong>r Gesellschaft zur Unterstützung <strong>de</strong>s jeweiligen Systems<br />

zu installieren. Selbst in Jugoslawien, wo man sich ausdrücklich auf anarchistische Wurzeln bezog,<br />

scheiterten diese Ansätze im Sumpf <strong>de</strong>r Bürokratie, obwohl die I<strong>de</strong>e bei Belegschaften und<br />

Stadtteilkomitees anfangs begeistert aufgriffen wur<strong>de</strong>.2 Räte und Selbstverwaltung genügen sich selbst.<br />

Als nackte Struktur zur Stärkung eines ihr wi<strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong>n staatlichen Gesamtkonzepts taugen sie nicht.<br />

Vom anarchistischen Standpunkt aus wäre es die richtige Struktur mit falscher Ethik.<br />

In Kapitel 12 haben wir solche Strukturen "Vernetzung kleiner Einheiten" genannt, eine Umschreibung,<br />

die mir für eine anarchistische Gesellschaft passen<strong>de</strong>r scheint, weil ›Räte‹ nur eine <strong>de</strong>nkbare Möglichkeit<br />

einer solchen Vernetzung sind, und die Zukunft möglicherweise an<strong>de</strong>re, bessere hervorbringt. Aber sie<br />

haben konkret existiert und sind schon <strong>de</strong>shalb von Interesse.<br />

Wie wir gesehen haben, wären Räte sowohl geografische als auch sachliche<br />

Organisationszusammenhänge, <strong>de</strong>ren Wirkungsbereiche sich überschnei<strong>de</strong>n können. Es gibt zum Beispiel<br />

<strong>de</strong>n Rat eine Dorfes, einer Stadt, eines Stadtteils o<strong>de</strong>r eines Landstriches. In diesen<br />

1) Vergleiche Kapitel 29 - 31 !


2) Vergleiche Kapitel 36 !<br />

117<br />

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Gebieten wie<strong>de</strong>rum organisieren sich Räte nach sachlichen Interessen: am Arbeitsplatz, in <strong>de</strong>n Industrien,<br />

in <strong>de</strong>r Landwirtschaft, im Transportwesen, an Universitäten, Schulen, ja sogar in Nachbarschaften und<br />

Wohngemeinschaften. Auch an<strong>de</strong>re sachliche Zusammenhänge wie Frauen, Männer, Kin<strong>de</strong>r, Alte,<br />

Behin<strong>de</strong>rte, Verbraucher usw. sind <strong>de</strong>nkbar.<br />

Je<strong>de</strong>r Rat ist im Grun<strong>de</strong> nichts weiter als die Versammlung <strong>de</strong>r Menschen, die unter <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n<br />

Bereich fallen und an ihm teilnehmen möchten. Teilnahme und Mitarbeit sind freiwillig, <strong>de</strong>mzufolge auch<br />

die Unterwerfung unter die Beschlüsse <strong>de</strong>s Rates. Natürlich kann <strong>de</strong>r Rat umgekehrt beschließen, daß nur<br />

die Teilnehmer in <strong>de</strong>n Genuß <strong>de</strong>r Früchte seiner Arbeit kommen.<br />

Die Räte versammeln sich in bestimmten Abstän<strong>de</strong>n und vor allem immer dann, wenn wichtige Probleme<br />

zur Lösung anstehen. Damit sie arbeitsfähig bleiben, sollten die Räte klein gehalten wer<strong>de</strong>n. Es wäre zum<br />

Beispiel unsinnig, einen Rat von Hamburg o<strong>de</strong>r Deutschland zu bil<strong>de</strong>n.<br />

Je<strong>de</strong>r Rat ist grundsätzlich autonom. Bei größeren geografischen Zusammenhängen sowie zur<br />

Bewältigung von Problemen, die mehr Menschen angehen o<strong>de</strong>r überregional organisiert wer<strong>de</strong>n müssen,<br />

wählt <strong>de</strong>r Rat Delegierte, die sich wie<strong>de</strong>rum zu Delegiertenräten zusammenschließen. Dies kann<br />

mehrmals wie<strong>de</strong>rholt wer<strong>de</strong>n, so daß sich am En<strong>de</strong> mehrere Ebenen von Räten bil<strong>de</strong>n, die je<strong>de</strong>r für sich<br />

die erfor<strong>de</strong>rliche Größe haben, um handlungsfähig zu bleiben. Um zu praktikablen Entscheidungen in<br />

Bereichen zu kommen, an <strong>de</strong>nen sehr viele Menschen beteiligt sind, können von Zeit zu Zeit auch große,<br />

kongreßartige und meinungsbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Meetings einberufen wer<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>nen etwa alle Betroffenen o<strong>de</strong>r<br />

die Abgesandten aller Basisräte die allgemeinen Richtlinien für die Arbeit <strong>de</strong>r spezialisierten<br />

Delegiertenräte festlegen.<br />

Grundsätzlich hat je<strong>de</strong>s Mitglied eines Rates aktives und passives Wahlrecht, das heißt, es kann wählen<br />

o<strong>de</strong>r gewählt wer<strong>de</strong>n. Es han<strong>de</strong>lt sich dabei aber im Gegensatz zu Parteikandidaten um ›Menschen zum<br />

Anfassen‹: Nachbarn, Kollegen, Freun<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Bekannte aus überschaubaren Lebenszusammenhängen, die<br />

einan<strong>de</strong>r kennen. Zwischen diesen Menschen gibt es ungleich weniger Entfremdung als in unserem<br />

heutigen politischen Delegations- und Wahlsystem. So bleibt in aller Regel gewährleistet, daß diejenigen<br />

gewählt wer<strong>de</strong>n, die das meiste Vertrauen <strong>de</strong>r Menschen genießen und sich mit <strong>de</strong>m jeweiligen Problem<br />

am besten auskennen. Dies ist eine klare Organisationsform von ›unten‹ nach ›oben‹. Am En<strong>de</strong> geschieht<br />

das, was auf <strong>de</strong>r ›untersten‹ Ebene beschlossen wur<strong>de</strong>. Die ›oberen‹ Ebenen sind Koordinations- und<br />

Ausführungsorgane. Delegiert wird also nicht Macht, son<strong>de</strong>rn Ausführung. Der Vorgang <strong>de</strong>r Wahl führt<br />

auf diese Weise immer weniger zum Verlust eigener Macht, und nimmt statt<strong>de</strong>ssen zunehmend <strong>de</strong>n<br />

Charakter einer technischen Angelegenheit an.<br />

Damit dies aber auch eine rein technische Angelegenheit bleibt, und auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Delegierten nicht<br />

eine neue Hierarchie entsteht, sind im Rätesystem einige ›Tricks‹ eingebaut. Zunächst einmal wer<strong>de</strong>n<br />

Delegierte meist nur auf begrenzte Dauer gewählt; in <strong>de</strong>r Regel ist das die Zeit, die die Erledigung <strong>de</strong>r<br />

ihnen übertragenen Vorhaben braucht. Weiterhin sind mit <strong>de</strong>r Delegierung keine Privilegien verbun<strong>de</strong>n,<br />

ebensowenig Befugnisse,<br />

118<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

die über die Aufgabe hinausgehen. Delegierte dürfen auch nicht nach Gutdünken han<strong>de</strong>ln und wichtige<br />

Entscheidungen ohne Rücksprache mit <strong>de</strong>r Basis treffen. Sie erhalten ein sogenanntes imperatives


Mandat, das heißt, sie bleiben <strong>de</strong>m Beschluß ihres jeweiligen Rates verpflichtet und wer<strong>de</strong>n von ihm auch<br />

kontrolliert.<br />

Bei all <strong>de</strong>m könnten aber durchaus informelle Eliten von Menschen entstehen, die, aus welchen Grün<strong>de</strong>n<br />

auch immer, stets aufs Neue zu Delegierten gewählt wer<strong>de</strong>n. Dann könnte sich trotz aller ›Tricks‹ im<br />

Laufe <strong>de</strong>r Zeit eine Struktur von Beherrschten und Herrschen<strong>de</strong>n herausbil<strong>de</strong>n. Zu diesem Zweck gibt es<br />

ein sogenanntes Rotationsprinzip. Das be<strong>de</strong>utet, daß Funktionsträger meist in regelmäßigen Abstän<strong>de</strong>n<br />

ausgewechselt wer<strong>de</strong>n. Nicht etwa, um beson<strong>de</strong>rs fähige und talentierte Menschen unterzubuttern,<br />

son<strong>de</strong>rn um möglichst vielen Menschen die Chance zu geben, ebenfalls Talente zu entwickeln,<br />

Kenntnisse zu erlangen, Sachverhalte zu beurteilen und Probleme zu lösen. Diese Auswechslung erfolgt<br />

nicht chaotisch o<strong>de</strong>r abrupt und auch nicht unbedingt nach <strong>de</strong>m Kalen<strong>de</strong>r. Die Nachfolger wer<strong>de</strong>n jeweils<br />

von <strong>de</strong>n Vorgängern eingearbeitet, und die Aufgaben wer<strong>de</strong>n im gleiten<strong>de</strong>n Wechsel übergeben.<br />

Wie wir sehen, ist das nicht unbedingt ein i<strong>de</strong>ales anarchistisches System. Es gibt nach wie vor ein ›oben‹<br />

und ›unten‹, sei es auch nicht im Sinne einer Hierarchie, son<strong>de</strong>rn von gleichberechtigten Ebenen, die nötig<br />

scheinen, um ein solches System in einer Massengesellschaft funktionsfähig zu halten. Nach wie vor gibt<br />

es eine ›Delegierung‹, wenn auch nicht von ›Macht‹, so doch von Ausführung. Auch an<strong>de</strong>re<br />

Schwachpunkte liegen auf <strong>de</strong>r Hand: Wieso sollte jemand sich <strong>de</strong>legieren lassen, wenn er davon keine<br />

Vorteile hat? Führt die Rotation nicht zu einem Schlamassel von inkompetenten Leuten und gehen<br />

Können und Kompetenz dabei nicht unter? Führt das imperative Mandat nicht gar zu kleinlicher<br />

Bespitzelung, die für je<strong>de</strong>n selbstbewußten Menschen ein Greuel sein muß? Wird unter diesen<br />

Bedingungen überhaupt jemand an Räten teilnehmen?<br />

Natürlich kann all das geschehen. Über die Wahrscheinlichkeit, ob so etwas funktioniert, haben wir schon<br />

ausführlich spekuliert. Vergessen wir aber zwei wichtige Tatsachen nicht:<br />

Erstens sind Räte nichts weiter als eine Struktur <strong>de</strong>r Verwaltung, sie ersetzen keine Gesellschaft. Gera<strong>de</strong><br />

diese an<strong>de</strong>re gesellschaftliche Realität aber, ohne die ein Rätesystem sinnlos wäre, könnte die sozialen,<br />

politischen und ethischen Voraussetzungen schaffen, in <strong>de</strong>nen diese Strukturen funktionieren und sich<br />

weiterentwickeln können. Am Beispiel <strong>de</strong>s Anreizes, ein Mandat zu übernehmen, wird dies klar: In einer<br />

libertären Solidargesellschaft mit Bedürfnisproduktion wie Anarchisten sie anstreben, wäre niemand mehr<br />

auf materielle Privilegien angewiesen. Etwas für die Allgemeinheit zu tun, wür<strong>de</strong> nach anarchistischer<br />

Auffassung ein allgemein übliches ›Prestige‹, das anstelle unserer heutigen Karriere- und Statussymbole<br />

treten könnte; diese wie<strong>de</strong>rum wür<strong>de</strong>n zunehmend absurd. Auch kleinliches Mißtrauen, karrierebedingte<br />

Fraktionsbildung o<strong>de</strong>r wirtschaftlicher Neid müßten in einer Solidargesellschaft mit hoher I<strong>de</strong>ntifikation<br />

immer mehr an Be<strong>de</strong>utung verlieren und so das Funktionieren einer Rä<strong>de</strong><strong>de</strong>mokratie för<strong>de</strong>rn. Wie sehr<br />

das Vorhan<strong>de</strong>nsein an<strong>de</strong>rer gesellschaftlicher Umstän<strong>de</strong> eine Voraussetzung für das Funktionieren<br />

basis<strong>de</strong>mokratischer Prin-<br />

119<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

zipien ist, zeigt übrigens die Erfahrung <strong>de</strong>r Grünen, die in <strong>de</strong>n Parlamenten damit gründlich auf <strong>de</strong>n<br />

Bauch gefallen sind. Die von ihnen beschlossenen Elemente wie Rotation und imperatives Mandat<br />

mußten ausgerechnet in einer Partei, die inmitten eines autoritären Parlamentsapparates konkurrieren<br />

wollte, scheitern. Allein die formale Struktur än<strong>de</strong>rte nichts an <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Realität von<br />

Konkurrenzdruck, Fraktionierung, Mißgunst, Karrierelust, Erfolgszwang und mangeln<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation.<br />

Zweitens betrachten wir Mo<strong>de</strong>lle. Mo<strong>de</strong>lle sind leicht zu kritisieren, solange sie nicht die Chance haben,<br />

sich zu bewähren und zu verän<strong>de</strong>rn. Kein Mo<strong>de</strong>ll ist frei von Schwachstellen und keines ist i<strong>de</strong>al. Nach<br />

meinem Dafürhalten ist auch Anarchie nur ein I<strong>de</strong>al, <strong>de</strong>m man sich vielleicht annähern kann, das aber<br />

wohl nie perfekt funktionieren wird. Deshalb sollten wir eine Rätestruktur nicht danach bewerten, ob sie<br />

Schwachstellen hat, son<strong>de</strong>rn danach, wo ihre Vorteile im Vergleich zu <strong>de</strong>m System liegen, in <strong>de</strong>m wir<br />

leben. Und dieses System hat nach Meinung <strong>de</strong>r Anarchisten nicht nur ›Schwachstellen‹, son<strong>de</strong>rn ist eine<br />

einzige Aneinan<strong>de</strong>rreihung von Wi<strong>de</strong>rsprüchen, die das Leben zerstört - sinnbildlich wie tatsächlich.


Das ist eine pragmatische Sichtweise und <strong>de</strong>shalb <strong>de</strong>m Gegenstand angemessen, <strong>de</strong>nn Räte sind eine<br />

pragmatische Erfindung <strong>de</strong>s Augenblicks. Durch eine Rätestruktur verschwin<strong>de</strong>t die Macht nicht, aber sie<br />

wird neutralisiert. Frei nach <strong>de</strong>m Motto "Verteilt die Macht, damit sie keinen mächtig macht!".<br />

Konsens<br />

Nun wer<strong>de</strong>n räte<strong>de</strong>mokratische Grundsätze ja nicht nur in großen Revolutionen gelebt o<strong>de</strong>r in eine<br />

kommen<strong>de</strong> Gesellschaft projiziert. Überall auf <strong>de</strong>r Welt, in Tausen<strong>de</strong>n von Projekten, Gruppen und<br />

Gemeinschaften, wird damit ständig experimentiert. Alle diese Experimente fin<strong>de</strong>n in einem feindlichen<br />

Umfeld statt, das nicht die Voraussetzungen einer solidarischen Gesellschaft erfüllt. Trotz<strong>de</strong>m<br />

funktionieren sie in zwischenmenschlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bereichen. Mit<br />

ihnen wer<strong>de</strong>n Firmen gemanagt und Wohngemeinschaften strukturiert, Kulturvereine bedienen sich ihrer<br />

ebenso wie Kommunen, politische Zirkel, soziale Bewegungen, Bürgerinitiativen, Gewerkschaften o<strong>de</strong>r<br />

Stadtteilgruppen. Sie funktionieren mehr o<strong>de</strong>r weniger gut, mit mehr o<strong>de</strong>r weniger Erfolg, aber gewiß<br />

nicht schlechter als die herkömmlichen hierarchischen Strukturen von Firmen, Parteien o<strong>de</strong>r Vereinen.<br />

Hierbei wer<strong>de</strong>n Erfahrungen gemacht, die Antworten auf weitere kritische Fragen geben können, die sich<br />

aus <strong>de</strong>r Rätei<strong>de</strong>e ergeben. Zum Beispiel die Frage, wie <strong>de</strong>nn die Entscheidungen in einem Rat überhaupt<br />

zustan<strong>de</strong> kommen.<br />

Ein Rat wür<strong>de</strong> sich kaum von einem Parlament unterschei<strong>de</strong>n, wenn in ihm ein Problem vorgestellt und<br />

andiskutiert wür<strong>de</strong>, um dann ruckzuck darüber abzustimmen. Mehrheitsentscheidungen sind zwar<br />

zeitsparend, neigen aber dazu, daß die Wi<strong>de</strong>rsprüche nicht wirklich auf <strong>de</strong>n Tisch kommen. Meist<br />

beharren die beteiligten Fraktionen auf ihrer vorgefaßten Meinung und suchen lieber hinter <strong>de</strong>n Kulissen<br />

nach Mehrheiten. Bei solch einer Konstellation wer<strong>de</strong>n Alternativen kaum noch zur Kenntnis gebracht,<br />

und es gibt auch keine<br />

120<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Gelegenheit, darüber wirklich nachzu<strong>de</strong>nken. Je<strong>de</strong>r Parteitag, je<strong>de</strong>r Gewerkschaftstag und allem voran <strong>de</strong>r<br />

Bun<strong>de</strong>stag kennt mehr und mehr solch reine Abstimmungsorgien, in <strong>de</strong>nen in Rekordzeit mit großer<br />

Teilnahmslosigkeit Unmengen wichtiger Beschlüsse durchgepeitscht wer<strong>de</strong>n. Die Meinung von<br />

Min<strong>de</strong>rheiten fällt dabei unter <strong>de</strong>n Tisch.<br />

Daher neigen die meisten räteähnlichen Strukturen heute zum Konsensprinzip. Das be<strong>de</strong>utet, daß nach<br />

Möglichkeit ein gemeinsamer Standpunkt gefun<strong>de</strong>n wird, <strong>de</strong>r von allen getragen wer<strong>de</strong>n kann, selbst<br />

wenn nicht alle restlos davon überzeugt sind. Das dauert natürlich länger, führt jedoch dazu, daß die<br />

Probleme wirklich ausführlich dargestellt wer<strong>de</strong>n und Für und Wi<strong>de</strong>r zur Sprache kommen. Das bewirkt<br />

in <strong>de</strong>r Praxis überraschend oft, daß Menschen ihre vorgefaßte Meinung än<strong>de</strong>rn, weil sie zuhören und<br />

nach<strong>de</strong>nken. Zuhören und Nach<strong>de</strong>nken sind Tugen<strong>de</strong>n, die von <strong>de</strong>r Abstimmungsroutine fester Fraktionen<br />

normalerweise erstickt wer<strong>de</strong>n. Ist ein Konsens gefun<strong>de</strong>n, stellt sich oft ein Gefühl <strong>de</strong>r Befriedigung bei<br />

allen Beteiligten ein, was die I<strong>de</strong>ntifikation mit <strong>de</strong>m Ergebnis erhöht. In vielen Rätegremien gibt es<br />

überdies die Regelung, daß bei bestimmten Fragen von großer Tragweite je<strong>de</strong>s Mitglied ein Vetorecht hat,<br />

das heißt, es kann Einspruch erheben, so daß grundsätzlich keine Min<strong>de</strong>rheit unterdrückt wer<strong>de</strong>n kann. In<br />

diesem Falle müßte weiter nach einem an<strong>de</strong>ren Konsens gesucht wer<strong>de</strong>n.<br />

Soweit die Vorteile. Zu <strong>de</strong>n Nachteilen gehört sicherlich, daß die Konsenssuche langwierig sein kann und<br />

manchmal <strong>de</strong>n Apparat unbeweglich wer<strong>de</strong>n läßt. Und wenn überhaupt kein Kompromiß gefun<strong>de</strong>n wird,<br />

ist alles blockiert. Dann gibt es nur drei Möglichkeiten: das Problem bleibt ungelöst, die Gruppe teilt sich,<br />

o<strong>de</strong>r es wird am En<strong>de</strong> doch abgestimmt. Keines <strong>de</strong>r drei Ergebnisse wäre eine Katastrophe und keines<br />

wür<strong>de</strong> ein Scheitern <strong>de</strong>s Räteprinzips be<strong>de</strong>uten, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Konsens ist ja kein Dogma. Es kommt drauf an,<br />

welche Regeln sich <strong>de</strong>r Rat zuvor gegeben hat.


Im ersten Fall bliebe <strong>de</strong>r Druck, das Problem später doch zu lösen, für alle Betroffenen bestehen. Die<br />

Erfahrung zeigt, daß die Konsensfähigkeit sich nach einer Denk- und Erfahrungspause oft einstellt. Im<br />

zweiten Fall hätte sich eben herausgestellt, daß die Einheit dieser Gruppe künstlich war, so daß sich zwei<br />

Gruppen auf zwei verschie<strong>de</strong>nen Grundlagen neu formieren könnten. Im Sinne einer an-archischen<br />

Gesellschaft von kleinen Einheiten gemeinsamer Interessen wäre das durchaus legitim. Im dritten Falle<br />

wür<strong>de</strong> eine Abstimmung immerhin zu einer Entscheidung mit klaren Fronten führen, wobei alle wüßten,<br />

woran sie sind. Darum ist bei vielen Gruppen <strong>de</strong>r Konsens kein Muß, son<strong>de</strong>rn ein Soll, damit <strong>de</strong>r Rat sich<br />

nicht selbst schachmatt setzt. Es gibt Situationen, in <strong>de</strong>nen am En<strong>de</strong> eine Abstimmung eine passable<br />

Lösung ist. Sie ist aber selbst dann eine ›bessere‹ Abstimmung, weil zuvor wirklich je<strong>de</strong> Meinung gehört<br />

und erwogen wur<strong>de</strong>. Die Min<strong>de</strong>rheit müßte dann für sich entschei<strong>de</strong>n, ob ihr das Thema wichtig genug<br />

erscheint, die Gruppe zu verlassen, o<strong>de</strong>r ob sie das Ergebnis toleriert.<br />

Natürlich neigen Konsensentscheidungen ten<strong>de</strong>nziell immer auch zu einer Nivellierung. So mancher<br />

Konsens wur<strong>de</strong> schon aus Frustration o<strong>de</strong>r einfach aus Ermüdung gefun<strong>de</strong>n... Kritiker behaupten, <strong>de</strong>r<br />

Konsens führe zum grauen Mittelmaß, brillante I<strong>de</strong>en hätten es<br />

121<br />

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schwer, und unterm Strich bliebe die ganze Gruppe <strong>de</strong>shalb konservativ. Das ist nicht von <strong>de</strong>r Hand zu<br />

weisen, gilt aber für Mehrheitsentscheidungen genauso. Das ist kein Problem <strong>de</strong>r Rätestruktur, son<strong>de</strong>rn<br />

ein allgemeines Problem, wenn mehr als zwei Menschen etwas gemeinsam unternehmen wollen.<br />

Hiermit sind wir wie<strong>de</strong>r am Anfang angelangt: Die Antwort liegt letztendlich nicht in <strong>de</strong>r Struktur,<br />

son<strong>de</strong>rn im Menschen. Aber bessere Strukturen können ein Problem ganz wesentlich entschärfen. Etwa<br />

durch die Ten<strong>de</strong>nz, daß sich in kleinen Gruppen vieles schon in <strong>de</strong>n alltäglichen Beziehungen erledigte,<br />

ohne jemals eine Angelegenheit <strong>de</strong>s Rates zu wer<strong>de</strong>n. O<strong>de</strong>r durch die Tatsache, daß je<strong>de</strong> Wohnung, je<strong>de</strong>s<br />

Büro, je<strong>de</strong> Werkstatt, je<strong>de</strong>s Atelier ja autonom wären, und das allermeiste dort schon frei zwischen ganz<br />

wenigen Menschen entschie<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, die gleichfalls respektvoll und offen miteinan<strong>de</strong>r umgingen. Und<br />

natürlich durch die Übereinkunft, daß niemand sich in Dinge einzumischen hat, die ihn nichts angehen,<br />

was einen großen individuellen Freiraum schaffen wür<strong>de</strong>. Letztendlich aber spielen, wenn all das<br />

gesellschaftlich funktionieren soll, subjektive Dinge wie Vertrauen, Toleranz, I<strong>de</strong>ntifizierung und<br />

Souveränität eine viel größere Rolle als noch so klug ausgetüftelte Strukturen. Die Frage, ob man ein<br />

Problem zu einer Grundsatzfrage macht und damit seinen sozialen Zusammenhalt gefähr<strong>de</strong>t o<strong>de</strong>r<br />

statt<strong>de</strong>ssen souverän auch Entscheidungen tolerieren kann, die man selbst so nicht getroffen hätte, hängt<br />

sehr stark davon ab, wie wohl man sich ansonsten fühlt und wie sehr man mit <strong>de</strong>r ganzen Gruppe<br />

verbun<strong>de</strong>n ist.<br />

Vielleicht sind <strong>de</strong>shalb Abstimmungen in räte<strong>de</strong>mokratischen Projekten so rar und ein Veto eine ganz<br />

seltene Erscheinung. Ich selbst verbringe mein Leben seit vielen Jahren mehr o<strong>de</strong>r weniger intensiv in<br />

menschlichen und sachlichen Zusammenhängen, die nach solchen Überlegungen funktionieren. Mir<br />

persönlich liegt eine <strong>de</strong>rartige Erfahrung näher als alles, was ich in Büchern über die Pariser Commune<br />

o<strong>de</strong>r die Spanische Revolution lesen könnte. Meine Erfahrung lehrte mich zweierlei; Dieses System<br />

funktioniert in <strong>de</strong>n wesentlichen Punkten besser und angenehmer als alles, was ich bisher in autoritären<br />

Strukturen erlebt habe. Und: ich habe mich fast immer als freier und schöpferischer Mensch, für <strong>de</strong>n ich<br />

mich halte, verwirklichen können. Hingegen habe ich viele Menschen erlebt, die in dieser Umgebung<br />

überhaupt erst gelernt haben, selbstbewußt und souverän zu <strong>de</strong>nken und zu han<strong>de</strong>ln.<br />

Historische Beispiele<br />

Das Wort Räte wird heute nicht mehr gern verwen<strong>de</strong>t. Das liegt überwiegend an geschichtlichen<br />

Vorbil<strong>de</strong>rn, die zum Teil keine positiven Erinnerungen wecken. An die Sowjets habe ich schon erinnert.<br />

Auch viele an<strong>de</strong>re Rätebeispiele aus <strong>de</strong>r Geschichte sind mit revolutionären o<strong>de</strong>r kriegerischen<br />

Ereignissen verbun<strong>de</strong>n und waren <strong>de</strong>mzufolge fast immer blutig und selten ›lupenrein‹. Längere Phasen<br />

friedlicher Entwicklungen waren solchen revolutionären Räten fast nie vergönnt. Deshalb fin<strong>de</strong>n wir in


<strong>de</strong>n Alltagserfahrungen <strong>de</strong>r letzten zwanzig Jahre, wo unter friedlichen Bedingungen räteähnliche<br />

Mo<strong>de</strong>lle entstan<strong>de</strong>n, die diese I<strong>de</strong>e weiterentwickelten, auch an<strong>de</strong>re Namen. Statt Räte<strong>de</strong>mokratie<br />

sprechen wir von Basis<strong>de</strong>mokratie, die in libertären Kreisen ebenso praktiziert wird wie etwa bei <strong>de</strong>n<br />

122<br />

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kirchlichen Basisgemein<strong>de</strong>n Lateinamerikas. Statt Rat hat sich in Deutschland das kaum schönere Wort<br />

Plenum durchgesetzt, und statt Rätesystem benutzt man lieber treffen<strong>de</strong>re und weitergehen<strong>de</strong> Begriffe wie<br />

Selbstverwaltung o<strong>de</strong>r Basis<strong>de</strong>mokratie. In <strong>de</strong>n 70erJahren kreierten Robert Jungk und Norbert R. Müllert<br />

im Rahmen <strong>de</strong>r Bürgerinitiativen eine sehr erfolgreiche Weiterentwicklung basis<strong>de</strong>mokratischen<br />

Zuschnitts, die sogenannten "Zukunftswerkstätten". Sie ergänzten das klassische "Räte"-Muster durch ein<br />

Instrument, das bei <strong>de</strong>r Erschließung <strong>de</strong>s kreativen Potentials helfen sollte. Tatsächlich machen sie bis<br />

heute vielen Menschen Mut, sich phantasievoll in die Gesellschaft einzumischen - Menschen, die sich<br />

sonst kaum getraut hätten, auch nur <strong>de</strong>n Mund aufzumachen.<br />

Die großen historischen Erfahrungen eignen sich trotz ihrer spektakulären Auftritte kaum zu<br />

Rückschlüssen auf die Tauglichkeit <strong>de</strong>s Rätesystems in langen Zeiten <strong>de</strong>r Normalität. Die Experimente<br />

dauerten von einer Woche bis zu wenigen Jahren, und in diesem Rahmen haben sie sich durchaus<br />

bewährt. Aber dieser Rahmen war das Unnormale. In vielen Fällen repräsentierten die Räte nur bestimmte<br />

Bereiche <strong>de</strong>r Bevölkerung. So dominierten in <strong>de</strong>r Deutschen Revolution die Arbeiter- und Soldatenräte;<br />

Bauern und Frauen etwa kamen nur am Ran<strong>de</strong> vor. In Rußland, Italien und Frankreich waren es<br />

überwiegend Fabrikräte, von <strong>de</strong>nen Initiativen ausgingen. Und vor allem gab es nur ganz selten reine<br />

Räteexperimente. Zumeist existierte neben <strong>de</strong>n Räten noch eine an<strong>de</strong>re Realität, auch dann, wenn sie (wie<br />

in <strong>de</strong>r Münchner Räterepublik) formal abgegrenzt war o<strong>de</strong>r sich (wie in Rußland) eigentlich <strong>de</strong>n Räten<br />

unterordnete: die "bürgerliche Welt", Parteien, Interessengruppen, zum Teil sogar Regierungen o<strong>de</strong>r<br />

feindliche Armeen im Kriegszustand. Entsprechend hektisch kam es zu Allianzen und faulen<br />

Kompromissen, die in <strong>de</strong>r Hoffnung eingegangen wur<strong>de</strong>n, mit diesen Gegnern fertig zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Fast alle frühen Räteexperimente beschränkten sich nur auf die Grundgedanken dieser I<strong>de</strong>e:<br />

Versammlung, Debatte, Delegation, imperatives Mandat. Entscheidungen fielen durchweg in<br />

mehrheitlicher Abstimmung. Für solch feinsinnige Betrachtungen wie Konsens, I<strong>de</strong>ntifikation o<strong>de</strong>r<br />

Min<strong>de</strong>rheitenschutz hatte man entwe<strong>de</strong>r keinen Sinn, keine Zeit o<strong>de</strong>r keine Gelegenheit - vor allem aber<br />

fehlte es noch an einer umfassen<strong>de</strong>n Ratetheorie. Die wur<strong>de</strong> erst in <strong>de</strong>n zwanziger und dreißiger Jahren<br />

entwickelt, als die meisten praktischen Ansätze schon besiegt waren. Hier sind in Deutschland vor allem<br />

Namen wie Karl Korsch, Otto Rühle und Paul Mattick zu nennen, und in <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>n Henriette<br />

Roland-Holst, Anton Pannekoek und Herman Gorter, die das Konzept <strong>de</strong>s sogenannten<br />

Rätekommunismus entwickelten. Auf sie konnte wenig später direkt o<strong>de</strong>r indirekt die Spanische<br />

Revolution zurückgreifen, ebenso wie in <strong>de</strong>n siebziger Jahren die Selbstverwaltungsbewegung <strong>de</strong>r<br />

italienischen und französischen Fabrikarbeiter. Schwachpunkt dieses ›Rätekommunismus‹ blieb jedoch,<br />

daß sich seine Theoretiker stark auf die Arbeitswelt bezogen und sich nie ganz von <strong>de</strong>r Vorstellung einer<br />

Partei freimachen konnten, die in ihrer Vision von Räte<strong>de</strong>mokratie nach wie vor eine prägen<strong>de</strong> Rolle<br />

spielen sollte. Das ist erstaunlich, <strong>de</strong>nn nach <strong>de</strong>r inneren Logik <strong>de</strong>r Rätei<strong>de</strong>e steht sie <strong>de</strong>m Parteiprinzip<br />

ganz und gar entgegen. Räte sind flexibel, Parteien starr. Räte garantieren die größtmögliche Nähe<br />

123<br />

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zur Basis, Parteien vertrauen ihrem Apparat. Räte minimieren Hierarchie, Parteien sind auf Hierarchie<br />

ausgelegt. Räte <strong>de</strong>legieren Funktionen, Parteien <strong>de</strong>legieren Macht. Räte leben von <strong>de</strong>r Diskussion,<br />

Parteien von <strong>de</strong>r Anordnung. Räte vernetzen sich <strong>de</strong>zentral, Parteien sind Zentralen.<br />

Den Anarchismus kann man heute mit Fug und Recht als <strong>de</strong>n Erben <strong>de</strong>s Rätegedankens ansehen. Nicht in


<strong>de</strong>m Sinne, daß sich Anarchie in <strong>de</strong>r Räte<strong>de</strong>mokratie erschöpft, son<strong>de</strong>rn daß seine historischen<br />

Erfahrungen und theoretischen Impulse aufgegriffen und kritisch weiterentwickelt wur<strong>de</strong>n. Sie fließen so<br />

in weitaus vielschichtigere Mo<strong>de</strong>lle <strong>de</strong>r Vernetzung ein, in <strong>de</strong>nen es längst nicht mehr nur darum geht,<br />

wie Arbeiter eine Fabrik besetzen und verwalten könnten.<br />

Literatur:<br />

# Günter Hillmann (Hrsg.): Die Rätebewegung (2 Bd.) Reinbek 1972, Rowohlt, 250 u. 220 S.<br />

# Gottfried Mergner (Hrsg.): Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands Reinbek 1971, Rowohlt, 220<br />

S.<br />

# Otto Rühle: Perspektiven einer Revolution in hochindustrialisierten Län<strong>de</strong>rn u.a. Schriften Reinbek<br />

1971, Rowohlt, 220 S.<br />

# Karl Korsch: Schriften zur Sozialisierung Frankfurt/M. 1969, Europäische Verlagsanstalt, 126 S,<br />

# Henriette Roland-Holst: Die revolutionäre Partei Berlin 1972, Kollektiv, 66 S.<br />

# Peter-Paul Zahl (Hrsg.): Räte (Textsammlung) Berlin o.J. (1972?), pp-Verlag, 76 S.<br />

# F. Baruch, E. Gerlach, A Lehning, R. Rocker, H. Rüdiger: Arbeiterselbstverwaltung, Räte,<br />

Syndikalismus Berlin 1973, Karin Kramer, 96 S.<br />

# Paul Cardan: Arbeiterräte und selbstverwaltete Gesellschaft Hamburg o.J, (1975?), MaD, 143 S.<br />

# M. Bookchin, E. Colombo, L. Lanza u.a.: Selbstverwaltung - die Basis einer befreiten Gesellschaft<br />

Reutlingen 1981, Trotz<strong>de</strong>m, 188 S.<br />

# Robert Jungk, Norbert R. Müllert: Zukunftswerkstätten München 1990, Heyne, 160 S.<br />

Kapitel 18<br />

Avantgar<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Hefeteig ?<br />

"Revolutionäre haben die Pflicht, an<strong>de</strong>ren dabei zu helfen, ebenfalls Revolutionäre zu wer<strong>de</strong>n,<br />

aber nicht die Pflicht, ›Revolution zu machen‹. Und das ist nur dann möglich,<br />

wenn <strong>de</strong>r Revolutionär o<strong>de</strong>r die Revolutionärin zuerst<br />

bei sich selbst mit <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung anfängt."<br />

- Murray Bookchin -<br />

SOBALD ANARCHISTEN DAMIT ANFANGEN, in diesem ganzen Szenario ihre eigene Rolle zu<br />

bestimmen, geraten sie in ein fürchterliches Dilemma*. Wir haben gesehen, wie zornig Anarchisten<br />

kritisieren können. Wir wur<strong>de</strong>n Zeugen ihrer schönen Visionen. Wir hörten auch, was sie so treiben. Was<br />

wir aber noch nicht wissen, ist, wie sie sich selbst in jenem Prozeß <strong>de</strong>r Umwälzung sehen, als <strong>de</strong>r<br />

Anarchie letztlich verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n muß.<br />

Sie könnten es sich ganz einfach machen: "Erstens, wir sind Anarchisten. Zweitens, wir haben <strong>de</strong>n<br />

Durchblick. Drittens, die meisten Menschen haben keinen Durchblick. Viertens, Unterdrücker haben auch<br />

<strong>de</strong>n Durchblick, wollen aber Unterdrücker bleiben und sind <strong>de</strong>shalb unsere Fein<strong>de</strong>. Fünftens, wir kämpfen<br />

die Fein<strong>de</strong> nie<strong>de</strong>r. Sechstens, damit das geht, bil<strong>de</strong>n wir Durchblicker eine verschworene Gemeinschaft.<br />

Siebtens, die zeigt <strong>de</strong>n Menschen ohne Durchblick, wo's lang geht. Achtens, wenn die nicht wollen,<br />

helfen wir ihnen auf die<br />

124<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Sprünge. Neuntens, nach <strong>de</strong>r Revolution schaffen wir dann alles Schlechte ab. Zehntens, wer das Gute<br />

nicht will, ist unser Feind." (Und so weiter, ab Punkt fünf...)<br />

"Alles wird gut, wir wissen <strong>de</strong>n Weg, folgt uns!" - kann das das Strickmuster anarchistischen Wirkens<br />

sein?


Ich hoffe, meine Leser haben die Ironie bemerkt und wissend geschmunzelt. Es wäre nicht nur zu einfach,<br />

son<strong>de</strong>rn vor allem: nicht die Spur anarchistisch. Bei diesen ›zehn Geboten‹ fehlte nur noch das "Amen!".<br />

Warum aber dann dieses Denkmuster? Weil es Menschen gab und gibt, die allen Ernstes so <strong>de</strong>nken und<br />

han<strong>de</strong>ln, wenngleich sie das natürlich an<strong>de</strong>rs ausdrücken. Bei Jesuiten, US-Präsi<strong>de</strong>nten,<br />

Fundamentalisten, Marxisten-Leninisten o<strong>de</strong>r Faschisten kann uns so eine Auffassung nicht verwun<strong>de</strong>rn,<br />

aber es gab und gibt tatsächlich auch Anarchisten, die ähnliche Vorstellungen im Kopf haben.<br />

"Am Anfang war <strong>de</strong>r Zorn" – so lautete nicht zufällig <strong>de</strong>r erste Satz dieses Buches. Zorn – Auflehnung –<br />

Umsturz, das mag zwar verständlich sein, aber zu kurz gedacht. In dieser gedanklichen Verkürzung lauern<br />

Gefahren, die das Ziel gefähr<strong>de</strong>n. Ein umstürzlerischer, von Zorn getriebener Empörer neigt dazu, seine<br />

eigene Rolle zu überhöhen. In<strong>de</strong>m er reagiert, nimmt er die Realität nur eingeschränkt wahr. Es ist, als ob<br />

jemand Scheuklappen trüge, unter geistiger Kurzatmigkeit litte und dabei einen sozialen Marathonlauf<br />

absolvieren müßte. Ist die Optik verzerrt und die Perspektive beengt, sieht man sich selbst groß, wichtig<br />

und verklärt: Ich bin Revolutionär. Ich mache die Revolution. Revolution ist, was ich vorgebe.<br />

Zwangsbeglückung<br />

Eine solche Vorstellung geht davon aus, daß eine kleine Gruppe von Durchblickern die moralische und<br />

politische Pflicht hat, <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>r Menschheit zu führen und ihn - notfalls mit Zwang - zu beglücken. Die<br />

Rolle, die Revolutionäre hierbei spielen, nennen wir Avantgar<strong>de</strong>. Das ist ein militärischer Ausdruck, und<br />

er be<strong>de</strong>utet "Vorhut".<br />

Absolute Avantgar<strong>de</strong>-Gläubige waren die Marxisten-Leninisten, die in ihrem Parteikonzept diese<br />

Vorstellung bis zum Exzess vorangetrieben haben. Die Rolle <strong>de</strong>s Revolutionärs als Führer ist in ihrer<br />

Theorie unumstritten. In ihrer Praxis wird dies an Extrembeispielen wie <strong>de</strong>n Massakern <strong>de</strong>r "Roten<br />

Khmer" in Kambodscha o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Anspruch <strong>de</strong>r "Roten Armee Fraktion" in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik <strong>de</strong>utlich,<br />

fin<strong>de</strong>t sich aber ebenso in <strong>de</strong>r oberlehrerhaften Nettigkeit <strong>de</strong>r mausgrauen Führungsopas <strong>de</strong>r Ex-DDR<br />

wie<strong>de</strong>r, wie in <strong>de</strong>m unduldsamen Herrschaftsanspruch <strong>de</strong>s charismatischen Kuba-Diktators Fi<strong>de</strong>l Castro,<br />

<strong>de</strong>r sich selbst maximo li<strong>de</strong>r nennen ließ: oberster Führer.<br />

Dabei darf man ruhig unterstellen, daß die Avantgardisten reinsten Gewissens von sich glauben, sie täten<br />

etwas Gutes. Unrechtsbewußtsein fin<strong>de</strong>t man <strong>de</strong>shalb auch bei <strong>de</strong>njenigen ›Revolutionären‹ nicht, die die<br />

unaussprechlichsten Scheußlichkeiten auf <strong>de</strong>m Gewissen haben. Schließlich tun sie das Richtige für ein<br />

gutes Ziel, und wenn diejenigen, für die sie dieses Opfer bringen, ihre Segnungen nicht erkannt haben, so<br />

ist das <strong>de</strong>ren Pech.<br />

125<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Das Konzept einer Avantgar<strong>de</strong> bedingt notwendigerweise <strong>de</strong>n Führungsanspruch einer Elite. Das führt in<br />

<strong>de</strong>r Praxis zu einer neuen Herrschaft. Diese Herrschaft ist mit Privilegien verbun<strong>de</strong>n. Nach diesem Muster<br />

hätten wir, selbst wenn <strong>de</strong>r Umsturz glückt, nach kurzer Zeit wie<strong>de</strong>r die alten Verhältnisse, nur mit neuen<br />

Gesichtern. Das wäre natürlich keine Revolution.<br />

Es wäre selbst dann keine Revolution, wenn unter <strong>de</strong>m neuen Regime etwa soziale Verbesserungen<br />

einträten, <strong>de</strong>r Reichtum gerechter verteilt, <strong>de</strong>r Hunger besiegt o<strong>de</strong>r das Analphabetentum bekämpft wür<strong>de</strong>.<br />

Nicht, daß dies geringzuachten wäre. Nur ein Zyniker* wird ›übersehen‹, daß China heute seine<br />

Bevölkerung ernährt und die Menschen in Kuba lesen und schreiben können. Aber bitte: das alleine ist<br />

keine Revolution. Das bringt <strong>de</strong>r Privatkapitalismus hier und da auch fertig. Solange es nach wie vor<br />

Ausbeutung, Herrschaft, Unterdrückung, Willkür, Privilegierte und Ungerechtigkeit gibt, sind die<br />

Verhältnisse eben nicht ›grundlegend umgewälzt‹ wor<strong>de</strong>n – und genau das heißt ›Revolution‹.<br />

Überdies stellt sich die Frage, ob man überhaupt jeman<strong>de</strong>n gegen seinen Willen beglücken kann. Wird die<br />

›Revolution‹ von einer Avantgar<strong>de</strong> ›durchgesetzt‹, ist sie wie ein übergestülpter Hut. Sie ist nicht in <strong>de</strong>n


Menschen, sie kommt nicht aus ihnen heraus, fußt nicht auf ihren Erfahrungen, Erwartungen und<br />

Überzeugungen. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: sie ist schwach, und daran än<strong>de</strong>rt auch die Begeisterung nichts, mit<br />

<strong>de</strong>r die Menschen nach Umstürzen auf <strong>de</strong>n Straßen tanzen und die mutigen Revolutionäre auf ihren<br />

Schultern zu tragen pflegen. Diese strukturelle Schwäche einer Revolution mißt sich daran, was nach vier,<br />

fünf Jahren von dieser Begeisterung noch übriggeblieben ist! Schwäche wird dann meist durch<br />

›Sicherheitsorgane‹ kompensiert*. Es ist kein Zufall, daß, je kleiner die Elite <strong>de</strong>r Avantgar<strong>de</strong> ist, <strong>de</strong>sto<br />

größer <strong>de</strong>r Apparat von Einrichtungen zum ›Schutze <strong>de</strong>r Revolution ausfällt. Ob das nun Dscherschinskis<br />

Tscheka*, Mielkes Stasi, Ceaucescus Securitate o<strong>de</strong>r Castros Volkstribunale waren – niemand nimmt<br />

ihnen ab, sie seien nur dazu da gewesen, feindliche Agenten, Spione und Saboteure zu verfolgen.<br />

Es gibt also zwei gute Grün<strong>de</strong>, warum das Konzept <strong>de</strong>r Avantgar<strong>de</strong> für eine anarchistische Revolution<br />

nicht taugt: Erstens ist es unfrei, und zweitens führt es nicht zu einer Revolution.<br />

Warum aber haben dann Anarchisten ein Dilemma?<br />

In <strong>de</strong>r Zwickmühle<br />

Sie tun sich schwer, ein an<strong>de</strong>res Konzept für ihre Rolle in <strong>de</strong>r Menschheit zu fin<strong>de</strong>n, und das ist<br />

zugegebenermaßen ja auch nicht leicht. Objektiv betrachtet erfüllen Anarchisten )a tatsächlich einige <strong>de</strong>r<br />

Voraussetzungen, Avantgar<strong>de</strong> zu sein: Sie haben ein Konzept einer an<strong>de</strong>ren, möglicherweise besseren<br />

Gesellschaft und stehen mit dieser I<strong>de</strong>e ziemlich alleine - wer wollte das bestreiten? Sie versuchen, diese<br />

Gesellschaft zu erreichen und heben sich dadurch von <strong>de</strong>n meisten an<strong>de</strong>ren Menschen ab. Sie treiben<br />

diese Entwicklung voran und wer<strong>de</strong>n dadurch zu einer Gruppe, die an<strong>de</strong>rs ist. Sie versuchen, an<strong>de</strong>re<br />

Menschen zu überzeugen und zum Mitmachen zu bewegen, entwickeln Mo<strong>de</strong>lle, Strategien und Aktionen<br />

und wer<strong>de</strong>n damit zum Vorboten <strong>de</strong>ssen, was sie als Zukunft ansehen.<br />

126<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Vom Vorboten zur Avantgar<strong>de</strong> aber ist es nur noch ein kleiner Schritt. Auf diesen kleinen Unterschied<br />

kommt es jedoch an. Es ist <strong>de</strong>r Unterschied in <strong>de</strong>r eigenen Einschätzung. Er fußt auf <strong>de</strong>r Vorstellung von<br />

<strong>de</strong>m, was eine ›Revolution‹ ist und folglich <strong>de</strong>r Rolle, die ein ›Revolutionär‹ hierbei zu spielen hat. Die<br />

Frage also nach <strong>de</strong>m Selbstverständnis <strong>de</strong>r Anarchisten.<br />

Heute sehen die meisten Anarchisten die Revolution als einen Prozeß, <strong>de</strong>r sich in stetigen Entwicklungen<br />

und plötzlichen Explosionen vollzieht. In <strong>de</strong>r Vergangenheit war das Augenmerk fast gänzlich auf diese<br />

›Explosionen‹ gerichtet, die man mit Revolution gleichzusetzen pflegte. Dabei han<strong>de</strong>lt es sich jedoch<br />

lediglich um Revolten, Umstürze, die manchmal unumgänglich wer<strong>de</strong>n, damit die Umwälzung einen<br />

Wi<strong>de</strong>rstand durchbricht, um ihren Weg fortzusetzen. Revolution aber ist nicht, wenn's knallt, son<strong>de</strong>rn,<br />

wenn's sich wen<strong>de</strong>t. Starrt man nur auf <strong>de</strong>n Knall, dann mag die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Avantgar<strong>de</strong> ganz tauglich sein,<br />

<strong>de</strong>nn für <strong>de</strong>n Knalleffekt ist sie allemal gut.<br />

Früher hingen fast alle revolutionären Bewegungen <strong>de</strong>m ›Knalleffekt‹ an, auch die große Mehrheit <strong>de</strong>r<br />

Anarchisten. Zwar kann man einem Bakunin nicht gera<strong>de</strong> vorwerfen, er hätte sich nicht ausgiebig<br />

Gedanken über die künftige Gesellschaft gemacht, aber entstehen sollte sie bei ihm doch überwiegend aus<br />

<strong>de</strong>r Revolte heraus. Folglich sieht er anarchistische Revolutionäre durchaus in einer gewissen<br />

Avantgar<strong>de</strong>funktion. Immerhin tut er das kritisch und betrachtet dies als eine Art notwendiges Übel, <strong>de</strong>m<br />

Zügel anzulegen seien, wenn er schreibt: "Sie läßt <strong>de</strong>r revolutionären Bewegung <strong>de</strong>r Massen ihre volle<br />

Entwicklung und ihren Aufbau von unten nach oben durch freiwillige Fö<strong>de</strong>rationen und die unbedingte<br />

Freiheit, aber sie wacht stets darüber, daß hierbei nie Autoritäten, Regierungen und Staaten wie<strong>de</strong>r<br />

gebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n können." Dagegen wäre nicht viel einzuwen<strong>de</strong>n, außer <strong>de</strong>r kritischen Frage, was <strong>de</strong>nn die<br />

"revolutionäre Bewegung <strong>de</strong>r Massen" sei und warum die Anarchisten nicht dazugehörten, son<strong>de</strong>rn<br />

offenbar irgendwo daneben o<strong>de</strong>r darüber stün<strong>de</strong>n?


Eine an<strong>de</strong>re Vorstellung von Revolution<br />

Woher aber sollte ein solch gewaltiger Stimmungsumschwung "<strong>de</strong>r Massen" kommen? Not und<br />

revolutionäre Drohgebär<strong>de</strong> alleine genügten dazu offenbar nicht. Und auch <strong>de</strong>r ›Knall‹ bringt nicht<br />

unbedingt ›Wen<strong>de</strong>‹.<br />

Während Marx und seine Nachfolger emsig an einer Steigerung ihres Avantgar<strong>de</strong>-Mo<strong>de</strong>lls arbeiteten,<br />

befielen die Anarchisten schon bald Zweifel an ihren bisherigen Konzepten. Bereits bei Kropotkin,<br />

Malatesta, Nettlau und <strong>de</strong>m spanischen Anarchisten Tarrida <strong>de</strong>l Mármol fin<strong>de</strong>n wir differenziertere<br />

Vorstellungen von Revolution. Um die Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> schließlich fand <strong>de</strong>r Anarchismus in Gustav<br />

Landauer einen <strong>de</strong>r tiefsten Denker, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Vielschichtigkeit revolutionärer Prozesse auch praktische<br />

Konsequenzen zog.<br />

Nach seiner Meinung ist je<strong>de</strong>r Umsturz zum Scheitern verurteilt, <strong>de</strong>r nicht auf <strong>de</strong>r breiten Überzeugung<br />

<strong>de</strong>rjenigen beruht, für die er gedacht sein soll. Folglich müßten die Bedingungen für eine Revolution<br />

vorher bereits geschaffen wer<strong>de</strong>n. Es gälte, die nötigen Tugen<strong>de</strong>n praktisch zu erlernen, Erfahrungen zu<br />

sammeln. Gegenmo<strong>de</strong>lle vorzubereiten<br />

127<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

und Vertrauen in die eigene Kraft zu gewinnen. Nicht bei einer Avantgar<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn in Form einer<br />

breiten, sozialen Bewegung. Diese wäre dann sowohl in <strong>de</strong>r Lage, <strong>de</strong>n ›Knall‹ wie die ›Wen<strong>de</strong>‹<br />

herbeizuführen und <strong>de</strong>r Clou an <strong>de</strong>r Sache sei, daß, je tiefer diese Bewegung reiche, <strong>de</strong>sto kleiner und<br />

unblutiger am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Knall ausfallen müsse. Wobei Landauer übrigens Wert darauf legt, die Tiefe <strong>de</strong>r<br />

Bewegung nicht nur an ihrer Größe, son<strong>de</strong>rn vor allem an ihren Qualitäten zu bemessen.<br />

Das ist, vereinfacht gesagt, das ›Strickmuster‹ mo<strong>de</strong>rner anarchistischer Revolutionstheorie, auf das<br />

Landauer natürlich nicht als einziger gekommen ist. Interessanterweise entwickelten die<br />

klassenkämpferischen Anarchisten zur gleichen Zeit mit <strong>de</strong>m Anarchosyndikalismus ein<br />

Gewerkschaftsmo<strong>de</strong>ll, das <strong>de</strong>r gleichen Grundi<strong>de</strong>e folgt; soziale Bewegung, Knall und Wen<strong>de</strong>, und: je<br />

tiefer die Bewegung, <strong>de</strong>sto gebremster <strong>de</strong>r Knall.<br />

Eine solche Bewegung kann, je nach Situation, in Opposition und Kampf gegen die bestehen<strong>de</strong><br />

Gesellschaft entstehen — wie <strong>de</strong>r Syndikalismus —, o<strong>de</strong>r sich parallel zu ihr entwickeln und weitgehend<br />

abkoppeln. Diese I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s teilweisen Ausstiegs, in <strong>de</strong>m Freiräume für soziale Experimente als Urzellen<br />

einer künftigen Gesellschaft entstehen können, ist das Originelle an Landauers praktischen<br />

Konsequenzen, die er aus seiner Revolutionstheorie ableitete. Insofern ist er ebenso ein Inspirator <strong>de</strong>r<br />

Kibuzzim in Palästina wie <strong>de</strong>r colectivida<strong>de</strong>s libertarias in Spanien und sogar ein Urahn <strong>de</strong>s heutigen<br />

›Projektanarchismus‹, <strong>de</strong>r sich vermehrt seit <strong>de</strong>n achtziger Jahren ausbreitet.<br />

Menschen mit so unterschiedlichen praktischen Ansätzen zur Befreiung wie Martin Buber, Max Nettlau,<br />

Rudolf Rocker, Augustin Souchy o<strong>de</strong>r Erich Mühsam stehen in <strong>de</strong>r Tradition <strong>de</strong>r Landauerschen<br />

Revolutionsvorstellung. Diese ›Grammatik <strong>de</strong>r Revolution‹ läßt sich bei Gandhis lautlosem Aufstand<br />

ebenso wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>cken wie in <strong>de</strong>r Spanischen Revolution, bei <strong>de</strong>r anarchopazifistischen Grassroot-<br />

Bewegung wie in Murray Bookchins Öko-Anarchismus o<strong>de</strong>r bestimmten Bereichen <strong>de</strong>r neuen sozialen<br />

Bewegungen bis hin zu bolo'bolo*. Erich Mühsam, <strong>de</strong>r Dichter, faßte sie in <strong>de</strong>n schönen Aphorismus<br />

"Wirklichkeit wächst aus Verwirklichung".<br />

Abschied vom einsamen Hel<strong>de</strong>n<br />

Ein solches Revolutionskonzept bietet auch <strong>de</strong>njenigen, die sich für Revolutionäre halten, die Chance zu<br />

einem an<strong>de</strong>ren Selbstverständnis. Sie wären damit von <strong>de</strong>r Schizophrenie entbun<strong>de</strong>n, letztendlich<br />

"diktatorische Befreier" zu sein:


Nicht Revolutionäre ›machen‹ die Revolution, son<strong>de</strong>rn die Menschen, die ihr Leben än<strong>de</strong>rn wollen. Wenn<br />

die nicht mitmachen, wäre es keine Revolution, son<strong>de</strong>rn ein Putsch, bestenfalls eine Revolte.<br />

Revolutionäre bewegen sich inmitten dieser Menschen und helfen dabei, Ansätze zu fin<strong>de</strong>n, aufzubauen<br />

und voranzutreiben. Diese Ansätze können die unterschiedlichsten Formen haben: von geistigem Wirken<br />

über Gegenmo<strong>de</strong>lle, soziale Bewegungen, Wi<strong>de</strong>rstand, bis hin zur Organisation <strong>de</strong>r Revolte, wenn sie<br />

notwendig wird. Wichtig ist, daß sich diese Ansätze nicht isolieren, daß sie an <strong>de</strong>n realen Problemen und<br />

Bedürfnissen <strong>de</strong>r Menschen ansetzen und Zugänge schaffen, damit sie wachsen.<br />

128<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Hier wäre <strong>de</strong>r Platz <strong>de</strong>s Revolutionärs, hier könnte er wirken. Je mehr er inmitten solcher Menschen<br />

wirkte, <strong>de</strong>sto weniger höbe er sich von ihnen ab. Er wäre Teil ihrer Bewegung, nicht ihr Lenker. In einem<br />

solchen Prozeß lernten die Menschen ebenso von ihm wie er von <strong>de</strong>n Menschen lernen könnte – er<br />

verän<strong>de</strong>rte sich.<br />

Es klingt lächerlich, aber manchen E<strong>de</strong>lrevoluzzern muß es einfach mal gesagt wer<strong>de</strong>n: Revolutionäre<br />

sind auch bloß Menschen! Vor allem sind sie nichts Besseres, und ob das, was sie glauben zu wissen, so<br />

richtig und gut ist, muß sich erst noch herausstellen. Ihre Aufgabe ist es je<strong>de</strong>nfalls nicht, <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>r<br />

Menschheit zu ›beglücken‹, son<strong>de</strong>rn sich mit ihnen gemeinsam etwas zu erkämpfen, was man bei einem<br />

verzeihlichen Hang zur Romantik meinethalben ›Glück‹ nennen kann.<br />

Dieses ›Glück‹ muß aber auch das Leben <strong>de</strong>s Revolutionärs betreffen. Er tut das, was er tut, nicht in erster<br />

Linie für an<strong>de</strong>re, son<strong>de</strong>rn für sich. Selbstlose Hel<strong>de</strong>n sind unglaubwürdig, und wenn <strong>de</strong>r Held selbst nichts<br />

mit <strong>de</strong>n Zielen, für die er kämpft, anzufangen weiß, ist er auf <strong>de</strong>m Holzweg. Sein letztes Ziel muß es<br />

bleiben, sich als ›Revolutionär‹ selbst entbehrlich zu machen. Sobald eine Revolution wirklich<br />

stattgefun<strong>de</strong>n hat, müssen ›Revolutionäre‹ verschwin<strong>de</strong>n, weil sie überflüssig gewor<strong>de</strong>n sind. Geschieht<br />

das nicht, ist irgendwas faul. In <strong>de</strong>m Augenblick aber, wo Revolutionäre vorgeben, nichts für sich und<br />

alles nur ›für das Volk‹ zu tun, wer<strong>de</strong>n sie zu einer Avantgar<strong>de</strong>. Die Revolution wird unglaubwürdig und<br />

fängt an zu stinken.<br />

Pilze in Sauerteig<br />

Anarchisten verstehen heute ihre Rolle im revolutionären Prozeß daher kaum noch als Avantgar<strong>de</strong>.<br />

Diejenigen, die es immer noch tun, sind entwe<strong>de</strong>r bei einem halbverstan<strong>de</strong>nen Bakunin stehengeblieben<br />

o<strong>de</strong>r begeistern sich an roten Mythen aus <strong>de</strong>r Mottenkiste <strong>de</strong>s Leninismus, die mit Anarchie nichts zu tun<br />

haben. Vielleicht nehmen sie sich auch nur ein bißchen zu wichtig.<br />

Wenn Anarchisten heute ihr Wirken in mo<strong>de</strong>rnen Revolutionsszenarien mit Worten beschreiben sollen,<br />

greifen sie interessanterweise nicht mehr auf Metaphern aus <strong>de</strong>m Militärwesen zurück, son<strong>de</strong>rn eher auf<br />

Analogien aus <strong>de</strong>r Natur. So vergleichen sie sich heute gerne mit <strong>de</strong>r Hefe in einem Teig, die sich mit<br />

<strong>de</strong>m Mehl vermischt, gärt, Anstoß gibt, ein Wachstum bewirkt und schließlich eine neue Qualität<br />

hervorbringt: aus <strong>de</strong>m Teig ist Brot gewor<strong>de</strong>n.<br />

Die Freun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s wissenschaftlichen Vergleichs umschreiben das Wirken <strong>de</strong>s Revolutionärs in <strong>de</strong>r<br />

Gesellschaft lieber mit <strong>de</strong>r Funktionsweise eines Katalysators – das ist ein Beschleuniger chemischer<br />

Prozesse, <strong>de</strong>r durch seine Anwesenheit <strong>de</strong>n Anstoß zu einer chemischen Reaktion gibt, zu einer<br />

Verän<strong>de</strong>rung also. Wobei die Symbolik noch weiter geht: nicht <strong>de</strong>r Katalysator ›macht‹ die Verän<strong>de</strong>rung,<br />

son<strong>de</strong>rn lediglich die beteiligten Substanzen sind am Prozeß beteiligt. Und das passen<strong>de</strong> Bild zu einer<br />

revolutionären Organisation ist nicht länger <strong>de</strong>r Verschwörerzirkel, son<strong>de</strong>rn wahlweise das Mycel o<strong>de</strong>r<br />

das Rhizom. Sowohl das "Pilzgeflecht" als auch das "Wurzelwerk" durchdringen das Erdreich, lockern es<br />

auf, sind extrem wi<strong>de</strong>rstandsfähig und schwer zu bekämpfen.<br />

129


--------------------------------------------------------------------------------<br />

Um bei <strong>de</strong>r Metapher mit <strong>de</strong>m Hefeteig zu bleiben: Anarchisten sind dazu übergegangen, lieber viele<br />

›kleine Brötchen zu backen‹, anstatt theatralisch mit <strong>de</strong>r Faust auf einen Sack Mehl zu hauen.<br />

Literatur:<br />

/ Gustav Landauer: Revolution Berlin 1977, Karin Kramer, 160 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Erkenntnis und Befreiung Frankfurt/M. 1976, Suhrkamp, 106 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Zwang und Befreiung Köln 1968, Hegner, 274 S.<br />

/ Siegbert Wolf: Gustav Landauer zur Einführung Hamburg 1988, Junius, 137 S.<br />

/ Max Nettlau: Die Eugenik <strong>de</strong>r Anarchie Wetzlar 1985, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 207 S.<br />

/ Rudolf Rocker: Gefahren <strong>de</strong>r Revolution Hamburg 1980, Die Freie Gesellschaft, 34 S.<br />

/ Helmut Rüdiger: Der Sozialismus wird frei sein Berlin 1991, Oppo, 93 S.<br />

/ Harry Pross: Zwänge Berlin 1981, Karin Kramer, 184 S.<br />

130<br />

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Kapitel 19<br />

Die freie Gesellschaft – eine Utopie?<br />

Es gibt ein an<strong>de</strong>res Leben.<br />

Wir können aus <strong>de</strong>r Wirtschaftsmaschine aussteigen,<br />

ohne umzukommen.<br />

– P.M. –<br />

IN EINER ZEIT, in <strong>de</strong>r die große Illusion unseres Jahrhun<strong>de</strong>rts, <strong>de</strong>r Marxismus, weltweit seinen eigenen<br />

Bankrott vorgeführt hat, ist es obsolet* gewor<strong>de</strong>n, das Wort ›Utopie‹ auch nur in <strong>de</strong>n Mund zu nehmen.<br />

Tragisch daran ist, daß das, was unter ›Kommunismus‹ firmierte, nie eine wirkliche Alternative zur<br />

staatlich-kapitalistischen Megamaschine war. Und beson<strong>de</strong>rs grotesk ist, daß das Scheitern einer solchen<br />

falschen Alternative <strong>de</strong>n Menschen die Fähigkeit nimmt, über wirkliche Alternativen nachzu<strong>de</strong>nken –<br />

zumin<strong>de</strong>st für etliche Zeit.<br />

Das Gegenteil sollte <strong>de</strong>r Fall sein: Gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r so unerwartete Zusammenbruch jenes festgefügten Super-<br />

Imperiums namens "real existieren<strong>de</strong>r Sozialismus" müßte uns daran erinnern, auf welch schwachen<br />

Füßen Gesellschaften stehen, die allgemein als stabil angesehen wer<strong>de</strong>n und für die Ewigkeit gemacht<br />

scheinen. Es ist mehr eine peinliche Pflicht als Rechthaberei darauf hinzuweisen, daß Anarchisten seit <strong>de</strong>n<br />

Tagen, als es <strong>de</strong>n ›Kommunismus‹ erst als I<strong>de</strong>enskizze gab, sein Scheitern vorausgesagt haben und die<br />

Grün<strong>de</strong> für dieses Scheitern benannten.<br />

Seit sich vor über hun<strong>de</strong>rtzwanzig Jahren die bei<strong>de</strong>n ›spinnerten Utopisten‹ Marx und Bakunin so<br />

wortgewaltig fetzten, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Anarchismus nicht mü<strong>de</strong>, jenem falschen Ansatzes <strong>de</strong>n Diagnostiker* zu<br />

spielen. Er hat seinen Krankheitsverlauf richtig vorausgesagt und seine Fieberkurve gewissenhaft<br />

kommentiert. Darin recht behalten zu haben, ist jedoch kein Grund zu hämischer Freu<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r<br />

Kommunismus hat millionenfach Begeisterung geweckt, Kräfte mobilisiert und Hoffnungen genährt – sie<br />

alle wur<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>m Altar <strong>de</strong>r Autorität <strong>de</strong>n Göttern Zentralismus und Bürokratie geopfert. Im Denken<br />

vieler Menschen wird diese gescheiterte Illusion eine lang anhalten<strong>de</strong> Wun<strong>de</strong> hinterlassen – eine Scheu,<br />

über Alternativen zum <strong>de</strong>m was besteht auch nur nachzu<strong>de</strong>nken.<br />

Schlechte Zeiten also für Träume.<br />

130


--------------------------------------------------------------------------------<br />

Daran zu erinnern, sagte ich, sei Anarchisten eine peinliche Pflicht. Peinlich, weil es für sie beschämend<br />

wäre, in <strong>de</strong>n Verdacht billiger Effekthascherei zu geraten. Sie möchten sich ungern in <strong>de</strong>n Chor <strong>de</strong>r<br />

überheblichen Leichenfled<strong>de</strong>rer einreihen, die selbst keinerlei Lösungen anzubieten haben und <strong>de</strong>shalb<br />

besser daran täten zu schweigen. Pflicht, weil gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Zusammenbruch <strong>de</strong>s Kommunismus die<br />

Aufmerksamkeit auf unsere Gesellschaft lenken muß, die ebenso unerwartet zusammenbrechen könnte:<br />

Auch die westliche Mainstream-Gesellschaft, nennen wir sie nun "Demokratie", "Kapitalismus",<br />

"westliches Mo<strong>de</strong>ll", "freie Marktwirtschaft" o<strong>de</strong>r "Megamaschine", erscheint uns heute unangefochten,<br />

stabil, funktionstüchtig, ohne Alternative und einsam konkurrenzlos. Die meisten Menschen können sich<br />

schlicht nichts an<strong>de</strong>res vorstellen. Es gibt ja auch nichts neben ihr.<br />

An<strong>de</strong>rerseits wissen wir um die Krämpfe und Krisen dieser Gesellschaft, die Hohlheit ihrer Werte und die<br />

Schwächen ihrer tragen<strong>de</strong>n Säulen. Vom maro<strong>de</strong>n Geldsystem über die Ungerechtigkeit <strong>de</strong>r Verteilung<br />

bis hin zur grundsätzlichen Unfreiheit aller Menschen in ihr liefert das staatliche System, das lückenlos<br />

überall auf dieser Er<strong>de</strong> existiert, Tag für Tag schlagen<strong>de</strong> Beweise seines Versagens. Für seine Befürworter<br />

sind all das kleinere Betriebspannen. Für an<strong>de</strong>re jedoch strukturelle Schwächen, die mit <strong>de</strong>m<br />

Zusammenbruch auch dieses Systems en<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r mit einer Katastrophe für uns alle. Zu diesen<br />

"an<strong>de</strong>ren" gehören seit jeher die Anarchisten.<br />

Utopie<br />

Wie wir gesehen haben, schlagen Anarchisten eine völlig an<strong>de</strong>rsartige Gesellschaft vor; eine Gesellschaft,<br />

in <strong>de</strong>r Freiheit das leiten<strong>de</strong> Prinzip bil<strong>de</strong>n soll. Ist aber eine solche Gesellschaft nicht utopisch?<br />

Ja und nein: Je nach<strong>de</strong>m, was wir unter ›Utopie‹ verstehen, ist Anarchie utopisch o<strong>de</strong>r fast<br />

unausweichlich folgerichtig.<br />

Das Wort utopia kommt aus <strong>de</strong>m Griechischen und be<strong>de</strong>utet "Nicht-Land" o<strong>de</strong>r "an einem an<strong>de</strong>ren Ort".<br />

Zur Zeit <strong>de</strong>s Absolutismus*, als je<strong>de</strong> Kritik an <strong>de</strong>n herrschen<strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Kritiker leicht <strong>de</strong>n Kopf<br />

hätte kosten können, pflegten Menschen, die sich Gedanken über eine vollkommenere Gesellschaft<br />

machten, diese in ferne Erdteile zu verlegen o<strong>de</strong>r auf erfun<strong>de</strong>nen Inseln anzusie<strong>de</strong>ln. Obwohl je<strong>de</strong>r wußte,<br />

was in Wirklichkeit gemeint war, konnte so <strong>de</strong>r Zensor nicht eingreifen. Thomas Morus nannte seine<br />

I<strong>de</strong>alinsel im Jahre 1514 als erster Utopia, und dieser Name bürgerte sich ein. Im Sinne <strong>de</strong>r klassischen<br />

›Utopisten‹ ist eine Utopie kein schöner Wunschtraum, <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>r nicht möglich ist, son<strong>de</strong>rn ein möglicher<br />

Traum, <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>r noch nicht verwirklicht ist. Utopien sind also Skizzen von Gesellschaften, wie sie sein<br />

könnten und sollten, durchzogen von radikaler Kritik an <strong>de</strong>n herrschen<strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong>n. In diesem Sinne ist<br />

Anarchie eine Utopie – noch.<br />

Die Umgangssprache in<strong>de</strong>s hat sich die Sichtweise <strong>de</strong>s absolutistischen Zensors zu eigen gemacht. Für<br />

<strong>de</strong>n Durchschnittsbürger ist Utopie schlicht ein Hirngespinst, ein bloßer Wunschtraum, unrealistisch und<br />

dumm. Der Du<strong>de</strong>n sekundiert* in <strong>de</strong>r bereits bekannten<br />

131<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Weise, in<strong>de</strong>m er unter Utopie einen "als undurchführbar gelten<strong>de</strong>n Plan", eine "nicht realisierbare I<strong>de</strong>e"<br />

versteht. In diesem Sinne ist Anarchie nicht utopisch.<br />

Wie das? Ist es etwa keine absur<strong>de</strong> I<strong>de</strong>e, anzunehmen, eine Gesellschaft könne funktionieren, in <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r<br />

tun und lassen kann, was er will? Brauchte es für die Anarchie nicht einen ganz neuen Menschen, <strong>de</strong>r gut,<br />

e<strong>de</strong>l und lammfromm ist? Ist aber <strong>de</strong>r Mensch etwa nicht egoistisch und unfriedlich? Und ist vor allem


die Grundannahme einer Gesellschaft ohne Hierarchie nicht schon <strong>de</strong>shalb töricht, weil <strong>de</strong>r Mensch<br />

hierarchisch programmiert ist und Hierarchie braucht?<br />

In <strong>de</strong>n vorangegangenen Kapiteln haben wir diese Fragen erörtert und gesehen, daß in <strong>de</strong>r Anarchie eben<br />

nicht je<strong>de</strong>r alles tun kann, was er will, aber eben sehr viel mehr als ihm heute erlaubt ist. Auch ein ›neuer<br />

Mensch‹ wird nach Meinung <strong>de</strong>r Anarchisten nicht vom Himmel fallen, ebensowenig wie eine neue<br />

Gesellschaft. Tatsache ist aber, daß <strong>de</strong>r heutige Mensch sich in <strong>de</strong>r ›Utopie von gestern‹, <strong>de</strong>r Demokratie,<br />

inzwischen ganz gut zurechtfin<strong>de</strong>t. Das zeigt, daß auch er im Laufe <strong>de</strong>r Zeit von seiner sozialen<br />

Wirklichkeit geprägt und verän<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n ist, gera<strong>de</strong> so, wie <strong>de</strong>r künftige Mensch es in <strong>de</strong>r ›Utopie von<br />

morgen‹ <strong>de</strong>r Anarchie, sein könnte. Wir haben ferner gehört, daß <strong>de</strong>r Anarchismus <strong>de</strong>n Anspruch erhebt,<br />

in seiner Vielfalt <strong>de</strong>m sozialen Egoismus <strong>de</strong>s Menschen eher gerecht zu wer<strong>de</strong>n als die Nivellierung in<br />

unseren heutigen Systemen. Und wir haben uns mit <strong>de</strong>m frommen Märchen auseinan<strong>de</strong>rgesetzt, daß<br />

Unterdrückung ein Lebenselixier sei und Hierarchie eine biologische Komponente, die, weil sie<br />

unbestreitbar existieren, auch Prinzipien unseres Lebens sein müßten.<br />

All diese Gegenargumente <strong>de</strong>r Libertären sind plausible Spekulationen und beantworten nicht die Frage,<br />

wie realistisch eine anarchische Gesellschaft sein kann. Wen<strong>de</strong>n wir uns also zum Abschluß <strong>de</strong>n<br />

verbleiben<strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rsprüchen zu – jenen praktischen Fragen, die <strong>de</strong>n meisten Menschen eine freie<br />

Gesellschaft unrealistisch erscheinen lassen.<br />

I<strong>de</strong>al und Wirklichkeit<br />

Aus <strong>de</strong>r Kritik an schlechten Zustän<strong>de</strong>n erwachsen schöne Bil<strong>de</strong>r, I<strong>de</strong>ale. Das gilt für je<strong>de</strong> soziale,<br />

politische o<strong>de</strong>r religiöse Bewegung. Daß sich das reale<br />

Leben nicht i<strong>de</strong>al vollzieht, ist eine Binsenweisheit. Und: I<strong>de</strong>ale aufzustellen kostet nichts. Es trotz<strong>de</strong>m zu<br />

tun ist in<strong>de</strong>s nicht nur legitim, es wäre unverzeihlich, es zu unterlassen. Ob die Realität jemals das I<strong>de</strong>al<br />

erreicht, ist nicht die Frage, auf die es letztendlich ankommt, son<strong>de</strong>rn welchem I<strong>de</strong>al die Realität zustrebt.<br />

"Diejenigen, die immer nur das Mögliche for<strong>de</strong>rn, erreichen gar nichts", schrieb schon <strong>de</strong>r um griffige<br />

Formeln nie verlegene Bakunin, "diejenigen, die aber das Unmögliche for<strong>de</strong>rn, erreichen wenigstens das<br />

Mögliche."<br />

Das klingt nun ein bißchen wie taktischer Rückzug aus <strong>de</strong>r Utopie, nach <strong>de</strong>m Motto: "So ernst war das ja<br />

alles nicht gemeint!" Dieser Eindruck aber wäre falsch. Im Gegenteil zeigt dieses Zitat, daß <strong>de</strong>r<br />

anarchistische Gesellschaftsentwurf in einer sehr radikalen Weise pragmatisch ist. Er stellt in <strong>de</strong>r Tat die<br />

konkrete Umsetzung seiner wesentlichen For<strong>de</strong>rungen weit vor die Bindung an ein lupenreines I<strong>de</strong>al. Er<br />

ist keine Religion, son<strong>de</strong>rn Bewegung,<br />

132<br />

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keine Denkschule, son<strong>de</strong>rn kreative Tat. I<strong>de</strong>ale sind hierbei Pole, die dieser Bewegung ihre Richtung<br />

geben und sie an <strong>de</strong>r Erstarrung hin<strong>de</strong>rn, aber keine kirchlichen Dogmen. Im Gegensatz etwa zur<br />

Sozial<strong>de</strong>mokratie, die ihre I<strong>de</strong>ale aus lauter ›Realismus‹ schon erwürgt, bevor sie sie ausspricht (und<br />

folgerichtig längst verloren hat), ergibt sich <strong>de</strong>r Realismus bei Anarchisten quasi automatisch bei <strong>de</strong>r<br />

undogmatischen Umsetzung von I<strong>de</strong>alen im wirklichen Leben. Die Ziele jedoch – I<strong>de</strong>ale, die aus <strong>de</strong>r<br />

radikalen Kritik an <strong>de</strong>r Gegenwart entstan<strong>de</strong>n -, wer<strong>de</strong>n nicht zurückgenommen. Genau hier verläuft die<br />

Trennungslinie zwischen Kompromißlertum und Pragmatismus.<br />

Anarchismus mag sich als die Lehre einer i<strong>de</strong>alen Gesellschaft verstehen, aber Anarchie wird mit<br />

Sicherheit keine i<strong>de</strong>ale Gesellschaft sein. Natürlich wür<strong>de</strong> es ›in <strong>de</strong>r Anarchie‹ Menschen geben, die mit<br />

ihrer Freiheit nicht zurechtkommen. Es gäbe mit Sicherheit auch Aggression und Haß, Eifersucht und<br />

Ungerechtigkeit, Neid und Unterdrückung, Kriminalität und bewaffnete Konflikte. Das ist aber nicht <strong>de</strong>r<br />

springen<strong>de</strong> Punkt. Denn die pragmatische Seele <strong>de</strong>s Anarchismus stellt hierzu eine verblüffend naive<br />

Frage: Wieviel dieser negativen Dinge wird es in einer an-archischen Gesellschaft noch geben, und wie<br />

gehen wir mit <strong>de</strong>m Rest um?


Beispiel Kriminalität<br />

Nehmen wir das große Angstthema Kriminalität. Der Anarchismus behauptet, daß soziale Ungleichheit<br />

die häufigste Ursache von Verbrechen ist, und nur ein<br />

geringerer Teil <strong>de</strong>r ›Kriminellen‹ sich aus psychischen o<strong>de</strong>r somalischen* Grün<strong>de</strong>n abnorm verhält. Sein<br />

I<strong>de</strong>al besagt, daß ›in <strong>de</strong>r Anarchie‹ Kriminalität faktisch ausstirbt, und daß Menschen, die sich trotz<strong>de</strong>m<br />

gegen die Gesellschaft vergehen, Hilfe statt Strafe zuteil wird. Projiziert man dieses I<strong>de</strong>al nun auf die<br />

pragmatische Vorstellung einer an-archischen Gesellschaft, so darf man in <strong>de</strong>r Tat davon ausgehen, daß<br />

vieles von <strong>de</strong>m, was heute als ›kriminell‹ eingestuft wird und strafbar ist, völlig absurd wer<strong>de</strong>n dürfte. Der<br />

überwiegen<strong>de</strong> Teil aller Straftaten sind Eigentums<strong>de</strong>likte; Eigentum ist ein Grundprinzip <strong>de</strong>s Römischen<br />

Rechts und somit unserer Justiz. In einer an-archischen Gesellschaft kämen jedoch an<strong>de</strong>re Grundwerte<br />

zum Tragen. Sofern sie nach <strong>de</strong>n Prinzipien einer libertären Bedarfswirtschaft organisiert wäre, in <strong>de</strong>r<br />

ohnehin das meiste kostenlos zur Verfügung steht, wür<strong>de</strong>n Diebstahl, Raub o<strong>de</strong>r Betrug zu<br />

Sinnlosigkeiten, in einer geldfreien Solidarwirtschaft gar zu einer ziemlichen Unmöglichkeit. Zu Zeiten,<br />

als die gesellschaftliche Wirklichkeit aus Hunger und A<strong>de</strong>lsprivilegien bestand, war beispielsweise<br />

Wil<strong>de</strong>rei ein häufiges Eigentums<strong>de</strong>likt, das mit <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> bestraft wur<strong>de</strong>. Mit <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r<br />

Gesellschaft verlor dieses Verbrechen seine Be<strong>de</strong>utung. Die wenigen verbliebenen Wilddiebe gefähr<strong>de</strong>n<br />

heute keineswegs <strong>de</strong>n Bestand unserer Republik. Das jedoch, was nach <strong>de</strong>n anarchistischen Grundwerten<br />

wirtschaftlich ›kriminell‹ ist (und bei uns eine Tugend), nämlich Kapitalakkumulation, Zinsknechtschaft,<br />

Ausbeutung o<strong>de</strong>r Spekulation, wäre innerhalb <strong>de</strong>r Strukturen einer an-archischen Gesellschaft im großen<br />

Stil unmöglich, im kleinen Stil ungemein erschwert. Überdies wür<strong>de</strong> es in einer Gesellschaft, in <strong>de</strong>r<br />

Sozialprestige kaum noch mit Besitz o<strong>de</strong>r Geld erkauft wer<strong>de</strong>n<br />

133<br />

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kann, für <strong>de</strong>n Einzelnen wenig verlockend. Das heißt aber nicht, daß sich nicht immer noch Menschen -<br />

aus welchen Grün<strong>de</strong>n auch immer - an individuellem Besitz an<strong>de</strong>rer Menschen vergehen könnten. Nur: es<br />

macht einen enormen sozialen Unterschied, ob eine Gesellschaft auf Eigentum gegrün<strong>de</strong>t ist, o<strong>de</strong>r ob <strong>de</strong>r<br />

Besitz privater Güter eine eher unwichtige Nebensächlichkeit darstellt. Ebenso, wie es einen praktischen<br />

Unterschied macht, ob eine Gesellschaft jährlich mit drei Millionen o<strong>de</strong>r mit zehntausend<br />

Eigentums<strong>de</strong>likten zurechtkommen muß.<br />

Ähnliche Überlegungen lassen sich zu Gewaltverbrechen anstellen. Soziale Unterdrückung,<br />

Marginalisierung*, Armut, sexuelle Repression, gesellschaftliche Frustrationen* können zu Verbrechen<br />

wie Mord, Amoklauf, Raubüberfall, Vergewaltigung, Freiheitsberaubung o<strong>de</strong>r Geiselnahme führen. Es ist<br />

nicht abwegig, anzunehmen, daß in einer Gesellschaft, die repressionsärmer, <strong>de</strong>zentraler, sozial<br />

integrativer, wirtschaftlich gerechter, sexuell emanzipierter und gesellschaftlich vielfältiger ist als unsere,<br />

diese spezifischen Ursachen von Gewaltkriminalität ganz erheblich abnehmen dürften. Das Töten im<br />

Duell etwa war in einer feudalen A<strong>de</strong>lsgesellschaft ein häufiges aber völlig legales Gewaltverbrechen,<br />

weil in ihrem ethischen Mittelpunkt ein strikter Ehrbegriff stand. Zusammen mit seinen gesellschaftlichen<br />

Ursachen ist es schließlich völlig verschwun<strong>de</strong>n. Aber selbst wenn alle Ursachen für Kriminalität<br />

minimiert wer<strong>de</strong>n könnten, wür<strong>de</strong> es ohne Zweifel auch in einer an-archischen Gesellschaft noch immer<br />

Menschen geben, die scheinbar ›grundlos‹ an<strong>de</strong>re Menschen töten, verletzen, vergewaltigen o<strong>de</strong>r<br />

bedrängen.<br />

Als letztes Beispiel zur ›Kriminalität‹ sei jene große Gruppe von Delikten genannt, die auf <strong>de</strong>n<br />

Gleichmachungszwang unserer starren Gesellschaftsstrukturen zurückzuführen ist. Unsere Gesetze sind<br />

von einer oft unsinnigen normativen Kraft bestimmt, die die Unterschiedlichkeit <strong>de</strong>r Menschen verleugnet<br />

und ihnen folgerichtig einen Großteil ihrer Individualität und Entfaltungsfreiheit nimmt. Ein<br />

beträchtlicher Teil <strong>de</strong>r strafbaren Regelverstöße ist willkürlich festgelegt o<strong>de</strong>r reine Geschmacksache.<br />

Was ein Verbrechen ist, än<strong>de</strong>rt sich mit je<strong>de</strong>r Zeitgeist-Welle, sieht in je<strong>de</strong>m Land an<strong>de</strong>rs aus und hat oft<br />

nichts mit einer wirklichen Bedrohung <strong>de</strong>r Mitmenschen zu tun. In Karachi kann einen Moslem beim<br />

Anblick einer Flasche Bier das kalte Entsetzen packen, während in einem bayerischen Biergarten leicht<br />

jemand verhaftet wer<strong>de</strong>n wird, <strong>de</strong>r genüßlich sein Marihuana raucht.


O<strong>de</strong>r <strong>de</strong>nken wir an die Strafwürdigkeit von Häresie*, Homosexualität, Gotteslästerung o<strong>de</strong>r<br />

"Rassenschan<strong>de</strong>", die allesamt einmal to<strong>de</strong>swürdig waren. Bei uns wird die Ahndung sozialer<br />

Regelverstöße in Gesetzen vorweggenommen und <strong>de</strong>r Polizei überlassen. Das ist in einer uniformen<br />

Gesellschaft mit einer zwangsweisen Einheitsethik auch kaum an<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>nkbar. In einer polyformen<br />

Gesellschaft hingegen, die aus beliebig vielen kleinen, autonomen und frei wählbaren Gesellschaften<br />

unterschiedlicher Ethiken besteht, dürfte auch von solcher ›Kriminalität‹ wenig übrig bleiben. Trotz<strong>de</strong>m:<br />

Es wird immer Menschen geben, die nirgends klarkommen, keine soziale Heimat fin<strong>de</strong>n und auch in <strong>de</strong>r<br />

freiheitlichsten aller Gesellschaften noch gegen gesellschaftliche Regeln verstoßen.<br />

Die pragmatische Spekulation <strong>de</strong>s Anarchismus geht nun dahin, daß auf diese Reste<br />

134<br />

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sozialen Fehlverhaltens, die wir getrost ›Kriminalität‹ nennen dürfen, an<strong>de</strong>rs reagiert wer<strong>de</strong>n kann als mit<br />

einem riesigen Unterdrückungsapparat von Regierung, Justiz, Polizei, Gefängnissen o<strong>de</strong>r To<strong>de</strong>sstrafe -<br />

einem Apparat, <strong>de</strong>r überdies noch miserabel funktioniert. Alle Welt weiß, daß unser Strafsystem<br />

keineswegs dazu geeignet ist, Kriminalität zu verhin<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r gar auszurotten - es bringt sie eher noch<br />

hervor. Ebenso einsichtig ist, daß das Strafprinzip innerhalb <strong>de</strong>r Vorgaben seiner eigenen Logik<br />

unmoralisch ist, <strong>de</strong>nn es straft mit <strong>de</strong>n selben Taten, die es an<strong>de</strong>rerseits unter Strafe stellt: Geldstrafe als<br />

Form <strong>de</strong>s Diebstahls, Freiheitsstrafe als Form <strong>de</strong>r Freiheitsberaubung, To<strong>de</strong>sstrafe als Form staatlich<br />

sanktionierten Mor<strong>de</strong>s. Sollte es nicht möglich sein, in einer an<strong>de</strong>rs strukturierten Gesellschaft mit <strong>de</strong>n<br />

verbleiben<strong>de</strong>n nicht-angepaßten Menschen menschlicher zu verfahren?<br />

An dieser Stelle fin<strong>de</strong>n anarchistisches I<strong>de</strong>al und anarchistische Pragmatik wie<strong>de</strong>r zueinan<strong>de</strong>r: Wenn vor<br />

hun<strong>de</strong>rt Jahren ein Kropotkin, Proudhon, Reclus o<strong>de</strong>r Bakunin davon sprach, daß <strong>de</strong>r Kriminelle als<br />

"Kranker" Heilung statt Strafe erwarten müßte o<strong>de</strong>r als Fehlgeleiteter Verständnis und Integration statt<br />

Verfolgung und Ausgrenzung, so ist dies das I<strong>de</strong>al. Die pragmatische Realität versuchte <strong>de</strong>m zu<br />

entsprechen, als etwa 1936 in <strong>de</strong>r Spanischen Revolution die Anarchosyndikalisten inmitten eines<br />

unsäglichen Bürgerkrieges begannen, Justiz- und Strafvollzug radikal zu humanisieren und sich um<br />

Alternativen zum ›Ordnungsfaktor Polizei‹ bemühten. Eine ihrer ersten Maßnahmen in Barcelona bestand<br />

im Abriß <strong>de</strong>s berüchtigten Frauengefängnisses ...<br />

In <strong>de</strong>r Phantasie <strong>de</strong>s Bürgers allerdings bleibt von solchen Überlegungen zumeist nur <strong>de</strong>r plakative<br />

Slogan* hängen, die Anarchisten wollten die Gefängnisse abreißen, und alle Kriminellen dürften frei<br />

herumlaufen. Zu ihrer Beruhigung mag die Tatsache dienen, daß mittlerweile ein durch und durch seriöser<br />

Wissenschaftszweig namens Abolitionismus* sich ohne je<strong>de</strong>n staatsfeindlichen Hintergedanken dieses<br />

Themas angenommen hat und zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangte. Lei<strong>de</strong>r nur in <strong>de</strong>r Theorie.<br />

Soweit das Problem <strong>de</strong>r Kriminalität, das hier etwas breiter erörtert wur<strong>de</strong>, weil es die Phantasie so vieler<br />

Menschen so überdurchschnittlich beunruhigt. In <strong>de</strong>r anarchistischen Gesellschaftsutopie stecken eine<br />

ganze Menge solcher ›Beunruhigungsthemen‹, zu <strong>de</strong>nen sich ganz ähnliche Überlegungen anstellen<br />

lassen. Zum Beispiel zu Aggression*, Konflikt und Krieg.<br />

Gibt es eine aggressionsfreie Gesellschaft?<br />

Aggression ist zweifellos ein Bestandteil menschlichen Lebens, ebenso wie Liebe, Trauer o<strong>de</strong>r Solidarität.<br />

In gewissem Sinne ist sie auch für die Entwicklung<br />

<strong>de</strong>s Individuums wichtig und sollte entsprechend ausgelebt wer<strong>de</strong>n. Die utopische Gesellschaft, die<br />

Anarchisten anstreben, wird daher Aggression, insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>ren individuelle Form, we<strong>de</strong>r "abschaffen"<br />

können noch wollen. Wo es aber Aggression gibt, gibt es auch Konflikt und umgekehrt. Erst wenn sie<br />

nicht innerhalb gewisser ethischer Tabus gehalten wer<strong>de</strong>n kann, o<strong>de</strong>r wenn kulturelle Rituale zu ihrer<br />

Bewältigung fehlen, nimmt sie gesellschaftsbedroh-


135<br />

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liehe Maße an und mün<strong>de</strong>t in kollektive Konflikte. Es ist aber auch hier nicht von <strong>de</strong>r Hand zu weisen,<br />

daß in einer Gesellschaft, die in ihrer Grundstruktur gewaltfrei, kooperativ und solidarisch angelegt ist,<br />

Aggression vermutlich kein alltägliches Ritual und schon gar keine institutionalisierte Größe mehr wäre.<br />

Auch sexuelle Unterdrückung als Ursache von Haß und Selbsthaß dürfte in einer ›Gesellschaft <strong>de</strong>r freien<br />

Liebe‹ wohl spürbar abnehmen. Das gilt erst recht, wenn solche libertären Tugen<strong>de</strong>n über Generationen<br />

hinweg zu üblichen sozialen Umgangsformen <strong>de</strong>s Alltags gewor<strong>de</strong>n sind.<br />

Die höchste institutionalisierte Form aggressiver Konfliktaustragung ist <strong>de</strong>r Krieg. Er entspringt in <strong>de</strong>n<br />

seltensten Fällen einem spontanen Aggressionsgefühl, er muß vielmehr künstlich und mühsam erzeugt<br />

wer<strong>de</strong>n. Zu seiner Organisation unterhalten mo<strong>de</strong>rne Staaten gut bezahlte Eliten berufsmäßig trainierter<br />

Gewalttäter. In einer an-archischen Gesellschaft allerdings dürfte Krieg überaus schwierig zu organisieren<br />

sein, da seine wichtigsten Grundvoraussetzungen entfielen. Die Wirtschaftsstruktur böte nicht die<br />

Möglichkeit industrieller Waffenproduktion und kaum materielle Anreize für Söldner; von <strong>de</strong>r politischen<br />

Struktur her entfiele die Existenz einer stehen<strong>de</strong>n Armee ebenso wie die <strong>de</strong>r Wehrpflicht, und was die<br />

I<strong>de</strong>ologie betrifft, so gäbe es we<strong>de</strong>r eine nationale Souveränität zu verteidigen, noch kaum die<br />

massenhafte Bereitschaft überwiegend gewaltfrei <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>r Menschen, für irgendwen o<strong>de</strong>r irgendwas in<br />

<strong>de</strong>n Krieg zu ziehen und sein Leben zu riskieren. Welch subversiv-friedfertige Kraft also von einem<br />

wohlverstan<strong>de</strong>nen ›Egoismus‹ ausgehen kann, wird hier erneut <strong>de</strong>utlich. Allerdings mögen sich auch im<br />

Lan<strong>de</strong> Utopia Menschen zusammenrotten, um kollektiv Aggressionen zu verüben, die durchaus <strong>de</strong>n<br />

Namen ›Krieg‹ verdienen könnten. Ähnliches ist bei ethnischen o<strong>de</strong>r religiösen Konflikten <strong>de</strong>nkbar, o<strong>de</strong>r<br />

wenn in schwerwiegen<strong>de</strong>n Fragen kein Konsens erreicht wer<strong>de</strong>n kann und gravieren<strong>de</strong> Differenzen eine<br />

Tolerierung auszuschließen scheinen. Ein solcher ›Krieg‹ entspräche sicher nicht <strong>de</strong>m anarchistischen<br />

I<strong>de</strong>al; im Sinne anarchistischer Pragmatik wäre es aber entschie<strong>de</strong>n vorzuziehen, in einer Gesellschaft zu<br />

leben, in <strong>de</strong>r ein ›Krieg‹ sich im großen und ganzen darauf beschränken müßte, daß sich ein begrenzter<br />

Haufen zorniger Menschen mit Knüppeln, Mistgabeln und Flinten bekriegt. Es wären in diesem Fall<br />

vermutlich genau die Menschen, die tatsächlich Zorn aufeinan<strong>de</strong>r haben, was allemal besser ist, als die<br />

anonymen Stellvertreterkriege ganzer Völker unter <strong>de</strong>m absur<strong>de</strong>n Joch einer ›Wehrpflicht‹. Der dritte,<br />

unbestreitbare Vorteil wäre, daß mangels Armee, Nachschub, Logistik, Geld, Waffen und Motivation die<br />

meisten solcher ›Kriege‹ nach biologischen Grenzen ihr En<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n: Entwe<strong>de</strong>r, wenn <strong>de</strong>r Zorn<br />

verflogen ist, aus Angst, o<strong>de</strong>r durch Tod. Vielleicht auch schon dann, wenn die Krieger erschöpft sind und<br />

sich mü<strong>de</strong> schlafen legen müssen, um am Morgen darauf hungrig und frustriert zu erwachen.<br />

Möglicherweise wur<strong>de</strong> ja auch die Ursache <strong>de</strong>s Konflikts auf diese unschöne Weise ›beseitigt‹. In seinem<br />

Buch bolo'bolo geht <strong>de</strong>r Schweizer Autor P. M. sehr anschaulich weiteren Formen nach, wie in einer<br />

utopischen Gesellschaft mit Dissens umgegangen wird, wenn <strong>de</strong>r Konsens versagt.<br />

All das ist we<strong>de</strong>r i<strong>de</strong>al noch lupenrein noch wi<strong>de</strong>rspruchsfrei, aber im Vergleich zu unserer heutigen<br />

Realität eine gera<strong>de</strong>zu verlocken<strong>de</strong> Vorstellung.<br />

136<br />

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Ich will darauf verzichten, weitere <strong>de</strong>r bereits betrachteten Problemkreise auf diese Weise pragmatisch<br />

durchzuspielen, etwa die Frage <strong>de</strong>r Wirtschaft, <strong>de</strong>r Ökologie, <strong>de</strong>r freien Liebe, <strong>de</strong>r Herrschaft, <strong>de</strong>r<br />

Ordnung und ähnliches.<br />

Wir waren ja von <strong>de</strong>r Frage ausgegangen, ob die Ziele einer libertären Gesellschaft im populären Sinne<br />

<strong>de</strong>s Wortes ›utopisch‹, also unrealistisch sind. Da letztlich alles auf die Frage an<strong>de</strong>rer Grundwerte<br />

hinausläuft, muß man sich fragen, ob nicht genau dieser Ethikwan<strong>de</strong>l utopisch ist?


Wenn wir ›anarchistisch‹ als ›freiheitlich‹ <strong>de</strong>finieren, und diesen unscharfen Begriff mit Inhalten wie<br />

<strong>de</strong>zentral, nicht hierarchisch, gewaltfrei, solidarisch, fö<strong>de</strong>ralistisch, selbstverwaltet und vielfältig füllen,<br />

mit Techniken wie Konsens, Bedürfnisprinzip, freier Vereinbarung und beliebiger Assoziation o<strong>de</strong>r mit<br />

Tugen<strong>de</strong>n wie gegenseitiger Hilfe und Gewaltverzicht, so nimmt die praktische Nutzanwendung solcher<br />

Grundwerte auf konkrete Gesellschaften durchaus realistische Züge an, die bei <strong>de</strong>r bloßen anarchistischen<br />

I<strong>de</strong>alutopie ›Herrschaftsfreiheit‹ nicht ohne weiteres einleuchten. Anarchie könnte also eine realisierbare<br />

Utopie sein - unter zwei Voraussetzungen. Erstens, daß diese Utopie mit pragmatischen Maßstäben<br />

angegangen wird; eine rein i<strong>de</strong>altypische Anarchie wür<strong>de</strong> Religion bleiben und mithin unrealistische<br />

Utopie im Sinne <strong>de</strong>s Du<strong>de</strong>n. Zweitens, daß es nicht die, nicht eine Anarchie geben darf, son<strong>de</strong>rn<br />

notwendigerweise viele. Genau dann brauchte es nämlich diesen allgemeinen Ethikwan<strong>de</strong>l nicht - eine<br />

generell akzeptierte Ethikvielfalt wür<strong>de</strong> genügen, die auf ganz wenigen Grundregeln aufbauen könnte.<br />

Niemals wür<strong>de</strong>n alle Menschen freiwillig ein- und dieselben Grundwerte akzeptieren.<br />

Die an-archische Gesellschaft müßte daher eine vernetzte Fö<strong>de</strong>ration vieler kleiner, überschaubarer Mini-<br />

Gesellschaften sein. Und das ist für uns als Zeitgenossen uniformer Systeme allemal am schwierigsten<br />

vorstellbar.<br />

Anarchisten als Unterdrücker<br />

Kritiker halten Anarchisten in diesem Zusammenhang gerne vor, daß auch sie unterdrücken müßten, und<br />

zwar diejenigen Menschen, die ihrerseits gerne unterdrücken. Was geschähe in einer an-archischen<br />

Gesellschaft mit Leuten, die gerne reich sind und an<strong>de</strong>re ausbeuten möchten? Mit Menschen, die gerne<br />

General wären und Krieg führen wür<strong>de</strong>n? Mit Faschisten? Mit Menschen, die nicht frie<strong>de</strong>nsfähig sind?<br />

Ja, die hätten tatsächlich Pech gehabt, zumin<strong>de</strong>st wür<strong>de</strong>n sie es sehr schwer haben. Im Prinzip hätten auch<br />

sie das Recht, sich frei mit Gleichgesinnten zu assoziieren. Ein ›harmloses‹ Beispiel: Nehmen wir an,<br />

jemand liebt es, an<strong>de</strong>re Menschen auszupeitschen, zu quälen und zu <strong>de</strong>mütigen. Diesem steht es je<strong>de</strong>rzeit<br />

frei, sich mit an<strong>de</strong>ren, die sich gerne auspeitschen lassen, zu assoziieren und etwa eine Gesellschaft von<br />

Flagellanten* zu grün<strong>de</strong>n – solange dies freiwillig geschieht, und niemand zur Mitgliedschaft in jener<br />

bizarren Gesellschaft gezwungen wird. Theoretisch könnte auch jemand mit <strong>de</strong>n Ambitionen eines<br />

Bankdirektors, Spekulanten o<strong>de</strong>r Konzernchefs versuchen, Menschen zu fin<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>nen<br />

137<br />

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er wie<strong>de</strong>r ein System <strong>de</strong>r Ausbeutung und Geldwirtschaft einführen möchte. Denkbar, daß er<br />

Gleichgesinnte fän<strong>de</strong>, die ebenfalls gerne an <strong>de</strong>r Spitze dieser Hierarchie stün<strong>de</strong>n. Da das von ihm aber<br />

gar nicht gewollt sein kann, er vielmehr Massen von Menschen benötigte, die wirtschaftlich unter ihm<br />

stün<strong>de</strong>n, wäre es sehr fraglich, ob sich in einer freien Gesellschaft genug <strong>de</strong>vote* Geister fän<strong>de</strong>n, ihm zu<br />

Diensten zu sein. Die Gefahr einer hierarchischen Restauration* bestün<strong>de</strong> realistischerweise nur dann,<br />

wenn die an-archische Mainstream-Gesellschaft – etwa wirtschaftlich – <strong>de</strong>rart schlecht funktionierte, daß<br />

sich genügend Menschen nach <strong>de</strong>m alten System zurücksehnen wür<strong>de</strong>n. In diesem Falle wäre die<br />

Rückkehr zur alten Gesellschaft angesichts <strong>de</strong>s Versagens <strong>de</strong>r neuen nur legitim. Sie wäre auch kaum zu<br />

verhin<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>nn es gäbe beispielsweise keine anarchistische Armee, die dies unterbin<strong>de</strong>n könnte. Wenn<br />

Anarchie freie Selbstbestimmung <strong>de</strong>r Menschen ist, läge dieser Fall - trotz <strong>de</strong>s Scheiterns <strong>de</strong>r<br />

anarchistischen Utopie - sogar voll und ganz im Rahmen anarchistischer Ethik. Es ist allerdings wenig<br />

wahrscheinlich, daß eine Bedarfswirtschaft nach menschlichem Maß die traurigen Rekor<strong>de</strong> an Mangel<br />

und Hungertoten unseres jetzigen Systems noch überbieten könnte.<br />

Mit ähnlichen Schwierigkeiten wie unser Möchtegern-Direktor hätten auch <strong>de</strong>r Militarist und <strong>de</strong>r Faschist<br />

zu kämpfen, und wenn man so will, wür<strong>de</strong>n diese Spezies in einer an-archischen Gesellschaft<br />

›unterdrückt‹. Obgleich es sich hierbei zweifellos um eine sanfte, indirekte Unterdrückung han<strong>de</strong>lt,<br />

wi<strong>de</strong>rspräche auch diese Tatsache <strong>de</strong>m lupenreinen anarchistischen I<strong>de</strong>al. Sie macht zugleich mit großer<br />

Schärfe das beschriebene Dilemma zwischen I<strong>de</strong>al und Pragmatik <strong>de</strong>utlich: I<strong>de</strong>alerweise wi<strong>de</strong>rspricht sich<br />

<strong>de</strong>r Anarchismus hier selbst, <strong>de</strong>nn eine unterdrückungsfreie Gesellschaft ohne die Unterdrückung <strong>de</strong>r


Unterdrücker geht irgendwie nicht. Die pragmatische Seite <strong>de</strong>s Anarchismus ist eher geneigt, hierin ein<br />

theoretisches Problem zu sehen. Zugegebenermaßen waren die genannten Beispiele theoretisch<br />

konstruiert und entsprechend albern; in <strong>de</strong>r Realität setzen sich Anarchisten <strong>de</strong>shalb auch eher mit<br />

an<strong>de</strong>ren Fragen auseinan<strong>de</strong>r. Wie zum Beispiel mit <strong>de</strong>n Mitteln <strong>de</strong>s zivilen Ungehorsams o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />

passiven Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s Systeme überwun<strong>de</strong>n und aggressive Macht gebrochen wer<strong>de</strong>n können. Wie man<br />

durch ein offenes Betreuungssystem Psychiatrische Anstalten überflüssig machen könnte. Wie <strong>de</strong>m<br />

Faschismus <strong>de</strong>r geistige Nährbo<strong>de</strong>n zu entziehen wäre. O<strong>de</strong>r wie notorisch* Kriminelle in die<br />

Gesellschaft zurückkehren können, statt sie lebenslang einzusperren.<br />

Wie gesagt: eine Frage an<strong>de</strong>rer Grundwerte, und diese ›Basisethik‹ beträfe alle Menschen einer<br />

Gesellschaft. Anarchie kann so vielfältig sein wie die I<strong>de</strong>en in <strong>de</strong>n Köpfen <strong>de</strong>r Menschen, aber sie wird<br />

nur dann an-archisch funktionieren, wenn diese wenigen, freiheitlichen Prinzipien, die Essentials, als<br />

Grundwerte Konsens sind. Sicher, auch das wäre ein Rahmen, eine Grenze <strong>de</strong>r Freiheit, aber mit<br />

Sicherheit ein freierer Rahmen als alles, was die Menschheit bisher kennengelernt hat. Schließlich haben<br />

Anarchisten nie grenzenlose Freiheit versprochen. Und so lan<strong>de</strong>n wir am En<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r beim<br />

›kategorischen Imperativs <strong>de</strong>mzufolge und frei nach Immanuel Kant, je<strong>de</strong>r Mensch sich je<strong>de</strong> Freiheit<br />

nehmen können sollte, solange er die eines an<strong>de</strong>ren damit nicht beschnei<strong>de</strong>t.<br />

138<br />

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Wi<strong>de</strong>rspricht Anarchie <strong>de</strong>n menschlichen Trieben ?<br />

Bleibt noch eine letzte Frage, die entschei<strong>de</strong>nd ist. "Zugegeben", räumen Kritiker ein, "dieser Rahmen<br />

mag humaner sein, friedfertiger und freiheitlicher – aber entspricht er auch <strong>de</strong>m menschlichen Wesen?<br />

Sind Menschen in <strong>de</strong>r Lage, ohne Hierarchie und in Freiheit zu existieren? O<strong>de</strong>r sind Aggression und<br />

Unterdrückung nicht vielmehr biologische Determinanten*, angeborene Triebe gar?"<br />

Diese Frage ist ebenso müßig wie wichtig.<br />

Anarchistische Klassiker - etwa die Naturwissenschaftler Kropotkin und Reclus - vertraten die<br />

Auffassung, das Streben nach Hierarchie, Herrschaft und Unterdrückung seien soziale Determinanten, die<br />

seit Jahrtausen<strong>de</strong>n in unseren Gesellschaften zur Tugend erklärt, geför<strong>de</strong>rt und belohnt wür<strong>de</strong>n. In seiner<br />

"Gegenseitige Hilfe" liefert Kropotkin plausible Belege dafür, daß trotz dieser negativen Prägung auch<br />

soziale, an-archische Tugen<strong>de</strong>n seit jeher parallel zu <strong>de</strong>n hierarchischen existiert haben. Er bestreitet<br />

nicht, daß es Konkurrenz und die Unterdrückung <strong>de</strong>s Schwächeren durch <strong>de</strong>n Stärkeren gäbe – er wen<strong>de</strong>t<br />

sich jedoch gegen die Annahme, daß dies naturgegeben, angeboren und notwendig die einzig vernünftige<br />

Form sozialer Organisation sein müsse. Spätere Arbeiten, etwa von Bertrand Russell, Wilhelm Reich,<br />

Herbert Marcuse, Alexan<strong>de</strong>r Mitscherlich, Joseph Rattner und Arno Plack weisen in eine ähnliche<br />

Richtung.<br />

An<strong>de</strong>re Wissenschaftler wie Konrad Lorenz, Friedrich Hacker, Irenäus Eibl-Eibesfeld, Adolf Portmann<br />

und in gewissem Sinne auch Sigmund Freud behaupten vehement das Gegenteil, und bis heute ist die<br />

Gelehrsamkeit in dieser Frage tief gespalten. Eben darum ist es eine müßige Frage, <strong>de</strong>r auch das Etikett<br />

›wissenschaftlich‹ keinen größeren Tiefgang verleiht. Im Gegenteil. Wo immer dieses Adjektiv benutzt<br />

wird, ist beson<strong>de</strong>re Skepsis angesagt, <strong>de</strong>nn es dient nur zu oft institutionalisierter Hochstapelei: Entwe<strong>de</strong>r<br />

ist etwas beweisbar und plausibel, dann braucht es dieses Etikett nicht, o<strong>de</strong>r aber, es ist umstritten, dann<br />

han<strong>de</strong>lt es sich garantiert um <strong>de</strong>n Versuch, durch die Autorität <strong>de</strong>s Wörtchens "wissenschaftlich" eine<br />

Sicherheit zu suggerieren, die es nicht gibt.<br />

Mit <strong>de</strong>r Wissenschaft kann man alles und nichts beweisen, notfalls auch zwei sich wi<strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong><br />

Dinge. Hat nicht im Mittelalter die Wissenschaft feierlichst behauptet, die Er<strong>de</strong> sei eine Scheibe, um die<br />

sich die Sonne drehe, und je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r etwas an<strong>de</strong>res behauptet, stehe mit <strong>de</strong>m Teufel im Bun<strong>de</strong>? Wur<strong>de</strong>n<br />

nicht in <strong>de</strong>r Sowjetunion Biologen, die eine an<strong>de</strong>re Vererbungslehre vertraten als die offiziell genehmigte<br />

nach Sibirien verbannt, und hatten nicht die Nazis ihre ›völkische‹ Physik und Rassenkun<strong>de</strong>? Bezieht


nicht gera<strong>de</strong> die Psychologie und Verhaltensforschung ihr gesamtes "empirisches* Material" aus<br />

Menschen, die in diesem System erzogen und sozialisiert wur<strong>de</strong>n, um aus diesen Erfahrungen dann<br />

allgemeingültige und angeblich wertfreie Schlüsse zu ziehen? So wird schon im Ansatz nur in bestimmte<br />

Richtungen geforscht, so nehmen diese vorgegebenen Richtungen schon fast zwangsläufig die Antworten<br />

vorweg, so schreiben die Auftraggeber diese Richtungen vor und so wird das Vorgefun<strong>de</strong>ne endlich zum<br />

unumstößlichen Naturgesetz erklärt. Auftrag-<br />

139<br />

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geber <strong>de</strong>r Wissenschaft ist in <strong>de</strong>r Regel <strong>de</strong>r Staat o<strong>de</strong>r die mit ihm verkoppelte Wirtschaft; die<br />

Unabhängigkeit <strong>de</strong>r Wissenschaft ist eine niedliche Fiktion. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen,<br />

daß es auf <strong>de</strong>r Welt einige tausend Lehrstühle für Staatswissenschaft gibt, aber keinen einzigen für die<br />

Wissenschaft einer Gesellschaft ohne Staat, um sich <strong>de</strong>r Einseitigkeit wissenschaftlichen<br />

Forschungsdrangs bewußt zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Von <strong>de</strong>r Wissenschaft dürfen wir also ernsthaft keine Antwort auf unsere Frage erwarten. Bleiben die<br />

Beispiele. Naturvölker, die frecherweise in manchen Bereichen ungefragt das vorleben, was manche<br />

Wissenschaftler für unmöglich halten. O<strong>de</strong>r soziale Experimente, aus <strong>de</strong>ren fragmentarischen*<br />

Erfahrungen wir Schlüsse ziehen können. O<strong>de</strong>r die alltägliche Erfahrung, daß wir selbst in unseren<br />

Konkurrenzgesellschaften immer wie<strong>de</strong>r Beispielen völlig ›grundlosen‹ solidarischen Verhaltens<br />

begegnen. Bleibt auch die Plausibilität: daß es doch verwun<strong>de</strong>rlich ist, wie sich <strong>de</strong>r Kampf um Freiheit,<br />

die Sehnsucht nach Autonomie durch die gesamte Geschichte <strong>de</strong>r Menschheit ziehen, wenn es gar so<br />

unnatürlich wäre. Und warum dann <strong>de</strong>r Mensch mit Gesetzen, Polizei, Armee, Religion und Moral an<br />

<strong>de</strong>m gehin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n soll, was angeblich sowieso niemand will? Die ›anarchistischen Essentials‹ sind<br />

schließlich nicht in einer Studierstube entstan<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn entspringen <strong>de</strong>m realen Leben - und das seit<br />

Tausen<strong>de</strong>n von Jahren.<br />

Vor allem aber bleibt das Experiment. Vermutlich wer<strong>de</strong>n wir erst dann wissen, ob <strong>de</strong>r Mensch in Freiheit<br />

leben will und kann, wenn man ihn läßt.<br />

Literatur:<br />

/ Robert Nozick: Anarchie, Staat, Utopia # München o.J., Mo<strong>de</strong>rne Verlags Ges., 324 S.<br />

/ Martin Buber: Pfa<strong>de</strong> in Utopia # Hei<strong>de</strong>lberg 1950, Lambert Schnei<strong>de</strong>r, 248 S.<br />

/ Rolf Schwendter: Utopie # Berlin 1993, Edition ID-Archiv, 150 S.<br />

/ P.M.: bolo'bolo # Zürich 1986, Paranoia City, 201 S.<br />

/ Jessica Mitford: Für die Abschaffung <strong>de</strong>r Gefängnisse # Telgte 1977, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 40 S.<br />

/ Thomas Matthiesen: Überwin<strong>de</strong>t die Mauern! # Darmstadt 1979, Luchterhand, 206 S.<br />

/ Helmut Ortner (Hrsg.): Freiheit statt Strafe # Frankfurt/M. 1981, Fischer, 174 S.<br />

/ Wilhelm Reich: Die sexuelle Revolution # Frankfurt/M. 1966, Europäische Verlagsanstalt, 297 S.<br />

/ Arno Plack: Die Gesellschaft und das Böse # München 1967, List, 430 S.<br />

/ Josef Rattner: Aggression und menschliche Natur # Frankfurt/M. 1972, Fischer, 224 S.<br />

140<br />

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Teil 2 DIE VERGANGENHEIT<br />

Kapitel 20<br />

Frühformen <strong>de</strong>r Anarchie


Je mehr Gesetze und Beschränkungen, <strong>de</strong>sto ärmer die Menschen.<br />

Je schärfer die Waffen, <strong>de</strong>sto mehr Streit im Lan<strong>de</strong>.<br />

Je schlauer und gerissener die Menschen, <strong>de</strong>sto mehr merkwürdige Dinge, die geschehen.<br />

Je mehr Regeln und Gesetze, <strong>de</strong>sto mehr Diebe und Räuber.<br />

- Lao Tzu - (5. Jh. v. Chr.)<br />

Dem Volk, das unter einem König ist,<br />

fehlt überhaupt vieles und vor allem die Freiheit,<br />

die nicht darin besteht, daß wir einen gerechten Herrn,<br />

son<strong>de</strong>rn daß wir gar keinen Herrn besitzen.<br />

- Cicero -<br />

VON ANARCHISMUS IM ALTERTUM ZU REDEN, ist ein wenig so, als sprächen wir von<br />

›vorchristlichem Christentum‹. Ein bißchen paradox also. "Anarchismus" als einigermaßen stimmiges<br />

Gedankengebäu<strong>de</strong>, als soziale Bewegung gar, gibt es erst seit Mitte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts. Ist es von daher<br />

überhaupt legitim, in <strong>de</strong>r Antike, im Mittelalter und in <strong>de</strong>r Frühen Neuzeit nach Spuren von<br />

›Anarchismus‹ zu suchen?<br />

Wir tun gut daran, ›Anarchismus‹ nicht als eine I<strong>de</strong>ologie zu verstehen. Was uns interessiert, ist eine<br />

Ten<strong>de</strong>nz, die sich durch ganz bestimmte Eckwerte auszeichnet: Freiheitlichkeit, Herrschaftsfeindlichkeit,<br />

Solidarität, gegenseitige Hilfe, Autonomie <strong>de</strong>s Individuums, Vernetzung kleiner Einheiten,<br />

Selbstbestimmung und Rebellion gegen Fremdbestimmung. Die historischen Ausprägungsformen einer<br />

solchen Ten<strong>de</strong>nz, die wir auf <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Seiten kennenlernen wer<strong>de</strong>n, sind Produkte ihrer Zeit, ihrer<br />

jeweiligen Kultur und <strong>de</strong>ren sozialen Problemen. Der mo<strong>de</strong>rne Anarchismus als Bewegung entstand in<br />

Europa und ist entsprechend geprägt: er ist ganz Kind seiner Epoche und reagierte auf die sozialen<br />

Probleme <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts: die Industrialisierung, <strong>de</strong>n Patriotismus, <strong>de</strong>n Militarismus, die Kirche, das<br />

Bürgertum und <strong>de</strong>n Gegensatz zwischen Arm und Reich.<br />

Insofern kann es sich bei unserer Betrachtung grundsätzlich nie um <strong>de</strong>n Anarchismus schlechthin han<strong>de</strong>ln,<br />

son<strong>de</strong>rn immer nur um eine ›Momentaufnahme‹. Es wäre ein törichter Fehler, wenn wir alles, was uns auf<br />

unserer Spurensuche begegnet, an unserer heutigen Ausprägungsform von ›Anarchismus‹ messen,<br />

bewerten und ausblen<strong>de</strong>n wollten. Eine solche Unterlassung wür<strong>de</strong> das Bild zugunsten einer<br />

dogmatischen und formalen Sichtweise<br />

141<br />

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verzerren, <strong>de</strong>ren sich gerne die unkritische I<strong>de</strong>ologiegeschichte verschreibt. Das ist in diesem Buch aber<br />

nicht beabsichtigt, und <strong>de</strong>shalb ist die Suche nach ›Anarchismen vor <strong>de</strong>m Anarchismus‹ legitim und<br />

notwendig.<br />

Wie ein ›schwarzer Fa<strong>de</strong>n‹ durchzieht die Sehnsucht nach freiheitlichen Formen <strong>de</strong>s sozialen Lebens die<br />

Geschichte <strong>de</strong>r Menschheit. Dieser Fa<strong>de</strong>n ist nicht immer und überall gleich dick, <strong>de</strong>nn Aufmüpfigkeit<br />

fand selten Eingang in offiziöse Geschichtsschreibung. Aber er war immer da. In <strong>de</strong>n einzelnen Fasern<br />

dieses Fa<strong>de</strong>ns erkennen wir die anarchistischen Primärtugen<strong>de</strong>n als Inhalte wie<strong>de</strong>r, nicht als Etiketten, oft<br />

hinter bizarren Masken und meist in Zusammenhängen, in <strong>de</strong>nen das Wort ›Anarchie‹ nicht vorkommt.<br />

Auch die globale Vision einer libertären Welt ist noch selten erkennbar. Spurensuche also — nicht im<br />

Sinne einer formalen und <strong>de</strong>shalb albernen Vereinnahmung, son<strong>de</strong>rn um zu zeigen, daß <strong>de</strong>r Drang nach<br />

Freiheit eine uralte Komponente <strong>de</strong>r Menschheit ist, und <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Anarchismus keineswegs eine<br />

unerwartete Spontangeburt war.<br />

Vor Französischer Revolution und Aufklärung gibt es keinen ›Anarchismus‹, aber es gibt ›An-archismen‹.<br />

Wenn wir diese Unterscheidung beherzigen, können wir uns unbefangen auf die Reise begeben...


Tao<br />

Im sechsten vorchristlichen Jahrhun<strong>de</strong>rt fin<strong>de</strong>n wir in <strong>de</strong>m uns völlig frem<strong>de</strong>n Kulturkreis <strong>de</strong>s feudalen<br />

China erste Zeugen an-archischen Denkens, <strong>de</strong>ren Spuren bis in unsere Zeit reichen: <strong>de</strong>n Taoismus, eine<br />

bis heute in <strong>de</strong>r chinesischen Gesellschaft präsente und wirken<strong>de</strong> Richtung - eine Mischung aus<br />

Philosophie, sozialer Bewegung, Lebensweisheit, praktischer Wissenschaft und kirchenloser<br />

Volksreligion. Er wird vielfach als eine Art ur-anarchische Weisheit angesehen. Der Historiker Peter<br />

Marshall bezeichnet ihn als <strong>de</strong>n "ersten klaren Ausdruck anarchistischer Sensibilität" und sein Hauptwerk<br />

Tao te ching als "einen <strong>de</strong>r größten anarchistischen Klassiker".<br />

Fast wie in einem künstlichen Mo<strong>de</strong>ll stan<strong>de</strong>n sich in <strong>de</strong>r frühen chinesischen Hochkultur zwei<br />

›philosophische Schulen‹ gegenüber, <strong>de</strong>r Konfuzianismus und <strong>de</strong>r Taoismus. Ersterer vertrat eine starrhierarchische<br />

Ordnung mit Tugen<strong>de</strong>n wie Pflichterfüllung, Disziplin und Gehorsam in einer Gesellschaft,<br />

in <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>s Individuum an seinen unverrückbaren Platz gestellt war. Es ist nicht schwer zu verstehen, daß<br />

<strong>de</strong>r Konfuzianismus im Reich <strong>de</strong>r Mitte, <strong>de</strong>ssen Staatswesen im sechsten vorchristlichen Jahrhun<strong>de</strong>n<br />

zunehmend an Be<strong>de</strong>utung gewann, rasch zur offiziellen Staatsphilosophie wur<strong>de</strong>; Zentralismus und<br />

Bürokratie waren die Folge. Die Taoisten hingegen lehnten Regierungen ab und glaubten an ein Leben in<br />

natürlicher und spontaner Harmonie, wobei <strong>de</strong>r Einklang <strong>de</strong>s Menschen mit <strong>de</strong>r Natur eine be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong><br />

Rolle in ihrem Denken spielte. Im taoistischen Weltbild befin<strong>de</strong>t sich alles im Fluß, nichts ist endgültig<br />

und konstant. Nicht zufällig be<strong>de</strong>utet Tao "<strong>de</strong>r Weg". Für <strong>de</strong>n Taoisten entsteht ›Realität‹ immer aus <strong>de</strong>m<br />

Wechselspiel gegensätzlicher Kräfte, die sich aber auch brauchen und bedingen und zur Harmonie fähig<br />

sind: yin und yang. Ganz wie<br />

142<br />

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die mo<strong>de</strong>rne soziale Ökologie strebt <strong>de</strong>r Taoismus Gleichgewicht innerhalb einer bunten Vielfalt an.<br />

Niemals jedoch verkommt <strong>de</strong>r Taoismus zu einer bloßen Religion. Er zwingt seine Sichtweise keinem<br />

auf, entwickelt we<strong>de</strong>r Kulte, Kirchen noch Klerus*. Statt<strong>de</strong>ssen geht die Entwicklung in Richtung klarer<br />

Aussagen zu Gesellschaft und Politik: In seiner langen Entwicklung bringt <strong>de</strong>r Taoismus ein regelrechtes<br />

System politischer Ethik hervor, <strong>de</strong>ssen Parallelen zu heutigen sozialen Bewegungen offensichtlich sind.<br />

Das taoistische Prinzip <strong>de</strong>s wu-wei, fälschlich oft als "Nicht-Eingreifen" verstan<strong>de</strong>n, ist eine Synthese aus<br />

<strong>de</strong>m, was wir heute "zivilen Ungehorsam", "anti-autoritär" o<strong>de</strong>r "sanfte Technologie" nennen wür<strong>de</strong>n:<br />

Wu-wei be<strong>de</strong>utet die Abwesenheit von wei. Unter wei ist auf gezwungenes, künstliches, hektisches,<br />

autoritäres Han<strong>de</strong>ln zu verstehen, das einer natürlichen und harmonischen Entwicklung entgegensteht.<br />

Politisch gesehen entspricht wei <strong>de</strong>m Prinzip Autorität. Salopp ausgedrückt sind Taoisten <strong>de</strong>r Meinung: je<br />

mehr <strong>de</strong>r Mensch sich einmischt, je komplizierter er steuern will, <strong>de</strong>sto schlimmer wird alles — was sich<br />

wie<strong>de</strong>rum verblüffend mit <strong>de</strong>n Erkenntnissen mo<strong>de</strong>rner Ökologie <strong>de</strong>ckt. Folgerichtig postuliert die<br />

taoistische Schule, daß die beste Regierung diejenige sei, die am wenigsten regiere — ein Standpunkt, wie<br />

wir ihn beispielsweise bei ›Frühlibertären‹ wie Wilhelm von Humboldt, John Stuart Mill o<strong>de</strong>r Henry<br />

David Thoreau fin<strong>de</strong>n. Und wenn gar <strong>de</strong>r Taoist Lao Tzu über das bürokratische, kriegerische und<br />

kommerzielle Wesen seiner Zeit herzieht und Eigentum als eine Art von Diebstahl darstellt, so meint<br />

man, <strong>de</strong>n alten Proudhon schimpfen zu hören — allerdings in <strong>de</strong>r sanften Form kunstvollmetaphorischer*<br />

Gedichte, in <strong>de</strong>r die taoistische Weisheit zumeist auf uns gekommen ist.<br />

Noch klarer kommen an-archische Ten<strong>de</strong>nzen in <strong>de</strong>n Schriften <strong>de</strong>s Philosophen Chuang Tzu (369-286 v.<br />

Chr.) zum Tragen, <strong>de</strong>r je<strong>de</strong> Form <strong>de</strong>r Regierung ablehnt, um ihr die freie Existenz selbstbestimmter<br />

Individuen entgegenzusetzen. Grundgedanke einer solchen taoistischen I<strong>de</strong>algesellschaft wäre es, die<br />

Menschen selbstregulierend sich selbst zu überlassen. Dieser frühe chinesische Vorläufer eines laisserfaire*<br />

setzt ein großes Maß an Vertrauen in die sozialen Fähigkeiten <strong>de</strong>s Menschen voraus — eine<br />

Problematik, mit <strong>de</strong>r sich auch <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Anarchismus kontrovers auseinan<strong>de</strong>rsetzt. In <strong>de</strong>r Schrift Huai<br />

Nan Tzu wird diese Frage auf eine, man möchte fast sagen, ›Kropotkinsche‹ Weise gelöst: das<br />

persönliche Wohlergehen eines je<strong>de</strong>n Einzelnen wachse in <strong>de</strong>m Maße, wie es <strong>de</strong>r Allgemeinheit wohl<br />

ergehe. Menschen seien sowohl Individuen als auch soziale Wesen. Wer etwas für die Allgemeinheit tue,


tue also auch etwas für sich. Das erinnen sehr an jenen ›sozialen Egoismus‹ <strong>de</strong>r Anarchisten, <strong>de</strong>n wir<br />

bereits kennengelernt haben. Der Bogen <strong>de</strong>r Parallelen schließt sich vollends, wenn darauf verwiesen<br />

wird, daß eine solche Gesellschaft keineswegs konfliktfrei wäre, aber alle Chancen böte, in einer Art<br />

freiem Spiel gegensätzlicher Kräfte und Interessen zu neuen Gleichgewichten zu fin<strong>de</strong>n, sprich: zu neuen<br />

Zusammenschlüssen aufgrund gemeinsamer Interessen. Das klingt fast wie bolo'bolo à la yin und yang...<br />

Taoistische Ten<strong>de</strong>nzen machten im Laufe <strong>de</strong>r Geschichte verschie<strong>de</strong>ne Entwicklungen durch und wirken<br />

ungebrochen bis heute fön; es ist dabei kaum möglich, klare Grenzen<br />

143<br />

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zwischen Weisheit und Rebellion, zwischen Mystizismus und klarer Sachlichkeit, zwischen Religion und<br />

sozialer Ten<strong>de</strong>nz zu ziehen. Vermutlich muß das so sein, <strong>de</strong>nn es entspricht vollkommen <strong>de</strong>m taoistischen<br />

Wesen. Praktische Auswirkungen dieser Philosophie gehen weit über das Soziale hinaus und sind<br />

entsprechend mannigfaltig: von geistiger Sammlung über Ernährung, Körpertraining, psychische<br />

Techniken, Sexualität, Gesprächstherapie bis hin zur Heilkun<strong>de</strong> gibt <strong>de</strong>r Taoismus für vieles praktische<br />

Nutzanwendungen. Also eher eine abgeklärte Lebensweisheit für <strong>de</strong>n Einzelnen ohne gesellschaftliche<br />

Mobilisierung?<br />

Fest steht, daß <strong>de</strong>r Taoismus, <strong>de</strong>r mit entwaffnen<strong>de</strong>r Güte auf die Harmoniefähigkeit <strong>de</strong>s Menschen setzt,<br />

in <strong>de</strong>n vergangenen 2500 Jahren nie eine ›soziale Bewegung‹ in unserem Sinne hervorgebracht hat. Vom<br />

klassischen Anarchismus unterschei<strong>de</strong>t er sich daher nicht so sehr in <strong>de</strong>r Radikalität <strong>de</strong>s Denkens, als im<br />

Stellenwert <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns. Dem Primat <strong>de</strong>r direkten Aktion setzt Tao eher eine aufgeklärte Passivität<br />

entgegen. So wird <strong>de</strong>r Taoismus wohl das bleiben, was er seit jeher war: eine Quelle praktischer Weisheit<br />

für Menschen, die die volle Harmonie ihres Seins erreichen möchten.<br />

Buddhismus<br />

Weniger augenfällig ist <strong>de</strong>r libertäre Geist, <strong>de</strong>n Kenner im Buddhismus ausfindig machen, was nicht<br />

erstaunt, wenn man sich klar macht, daß er im Gegensatz zum Taoismus sehr wohl eine Kirche und einen<br />

staatstragen<strong>de</strong>n Klerus hervorgebracht hat.<br />

Der Buddhismus ist ursprünglich eine indische Religion, im 5. vorchristlichen Jahrhun<strong>de</strong>rt von Siddharta<br />

Gautama gegrün<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r sich Buddha nannte, "<strong>de</strong>r Erleuchtete". Seine recht komplizierte Lehre einer<br />

menschlichen Vervollkommnung lebt vom Wi<strong>de</strong>rspruch zwischen materiellem Besitz, <strong>de</strong>r als negative<br />

Fessel ge<strong>de</strong>utet wird, und Selbstfindung, die in <strong>de</strong>r höchsten Stufe <strong>de</strong>r Erleuchtung en<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>m Nirvana.<br />

Nirvana ist das "Nichts" o<strong>de</strong>r die "völlige Befreiung". Anfänglich war <strong>de</strong>r Buddhismus eine rein<br />

ethischmeditative Bewegung, die in Indien rasch zurückgedrängt wur<strong>de</strong>, sich in Sri Lanka, Thailand und<br />

Tibet hingegen etablieren konnte. Früh kam es zu einer Aufspaltung in einen machtpolitisch interessierten<br />

und institutionalisierten Zweig, die Theravada, und die Richtung <strong>de</strong>r Mahayama, die weiterhin und<br />

ausschließlich die Selbstbefreiung <strong>de</strong>s Individuums durch das Streben nach Vollkommenheit verfolgte.<br />

Ab <strong>de</strong>m 6. Jahrhun<strong>de</strong>rt beginnt unter <strong>de</strong>m Namen Ch'an in China eine Entwicklung, die Buddha an<strong>de</strong>rs<br />

interpretiert: als <strong>de</strong>n ersten Rebellen, <strong>de</strong>n "Sprenger <strong>de</strong>r Ketten", die <strong>de</strong>n Menschen an Unwissenheit und<br />

Unfreiheit fesseln. Wir haben es hier mit einer regelrechten Häresie* zu tun, wie wir sie ähnlich aus <strong>de</strong>r<br />

Kirchengeschichte <strong>de</strong>s europäischen Mittelalters kennen. Ch'an erreicht Japan im 12. Jahrhun<strong>de</strong>rt, wo es<br />

sich unter <strong>de</strong>m Namen Zen zu einer eigenständigen Richtung entwickelt.<br />

Zen ist we<strong>de</strong>r Kirche noch staatstragen<strong>de</strong> Religion. An<strong>de</strong>rs als unsere mächtigen mittelalterlichen Abteien<br />

ist ein Zen-Kloster kein Hort von Macht, Besitz und Wissen, son<strong>de</strong>rn ein Ort <strong>de</strong>r Gleichheit und Armut.<br />

Ein Zen-Mönch versteht sich nicht als Mittler zwischen ›Gott‹ und <strong>de</strong>n Menschen, son<strong>de</strong>rn als eine Art<br />

Lehrer, ein Vorbild, das auf <strong>de</strong>m Weg zur


144<br />

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Selbsterkenntnis helfen kann. Zen erkennt keine höhere Autorität <strong>de</strong>r Wahrheit an als die Intuition* <strong>de</strong>s<br />

Individuums, über <strong>de</strong>m nicht einmal Buddha steht. Mehr als eine Sekte ist es ein Experiment durch<br />

Erfahrung, und dabei ausgesprochen egalitär*: Zen kennt keine Eliten, verlacht Autoritätspersonen und<br />

propagiert ein autonomes, selbstbestimmtes Leben. Sein Ziel ist die Befreiung <strong>de</strong>s Individuums von<br />

vorgegebener Moral, Gesetzlichkeit und Autorität in Harmonie mit <strong>de</strong>r Umwelt. In <strong>de</strong>r natürlichen<br />

Ordnung vermag Zen keinen Grund für Herrschaft und Hierarchie zu ent<strong>de</strong>cken.<br />

Von daher kann man <strong>de</strong>m Zen-Buddhismus einen gewissen libertären Geist ebensowenig absprechen wie<br />

<strong>de</strong>m Taoismus. Bei<strong>de</strong> lehnen Hierarchie und Herrschaft ab, bei<strong>de</strong> suchen individuelle Befreiung durch<br />

Selbsterkenntnis in voller Harmonie mit sich selbst. Bei<strong>de</strong> aber bleiben die Antwort auf die Frage<br />

schuldig, ob das in <strong>de</strong>n Gesellschaften <strong>de</strong>s Zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rts außerhalb <strong>de</strong>r eigenen Hirnschale<br />

möglich ist. Wie eine Gesellschaft entstehen könnte, die von solchen I<strong>de</strong>alen geprägt ist, ist nicht ihr<br />

Thema. Genau hier liegt ein gravieren<strong>de</strong>r Unterschied zum klassischen Anarchismus, für <strong>de</strong>n Freiheit<br />

nicht nur ein individuelles, son<strong>de</strong>rn auch ein soziales Phänomen ist.<br />

Zweifellos wäre die Ethik <strong>de</strong>s Tao o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Zen ein fruchtbarerer Bo<strong>de</strong>n für eine an-archische<br />

Gesellschaft als etwa Katholizismus o<strong>de</strong>r Islam. Ebenso fraglos aber stecken in einer Religionsauffassung<br />

wie <strong>de</strong>m Buddhismus, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Glauben an eine Seelenwan<strong>de</strong>rung beruht, und in <strong>de</strong>m das<br />

schicksalhafte Karma wie eine Hypothek <strong>de</strong>r Vergangenheit auf <strong>de</strong>r Gegenwart lastet, neue Fesseln.<br />

Soziale und geistige Freiheit fin<strong>de</strong>n hier ebenfalls ihre Grenzen. Entwe<strong>de</strong>r ist die Welt und mit ihr <strong>de</strong>r<br />

Mensch <strong>de</strong>terminiert*, dann aber gibt es keine wahre Freiheit. O<strong>de</strong>r aber, sie ist es nicht. Dann jedoch gibt<br />

es auch kein buddhistisches Karma.<br />

Die alten Griechen<br />

Das antike Griechenland, seit jeher Lieblingstopos* gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Bildungsbürgers, gilt uns<br />

zuallererst als die "Wiege <strong>de</strong>r Demokratie". Es stimmt ja auch: Da gab es im Stadtstaat Athen gut 500<br />

Jahre vor <strong>de</strong>r Zeitenwen<strong>de</strong> 30.000 Bürger, von <strong>de</strong>nen bis zu 6.000 an <strong>de</strong>n regelmäßigen Versammlungen<br />

<strong>de</strong>s Parlamentes teilnahmen. Von solcher Dichte politischer Partizipation können heutige Demokraten nur<br />

träumen. Verwaltungs- und Regierungsaufgaben lagen in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s "Rates <strong>de</strong>r 500", <strong>de</strong>ren<br />

Mitgliedschaft <strong>de</strong>m Rotationsprinzip unterlag. Richter wur<strong>de</strong>n gewählt, Streitfälle öffentlich verhan<strong>de</strong>lt,<br />

und eine Bürokratie gab es nur in Ansätzen, die uns heute als niedlich erscheinen müssen. Rundherum<br />

also Elemente einer direkten Demokratie in kleinen, überschaubaren Einheiten. Politische Strukturen,<br />

<strong>de</strong>ren tragen<strong>de</strong> Elemente Autarkie und Autonomie waren, und in <strong>de</strong>nen das Recht auf freie Meinung,<br />

freies Wort und freies Han<strong>de</strong>ln Begriffe darstellten, mit <strong>de</strong>nen die Menschen umgingen, theoretisch wie<br />

praktisch. All das zu einer Zeit, als man in unseren Breiten noch kaum etwas an<strong>de</strong>res kannte als <strong>de</strong>n<br />

ungebremsten Despotismus <strong>de</strong>s Mächtigen, und als einzelner Mensch genau genommen nicht einmal ein<br />

Recht aufs eigene Leben hatte - geschweige <strong>de</strong>nn auf eine eigene Meinung. Gut zweitausend<br />

145<br />

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Jahre bevor bei uns so etwas wie die Magna Charta, die Habeascorpusakte, Menschenrechte o<strong>de</strong>r gar<br />

allgemeine Wahlen auf die Tagesordnung kamen.<br />

OD: Habeas-Corpus-Akte, engl. Gesetz von 1679, nach <strong>de</strong>m kein Gefangener ohne richterl. Untersuchung<br />

länger in Haft bleiben kann.<br />

Eine Insel humanitärer Hoffnung also, inmitten einer finsteren, barbarischen Welt? Man ist leicht


versucht, <strong>de</strong>r antiken griechischen Demokratie ein libertäres Etikett anzuhängen, aber die soziale<br />

Wirklichkeit sah an<strong>de</strong>rs aus.<br />

Zunächst mal gab es im alten Griechenland nicht nur <strong>de</strong>mokratische Stadtrepubliken wie Athen, son<strong>de</strong>rn<br />

auch je<strong>de</strong> Menge Minidiktaturen und Klein<strong>de</strong>spotien; es gab die Spartaner mit ihrer sprichwörtlichen<br />

militärischen Härte ebenso wie <strong>de</strong>n Makedonier Alexan<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r aufbrach, sich ein Weltreich zu<br />

unterwerfen und mit Demokratie nichts am Helm hatte. Aber selbst an Orten, wo die klassische<br />

Demokratie à la Athen wirkte, entsprach sie alles an<strong>de</strong>re als libertären I<strong>de</strong>alen. Sie galt nur für Männer,<br />

Frauen hatten keine Rechte. Sklaven natürlich auch nicht. Ebensowenig die Masse zugewan<strong>de</strong>rter<br />

Bewohner, die in <strong>de</strong>r Polis* wohnten, ohne jedoch Bürger <strong>de</strong>r Stadt zu sein. Allesamt machten sie<br />

natürlich die große Mehrheit aus, hatten aber nichts zu sagen. Und auch mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mokratischen<br />

Partizipation war es nicht allzuweit her: Die Versammlungen glichen oftmals eher einer Show als einem<br />

Ort ernsthafter politischer Entscheidung. Schöne Rhetorik an sich war ein ästhetischer Wert, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />

Parlamentsbesuch zu einem Genuß machte in einer Zeit, die noch vergleichsweise wenig<br />

Massenunterhaltung zu bieten hatte. Die realen Entscheidungen aber fielen zumeist innerhalb politischer<br />

Eliten, die die Massen gut an <strong>de</strong>r langen Leine hielten. Nicht zufällig war das <strong>de</strong>mokratische Athen nie<br />

frei von Expansions- und Machtgelüsten und stürzte sich, etwa unter <strong>de</strong>m geschickt agieren<strong>de</strong>n Perikles,<br />

in immer neue kriegerische Abenteuer.<br />

Das alles kommt uns heute nicht unbekannt vor: Diskriminierung, Manipulation, Showeinlagen im<br />

Parlament und die Illusion <strong>de</strong>r eigenen Entscheidung beim Wahlvolk entsprechen durchaus <strong>de</strong>m<br />

Erscheinungsbild unserer ›mo<strong>de</strong>rnen Demokratien in <strong>de</strong>n letzten 150 Jahren: Daß Auslän<strong>de</strong>r bei uns nicht<br />

wählen dürfen, gilt ebenso selbstverständlich, wie dies noch zu Beginn <strong>de</strong>s Jahrhun<strong>de</strong>rts für Frauen galt.<br />

Für wie <strong>de</strong>mokratisch wir das alte Athen auch immer halten mögen - all das hat mit ›Anarchie‹ wenig zu<br />

tun. So liegt <strong>de</strong>nn auch <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r griechischen Antike für <strong>de</strong>n Anarchismus weniger in ihrer sozialen<br />

Realität, als in ihrer philosophischen Be<strong>de</strong>utung. Zweifellos gaben die relativ großen Freiheiten, die eine<br />

<strong>de</strong>mokratische Polis bot, einen guten Rahmen für die Entwicklung freien Denkens und ungewöhnlicher<br />

Utopien ab, die mit Fug und Recht als Vorläufer <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus angesehen wer<strong>de</strong>n können.<br />

Die grandiosen Denkentwürfe mancher griechischer Philosophen waren zwar in eine weniger grandiose<br />

soziale Wirklichkeit eingebettet, sollten aber während <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n langen, düsteren Perio<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

Ignoranz und <strong>de</strong>s Despotismus immer wie<strong>de</strong>r als Quelle <strong>de</strong>r Inspiration dienen. Aus ihnen schöpfen bis in<br />

unsere Tage Denker und Philosophen, Revolutionäre und Erneuerer. Max Nettlau, <strong>de</strong>r große und<br />

unermüdliche Historiker <strong>de</strong>r Anarchie, vergleicht sie etwas pathetisch* aber treffend mit <strong>de</strong>n "A<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r<br />

Freiheit", durch die <strong>de</strong>r oft schwache Puls an- archischen Denkens auch die schlimmsten Jahrhun<strong>de</strong>rte<br />

überdauerte.<br />

146<br />

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Nicht, daß <strong>de</strong>r Begriff Anarchie bei <strong>de</strong>n alten Griechen etwa einen guten Klang gehabt hätte. Homer und<br />

Herodot (ca. 490 - 430 v. Chr.) bezeichnen damit <strong>de</strong>n für sie bedauerlichen Zustand <strong>de</strong>r Abwesenheit<br />

eines An- o<strong>de</strong>r Heerführers. Für Aischylos (ca. 525 - 465 v.Chr.) führt Anarchie stets zur Zersetzung <strong>de</strong>s<br />

Gemeinwesens. Sokrates (470 - 399 v.Chr.), <strong>de</strong>r mit seiner For<strong>de</strong>rung, selbst zu <strong>de</strong>nken und Autorität<br />

stets zu hinterfragen, einen so sympathisch- antiautoritären Eindruck hinterläßt, bleibt bei all<strong>de</strong>m doch<br />

Elitist*. Ein Gemeinwesen ohne Herrschaft kann er sich einfach nicht vorstellen. Immerhin ebnet er <strong>de</strong>n<br />

Weg für die Einsicht, daß es keine absoluten Wahrheiten gibt und die relative Wahrheit am besten aus<br />

kontroverser Diskussion zu gewinnen sei. Zweifellos ein Fortschritt. Auch für Heraklit (ca. 55o -<br />

48ov.Chr.) ist, ähnlich wie für die Taoisten, die Wirklichkeit ständiger Verän<strong>de</strong>rung unterworfen, die aus<br />

Antagonismen* entsteht. Alles freilich innerhalb einer "natürlichen Ordnung", in <strong>de</strong>r für Anarchie kein<br />

Platz ist. Ebensowenig ist Heraklit ein Demokrat: Am besten wäre es, die Menschen zu ihrem Glück zu<br />

zwingen.<br />

Richtig bunt wird's erst nach Sokrates' Tod im Jahre 399 vor Christus, als seine zahlreichen Schüler das<br />

philosophische Denken tüchtig aufzumischen beginnen.


Auf <strong>de</strong>r einen Seite Platon, brillanter Kopf, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r antiautoritären Essenz seines Meisters jedoch<br />

nichts mitbekommen zu haben scheint. Mit seinem Bestseller "Der Staat" wird er für alle Zeiten quasi<br />

zum Designer <strong>de</strong>s autoritären, zentralistischen, alles beherrschen<strong>de</strong>n Staates. Als einer <strong>de</strong>r ersten gibt er<br />

<strong>de</strong>m Begriff ›Anarchie‹ eine politische Definition und stellt ihn gleichberechtigt neben ›Demokratie‹,<br />

Freilich ist für Plato bei<strong>de</strong>s gleich verwerflich. Anarchie beschreibt er als bunt, ungebun<strong>de</strong>n und zuchtlos<br />

- also schädlich. Platons berühmter Schüler Aristoteles sie<strong>de</strong>lt Anarchisten als außerhalb <strong>de</strong>s Staates<br />

stehend an und verdammt sie konsequenterweise als gesetzlose, gefährliche Bestien. Solche Definitionen<br />

sollten Schule machen und lange Zeit gültig bleiben.<br />

Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite aber bil<strong>de</strong>n sich im Humus von Sokrates' geistigem Erbe verschie<strong>de</strong>ne<br />

philosophische Schulen heraus, die in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahrhun<strong>de</strong>rten zu <strong>de</strong>n wichtigsten Strömungen <strong>de</strong>s<br />

Quer<strong>de</strong>nkertums wer<strong>de</strong>n sollen: Die Epikuräer, die Kyniker und die Stoiker. Sie alle sind auf die eine o<strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>re Weise individualistisch, ohne jedoch in platten Egoismus abzugleiten. Und sie alle pfeifen mehr<br />

o<strong>de</strong>r weniger auf Staat, Obrigkeit und Gesetze. Das autonome Individuum rückt in <strong>de</strong>n Mittelpunkt <strong>de</strong>s<br />

Denkens.<br />

Die von Aristippos im dritten vorchristlichen Jahrhun<strong>de</strong>rt begrün<strong>de</strong>te Schule <strong>de</strong>s Hedonismus, die später<br />

nach <strong>de</strong>m Philosophen Epikur das Adjektiv epikuräisch verpaßt bekommt, stellt zum ersten Mal die<br />

Legitimität <strong>de</strong>s Genusses ins Blickfeld <strong>de</strong>r Philosophie und lockert die sklavische Abhängigkeit <strong>de</strong>s<br />

Individuums vom Terror <strong>de</strong>r Götter. Epikur, <strong>de</strong>r in seinem "Garten", in <strong>de</strong>m er lehrte, kostenlos Frauen<br />

und Männer aller sozialer Schichten empfing, machte sich ebenso schnell unbeliebt, wie seine<br />

Anhängerschaft im ganzen Mittelmeerraum wuchs. Sein Credo besagt, daß Gesellschaften, die auf<br />

Zuneigung und Freundschaft gegrün<strong>de</strong>t sind, menschlicher seien als solche, die auf theoretischer<br />

Gleichheit und Gerechtigkeit fußen. Die Epikuräer, weit von <strong>de</strong>m ihnen anhängen<strong>de</strong>n Vorurteil blin<strong>de</strong>r<br />

Genußsucht und Wollust entfernt, entsprechen am ehesten <strong>de</strong>m Teil <strong>de</strong>s<br />

147<br />

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mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus, <strong>de</strong>r zwischen bewußtem Leben, <strong>de</strong>m Recht auf eigenen Lebensstil, <strong>de</strong>r<br />

Legitimität <strong>de</strong>s irdischen Genusses und einem kämpferischen Individualismus angesie<strong>de</strong>lt ist. Ihrem<br />

Vorläufer Aristippos, <strong>de</strong>r im Gegensatz zum ›asketischen Genießen Epikur ein regelrechter Snob gewesen<br />

sein muß, wird <strong>de</strong>r Ausspruch zugeschrieben, <strong>de</strong>r Weise solle seine Freiheit nicht <strong>de</strong>m Staate opfern.<br />

Auch die Kyniker waren nicht unbedingt das, was wir heute einen Zyniker nennen - jemand, <strong>de</strong>r mit<br />

klugem aber ätzen<strong>de</strong>m Spott die Gefühle an<strong>de</strong>rer Menschen verhöhnt. Scharfzüngig zwar, und berüchtigt<br />

für ihre entlarven<strong>de</strong>n Paradoxa*, können wir diese philosophische Schule am ehesten als die Speerspitze<br />

einer anarchoi<strong>de</strong>n Spaßguerilla <strong>de</strong>r Antike ansehen, die keine etablierten Autoritäten anerkannte. Einer<br />

ihrer prominentesten Schüler, Diogenes von Sinope, war <strong>de</strong>r exzentrische Zivilisationsspötter par<br />

excellence. Er geiselte die Sklaverei, proklamierte seine Brü<strong>de</strong>rschaft mit allen Lebewesen und sich selbst<br />

zum ersten ›Weltbürger‹ <strong>de</strong>r Geschichte. Er wollte nicht besser leben als ein Hund. Seine hündische -<br />

griechisch kynische - Lebensweise bescherte ihm als Behausung ein ›Faß‹, vor <strong>de</strong>m eines Tages <strong>de</strong>r<br />

mächtige Feldherr Alexan<strong>de</strong>r auftauchte, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m berühmten Philosophen anbot, sich zu wünschen, was<br />

immer er wolle. Diogenes' Wunsch, Alexan<strong>de</strong>r möge ihm bitte aus <strong>de</strong>m Licht gehen, war <strong>de</strong>r<br />

autoritätsverachten<strong>de</strong>n Philosophie eines Kynikers würdig und wur<strong>de</strong> entsprechend berühmt.<br />

Die I<strong>de</strong>enwelt <strong>de</strong>r Kyniker konzentriert sich auf die Begriffe physis (Natur) und nomos (Konvention), die<br />

die Philosophie bisher in Einklang zu bringen versuchte. Die kynische Schule hingegen lehnte die<br />

menschlichen Konventionen ab, die sie als künstlich, zufällig und aufgesetzt empfand. Statt<strong>de</strong>ssen machte<br />

sie sich auf die Suche nach ›Naturgesetzen‹ - Physis triumphiert über Nomos. So predigte beispielsweise<br />

<strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>rvater Antisthenes, <strong>de</strong>r seiner aristokratischen Klasse <strong>de</strong>n Rücken gekehrt hatte, auf<br />

Massenmeetings unter freiem Himmel <strong>de</strong>r arbeiten<strong>de</strong>n Bevölkerung einen Weg ›zurück zur Natur‹, in <strong>de</strong>r<br />

Regierung, Privateigentum, etablierte Religion o<strong>de</strong>r Ehe keinen Platz mehr hätten, <strong>de</strong>nn in einer<br />

natürlichen Ordnung‹ wür<strong>de</strong>n sie überflüssig sein.


Für einen Kyniker sind konventionelle Regeln ebenso ›un-natürlich‹ wie lästig. Gesetz, Hierarchie und<br />

Gebräuche seien bei verschie<strong>de</strong>nen Völkern und zu verschie<strong>de</strong>n Zeiten unterschiedlich, sie hätten also<br />

keine Universalität und daher auch keine moralische Autorität. Beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>r Person <strong>de</strong>s Diogenes, <strong>de</strong>r<br />

das Geld verachtete, passiven Wi<strong>de</strong>rstand leistete und einen subversiven Alltag vorlebte, zeigt sich das<br />

an-archische Element <strong>de</strong>r kynischen Schule.<br />

Noch näher am Anarchismus wer<strong>de</strong>n die Stoiker angesie<strong>de</strong>lt. Für Kropotkin war Zeno von Citium (3. und<br />

2. vorchristliches Jahrhun<strong>de</strong>rt) "<strong>de</strong>r beste Exponent anarchistischer Philosophie im alten Griechenland".<br />

Kein Wun<strong>de</strong>r, setzt er doch gegen Platons Staatskommunismus das I<strong>de</strong>al einer freien Kommune ohne<br />

Regierung. Zeno erkennt - ganz wie sein russischer Bewun<strong>de</strong>rer - in <strong>de</strong>r Menschheit sowohl <strong>de</strong>n Instinkt<br />

<strong>de</strong>r Selbsterhaltung, <strong>de</strong>r sich in Egoismus äußere, als auch <strong>de</strong>n sozialen Instinkt, <strong>de</strong>r zu Kooperation<br />

führe. Bei<strong>de</strong> Ten<strong>de</strong>nzen befän<strong>de</strong>n sich im freien Spiel <strong>de</strong>r Kräfte, wobei die <strong>de</strong>r sozialen Koope-<br />

148<br />

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ration in <strong>de</strong>m Maße wachse, wie sich <strong>de</strong>r Mensch an seinen "natürlichen Bedürfnissen" orientiere.<br />

Zwangsinstitutionen wür<strong>de</strong>n dann überflüssig.<br />

Die Stoiker knüpfen also am Begriff <strong>de</strong>s ›Naturrechts‹ <strong>de</strong>r Kyniker an, lehnen aber im Gegensatz zu ihnen<br />

die Vorteile <strong>de</strong>r Zivilisation nicht ab. Sie sind eher Realisten als Provokateure, und von <strong>de</strong>n Epikuräern<br />

bringen sie die Fähigkeit zum Genuß mit ein. Eine hübsche Mischung, die starke Elemente <strong>de</strong>ssen in sich<br />

trägt, was wir heute Individualismus, Rationalismus, Gleichheit und Weltoffenheit nennen wür<strong>de</strong>n.<br />

Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s ›Naturrechts‹ setzt ›Gott‹ mit ›Natur‹ gleich und ›Natur‹ mit ›Vernunft‹. Ein philosophischer<br />

Trick mit tiefreichen<strong>de</strong>n Folgen für lange Zeit:<br />

Göttliches Recht entspräche <strong>de</strong>mnach natürlichem Recht, die Grenzen <strong>de</strong>s Menschen gegenüber <strong>de</strong>n<br />

Göttern wären genau die, die auch die Natur setzt. Sich gegen die Natur (= Gott) aufzulehnen, ist<br />

unvernünftig. Also ist es vernünftig, das Naturrecht (= göttliche Ordnung) zu respektieren.<br />

Naturwissenschaft wäre folglich die Erforschung dieser Ordnung. Es leuchtet ein, daß ein solches<br />

Gottesbild sich immer mehr von mystischer Religion entfernt. Rationalität bekommt einen göttlichen<br />

Charakter, das religiöse Element verkümmert. In all <strong>de</strong>m ähnelt die Stoa stark <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>alen <strong>de</strong>r<br />

Aufklärung, ebenso, wie in <strong>de</strong>m schier grenzenlosen Glauben an die Güte <strong>de</strong>s Menschen, sofern er sich<br />

nur ›natürlich‹ entwickeln kann - ein Glaube übrigens, <strong>de</strong>r seit Rousseau viel an Überzeugungskraft<br />

verloren hat und im Anarchismus heute eher kritisch gesehen wird. Vor 2200 Jahren jedoch war eine<br />

solche Denkweise bahnbrechend, <strong>de</strong>nn sie setzte erstmals ein Gegengewicht gegen das lokale, autoritäre,<br />

gotthörige Macht<strong>de</strong>nken in <strong>de</strong>r griechischen Mainstream-Philosophie mit ihren personifiziertem<br />

Gottheiten. So konnte ein geschlossenes politisches Weltbild entstehen:<br />

Ein weiser Mensch, so die Stoiker, beteilige sich am politischen Leben, wenn er nicht daran gehin<strong>de</strong>rt<br />

wird, <strong>de</strong>r Staat aber verhin<strong>de</strong>re solches Engagement von Natur aus. Alle Staaten seien daher in gleicher<br />

Weise von Übel. Stoiker erweisen sich außer<strong>de</strong>m als wahre Kosmopoliten. Im Gegensatz zu Platon und<br />

Aristoteles halten sie alle Menschen für gleichwertig und wen<strong>de</strong>n sich folgerichtig gegen die Sklaverei in<br />

<strong>de</strong>r Polis. In Zenos "Republik" gibt es keine Rassen- o<strong>de</strong>r Rangunterschie<strong>de</strong>, we<strong>de</strong>r Gerichtshöfe noch<br />

Polizei, Armeen, Tempel, Geld, Ehe noch Schulen. In einer solchen ›natürlichen Ordnung‹ "arbeitet ein<br />

je<strong>de</strong>r nach seinen Fähigkeiten und konsumiert nach seinen Bedürfnissen". Erst gut 2000 Jahre später wird<br />

die Tradition solch radikaler Gedankengänge zaghaft wie<strong>de</strong>r aufgegriffen: von Lessing und Fichte,<br />

vehementer dann von Godwin, Kropotkin und Landauer.<br />

Vergessen wir aber eines nicht: Zenos "Republik" war kein real existieren<strong>de</strong>s Territorium, son<strong>de</strong>rn<br />

Philosophie. I<strong>de</strong>en, die als schriftliche Fragmente o<strong>de</strong>r Berichte auf uns gekommen sind. Epikuräer,<br />

Kyniker und Stoiker waren Randgruppen <strong>de</strong>r Gesellschaft, die im Gegensatz zur herrschen<strong>de</strong>n Moral und<br />

Philosophie stan<strong>de</strong>n. ›Spinner‹ vermutlich in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r meisten Menschen, die überhaupt von ihnen<br />

Kenntnis nahmen. Über konkrete Versuche, solche I<strong>de</strong>en in die Tat umzusetzen, ist wenig bekannt. Sofern<br />

es dazu Ansätze gab, die


149<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

über die Privathäuser <strong>de</strong>r Philosophen hinausgingen, sind sie nicht erfolgreich gewesen – sonst hätten wir<br />

sehr wahrscheinlich davon erfahren. Philosophie war im alten Griechenland ein Steckenpferd<br />

privilegierter Menschen.<br />

Dennoch darf die Wirkung solcher philosophischer Schulen nicht unterschätzt wer<strong>de</strong>n. Zum einen sind sie<br />

Trendsetter. Ohne Zweifel haben sie einen Einfluß auf <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>r Zeit und wirken auf das soziale<br />

Leben einer Epoche. So fand die Stoa im gesamten Mittelmeerraum Anhänger, beson<strong>de</strong>rs in Kleinasien<br />

und in Rom, wo sie nachhaltigen Einfluß auf die Rechtsprechung ausübte - die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Naturrechts<br />

verdrängte die <strong>de</strong>s Formalrechts. Zum an<strong>de</strong>ren wur<strong>de</strong>n sie Teil <strong>de</strong>r menschlichen Kulturgeschichte und<br />

wirkten wie Samenkörner <strong>de</strong>r Freiheit, die Jahrhun<strong>de</strong>rte überdauerten, um irgendwann auf fruchtbaren<br />

Bo<strong>de</strong>n zu fallen und Keime in <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Wirklichkeit zu treiben. Die wenigen hellen Denker<br />

<strong>de</strong>s Mittelalters schöpften ebenso aus diesem Saatgut wie die Philosophen <strong>de</strong>r Renaissance, die Aufklärer<br />

<strong>de</strong>r Neuzeit und die frühen Anarchisten.<br />

Düstere Zeiten im Schatten <strong>de</strong>r Kirche<br />

Die nun folgen<strong>de</strong>n Jahrhun<strong>de</strong>rte sind arm an solchen freiheitlichen ›Samenkörnern‹, und auch die ›A<strong>de</strong>rn<br />

<strong>de</strong>r Freiheit pulsieren für lange Zeit nurmehr ganz schwach. Das Römische Reich ist nicht nur <strong>de</strong>r<br />

machtpolitische Triumph <strong>de</strong>s Staates an sich, son<strong>de</strong>rn gipfelt in schärfster Konsequenz in einem bis dahin<br />

nie gekannten Imperialismus. Fast die gesamte abendländische Welt ist einer einzigen, mächtigen,<br />

zentralen Staatsdoktrin unterworfen und dient Rom. Schlechte Zeiten für die Liebe zur Freiheit.<br />

Danach kommt das sogenannte ›finstere Mittelalten, das zwar in vielem so finster nicht war wie<br />

gemeinhin angenommen, in <strong>de</strong>r Frage globaler Freiheit aber eben doch. Im Gefolge <strong>de</strong>r neuen christlichen<br />

Religion und ihrem einen, gestrengen, neurotisch-autoritären Gott folgt - mit etwas zeitlichem Abstand -<br />

ein neuer, religiöser Imperialismus: Kirche, Klerus und Klöster überziehen Europa mit einer ebenso<br />

dumpfen wie intoleranten Einheitsdoktrin. Sie ist auf Angst aufgebaut und verfilzt sich vortrefflich mit<br />

<strong>de</strong>r weltlichen Staatsmacht. Ein Denken außerhalb religiöser Kategorien ist für an<strong>de</strong>rthalb Jahrtausen<strong>de</strong><br />

schier unmöglich gewor<strong>de</strong>n.<br />

Darum ist das meiste, was uns aus diesen Zeiten an freiheitlichen Impulsen überliefert ist, entwe<strong>de</strong>r<br />

direkte Rebellion gegen Unterdrückung o<strong>de</strong>r aber Abweichung von <strong>de</strong>r kirchlichen Lehre. Sklaven und<br />

Ketzer*, Bauern und Häretiker* sind die Protagonisten* dieses Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s. Die Quellenlage aus<br />

heutiger Sicht ist dabei schier zum Verzweifeln. Die reinen Aufstandsbewegungen haben kaum Schriften<br />

o<strong>de</strong>r Theorien hervorgebracht; sie sind uns nur aus <strong>de</strong>n Berichten <strong>de</strong>r Sieger bekannt, und entsprechend<br />

schlecht kommen sie dabei weg. Bei <strong>de</strong>n Häretikern gibt es schon eher schriftliche Dokumente, da ihre<br />

Denker meist selbst <strong>de</strong>r Kirche entstammten und fleißige Schreiber waren. Vieles aber wur<strong>de</strong> vernichtet,<br />

und <strong>de</strong>n Rest muß man sich mühsam aus <strong>de</strong>n Akten <strong>de</strong>r Inquisitoren zusammenreimen. Das ist etwa so<br />

authentisch*, wie wenn man die Weltanschauungen <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rständler gegen Hitler aus <strong>de</strong>n<br />

Verhörprotokollen <strong>de</strong>r Gestapo rekonstruieren wollte.<br />

150<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Seit <strong>de</strong>r Zeitenwen<strong>de</strong> gibt es kein Jahrhun<strong>de</strong>rt ohne Aufstand und Häresie. Eine ununterbrochene Kette<br />

<strong>de</strong>r Aufmüpfigkeit begleitet die ›offizielle‹ Entwicklung <strong>de</strong>r Gesellschaft. Plebejer, Gracchen, die von<br />

Spartakus angeführten Sklaven, Kimbern, Teutonen und Donatisten erhoben sich gegen das Römische<br />

Reich. Allein in unserer näheren Umgebung setzten sich Bataver, Sachsen, Slawen, Friesen, Lutizen und<br />

immer wie<strong>de</strong>r die geknechteten Bauern gegen Unterdrückung und Entrechtung zur Wehr. Köln,


Mag<strong>de</strong>burg, Straßburg, Mainz, Würzburg o<strong>de</strong>r Braunschweig erlebten Erhebungen gegen die Obrigkeit<br />

ebenso wie Bayern, das Elsaß, Thüringen, Pommern, Dithmarschen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Sundgau. Sie alle können<br />

we<strong>de</strong>r aufgezählt noch untersucht wer<strong>de</strong>n.<br />

Haben solche Rebellionen an-archische Züge gehabt? In einem strengen Sinne sicher nicht, <strong>de</strong>nn in <strong>de</strong>r<br />

Regel fehlte die Gesamtheit einer herrschaftsfreien Vision. So kommt <strong>de</strong>nn auch Max Nettlau in seiner<br />

"Geschichte <strong>de</strong>r Anarchie" zu <strong>de</strong>m Urteil, daß die Aufstän<strong>de</strong> im alten Rom ebenso autoritäre Formen<br />

aufwiesen wie die urchristlichen Gemeinschaften, die trotz ihrer kommunistisch-<strong>de</strong>mokratischen<br />

Anfangsphase rasch in <strong>de</strong>r neuen Staatsreligion aufgesogen wur<strong>de</strong>n. Für die Sache <strong>de</strong>r Freiheit, so<br />

Nettlau, "kamen alle diese nicht in Betracht", und er läßt nur wenige Ausnahmen gelten. Im Sinne unserer<br />

unbefangenen Suche nach Essentials jenseits <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Anarchismusbegriffs aber lohnt sich ein etwas<br />

näheres Hinsehen.<br />

"O Ihr Dummköpfe! Je<strong>de</strong>r kann in ein Buch schreiben, was er will; und <strong>de</strong>r das Evangelium schrieb,<br />

konnte auch schreiben, was er wollte." Solch respektlose<br />

Sätze aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> überzeugter Christen klingen ungewohnt. Und doch sind sie typisch für jenen<br />

egalitären und antiautoritären Strang, <strong>de</strong>r sich als Opposition durch die Geschichte <strong>de</strong>s Christentums zieht<br />

und bis heute nicht zum Schweigen gebracht wur<strong>de</strong>.<br />

Das Zitat stammt aus <strong>de</strong>r Endphase <strong>de</strong>r Katharer, einer ungemein populären christlichen<br />

Protestbewegung, die im 12. und 13. Jahrhun<strong>de</strong>n große Teile Sü<strong>de</strong>uropas erfaßte. Diese Menschen<br />

verstan<strong>de</strong>n sich nach <strong>de</strong>m griechischen katharos als ›die Reinen‹ - ein Wort, aus <strong>de</strong>m das <strong>de</strong>utsche<br />

›Ketzer‹ entstand. Sie wandten sich gegen die allgemeine Armut und die Privilegien <strong>de</strong>s A<strong>de</strong>ls,<br />

verspotteten die Amtskirche mitsamt ihren Dogmen und ihrem Pomp, predigten ein einfaches Leben und<br />

betrachteten alle Menschen als gleich. Das galt auch für Frauen, was in <strong>de</strong>r patriarchalen Welt <strong>de</strong>s<br />

Mittelalters eine unglaubliche Provokation war. Offenbar trafen aber solche I<strong>de</strong>en die Bedürfnisse und<br />

<strong>de</strong>n Geschmack breitester Kreise und wur<strong>de</strong>n zu einer ernsten Bedrohung <strong>de</strong>r Kirche. Da Ketzer überdies<br />

<strong>de</strong>n nötigen Respekt vor <strong>de</strong>r Heiligen Schrift und <strong>de</strong>r Heiligen Römischen Kirche vermissen ließen, saß<br />

Papst Gregor IX. schließlich <strong>de</strong>rart in <strong>de</strong>r Klemme, daß er 1232 die ›Heilige Inquisition‹ erfand, ein<br />

Glaubensgericht, das mittels Tribunal, Folter und To<strong>de</strong>sstrafe alle Arten von ›Irrglauben‹ bekämpfen<br />

sollte. Es folgten, Hand in Hand mit staatlicher Macht, regelrechte Ausrottungskriege - etwa gegen die<br />

Albigenser in <strong>de</strong>r Provence o<strong>de</strong>r die Wal<strong>de</strong>nser in Frankreich und Norditalien. Trotz aller Brutalität sollte<br />

es über siebzig Jahre dauern, bis die Katharer endlich vernichtet waren - nur, um neuen<br />

Protestbewegungen<br />

151<br />

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Platz zu machen, die dann ebenfalls verfolgt wur<strong>de</strong>n. Die Inquisition - sie besteht bis heute, darf aber<br />

keine weltlichen Strafen mehr verhängen - blieb in ihrer beinahe 8oo-jährigen Geschichte nie ohne<br />

Beschäftigung.<br />

Kirchliche Rebellen - gleich ob in Wort, Schrift o<strong>de</strong>r Tat - hießen seit <strong>de</strong>n Tagen <strong>de</strong>r Katharer allgemein<br />

›Ketzer‹. Und Ketzer wur<strong>de</strong>n, sofern sie nicht reuig waren und von <strong>de</strong>r Mutter Kirche Pardon erhielten,<br />

bis ins 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt hinein verbrannt, gehängt, gevierteilt o<strong>de</strong>r gerä<strong>de</strong>rt. Oft genug reichte es hierfür<br />

aus, von <strong>de</strong>r offiziellen Meinung abzuweichen und selbst nachzu<strong>de</strong>nken. Treffen<strong>de</strong>r ist <strong>de</strong>shalb das Wort<br />

Häretiker. Es kommt von <strong>de</strong>m griechischen Wort für ›Wahl‹, häresis, und bezeichnet Menschen, die<br />

"selbsterwählten Anschauungen o<strong>de</strong>r Lebensarten anhängen". Schon im zweiten nachchristlichen<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rt wird das Wort von <strong>de</strong>r Kirche für das Verbrechen "willkürlicher Menschenmeinung"<br />

verwen<strong>de</strong>t und bezeichnet fortan einen ›Abweichler‹ von <strong>de</strong>r göttlichen Wahrheit, die natürlich von <strong>de</strong>r<br />

Kirche festgelegt wur<strong>de</strong>. Und Abweichung galt als eine arge Sün<strong>de</strong>, die durchaus to<strong>de</strong>swürdig war.<br />

Dabei gab es ›Häresie‹ schon vor <strong>de</strong>r Kirche - genau genommen schon vor <strong>de</strong>r historischen Gestalt <strong>de</strong>s<br />

Jesus' von Nazareth. Dieser war nämlich nur einer von zahlreichen utopischen Spinnern‹, die seinerzeit


mit ihren Provokationen und prophetischen Visionen im jüdischen Stammland umherschweiften und <strong>de</strong>n<br />

braven Bürgern damit vermutlich ziemlich auf die Nerven gingen. Ähnlich wie bei uns während <strong>de</strong>r<br />

Hippie-Ära waren damals in Palästina An<strong>de</strong>rsartigkeit, universelle Liebe, Herausfor<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r<br />

Autoritäten, neue Lebensformen, Visionen von Gleichheit und natürlich Wi<strong>de</strong>rstand gegen die<br />

Staatsgewalt schwer in Mo<strong>de</strong>. Und bevor jener belächelte Provo-Prophet Jesus gekreuzigt wur<strong>de</strong>, zum<br />

Mythos avancierte und unter <strong>de</strong>m Spitznamen ›<strong>de</strong>r Gesalbte‹ (Christus) zum Stifter einer neuen Religion<br />

ward, hatte er sehr wahrscheinlich in Verbindung mit einer radikalen religiösen Sekte gestan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n<br />

Essenern. Diese wohnten in einer Art Dorfkommune an <strong>de</strong>n Ufern <strong>de</strong>s Toten Meeres und praktizierten<br />

einen ›vorchristlichen‹ Liebeskommunismus in Gleichheit, Armut, Führerlosigkeit und religiöser<br />

Sinnsuche im Einklang mit <strong>de</strong>r Natur und ihren Gesetzen. Ohne Zweifel ist vieles von <strong>de</strong>m, was <strong>de</strong>r<br />

wan<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Prophet Jesus in Wort und Tat von sich gab, hier entlehnt.<br />

Erst Jahrzehnte und Jahrhun<strong>de</strong>rte später schrieben irgendwelche Leute, die nicht dabeiwaren, all die<br />

Anekdoten und Legen<strong>de</strong>n auf, die über Jesus vom Hörensagen kursierten. So entstan<strong>de</strong>n die ›Evangelien‹<br />

- Teil jener zweifelhaften Textsammlung namens Bibel, die als ›Buch <strong>de</strong>r Bücher‹ bis heute nicht<br />

angezweifelt wer<strong>de</strong>n darf. Aus ihm wur<strong>de</strong> dann sehr schnell ein Paket von ›Wahrheiten‹ geschnürt, die<br />

einer machtbesessenen, dogmatischen und intoleranten Kirche dienten, die sich christlich nannte.<br />

Vermutlich wäre <strong>de</strong>r historische Jesus von Nazareth in ihr <strong>de</strong>r erste Rebell gewesen.<br />

Das heißt nichts weniger, als daß Häresie in ihrem eigentlichen Sinn nicht eine Abweichung, son<strong>de</strong>rn<br />

gera<strong>de</strong>zu etwas Typisches <strong>de</strong>s Christentums ist - ganz einfach <strong>de</strong>shalb, weil Jesus von Nazareth als freier<br />

Sucher abweichen<strong>de</strong>r Anschauungen und Lebensarten selbst ein typischer Häretiker war. Insofern wäre<br />

die christliche Kirche die wirkliche<br />

152<br />

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Degenerierung* <strong>de</strong>r Ethik Jesu. So je<strong>de</strong>nfalls sehen es mehr o<strong>de</strong>r weniger stark alle häretischen<br />

Bewegungen: sie streben stets nach einem ›wahren‹ Christentum, wollen zurück zu <strong>de</strong>n unverfälschten<br />

Ursprüngen. Dabei suchen sie <strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>r Botschaft weniger in <strong>de</strong>r peniblen Auslegung kirchlicher<br />

Texte als vielmehr in <strong>de</strong>m Geist, <strong>de</strong>n sie beispielhaft im Leben Jesu meinen gefun<strong>de</strong>n zu haben. Diese<br />

Ten<strong>de</strong>nz ist nicht auf das Mittelalter beschränkt. Sie zieht sich lückenlos hin, von <strong>de</strong>n Essenern bis zu<br />

Tolstoi. Jesus als Rebell - das inspiriert bis heute! Etwa die ›Theologie <strong>de</strong>r Befreiung‹ Lateinamerikas,<br />

das katholische Arbeiter-priestertum o<strong>de</strong>r das Werk <strong>de</strong>s religiös-pazifistischen Sozialisten Leonhard<br />

Ragaz. Gruppen wie die ›Catholic Workers‹ aus <strong>de</strong>n USA gehen noch einen Schritt weiter. Ihnen macht<br />

es offenbar keine Schwierigkeiten, Christus und Anarchie unter einen Hut zu bringen. Ihre Aktivisten<br />

Dorothy Day, Ammon Hennacy und Peter Maurin vertraten eine Art religiösen Anarchismus, ähnlich wie<br />

<strong>de</strong>r russische Denker Nikolai Berdjajew dies auf philosophischer Ebene tat. Der religiöse, ja ausdrücklich<br />

auch <strong>de</strong>r "christliche Anarchismus", bil<strong>de</strong>t seit langem einen kleinen aber interessanten Seitenstrang im<br />

›schwarzen Fa<strong>de</strong>n‹ <strong>de</strong>r libertären Bewegung. Religiöse Ansichten sind im Anarchismus ja auch nicht<br />

verboten, und Atheismus ist keinesfalls eine automatische Pflichtübung. Trotz<strong>de</strong>m können die meisten<br />

Anarchisten hier nicht mehr folgen. In unserem Zeitalter, so argumentieren sie, seien ›Religion‹ und<br />

maturharmonisches Weltbild‹ klar getrennt, wodurch auch <strong>de</strong>r "philosophische Trick" mit <strong>de</strong>m Naturrecht<br />

überflüssig wer<strong>de</strong>. Um so unverständlicher sei es, wie jemand Herrschaftsfreiheit mit <strong>de</strong>r Unterwerfung<br />

unter göttliche Autorität und Allmacht in Einklang bringen will.<br />

"Nichts ist uns frem<strong>de</strong>r als <strong>de</strong>r Staat" – diese Äußerung von Tertullian, einem <strong>de</strong>r ältesten lateinischen<br />

Kirchenväter, zeigt, wie stark und selbstverständlich christlich-antiautoritäre Tugend noch im 2.<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rt vertreten wur<strong>de</strong>. Das sollte sich bald än<strong>de</strong>rn. Die Sekte <strong>de</strong>r Christen baut noch in <strong>de</strong>r<br />

Verfolgung durch das Römische Imperium ihren eigenen hierarchischen Apparat auf und wird am En<strong>de</strong><br />

Staatsreligion. Das Christentum vollzieht eine radikale Wen<strong>de</strong> von seinen kommunitären Wurzeln hin zur<br />

Verfolgung <strong>de</strong>r utopischchristlichen Visionen. Ab sofort wer<strong>de</strong>n alle, die die Kungelei mit Macht und<br />

Reichtum ablehnen und statt<strong>de</strong>ssen in <strong>de</strong>m egalitären Liebesbeispiel die eigentliche Botschaft Jesu sehen,<br />

zu Verfolgten. Auch Tertullian bricht noch zu Lebzeiten mit <strong>de</strong>r Bischofskirche.


Der Gnostiker* Karpokrates von Alexandrien for<strong>de</strong>rt in seinem Buch "Über Gerechtigkeit" in <strong>de</strong>r Mitte<br />

<strong>de</strong>s 2. Jahrhun<strong>de</strong>rts einen seiner Meinung nach gottgewollten Kommunismus ein, <strong>de</strong>r auch in <strong>de</strong>r Natur<br />

überall erkennbar sei: Alle sollen an allen Gütern gleich teilhaben, niemand solle mehr besitzen als ein<br />

an<strong>de</strong>rer. Lust und Begier<strong>de</strong> dürften nicht unterdrückt wer<strong>de</strong>n, da sie ebenfalls natürlich und daher<br />

gottgefällig seien. Auf diese Gleichsetzung von Naturgesetz und Gotteswille beruft sich auch Bischof<br />

Ambrosius von Mailand (540-397), <strong>de</strong>r verkün<strong>de</strong>te: "Die Natur hat das Gemeinschaftsrecht hervorbracht.<br />

Die Anmaßung hat das Privateigentum erzeugt." Im syrischen Antiochia vertrat Johannes Chrysostomus<br />

(354-407) Ähnliches und predigte später, als er Bischof in Konstantinopel gewor<strong>de</strong>n war, <strong>de</strong>n unter<br />

römischer Steuerknechtschaft ächzen<strong>de</strong>n Untertanen<br />

153<br />

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ein kommunitäres Sozialwesen mit Gemeineigentum. Er starb in Verbannung. Augustinus, ein Schüler<br />

<strong>de</strong>s Ambrosius, verschenkte seinen gesamten Besitz, um fortan in Afrika zu wirken. Ein scharfer Gegner<br />

<strong>de</strong>r Verquickung von Kirche und Staat, schuf er mit seinem Buch "De civitate Dei" die erste christlich<br />

inspirierte politische Utopie, in <strong>de</strong>r das Gol<strong>de</strong>ne Zeitalter <strong>de</strong>r Menschheit nicht im verlorenen Paradies,<br />

son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r irdischen Zukunft liegen sollte. Diese Vision von Gottes Reich gipfelt in <strong>de</strong>m Satz "Liebe<br />

und tu was Du willst", die sich 1534 fast wörtlich in <strong>de</strong>n utopischen Schriften <strong>de</strong>s französischen<br />

›Frühlibertären‹ Rabelais wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>t. Augustinus wird damit zum Begrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Millenarismus, jener<br />

Hoffnung auf ein tausendjähriges Reich Gottes auf Er<strong>de</strong>n, geprägt von Gleichheit, Gerechtigkeit,<br />

Brü<strong>de</strong>rlichkeit und Liebe. Aus dieser Quelle sollten später noch viele kirchliche Rebellenbewegungen<br />

schöpfen.<br />

Nun blieben I<strong>de</strong>en wie die von Karpokrates, Ambrosius, Chrysostomus, Augustinus und an<strong>de</strong>rer fast<br />

immer ohne praktische Konsequenzen. Die christlichen Gemein<strong>de</strong>n lebten anfänglich ohnehin in einer Art<br />

Urkommunismus, und das Gros <strong>de</strong>r Bevölkerung erreichte diese Lehren kaum. Allenfalls kleinere<br />

Gruppen nahmen sich <strong>de</strong>rartige Predigten zu Herzen und folgten Männern wie Basilius, <strong>de</strong>r um 370 die<br />

Vision einer Stadt <strong>de</strong>r Nächstenliebe und Fürsorge propagierte. Herausgekommen ist dabei eine Reihe<br />

von Klöstern. Überdies wur<strong>de</strong>n die frühen kirchenkritischen Denker in <strong>de</strong>r Regel entwe<strong>de</strong>r entmachtet<br />

o<strong>de</strong>r aber korrumpiert. Eine Ausnahme bil<strong>de</strong>t die Staats- und kirchenkritische Bewegung <strong>de</strong>r Donatisten,<br />

die im 4. und 5. Jahrhun<strong>de</strong>rt in <strong>de</strong>r nordafrikanischen Provinz Numidien die soziale Rebellion <strong>de</strong>r<br />

verarmten Pachtbauern gegen die Großgrundbesitzer inspirierte und in vielem wie eine Vorwegnahme <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>utschen Bauernkriege erscheint. Es kam zu Steuerstreiks, Landbesetzungen, und schließlich zu<br />

bewaffneten Konflikten mit <strong>de</strong>m Römischen Imperium. Bischof Donatus, im Jahre 314 als<br />

›Basiskandidat‹ gegen <strong>de</strong>n Favoriten Roms gewählt, versorgte die Aufmüpfigen im Kampf um ihre<br />

Rechte mit biblischer Munition. Für ihn, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Satz "Was hat <strong>de</strong>r Kaiser mit <strong>de</strong>r Kirche zu tun?"<br />

zugeschrieben wird, galt das Naturrecht <strong>de</strong>s Menschen mehr als das Interesse <strong>de</strong>s Staates. Als <strong>de</strong>r<br />

Aufstand <strong>de</strong>r Donatisten und ihres militanten Flügels, <strong>de</strong>r Circumellionen, auch auf an<strong>de</strong>re römische<br />

Provinzen überzugreifen droht, greift Rom hart durch. Donatus wird nach Gallien verbannt und die<br />

Bewegung geächtet, verfolgt, ausgehungert und verleum<strong>de</strong>t.<br />

Im 9. Jahrhun<strong>de</strong>n brechen erneut aufrührerische I<strong>de</strong>en hervor und wer<strong>de</strong>n zu einer breiten sozialen<br />

Bewegung: Auf <strong>de</strong>m Balkan lehren die Bogumilen <strong>de</strong>n Ungehorsam gegen die Obrigkeit, verlachen die<br />

Kirche und verweigern <strong>de</strong>m A<strong>de</strong>l <strong>de</strong>n Dienst. Ungemein populär in <strong>de</strong>r bäuerlichen Bevölkerung, schickt<br />

die Bewegung Missionare ins westliche Europa, wo ihr Beispiel auf fruchtbaren Bo<strong>de</strong>n fällt. Im Laufe <strong>de</strong>r<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rte entsteht aus diesen Wurzeln die Bewegung <strong>de</strong>r Katharer, <strong>de</strong>r wir bereits begegnet sind. Auch<br />

sie folgen <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>al freiwilliger Armut und lehnen Herrschaft ab. Ihr Leben fassen sie als radikalen<br />

Ausstieg aus üblicher Norm und Ordnung auf: Staat, Ehe, weltliche Gerichtsbarkeit, Kriegsdienst und Eid<br />

sind ebenso verpönt wie das Töten von Menschen und Tieren. Viele Katharer wählen ein Wan<strong>de</strong>rleben,<br />

und so breitet sich die I<strong>de</strong>e epi<strong>de</strong>misch<br />

154


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aus: in Belgien, Italien, Deutschland und vor allem Frankreich ergreift die Bewegung überwiegend die<br />

städtische Bevölkerung. Verfolgt, unterdrückt und geschlagen, fin<strong>de</strong>t ›die Ketzerei‹ jedoch nie ein En<strong>de</strong>.<br />

Sie verbin<strong>de</strong>t sich mit neuen Bewegungen, verän<strong>de</strong>rt sich, und bald lassen sich kaum mehr feste Grenzen<br />

zwischen <strong>de</strong>n einzelnen Häresien feststellen. Trotz aller Verfolgung überleben sie, wie etwa die im 12.<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rt entstan<strong>de</strong>nen Wal<strong>de</strong>nser, in Untergrund, Exil und Partisanenkrieg bis zur Deutschen und<br />

Schweizer Reformation und konnten so bis in unsere Tage überdauern.<br />

Als En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 12. Jahrhun<strong>de</strong>rts Joachim von Fiore <strong>de</strong>n Anbruch <strong>de</strong>s ›dritten Zeitalters <strong>de</strong>s Heiligen<br />

Geistes‹ verkün<strong>de</strong>t, in <strong>de</strong>m alle Herren verschwän<strong>de</strong>n, und das Leben pure Freu<strong>de</strong> und Lust sein sollte,<br />

ziehen Zigtausen<strong>de</strong> ekstatischer Menschen tanzend durch die Lan<strong>de</strong> und verunsichern rechtschaffene<br />

Bürger und Kirchenobrigkeit gleichermaßen. Ähnliche Erschütterungen wie diese millenaristische Welle<br />

ruft <strong>de</strong>r kompromißlose Pazifist Franz von Assisi hervor, <strong>de</strong>ssen Radikalismus die Kirche allerdings in<br />

einem klösterlichen Or<strong>de</strong>n kanalisieren kann. Im 13. Jahrhun<strong>de</strong>rt tauchen die Brü<strong>de</strong>r und Schwestern <strong>de</strong>s<br />

freien Geistes auf, die einem radikalen Pantheismus* anhängen und die Einheit von Gott und Natur über<br />

das weltliche Gesetz erheben. Sie berufen sich dabei auf die Worte Paulus' im Brief an die Galater:<br />

"Regiert euch aber <strong>de</strong>r Geist, so seid ihr nicht unter <strong>de</strong>m Gesetz." Mit ihrem freien Kommunismus stellen<br />

sie sich bewußt außerhalb <strong>de</strong>r Gesellschaft, ihrer Sitten und Gebräuche. Eng verquickt und kaum<br />

auseinan<strong>de</strong>rzuhalten waren sie mit <strong>de</strong>n Beginen und Begar<strong>de</strong>n, die sich ebenfalls in Wohn- und<br />

Arbeitsgemeinschaften praktisch organisierten. Mit <strong>de</strong>n Beginen begegnen wir einer sehr frühen und<br />

außeror<strong>de</strong>ntlich aktiven Frauenbewegung <strong>de</strong>s Mittelalters. Es gelang ihnen zunehmend, in eigenen<br />

Klöstern Freiräume für ihre feminine, pantheistische und mystische Religiosität zu erkämpfen. Die<br />

praktischen Zielvorstellungen dieser meist <strong>de</strong>r Oberschicht entstammen<strong>de</strong>n Frauen zielten auf<br />

wirtschaftliche Unabhängigkeit durch Arbeit in einem herrschaftsfreien Raum hin, <strong>de</strong>m Frauenkloster.<br />

Die Schweifen<strong>de</strong>n Beginen wie<strong>de</strong>rum waren nicht ans Kloster gebun<strong>de</strong>n und zogen frei durchs Land. Es<br />

wird berichtet, daß sie gelegentlich unter Slogans wie "Tod <strong>de</strong>r Kirche" die saturierten* Mönche aus ihren<br />

Klöstern verjagten. Die Beginen verstießen gegen die kirchlichen Auffassungen von Eigentum, Arbeit,<br />

Keuschheit und <strong>de</strong>n Sakramenten. Frauen wie Hil<strong>de</strong>gard von Bingen, Mechthild von Mag<strong>de</strong>burg,<br />

Margarets von Porete o<strong>de</strong>r die <strong>de</strong>m ketzerischen Mystiker Meister Eckhart nahestehen<strong>de</strong> Schwester Katrei<br />

wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Kirchenhierarchie zunehmend als Bedrohung empfun<strong>de</strong>n. Nach<strong>de</strong>m zunächst <strong>de</strong>n<br />

Schweifen<strong>de</strong>n Beginen <strong>de</strong>r Garaus gemacht wur<strong>de</strong>, zwang Rom auch die Frauenklöster in <strong>de</strong>n Gehorsam<br />

o<strong>de</strong>r vernichtete ihre Bewegung durch Feuer und Schwert. Margarete von Porete wur<strong>de</strong> 1310 in Paris<br />

öffentlich verbrannt.<br />

In England erheben sich 1381 die Bauern in einer Revolte gegen A<strong>de</strong>l und drücken<strong>de</strong> Steuern, in <strong>de</strong>ren<br />

Spitze sich <strong>de</strong>r Priester John Ball stellt. Er verlieh <strong>de</strong>m Protest in einem berühmt gewor<strong>de</strong>nen Zweizeiler<br />

Ausdruck: "Als Adam grub und Eva spann, wo war da <strong>de</strong>r E<strong>de</strong>lmann?" Obwohl die Bewegung nach<br />

anfänglichen Erfolgen mit 100.000 Bewaffneten - in London einmarschiert, wird sie vom König mit<br />

Versprechungen hingehalten und<br />

155<br />

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schließlich plump übertölpelt. Dennoch sollten die radikalen Predigten <strong>de</strong>s John Ball, in <strong>de</strong>nen er zur<br />

Abschaffung von A<strong>de</strong>l, Richtern, Anwälten und allen Mächtigen aufruft, um die kommunitäre Gleichheit<br />

<strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n Gesellschaft zu sichern, über Jahrhun<strong>de</strong>rte unvergessen bleiben.<br />

1419 löst die Hinrichtung <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>raten Kirchenkritikers Jan Hus in Böhmen einen Aufstand aus. Waren<br />

die Hussiten eher autoritär-nationalistisch eingestellt, so versuchten sich im Gefolge dieser Bewegung die<br />

Taboriten mit <strong>de</strong>r Gründung eines Gemeinwesens, das spätere Historiker als "anarcho- kommunistisches<br />

Experiment" eingestuft haben: In einem Städtchen auf einem Berg nahe Prag, nach biblischem Vorbild<br />

Tabor getauft, grün<strong>de</strong>n sie eine Kommune ohne Eigentum und Steuern, in <strong>de</strong>r keine Autorität außer <strong>de</strong>r<br />

Bibel gilt. Sie teilen Besitz und Produktion und glauben in typisch millenaristischer Verklärung, daß das<br />

verheißene Reich, in <strong>de</strong>m alle Gesetze abgeschafft und die Erwählten unsterblich seien, nun angebrochen


wäre. Singend, tanzend und oftmals auch unbeklei<strong>de</strong>t ziehen sie durch die Wäl<strong>de</strong>r. Angesichts solcher<br />

Verzückung kümmern sie sich nur wenig um so weltliche Dinge wie effektive Produktion und<br />

Güterverteilung, so daß das Experiment nach wenigen Jahren wirtschaftlich zusammenbricht. Einige<br />

Taboriten verlegen sich nun auf Bettelei und Diebstahl, an<strong>de</strong>re gefallen sich in <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>s bewaffneten<br />

Armes gegen <strong>de</strong>n Antichrist und rufen dazu auf, alle Adligen zu schlachten. Von dieser Wen<strong>de</strong> zur<br />

Gewalt distanziert sich ein Teil <strong>de</strong>r Taboriten und zieht unter Peter Chelsicky ins ländliche Böhmen, wo<br />

sie eine pazifistische Gemeinschaft grün<strong>de</strong>n, aus <strong>de</strong>r später die ›Mährischen Brü<strong>de</strong>r‹ hervorgehen. In<br />

seinem Buch "Netz <strong>de</strong>s Glaubens" interpretiert Chelsicky Staat und politische Macht als Strafe für die<br />

Erbsün<strong>de</strong>, die, wenngleich <strong>de</strong>rzeit notwendige Übel, in <strong>de</strong>r Gemeinschaft wahrer Christen überflüssig<br />

seien. Kropotkin zählt ihn <strong>de</strong>shalb zu <strong>de</strong>n Vorläufern <strong>de</strong>s Anarchismus, und Rudolf Rocker sieht in ihm<br />

gar einen frühen Tolstoi.<br />

Vor <strong>de</strong>m Hintergrund solch bewegter Ketzeri<strong>de</strong>en nimmt sich <strong>de</strong>r Reformansatz eines Martin Luther eher<br />

zahm aus. Tatsächlich war die Luthersche Kritik an<br />

<strong>de</strong>r Katholischen Kirche und <strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong>n im Deutschen Reich alles an<strong>de</strong>re als radikal. In erster Linie<br />

war sie als ein Än<strong>de</strong>rungsvorschlag für verkrustete Institutionen geplant, und Luther war zunächst nicht<br />

mehr als ein Ketzer unter vielen, <strong>de</strong>r nur etwas mehr Glück hatte als an<strong>de</strong>re. Daß seine Thesen <strong>de</strong>nnoch so<br />

viel Wirbel machten und über verheeren<strong>de</strong> Kriege schließlich zur Geburt einer neuen Kirche führten, lag<br />

<strong>de</strong>nn auch weniger an <strong>de</strong>r Originalität <strong>de</strong>s Dr. Luther, als vielmehr an <strong>de</strong>r päpstlichen Halsstarrigkeit und<br />

<strong>de</strong>n machtpolitischen Konstellationen jener Zeit: Der Zusammenbruch <strong>de</strong>s Feudalismus zeichnete sich<br />

immer klarer ab. Neue gesellschaftliche Schichten waren aufgestiegen, alte kämpften gegen ihren<br />

Untergang, und die ewig Rechtlosen for<strong>de</strong>rten ihre Rechte ein. Die gesellschaftlichen Strukturen aber<br />

waren uralt und taugten nicht mehr für die neue Zeit. Der Ruf nach einer ›Reichsreform‹ wur<strong>de</strong> laut, aber<br />

nicht verwirklicht. Seit über 100 Jahren lehnten sich die Bauern im gesamten <strong>de</strong>utschsprachigen Raum<br />

gegen Armut und Rechtlosigkeit auf und griffen nun vermehrt zu <strong>de</strong>n Waffen. Kaiser, Kaufleute und<br />

Kirche, Patrizier, Reichsritter<br />

156<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

und Humanisten mischten ihre jeweiligen Interessen in <strong>de</strong>n Sauerteig dieses bewegten 16. Jahrhun<strong>de</strong>rts.<br />

Die Reformation entfesselte in diesen wi<strong>de</strong>rsprüchlichen Interessen Kräfte, die nicht mehr zu<br />

kontrollieren waren und auch das Ausland auf <strong>de</strong>n Plan riefen. Wo immer aber <strong>de</strong>r Wunsch nach<br />

wirklicher Befreiung und radikaler Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Zustän<strong>de</strong> durchschimmerte, wur<strong>de</strong>n die ›großen<br />

Reformatoren wie Luther, Calvin o<strong>de</strong>r Zwingli zu entschie<strong>de</strong>nen Verteidigern von Ruhe und Ordnung.<br />

Herrschaft, Unterwerfung und Hierarchie stellten sie nie in Frage.<br />

Das turbulente Jahrhun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Reformations- und Bauernkriege bringt aber auch an<strong>de</strong>re Namen hervor,<br />

die typisch für jene bizarre, aus <strong>de</strong>n Fugen geratene Welt sind.<br />

Zu Beginn <strong>de</strong>s 16. Jahrhun<strong>de</strong>rts steht fast <strong>de</strong>r gesamte süd<strong>de</strong>utsche Raum in Aufruhr. Die Bauern stellen<br />

regelrechte Heere auf und bedrängen die Obrigkeit mit einer Mischung aus For<strong>de</strong>rung, Kampf und<br />

Verhandlungstaktik. Einer dieser legendären Bauernbün<strong>de</strong> war <strong>de</strong>r Bundschuh; seine Struktur wür<strong>de</strong>n wir<br />

heute ›basis<strong>de</strong>mokratisch‹ nennen. Die zwölf Artikel ihrer Statuten beklagen Unrecht und for<strong>de</strong>rn Rechte,<br />

postulieren Gleichheit und Gemeineigentum, schmähen die Privilegien von A<strong>de</strong>l und Klerus - all das<br />

begrün<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>m Geist <strong>de</strong>s Evangeliums. Die geistigen, geistlichen und militärischen Anführer dieser<br />

verschie<strong>de</strong>nen ›Bauernhaufen‹ wie Florian Geyer, Ulrich von Hütten, Götz von Berlichingen, Wen<strong>de</strong>l<br />

Hipler, Thomas Müntzer o<strong>de</strong>r Joß Fritz waren keine Bauern, son<strong>de</strong>rn Pfarrer, Reichsritter o<strong>de</strong>r Notare, die<br />

sich <strong>de</strong>r Bewegung aus durchaus unterschiedlichen Motiven anschlössen: von tief empfun<strong>de</strong>nem<br />

Humanismus über Gerechtigkeitsgefühl, religiöse Überzeugung, politische Reformvisionen bis hin zu<br />

berechnen<strong>de</strong>m Eigennutz war alles vertreten. Auch aus <strong>de</strong>n Reihen <strong>de</strong>r Bauern sind einige - wenige -<br />

Namen überliefert, die aus <strong>de</strong>n Quellen aber meist als zwielichtige Gestalten hervorgehen. Desperados,<br />

wie wir heute sagen wür<strong>de</strong>n, die es nicht selten auf Beute und persönliche Rache abgesehen hatten. Sie<br />

sorgten mit ihrem wortradikalen Haß auf Pfaffen und Adlige zwar reichlich für <strong>de</strong>n Stoff, aus <strong>de</strong>m jene<br />

Legen<strong>de</strong>n sind, die später bei <strong>de</strong>n Linken so beliebt wur<strong>de</strong>n. Allerdings trugen ihre oft kopf- und


sinnlosen Exzesse* nicht wenig dazu bei, daß aus diesem Kampf kaum Neues erwuchs. Ihr Zorn war<br />

berechtigt und ist leicht zu verstehen - und die Grausamkeiten waren auf Seiten <strong>de</strong>r fürstlichen Truppen<br />

eher noch schlimmer -, er führte aber immer öfter zu Nie<strong>de</strong>rlagen und Diskreditierung dieser mächtigen,<br />

ruhelosen Bewegung. So konnten kaum Visionen für eine neue Ordnung ge<strong>de</strong>ihen, und Pläne reichten<br />

meist nicht über <strong>de</strong>n Augenblick hinaus. Der Protest machte sich an Einzelheiten fest und war, wie die<br />

Historikerin Christa Dericum schreibt, eher eine Zusammenballung revoltieren<strong>de</strong>r Potenzen als eine<br />

Revolution. We<strong>de</strong>r die geistige Elite noch ihre radikalisierte Basis erreichte je die visionäre Höhe etwa<br />

<strong>de</strong>r alten Griechen; ihr Begriff von Freiheit kommt nicht über die Bibel hinaus. Im dritten Artikel <strong>de</strong>s<br />

Bundschuh liest sich das so: "Es fin<strong>de</strong>t sich in <strong>de</strong>r Schrift, daß wir frei sind, und wir wollen frei sein.<br />

Freilich nicht so, daß wir ganz frei und keine Obrigkeiten haben wollen. Das lehrt uns Gott nicht."<br />

Ein Denken jenseits von Gott war schlicht tabu. Das gilt selbst für die mit kaum gekannter Radikalität<br />

auftreten<strong>de</strong>n interessanten ›Ran<strong>de</strong>rscheinungen‹ <strong>de</strong>r Bauernkriege<br />

157<br />

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wie die Wie<strong>de</strong>rtäufer, die Kommunen von Münster und Mühlhausen o<strong>de</strong>r gut hun<strong>de</strong>rt Jahre später die<br />

Diggers und Ranters, mit <strong>de</strong>nen in England die religiös inspirierten Revolten ausklingen.<br />

Im Gefolge all dieser Unruhen flutete eine Welle <strong>de</strong>r Heilserwartung durch Europa: Das ersehnte Reich<br />

von Gottes Gerechtigkeit sei angebrochen, hier und heute müsse es gelebt wer<strong>de</strong>n! Wie<strong>de</strong>rtäufer zogen<br />

durch die Lan<strong>de</strong>, zitierten millenaristische Prophezeiungen und verkün<strong>de</strong>ten <strong>de</strong>n Auserwählten die neue<br />

Zeit. Wie überall kamen die I<strong>de</strong>en von radikaler Gleichheit und <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> wirtschaftlicher Knechtschaft<br />

bei <strong>de</strong>n einfachen Leuten gut an. Im thüringischen Mühlhausen gelang <strong>de</strong>m bewaffneten Geheimbund<br />

Thomas Müntzers die Eroberung <strong>de</strong>r Stadt, und mit Hilfe <strong>de</strong>r Bauernschaft etablierte sich eine Kommune,<br />

die das praktische Experiment einer Gütergemeinschaft versuchte. 1525 wur<strong>de</strong> Müntzers Bauernarmee in<br />

Frankenhausen geschlagen. Einer <strong>de</strong>r Überleben<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Buchdrucker Hans Hut, begann daraufhin, <strong>de</strong>n<br />

generalisierten militanten Aufstand zu predigen. Sein Programm kam einer sozialen Revolution gleich:<br />

Christus wer<strong>de</strong> das Schwert führen, um alle Sün<strong>de</strong>n zu bestrafen, alle Regierungen zu vernichten und<br />

allen Besitz zu teilen. Auch nach <strong>de</strong>r Hinrichtung Huts breiteten sich die Wie<strong>de</strong>rtäufergemein<strong>de</strong>n weiter<br />

aus. Sie lebten in kommunitären Gruppen und lehnten die kirchlichen Riten und Sakramente ab.<br />

Erst nach <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschlagung <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rtäuferkommune von Münster im Jahre 1535 verebbte diese<br />

Bewegung. Jan Bockelson (Johann von Ley<strong>de</strong>n) hatte 1534 die Einwohnerschaft für seine<br />

millenaristischen Visionen gewonnen und in <strong>de</strong>r westfälischen Stadt das ›neue Jerusalem‹ ausgerufen. Ein<br />

Jahr lang wur<strong>de</strong> hier ein weitreichen<strong>de</strong>r Güterkommunismus gelebt, <strong>de</strong>r sowohl die Produktion als auch<br />

<strong>de</strong>n Konsum einschloß. Geld wur<strong>de</strong> abgeschafft, und allen stand alles zur Verfügung. Triebkraft dieses<br />

Experiments war in<strong>de</strong>s nicht Bockelsons Liebe zur Freiheit, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r religiöse Wahn <strong>de</strong>r<br />

›Auserwählten‹. Das Regime <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rtäufer war, allen Legen<strong>de</strong>n zum Trotz, durch und durch autoritär<br />

und führte zu einem neuen, tyrannischen Gesetzbuch, das <strong>de</strong>n Männern die Polygamie* erlaubte und <strong>de</strong>n<br />

Kin<strong>de</strong>rn Wi<strong>de</strong>rworte gegen ihre Eltern bei To<strong>de</strong>sstrafe verbot. Es gipfelte in <strong>de</strong>r Krönung <strong>de</strong>s Jan<br />

Bockelson zum "König <strong>de</strong>r Gotteskin<strong>de</strong>r und Regenten <strong>de</strong>s neuen Zion". Die aufständischen Bürger und<br />

Bauern von Münster hatten zwar bewiesen, daß sie sich von <strong>de</strong>r Obrigkeit befreien und auch<br />

wirtschaftlich erfolgreich selbst organisieren konnten, aber nur um <strong>de</strong>n Preis einer neuen Herrschaft, die<br />

kaum weniger tyrannisch war als die alte. Nach langer Belagerung und Hungersnot wur<strong>de</strong> Münster<br />

schließlich von bischöflichen Truppen genommen. Die Sieger hielten blutige Rache.<br />

Nach dieser Erfahrung wur<strong>de</strong>n die Wie<strong>de</strong>rtäufer zu strikten Pazifisten. Beson<strong>de</strong>rs in Mitteleuropa<br />

grün<strong>de</strong>ten sie zahlreiche Kommunen und Gemeinwesen. Der kommunitär-pazifistische Millenarist Jakob<br />

Hutter wur<strong>de</strong> zum Begrün<strong>de</strong>r einer wirtschaftlich blühen<strong>de</strong>n Siedlungsbewegung in Böhmen, Mähren,<br />

Süd<strong>de</strong>utschland und Österreich. Obwohl die Hutterer kein Privateigentum kannten und ein relativ<br />

beschei<strong>de</strong>nes Leben führten, verhalf die Solidarökonomie ihren Gemein<strong>de</strong>n zu blühen<strong>de</strong>m Wohlstand. So<br />

war neben religiöser Intoleranz wirtschaftlicher Neid ein Hauptgrund, <strong>de</strong>r 1622 zu ihrer Vertreibung<br />

führte.


158<br />

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Nicht wenige emigrierten in die Neue Welt, wo ihre Kolonien in <strong>de</strong>n USA und Kanada bis heute<br />

bestehen.<br />

All das klingt nun nicht gera<strong>de</strong> sehr ermutigend und schon gar nicht nach "Frühformen <strong>de</strong>r Anarchie".<br />

Vergessen wir aber nicht, daß wir uns auf die Suche nach Essentials begeben hatten. Versuchen wir<br />

<strong>de</strong>shalb ein Resümee:<br />

Fast alle Aufstandsbewegungen haben auffällige Übereinstimmungen. Es geht stets um die<br />

Wie<strong>de</strong>rerlangung o<strong>de</strong>r Verteidigung von ›Freiheit‹. Freiheit be<strong>de</strong>utet dabei zunächst immer das<br />

Abschütteln konkreter Herrschaft. Sofern sich Zielvorstellungen abzeichnen, gehen diese fast<br />

ausnahmslos in Richtung Gleichheit, Gemeinschaftlichkeit und Gerechtigkeit. Oft wer<strong>de</strong>n, wie bei <strong>de</strong>n<br />

meisten Bauernrevolten, alte Rechte eingefor<strong>de</strong>rt, die sich auf Kollektivität grün<strong>de</strong>ten: Genossenschaften,<br />

Autonomie o<strong>de</strong>r Gemeineigentum wie etwa die Allmen<strong>de</strong>*. Bei <strong>de</strong>n religiösen Häretikern das gleiche<br />

Bild: Leitmotiv ist hier stets das (Wie<strong>de</strong>rherstellen eines als ›wahr‹ empfun<strong>de</strong>nen Christentums. Und<br />

›wahr‹ be<strong>de</strong>utet dabei interessanterweise immer: Leben in Gemeinschaft, solidarisches Han<strong>de</strong>ln, Ächtung<br />

von Reichtum, gemeinsamer Besitz, Ablehnung von Knechtschaft, kirchlicher Hierarchie und Macht,<br />

Achtung vor <strong>de</strong>m Leben, Liebe zu <strong>de</strong>n Menschen und - in <strong>de</strong>n Grenzen einer intuitiv empfun<strong>de</strong>nen<br />

göttlichen Ethik - die Freiheit <strong>de</strong>s Geistes und meist auch <strong>de</strong>s einzelnen Menschen. Das liest sich fast wie<br />

ein anarchistischer For<strong>de</strong>rungskatalog aus <strong>de</strong>m 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt, wenn - ja, wenn <strong>de</strong>r Liebe Gott nicht<br />

ständig zwischen <strong>de</strong>n Zeilen hervorgucken wür<strong>de</strong>.<br />

Der Gottesbegriff ist daher <strong>de</strong>r Schlüssel zum Verständnis all dieser Rebellionen.<br />

Vermutlich können wir die einfache Tatsache heute nicht mehr nachvollziehen, daß das Mittelalter eine<br />

Ära war, in <strong>de</strong>r ein Denken außerhalb <strong>de</strong>s Rahmens ›Gott‹ gar nicht stattfand. Gottloses Denken war<br />

buchstäblich nicht <strong>de</strong>nk-bar. "Gott" stand hierbei nicht in erster Linie für ein religiöses Objekt, er war vor<br />

allem an<strong>de</strong>ren das einzig vorhan<strong>de</strong>ne Erkenntnissystem. Jenseits dieses Bil<strong>de</strong>s gab es einfach nichts, und<br />

basta. "Gott" war gleichbe<strong>de</strong>utend mit "Weltbild".<br />

Heute ist Religion Privatsache. Nicht je<strong>de</strong>r Gottgläubige ist religiös. Nicht je<strong>de</strong>r Religionsfeind ist<br />

Atheist. Atheisten können <strong>de</strong>n unterschiedlichsten Philosophien anhängen. Aber versuchen wir doch<br />

einmal, uns heute irgen<strong>de</strong>ine soziale o<strong>de</strong>r politische Bewegung außerhalb unseres mo<strong>de</strong>rnen Weltbil<strong>de</strong>s<br />

vorzustellen! Zweifeln Sozial<strong>de</strong>mokraten, islamische Fundamentalisten, Faschisten, Christen,<br />

Anarchisten, Woodo-Anhänger, Kommunistcn, Buddhisten, Liberale, Existentialisten, Esoteriker o<strong>de</strong>r<br />

Materialisten daran, daß ein Flugzeug <strong>de</strong>shalb fliegt, weil die Kräfte gemäß <strong>de</strong>m Newton'schen Gesetz<br />

wirken? O<strong>de</strong>r, daß sich die Er<strong>de</strong> um die Sonne dreht? O<strong>de</strong>r, daß <strong>de</strong>r Mond Ebbe und Flut bewirkt? Daran<br />

glaubt sogar <strong>de</strong>r Papst.<br />

Die Rolle aber, die in unserem Weltbild heute die Naturwissenschaften spielen, spielte früher Gott. Gewiß<br />

zweifeln viele mo<strong>de</strong>rne Menschen an wissenschaftlichen Erkenntnissen, vielleicht hat Newton ja gar nicht<br />

recht, und wer versteht schon Einstein! Wissen-<br />

159<br />

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schaftskritik gibt es en masse und zum Teil mit Recht, aber <strong>de</strong>nnoch - und darauf kommt es an - <strong>de</strong>nken<br />

wir alle im Rahmen unseres heutigen Erkenntnissystems. Natürlich auch Einstein, auch je<strong>de</strong>r fromme<br />

Katholik und sogar die Esoteriker, die mehr als alle an<strong>de</strong>ren so gerne mit logischen Analogieschlüssen<br />

überzeugen möchten.


Gera<strong>de</strong> darum ist die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s ›Naturrechts‹ so wichtig, jener "Trick mit Folgen", <strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>n Kynikern<br />

und <strong>de</strong>r Stoa auftauchte: Gott ist Natur und Natur ist Vernunft! Jemand konnte im Mittelalter von genau<br />

<strong>de</strong>n gleichen I<strong>de</strong>alen, Gefühlen und Gedanken befallen sein wie ein Anarchist <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts - er<br />

wäre <strong>de</strong>nnoch kaum in <strong>de</strong>r Lage gewesen, zu einem "Weltbild ohne Gott" zu gelangen, selbst wenn<br />

<strong>de</strong>rselbe Mensch heute vermutlich Atheist wäre. Ebensowenig, wie heute ein Anarchist zu einem<br />

"Weltbild ohne Natur" gelangen kann. Gewiß kann er die Naturwissenschaften kritisieren, aber trotz<strong>de</strong>m<br />

bleibt er im Rahmen unserer heutigen positiven Erkenntnis. Genauso hätte er vor tausend Jahren die<br />

Religion kritisieren können, nicht aber die I<strong>de</strong>e "Gott" leugnen - <strong>de</strong>nn das hätte geheißen, alles zu<br />

negieren, was vorstellbar war. Max Nettlaus Vermutung, die Angst vor Verfolgung hätte viele Denker <strong>de</strong>s<br />

Mittelalters daran gehin<strong>de</strong>rt, ihre Kritik schärfer zu formulieren, muß wohl relativiert wer<strong>de</strong>n. Klare<br />

Geister und mutige Visionäre wie Meister Eckhart, Giordano Bruno, Margarete von Porete, Erasmus von<br />

Rotterdam, Galileo Galilei, Kopernikus und ungezählte an<strong>de</strong>re scheuten sich nicht, das aufzuschreiben,<br />

was sie dachten. Für viel weniger kam man damals ohnehin auf <strong>de</strong>n Scheiterhaufen. Deshalb dürfen wir,<br />

selbst wenn sie waschechte Vorläufer mo<strong>de</strong>rner Naturwissenschaft waren, <strong>de</strong>n Bezug vieler Denker auf<br />

eine göttliche Ordnung kaum als taktische Tarnung verstehen, um sich vor Verfolgung zu schützen. Es<br />

fin<strong>de</strong>n sich im Mittelalter nicht <strong>de</strong>shalb keine ›Atheisten‹, weil es keine gegeben hätte, son<strong>de</strong>rn weil sie<br />

selbst sich gedanklich unmöglich so hätten <strong>de</strong>finieren können.<br />

Wir tun <strong>de</strong>shalb gut daran, an vielen Stellen, an <strong>de</strong>nen bei kritischen Denkern <strong>de</strong>s Mittelalters <strong>de</strong>r Begriff<br />

›göttlich‹ auftaucht, diesen als ein Axiom* zu verstehen, gera<strong>de</strong> so, wie wenn heute jemand ›natürlich‹<br />

sagt. So manche merkwürdige Einschränkung <strong>de</strong>s Freiheitsbegriffes erscheint dann in einem an<strong>de</strong>ren<br />

Licht. Lesen wir in alten Quellen, daß die Freiheit <strong>de</strong>s Menschen dort ihre Grenzen fin<strong>de</strong>t, wo sie gegen<br />

göttliche Ordnung verstößt, so müssen wir ›übersetzen‹, daß unsere Freiheit an <strong>de</strong>n Grenzen <strong>de</strong>r Natur<br />

en<strong>de</strong>t. Das klingt dann auf einmal nicht nur verständlich, son<strong>de</strong>rn sogar sehr vernünftig. Über diese<br />

Grenzen <strong>de</strong>r Natur und ihr Wesen können wir trefflich streiten, ebenso wie die Menschen <strong>de</strong>s Altertums<br />

über das Wesen Gottes und <strong>de</strong>ssen Grenzen streiten konnten. Darüber zu streiten, ob es Gott gab, müssen<br />

wir uns aber so abwegig vorstellen wie heute ein Streit darüber, ob es Natur gibt.<br />

Unter diesem Aspekt müßten wir also unsere kritische Wertung jener Bewegungen wie<strong>de</strong>rholen, und nun<br />

wird es wirklich interessant. Die Frage, an <strong>de</strong>r die libertäre Trennungslinie dann verliefe, wäre dann<br />

nämlich die, ob Gott jeweils als religiöse Figur o<strong>de</strong>r als ordnen<strong>de</strong>s Prinzip verstan<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>. War er<br />

Tyrann o<strong>de</strong>r Natur, das angsteinflößen<strong>de</strong> Übermonster mit Rauschebart o<strong>de</strong>r die Tatsache, daß das Jahr<br />

vier Jahreszeiten hat? Dieser Prüfstein sollte auf je<strong>de</strong> einzelne <strong>de</strong>r Bewegungen und Philosophien<br />

angewandt wer<strong>de</strong>n,<br />

160<br />

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die wir kennengelernt haben, wenn wir ihren Gehalt an ›Anarchismen‹ beurteilen wollen. Je stärker dabei<br />

›gottgewollte Ordnung‹ als Synonym für natürliche Harmonie‹ verstan<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>sto näher stand <strong>de</strong>r<br />

Geist solcher Bewegungen <strong>de</strong>n Positionen <strong>de</strong>s heutigen Anarchismus. Je kritischer sie sich dabei von <strong>de</strong>r<br />

Bibel entfernten, <strong>de</strong>sto mehr ähnelten sie heutigen Libertären, die einen wissenschaftskritischen Ansatz<br />

vertreten. Nur sehr wenige große Geister besaßen seinerzeit die Bildung und <strong>de</strong>n Willen, die Welt zu<br />

verstehen und dabei die Bibel gegen <strong>de</strong>n Strich zu lesen. Von rebellischen Bauern, von <strong>de</strong>nen kaum einer<br />

lesen konnte, dürfen wir zu einer Zeit, als die ersten Bibelübersetzungen noch druckfrisch waren, solche<br />

intellektuellen Leistungen nicht erwarten. Ihnen entsprang <strong>de</strong>r Geist von Empörung und Revolte.<br />

Interessant ist letztlich, daß das, was sich bei<strong>de</strong> - kritische Denker und empörte Rebellen – als i<strong>de</strong>ale Ziele<br />

vorstellten, in wesentlichen Teilen <strong>de</strong>m nahekommt, was auch Quintessenz <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus<br />

ist: Freiheit, Gemeinschaft, gegenseitige Hilfe, wirtschaftliche Gleichheit und Abscheu gegen Tyrannei.<br />

Das zeigt zum min<strong>de</strong>sten eines: daß es offenbar zu allen Zeiten einen Drang in diese Richtung gab und<br />

libertäre I<strong>de</strong>en wohl kaum als eine ›überspannte Erfindung <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne‹ abgetan wer<strong>de</strong>n können.<br />

Literatur: Max Nettlau: Der Vorfrühling <strong>de</strong>r Anarchie in: Geschichte <strong>de</strong>r Anarchie, Bd. I (überarbeitete<br />

und kommentierte Neuausgabe, hrsg. v. Heiner Becker), Aßlar-Werdorf 1993 (Berlin 1925), Bibliothek


Theleme, 252 S., ill. / Peter Marshall: Demanding the Impossible – A History of Anarchism London<br />

1995, Harper & Collins, 776 S. / Luciano De Crescenzo: Geschichte <strong>de</strong>r griechischen Philosophie 2 B<strong>de</strong>,<br />

Zürich 1985, Diogenes, 234 u. 244 S. / Hellmut G. Haasis; Freiheitsbewegungen von <strong>de</strong>n<br />

Germanenkämpfen bis zu <strong>de</strong>n Bauernaufstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Dreißigjährigen Krieges (= Bd. I von: Spuren <strong>de</strong>r<br />

Besiegten, 3 B<strong>de</strong>.) Reinbek 1984, Rowohlt, 404 S. / Dietrich Schirmer (Hrsg.): Kirchenkritische<br />

Bewegungen Bd. I: Antike und Mittelalter, Stuttgart 1985, Kohlhammer, 160 S., ill. / Jens Harms (Hrsg.):<br />

Christentum und Anarchismus Frankfurt/M. 1988, Athenäum, 288 S. / Heiner Köchlin: Christentum,<br />

Kirche und Anarchismus Karlsruhe o.J., Laubfrosch, 15 S. / Christa Dericum: Des Geyers schwarze<br />

Haufen: Florian Geyer und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Bauernkrieg Berlin 1987, Karin Kramer, 163 S., ill. / Eileen<br />

Power: Als Adam grub und Eva spann, wo war da <strong>de</strong>r E<strong>de</strong>lmann? Das Leben <strong>de</strong>r Frau im Mittelalter vgl.<br />

Kap. 9! / Gustav Landauer (Hrsg.): Meister Eckharts mystische Schriften Wetzlar 1978, Büchse <strong>de</strong>r<br />

Pandora, 152 S.<br />

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Kapitel 21 Die Zeit wird reif<br />

Kommunikation ist das Wesen <strong>de</strong>r Freiheit.<br />

Zwang kann nicht überzeugen.<br />

Macht die Menschen weise,<br />

und ihr macht sie frei.<br />

- William Godwin -<br />

DAS BUCH HATTE EINEN FURCHTBAR LANGEN TITEL und bereitete <strong>de</strong>m britischen<br />

Premierminister William Pitt Kopfzerbrechen. Nicht wegen <strong>de</strong>r umständlichen Überschrift – so etwas war<br />

damals Mo<strong>de</strong> –, son<strong>de</strong>rn wegen <strong>de</strong>s Inhalts. Der war brisant wie eine Ladung Schwarzpulver. Pitt erwog,<br />

<strong>de</strong>n Autor verhaften zu lassen, nahm aber schließlich Abstand davon und tröstete sich mit <strong>de</strong>m Gedanken,<br />

daß "ein Buch zum Preis von drei Guineen unter Leuten, die keine drei Shilling übrig haben, nicht viel<br />

Unheil anrichten kann".<br />

161<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Inzwischen aber wur<strong>de</strong> es schon zum halben Preis feilgeboten, und Arbeiter taten sich zu<br />

Subskriptionsgemeinschaften zusammen, um das Werk zu erwerben. In Schottland und Irland zirkulierten<br />

erste Raubdrucke.<br />

Die Re<strong>de</strong> ist von William Godwins Schrift "Eine Untersuchung über das Wesen politischer Gerechtigkeit<br />

und ihr Einfluß auf allgemeine Tugend und Glück". Das Manuskript mit <strong>de</strong>m betulichen Titel hatte neun<br />

Jahre in <strong>de</strong>r Schubla<strong>de</strong> gelegen. 1793, vier Jahre nach <strong>de</strong>r Französischen Revolution, war es endlich<br />

erschienen und löste sogleich beträchtlichen Wirbel aus. Dabei war es alles an<strong>de</strong>re als eine Rechtfertigung<br />

<strong>de</strong>r blutigen Umwälzung in Frankreich und hob sich wohltuend von <strong>de</strong>r Masse <strong>de</strong>magogischer<br />

Alltagspamphlete ab, die Europa in jenen Jahren überschwemmten. Es war ein philosophisches<br />

Grundsatzwerk mit unerhört radikalen Schlußfolgerungen für das soziale Leben; streng logisch aufgebaut<br />

und inhaltlich nahezu allumfassend.<br />

An <strong>de</strong>r Schwelle zum Anarchismus: William Goodwin<br />

In <strong>de</strong>r Tat hatte <strong>de</strong>r 37jährige Godwin, <strong>de</strong>r sich als als hack-writer in London mit literarischer Lohnarbeit<br />

durchs Leben schlug, ohne es zu ahnen <strong>de</strong>n ersten ›anarchistischen Klassiker‹ geschrieben. In vielem kann<br />

er bis heute als Grundlagenwerk angesehen wer<strong>de</strong>n. Lei<strong>de</strong>r, so muß man sagen, haben die meisten seiner<br />

Kritiken kaum an Aktualität verloren.


Bezeichnen<strong>de</strong>rweise entstammt Godwin einer alten Familie religiöser Dissi<strong>de</strong>nten und genoß eine streng<br />

calvinistische Erziehung, die jedoch ebenso egalitär wie kritisch und rationalistisch war. Nach einer<br />

kurzen theologischen Karriere entwickelte er sich unter <strong>de</strong>m Einfluß von Rousseau und Swift schrittweise<br />

zu einem aufgeklärten, radikalen Atheisten, <strong>de</strong>r sich wie kaum ein an<strong>de</strong>rer Intellektueller seiner Zeit<br />

daranmachte, die Gesellschaft frei von religiösen o<strong>de</strong>r nationalistischen Vorurteilen zu analysieren. Seine<br />

"Politische Gerechtigkeit" betrachtet nicht, wie die Werke früherer anarchoi<strong>de</strong>r Vorläufer, lediglich <strong>de</strong>n<br />

einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Aspekt <strong>de</strong>s libertären Gedankengebäu<strong>de</strong>s, son<strong>de</strong>rn han<strong>de</strong>lt praktisch <strong>de</strong>ssen gesamte<br />

Bandbreite in einem komplett durchdachten System ab. Bei Godwin fin<strong>de</strong>n wir eine erste globale und in<br />

sich geschlossene Vision anarchistischer Kritik und Utopie.<br />

Mit unerschütterlicher Sturheit geht er <strong>de</strong>r Frage nach, wie <strong>de</strong>r Mensch das größtmögliche Maß an Glück<br />

erreichen könne. Auf seinem Weg verwirft er Patriotismus, positives Recht und materiellen Reichtum,<br />

aber auch Religion, Unterdrückung und Unterwürfigkeit. Am En<strong>de</strong> kommt er ganz sachlich zu <strong>de</strong>r<br />

Erkenntnis, daß dies nur unter einer Bedingung zu erreichen sei: in einer Gesellschaft ohne Regierung.<br />

Dabei befaßt er sich mit Problemen <strong>de</strong>r Philosophie, <strong>de</strong>s Menschenbil<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>r Ethik ebenso wie mit<br />

Ökonomie, Erziehung, Verwaltung, Recht, Strafe, Gewalt, Sexualität und sogar <strong>de</strong>r Ökologie. Und<br />

natürlich stellt er die Frage, mit welchen Mitteln die neue Gesellschaft anzustreben und durchzusetzen sei,<br />

und nach welchen Strukturen die Menschen in ihr leben könnten. Seine Vorgehensweise ist dabei, ganz<br />

im Sinne <strong>de</strong>r Aufklärung, streng rationalistisch: Godwin setzt hohe Hoffnungen in die Vernunft <strong>de</strong>s<br />

Menschen; die Fähigkeit zur geistigen und sittlichen Entfaltung wachse mit <strong>de</strong>r Freiheit ihrer<br />

Rahmenbedingungen. In genau diesem Maße wür<strong>de</strong> Herr-<br />

162<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

schaft und damit staatliche Struktur überflüssig. Noch zu Lebzeiten hat Godwin einiges von diesem<br />

ungetrübt-sachlichen Glauben an das Gute zugunsten <strong>de</strong>r irrationalen Seite <strong>de</strong>s menschlichen Charakters<br />

zurücknehmen müssen, womit er wie<strong>de</strong>rum <strong>de</strong>m mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus vorgriff, <strong>de</strong>r heute ebenfalls<br />

nicht mehr auf <strong>de</strong>r Vernunfterwartung grün<strong>de</strong>t.<br />

Pädagogik war zeitlebens Godwins liebstes Steckenpferd. Folgerichtig sieht er diese Entwicklung als<br />

einen langen Prozeß <strong>de</strong>r Reife, <strong>de</strong>r sich nicht durch einen plötzlichen, gewalttätigen Umsturz <strong>de</strong>r<br />

Gesellschaft erreichen lasse. Revolution ist bei Godwin eine Aneinan<strong>de</strong>rreihung von Schritten. Von<br />

gängigen Reformisten unterschei<strong>de</strong>t er sich aber darin, daß er schon vor 200 Jahren Parteien als völlig<br />

untauglich betrachtet, eine Gesellschaft wirklich zu verän<strong>de</strong>rn. Ähnlich wie später Landauer sieht er<br />

innerhalb staatlicher Strukturen keine Zukunft. Statt<strong>de</strong>ssen empfiehlt er ein Geflecht kleiner,<br />

unabhängiger Zirkel, die ihre Umgebung beispielhaft anregen sollen - eine Vorstellung, die mo<strong>de</strong>rnen<br />

libertären Organisationstheorien mit ihren katalysatorischen Affinitätsgruppen sehr nahe kommt. Obwohl<br />

Godwin eine gewaltfreie Strategie vertritt und ein erklärter Gegner <strong>de</strong>s jakobinischen Revolutionsterrors<br />

war, ist er kein absoluter Pazifist: Gewalt könne in bestimmten Situationen unumgänglich wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r<br />

nötig sein, um Schlimmeres zu verhin<strong>de</strong>rn.<br />

Anstelle <strong>de</strong>r existieren<strong>de</strong>n Tyrannei entwirft Godwin das Bild einer <strong>de</strong>zentralen und vereinfachten<br />

Gesellschaft, die auf <strong>de</strong>m freiwilligen Zusammenschluß freier und gleicher Individuen grün<strong>de</strong>t. Für<br />

komplexere Zusammenhänge entwickelt er bereits die I<strong>de</strong>e von koordinieren<strong>de</strong>n Körperschaften und<br />

Distriktfö<strong>de</strong>rationen; für Konflikte schwebt ihm die Einrichtung von Schlichtungsausschüssen vor, und<br />

warnend weist er auf die Gefahren von Bürokratie und Hierarchie hin - es fin<strong>de</strong>n sich I<strong>de</strong>en von Rotation<br />

und Ehrenamtlichkeit aller politischen Funktionen, ebenso Min<strong>de</strong>rheitenschutz und Konsensprinzip. Mit<br />

Recht wer<strong>de</strong>n Godwins jurys als Vorläufer eines libertären Rätesystems angesehen.<br />

Als Ökonom erkennt Godwin als einer <strong>de</strong>r ersten <strong>de</strong>n Zusammenhang zwischen Eigentum und Regierung<br />

in aller Klarheit: "Die Reichen sind die direkten o<strong>de</strong>r indirekten Gesetzgeber <strong>de</strong>s Staates". Ganz wie<br />

später Proudhon unterschei<strong>de</strong>t er zwischen Eigentum und Besitz und skizziert einen freiwilligen<br />

Kommunismus für Produktion und Verteilung, in <strong>de</strong>m reichlich Platz für Genuß, Vergnügen und Muße<br />

sein sollte. Er erkennt die ambivalente Rolle <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s und analysiert die Wi<strong>de</strong>rsprüche zwischen


Bedürfnissen, Produktion und Kapital. Schonungslos kritisiert er die Zustän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r britischen<br />

Arbeitswelt. Gera<strong>de</strong>zu visionär mutet seine Aussage an, daß sich in einer optimal organisierten freien<br />

Gesellschaft die Arbeitszeit drastisch reduzieren ließe – auf eine halbe Stun<strong>de</strong> täglich, wie er schätzt...<br />

Dabei war Godwin weniger als Utopist <strong>de</strong>nn als Kritiker gefürchtet. Tatsächlich widmete er <strong>de</strong>n größten<br />

Teil seines Werkes <strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong>n seiner Zeit, die er allerdings nicht wie viele modisch-reformistische<br />

Zeitgenossen bloß anprangerte, son<strong>de</strong>rn durchleuchtete und als Ganzes in Frage stellte. Er war ohne<br />

Zweifel ein galliger Rhetoriker. "Peitschen, Beile und Galgen - Kerker, Ketten und Folterbänke sind die<br />

beliebtesten und gebräuchlichsten Mittel, <strong>de</strong>n Menschen zum Gehorsam anzuhalten", schreibt er in seinen<br />

Überlegungen zum<br />

163<br />

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Strafsystem, das er als gleichermaßen unmoralisch und nutzlos darstellt: "Wer aus Gefängnissen nicht<br />

schlechter herauskommt, als er hineinging, muß entwe<strong>de</strong>r ungewöhnlich geübt in <strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>r<br />

Ungerechtigkeit o<strong>de</strong>r ein Mann von erhabener Tugend sein." In seinem Roman Die Abenteuer <strong>de</strong>s Caleb<br />

Williams, <strong>de</strong>n Godwin ein Jahr später seinem ersten Bestseller folgen ließ, entlarvt er die britische Justiz<br />

in <strong>de</strong>r Manier eines frühen Psychokrimis. Eine freie Gesellschaft, so Godwins Überzeugung, sollte<br />

Kriminelle nicht vernichten o<strong>de</strong>r einsperren, son<strong>de</strong>rn sich ihrer "mit Freundlichkeit und Sanftmut"<br />

annehmen. Ein an<strong>de</strong>res rotes Tuch war ihm das Erziehungssystem. "Nationale Erziehung hat die Ten<strong>de</strong>nz,<br />

Fehler zu perpetuieren* und je<strong>de</strong>s Bewußtsein nach <strong>de</strong>mselben Mo<strong>de</strong>ll zu formen. (...) Sie lehrt ihre<br />

Schüler die Kunst, jene Lehrsätze zu rechtfertigen, die zufällig zum etablierteten Wissen zählen." Sein<br />

Lernziel ist ein an<strong>de</strong>res: Kin<strong>de</strong>r zu befähigen, eine freie Gesellschaft zu erschaffen und zu genießen.<br />

Dabei stellt er <strong>de</strong>n gesamten traditionellen Erziehungsansatz, <strong>de</strong>r immer etwas Despotisches habe, in<br />

Frage und plädiert für Lernen aus eigenem Antrieb, wobei die Lehren<strong>de</strong>n als gleichberechtigte Partner zu<br />

verstehen seien.<br />

"Hat man einmal angefangen, Gesetze zu geben, so fin<strong>de</strong>t man leicht kein En<strong>de</strong>. Die menschlichen<br />

Handlungen sind verschie<strong>de</strong>n und verschie<strong>de</strong>n ist auch ihre Nützlichkeit und Schädlichkeit. Wenn neue<br />

Fälle auftreten, erweist sich das Gesetz immer als ungenügend, und man muß ständig neue Gesetze<br />

machen." Auch die Ehe ist für Godwin "ein Gesetz und das schlechteste aller Gesetze. (...) Es wäre<br />

unsinnig, wollte man sich <strong>de</strong>r Erwartung hingeben, daß zwei Menschen lange Zeit vollständig<br />

miteinan<strong>de</strong>r übereinstimmen könnten. (...) Das Institut <strong>de</strong>r Ehe ist ein system <strong>de</strong>s Betrugs. Solange ich<br />

danach trachte, eine Frau für mich allein in Anspruch zu nehmen, mache ich mich <strong>de</strong>r abscheulichsten<br />

Alleinherrschaft schuldig." Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß Godwin und seine Gefährtin Mary<br />

Wollstonecraft entgegen ihrer gemeinsamen Überzeugung durch tragische Umstän<strong>de</strong> gezwungen waren,<br />

<strong>de</strong>m Druck <strong>de</strong>r Gesellschaft nachzugeben und schließlich doch heirateten. Den hämischen Kritikern, die<br />

ihm vorhielten, er sei ein "Hitzkopf mit kalten Füßen", nahmen die bei<strong>de</strong>n jedoch <strong>de</strong>n Wind aus <strong>de</strong>n<br />

Segeln, <strong>de</strong>nn sie faßten ihre Ehe als eine unfreiwillige Formsache auf und gestan<strong>de</strong>n sich gegenseitig die<br />

gleichen Freiheiten zu wie zuvor. Das Glück <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n dauerte in<strong>de</strong>s nicht lange. Mary Wollstonecraft,<br />

eine <strong>de</strong>r ersten großen Feministinnen <strong>de</strong>r Geschichte, die 1792 ihre brillante "Verteidigung <strong>de</strong>r<br />

Frauenrechte" geschrieben hatte, starb 1797 bei <strong>de</strong>r Geburt ihrer Tochter Mary.<br />

Das neue Jahrhun<strong>de</strong>rt begann düster. England, das fast ständig mit Frankreich im Krieg lag, durchlebte<br />

eine langanhalten<strong>de</strong>, dumpfe Perio<strong>de</strong> reaktionärsten Patriotismus'. Die Französische Revolution, inhaltlich<br />

längst gescheitert, war politisch zur Despotie Napoleons verkommen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n von ihm begonnenen Krieg<br />

verlor. Auf Seiten <strong>de</strong>r Sieger schwelgte England im Triumph und ebnete sich <strong>de</strong>n Weg zur künftigen<br />

Weltmacht. Imperialismus, Industrie und Ignoranz triumphierten. Männer wie Godwin gerieten in<br />

Vergessenheit, und Reformer aller Couleur besorgten das politische Tagesgeschäft. Es entstan<strong>de</strong>n<br />

Parteien, Gewerkschaften und Genossenschaften, <strong>de</strong>ren führen<strong>de</strong> Köpfe sich bisweilen sogar auf Godwin<br />

beriefen, ohne jedoch jemals seine gedankliche Tiefe und radikale Globalität zu erreichen.<br />

164


--------------------------------------------------------------------------------<br />

In bedrücken<strong>de</strong>n wirtschaftlichen Verhältnissen lebte er weiterhin in London und veröffentlichte noch<br />

zahlreiche Schriften, die aber kein großes Echo mehr hervorriefen - mit einer Ausnahme: 1812 besuchte<br />

ihn <strong>de</strong>r junge Poet Percy Bysshe Shelley, ein glühen<strong>de</strong>r Verehrer Godwins, <strong>de</strong>r allerdings geglaubt hatte,<br />

sein Idol sei längst verstorben. Eine ebenso turbulente wie folgenreiche Begegnung, an <strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

revolutionär-romantische A<strong>de</strong>lssprößling Godwins Schwiegersohn wur<strong>de</strong> und diesem auch finanziell<br />

unter die Arme griff. Shelley avancierte bald zu einem <strong>de</strong>r gefeiertsten britischen Dichter. Er blieb bis zu<br />

seinem frühen Tod 1822 nicht nur ein überzeugter Anhänger von Godwins Lebensphilosophie, son<strong>de</strong>rn<br />

verewigte sie auch in einer Reihe unvergessener Werke. "The Mask of Anarchy" ist eine <strong>de</strong>r ersten<br />

Allegorien*, in <strong>de</strong>nen das Wort eine positive Bewertung erhält.<br />

Als William Godwin 1836 im Alter von 80 Jahren als armer Pensionär friedlich in seinem Bett starb,<br />

waren die Männer, die später die ›Väter <strong>de</strong>s Anarchismus‹ genannt wur<strong>de</strong>n, noch junge Burschen in<br />

Rußland und Frankreich. Zwischen ihnen und Godwin gab es keine Verbindung - we<strong>de</strong>r persönlich noch<br />

durch soziale Bewegungen. Nicht einmal sein Buch war außerhalb Englands son<strong>de</strong>rlich bekannt<br />

gewor<strong>de</strong>n. So begann die ganze I<strong>de</strong>enfindung einige Jahre später praktisch noch einmal von vorne. Es<br />

sollte lange dauern, bis die anarchistische Philosophie wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Erkenntnisstand jenes glücklosen<br />

Schriftstellers Godwin hatte, <strong>de</strong>r am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts schon zu <strong>de</strong>r schlichten Erkenntnis kam:<br />

"Kommunikation ist das Wesen <strong>de</strong>r Freiheit. Zwang kann nicht überzeugen."<br />

Wo kam so ein Geist im Jahre 1793 her? Noch im vorigen Kapitel stan<strong>de</strong>n wir tief in düsteren Zeiten, wo<br />

die kühnsten Geister sich gera<strong>de</strong> mal die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Teilfreiheit vorstellen konnten, und je<strong>de</strong><br />

Rebellion im Rahmen göttlicher Ordnung blieb. Und nur zwei Jahrhun<strong>de</strong>rte später ist das anarchistische<br />

Grundrezept plötzlich fix und fertig angerührt!? Nun, Godwin ist kein Genie, das plötzlich vom Himmel<br />

fiel. Auch er hat seine Vorgeschichte; die Zeit war einfach reif für einen wie ihn.<br />

Schauen wir uns also an, was zwischen Reformation und Französischer Revolution passiert war: wie<br />

soziale Bewegungen sich zuspitzten, und wie sich eine diffuse libertäre I<strong>de</strong>engeschichte langsam zu einer<br />

veritablen anarchistischen Vision verdichten konnte, die nur noch ›geboren‹ wer<strong>de</strong>n mußte.<br />

Es klart auf<br />

Im Denken <strong>de</strong>s Mittelalters gab es keinen Platz für das Individuum. Im Guten wie im Schlechten war es<br />

eine Zeit kollektiver Vereinnahmung: Menschen wur<strong>de</strong>n durch Gruppen <strong>de</strong>finiert, zugeordnet und<br />

benutzt. Die Welt war fest gefügt und klar geordnet, es gab Gott, Kaiser, Papst, König, E<strong>de</strong>lleute, Pfaffen,<br />

Bürger und Bauern; es gab oben und unten, richtig und falsch. Das gilt grosso modo auch für Bereiche, in<br />

<strong>de</strong>nen es weniger hierarchisch zuging, die freien Städte etwa mit ihrer Autonomie o<strong>de</strong>r die Gil<strong>de</strong>n, die auf<br />

gegenseitiger Hilfe aufbauten: alles blieb doch immer auf die jeweilige Gruppe zugeschnitten, zu <strong>de</strong>r man<br />

gehörte o<strong>de</strong>r nicht. Freiheiten galten nur innerhalb <strong>de</strong>r Stadtmauer. Wer nicht in<br />

165<br />

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<strong>de</strong>r Gil<strong>de</strong> war, kam nur schwer hinein, wer keinen Herren hatte, hatte auch keinen Schutz. Und wer kein<br />

Christ war, gehörte verbrannt.<br />

OD: grosso modo: im großen Ganzen, grob gesehen<br />

Erst mit <strong>de</strong>r Renaissance - <strong>de</strong>r "Wie<strong>de</strong>rgeburt" <strong>de</strong>r Klassischen Antike im europäischen Geistesleben -<br />

beginnt sich das zu än<strong>de</strong>rn: Griechische Philosophen wer<strong>de</strong>n übersetzt, humanistische I<strong>de</strong>ale<br />

wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckt, selbst Mo<strong>de</strong> und Architektur wer<strong>de</strong>n nachgeahmt: Antik ist schick! Der einzelne Mensch<br />

wird nun wie<strong>de</strong>r gesehen, Althergebrachtes wird hinterfragt - das regt die Phantasie an. 1516


veröffentlicht Thomas Morus in England sein "Utopia", in <strong>de</strong>m er eine skandalös an<strong>de</strong>re<br />

Phantasiegesellschaft beschreibt, die natürlich (das läßt er durchblicken) besser ist als die Despotie seines<br />

Königs und Dienstherrn Heinrich VIII. (<strong>de</strong>r ihn aus an<strong>de</strong>rem Anlaß später enthaupten läßt). ›Utopie‹ wird<br />

nicht nur eine neue politische Vokabel, son<strong>de</strong>rn löst auch eine literarische Mo<strong>de</strong> aus, die bis heute anhält.<br />

Ein Jahr später provoziert ein Theologe namens Luther in Wittenberg eine Diskussionslawine, an <strong>de</strong>ren<br />

En<strong>de</strong> ein "freier Christenmensch" stehen sollte, <strong>de</strong>r die Bibel endlich auch einmal selbst lesen durfte. Das<br />

Zeitalter, in <strong>de</strong>r die Religion <strong>de</strong>n Menschen und alles an<strong>de</strong>re <strong>de</strong>finierte, geht zu En<strong>de</strong>.<br />

Denker fangen plötzlich an zu <strong>de</strong>nken, ganz und gar von vorne wie <strong>de</strong>r systematische Zweifler Descartes,<br />

frei und ungebun<strong>de</strong>n an heilige Dogmen. Dabei ent<strong>de</strong>cken sie etwas Interessantes: <strong>de</strong>r Mensch ist nicht<br />

statisch, also wan<strong>de</strong>lbar, also auch verbesserungsfähig. Wissenschaftler betrachten die Natur, wagen ihren<br />

Augen zu trauen und ziehen ihre Schlüsse. Galilei, Kopernikus, Kepler und Newton erschüttern Lehre und<br />

Weltbild <strong>de</strong>r Kirche. Das neue Stichwort heißt ›Vernunft‹. Das Ergebnis ist Aufklärung, und dieses Wort<br />

will wörtlich verstan<strong>de</strong>n sein: es wird hell.<br />

Europa ent<strong>de</strong>ckt neue Kontinente, Menschen reisen, wan<strong>de</strong>rn aus, neue Waren gelangen ins Land, <strong>de</strong>r<br />

Horizont weitet sich. Landwirtschaft und Handwerk sind nicht länger Mittelpunkt <strong>de</strong>r Wirtschaft. Han<strong>de</strong>l<br />

und Manufaktur gewinnen an Be<strong>de</strong>utung, und Industrien entstehen, <strong>de</strong>ren Konsequenzen alle Aspekte <strong>de</strong>r<br />

kommen<strong>de</strong>n Jahrhun<strong>de</strong>rte prägen sollten. Nach Bürgerkrieg und Revolution ist England seit 1688 eine<br />

parlamentarische Demokratie. 1765 wird die Dampfmaschine erfun<strong>de</strong>n. Wenig später besiegt zum ersten<br />

Male eine Kolonie ihr ›Mutterland‹: Die Bürger <strong>de</strong>r Vereinigten Staaten von Amerika leben nun unter<br />

einer Verfassung, in <strong>de</strong>r von ›Menschenrechten‹ die Re<strong>de</strong> ist. Und ausgerechnet in Frankreich, <strong>de</strong>m<br />

klassischen Land <strong>de</strong>s Zentralismus und <strong>de</strong>r absoluten Monarchie, kippen die Verhältnisse<br />

lei<strong>de</strong>nschaftlich, gewaltsam und chaotisch um: die Französische Revolution von 1789 bringt unter <strong>de</strong>r<br />

hoffnungsvollen Losung "Freiheit, Gleichheit, Brü<strong>de</strong>rlichkeit" eine Republik hervor, die zwar <strong>de</strong>n<br />

humanistischen I<strong>de</strong>alen <strong>de</strong>r Aufklärung letztlich nicht gerecht wird, gleichwohl aber ihr<br />

hun<strong>de</strong>rtprozentiges Kind ist. Revolutionäre schnei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m König <strong>de</strong>n Kopf ab. Das ist ebenso neu wie die<br />

Tatsache, daß sie sich bald gegenseitig enthaupten sowie alle, die zu protestieren wagen: Terror im<br />

Namen <strong>de</strong>r Vernunft. Das folgen<strong>de</strong> Jahrhun<strong>de</strong>rt erlebt nach Napoleons Untergang zunächst <strong>de</strong>n Versuch<br />

einer konservativen Restauration, aber die Geschichte läßt sich nicht mehr zurückdrehen. Die Saat <strong>de</strong>r<br />

Aufklärung ist aufgegangen, und mit <strong>de</strong>r Industrie ist eine neue Klasse<br />

166<br />

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entstan<strong>de</strong>n. Freiheit – was immer auch darunter verstan<strong>de</strong>n wird – ist ein Thema <strong>de</strong>r Massen gewor<strong>de</strong>n.<br />

So hat sich in diesen drei Jahrhun<strong>de</strong>rten mehr bewegt als in an<strong>de</strong>rthalb Jahrtausen<strong>de</strong>n zuvor.<br />

Der an-archische Fa<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n wir verfolgen, wird stetig dicker und nimmt in <strong>de</strong>r Geistesgeschichte immer<br />

klarere Gestalt an: zunächst aufklärerisch, dann liberal, dann libertär und schließlich anarchistisch, mit<br />

jeweils fließen<strong>de</strong>n Grenzen. Auf diesem Weg stoßen wir auf Menschen, die wir mit Fug und Recht<br />

›Frühlibertäre‹ nennen können. Ihr Denken nähert sich mehr und mehr einer Position, die sich schon bald<br />

als "anarchistisch" <strong>de</strong>finieren wird. Insofern sind sie Vorläufer und nehmen wichtige Thesen mit<br />

zunehmen<strong>de</strong>r Schärfe vorweg. Godwin steht mit ihnen in einer Reihe. Als erster Anarchist, weil bei ihm<br />

die Globalität gegeben ist, als letzter Frühlibertärer, weil er sich noch nicht als Anarchist bezeichnete und<br />

vor allem keiner anarchistischen Bewegung angehörte, die es erst Jahre später gibt. Er steht buchstäblich<br />

an <strong>de</strong>r Schwelle.<br />

Frühlibertäre fin<strong>de</strong>n wir in diesen Jahrhun<strong>de</strong>rten im Dutzend. Nur die interessantesten von ihnen können<br />

wir hier streifen.<br />

Die Frühlibertären


Der be<strong>de</strong>utendste Strang aufklärerischen Denkens kommt aus Frankreich. Francois Rabelais, ein<br />

ehemaliger Mönch, <strong>de</strong>r in seiner satirischen Abrechnung mit <strong>de</strong>n Institutionen seiner Zeit kein Blatt vor<br />

<strong>de</strong>n Mund nimmt, schil<strong>de</strong>rt in seiner 1534 erschienenen Utopie "Gargantua und Pantagruel" ein<br />

herrschaftsfreies Leben in <strong>de</strong>r imaginären Abtei von Thélème. Dort geht es antiautoritär, <strong>de</strong>rb und<br />

genußvoll zu - allerdings nur für die privilegierten Mitglie<strong>de</strong>r. Das Motto dieser anarchischen Vision<br />

lautet: "Tu, was du willst!".<br />

Deutlich libertärer ausgeprägt stellt sich Rabelais' Zeitgenosse Étienne <strong>de</strong> La Boetie dar. In seinem<br />

philosophischen Werk "Diskurs über die freiwillige Sklaverei" (1571-1573), stellt er Regierungen an sich<br />

in Frage. Menschen, so La Boetie, unterwerfen sich freiwillig <strong>de</strong>r Herrschaft, für die es keinen<br />

vernünftigen Grund gebe, die aber überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n könne. Seine Analyse <strong>de</strong>r politischen Macht bil<strong>de</strong>t<br />

eine frühe Grundlage für die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s ›Zivilen Ungehorsams‹ und steht somit in bester pazifistischer<br />

Tradition.<br />

Auch im Werk Michel <strong>de</strong> Montaignes, einem engen Freund La Boeties, fin<strong>de</strong>n sich beredte Spuren<br />

libertären Denkens, allerdings besser getarnt. Seine warme Schil<strong>de</strong>rung einer staatenlosen Gesellschaft<br />

<strong>de</strong>r Indianer baut Shakespeare fast wörtlich in sein Drama "Sturm" ein. In <strong>de</strong>m Essay "Über<br />

Kin<strong>de</strong>rerziehung" hält Montaigne ein überzeugend antiautoritäres Plädoyer für einen Unterricht "in Güte<br />

und Freiheit, ohne Härte und Zwang", das in <strong>de</strong>r völlig unzeitgemäßen For<strong>de</strong>rung nach Blumen statt<br />

Ruten im Schulzimmer gipfelt.<br />

Eine stark anarchisch eingefärbte Utopie liefert uns 1676 Gabriel <strong>de</strong> Foigny. In <strong>de</strong>n "Abenteuern <strong>de</strong>s<br />

Jacques Sa<strong>de</strong>ur bei <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s Südlan<strong>de</strong>s" schil<strong>de</strong>rt er in lebendigen Bil<strong>de</strong>rn das Sozialwesen <strong>de</strong>r<br />

terre australe, in <strong>de</strong>r Kirche, Staat, Eigentum und<br />

167<br />

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Herrschaft unbekannt sind. Die Einwohner, übrigens von zweigeschlechtlichem Wesen, stimmen sich auf<br />

einer allmorgendlichen Versammlung miteinan<strong>de</strong>r ab. Foigny, <strong>de</strong>r sich im protestantischen Genf<br />

nie<strong>de</strong>rließ, verstand es, die Vorzüge dieser Gesellschaft so überzeugend zu schil<strong>de</strong>rn, daß die Behör<strong>de</strong>n<br />

sein Buch als subversiv ansahen und ihn vorübergehend einsperrten. 1704 erschien die "Südlandreise" in<br />

<strong>de</strong>utscher Übersetzung und gilt als <strong>de</strong>r Urahn <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschsprachigen libertären Literatur. Zur beliebten<br />

Form <strong>de</strong>r Utopie griff ebenfalls Francois <strong>de</strong> Fénélon, Erzbischof und Erzieher <strong>de</strong>s jungen Herzogs von<br />

Burgund. In seinem didaktischen Roman "Télemaque" (1699) vergleicht er das Land La Bétique mit <strong>de</strong>r<br />

Stadt Salente. Bei<strong>de</strong> tragen starke Züge eines friedlichen libertären Kommunismus, sind im Vergleich zu<br />

Thélème aber stark puritanisch, <strong>de</strong>nn Glück entstehe durch Verzicht. Ludwig XIV. fand das gar nicht<br />

lustig und schickte Fénélon in Verbannung.<br />

Wenig wissen wir von Jean Meslier, einem zornigen Dorfpfarrer, <strong>de</strong>ssen um 1720 geschriebenes<br />

"Testament" erst nach seinem To<strong>de</strong> veröffentlicht wur<strong>de</strong>. In scharfen Worten fällt er ein vernichten<strong>de</strong>s<br />

Urteil über Religion und Kirche, das in <strong>de</strong>r Feststellung gipfelt, daß Gott einfach nicht existiert. Der<br />

antiklerikale Teil <strong>de</strong>s "Testaments", in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r ehemalige Gottesmann am liebsten alle adligen Blutsauger<br />

mit <strong>de</strong>n Därmen <strong>de</strong>r Priester erwürgen wür<strong>de</strong>, wur<strong>de</strong> später von Voltaire veröffentlicht. Wenn man weiß,<br />

daß Meslier überdies verkün<strong>de</strong>t, die Befreiung <strong>de</strong>r einfachen Menschen liege in ihren eigenen Hän<strong>de</strong>n,<br />

und dies könne nur durch eine gewalttätige soziale Revolution geschehen, wird verständlich, warum <strong>de</strong>r<br />

vollständige Text erst 1865 gedruckt wur<strong>de</strong>.<br />

Auch die bei<strong>de</strong>n großen Namen <strong>de</strong>r Aufklärung, Di<strong>de</strong>rot und Rousseau, verdienen einen Platz unter <strong>de</strong>n<br />

Ahnen freiheitlichen Denkens. Bei <strong>de</strong>m berühmten Enzyklopädisten Denis Di<strong>de</strong>rot blühte die Liebe zum<br />

Libertären, offenbar aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Vorsicht, eher im Verborgenen. Im privaten Kreise vertrat er, <strong>de</strong>r<br />

Mitte <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit für eine aufgeklärte Monarchie plädierte, die Meinung,<br />

daß die Natur keinem Menschen das Recht gegeben habe, über an<strong>de</strong>re zu herrschen. Auch er verfaßte eine<br />

Utopie, die natürlich in <strong>de</strong>r Südsee angesie<strong>de</strong>lt war und ebenfalls ein harmonisches Leben ohne Regierung<br />

und Gesetze beschrieb. Allerdings wagte er nicht, diese "Ergänzung zur Reise Bougainvilles" auch zu


veröffentlichen. Dessen ungeachtet wur<strong>de</strong> seine Encyclopédie für lange Zeit Anregung und Quelle für<br />

radikales und subversives Denken.<br />

Jean-Jacques Rousseau, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r nicht ganz treffen<strong>de</strong> Satz "Zurück zur Natur" in <strong>de</strong>n Mund gelegt wird,<br />

ist sicherlich kein in <strong>de</strong>r Wolle gefärbter Anarchist. Staat und Herrschaft hat er nie wirklich in Frage<br />

gestellt; Regierung jedoch ist für ihn eine künstliche Einrichtung, erschaffen von freien Menschen in <strong>de</strong>r<br />

Hoffnung, das Leben zu erleichtern. Die Beziehung zwischen Herrschern und Beherrschten regele eine<br />

freie, vertragliche Vereinbarung, <strong>de</strong>r contrat social. Den Wi<strong>de</strong>rspruch allerdings, wie sich Freisein und<br />

Beherrschtsein vertragen, löst er nicht. Dennoch ist seine Wirkung auf <strong>de</strong>n späteren Anarchismus und<br />

viele seiner großen Theoretiker enorm gewesen. Vor allem seine Analyse <strong>de</strong>s Zusammenhangs zwischen<br />

Eigentum und Herrschaft sowie seine Ansichten über Erziehung wirkten anregend. Rousseau orientiert<br />

sich an <strong>de</strong>n ›Gesetzen <strong>de</strong>r Natur‹, die er mit <strong>de</strong>n realen<br />

168<br />

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Zustän<strong>de</strong>n vergleicht, was ihn zu einem harschen Kritiker <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Zivilisation wer<strong>de</strong>n läßt. Mit<br />

einer Serie von ›Diskursen‹, die ab 1750 erscheinen und 1752 mit "Émile" ihren Höhepunkt fin<strong>de</strong>n, setzt<br />

er eine regelrechte Mo<strong>de</strong> in Gang, die eine kollektive Sehnsucht nach <strong>de</strong>m "edlen Wil<strong>de</strong>n" auslöst. Seine<br />

Wirkung auf die Herausbildung einer libertären Bewegung liegt daher weniger in <strong>de</strong>r Konsequenz seiner<br />

I<strong>de</strong>en, als vielmehr in <strong>de</strong>r Breitenwirkung, die auf seiner unglaublichen Popularität beruhte.<br />

Ein Name, <strong>de</strong>r in dieser Aufzählung wohl kaum erwartet wur<strong>de</strong>, ist schließlich <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Marquis <strong>de</strong> Sa<strong>de</strong>,<br />

von <strong>de</strong>m die meisten Menschen wohl nur <strong>de</strong>n schlechten Ruf kennen, ohne ihn je gelesen zu haben. In<br />

Frankreich blieben seine Schriften bis 1957 verboten. Es ist ein Irrtum zu glauben, die Botschaft <strong>de</strong>r<br />

Schriften <strong>de</strong>s Marquis bestün<strong>de</strong> in "Sadismus", worunter gemeinhin die Lust am Quälen an<strong>de</strong>rer<br />

Menschen verstan<strong>de</strong>n wird. Das, was er in einigen seiner Novellen an sexuellen Exzessen schil<strong>de</strong>rt, ist<br />

literarische Fiktion und nicht das Leben <strong>de</strong>r realen Person <strong>de</strong> Sa<strong>de</strong>. Insofern er aber die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r<br />

Sexualität überhaupt erkennt, und die Folgen sexueller Unterdrückung untersucht, ist er ein Vorläufer<br />

mo<strong>de</strong>rner Sexualpsychologen, wie etwa Wilhelm Reich, sowie <strong>de</strong>r sexuellen Revolution <strong>de</strong>s 20.<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rts. Triebunterdrückung wird als eine <strong>de</strong>r Wurzeln von Tyrannei erkannt. De Sa<strong>de</strong>, ein<br />

antireligiöser aber sehr moralisieren<strong>de</strong>r Mann, for<strong>de</strong>rte nicht nur die sexuelle Befreiung <strong>de</strong>r Frau, er<br />

vertritt in <strong>de</strong>m 1794 geschriebenen Roman "Juliette" auch die Meinung, daß ein anarchischer<br />

Naturzustand allen Gesetzen und Regierungen vorzuziehen sei.<br />

Den französischen Aufklärern haftet <strong>de</strong>r Flair einer gewissen philosophischen Heiligkeit an; zumin<strong>de</strong>st<br />

die Großen unter ihnen stehen in höchster Reputation*. Ihre I<strong>de</strong>en haben die Geistesgeschichte jener<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rte tief geprägt und sind bis heute ein Begriff geblieben. Ganz so berühmt sind die Namen <strong>de</strong>r<br />

britischen Frühlibertären nicht; vielleicht auch <strong>de</strong>shalb, weil sich unter ihnen etliche Männer befan<strong>de</strong>n,<br />

die weniger schrieben und mehr han<strong>de</strong>lten.<br />

In <strong>de</strong>n Wirren <strong>de</strong>s englischen Bürgerkrieges entstehen unter <strong>de</strong>n Oppositionskräften von Cromwells<br />

Revolutionsarmee radikale Bewegungen, in <strong>de</strong>ren<br />

Visionen millenaristische Vorstellungen <strong>de</strong>s Mittelalters ein spätes Revival* erfahren: die Diggers und die<br />

Ranters. Obwohl religiös inspiriert, gebär<strong>de</strong>n sich diese masterless men and husbandless women* äußerst<br />

radikal. In <strong>de</strong>r Diggers-Kolonie, die 1649 in Surrey an <strong>de</strong>r Themse entsteht, wird ohne Privateigentum<br />

genossenschaftlich gewirtschaftet. Gerrard Winstanley, ihr wortgewaltiger Prediger, vertrat in jenen<br />

Jahren die Meinung, daß mit Abschaffung <strong>de</strong>s Eigentums auch Staat, Kirche und Armee überflüssig<br />

wür<strong>de</strong>n. Nach <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Experiments entwickelten die Ranters als radikalere Variante ein reges<br />

Eigenleben, das wil<strong>de</strong>r, individualistischer und ungebun<strong>de</strong>ner war als das <strong>de</strong>r strenggläubigen Diggers. In<br />

<strong>de</strong>n Augen braverer Zeitgenossen galten sie schlicht als unmoralisch und ausgeflippt. Sexuell<br />

ungezwungen, ohne feste Strukturen, umherziehend und von einem individualistischen Freiheitssinn<br />

beseelt, stieß diese frühe pazifistische Subkultur auf ebensowenig Verständnis wie<br />

169


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die gemäßigteren aber unanarchischen Quakers, mit <strong>de</strong>nen sie oft verwechselt wer<strong>de</strong>n. Ihre Treffen<br />

glichen surrealistischen Happenings, und ihre wenigen Schriften waren äußerst bissige Pamphlete. Die<br />

Cromwell'sche Diktatur je<strong>de</strong>nfalls empfand sie als Bedrohung; Wortführer wie Abiezer Coppe und<br />

Lawrence Clarkson wur<strong>de</strong>n unnachsichtig verfolgt.<br />

Gesitteter benahm sich da schon Jonathan Swift, ein wohlhaben<strong>de</strong>r, blitzgescheiter Zyniker, <strong>de</strong>r nur<br />

literarisch provozierte. In seinem Leben gewiß mehr ein etablierter, zeitkritischer Publizist als ein<br />

›Anarchist‹, waren ihm libertäre Gedankengänge aber durchaus nicht fremd. Im vierten Band seiner<br />

berühmten utopischen Erzählungen von Gullivers Reisen (1726) stellt er die Houyhnhnms vor, die in<br />

einem etwas asketischen und primitiven anarcho-kommunistischen Land leben. Dem Reisen<strong>de</strong>n Gulliver<br />

erklären sie ihr regierungsloses System, in <strong>de</strong>m alle vier Jahre eine große Versammlung für <strong>de</strong>n nötigen<br />

Konsens sorgt. Godwin war von <strong>de</strong>n Houyhnhnms gera<strong>de</strong>zu entzückt. Geschickt verbarg Swift darin seine<br />

Kritik an <strong>de</strong>n europäischen Staaten, ihren Regierungen und Gesetzen, ihrem Han<strong>de</strong>lssystem und ihren<br />

endlosen Kriegen. Kein Geringerer als George Orwell hat Swift einen tory-anarchist* genannt, und seine<br />

ebenso geistreiche wie inkonsequente Haltung damit wohl treffend charakterisiert.<br />

Der junge Edmund Burke, <strong>de</strong>r sich nach <strong>de</strong>r Französischen Revolution zum Gegner je<strong>de</strong>r Erneuerung<br />

wan<strong>de</strong>lte, schrieb mit seiner "Verteidigung <strong>de</strong>r Naturgesellschaft" 1756 ein <strong>de</strong>rart starkes Plädoyer für<br />

eine an-archische Gesellschaft, daß <strong>de</strong>r Text gut 100 Jahre später in <strong>de</strong>n USA von George Holyoake als<br />

anarchistische Kampfschrift erneut herausgegeben wur<strong>de</strong>. Burke vertritt eine natürliche Ordnung <strong>de</strong>r<br />

Dinge und wen<strong>de</strong>t sich gegen politische Herrschaft; je<strong>de</strong> Form <strong>de</strong>r Regierung ist für ihn "Anmaßung".<br />

Auch Godwins berühmter Zeitgenosse Thomas Payne gehörte zu jenen Radikal-Liberalen, die am Ran<strong>de</strong><br />

an-archischer I<strong>de</strong>en wan<strong>de</strong>lten; für ihn blieb jedoch die Frage <strong>de</strong>s Eigentums zeitlebens unantastbar. Mit<br />

"Common sense"*, das 1776 erschien, wur<strong>de</strong> er zu einem Ghostwriter <strong>de</strong>r Amerikanischen Revolution.<br />

Für Payne steht die I<strong>de</strong>e von ›Gesellschaft‹ gegen die von ›Regierung‹, die er als Ursache vielen Übels<br />

ansieht. Schärfer noch als <strong>de</strong>r große Liberale John Locke kommt er zu <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung einer ›minimalen<br />

Regierung‹ und begrün<strong>de</strong>t damit eine Ten<strong>de</strong>nz, die in <strong>de</strong>n USA eine lange und tiefe Tradition entwickelt<br />

hat. Auf diese Richtung berufen sich heute etwa die ultraliberale Libertarian Party, die trotz ihrer<br />

Staatskritik eigene Präsi<strong>de</strong>ntschaftskandidaten nominiert, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r als ›Rechter Anarchist‹ bezeichnete<br />

Ökonom Murray Rothbart.<br />

Als letzter britischer Frühlibertärer aus Godwins Zeit sei William Blake genannt, <strong>de</strong>ssen bissige Prosa<br />

damals sehr populär war. "Je<strong>de</strong>r Mensch haßt Könige", schrieb er, o<strong>de</strong>r "Gefängnisse sind aus <strong>de</strong>n Steinen<br />

<strong>de</strong>s Gesetzes gebaut, Bor<strong>de</strong>lle aus <strong>de</strong>n Steinen <strong>de</strong>r Religion". Dabei war <strong>de</strong>r Kirchenkritiker ein<br />

überzeugter Christ, für <strong>de</strong>n Jesus ein aufrechter Rebell war, <strong>de</strong>r "aus eigenem Impuls und nicht nach<br />

Gesetzen" han<strong>de</strong>lte. Autorität war für Blake die größte Ursache für Ungerechtigkeit. Die repressive<br />

Struktur <strong>de</strong>s Staates för<strong>de</strong>re nicht das Glück <strong>de</strong>r Menschen, son<strong>de</strong>rn hin<strong>de</strong>re sie an <strong>de</strong>r Entfaltung ihres<br />

›göttlichen Potentials‹ freier Brü<strong>de</strong>rlichkeit.<br />

170<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Deutschland steht in diesem bunten Reigen libertären Denkens übrigens nicht völlig abseits. Die Namen<br />

dürften allerdings für einige überraschend sein. Neben <strong>de</strong>m unfreiwillig als bürgerlicher Benimm-Apostel<br />

bekannt gewor<strong>de</strong>nen Freiherr von Knigge, <strong>de</strong>r sich bei näherem Hinsehen als veritabler Libertärer<br />

entpuppt, ist hier vor allem Wilhelm von Humboldt zu nennen, nachmaliger preußischer<br />

Erziehungsminister und Grün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Universität zu Berlin. 1772 veröffentlichte er eine Denkschrift mit<br />

<strong>de</strong>m Titel "Versuch, die Grenzen <strong>de</strong>r Wirksamkeit <strong>de</strong>s Staates zu bestimmen". Der Mensch ist für ihn<br />

kein dumpfer Untenan, son<strong>de</strong>rn ein kreatives Individuum, das zu seiner Entfaltung <strong>de</strong>r Freiheit bedarf.<br />

Freiheit muß daher oberstes Prinzip eines politischen Systems sein. Die Rolle <strong>de</strong>s Staates achtet<br />

Humboldt hierbei gering. Er behandle seine Untertanen wie Kin<strong>de</strong>r und bremse ihre Initiative. Allenfalls<br />

käme ihm noch die Rolle eines "Nachtwächters" zu, <strong>de</strong>r darüber wacht, daß keine schlimmen Exzesse


geschehen. In Humboldts Ansichten spiegelt sich das Weltbild <strong>de</strong>r Aufklärung wi<strong>de</strong>r, insbeson<strong>de</strong>re<br />

Leibniz' Lehre von <strong>de</strong>r Verbesserungsfähigkeit <strong>de</strong>s Menschen. Trotz seines Ausflugs in libertäre Höhen<br />

blieb er auf Dauer im liberalen Lager. Max Nettlau beurteilte seine Arbeit über die Grenzen <strong>de</strong>s Staates<br />

als "eine kuriose Mischung aus essentiell anarchistischen I<strong>de</strong>en und autoritären Vorurteilen".<br />

Immanuel Kant schließlich gebührt das Verdienst, eine erste ernstzunehmen<strong>de</strong> politische Einordnung <strong>de</strong>s<br />

Wortes ›Anarchie‹ geleistet zu haben. Der belesene Professor, <strong>de</strong>r seine Heimatstadt Königsberg<br />

zeitlebens nicht verließ, versuchte eine theoretische Bestimmung <strong>de</strong>r politischen Zustän<strong>de</strong> ›Anarchie‹,<br />

›Despotismus‹, ›Barbarei‹ und ›Republik‹ anhand ihres Verhältnisses zu <strong>de</strong>n Prinzipien ›Freiheit‹,<br />

›Gesetz‹ und ›Gewalt‹, auf <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong> organisierte Gesellschaft beruhe. Wenn wir verstehen, daß Kant<br />

unter ›Gewalt‹ die Autorität versteht, die nötig ist, etwas durchzusetzen, und unter ›Gesetz‹ regeln<strong>de</strong><br />

Ordnung, so erstaunt seine Definition von ›Anarchie‹ nicht: "Anarchie ist Gesetz und Freiheit ohne<br />

Gewalt". Das klingt erstaunlich positiv, aber zweierlei darf hierbei nicht vergessen wer<strong>de</strong>n: Das Wort<br />

Anarchie be<strong>de</strong>utet für Kant noch keineswegs eine politische Theorie o<strong>de</strong>r soziale Utopie, son<strong>de</strong>rn steht,<br />

ganz wie seinerzeit gebräuchlich, für einen Zustand <strong>de</strong>r Unordnung im Staate. Insofern dürfen wir darin<br />

keine Wertung einer Weltanschauung sehen, die es damals noch gar nicht gab. Vor allem aber war Kant<br />

kein Anhänger solcher Art "Anarchie", son<strong>de</strong>rn zählte sie zu <strong>de</strong>n drei "falschen Staatsformen". Die für ihn<br />

richtige Staatsform ist die, in <strong>de</strong>r alle drei Elemente - Gesetz, Freiheit und Gewalt - vertreten wären: die<br />

Republik.<br />

Ein Wort wan<strong>de</strong>lt sich<br />

Freilich war das schon eine sehr aufgeklärte Sichtweise <strong>de</strong>s Begriffes Anarchie, <strong>de</strong>r, wie wir uns erinnern,<br />

seit <strong>de</strong>n alten Griechen negativ überliefen war,<br />

und <strong>de</strong>ssen weitere Entwicklung wir nicht näher verfolgt hatten.<br />

An <strong>de</strong>m negativen Beigeschmack hatte sich auch im christlich geprägten Sprachgebrauch <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n<br />

Epochen nichts geän<strong>de</strong>rt. Zur Zeit <strong>de</strong>r Kirchenväter wird das Wort kaum gebraucht, und wenn, dann wie<br />

bei Theodoretus Cyrrhensis als "niemand unterworfene Macht". Im Mittelalter wird <strong>de</strong>r Begriff wie<strong>de</strong>rholt<br />

biblisch benutzt. Er steht für "Anfang"<br />

171<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

und umschreibt sinnbildlich <strong>de</strong>n Urzustand vor <strong>de</strong>r Schöpfung, in an<strong>de</strong>ren Fällen auch für "Gottlosigkeit".<br />

Einzig Nicolaus von Oresme, <strong>de</strong>r Aristoteles ins Französische übersetzt, liefert 1571 eine politische<br />

Definition als "Freilassung von Sklaven" und führt "Anarchie" als Fremdwort in die europäischen<br />

Nationalsprachen ein. Seit <strong>de</strong>m 16. Jahrhun<strong>de</strong>rt wird das Wort zum philosophisch-politischen Begriff, <strong>de</strong>r<br />

einen Zustand ohnmächtiger Unordnung durch fehlen<strong>de</strong> Autorität bezeichnet. Also durchweg negativ und<br />

nur insofern an soziale Bewegungen gebun<strong>de</strong>n, als man diese mit <strong>de</strong>m Begriff verbin<strong>de</strong>t und beschimpft.<br />

So bei Erasmus von Rotterdam und Calvin, die mit diesem Wort die Wie<strong>de</strong>rtäufer diffamieren wollen.<br />

Vor <strong>de</strong>r Gefährlichkeit <strong>de</strong>r "Anarchie" warnt Stephan Gardiner, <strong>de</strong>r Legat Heinrichs VIII., seinen Herrn.<br />

Er hat sie bei jenen ent<strong>de</strong>ckt, die behaupten, <strong>de</strong>r Mensch sei nur Gottes Gesetz und <strong>de</strong>r Natur untertan -<br />

womit er ja durchaus richtig lag. Anfang <strong>de</strong>s 17. Jahrhun<strong>de</strong>rts wird <strong>de</strong>r Begriff zunehmend aka<strong>de</strong>misch<br />

verwen<strong>de</strong>t, erweitert sich - wie schon zeitweise in <strong>de</strong>r griechischen Antike - um die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r<br />

"Zügellosigkeit", und wird munter in alle möglichen polemischen Debatten geworfen. Er bezieht sich nun<br />

auf Atheismus, Barbarei und Wie<strong>de</strong>rtäufertum, die allesamt zum Ziel hätten, die Monarchie in<br />

"Demokratie und Anarchie" zu stürzen - zwei Begriffe, die hier wohlgemerkt als Schreckenswörter<br />

gemeint sind und zusammen benutzt wer<strong>de</strong>n! Der Bischof von Winchester, Thomas Cooper, nannte seine<br />

Gegner ohne Zögern "pestilente Anarchisten Satans". Mit <strong>de</strong>r Aufklärung wird <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Anarchie<br />

als Ohnmacht <strong>de</strong>s Staates zwar weiterhin negativ benutzt (auch von <strong>de</strong>n Frühlibertären, <strong>de</strong>ren I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>m<br />

mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus ja durchaus nahe stehen!), aber je staatskritischer die Haltung <strong>de</strong>s betreffen<strong>de</strong>n<br />

Autoren, <strong>de</strong>sto differenzierter fällt die Beurteilung eines solchen ›anarchischen Zustan<strong>de</strong>s‹ aus. Di<strong>de</strong>rot,<br />

Rousseau und Mirabeau zögen selbst eine solche An von "Anarchie" <strong>de</strong>m Zustand <strong>de</strong>r Despotie vor. Das<br />

gleiche gilt für Godwin, <strong>de</strong>r paradoxerweise <strong>de</strong>r erste Anarchist war, sich aber nie so genannt hätte. Erst


ei seinem Schwiegersohn Shelley erfährt das Wort anarchy eine positive Wendung, in<strong>de</strong>m sie die<br />

Unterdrückten zum Triumph <strong>de</strong>r Befreiung führt. Mit <strong>de</strong>r Französischen Revolution kommt <strong>de</strong>r Begriff so<br />

richtig in Mo<strong>de</strong>: er wird gegen alle Arten von ›Radikalen‹ benutzt - linke Jakobiner, die Anhänger<br />

Babeufs und Hebens und alle ›unkontrollierbaren Elemente‹. 1797 enthält <strong>de</strong>r Eid, <strong>de</strong>n die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />

"Rats <strong>de</strong>r 50" schwören müssen, <strong>de</strong>n Passus "Haß <strong>de</strong>n Königstreuen und <strong>de</strong>r Anarchie!". Zur gleichen Zeit<br />

führt Wieland das Wort ›Anarchisten‹ in Deutschland ein, um damit "Freiheitsschwärmer" zu bezeichnen.<br />

Josef Görres dürfte <strong>de</strong>r erste im <strong>de</strong>utschen Sprachraum gewesen sein, <strong>de</strong>r "Anarchie" positiv verwen<strong>de</strong>te<br />

und in seine religiös-soziale Herrschaftstypologie einbaute. 1796 verteidigt <strong>de</strong>r junge Friedrich Schlegel<br />

das Recht <strong>de</strong>r Rebellion gegen eine Despotie, da er die Tyrannei für ein "ungleich größeres politisches<br />

Übel als selbst die Anarchie" hält. Im Jahre 1801 sieht er das schon differenzierter: Die Anarchie, das<br />

heißt, die "absolute Freiheit", ist für ihn nun <strong>de</strong>r Endzweck <strong>de</strong>s Menschen, wenn auch nur als ein<br />

anzustreben<strong>de</strong>s I<strong>de</strong>al, das "durch Annäherung erreicht wer<strong>de</strong>n kann".<br />

Diese Wandlung <strong>de</strong>s jungen Schlegel ist gera<strong>de</strong>zu symbolisch für <strong>de</strong>n Paradigmenwechsel in jenen<br />

Jahren: Einerseits verdichtet sich offenbar ein ›libertäres Klimas das anarchistische<br />

172<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Inhalte vorwegnimmt, ohne dafür <strong>de</strong>n Namen "Anarchie" zu verwen<strong>de</strong>n: immer mehr Leute kommen auf<br />

immer libertärere Gedanken. An<strong>de</strong>rerseits erfährt das nach wie vor negative Wort eine sprachliche<br />

Differenzierung, die sich auf diese positiven libertären Inhalte zubewegt. Es war nur noch eine Frage <strong>de</strong>r<br />

Zeit, bis jemand diese bei<strong>de</strong>n Begriffe zusammenbringen wür<strong>de</strong>.<br />

Die Frühsozialisten<br />

Die Unmenge angehäufter philosophischer I<strong>de</strong>en, durch die wir uns nun gefressen haben, könnte zu <strong>de</strong>m<br />

Irrtum führen, Anarchismus sei nichts weiter als<br />

ein schönes Gedankenspiel. Zur anarchistischen I<strong>de</strong>e aber gehören soziale Bewegung und politische<br />

Aktion. Bisher haben wir davon wenig gesehen, was vor allem daran lag, daß solche Verschmelzungen<br />

von Philosophie, Revolte und Experiment in <strong>de</strong>r Frühgeschichte selten waren. Natürlich aber auch daran,<br />

daß wir zuletzt bewußt nur die I<strong>de</strong>engeschichte untersucht haben.<br />

Zu Beginn <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts kam es jedoch vermehrt zu Ansätzen praktischer Experimente, bei <strong>de</strong>nen<br />

die Nutzanwendung einer I<strong>de</strong>e im Vor<strong>de</strong>rgrund stand. Etwas willkürlich wur<strong>de</strong>n diese Bewegungen später<br />

unter <strong>de</strong>m Begriff "Frühsozialismus" zusammengefaßt; Marx und Engels sprachen in durchaus<br />

verächtlichem Ton auch von "utopischem Sozialismus". Triebkraft <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns wur<strong>de</strong>n zunehmend<br />

soziale Probleme, die sich mit <strong>de</strong>r voranschreiten<strong>de</strong>n Industrialisierung verschärften. Die I<strong>de</strong>en und<br />

Erfahrungen dieser Bewegungen dienten später <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie, <strong>de</strong>m Kommunismus und <strong>de</strong>m<br />

Anarchismus gleichermaßen als Quelle, <strong>de</strong>nn damals waren die Elemente dieser drei Richtungen noch<br />

munter miteinan<strong>de</strong>r verquirlt. Für alle drei sind sie das Bin<strong>de</strong>glied zwischen I<strong>de</strong>engeschichte und<br />

Bewegung. Wir hätten sie <strong>de</strong>shalb ebensogut in <strong>de</strong>r Abteilung "Frühlibertäre" abhan<strong>de</strong>ln können, <strong>de</strong>nn anarchische<br />

Elemente lassen sich natürlich auch bei <strong>de</strong>n "Frühsozialisten" nachweisen. Sie unterschie<strong>de</strong>n<br />

sich von <strong>de</strong>n "Frühlibertären" aber klar durch <strong>de</strong>n Schwerpunkt, <strong>de</strong>r auf eine praktische Umsetzung gelegt<br />

wur<strong>de</strong> - ein Aspekt, <strong>de</strong>r beim theoretisch ausgereifteren Godwin beispielsweise noch völlig fehlte.<br />

Der französische Gesellschaftskritiker Clau<strong>de</strong> Henry <strong>de</strong> Saint Simon, ein verarmter Graf, <strong>de</strong>r mit<br />

Washington im Amerikanischen Befreiungskrieg kämpfte,<br />

erkannte wie viele seiner Zeitgenossen die verheeren<strong>de</strong>n sozialen Auswirkungen <strong>de</strong>r Industrialisierung.<br />

Seihe Kritik konzentrierte sich auf die Frage <strong>de</strong>s Eigentums: das Erbrecht sollte abgeschafft und<br />

Produktionsmittel müßten Gemeineigentum wer<strong>de</strong>n. Wissenschaft und Industrie wären die Pfeiler einer<br />

künftigen, klassenlosen Gesellschaft, die von einer Hierarchie <strong>de</strong>r Fähigsten verwaltet wür<strong>de</strong>. Unschwer<br />

läßt sich hier eine Wurzel <strong>de</strong>s Marx'schen Kommunismus erkennen. Saint Simon sieht die Triebkraft <strong>de</strong>r<br />

Bewegung allerdings in Volksaufklärung und <strong>de</strong>m Wirken <strong>de</strong>s aufgeklärten Bürgertums; die<br />

Arbeiterschaft ist für ihn eher eine zu beglücken<strong>de</strong> Zielgruppe. Deshalb versammelte er einen Kreis


e<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r Persönlichkeiten um sich und inszenierte eine großartige Unterwan<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Institutionen<br />

Frankreichs. ›Saint-Simonisten‹ gelangten auch nach <strong>de</strong>m Tod ihres Meisters in einflußreiche Positionen<br />

173<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

und spielten um 1830 eine gewisse Rolle in <strong>de</strong>r Politik. Nicht wenige <strong>de</strong>r Reformer aber wur<strong>de</strong>n auf ihren<br />

bequemen Posten korrumpiert o<strong>de</strong>r zerstritten sich untereinan<strong>de</strong>r. Am Leben <strong>de</strong>r Arbeiter än<strong>de</strong>rte das<br />

natürlich wenig – eine negative aber wichtige Erfahrung, die man im aufkommen<strong>de</strong>n Anarchismus nie<br />

vergaß: spätestens seit Bakunin wur<strong>de</strong>n Anarchisten zu entschie<strong>de</strong>nen Gegnern jeglicher<br />

›Pöstchenschacherei‹ und noch 1970 warnten beispielsweise die <strong>de</strong>utschen Anarchisten die APO1<br />

eindringlich vor <strong>de</strong>m "Langen Marsch durch die Institutionen". Das Gros <strong>de</strong>r enttäuschten Anhänger<br />

Saint-Simons wandte sich in <strong>de</strong>r Folge <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en Fouriers zu.<br />

Charles Fourier kam durch seinen Kaufmannsberuf zu einer tiefempfun<strong>de</strong>nen Abneigung gegen die<br />

"Schmarotzerrolle" seines Gewerbes und wur<strong>de</strong> zu einem profun<strong>de</strong>n Systemkritiker. Seine Ansichten,<br />

beson<strong>de</strong>rs in jüngeren Jahren, sind <strong>de</strong>utlich libertärer als die Saint-Simons und haben Anarchisten von<br />

Kropotkin bis Bookchin beeinflußt. Fouriers Weltbild ist ebenso umfassend wie phantasievoll und<br />

wi<strong>de</strong>rsprüchlich. Ihm schweben gänzlich neue Formen <strong>de</strong>s Zusammenlebens und -arbeitens vor, mit einer<br />

<strong>de</strong>m Menschen angemessenen Ethik <strong>de</strong>r Arbeit und <strong>de</strong>s Genusses. Soziale Freiheit sei ohne<br />

wirtschaftliche Gleichheit nichts wert: "Wir brauchen Luxus für alle, nicht Gleichheit <strong>de</strong>s Elends!" Lange<br />

vor Marx mißt er <strong>de</strong>n Grad <strong>de</strong>r Freiheit einer Gesellschaft an <strong>de</strong>r sozialen Lage und <strong>de</strong>r Befreiung <strong>de</strong>r<br />

Frau. Auch zu Themen <strong>de</strong>r Erziehung, Sexualität und Ökologie nimmt er Stellung und setzt sich sogar für<br />

die Rechte <strong>de</strong>r Tiere ein.<br />

Das Originelle an Fourier aber ist, daß er alle diese I<strong>de</strong>en in <strong>de</strong>m konkreten Plan <strong>de</strong>r Phalansteres<br />

zusammenfließen läßt. In diesen "Kolonien <strong>de</strong>r Harmonie" sollen bis zu tausend Menschen gemeinsam<br />

leben, arbeiten und das Land bestellen. Basis <strong>de</strong>r Arbeit sollen Kooperativen sein, in <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>s Mitglied<br />

ein Recht auf Bildung, Arbeit und ein garantiertes "soziales Minimum" habe; höhere Leistung wer<strong>de</strong><br />

durch höhere "Divi<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n" belohnt. Wichtiger ist für Fourier jedoch <strong>de</strong>r Genuß: Nicht umsonst soll die<br />

Phalanstere in einer Art Palast untergebracht sein, einem Ort, wo auch Lei<strong>de</strong>nschaft, Vergnügen, Überfluß<br />

und Liebe zu Hause sind. Das klingt sympathisch, aber Fouriers Vorstellungen verraten im Detail sehr oft<br />

seine Sehnsucht nach einem hedonistischen*, männlichen Aristokratentum. Zwar ist er für die<br />

Gleichstellung <strong>de</strong>r Frau und erkennt richtig, daß sexuelle Befriedigung zur sozialen Harmonie beiträgt,<br />

gleichzeitig aber reglementiert er das Sexualleben in einer Art Hierarchie, die seine männliche<br />

Beschränktheit verrät. Auch seine Vorstellungen zur Erziehung sind dogmatisch und naiv. Überhaupt liegt<br />

ihm das Reglementieren sehr. Sogar <strong>de</strong>n Tagesablauf in <strong>de</strong>r Phalanstere beschreibt er so minutiös, daß<br />

kaum noch Platz für Eigeninitiative übrig bleibt. Das Leben <strong>de</strong>r Kommune erscheint so durchorganisiert,<br />

daß es streckenweise mehr an ein sanftes Gefängnis als an ein irdisches Paradies erinnert.<br />

Erst nach Fouriers Tod gewannen seine I<strong>de</strong>en größeren Einfluß. Zwar erlebte er noch 1833 in Frankreich<br />

die Gründung und das Scheitern <strong>de</strong>r ersten Siedlung, <strong>de</strong>r "Fourierismus" aber wur<strong>de</strong> erst nach 1848 zu<br />

einer be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Bewegung. Zahlreiche Anhänger entwickelten und propagierten seine Lehre und<br />

versuchten, seine Utopien umzusetzen. Ver-<br />

1) Siehe Kapitel 37!<br />

174<br />

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suche wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Schweiz, in England, Deutschland und vor allem in <strong>de</strong>n USA unternommen, wo es<br />

zeitweise drei Dutzend Fourierscher Kommunen gab. Keine lebte in<strong>de</strong>s länger als ein paar Jahre, die


meisten zerbrachen an innerem Streit. Das mangeln<strong>de</strong> Vertrauen Fouriers in die Freiheit <strong>de</strong>r Menschen,<br />

sein Hang zu Vorschriften und seine versteckten Hierarchien waren daran nicht schuldlos. Entschei<strong>de</strong>nd<br />

aber blieb, daß in diesen frühen Kommunen Erfahrungen gesammelt wur<strong>de</strong>n, die für die Zukunft wertvoll<br />

waren. Godwin kannte nur die Überzeugung durch Diskussion und blieb <strong>de</strong>shalb steril. Fourier fügte die<br />

Macht <strong>de</strong>s praktischen Beispiels hinzu. Das blieb selbst nach <strong>de</strong>m Scheitern nicht ohne Folgen: <strong>de</strong>r<br />

Einfluß Fourierscher I<strong>de</strong>en von freier Assoziation und Kooperation auf die Genossenschaftsbewegung,<br />

insbeson<strong>de</strong>re in Großbritannien, war enorm; sogar in Rußland fand er ein Echo. Selbst Jahrzehnte später<br />

beeinflußte Fourier noch die einschlägige Szene. Etwa die 1892 gegrün<strong>de</strong>te südbrasilianische<br />

Aussteigersiedlung La Cecilia mit ihrem idyllischen Dörfchen namens "Anarchie", die Surrealisten <strong>de</strong>r<br />

Zwischenkriegszeit o<strong>de</strong>r die Subkulturbewegung <strong>de</strong>r 60er und 70er Jahre.<br />

Ein Mann, <strong>de</strong>r sich auf William Godwin als seinen "philosophischen Lehrmeister" berief, war Robert<br />

Owen, <strong>de</strong>r "Vater <strong>de</strong>s britischen Sozialismus". Tatsächlich führten die I<strong>de</strong>en und Experimente dieses<br />

radikalen Reformers zur Geburt einer florieren<strong>de</strong>n Genossenschaftsbewegung und zur Gründung <strong>de</strong>r<br />

ersten Gewerkschaften <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s. Als wohlhaben<strong>de</strong>r Mann erlebte er das soziale Elend in <strong>de</strong>r britischen<br />

Industrieproduktion aus <strong>de</strong>r Perspektive eines Direktors in <strong>de</strong>r Fabrik seines Schwiegervaters. Er bricht<br />

jedoch mit seiner Klasse und gelangt zu <strong>de</strong>r Einsicht, daß die bestehen<strong>de</strong> Gesellschaftsordnung falsch sei:<br />

Das Individuum trage keine Schuld an Armut, Laster und Verbrechen, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Charakter <strong>de</strong>s Menschen<br />

wer<strong>de</strong> vom Milieu bestimmt. Wirtschaftliche Gleichheit sei die Voraussetzung für positive Entfaltung ;<br />

Fortschritt beruhe auf <strong>de</strong>r Erziehung zur wahren Erkenntnis.<br />

Sein erstes praktisches Experiment ist daher auch die Einrichtung einer Schule für Arbeiterkin<strong>de</strong>r, die er<br />

gegen <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Kirche durchsetzt, die <strong>de</strong>m antireligiösen Unternehmer mißtraut. In <strong>de</strong>n<br />

folgen<strong>de</strong>n Jahren schickt er massenweise Denkschriften an Regierungen, Ministerien und Universitäten in<br />

<strong>de</strong>r Hoffnung, Verbün<strong>de</strong>te für seine Vorschläge zur Reform <strong>de</strong>r Arbeitszeit, <strong>de</strong>r Erziehung, <strong>de</strong>s<br />

Armenrechts o<strong>de</strong>r zur Abschaffung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rarbeit zu gewinnen. Vergebens — überall stößt er auf eine<br />

Mauer <strong>de</strong>s Schweigens. 1819 zieht er die Konsequenzen und stellt sich mit seiner "Botschaft an die<br />

arbeiten<strong>de</strong>n Klassen" auf die Seite <strong>de</strong>r Arbeiterschaft. Von ›oben‹ sei keine Hilfe zu erwarten, also müsse<br />

man >von unten< durch Selbsthilfe agieren. Konsumvereine, Gewerkschaften und vor allem<br />

Genossenschaftsdörfer wer<strong>de</strong>n propagiert. Owens Vorstellungen solcher Siedlungen sind weit praktischer<br />

und weniger extravagant als die Fouriers, und ähneln <strong>de</strong>nen von Gustav Landauers "Sozialistischem<br />

Bund": 500 bis 3000 Menschen sollen sich durch eine selbstverwaltete Wirtschaftsform und eigene<br />

Erziehungseinrichtungen <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise entziehen. Privateigentum beschränkt sich<br />

auf <strong>de</strong>n persönlichen Lebensbereich. Für die innere Demokratie wer<strong>de</strong>n Räte vorgeschlagen, die sich über<br />

Delegierte<br />

175<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

und Ausschüsse mit ähnlichen Gemein<strong>de</strong>n verbin<strong>de</strong>n sollen. Da er in England wenig Echo fin<strong>de</strong>t, geht er<br />

in die USA, wo er mit seinen Anhängern 1825 die Kommune New Harmony grün<strong>de</strong>t. Nach drei Jahren<br />

scheitert das Experiment, und Owen kehrt enttäuscht in seine Heimat zurück. Hier sind aber inzwischen<br />

seine I<strong>de</strong>en auf fruchtbaren Bo<strong>de</strong>n gefallen, und viele <strong>de</strong>r neuen Gewerkschaften, die allenthalben<br />

entstehen, folgen seinen Gedanken zur Selbstorganisation. Auch Owen wird nun zeitweise<br />

gewerkschaftlich aktiv. Die I<strong>de</strong>e, gegen die Industriegesellschaft mo<strong>de</strong>llhafte Gegengesellschaften<br />

aufzubauen, fin<strong>de</strong>t allerdings wenig Anhänger. Nach<strong>de</strong>m auch die von Owen gegrün<strong>de</strong>te kommunistische<br />

Siedlung Queenswood wie<strong>de</strong>r aufgelöst wer<strong>de</strong>n muß, zieht sich <strong>de</strong>r 65 jährige resigniert zurück. Einen<br />

Tag vor seinem Tod im Jahre 1858 sagte Owen "Ich bin meiner Zeit voraus". Die Erfahrungen unseres<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rts – etwa die israelischen Kibuzzim, die spanischen Kollektive o<strong>de</strong>r die heutige<br />

Selbstverwaltungswirtschaft – gaben ihm darin Recht.<br />

Anarchistisch o<strong>de</strong>r libertär?<br />

Wir sind nun in die Zeit vorgedrungen, in <strong>de</strong>r sich die Theorie eines mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus herausbil<strong>de</strong>t<br />

und bald zu einer neuen, sozialen Bewegung wird. Die Voraussetzungen hierzu waren erfüllt:


geistesgeschichtlich war <strong>de</strong>r Gedanke <strong>de</strong>r Herrschaftsfreiheit weit verbreitet, wirtschaftliches Elend führte<br />

in <strong>de</strong>r Arbeiterschaft zu wachsen<strong>de</strong>m Selbstbewußtsein und auch erste praktische Erfahrungen waren<br />

schon gemacht.<br />

Natürlich ist es naiv zu glauben, daß ab <strong>de</strong>m Moment, wo Menschen sich offen zum Anarchismus<br />

bekannten, eine klare Trennung in Anarchisten und Nichtanarchisten möglich wäre. Nicht alle Menschen,<br />

die libertär dachten und han<strong>de</strong>lten, schlössen sich <strong>de</strong>r neuen Bewegung an, und - lei<strong>de</strong>r - dachten und<br />

han<strong>de</strong>lten auch nicht alle Menschen, die sich fortan Anarchisten nannten, libertär. Schon die Uneinigkeit<br />

und Wi<strong>de</strong>rsprüchlichkeit <strong>de</strong>r neuen Bewegung sorgte dafür, daß auch nach Proudhons ›anarchistischem<br />

Outing‹ viele große libertäre Geister es vorzogen, sich am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Bewegung zu halten, obwohl sie<br />

<strong>de</strong>ren Inhalten o<strong>de</strong>r Zielen sehr verbun<strong>de</strong>n waren. Die Reihe <strong>de</strong>r "Frühlibertären" läßt sich <strong>de</strong>shalb auch<br />

im 19. Jahrhun<strong>de</strong>n nahtlos fortsetzen.<br />

So stan<strong>de</strong>n in England etwa <strong>de</strong>r Künstler William Morris o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Schriftsteller Oscar Wil<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>n USA<br />

Ralph Waldo Emerson und Walt Whitman <strong>de</strong>m Anarchismus nicht nur nahe, son<strong>de</strong>rn waren zum Teil<br />

direkt an anarchistischen Projekten beteiligt. Die englischen Sozialphilosophen John Stuart Mill, Herbert<br />

Spencer und Edward Carpenter, die genauso libertär wie liberal zu nennen sind, verteidigten alle das<br />

Recht <strong>de</strong>s Individuums gegenüber <strong>de</strong>m Staat und traten für eine minimalisierte Form <strong>de</strong>s Regierens ein.<br />

Auch Henry David Thoreau, <strong>de</strong>r 1854 mit seinem Buch "Über die Pflicht <strong>de</strong>s Ungehorsams gegen <strong>de</strong>n<br />

Staat" einen Grundlagentext für alle späteren Formen <strong>de</strong>s ›zivilen Ungehorsams‹ schrieb, gehört in diese<br />

Reihe libertärer Aufmüpfiger, die in Amerika eine tiefe Tradition begrün<strong>de</strong>n konnten.<br />

Und sicher ist hier <strong>de</strong>r oft verkannte <strong>de</strong>utsche Philosoph Friedrich Nietzsche zu nennen, <strong>de</strong>ssen<br />

zweifelhafter Ruf zu einem großen Teil darauf beruht, daß seine Schwester <strong>de</strong>n schriftlichen Nachlaß<br />

scheibchenweise im Sinne <strong>de</strong>r Nazis verwurstete. Tatsächlich<br />

176<br />

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aber hat kaum ein an<strong>de</strong>rer härtere Worte über Staat, Nation und Religion gefun<strong>de</strong>n als Nietzsche. Seine<br />

stark individualistische Philosophie <strong>de</strong>s "Übermenschen" steht gewiß in einer geistigen Verwandtschaft<br />

mit Max Stirner. Anarchisten wie Benjamin Tucker, Emma Goldman, Rudolf Rocker und Herbert Read<br />

haben sich von <strong>de</strong>m sächsischen Philosophen inspirieren lassen, während er von vielen an<strong>de</strong>ren Libertären<br />

rundheraus abgelehnt wur<strong>de</strong>. Nietzsche hat übrigens selbst <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Hinweis darauf gegeben,<br />

warum er sich nicht als "Anarchist" fühlte. Trotz geistiger Nähe hielt er <strong>de</strong>n Anarchismus seiner Tage für<br />

die Einmündung in einen falschen Weg, weil seine "Klagen über An<strong>de</strong>re und die Gesellschaft aus<br />

Schwäche und enggeistigem Rachegefühl" geboren seien. Für die anarchistische Bewegung En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 19.<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rts ist das eine durchaus treffen<strong>de</strong> Kritik. In gewissem Sinne gilt sie noch heute für so manche<br />

liebgewonnene Wehleidigkeit vieler Anarchisten.<br />

Literatur:<br />

/ William Godwin: Über die politische Gerechtigkeit (Auszüge) Berlin 1978, Libertad, 33 S. / <strong>de</strong>rs.:<br />

Enquiry Concerning Political Justice Oxford 1971, Clarendon Press / <strong>de</strong>rs.: Die Abenteuer <strong>de</strong>s Caleb<br />

Williams München 1978, Goldmann<br />

/ Pierre Ramus: William Godwin, <strong>de</strong>r Theoretiker <strong>de</strong>s kommunistischen Anarchismus Westbevern o.J.<br />

(1975?), Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 85 S.<br />

/ John P. Clark: The Philosophical Anarchism of William Godwin Princeton, N.Y. 1977, Princeton Univ.<br />

Press, 343 S.<br />

/ Ulrich Dierse: Anarchie, Anarchismus (15 S.) in: J. Ritter (Hrsg.): Histor. Wörterbuch d. Philosophie<br />

Basel u. Stuttgart 1971, Schwabe & Co, [Spalte 167-294]<br />

/ Peter Christian Ludz: Anarchie - Anarchismus -Anarchist (S. 44-50 u. S. 55-109) sowie Christian Meier:<br />

"Anarchie' in <strong>de</strong>r Antike (S. 50-55) in: Brunner, Conze, Koseliek (Hrsg.): Histor. Lexikon z. politischsozialen<br />

Sprache in Deutschland (Bd I), Stuttgart 1972, Klett


Peter Marshall: Demanding The Impossible, vgl. Kap. 20!<br />

/ Thomas Morus: Utopia Frankfurt/M. 1987, Büchergil<strong>de</strong> Gutenberg, 189 ill.<br />

/ Michael Vester (Hrsg.): Die Frühsozialisten (Bd. I, 1789-1848) Hamburg 1970, Rowohlt, 247 S.<br />

/ Charles Fourier: Aus <strong>de</strong>r neuen Liebeswelt Berlin 1977, Wagenbach, 205 S.<br />

/ Andre Breton: O<strong>de</strong> an Charles Fourier Berlin 1982, Karin Kramer, 167 S.<br />

/ Giovanni Rossi: Utopie und Experiment Berlin 1979, Karin Kramer, 322 S.<br />

/ Henry David Thoreau: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen <strong>de</strong>n Staat Zürich 1973, Diogenes, 86 S.<br />

177<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Kapitel 22<br />

"Eigentum ist Diebstahl!"<br />

Proudhon und die Anfänge <strong>de</strong>s Anarchismus<br />

Was sind Sie also? –<br />

Ich bin Anarchist. –<br />

Ich verstehe. Sie wollen sich auf Kosten <strong>de</strong>r Regierung lustig machen? –<br />

Keineswegs. Ich habe Ihnen nur meine wohl abgewogene und ernsthafte Überzeugung genannt. Obwohl<br />

ich überzeugter Anhänger <strong>de</strong>r Ordnung bin, bin ich im vollsten Sinne <strong>de</strong>s Wortes ein Anarchist.<br />

- Pierre Joseph Proudhon -<br />

DIE TROSTLOSEN WINTER DER SPÄTEN VIERZIGER JAHRE brachten in Paris die größten<br />

politischen Schwärmer <strong>de</strong>s neunzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rts zusammen. Stun<strong>de</strong>nlang, ganze Nächte hindurch,<br />

saßen sie in ihren Spelunken und Stammcafes im Marrais und disputierten über die leuchten<strong>de</strong> Zukunft<br />

<strong>de</strong>r Menschheit. In ihren Taschen war kaum ein sou, ihre Anzüge waren fa<strong>de</strong>nscheinig und ihre Absteigen<br />

ungeheizt. Feuer glühte allein in<br />

177<br />

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ihren Herzen - <strong>de</strong>r Wunsch nach Revolution. Aus fast allen Län<strong>de</strong>rn Europas hatte es Legionen politischer<br />

Emigranten in die französische Hauptstadt verschlagen: Aus Preußen und <strong>de</strong>m Deutschen Reich, aus <strong>de</strong>m<br />

untergegangenen Polen, aus Italien und vor allem aus Rußland. Zwar hatte auch Frankreich ein<br />

reaktionäres Regime - <strong>de</strong>n "Bürgerkönig" Louis-Philippe -, aber in Paris gab es noch einen guten Rest von<br />

Liberalität: Nischen <strong>de</strong>r Freiheit, in <strong>de</strong>nen man atmen konnte. Ganz Europa dämmerte inzwischen unter<br />

einer brutalen und spießigen Reaktion. Das Bürgertum war zu Geld und Macht gekommen und sonnte<br />

sich in seinem Glanz und seiner Stärke. Und überall gab es Menschen, die litten und ächzten, weil sie all<br />

das bezahlen mußten. Diejenigen, die in <strong>de</strong>n Fabriken für lächerliche Löhne 12, 14 Stun<strong>de</strong>n täglich<br />

arbeiteten und doch nicht davon leben konnten. Männer, Frauen, Kin<strong>de</strong>r - die Arbeiterklasse o<strong>de</strong>r, wie sie<br />

neuerdings genannt wur<strong>de</strong>n, das "Proletariat".<br />

Zu <strong>de</strong>n politischen Asylanten <strong>de</strong>r 40er Jahre gehörte ein gewisser Herr Karl Marx, abgebrochener Jurist<br />

und promovierter Philosoph aus Deutschland, <strong>de</strong>r als Beruf ›politischer Journalist‹ angab. Ein Monsieur<br />

Alexan<strong>de</strong>r Herzen aus Moskau war hinzugestoßen, halb Russe und halb Deutscher, Naturwissenschaftler<br />

und Literat und soeben <strong>de</strong>r Verbannung entflohen. Und ein ehemaliger Offizier aus nie<strong>de</strong>rem A<strong>de</strong>l<br />

namens Michail Bakunin, <strong>de</strong>r Philosophie studierte, steckbrieflich gesucht ruhelos durch Europa reiste<br />

und noch nicht ahnte, daß er schon in Kürze auch aus Frankreich ausgewiesen wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>.<br />

Lei<strong>de</strong>nschaftlich diskutierten sie die Hegelsche Dialektik und erörterten Fragen revolutionärer Strategie.


Alle drei hatten unterschiedliche Ansichten, aber einen gemeinsamen Bekannten, <strong>de</strong>ssen skandalöses<br />

Buch "Was ist das Eigentum?" in aller Mun<strong>de</strong> war: Pierre-Joseph Proudhon. Ein Mann von einfacher<br />

Herkunft, Wan<strong>de</strong>rgeselle, Handwerker, Autodidakt*, ein Hinterwäldler aus <strong>de</strong>r finstersten Provinz, <strong>de</strong>r in<br />

kürzester Zeit mit seinen provozieren<strong>de</strong>n Gedanken zum Bestsellerautor gewor<strong>de</strong>n war. "Eigentum ist<br />

Diebstahl", "Anarchie ist Ordnung", "Gott ist ein Übel" - das waren griffige Zitate Proudhons,<br />

herausgerissen aus seinen Büchern und zu geflügelten Worten gemacht.<br />

In jenen vierziger Jahren wur<strong>de</strong> in Paris die Ursuppe <strong>de</strong>s Sozialismus zusammengebraut. Marx, Herzen<br />

und Bakunin, die Proudhon natürlich gelesen hatten, machten sich mit seinen I<strong>de</strong>en vertraut und ihn mit<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Philosophie. Mit Proudhonschem Geld eröffnete <strong>de</strong>r mittellose Marx ein "Büro für<br />

internationale sozialistische Korrespon<strong>de</strong>nz" - Vorläufer <strong>de</strong>r "Ersten Internationale". Bakunin und Herzen<br />

wur<strong>de</strong>n zu Proudhons Freun<strong>de</strong>n. Die Frage, die alle gleichermaßen interessierte: Wie könnten Elend und<br />

Unzufrie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>s Proletariats zum Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft wer<strong>de</strong>n? Was waren die<br />

Ziele und welches <strong>de</strong>r richtige Weg?<br />

Es gärte und roch nach Verän<strong>de</strong>rung. Im Februar 1848 entlud sich <strong>de</strong>r Druck in einer ersten Revolution,<br />

vielleicht zu früh: Louis-Philippe wur<strong>de</strong> von seinem Thron geblasen - nur, um im Dezember Louis-<br />

Napoleon emporzubringen, <strong>de</strong>r 1851 gegen das Parlament putschte und bald als Napoleon III. neuer<br />

Kaiser wur<strong>de</strong>...<br />

178<br />

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Ein Rückschlag, keine Frage, aber <strong>de</strong>nnoch - nach <strong>de</strong>r Februarrevolution war nichts mehr so wie vorher:<br />

Eine Bewegung war geboren, die nicht wie<strong>de</strong>r verschwand. Die vier Männer zerstreuten sich in alle<br />

Richtungen. Herzen führte Proudhons Gedanken in <strong>de</strong>n russischen Populismus* ein, Bakunin entwickelte<br />

seine I<strong>de</strong>en weiter und machte sie international populär. In <strong>de</strong>n nächsten Jahrzehnten beriefen sich immer<br />

mehr soziale Strömungen auf Proudhon: Gewerkschaften, Arbeiterbörsen, Genossenschaften, politische<br />

Clubs und vor allem <strong>de</strong>r antiautoritäre Flügel <strong>de</strong>r Ersten Internationalen Arbeiter- Assoziation. Als sich<br />

1871, sechs Jahre nach Proudhons Tod, die Arbeiterschaft von Paris in <strong>de</strong>r Commune erhob, stellten seine<br />

Anhänger die größte Fraktion. Einzig Karl Marx war inzwischen zu seinem erbitterten Gegner gewor<strong>de</strong>n.<br />

Wer war dieser Proudhon, und was hatte er <strong>de</strong>r Welt zu sagen?<br />

Denker und Dickschä<strong>de</strong>l<br />

Proudhon entstammt einer jener typischen Familien armer, bo<strong>de</strong>nständiger und dickschädliger Bergbauern<br />

<strong>de</strong>s französischen Jura. 1809 in Besancon geboren, muß <strong>de</strong>r junge Pierre-Joseph schon mit zwölf Jahren<br />

im Gewerbe seines Vaters mitarbeiten, <strong>de</strong>r eine Kneipe mit Küferei betreibt. Nebenher besucht <strong>de</strong>r<br />

auffallend gescheite Junge das angesehene College <strong>de</strong> Besancon. Damit ist Schluß, als <strong>de</strong>r Vater 1827<br />

bankrott macht. Proudhon erlernt das Buchdruckerhandwerk und frönt, wann immer er kann, seinem<br />

unstillbaren Bildungshunger. Er besucht sozialistische Zirkel, lernt Charles Fourier kennen und kommt<br />

auf seiner mehrjährigen Wan<strong>de</strong>rschaft mit ersten Arbeiterkooperativen in Verbindung. Zurück in <strong>de</strong>r<br />

Heimat, grün<strong>de</strong>t er eine Druckerei und wird unter <strong>de</strong>m Eindruck <strong>de</strong>r religiösen Traktate, die er für die<br />

Diözese druckt, zum überzeugten Atheisten. Mit einer preisgekrönten Arbeit über Moses, <strong>de</strong>n er<br />

interessanterweise und völlig unkonventionell als Sozialwissenschaftler und weisen Ent<strong>de</strong>cker von<br />

Naturgesetzen interpretiert, gewinnt er 1838 ein Stipendium an <strong>de</strong>r örtlichen Aka<strong>de</strong>mie. Aus Dankbarkeit<br />

widmet er ihr auch sein aufsehenerregen<strong>de</strong>s nächstes Werk, "Was ist das Eigentum?", das 1840 erscheint<br />

und zum Skandal wird. Entsetzt besteht die Aka<strong>de</strong>mie darauf, die Widmung zu streichen. Kein Wun<strong>de</strong>r,<br />

<strong>de</strong>nn die Denkschrift ist ein Frontalangriff auf die wichtigsten Säulen <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Ordnung:<br />

Eigentum und Regierung.<br />

Ab nun wird Proudhon zu einem vielbeachteten Autor, ruhelosen politischen Organisator und originellen<br />

sozialen Quer<strong>de</strong>nker. Den Rest seines Lebens bleibt er ein experimenteller Anarchist zwischen<br />

Philosophie und Versuch, Ruhm und Gefängnis, Hoffnung und Resignation. Hierbei sieht man ihn hinter


Barrika<strong>de</strong>n ebenso wie als Abgeordneten im Parlament. Er grün<strong>de</strong>t eine Bank, gibt Zeitungen mit<br />

Massenauflagen heraus, und wie ein Worcaholic schreibt er ein Buch nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren. Als er 1865<br />

stirbt, hinterläßt er mehr als vierzig Titel, vierzehn Bän<strong>de</strong> Korrespon<strong>de</strong>nz und elf Bän<strong>de</strong> Notizen, Mehrere<br />

tausend Trauern<strong>de</strong> begleiten <strong>de</strong>n Sarg <strong>de</strong>s Mannes, <strong>de</strong>r sich zu Lebzeiten selbst als "<strong>de</strong>n<br />

Exkommunizierten <strong>de</strong>r Epoche" gesehen hatte, unverstan<strong>de</strong>n und seinen Mitmenschen entfrem<strong>de</strong>t.<br />

Damit lag er gar nicht so falsch, <strong>de</strong>nn Proudhon war alles an<strong>de</strong>re als ein Philosoph zum<br />

179<br />

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Liebhaben. In <strong>de</strong>r Tat hatte er sich - auch im eigenen Lager - nicht nur Freun<strong>de</strong> gemacht. Er war zwar<br />

einer <strong>de</strong>r kühnsten und bizarrsten Denker seines Jahrhun<strong>de</strong>rts, aber zugleich auch von solcher<br />

Wi<strong>de</strong>rsprüchlichkeit, polemischer Übertreibung und Wechselhaftigkeit <strong>de</strong>r Ansichten, daß es bis heute<br />

selbst seinen Anhängern schwerfällt, ihm immer zu folgen. Innigste Freiheitsliebe stehen bei Proudhon<br />

unvermittelt neben tumben, reaktionären Anschauungen, scharfsinnige Analysen von bestechen<strong>de</strong>r<br />

Klarheit beißen sich mit vagen und unsystematischen Spekulationen.<br />

Proudhon war kein Systematiker, son<strong>de</strong>rn Spontaneist. Seine Metho<strong>de</strong> glich mehr einem Brainstorming<br />

als <strong>de</strong>m Aufbau eines schlüssigen Mo<strong>de</strong>lls. Es machte ihm nichts aus, für bei<strong>de</strong> Seiten einer Frage gleich<br />

überzeugend Partei zu ergreifen, wenn er die Wahrheit irgendwo dazwischen vermutete. Kam er zu einer<br />

klaren Entscheidung, konnte es sein, daß er sie Jahre später recht unbekümmert wie<strong>de</strong>r verwarf. Kein<br />

Wun<strong>de</strong>r, daß ein or<strong>de</strong>ntlicher Philosoph wie Karl Marx an solch einem chaotischen Autodidakten<br />

verzweifelte.<br />

Proudhon hinterließ kein philosophisches System, son<strong>de</strong>rn einen reichen Steinbruch an I<strong>de</strong>en. Vor allem<br />

aber konnte er - trotz seines ruhelosen Bildungshungers - zeitlebens nie <strong>de</strong>n begrenzten Horizont seiner<br />

provinziellen Herkunft überwin<strong>de</strong>n. Recht treffend hat Trotzki ihn <strong>de</strong>shalb <strong>de</strong>n "Robinson Crusoe <strong>de</strong>s<br />

Sozialismus" genannt. Nirgends zeigt sich diese engstirnige, puritanische und rückständige Verwurzelung<br />

<strong>de</strong>s schreiben<strong>de</strong>n Handwerkers aus <strong>de</strong>r Franche Comté so sehr, wie in seinem Bild <strong>de</strong>r Frau o<strong>de</strong>r seinen<br />

Ansichten zur Rasse. Der Mensch sei an <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n gebun<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>m er stamme, und die Liebe zur<br />

Er<strong>de</strong>, auf <strong>de</strong>r man geboren ist, empfin<strong>de</strong>t er als natürlich, gut und harmonisch. Eine Vermischung von<br />

Rassen sei daher unnatürlich. Von <strong>de</strong>r Schlechtigkeit seiner jüdischen Mitmenschen schien er ebenso<br />

überzeugt zu sein wie von <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rwertigkeit <strong>de</strong>r Frau. Es ist kaum zu glauben, aber <strong>de</strong>r glühendglobale<br />

Schrei nach Freiheit scheint für <strong>de</strong>n "Vater <strong>de</strong>s Anarchismus" nur für mitteleuropäische Männer<br />

zu gelten! Je älter er wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>sto wun<strong>de</strong>rlicher wur<strong>de</strong>n seine Ansichten. Zehn Jahre nach seinem Tod<br />

wur<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>m Titel "Pornokratie o<strong>de</strong>r Frauen <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Zeit" Fragmente aus seinem Nachlaß<br />

veröffentlicht, in <strong>de</strong>nen er <strong>de</strong>r Frau <strong>de</strong>n Platz zuweist, <strong>de</strong>r ihr seiner Meinung nach gebührt: am Herd<br />

inmitten <strong>de</strong>r Familie, <strong>de</strong>m Manne vollkommen untertan. Intellektuell traut er ihr nicht viel zu. Ein<br />

erschrecken<strong>de</strong>s Pamphlet, das in schreien<strong>de</strong>m Gegensatz zu <strong>de</strong>m steht, was <strong>de</strong>rselbe Mensch an<strong>de</strong>rswo an<br />

bahnbrechen<strong>de</strong>n Erkenntnissen über Unterdrückung, Herrschaft und das Recht auf Freiheit geschrieben<br />

hat...<br />

Ist <strong>de</strong>r Vater <strong>de</strong>s Anarchismus also ein Blut-und-Bo<strong>de</strong>n-Rassist und reaktionärer Macho? Ein Wegbereiter<br />

<strong>de</strong>s Faschismus gar? Wer das glauben möchte, müßte auch Martin Luther und die Bolschewiki, Nietzsche<br />

o<strong>de</strong>r die Französische Revolution, Goethe, Wagner, Schopenhauer und die Brü<strong>de</strong>r Grimm <strong>de</strong>n frühen<br />

Nazis zurechnen, weil bei ihnen allen bezüglich Heimat, Frauen o<strong>de</strong>r auch Ju<strong>de</strong>n Äußerungen zu fin<strong>de</strong>n<br />

sind, die wir heute mit Recht als reaktionär und teilweise abscheulich empfin<strong>de</strong>n. Das Dilemma scheint<br />

im Falle Proudhons eher darin zu liegen, daß er am Beginn eines Denkens steht, aus <strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r<br />

mo<strong>de</strong>rne Anarchismus erst noch entwickeln wird, an <strong>de</strong>m er aber gleichwohl gemessen<br />

180<br />

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wird. Einige anarchistische Essentials durchblickte er gera<strong>de</strong>zu glasklar, an<strong>de</strong>re hingegen verstand er<br />

nicht einmal ansatzweise.<br />

Die anarchistische Bewegung ist über dieses Dilemma immer wie<strong>de</strong>r gerne mit peinlichem Schweigen<br />

hinweggegangen - ein ebenso albernes wie bezeichnen<strong>de</strong>s Verhalten. Es zeigt, wie schwer man sich darin<br />

tut, mit wi<strong>de</strong>rsprüchlichem Verhalten umzugehen - einer Eigenschaft, die (angeblich mit Ausnahme <strong>de</strong>r<br />

Heiligen) ja allen Menschen eigen ist. Da stellt sich doch die Frage, ob <strong>de</strong>r Anarchismus Heilige braucht.<br />

Idole als Inkarnation von Tugend sind ein Mythos, <strong>de</strong>r nötig ist, um Massen an eine I<strong>de</strong>ologie zu fesseln.<br />

Der Anarchismus sollte das nicht nötig haben. Vielleicht tun wir gut daran, am Beispiel Proudhon die<br />

bittere Erkenntnis zu schlucken, daß gute I<strong>de</strong>en nicht automatisch in ihren Trägern zur ethischen<br />

Fleischwerdung gelangen müssen. Das macht uns frei dafür, auch die I<strong>de</strong>en und Taten eines Menschen<br />

durchaus fesselnd, inspirierend und positiv fin<strong>de</strong>n zu können, <strong>de</strong>r seiner eigenen Philosophie wi<strong>de</strong>rsprach.<br />

Für <strong>de</strong>n Anarchismus ist insofern an Proudhon weniger die Person interessant, als vielmehr die<br />

Auswirkungen seiner zentralen Thesen.<br />

Soziale Gerechtigkeit als Grundlage <strong>de</strong>r Freiheit<br />

In seinem Hauptwerk liefert Proudhon zunächst eine Bestandsaufnahme <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Gesellschaft, vor<br />

allem ihrer Ökonomie. Er erkennt die Entfremdung mo<strong>de</strong>rner Industriearbeit und brandmarkt, daß <strong>de</strong>r<br />

Arbeiter mehr und mehr zu einem Automaten <strong>de</strong>gradiert wer<strong>de</strong>. Besitzverhältnisse, Arbeitsteilung und<br />

Geldsystem führten bei <strong>de</strong>n Unternehmern zu wachsen<strong>de</strong>m Wohlstand, bei <strong>de</strong>r Arbeiterschaft zu<br />

materieller und seelischer Verelendung. Umfassend untersucht er sodann Entstehung, Wesen und<br />

Wirkung von Eigentum, da er in <strong>de</strong>r ungerechten Verteilung <strong>de</strong>s Wohlstan<strong>de</strong>s die Wurzel vieler Übel<br />

sieht. Seiner Beweisführung, daß auch die besitzlosen Klassen ein Anrecht auf <strong>de</strong>n erwirtschafteten<br />

Reichtum hätten, läßt er aber nun nicht die For<strong>de</strong>rung nach einer gerechteren Verteilung <strong>de</strong>s Eigentums<br />

folgen, son<strong>de</strong>rn propagiert seine Abschaffung. Einesteils aus moralischen Grün<strong>de</strong>n, weil Eigentum<br />

insofern Diebstahl sei, als es aus <strong>de</strong>r Ausbeutung <strong>de</strong>r Besitzlosen und Rechtlosen gewonnen wird, und<br />

diese um die Früchte ihrer Arbeit betrügt. Vor allem aber, weil im Eigentum das Fundament von<br />

Herrschaft und Unterdrückung zu sehen sei, die <strong>de</strong>n Menschen an <strong>de</strong>r freien Entfaltung von Initiative,<br />

Kreativität und Moral hin<strong>de</strong>re. Eigentum habe fatale Folgen. Es sei eine angemaßte Verfügungsgewalt zur<br />

persönlichen Bereicherung, ein abstraktes Prinzip. Besitz hingegen sei segensreich. Er diene als<br />

Voraussetzung einer individuellen o<strong>de</strong>r kollektiven Nutzung <strong>de</strong>r Güter zum Wohle aller. Besitz ist<br />

<strong>de</strong>mnach kein theoretischer und ewiger Rechtsanspruch, son<strong>de</strong>rn besteht nur so lange, wie eine Nutzung<br />

auch tatsächlich erfolgt. Proudhon <strong>de</strong>nkt hierbei nicht an <strong>de</strong>n Besitz privater Dinge, son<strong>de</strong>rn zielt auf die<br />

Verfügungsgewalt über Bo<strong>de</strong>n und Produktionsmittel. Entschie<strong>de</strong>n wen<strong>de</strong>t er sich gegen gewisse<br />

kommunistische Vorstellungen von <strong>de</strong>r Kollektivierung <strong>de</strong>s Privaten. Der Mensch, so Proudhon, brauche<br />

freie Entscheidung und die Wahl zwischen Alternativen - <strong>de</strong>r Kommunismus gehe statt<strong>de</strong>ssen<br />

181<br />

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davon aus, daß sich das Individuum vollständig <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>r Gesellschaft unterzuordnen habe.<br />

Von dieser radikalen Kritik war es nur noch ein kleiner Schritt zu radikalen Konsequenzen, die in <strong>de</strong>r<br />

For<strong>de</strong>rung nach einer neuen Gesellschaft mün<strong>de</strong>ten. In dieser Suche nach einer "dritten<br />

Gesellschaftsform" entsteht <strong>de</strong>r erste grobe Entwurf eines anarchistischen Systems.<br />

Die Grundlage <strong>de</strong>r Freiheit müsse soziale Gerechtigkeit sein, in <strong>de</strong>r unabhängige Produzenten und<br />

Konsumenten <strong>de</strong>n Austausch gleichwertiger Waren, Produkte und Leistungen verwirklichen. Die<br />

Beziehungen zwischen Menschen und sozialen Gruppen regele die freie Vereinbarung, die autonome<br />

Individuen untereinan<strong>de</strong>r und mit <strong>de</strong>r Gesellschaft eingehen. Das Interesse am Austausch beruhe dabei auf<br />

Gegenseitigkeit - französisch mutualite - ein Begriff, <strong>de</strong>r bei Proudhon eine wesentliche Rolle spielt.<br />

Zwischen <strong>de</strong>n Polen absoluter Freiheit und Tyrannei gesteht <strong>de</strong>r späte Proudhon hierbei auch einer<br />

wohlverstan<strong>de</strong>nen "Autorität" eine regulieren<strong>de</strong> Rolle zu. Stark ausgeprägt ist <strong>de</strong>r


Genossenschaftsgedanke: handwerkliche, bäuerliche und industrielle Kooperation soll die Initiative<br />

einzelner Kapitalisten ersetzen. Anstelle <strong>de</strong>r als unsozial empfun<strong>de</strong>nen Bereicherung sieht Proudhon als<br />

Antrieb zum Han<strong>de</strong>ln eine Art sozialen Wettbewerbs, <strong>de</strong>r um so stärker greife, je freier <strong>de</strong>r Mensch sei<br />

und je mehr er sich mit <strong>de</strong>r Gesellschaft i<strong>de</strong>ntifiziere. Als materieller Anreiz bleibt die Verfügungsgewalt<br />

über die Früchte <strong>de</strong>r Arbeit, die die Produzenten behalten sollen. Das ganze System schließlich wür<strong>de</strong><br />

strikt <strong>de</strong>zentral sein; die notwendigen Strukturen <strong>de</strong>r Koordination müßten sich fö<strong>de</strong>ralistisch aufbauen,<br />

das heißt, von ›unten‹ nach ›oben‹. So könne das Entstehen neuer Tyrannei verhin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.<br />

Konsequenz einer solchen selbstverwalteten Gesellschaft wäre ein Verschwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Staates, ihr Ziel die<br />

"Anarchie". Originellerweise packt Proudhon die positive politische Definition dieses Begriffes eher<br />

beiläufig in eine Fußnote: Schon 1840, in "Was ist das Eigentum?", räumt er ein, daß das Wort<br />

"Anarchie" bisher als "Abwesenheit von Gesetzen" verstan<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong> und als Synonym für "Unordnung"<br />

stand. In Wahrheit aber seien <strong>de</strong>r Staat und die ungleiche Verteilung <strong>de</strong>s Wohlstan<strong>de</strong>s die Quellen <strong>de</strong>s<br />

Chaos'. Da Herrschaftslosigkeit diese Ursachen beseitige, sei es gerechtfertigt zu sagen: Anarchie ist<br />

Ordnung. Selten ist ein vermeintliches Paradox knapper und schlüssiger erklärt wor<strong>de</strong>n. Die Originalität<br />

dieses Gedankengangs, zusammen mit <strong>de</strong>r vorausschauen<strong>de</strong>n Skizze einer anarchistischen Gesellschaft in<br />

ihren wesentlichen Grundzügen, begrün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Ruf Proudhons als geistiger "Vater <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen<br />

Anarchismus".<br />

"Vom Geist <strong>de</strong>s Proudhonismus befallen"<br />

Der Wust neuer I<strong>de</strong>en, <strong>de</strong>n Proudhon auf <strong>de</strong>n Markt <strong>de</strong>r Meinungen seiner Zeit warf, hatte für viele<br />

Jahrzehnte enormen Einfluß auf das soziale Denken und<br />

Han<strong>de</strong>ln, insbeson<strong>de</strong>re auf die Arbeiterschaft. In Deutschland, England und <strong>de</strong>n Vereinigten Staaten<br />

waren alle frühen sozialistischen Bewegungen durch die Bank vom "Geist <strong>de</strong>s Proudhonismus befallen".<br />

Friedrich Engels nannte seine Schrift über das Eigentum "das tiefste philosophische<br />

182<br />

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Werk, das ... in französischer Sprache geschrieben wur<strong>de</strong>". 1895 spielten bei <strong>de</strong>r Gründung <strong>de</strong>r<br />

Confe<strong>de</strong>ration Generale du Travail, Frankreichs wichtigster Gewerkschaft, die erst nach <strong>de</strong>m Ersten<br />

Weltkrieg unter kommunistischen Einfluß geriet, Proudhons I<strong>de</strong>en eine prägen<strong>de</strong> Rolle. Fernand<br />

Pelloutier schuf mit <strong>de</strong>r Fö<strong>de</strong>ration <strong>de</strong>r "Arbeiterbörsen" ein Instrument zur Selbstorganisation und<br />

Fortbildung <strong>de</strong>r Arbeiterschaft, das sich an Proudhons Mutualismus orientierte. Nach 1870 drangen seine<br />

I<strong>de</strong>en nach Spanien, beeinflußten eine ganze Generation von Intellektuellen wie etwa <strong>de</strong>n Philosophen Pi<br />

y Margall und legten ein wichtiges Fundament für eine starke anarchistische Arbeiterbewegung, die ab <strong>de</strong>r<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle auf <strong>de</strong>r Iberischen Halbinsel spielte. Mexikanische<br />

Revolutionäre waren von ihm ebenso beeinflußt wie die russischen Narodniki o<strong>de</strong>r Leo Tolstoi, <strong>de</strong>r nicht<br />

nur das philosophische Leitmotiv, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>n Titel zu seinem Roman "Krieg und Frie<strong>de</strong>n" direkt<br />

bei Proudhon entlehnte. Bis in unsere Tage wird er immer wie<strong>de</strong>r bemüht - die einen sehen ihn als<br />

geistigen Mentor <strong>de</strong>s Anarchosyndikalismus, die an<strong>de</strong>ren als einen Vorläufer <strong>de</strong>r Soziologie; als<br />

Theoretiker <strong>de</strong>s Fö<strong>de</strong>ralismus wird er ebenso in Anspruch genommen wie als Pate <strong>de</strong>r<br />

Genossenschaftsbewegung o<strong>de</strong>r Ahnherr <strong>de</strong>r Selbstverwaltungsi<strong>de</strong>e.<br />

Zum ersten großen Wirbel kam es schon kurz nach seinem Tod innerhalb <strong>de</strong>r 1864 gegrün<strong>de</strong>ten "Ersten<br />

Internationale", in <strong>de</strong>ren französischer Sektion Proudhons I<strong>de</strong>en sehr populär waren. Hier prallten<br />

freiheitlicher und autoritärer Sozialismus erstmals mit Wucht aufeinan<strong>de</strong>r, was schließlich zur Spaltung in<br />

Anarchismus und Kommunismus führte. Den libertären Part in diesem Konflikt spielte Bakunin, <strong>de</strong>r seine<br />

ersten anarchistischen Kicks keinem an<strong>de</strong>ren als Proudhon verdankte. Sein Gegenspieler, Karl Marx,<br />

hatte sich inzwischen schon längst mit <strong>de</strong>m Mann aus Besancon überworfen. Vorbei waren die<br />

Winteraben<strong>de</strong> <strong>de</strong>r vierziger Jahre, in <strong>de</strong>nen man respektvoll miteinan<strong>de</strong>r verkehrte und gemeinsam<br />

Utopien schmie<strong>de</strong>te. Die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung zwischen Marx und Bakunin war bereits 25 Jahre zuvor in<br />

einer symbolträchtigen Polemik zwischen Marx und Proudhon vorweggenommen wor<strong>de</strong>n. Als <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>utsche Kommunist <strong>de</strong>n französischen Anarchisten für die Mitarbeit an seinen Projekten gewinnen


wollte, antwortete Proudhon: "Machen wir uns nicht zu Führern einer neuen Intoleranz. Posieren wir nicht<br />

als Apostel einer neuen Religion, und sei es auch die Religion <strong>de</strong>r Logik und <strong>de</strong>r Vernunft. (...) Lassen Sie<br />

uns, wenn Sie wollen, gemeinsam die Gesetze <strong>de</strong>r Gesellschaft suchen, die Wege, auf <strong>de</strong>nen sie<br />

verwirklicht wer<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n Prozeß, nach <strong>de</strong>m es uns gelingt, sie zu ent<strong>de</strong>cken. Hüten wir uns jedoch um<br />

Himmels Willen, <strong>de</strong>n Leuten nach <strong>de</strong>r Zertrümmerung aller vorgefaßten Dogmen unserseits eine neue<br />

Doktrin einzuimpfen. (...) Unter diesen Bedingungen trete ich mit Vergnügen in Ihre Assoziation ein;<br />

an<strong>de</strong>renfalls nicht." Mit gutem Gespür hatte Proudhon die Falle <strong>de</strong>r marxistischen Dogmatik gewittert und<br />

<strong>de</strong>n Finger auf <strong>de</strong>n wun<strong>de</strong>n Punkt gelegt: die Gefahr einer kommunistischen Diktatur. Marx hat ihm das<br />

nie verziehen. Auf Proudhons Buch "Die Philosophie <strong>de</strong>s Elend" konterte er geschickt mit <strong>de</strong>r Polemik<br />

"Das Elend <strong>de</strong>r Philosophie", in <strong>de</strong>r er Proudhon "Unwissenschaftlichkeit" vorwarf. Er ließ kein gutes<br />

Haar mehr an seinem ehemaligen För<strong>de</strong>rer und sprach ihm rundheraus seine<br />

183<br />

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Fähigkeiten als Ökonom und Philosoph ab. Proudhon reagierte lakonisch: "Der wirkliche Sinn dieses<br />

Werkes von Marx ist, daß er bedauert, daß ich überall gedacht habe wie er und es vor ihm gesagt habe."<br />

Ein Leben als Experiment<br />

Ebenso wie seine Gedankenwelt war auch Proudhons politisches Leben eine Aneinan<strong>de</strong>rreihung von<br />

Versuchen. Kurz nach<strong>de</strong>m er sich in Paris nie<strong>de</strong>rgelassen hat, bricht 1848 die Revolution gegen Louis-<br />

Philippe aus. Trotz seiner Skepsis gegenüber dieser "Revolution ohne I<strong>de</strong>en" stellt sich Proudhon voll in<br />

ihren Dienst, hält Vorträge in politischen Clubs, druckt Flugschriften und fehlt im entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Augenblick auch nicht auf <strong>de</strong>n Barrika<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Pariser Aufständischen. Im Februar startet er seine Zeitung<br />

Le representant du peuple, die in kurzer Zeit eine Auflage von 40ooo Exemplaren erreicht - für die<br />

damalige Zeit ein wahres Massenblatt, das dreimal verboten wur<strong>de</strong> und seinen Namen wechseln mußte.<br />

Kurz nach <strong>de</strong>r Revolution wagt Proudhon das Experiment, die Nationalversammlung für seine Ziele zu<br />

nutzen. Immer wie<strong>de</strong>r hatte er darauf hingewiesen, daß eine neue Gesellschaft durch sozialen Kampf und<br />

wirtschaftliche Organisation, nicht aber durch Putsch o<strong>de</strong>r Parteipolitik zu erreichen sei. Obwohl er sich<br />

als klarer Gegner <strong>de</strong>s Parlamentarismus zu erkennen gibt, wird er auf Anhieb ins Parlament gewählt. Dort<br />

versucht er mit einer Mischung aus provozieren<strong>de</strong>m Protest und ernsthaften Anträgen die Möglichkeit<br />

auszuloten, <strong>de</strong>n bürgerlichen Apparat in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>r proletarischen Subversion zu stellen. So lehnt er<br />

<strong>de</strong>n Entwurf einer neuen, liberaleren Verfassung mit <strong>de</strong>n Worten ab: "Ich stimme gegen die Verfassung,<br />

nicht weil sie Dinge enthält, die ich ablehne o<strong>de</strong>r Dinge enthält, die ich billige, ich stimme gegen die<br />

Verfassung, weil sie eine Verfassung ist." Seinen eigenen Antrag auf Aussetzung aller Schul<strong>de</strong>n und<br />

Kapitalgewinne würzt er mit <strong>de</strong>r Drohung, daß das Proletariat dies an<strong>de</strong>rnfalls eben auf eigene Faust<br />

durchsetzen wür<strong>de</strong>. Die verschreckten Abgeordneten kommentierten das mit <strong>de</strong>m Ausruf "Das ist <strong>de</strong>r<br />

soziale Krieg!" und stimmen 691:2 dagegen. Schnell erkennt Proudhon, daß sich das Parlament we<strong>de</strong>r als<br />

propagandistische Plattform eignet noch als Kulisse für entlarven<strong>de</strong> Spaße - schon gar nicht als Ort, um<br />

grundlegen<strong>de</strong> Verän<strong>de</strong>rungen durchzusetzen. Nach wenigen Monaten kehrt er <strong>de</strong>r Nationalversammlung<br />

<strong>de</strong>n Rücken und zieht eine ernüchtern<strong>de</strong> Bilanz: "Kaum hatte ich <strong>de</strong>n Fuß ins parlamentarische Sinai<br />

gesetzt, hörte ich auf, mit <strong>de</strong>n Massen in Verbindung zu stehen. Die legislative Arbeit absorbierte mich<br />

<strong>de</strong>rmaßen, daß ich <strong>de</strong>n Blick für das aktuelle Geschehen vollständig verlor. (...) Man muß in diesem<br />

Isolator namens Nationalversammlung gelebt haben, um zu erkennen, daß die Männer, die absolut keine<br />

Ahnung vom Zustand <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s haben, meist genau dieselben sind, die es vertreten. (...) Die Angst vor<br />

<strong>de</strong>m Volk ist die Krankheit all <strong>de</strong>rer, die auf Seiten <strong>de</strong>r Autorität stehen; das Volk ist <strong>de</strong>r Feind <strong>de</strong>r<br />

Mächtigen." Mit diesem frühen Parlamentarismustest machte Proudhon eine Erfahrung, die für <strong>de</strong>n<br />

gesamten Anarchismus prägend wer<strong>de</strong>n sollte und zur Ablehnung <strong>de</strong>s parlamentarischen Reformismus<br />

führte.<br />

Dem Flirt mit <strong>de</strong>m Parlament folgte ein praktischer Versuch auf wirtschaftlichem Gebiet.<br />

184


--------------------------------------------------------------------------------<br />

Proudhon grün<strong>de</strong>te eine Tauschbank die zinsfreie Kredite gewährte und einen praktischen,<br />

"mutualistischen" Weg zur Überwindung <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaft aufzeigen sollte. Die Bank, die<br />

keinen Eigengewinn anstrebte, stellte Anteilscheine aus, die unter allen Assoziierten wie Geld akzeptiert<br />

wur<strong>de</strong>n. Ihr Gegenwert bestand in eingebrachten Waren, in <strong>de</strong>ren Bewertung Arbeitszeit und<br />

Materialkosten eingingen. Die Bank sollte so einen Austausch von Leistungen frei von Spekulation und<br />

Profitinteresse ermöglichen. Vor allem sollte sie Darlehen gewähren, die in erster Linie<br />

Kleinproduzenten, Arbeitergenossenschaften und - wie wir heute sagen wür<strong>de</strong>n - selbstverwalteten<br />

Projekten zugute gekommen wären. Obwohl sich in kürzester Zeit 27000 Mitglie<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>m Versuch<br />

beteiligten, kam es nicht zur praktischen Verwirklichung. Im Dezember 1848 bringt ein coup d'etat*<br />

Louis-Napoleon an die Macht, im Januar wird Proudhon verhaftet, die Bank bricht wenig später<br />

zusammen. Es folgen drei Jahre Haft wegen Pressevergehens, in <strong>de</strong>nen das autobiographische Werk<br />

"Bekenntnisse eines Revolutionärs" entsteht. Es sollte we<strong>de</strong>r sein letztes Buch noch sein letzter<br />

Gefängnisaufenthalt bleiben...<br />

In <strong>de</strong>r Folgezeit zieht sich Proudhon vermehrt aus <strong>de</strong>m aktuellen politischen Geschehen zurück,<br />

produziert aber unermüdlich politische Literatur und sucht Geborgenheit im Privaten. Viel Zeit widmet er<br />

seinen drei Töchtern, die ihm "zur Freu<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Lebens" wer<strong>de</strong>n. Es sind jene Jahre, in <strong>de</strong>nen sich seine<br />

Ansichten über <strong>de</strong>n Wert eines ›harmonischen Familienlebens‹ verfestigen, so wie er es sich in seiner<br />

patriarchalen Sicht und seinem traditionell geprägten Denken vorstellt und offenbar genießt. Die I<strong>de</strong>e<br />

einer punktuellen Kollaboration in Sachen Wirtschaftsreform mit Louis-Napoleon, <strong>de</strong>r sich 1851 zum<br />

neuen Kaiser krönen läßt, wird schon 1852 ebenso rasch bereut wie sie geboren wor<strong>de</strong>n war. Das<br />

Kaiserreich bietet wenig Ansätze für neue Strategien. Die Vorstellungen <strong>de</strong>s Kommunisten Etienne<br />

Gäbet, <strong>de</strong>r auf Wahlen setzt, <strong>de</strong>s Sozialisten Louis Blanc, <strong>de</strong>r einen Wohlfahrtsstaat favorisiert o<strong>de</strong>r<br />

Auguste Blanquis I<strong>de</strong>e einer revolutionären Diktatur lehnt Proudhon sämtlich wegen ihrer autoritären<br />

Ten<strong>de</strong>nzen ab. Gegen En<strong>de</strong> seines Lebens verdichtet sich die Überzeugung, daß die Zukunft <strong>de</strong>r libertären<br />

Utopie in <strong>de</strong>r Entwicklung und Organisierung <strong>de</strong>r Arbeiterschart liege. Sein letztes Buch "Von <strong>de</strong>r<br />

politischen Fähigkeit <strong>de</strong>r Arbeiterklasse" ist die schlüssige Vision einer autonomen Arbeiterbewegung<br />

und ihrer Chancen, sofern sie sich von <strong>de</strong>r Vormundschaft politischer Parteien und reformistischer<br />

Gewerkschaftsbürokratie befreien könne. Für die revolutionären Syndikalisten, die 1906 in <strong>de</strong>r<br />

Massengewerkschaft CGT mit <strong>de</strong>r Charta von Amiens diese Unabhängigkeit durchsetzten, war, wie<br />

Daniel Guérin schreibt, dieses Buch "wie eine Bibel".<br />

Proudhon, <strong>de</strong>r nie ein guter Taktiker war, und in seinem Leben die unterschiedlichsten Strategien testete,<br />

erscheint in seinen Aktionen wie <strong>de</strong>r Versuchsballon einer Bewegung, die noch hilflos nach gangbaren<br />

Wegen zu ihrer Utopie suchte. Trotz seiner Wi<strong>de</strong>rsprüchlichkeit gelang es ihm, das Interesse riesiger<br />

sozialer Kreise auf die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Frage von Staat, Eigentum und Autorität zu lenken. Hierbei hatte er<br />

mehr Erfolg als an<strong>de</strong>re Zeitgenossen. Zwei seiner Landsleute, <strong>de</strong>r junge Arzt Ernest Caur<strong>de</strong>roi und <strong>de</strong>r<br />

ehemalige Seemann<br />

185<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Joseph Déjacque kamen unabhängig voneinan<strong>de</strong>r und etwa zur gleichen Zeit wie Proudhon zu ganz<br />

ähnlichen Ansichten, bezeichneten sich gar als Anarchisten, blieben aber zeitlebens isoliert und ohne<br />

Einfluß.<br />

Als Proudhon 1840 bei <strong>de</strong>r Aka<strong>de</strong>mie von Besancon seine Denkschrift einreichte, war nicht einmal das<br />

Wort Anarchismus bekannt. Als er 25 Jahre später starb, gab es eine Bewegung, die dieses Schimpfwort<br />

zu ihrem Namen machte.<br />

Literatur


Pierre-Joseph Proudhon: Ausgewählte Texte (Hrsg. v. Thilo Ramm) Stuttgart 1963, K. F. Koehler, 363<br />

S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Eigentum ist Diebstahl (Textsammlung) Berlin 1977, Libertad, 38 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Was ist das Eigentum? Berlin 1896, Zack, 233 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Bekenntnisse eines Revolutionärs Reinbek 1969, Rowohlt, 248 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Demokratie und Republik Karlsruhe o.J., ABF, 17 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Die Volksbank Wien 1985, Monte Verita, 53 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Von <strong>de</strong>r Anarchie zur Pornokratie Zürich 1970, Arche, 47 S.<br />

/ Max Nettlau: Der Anarchismus von Proudhon bis Kropotkin in: Geschichte <strong>de</strong>r Anarchie, Bd. II, (vgl.<br />

Kap. 20!) 328 S., ill.<br />

/ Arthur Mülberger: Studie über Proudhon Stuttgart 1891, G. F. Göschen, 171 S.<br />

/ Karl Hahn: Fö<strong>de</strong>ralismus - Eine Untersuchung zu P. J. Proudhons Freiheitsbegriff München 1975, E.<br />

Vögel, 356 S.<br />

Kapitel 23<br />

Das große Ich — Stirner und <strong>de</strong>r Individualanarchismus<br />

Wer ein ganzer Mensch ist,<br />

braucht keine Autorität zu sein.<br />

Max Stirner<br />

IM JAHRE 1844 ERSCHIEN IN LEIPZIG ein dickes, launiges und schwerverdauliches Buch, das von<br />

<strong>de</strong>r Zensur unverzüglich verboten und beschlagnahmt wur<strong>de</strong>. Eine Woche später aber wird das Werk<br />

wie<strong>de</strong>r freigegeben. Es sei, so die Zensoren, einfach zu absurd und <strong>de</strong>shalb ungefährlich. Sein "niedriger<br />

und beschränkter Standpunkt" wer<strong>de</strong> überall "auf Abscheu stoßen". Mit dieser Einschätzung lagen die<br />

Gedankenwächter allerdings daneben; sie hatten soeben einen Text lizenziert, <strong>de</strong>r zu einem <strong>de</strong>r<br />

meistgelesensten Klassiker mo<strong>de</strong>rner Philosophie wer<strong>de</strong>n sollte - allerdings auch zu einem <strong>de</strong>r<br />

kontroversesten*. Sein glückloser Autor, <strong>de</strong>r "Prophet <strong>de</strong>s Egoismus", hat daraus paradoxerweise<br />

zeitlebens keinen persönlichen Vorteil ziehen können. Immerhin kam er, was die Zensur angeht,<br />

ungeschoren davon.<br />

Johann Caspar Schmidt hieß dieser Mann, 1806 in Bayreuth geboren und Lehrer an <strong>de</strong>r privaten "Lehrund<br />

Erziehungsanstalt für höhere Töchter" zu Berlin. Der aus ärmlichen Verhältnissen stammen<strong>de</strong><br />

Freizeitautor hatte in Erlangen und Berlin - unter an<strong>de</strong>rem bei Hegel und Schleiermacher - Philosophie<br />

studiert. Obwohl er seine Lehrerprüfung bestand, wur<strong>de</strong> er nach <strong>de</strong>r Probezeit nicht in <strong>de</strong>n Staatsdienst<br />

übernommen. Die Anstellung bei <strong>de</strong>r angesehenen Privatschule <strong>de</strong>r Madame Gropius hielt ihn über<br />

Wasser, zwang ihn aber auch zu einem Doppelleben, <strong>de</strong>nn dort durfte nicht ruchbar wer<strong>de</strong>n, was <strong>de</strong>r Herr<br />

Schmidt in seiner Freizeit trieb.<br />

186<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Das unfreie Leben eines "Freien"<br />

In <strong>de</strong>n frühen vierziger Jahren verkehrten in einer Weinstube in <strong>de</strong>r Berliner Friedrichstraße einige <strong>de</strong>r<br />

umtriebigsten und radikalsten Intellektuellen jener Zeit. Zu ihnen zählten neben Bruno und Edgar Bauer<br />

auch Arnold Rüge, Friedrich Engels und Karl Marx. Der Name dieses Zirkels klang wie ein Programm, er<br />

nannte sich "Die Freien"; bekannt wur<strong>de</strong>n seine Mitglie<strong>de</strong>r später allerdings unter <strong>de</strong>m Begriff<br />

"Linkshegelianer", <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Disput um die Lehren <strong>de</strong>s großen Meisters Hegel war <strong>de</strong>r gemeinsame<br />

Ausgangspunkt ihrer durchaus unterschiedlichen politischen Karrieren. Johann Caspar Schmidt gehörte<br />

diesem Kollegium an, räsonierte, disputierte und schrieb gelegentlich Aufsätze und Korrespon<strong>de</strong>nzen. Sie


erschienen in <strong>de</strong>n Blättern <strong>de</strong>r Opposition und waren mit Rücksicht auf sein <strong>de</strong>likates Arbeitsverhältnis<br />

entwe<strong>de</strong>r ungezeichnet o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Pseudonym Max Stirner versehen.<br />

Sein Hauptwerk entstand in eben jenen kurzen Jahren beruflicher Sicherheit, intellektueller<br />

Herausfor<strong>de</strong>rung und privaten Glücks und trug <strong>de</strong>n Titel "Der Einzige und sein Eigentum". Es sollte <strong>de</strong>r<br />

Gipfel seines geistigen Schaffens bleiben und <strong>de</strong>n Höhepunkt seines Lebens markieren. Noch vor <strong>de</strong>r<br />

Drucklegung verliert er seinen Lehrerposten und ist gezwungen, sich mit Übersetzungen, Artikeln und<br />

Gelegenheitsschreiberei durchs Leben zu schlagen. Mit <strong>de</strong>m Versuch, einen Milchvertrieb aufzubauen,<br />

macht er bankrott. Seine junge Frau Marie Dähnhardt, die er bei <strong>de</strong>n "Freien" kennengelernt hatte, verläßt<br />

ihn; zweimal lan<strong>de</strong>t er im Schuldgefängnis. Als 1852 seine farblose und wenig originelle "Geschichte <strong>de</strong>r<br />

Reaktion" erscheint, wird <strong>de</strong>r ehemalige "Prediger <strong>de</strong>r Eigenheit" noch gelegentlich in bürgerlichen<br />

Salons als kurioser Radikaler vorgeführt. Einsam und vergessen stirbt er 1856 in Berlin.<br />

Philosoph <strong>de</strong>r individuellen Autonomie<br />

Max Stirner hat keine Anhänger um sich geschart, keine Bewegung hervorgebracht, kaum Einfluß auf das<br />

reale Leben seiner Zeit genommen. Und doch polarisiert sein Denken bis heute die Gemüter. Was war an<br />

diesem glücklosen Philosophen und gescheiterten Milchhändler so interessant?<br />

Stirner vertrat <strong>de</strong>n radikalsten Individualismus, <strong>de</strong>r sich nur <strong>de</strong>nken läßt. Er legte sich mit <strong>de</strong>r gesamten<br />

rationalistischen Tradition <strong>de</strong>r abendländischen Philosophie an. "Was soll nicht alles Meine Sache sein!<br />

Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache <strong>de</strong>r Menschheit, <strong>de</strong>r Wahrheit, <strong>de</strong>r Freiheit,<br />

<strong>de</strong>r Humanität, <strong>de</strong>r Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlan<strong>de</strong>s;<br />

endlich gar die Sache <strong>de</strong>s Geistes und tausend an<strong>de</strong>re Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache<br />

sein." Den Standpunkt <strong>de</strong>r eigenen, subjektiven Erfahrung vertritt er <strong>de</strong>rart konsequent, daß er als größter<br />

Egoist ebenso verschrien ist wie als Erfin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Nihilismus*, Wegbereiter <strong>de</strong>s Faschismus o<strong>de</strong>r als<br />

Ahnherr <strong>de</strong>s Existentialismus*. Nichts von <strong>de</strong>m trifft zu. Eigentlich hat Max Stirner nichts an<strong>de</strong>res getan,<br />

als <strong>de</strong>n Standpunkt <strong>de</strong>s Individuums einzunehmen und <strong>de</strong>ssen Rechte über die Interessen von Staat,<br />

Religion, Masse, I<strong>de</strong>ologie, Gesellschaft, Kollektivität und Moral<br />

187<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

zu stellen. Das freilich tat er so gründlich, daß er quer zu allen geistigen und politischen Strömungen<br />

seiner Zeit zu liegen kam und eine entsprechend schlechte Aufnahme fand.<br />

Stirner propagiert einen ichbezogenen, absolut autonomen Denkansatz. "Wer außer mir und <strong>de</strong>n<br />

Menschen, auf <strong>de</strong>ren Meinung ich Wert lege, hat das Recht, über mich zu bestimmen?" fragt er rhetorisch<br />

und antwortet sich selbst: "Was Du zu sein die Macht hast, dazu hast Du das Recht". Natürlich gerät<br />

Stirner bei solcher Denkweise sofort und unweigerlich mit <strong>de</strong>m Staat aneinan<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n er als fixe I<strong>de</strong>e und<br />

einen Feind <strong>de</strong>r "Eigenheit" betrachtet: "Der Staat hat immer nur <strong>de</strong>n Zweck, <strong>de</strong>n Einzelnen zu<br />

beschränken, zu bändigen, zu subordinieren, ihn irgen<strong>de</strong>inem Allgemeinen Untertan zu machen. (...) Je<strong>de</strong>r<br />

Staat ist eine Despotie, sei nun Einer o<strong>de</strong>r Viele <strong>de</strong>r Despot, o<strong>de</strong>r seien, wie man sich wohl von einer<br />

Republik vorstellt, Alle die Herren, <strong>de</strong>nn das heißt nur: Einer <strong>de</strong>spotiert <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren." Im Gegensatz zum<br />

Mainstream-Anarchismus aber sieht Stirner nun nicht etwa eine an<strong>de</strong>re Form sozialer Gemeinschaft als<br />

Ausweg an, son<strong>de</strong>rn eigentlich gar keine. Er liefert kein Mo<strong>de</strong>ll. Sein Thema ist die Rehabilitierung <strong>de</strong>s<br />

Individuums und <strong>de</strong>ssen Schutz vor <strong>de</strong>r Anmaßung <strong>de</strong>r Gruppe, vor <strong>de</strong>r Diktatur <strong>de</strong>s Kollektiven. So<br />

kritisiert Stirner an Proudhon, <strong>de</strong>n er gewiß zu Unrecht <strong>de</strong>n "autoritären Kommunisten" zurechnet, die<br />

Neigung, "das Individuum in <strong>de</strong>r Masse aufgehen zu lassen". Das kommunistische System, so Stirner,<br />

betreibe <strong>de</strong>n "Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>r Persönlichkeit im Namen <strong>de</strong>r Gesellschaft". Heraus komme dabei eine<br />

"mystische und anonyme Tyrannei", womit er tragisch recht behalten sollte.<br />

Stirner ist kein konstruktiver Philosoph, son<strong>de</strong>rn ein ungebremster Kritiker. Er hat keine Visionen einer<br />

besseren sozialen Gemeinschaft zu bieten, <strong>de</strong>nn er glaubt nicht an die Gruppe. Schon gar nicht hatte er<br />

<strong>de</strong>n Anspruch, mit einem praktischen politischen Programm aufzuwalten, das viele von ihm verlangten.


Zwar läßt er sich auf Spekulationen ein, daß ein von allen Menschen befolgter, konsequenter<br />

Individualismus auch zu sozialer Vernetzung selbstbewußter und starker Individuen führen könne - einer<br />

Art freiwilliger Zusammenschlüsse von Egoisten, die gemeinsame Interessen wahrnähmen, und die<br />

Stirner "Vereine" nennt. Aber gera<strong>de</strong> dieser Teil <strong>de</strong>s Stirnerschen Gedankengebäu<strong>de</strong>s ist sein schwächster.<br />

Für die Annahme, gesellschaftliche Konflikte wür<strong>de</strong>n dann weniger gewalttätig sein, bleibt er <strong>de</strong>n Beweis<br />

schuldig, und nirgendwo entkräftet er <strong>de</strong>n naheliegen<strong>de</strong>n Schluß, daß bei ungebremstem Egoismus<br />

niemand veranlaßt sei, irgendwelche Absprachen auch einzuhalten, sobald sie keinen persönlichen Vorteil<br />

mehr bringen. Zu erwarten wäre im Gegenteil das Faustrecht <strong>de</strong>s Stärkeren.<br />

Auf die Frage <strong>de</strong>r Wechselbeziehungen zwischen <strong>de</strong>n Rechten <strong>de</strong>s Individuums und <strong>de</strong>n Interessen<br />

sozialer Gruppen gibt Stirner keine praktikable Antwort. So blieb er in anarchistischen Kreisen lange ein<br />

belächelter Außenseiter, <strong>de</strong>m lediglich ein paar unverbesserliche Individualisten folgten. Er wur<strong>de</strong> als<br />

bizarrer Exzentriker angesehen, <strong>de</strong>n man nicht ernst nehmen könne. Das stimmt - aber nur, wenn man ihn<br />

auf kollektive Gesellschaftsmo<strong>de</strong>lle bezieht, die Stirner jedoch nie im Sinn hatte. Es versteht sich daher<br />

von selbst, daß er an <strong>de</strong>r 48er Revolution in Berlin nicht <strong>de</strong>n geringsten Anteil nahm. Seine Wirkung liegt<br />

in<br />

188<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

seiner Botschaft, und die lautet: nimm dich selbst ernst, laß dich nicht vor i<strong>de</strong>ologische Karren spannen,<br />

gehe nicht im Kollektiv unter und verliere nicht <strong>de</strong>in größtes Ziel aus <strong>de</strong>n Augen: das Leben bewußt zu<br />

genießen. So etwas taugt nicht zum politischen Programm und ergibt für sich alleine auch keine soziale<br />

Lebensphilosophie. Stirners Be<strong>de</strong>utung erschließt sich daher auch am ehesten aus seiner Zeit heraus; seine<br />

These wird dann als ein notwendiges Element zur Freiheit erkennbar - eines allerdings, das bis dahin<br />

völlig tabuisiert war. Insofern ist Stirners Beitrag auch ein geistesgeschichtliches Korrektiv.<br />

Sein Buch erschien in einer Zeit, in <strong>de</strong>r die Philosophen aller Richtungen von Kant bis Hegel, von<br />

Feuerbach bis Leibniz in irgen<strong>de</strong>iner Weise die Unterordnung <strong>de</strong>s Individuums unter höhere Mächte<br />

predigten — seien es nun <strong>de</strong>r Staat, das Gute, das Göttliche, das Vaterland o<strong>de</strong>r die Vernunft: immer und<br />

überall zählt <strong>de</strong>r Einzelne nichts, das Kollektiv alles. Entsprechend sahen die herrschen<strong>de</strong> Moral und das<br />

soziale Leben aus. Nirgendwo war das Individuum ein sich selbst genügen<strong>de</strong>s, für sich han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>s<br />

Subjekt, son<strong>de</strong>rn stets Objekt erhabenerer Kräfte, Ziele und Interessen.<br />

Gegen diese Ten<strong>de</strong>nz setzt Stirner mit allem Starrsinn, zu <strong>de</strong>r ein Denker überhaupt fähig sein kann, das<br />

Recht seiner Einzigartigkeit als Individuum. Dabei greift er mit gedanklicher Kühnheit Fragen auf, die<br />

erst hun<strong>de</strong>rt Jahre später Thema wer<strong>de</strong>n sollten: das Individuum in gesellschaftlicher Entfremdung und<br />

industrieller Verskla<strong>vu</strong>ng, die Massenpsychologie <strong>de</strong>r Gleichmacherei, die Verinnerlichung kollektiver<br />

Werte durch I<strong>de</strong>ologien und Meinungsmache, das Hinterfragen hergebrachter moralischer und sexueller<br />

Werte, das Lügenmärchen <strong>de</strong>s Altruismus* als Antrieb sozialen Han<strong>de</strong>lns und die Selbstverleugnung <strong>de</strong>s<br />

Einzelmenschen in <strong>de</strong>r Massengesellschaft — fast die ganze Bandbreite <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen sozialen Theorien<br />

und psychologischen Schulen wird bei Stirner bereits aufgegriffen. Seine Therapie ist die Selbstbefreiung<br />

<strong>de</strong>s Einzelnen — ein damals mehr als ungewöhnlicher Gedanke. Kein Wun<strong>de</strong>r, daß man ihn zu Lebzeiten<br />

kaum verstand, wortreich zu wi<strong>de</strong>rlegen versuchte, und erst in unserem Jahrhun<strong>de</strong>rt in seiner ganzen Tiefe<br />

zu würdigen wußte. Camus und Sartre haben sich ihm ebenso gestellt wie Emma Goldman, Gustav<br />

Landauer, Ricarda Huch o<strong>de</strong>r Max Nettlau. Letzterer stellte ihm folgen<strong>de</strong>s Zeugnis aus: "Für mich gehört<br />

er keineswegs <strong>de</strong>m engen Individualismus an, <strong>de</strong>r nur Individualist sein will und dadurch vom Bourgeois<br />

o<strong>de</strong>r Tyrannen nicht zu schei<strong>de</strong>n ist, son<strong>de</strong>rn er begrün<strong>de</strong>te jenen breiten, echten Individualismus, <strong>de</strong>r die<br />

Grundlage je<strong>de</strong>s freiheitlichen Sozialismus ist: die Selbstbestimmung eines je<strong>de</strong>n über die Beziehungen,<br />

in die er mit an<strong>de</strong>ren zu treten wünscht."<br />

Von <strong>de</strong>r Philosophie zum "Individualanarchismus"<br />

Nun hat Stirner keineswegs <strong>de</strong>n Individualismus erfun<strong>de</strong>n. Vor ihm gab es ausgeprägte Individualisten,<br />

ebenso wie nach ihm. Sein historisches Verdienst liegt vor allem darin, daß er genau zum richtigen


Zeitpunkt seinen einseitigen Standpunkt in die Debatte warf - in <strong>de</strong>m Moment nämlich, als sich <strong>de</strong>r<br />

mo<strong>de</strong>rne Anarchismus herausbil<strong>de</strong>te. Stirner, <strong>de</strong>r sich selbst nicht als Anarchist bezeichnete, ist mit<br />

seinem Lobgesang auf die Einzigartigkeit <strong>de</strong>s Individuums sozusagen das zeitgleiche Gegengewicht zu<br />

Proudhon, <strong>de</strong>r das Hohelied auf<br />

189<br />

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die Gemeinschaft anstimmte. Schon bei Bakunin, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahrzehnten die anarchistische<br />

Position entschei<strong>de</strong>nd prägen sollte, sind bei<strong>de</strong> Einflüsse <strong>de</strong>utlich zu erkennen: Er, <strong>de</strong>r als Vater <strong>de</strong>s<br />

"kollektivistischen Anarchismus" gilt, war nicht weniger entschie<strong>de</strong>n auch Individualist. Er versucht,<br />

bei<strong>de</strong> Interessen unter einen Hut zu bringen und <strong>de</strong>finiert, daß ein Eigeninteresse am persönlichen Glück<br />

nur dann vollkommen sein kann, wenn auch das gesellschaftliche Umfeld für die Mitmenschen Freiheit<br />

und Gerechtigkeit beinhalte. Er bemüht also eine eher ›egoistische‹ als eine ›altruistische‹ Triebkraft.<br />

Dabei besteht er energisch darauf, daß ein Individuum Pflichten gegenüber <strong>de</strong>r Gesellschaft nur in <strong>de</strong>m<br />

Maße übernehmen kann, als es diese Bindung freiwillig und bewußt eingeht; je<strong>de</strong>rzeit müsse es sich von<br />

<strong>de</strong>r Gesellschaft auch wie<strong>de</strong>r lossagen können. Im Anarchismus unserer Tage spielt zunehmend die<br />

Überlegung eine Rolle, daß die Motivation zur Gesellschaftsverän<strong>de</strong>rung nicht aus abstrakten I<strong>de</strong>ologien<br />

kommen sollte, son<strong>de</strong>rn aus wohlverstan<strong>de</strong>nem Eigeninteresse <strong>de</strong>r Betroffenen. Der hierbei gebrauchte<br />

Begriff <strong>de</strong>s ›sozialen Egoismus‹ verrät eine Stirnersche Handschrift und hat nichts mit <strong>de</strong>m gewöhnlichen<br />

›parasitären Egoismus‹ gemein.<br />

Zwar gibt es, seit<strong>de</strong>m 1844 das folgenreiche Buch vom "Einzigen" erschien, auch einen eigenständigen<br />

Strang innerhalb <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung, <strong>de</strong>r sich auf Stirner beruft und sich das Etikett<br />

"Individualanarchismus" gegeben hat. Diese wahrhaftigen "Stirnerianer" bewegen sich je nach politischer<br />

Großwetterlage und persönlichen Präferenzen zwischen stolzer Lebensattitü<strong>de</strong>, kurioser Sekte und<br />

erfrischend anregen<strong>de</strong>r Geistesbewegung. Beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>n USA waren es Männer wie Lysan<strong>de</strong>r<br />

Spooner, Benjamin R. Tucker und Josiah Warren, die Stirnersches Gedankengut aufgriffen und auch<br />

sozial Stellung bezogen. In Frankreich wur<strong>de</strong>n die Literaten Zo d'Axa, Han Ryner und E. Armand zu<br />

vielbeachteten Propagandisten <strong>de</strong>s libertären Individualismus im Wi<strong>de</strong>rstand gegen die<br />

Industriegesellschaft. Seit <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> machte sich <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-schottische Schriftsteller John-<br />

Henry Mackay um die Herausgabe <strong>de</strong>r Schriften Stirners verdient und produzierte selbst große Mengen<br />

individualanarchistischer Erbauungsliteratur.<br />

Interessanter aber als alle "Stirnerianer" (ein Ausdruck übrigens, <strong>de</strong>r Johann Caspar Schmidt eigentlich<br />

große Schmerzen hätte verursachen müssen!) scheint mir die Wirkung zu sein, die Stirners I<strong>de</strong>en im<br />

Anarchismus zeitigten. Interessanterweise ergab eine Umfrage, die Augustin Hamon schon gegen En<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rts in Anarchistenkreisen durchführte, daß sich kein Anarchist fin<strong>de</strong>n ließ, <strong>de</strong>r sich<br />

nicht auch als Individualist verstan<strong>de</strong>n hätte. Daniel Guérin macht <strong>de</strong>nn auch als die für <strong>de</strong>n Anarchismus<br />

typischen Quellen <strong>de</strong>r revolutionären Energie die bei<strong>de</strong>n scheinbaren Gegensätze aus: Das Individuum<br />

und die Massen.<br />

Stirners "Individualismus" ist kein Sozialsystem, son<strong>de</strong>rn ein Standpunkt. Sein "Egoismus" ist eine<br />

Geisteshaltung und keine Anleitung zum Schmarotzertum. Stirners Philosophie als Faustrecht auszulegen,<br />

wür<strong>de</strong> nicht nur seinem Impuls freiheitlicher Rebellion wi<strong>de</strong>rsprechen, es wäre schlicht nicht lebbar. Ein<br />

entsprechen<strong>de</strong>s Sozialsystem bliebe unerträglich<br />

190<br />

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und entspräche auch kaum menschlichen Bedürfnissen. Deshalb sollte man <strong>de</strong>n Individualanarchismus<br />

nicht als das nehmen, was er nie sein wollte: eine Anleitung zum sozialen Leben. Zwar gibt es bisweilen<br />

auch überspannte Stirnerianer, die sich mit einer gewissen ultraindividualistischen Borniertheit gerne


konsequent egoistisch geben wollen, aber solche Versuche erschöpfen sich meist in <strong>de</strong>r provokanten<br />

Geste und führen durchweg zu rascher sozialer Isolation.<br />

In Wirklichkeit sind auch Individualanarchisten meist nichts weiter als nette und durchaus sozial<br />

verantwortungsvolle Leute mit hohen Ansprüchen an ihre eigene Ethik. Selbst Max Stirner, <strong>de</strong>r<br />

vielgeschmähte Prophet <strong>de</strong>s eiskalten Egoismus und angebliche Menschenfeind, schien im realen Leben<br />

nicht frei von romantischen Regungen gewesen zu sein. Die possierliche Widmung, die er seinem<br />

"Einzigen" voranstellte, lautete: "Meinem Liebchen Marie Dähnhardt"...<br />

Literatur<br />

/ Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum Stuttgart 1972, Reclam, 461 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Das unwahre Prinzip unserer Erziehung Mag<strong>de</strong>burg 1925, Der Einzige, 19 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Über Schulgesetze Berlin o.J., Guhl, 27 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Gegenwort Westbevern 1977, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 44 S.<br />

/ John Henry Mackay: Max Stirner - sein Leben und sein Werk Freiburg i.Br. 1977, Mackay-Gesellschaft,<br />

128 S., ill.<br />

/ Hans Sveistrup: Stirners drei Egoismen Freiburg i.Br. 1983, Mackay-Gesellschaft, 112 S.<br />

/ Herbert Stourzh: Max Stirners Philosophie <strong>de</strong>s Ich Freiburg i.Br. 1978, Mackay-Gesellschaft, 99 S.<br />

/ Gerhard Senft: Der Schatten <strong>de</strong>s Einzigen - die Geschichte <strong>de</strong>s Stirnerschen Individualanarchismus<br />

Wien 1988, Monte Verita, 131 S.<br />

/ Individualistischer Anarchismus - eine Autorenauswahl Berlin 1977, Libertad, 59 S.<br />

/ James J. Martin: Manner gegen <strong>de</strong>n Staat -Die Vertreter <strong>de</strong>s individualistischen Anarchismus in<br />

Amerika 1827-1908(1 B<strong>de</strong>.) Freiburg i.Br. 1980, Mackay- Gesellschaft<br />

/ John Henry Mackay: Die Anarchisten Leipzig 1992, Forum, 304 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Der Freiheitssucher Freiburg i. Br. 1976, Mackay-Gesellschaft, 261 S.<br />

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Kapitel 24 Empörung und Revolte –<br />

Bakunin und <strong>de</strong>r kollektivistische Anarchismus<br />

Seit Bakunin hat es in Europa keinen<br />

radikalen Begriff von Freiheit mehr gegeben.<br />

Walter Benjamin<br />

ACHTZEHNHUNDERTACHTUNDVIERZIG BEKAM EUROPA einen ausgewachsenen politischen<br />

Husten. Am 23. Februar niest Paris, am 24. ist Frankreich eine Republik. Der Virus scheint ansteckend zu<br />

sein. Im Laufe <strong>de</strong>s Jahres springen Aufstän<strong>de</strong> und Proteste, Revolutionen und Revolutiönchen kreuz und<br />

quer durch <strong>de</strong>n alten Kontinent; In Wien flieht <strong>de</strong>r Kaiser, in Berlin <strong>de</strong>r König, Metternich, <strong>de</strong>r Architekt<br />

<strong>de</strong>r monarchistischen Restauration, muß abdanken. Meetings und Barrika<strong>de</strong>n, Pulverdampf und<br />

Parlamente sind <strong>de</strong>r Anfang vom En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r alten Fürstenordnung. Allenthalben weht ein frischer Wind in<br />

<strong>de</strong>n konservativen Mief, <strong>de</strong>r seit Napoleons En<strong>de</strong> wie unter einer Käseglocke auf Europa lastete. Kaum<br />

ein Landstrich Mitteleuropas, <strong>de</strong>r nicht vom diesem umstürzlerischen Fieber<br />

191<br />

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gepackt wird. Slawen mucken gegen Österreich und Rußland auf, Franzosen wollen Freiheit, Deutsche<br />

ein Parlament und Italiener eine <strong>de</strong>mokratische Vereinigung.<br />

Es war, als wenn ein bro<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Kessel Dampf ablassen mußte. Zwar gelang es <strong>de</strong>n alten Kräften, in


monatelangem Ringen <strong>de</strong>n Deckel wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Topf zu kriegen. Aber es kostete sie viel Mühe, und<br />

immer wie<strong>de</strong>r hob sich <strong>de</strong>r Deckel von neuem: in <strong>de</strong>r Pfalz, im Badischen und in Sachsen, in Polen,<br />

Rußland und Italien, in Spanien und immer wie<strong>de</strong>r in Paris, wo die Barrika<strong>de</strong> fast zu einer städtebaulichen<br />

Tradition wur<strong>de</strong>. Die Opposition bezahlte mit vielen Toten, Verfolgung und Exil, aber die Gesellschaft<br />

war nicht mehr die alte. Das ancien régime* war erschüttert, die Anhänger neuer I<strong>de</strong>en hatten - trotz ihrer<br />

Nie<strong>de</strong>rlagen - die eigenen Kräfte gespürt. Eine neue Ära war angebrochen, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Ruf nach Freiheit<br />

nicht mehr verstummte, und an <strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> das Verschwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r monarchistischen Nationalstaaten<br />

stehen sollte.<br />

Unter <strong>de</strong>m "Ruf nach Freiheit" verstan<strong>de</strong>n die verschie<strong>de</strong>nsten Menschen freilich die verschie<strong>de</strong>nsten<br />

Dinge. Vor<strong>de</strong>rgründig waren die "Achtundvierziger" bürgerliche Revolutionen. Die sozialen Verhältnisse<br />

<strong>de</strong>s Industriezeitalters hatten eine besitzen<strong>de</strong> Klasse hervorgebracht, die zwar zunehmend wirtschaftliche<br />

Macht besaß, aber politisch nichts zu mel<strong>de</strong>n hatte. Sie strebte nach nationaler Einigung und einem<br />

parlamentarischen System, in <strong>de</strong>m sie ihre Interessen durchsetzen konnte - möglichst noch mit einem<br />

netten Monarchen als Galionsfigur. Der Bourgeois hatte kein Interesse an radikaler Än<strong>de</strong>rung und<br />

globaler Befreiung <strong>de</strong>r Menschheit, son<strong>de</strong>rn an einer angemessenen Beteiligung seiner Klasse an <strong>de</strong>r<br />

politischen Macht im Staate. Im besten Fall war er liberal gesinnt, in <strong>de</strong>r Regel aber ging ihm eine<br />

Gesinnung völlig ab. Mit Freiheit hatte das nur begrenzt zu tun, mit sozialer Gerechtigkeit schon gar<br />

nichts.<br />

Und <strong>de</strong>nnoch wur<strong>de</strong>n durch diese Erhebungen Kräfte entfesselt, die diesen engen Rahmen bürgerlicher<br />

Freisinnigkeit längst verlassen hatten. Denn auf <strong>de</strong>n Barrika<strong>de</strong>n stan<strong>de</strong>n meist nicht die satten Bürger - die<br />

warteten lieber ab und versuchten, im Parlament die Ernte <strong>de</strong>r Kämpfe einzubringen. Diejenigen, die auf<br />

die Straße gingen, waren ärmer an Geld, aber reicher an Phantasie. Und natürlich waren sie radikaler. Es<br />

waren freiheitstrunkene Stu<strong>de</strong>nten und zornige Fabrikarbeiter, philosophieren<strong>de</strong> Weltverbesserer und<br />

abenteuerlustige Revoluzzer, hungrige Frauen und Kin<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n Vorstädten, verarmte Handwerker,<br />

honorige Professoren und radikalisierte Wan<strong>de</strong>rgesellen. Und auch einige Aristokraten, die ihrer Klasse<br />

radikal <strong>de</strong>n Rücken gekehrt und sich mit Haut und Haaren <strong>de</strong>r freiheitlichen Revolte verschrieben hatten.<br />

Einer von ihnen hieß Michail Bakunin.<br />

Faszination einer maßlosen Legen<strong>de</strong><br />

Bakunin – für viele die Inkarnation <strong>de</strong>s Anarchisten schlechthin, ein leben<strong>de</strong>s Klischee. Ein Mensch <strong>de</strong>r<br />

Auflehnung, spontan und impulsiv, kühn in seiner Vision von Freiheit und ganz und gar <strong>de</strong>r Aktion<br />

verschrieben. Zeitgenossen beschreiben ihn als in je<strong>de</strong>r Hinsicht "maßlos": in seinen I<strong>de</strong>en und seinem<br />

Appetit, seiner Energie, seinem persönlichen Einsatz,<br />

192<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

seinem Konsum von Tabak, Tee und Briefpapier, vor allem aber in seinem Haß auf die Tyrannei, zugleich<br />

aber von einer gera<strong>de</strong>zu kindlichen Güte. Sein Leben lang in Geldnot, nahm er be<strong>de</strong>nkenlos die<br />

Unterstützung seiner zahlreichen Freun<strong>de</strong> in Anspruch, um genauso unbekümmert die letzte Kopeke<br />

herzugeben, wenn sie gebraucht wur<strong>de</strong>. So langte es oft nur zum Darben bei Tee und Tabak, obwohl <strong>de</strong>r<br />

Genußmensch Bakunin auch Austern und Sekt nicht abhold war. Revolution hatte für ihn nicht <strong>de</strong>n<br />

Beigeschmack <strong>de</strong>r Askese.<br />

So wuchtig wie sein Impetus* war auch sein Äußeres. Diese von ruheloser Hektik durchs Leben<br />

getriebene Figur mit <strong>de</strong>n Abmessungen eines aufrecht gehen<strong>de</strong>n Bären könnte die Erfindung eines<br />

Drehbuchautors gewesen sein, und in <strong>de</strong>r Tat inspirierte dieser ungezähmte Geist die Künstler nicht nur<br />

seiner Epoche. Turgenjew verewigte ihn in <strong>de</strong>r Romanfigur <strong>de</strong>s Rudin, sogleich von Tschernischwski<br />

dafür gescholten, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Ansicht war, daß er <strong>de</strong>m Ansehen eines Mannes, "<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Erzählungen <strong>de</strong>s<br />

Volkes genannt wird", nicht gerecht wer<strong>de</strong>: "Ein Löwe eignet sich nicht für eine Karikatur!" Der Mann<br />

mit <strong>de</strong>r Mähne übte auf Literaten wie Belinskij, George Sand, Arnold Rüge, Herwegh, Gogol,


Dostojewski, Sacher-Masoch, Joseph Conrad, Ricarda Huch, 'Walter Benjamin, <strong>Horst</strong> Bienek o<strong>de</strong>r Hans<br />

Magnus Enzensberger die unterschiedlichsten Arten <strong>de</strong>r Faszination aus: von sanftem Gruseln bis zu<br />

unverhohlener Bewun<strong>de</strong>rung. Für Richard Wagner, <strong>de</strong>r mit ihm 1849 in Dres<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>n Barrika<strong>de</strong>n<br />

stand, war dieser "Alleszerstörer", im Grun<strong>de</strong> ein "liebenswürdiger und zartfühlen<strong>de</strong>r Mensch". Sein<br />

Biograph Fritz Brupbacher nannte ihn in einer treffen<strong>de</strong>n Persiflage* auf die Sprache seiner Gegner einen<br />

"Satan <strong>de</strong>r Revolte". In seinem Nachruf schrieb Arnold Ruge 1876: "Seine Schicksale, sein Charakter,<br />

sein Geist und seine Liebenswürdigkeit mögen ihn in seinem Vaterlan<strong>de</strong> noch zu einer mythischen Figur<br />

machen." Er sollte Recht behalten: 1921 setzten ihm avantgardistische Künstler in Moskau ein veritables<br />

Denkmal. Die Bolschewiki ließen es drei Jahre später wie<strong>de</strong>r abreißen. Bakunin war eine Legen<strong>de</strong><br />

gewor<strong>de</strong>n - eine gefährliche Legen<strong>de</strong>.<br />

Freun<strong>de</strong> wie Gegner schil<strong>de</strong>rn ihn als mitreißen<strong>de</strong>n Redner, <strong>de</strong>r seine Zuhörer in <strong>de</strong>n Bann schlug. An<br />

ihm schie<strong>de</strong>n sich die Geister. Der russische Baron Wrangel, <strong>de</strong>r im übrigen nichts von all <strong>de</strong>m hielt, was<br />

er zu hören bekam, beschreibt seine Erinnerungen an eine Re<strong>de</strong>, die Bakunin 1867 in Basel auf <strong>de</strong>m<br />

Kongreß <strong>de</strong>r "Liga für Frie<strong>de</strong>n und Freiheit" hielt: "Der Mann war ein geborener Redner, wie gemacht für<br />

die Revolution. Seine Re<strong>de</strong> machte einen kolossalen Eindruck. Hätte er seine Zuhörer aufgefor<strong>de</strong>rt, sich<br />

gegenseitig die Kehle durchzuschnei<strong>de</strong>n, sie wären ihm freudig gefolgt." In all seinem Ungestüm war er<br />

zugleich eine i<strong>de</strong>ale Zielscheibe für seine zahlreichen politischen Wi<strong>de</strong>rsacher.<br />

Bakunin re<strong>de</strong>te oft und schrieb wenig. Er blieb in erster Linie Praktiker, Theorie war für ihn Mittel zum<br />

Zweck - sie sollte sich aus <strong>de</strong>r Aktion entwickeln und <strong>de</strong>r Aktion dienen. Zu Lebzeiten brachte er nur ein<br />

einziges Buch zu En<strong>de</strong>, ansonsten kursierten von ihm massenweise Briefe, gedruckte Re<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r<br />

agitatorische Pamphlete <strong>de</strong>s Augenblicks. Erst nach Bakunins Tod erschloß sich vollständig das<br />

faszinieren<strong>de</strong> Mosaik einer umfassen<strong>de</strong>n anarchistischen Theorie, von <strong>de</strong>r noch heute vieles Gültigkeit<br />

hat.<br />

Sein ganzes ruheloses Leben ist eine einzige Aneinan<strong>de</strong>rreihung von Reisen, Aufstän<strong>de</strong>n,<br />

193<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Flucht, Agitation, Verschwörung und Gefängnis. Kaum eine Revolte, an <strong>de</strong>r er nicht beteiligt ist, kaum<br />

ein Staat, <strong>de</strong>r ihn nicht in seinen Fahndungslisten führt. Zweimal wird er zum To<strong>de</strong> verurteilt, Jahre<br />

verbringt er angekettet in feuchten Verliesen und sibirischer Verbannung, nur, um bei <strong>de</strong>r erstbesten<br />

Gelegenheit über Japan und die USA zu fliehen und sich in Europa sogleich wie<strong>de</strong>r kopfüber in die<br />

Stru<strong>de</strong>l revolutionärer Abenteuer zu stürzen.<br />

Polarisierung zur rechten Zeit<br />

Das ist die Wolle, aus <strong>de</strong>r man Mythen strickt. Das ist vermutlich auch <strong>de</strong>r Grund, warum Bakunin bis<br />

heute <strong>de</strong>r bekannteste aller Anarchisten blieb, <strong>de</strong>nn spannen<strong>de</strong> Geschichten sind ungemein langlebig. Sie<br />

sind aber, auch wenn sie wahr sind, nicht immer wahrhaftig, <strong>de</strong>nn sie verklären. Was aber war er jenseits<br />

<strong>de</strong>s Mythos wirklich? Welche Rolle spielt er bei <strong>de</strong>r Herausbildung <strong>de</strong>s Anarchismus?<br />

Bakunin war we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ale Revolutionär noch <strong>de</strong>r Vater einer i<strong>de</strong>alen Theorie. Dazu war er viel zu<br />

sehr Suchen<strong>de</strong>r und Experimentierer. Er kultivierte Spontaneität in einer gera<strong>de</strong>zu messianischen* Form<br />

und war davon überzeugt, daß eine verrottete Gesellschaft nur verrottete I<strong>de</strong>en hervorbringen könne.<br />

Regeln, Strukturen und Theorien wür<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Aktion entstehen und sich überdies ständig wan<strong>de</strong>ln.<br />

Dieser <strong>de</strong>r Rastlosigkeit entsprungene Glaube verhin<strong>de</strong>rte, daß er <strong>de</strong>r konstruktive Anarchist wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r er<br />

wohl gerne gewesen wäre - noch auf <strong>de</strong>m Sterbebett bedauerte er, niemals die nötige Zeit gefun<strong>de</strong>n zu<br />

haben, eine anarchistische Ethik zu schreiben. Seine Verdienste um <strong>de</strong>n Anarchismus liegen auf ganz<br />

an<strong>de</strong>rem Gebiet.<br />

Er war ein Mann, <strong>de</strong>r polarisierend* wirkte in einer Zeit, als die Herausbildung einer eigenständigen


anarchistischen I<strong>de</strong>e aus <strong>de</strong>m Gedankeneintopf von Aufklärung, Liberalismus, Französischer Revolution,<br />

bürgerlicher Reform, Sozialismus und Kommunismus dringend einer Polarisierung bedurfte. Bakunins<br />

Begriff von Freiheit war radikaler als bürgerliche Liberalität und großherziger als <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r kleinkarierten<br />

Sozialisten. Seine Vorstellung von Aktion verabschie<strong>de</strong>te sich endgültig von parlamentarischen Illusionen<br />

und <strong>de</strong>r Hoffnung auf die befreien<strong>de</strong> Allmacht einer sozialen Bürokratie. In seinem exemplarischen<br />

Konflikt mit Karl Marx sah er mit fast prophetischer Pedanterie die Abscheulichkeiten einer<br />

kommunistischen Parteidiktatur voraus, die ein Menschenleben später schreckliche Wirklichkeit wer<strong>de</strong>n<br />

sollte. Er führte zur Abspaltung <strong>de</strong>s antiautoritären Flügels <strong>de</strong>r Arbeiterschaft und zur Bildung einer<br />

eigenständigen anarchistischen Bewegung. War <strong>de</strong>r Anarchismus vorher noch immer mehr eine<br />

Angelegenheit schöner I<strong>de</strong>en und radikaler Philosophie, so fin<strong>de</strong>t er in <strong>de</strong>r Ära Bakunin endgültig <strong>de</strong>n<br />

Weg in die Praxis. Das war nicht nur sein Verdienst, und er war beileibe nicht <strong>de</strong>r einzige anarchistische<br />

Revolutionär seiner Zeit. Im Gegenteil: Bakunin fand erst relativ spät zu klaren anarchistischen<br />

Positionen, und dabei halfen ihm Leute, die schon längst praktische anarchistische Ansätze vorantrieben.<br />

Ihnen allen aber gab die leben<strong>de</strong> Legen<strong>de</strong> Bakunin mit seinem Charisma und seinem Elan erst <strong>de</strong>n nötigen<br />

Schwung. Mit seinen internationalen Beziehungen sorgte er überdies im richtigen Augenblick für die<br />

richtigen Kontakte.<br />

194<br />

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Die Anarchisten vor Bakunin waren grosso modo* allesamt Schreibtischrevolutionäre. Mit Bakunin geht<br />

<strong>de</strong>r Anarchismus auf die Straße. Er klettert auf Barrika<strong>de</strong>n und hält Einzug in Fabriken. Als Bakunin 1876<br />

stirbt, hinterläßt er eine organisierte anarchistische Arbeiterbewegung mit regen Sektionen in mehreren<br />

Län<strong>de</strong>rn, die die Verbesserung ihrer sozialen Lage mit einer allumfassen<strong>de</strong>n freiheitlichen Vision<br />

verknüpft. Bakunins Be<strong>de</strong>utung liegt also in seiner Wirkung, und die erschließt sich nur aus seinem<br />

Han<strong>de</strong>ln. An<strong>de</strong>rs als bei an<strong>de</strong>ren Anarchisten, liegt <strong>de</strong>r Schlüssel zum Verständnis <strong>de</strong>s ›Phänomens<br />

Bakunin‹ in seinem Leben. Das ist <strong>de</strong>r Grund, weshalb wir nicht umhin können, seinen Spuren durch die<br />

Zeit zu folgen.<br />

Ein Leben in Aktion<br />

Daß uns <strong>de</strong>r junge Bakunin in <strong>de</strong>n bewegten achtundvierziger Jahren erstmals über <strong>de</strong>n Weg läuft, ist kein<br />

Zufall. Diese Erhebungen ziehen ihn an wie ein<br />

Magnet. Als er in Brüssel von <strong>de</strong>n Ereignissen in Paris hört, marschiert er zu Fuß in die französische<br />

Hauptstadt. Mit ganzem Einsatz nimmt er an fast allen Aufstän<strong>de</strong>n jener Jahre teil und erfährt in diesen<br />

unruhigen Zeiten seine charakteristische Prägung, die ihn bald zum meistgesuchten Revolutionär <strong>de</strong>r<br />

Epoche macht. Dabei hatte alles so harmlos begonnen, als er 1840 nach Berlin gekommen war, um<br />

<strong>de</strong>utsche Philosophie zu studieren.<br />

Michail Alexandrowitsch Bakunin wuchs privilegiert und behütet auf <strong>de</strong>m Landgut seiner Eltern im<br />

Gouvernement Twer auf, wo er 1814 im idyllischen<br />

Prjamuchino geboren wur<strong>de</strong>. Seine Familie gehörte zum alten russischen Provinza<strong>de</strong>l, zeigte aber<br />

<strong>de</strong>utliche aufklärerische und liberale Ten<strong>de</strong>nzen. So verkehrte Bakunins Vater in einer oppositionellen<br />

Geheimgesellschaft und schaffte auf seinem Gut die Leibeigenschaft ab. Der kleine Michail entwickelt<br />

schon früh ein ausgeprägtes Interesse für Musik und Mathematik, gepaart mit phantasievoller<br />

Abenteuerlust und einem unbändigen Reisetrieb. Vor allem aber tut er sich mit metaphysischer<br />

Schwärmerei und einem frühreifen Interesse an philosophischen Fragen hervor.<br />

Im Alter von vierzehn Jahren kommt er - gleichsam automatisch - als Ka<strong>de</strong>tt zum Offizierskorps. Der<br />

sensible Knabe lei<strong>de</strong>t unsäglich unter Drill und Ungerechtigkeit und lehnt sich innerlich gegen das Militär<br />

auf. Mit achtzehn wird er zum Artillerieoffizier ernannt, kurz darauf aber wegen Unbotmäßigkeit in eine<br />

kleine litauische Garnison strafversetzt. Hier widmet er sich statt <strong>de</strong>m Exerzieren lieber <strong>de</strong>m Studium<br />

französischer, <strong>de</strong>utscher und polnischer Literatur und quittiert schließlich 1835 angewi<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>n Dienst.<br />

Zurück daheim muß er feststellen, daß die wirtschaftliche Situation <strong>de</strong>r Familie nicht zum besten steht. So<br />

beschließt er, in Moskau Nachhilfelehrer und Studiosus zu wer<strong>de</strong>n.


Dort bleibt er fünf Jahre, widmet sich <strong>de</strong>r Philosophie und stürzt sich in das gären<strong>de</strong> Bro<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r<br />

intellektuellen Kreise, Salons und Zirkel. Er lernt Dichterpersönlichkeiten kennen, liest <strong>de</strong>utsche Literatur<br />

und Philosophie, übersetzt ein bißchen Goethe, Fichte und Hegel, trägt sich mit <strong>de</strong>m Gedanken, "aus<br />

Lei<strong>de</strong>nschaft zur Erkenntnis" Professor zu<br />

195<br />

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wer<strong>de</strong>n. Es ist Alexan<strong>de</strong>r Herzen, <strong>de</strong>r über die Schriften Saint-Simons sein Interesse für <strong>de</strong>n Sozialismus<br />

weckt und ihm klar macht, daß er die vieldiskutierten <strong>de</strong>utschen Philosophen nirgends besser als in<br />

Deutschland studieren könne. Glücklicherweise ist Bakunins neuer Freund begütert genug, ihm auch die<br />

Reise zu finanzieren. So verläßt Michail Alexandrowitsch 1840 seine Heimat, um endgültig mit seiner<br />

Vergangenheit, seiner Familie und seiner adligen Herkunft zu brechen.<br />

Zunächst genießt er das Leben in Preußens Hauptstadt, die damals im Ruf eines be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Horts<br />

mo<strong>de</strong>rnen Geisteslebens stand. Er verkehrt in Cafes, Theatern, politischen Salons und <strong>de</strong>n Kreisen <strong>de</strong>r<br />

Linkshegelianer, lernt fließend Deutsch und hört die Vorlesungen von Wer<strong>de</strong>r und Schelling, die jedoch<br />

als reaktionär gelten. Mehr angetan ist Bakunin von <strong>de</strong>n Schriften Feuerbachs, die ihn endgültig zum<br />

Atheisten machen. Intensiv beschäftigt er sich auch mit <strong>de</strong>n sozialen Utopien <strong>de</strong>r französischen Denker.<br />

Der Salons und <strong>de</strong>s Studierens überdrüssig, übersie<strong>de</strong>lt er 1842 nach Dres<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Hauptstadt <strong>de</strong>s<br />

Königreichs Sachsen. Seine Professorenpläne hat er aufgegeben. Er lernt Arnold Ruge kennen, <strong>de</strong>n<br />

Herausgeber <strong>de</strong>r Deutschen Jahrbücher, <strong>de</strong>r bald zu einem engen Freund wird. Bei ihm veröffentlicht er<br />

unter Pseudonym seine erste größere Arbeit, "Über die Reaktion in Deutschland". In diesem, noch stark<br />

von Hegels I<strong>de</strong>alismus geprägten Aufsatz, liefert Bakunin gleichwohl schon einen kompletten Vorgriff<br />

auf seine gesamte spätere Philosophie. Sein Leitmotiv ist "die Realisierung <strong>de</strong>r Freiheit", die "auf <strong>de</strong>r<br />

Tagesordnung <strong>de</strong>r Geschichte" stehe, und zwar als Revolution, die alles umwälzen und erneuern müsse.<br />

Dabei dürfe man nicht auf das Alte, das Unfreie, das Faule aufbauen, son<strong>de</strong>rn müsse damit tabula rasa*<br />

machen. Das Traktat schließt mit jenen Sätzen <strong>de</strong>s jungen Radikalen, die wohl am meisten von allen<br />

zitiert wor<strong>de</strong>n sind: "Laßt uns also <strong>de</strong>m ewigen Geiste vertrauen, <strong>de</strong>r nur <strong>de</strong>shalb zerstört und vernichtet,<br />

weil er <strong>de</strong>r unergründliche und ewig schaffen<strong>de</strong> Quell alles Lebens ist. - Die Lust <strong>de</strong>r Zerstörung ist<br />

zugleich eine schaffen<strong>de</strong> Lust."<br />

Bakunin hatte sich endgültig <strong>de</strong>r Revolution verschrieben.<br />

In Dres<strong>de</strong>n teilt er ein Zimmer mit <strong>de</strong>m aus Preußen ausgewiesenen politischen Lyriker Georg Herwegh.<br />

Bei<strong>de</strong> schwärmen für die revoltieren<strong>de</strong>n Polen, verkehren in <strong>de</strong>n gleichen revolutionären Zirkeln, fühlen<br />

sich aber zunehmend von <strong>de</strong>n philisterhaften <strong>de</strong>utschen Verhältnissen abgestoßen. Inzwischen wur<strong>de</strong>n die<br />

"Jahrbücher" wegen Bakunins Aufsatz verboten, und auch die zaristische Geheimpolizei war auf <strong>de</strong>n<br />

Dissi<strong>de</strong>nten aufmerksam gewor<strong>de</strong>n. So reisten bei<strong>de</strong> in die Schweiz. Dort gab es <strong>de</strong>n kommunistischen<br />

"Bund <strong>de</strong>r Gerechten", <strong>de</strong>ssen Programm <strong>de</strong>r Schnei<strong>de</strong>rgeselle Wilhelm Weitling verfaßt hatte, <strong>de</strong>n<br />

Bakunin 1843 in Zürich kennenlernt. Zwar respektieren sich <strong>de</strong>r Arbeiter und <strong>de</strong>r Intellektuelle und<br />

versuchen, voneinan<strong>de</strong>r zu lernen. Bakunin ist beeindruckt von <strong>de</strong>m schlichten proletarischen Charakter<br />

und gesteht gerne zu, daß "alle befreien<strong>de</strong>n Revolutionen" nur vom Volk, nicht von intellektuellen<br />

Avantgar<strong>de</strong>n ausgehen können. Gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb aber kritisiert er in einer Artikelserie <strong>de</strong>s Schweizer<br />

Republikaner bereits das noch ganz vage skizzierte kommunistische Staatsi<strong>de</strong>al: "Es wäre keine freie<br />

Gesellschaft, es wäre keine echte, lebendige Gemeinschaft freier Menschen, son<strong>de</strong>rn durchaus ein Regime<br />

von un-<br />

196<br />

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erträglicher Unterdrückung, eine Her<strong>de</strong> durch Zwang zusammengehaltener Tiere, die nur die materielle<br />

Befriedigung im Auge hätte."


Eine Verhaftung Weitlings bringt die zaristischen Behör<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r auf Bakunins Spur; seine<br />

Auslieferung wird verlangt. Bakunin verweigert die ›freiwillige Rückkehr‹, und wird nun offiziell zu <strong>de</strong>m,<br />

was er sein Leben lang bleiben sollte: politischer Emigrant. Er flieht über Brüssel nach Paris und wird<br />

daraufhin in Abwesenheit verurteilt: Verlust <strong>de</strong>s A<strong>de</strong>lstitels sowie aller Bürgerrechte und Deportation<br />

nach Sibirien.<br />

In Brüssel macht er die folgenreiche Bekanntschaft <strong>de</strong>s polnischen Historikers und Revolutionärs Ignacy<br />

Lelewel. Dessen slawophile* Vision einer <strong>de</strong>mokratischen Bauernrepublik beeindruckt ihn sehr, wobei er<br />

<strong>de</strong>n engen Nationalismus <strong>de</strong>r ganzen Sache in typisch Bakuninscher Begeisterung einfach ausblen<strong>de</strong>t. Der<br />

Gedanke an eine generelle Erhebung <strong>de</strong>r slawischen Völker, <strong>de</strong>nen er die Kraft zutraut, als ungezähmter<br />

Motor einer generellen Revolution gegen je<strong>de</strong> Tyrannei zu wirken, nimmt Gestalt an und wird ihn für<br />

viele Jahre nicht mehr loslassen.<br />

In Paris nimmt er sein Emigrantenleben wie<strong>de</strong>r auf, lernt George Sand, Victor Hugo und Lamenais<br />

kennen, vor allem aber Proudhon. Bei<strong>de</strong> Männer haben sich sehr viel zu geben. Oft treffen sie sich bei<br />

Adolf Reichel, einem gänzlich unpolitischen Musiker und lebenslangen Freund Bakunins aus Dresdner<br />

Tagen. Dort lauschen sie <strong>de</strong>r Musik und tauschen sich in endlosen Gesprächen aus. Zur gleichen Zeit lernt<br />

Bakunin auch Marx kennen, <strong>de</strong>ssen Gelehrsamkeit er bewun<strong>de</strong>rt, <strong>de</strong>ssen technokratische Kälte ihn jedoch<br />

abstößt. Ihr Umgang bleibt ebenso freundlich wie frostig. Obwohl es ja noch nicht um i<strong>de</strong>ologische<br />

Differenzen o<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>ne Etikettierungen ging - die Spaltung in ›Kommunisten‹ und ›Anarchisten‹<br />

sollte erst achtzehn Jahre später erfolgen - tun sich <strong>de</strong>utliche Unterschie<strong>de</strong> auf. Sie scheinen zunächst eher<br />

charakterliche Ursachen zu haben. "Unsere Temperamente vertrugen sich nicht", schreibt Bakunin. "Er<br />

nannte mich einen sentimentalen I<strong>de</strong>alisten, und er hatte recht; ich nannte ihn einen perfi<strong>de</strong>n und<br />

tückischen eitlen Menschen, und ich hatte auch recht." Hinter dieser Spannung zwischen zwei Männern,<br />

die eigentlich ›politische Freun<strong>de</strong>‹ waren und dies auch noch recht lange blieben, steckte natürlich eine<br />

tiefere Be<strong>de</strong>utung, die mit <strong>de</strong>n Jahren zunehmend klarer wur<strong>de</strong>. Ricarda Huch trifft in ihrer Bakunin-<br />

Biographie <strong>de</strong>n Kern <strong>de</strong>r Sache, wenn sie schreibt: "Dem einen kam es auf Organisation, Gütererzeugung,<br />

Betriebe an, <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren auf natürliches Menschenleben.".<br />

Im November 1847 hält Bakunin auf Einladung polnischer Emigranten seine verhängnisvolle ›Polen-<br />

Re<strong>de</strong>‹. In ihr ruft er die unter russischer Besatzung leben<strong>de</strong>n Polen zum gemeinsamen Aufstand mit <strong>de</strong>n<br />

russischen Regimegegnern auf, <strong>de</strong>r alle Slawen mitreißen und alle Despoten hinwegfegen sollte. Als Ziel<br />

sieht er eine freie Fö<strong>de</strong>ration aller slawischen Völker. Man hat oft darüber gerätselt, ob Bakunin<br />

Panslawist* gewesen sei; Kritiker haben ihm das unumwun<strong>de</strong>n vorgeworfen. Es trifft jedoch nicht <strong>de</strong>n<br />

Kern seines Engagements, <strong>de</strong>nn Bakunin glaubte nicht an die Überlegenheit einer slawischen Rasse,<br />

ebensowenig wie heute diejenigen, die Kämpfe in <strong>de</strong>r Dritten Welt unterstützen, indianische, molukkische<br />

o<strong>de</strong>r eritreische Rassisten sind. Natürlich verstand er als Russe das slawische Naturell<br />

197<br />

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besser als alles an<strong>de</strong>re, aber das war nicht sein Antrieb. Im Grun<strong>de</strong> war Bakunin ein Revolutionär, <strong>de</strong>r<br />

stets auf <strong>de</strong>r Suche nach einem revolutionären Subjekt war, bei <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Funke seiner Vision zün<strong>de</strong>n<br />

könnte. Wie ein Spieler setzte er dabei mal auf dieses, mal auf jenes Pferd - wo immer er ein Potential für<br />

Revolte und Freiheit auszumachen glaubte - und die von Rußland und Österreich unterjochten slawischen<br />

Völker muckten ja in <strong>de</strong>r Tat überall auf. Aber Bakunin hoffte ebenso wie auf Polen und Tschechen zu<br />

an<strong>de</strong>ren Zeiten auch auf Deutsche, Italiener, Franzosen o<strong>de</strong>r Spanier, auf das städtische Proletariat o<strong>de</strong>r<br />

die Bauern, auf die <strong>de</strong>klassierte Jugend Rußlands o<strong>de</strong>r das "Lumpenproletariat". Dabei ging es ihm immer<br />

um "das Volk", um die unterdrückten und arbeiten<strong>de</strong>n Menschen - für <strong>de</strong>n dünkelhaften,<br />

e<strong>de</strong>lproletarischen "Klassenstandpunkt", insbeson<strong>de</strong>re bei <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sozial<strong>de</strong>mokratie, hatte er nur<br />

Spott übrig. Bakunin seinerseits war bei <strong>de</strong>r Beurteilung sozialer Bewegungen von einer gera<strong>de</strong>zu naiven<br />

Großherzigkeit und wur<strong>de</strong> nur allzu leicht Opfer <strong>de</strong>r eigenen Begeisterung.<br />

Der ›Polen-Re<strong>de</strong>‹ folgte die sofortige Ausweisung aus Frankreich, die <strong>de</strong>r russische Botschafter verlangt<br />

hatte. In geschickter Taktik ließ dieser auch noch das Gerücht ausstreuen, Bakunin sei ein in Rußland


vorbestrafter Dieb und als agent provocateur im Dienste <strong>de</strong>s Zaren unterwegs. Die Rechnung <strong>de</strong>s<br />

Diplomaten ging auf, <strong>de</strong>nn prompt kolportierte* Marxens Neue Rheinische Zeitung <strong>de</strong>n Klatsch. Zwar<br />

gab es später Dementi und Entschuldigung, aber <strong>de</strong>r Makel blieb und das Gerücht hielt sich lange frisch.<br />

Bakunins Gegner wärmten es bei günstigen Gelegenheiten immer mal wie<strong>de</strong>r auf.<br />

Der geächtete Revolutionär weicht nach Brüssel aus, aber kurz darauf wird <strong>de</strong>r König, <strong>de</strong>r ihn auswies,<br />

durch die Februarrevolution gestürzt. Frankreich ist Republik, Bakunin kehrt sofort zurück und tummelt<br />

sich im revolutionären Paris. Er ist in seinem Element, beehrt die Barrika<strong>de</strong>n mit seiner Anwesenheit,<br />

agitiert die Arbeiter und läßt sich von ihnen agitieren. Er will <strong>de</strong>n revolutionären Funken nun auch nach<br />

Rußland und Polen überspringen lassen. Die republikanische Regierung unterstützt ihn hierbei mit Geld<br />

und Pässen - vielleicht, um ihn loszusein, <strong>de</strong>nn die neue Administration war be<strong>de</strong>utend mo<strong>de</strong>rater als<br />

dieser russische Emigrant. Der frischgebackene Polizeipräsi<strong>de</strong>nt soll damals gesagt haben: "Ein solcher<br />

Mann ist unschätzbar am ersten Tag <strong>de</strong>r Revolution, am zweiten muß man ihn aber erschießen."<br />

Bakunin bricht in Richtung Osten auf.<br />

Sein Weg durch Deutschland führte ihn auch nach Frankfurt, wo die Demokraten in <strong>de</strong>r Paulskirche<br />

versuchten, ein gesamt<strong>de</strong>utsches Parlament auf die Beine zu stellen. In einem Empfehlungsschreiben hatte<br />

Herwegh seinen "treuesten Freund" Bakunin angekündigt: "Er bringt noch einen Sack Revolutionsluft mit<br />

sich, um Eure konstitutionelle Atmosphäre zu reinigen." Doch von <strong>de</strong>m professoralen Palaver enttäuscht<br />

schreibt Bakunin an seinen Freund: "Ich glaube nicht an Verfassungen noch an Gesetze. Die beste<br />

Verfassung kann mich nicht befriedigen. Wir brauchen etwas an<strong>de</strong>res: <strong>de</strong>n Sturm und das Leben, eine<br />

neue Welt, in <strong>de</strong>r das Fehlen von Gesetzen die Freiheit erschaffen wird."<br />

Die unter österreichischer Herrschaft leben<strong>de</strong>n Tschechen, Slowaken und Mähren hatten<br />

198<br />

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es abgelehnt, sich am Frankfurter Vorparlament zu beteiligen. Statt<strong>de</strong>ssen lu<strong>de</strong>n sie alle Slawen für <strong>de</strong>n<br />

Juli zu einem Kongreß nach Prag ein. Da <strong>de</strong>r polnische Aufstand in Posen inzwischen gescheitert ist, reist<br />

Bakunin agitierend und konspirierend über Leipzig, Berlin und Breslau nach Prag, wo er erneut seine I<strong>de</strong>e<br />

einer <strong>de</strong>mokratischen Konfö<strong>de</strong>ration <strong>de</strong>r slawischen Völker aufleben läßt, in <strong>de</strong>r alle Klassenprivilegien<br />

abgeschafft sein sollten. Obwohl er in seinen radikalen Freiheitsfor<strong>de</strong>rungen zurücksteckt und eine Art<br />

Übergangsdiktatur vorschlägt, konnte er sich gegen die Hauptten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>s Kongresses, mit <strong>de</strong>m<br />

Habsburger Herrscherhaus zu paktieren, nicht durchsetzen. Ein dilettantisch inszenierter Aufstand <strong>de</strong>r<br />

Prager Stu<strong>de</strong>ntenschaft wird nach fünf Tagen nie<strong>de</strong>rgeworfen. Bakunin hatte vergeblich vor diesem<br />

Abenteuer gewarnt, sich dann aber doch helfend zur Verfügung gestellt. Am 16. Juni kam das En<strong>de</strong> für<br />

Aufstand und Kongreß. Bakunin mußte aus Prag fliehen.<br />

Obwohl inzwischen in Paris die sozialen Kräfte <strong>de</strong>r Februarrevolution in blutigen Straßenkämpfen<br />

nie<strong>de</strong>rgerungen wur<strong>de</strong>n, und Cavignac Tausen<strong>de</strong> Arbeiter massakrieren läßt, treibt Bakunin die<br />

revolutionäre Konspiration weiter voran. Von Breslau aus knüpft er Fä<strong>de</strong>n zu Gruppen im russischen<br />

Untergrund, grün<strong>de</strong>t eine slawische ›Geheimgesellschaft‹, organisiert <strong>de</strong>n Schmuggel von Waffen und<br />

Propagandaschriften. Kein geringerer als Brockhaus druckt ihm diese als Gebetbücher getarnten Traktate,<br />

die in mehreren slawischen Sprachen erscheinen. Aus Berlin, wo er Bettina von Arnim und Max Stirner<br />

kennenlernt, muß er erneut fliehen, <strong>de</strong>nn wie<strong>de</strong>r sind ihm die russischen Behör<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>n Fersen, und<br />

Preußen weist ihn aus. Im Herbst wur<strong>de</strong> auch <strong>de</strong>r Deutschen Revolution überall <strong>de</strong>r Garaus gemacht; die<br />

Fürsten sitzen fürs erste wie<strong>de</strong>r fest im Sattel. Bakunin verbringt <strong>de</strong>n Winter schreibend im Provinznest<br />

Köthen und zieht im Frühjahr 1849 unter falschem Namen nach Dres<strong>de</strong>n, wo er sich mit seinem<br />

Nachbarn, <strong>de</strong>m jungen Kapellmeister Richard Wagner anfreun<strong>de</strong>t. Als ob er Revolutionen anzöge, erhebt<br />

sich am 3. Mai das Volk gegen <strong>de</strong>n Sächsischen König, <strong>de</strong>r zuvor das Parlament aufgelöst hatte und nun<br />

überstürzt flieht. Eine provisorische Regierung wird gebil<strong>de</strong>t; sie überträgt Bakunin die militärische<br />

Führung <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r gegen die anrücken<strong>de</strong>n preußischen Truppen allerdings keine Aussicht auf<br />

Erfolg hat. Dennoch organisiert <strong>de</strong>r ehemalige Artillerieoffizier <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rstand "mit Geschick und


Kaltblütigkeit". Über eine Woche kann sich die Stadt halten. Mit 1800 Revolutionären, die sich bald<br />

darauf zerstreuen, gelingt <strong>de</strong>r Ausbruch aus <strong>de</strong>r Umzingelung. Am 10. Mai wird Bakunin in einem<br />

Chemnitzer Gasthof aus <strong>de</strong>m Tiefschlaf gerissen und verhaftet - er war eine Woche lang ruhelos auf <strong>de</strong>n<br />

Beinen gewesen.<br />

Der Russische Zar ist entzückt, aber er muß sich noch gedul<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn zunächst wird <strong>de</strong>r Gefangene in<br />

Preußen angeklagt und am 14. Januar 1850 zum To<strong>de</strong> verurteilt. Gleichzeitig mit seiner Begnadigung zu<br />

lebenslänglicher Festungshaft erfährt er von Österreichs Auslieferungsbegehren, wohin er im Mai<br />

abgeschoben wird. Wegen <strong>de</strong>s Prager Aufstan<strong>de</strong>s erneut zum Galgen verurteilt, verbringt er über ein Jahr<br />

in schwerer Haft. In <strong>de</strong>r Festung Olmütz wird er mit Ketten an die Wand geschmie<strong>de</strong>t und unternimmt<br />

einen Selbstmordversuch. Im Oktober 1851 wird Bakunin an Rußland ausgeliefert, wo er ohne Prozeß<br />

sechs<br />

199<br />

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Jahre unter harten Bedingungen in Haft bleibt. Diese Jahre ruinieren seine Gesundheit. In <strong>de</strong>r<br />

Schlüsselburg befällt ihn Skorbut und Wassersucht, die Zähne fallen ihm aus. Unermüdlich interveniert<br />

seine Familie, um eine Begnadigung zu erreichen. Beim To<strong>de</strong> <strong>de</strong>s alten Zaren hoffte man auf eine<br />

Amnestie, aber <strong>de</strong>r Nachfolger, Alexan<strong>de</strong>r II., streicht eigenhändig Bakunins Namen aus <strong>de</strong>r ihm<br />

vorgelegten Liste. Endlich, 1857, begnadigt man ihn – zur Verbannung nach Sibirien.<br />

Als 1917 die zaristischen Archive geöffnet wur<strong>de</strong>n, fand sich ein Brief Bakunins, <strong>de</strong>r als die sogenannte<br />

"Beichte" bekannt wur<strong>de</strong>. Der Zar hatte ihn bereits zu Beginn seiner Haft aufgefor<strong>de</strong>rt, sich ihm mit <strong>de</strong>r<br />

Aussicht auf Mil<strong>de</strong> "wie ein geistlicher Sohn" anzuvertrauen. Daraufhin verfaßte <strong>de</strong>r Häftling ein<br />

ausführliches Dokument, angesie<strong>de</strong>lt "zwischen Dichtung und Wahrheit", ohne jedoch seine Freun<strong>de</strong><br />

noch seine I<strong>de</strong>en zu verraten. Statt<strong>de</strong>ssen stellte er geschickt seine charakterlichen ›Schwächen‹ in <strong>de</strong>n<br />

Vor<strong>de</strong>rgrund, und appellierte an die mildtätigen Gefühle <strong>de</strong>s Zaren – ohne Erfolg, wie wir wissen. Als<br />

Jahre später seine Begnadigung erwogen wur<strong>de</strong>, kommentierte <strong>de</strong>r Minister Gortschakow das Dokument<br />

mit folgen<strong>de</strong>n Worten: "Aber ich sehe in diesem Brief nicht die geringste Reue". Trotz<strong>de</strong>m legen ihm bis<br />

heute seine Gegner die "Beichte" als Schwäche, Verrat, ja als Kollaboration aus. Dabei han<strong>de</strong>lt es sich um<br />

das taktische Meisterstück eines lebendig Begrabenen, <strong>de</strong>r zwar Zerknirschung heuchelt, gleichzeitig aber<br />

<strong>de</strong>m Zaren in fast belehren<strong>de</strong>m Ton unangenehme Wahrheiten zu sagen wagt.<br />

In Sibirien verbringt er die nächsten vier Jahre in relativer Bequemlichkeit und wohlverdienter Ruhe,<br />

zunächst in Tomsk, später in Irkutsk. Er knüpft Kontakte, versucht, nicht ohne Erfolg, <strong>de</strong>n Gouverneur für<br />

fö<strong>de</strong>ralistische I<strong>de</strong>en zu gewinnen und gibt Französischunterricht. Dabei lernt er die junge Antonia<br />

Kwiatkowska kennen, und bei<strong>de</strong> entwickeln eine starke Zuneigung zueinan<strong>de</strong>r. 1858 heiratet das<br />

ungleiche Paar und bleibt in sehr lockerer aber respektvoller Form bis zu Bakunins Tod miteinan<strong>de</strong>r<br />

verbun<strong>de</strong>n. Die Tatsache, daß die drei Kin<strong>de</strong>r, die Antonina bekam, nicht Bakunin zum Vater hatten, und<br />

dies vom Ehegatten offenbar gebilligt wur<strong>de</strong>, hat zu Spekulationen über angebliche Impotenz o<strong>de</strong>r<br />

homoerotische Neigungen Bakunins geführt. Das ist ebensogut möglich wie die naheliegen<strong>de</strong> Vermutung,<br />

daß das Ehepaar Bakunin bewußt eine sehr offene Beziehung lebte, was bei ihrem Altersunterschied,<br />

ihren Vorstellungen von Freiheit, <strong>de</strong>n unterschiedlichen Temperamenten und jahrelangen Trennungen<br />

nicht verwun<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong>.<br />

Als frischgebackener Ehemann je<strong>de</strong>nfalls genoß Bakunin zunehmen<strong>de</strong>s Vertrauen bei <strong>de</strong>n Behör<strong>de</strong>n und<br />

eine gewisse Freizügigkeit, die er 1861 zu seiner spektakulären Flucht um <strong>de</strong>n halben Erdball nutzte. Auf<br />

einem amerikanischen Walfängerschiff ging es via Japan in die USA, bei <strong>de</strong>ren Durchquerung er -<br />

naturellement! - bei je<strong>de</strong>r Gelegenheit politische Kontakte knüpfte. Schließlich schiffte er sich wie<strong>de</strong>r<br />

nach Europa ein, und En<strong>de</strong> 1861 mel<strong>de</strong>te er sich voll Ungestüm bei Herzen in London zurück. Dem<br />

Einreisebeamten antwortete er auf die Frage nach <strong>de</strong>m Beruf: "Revolutionär." Dieser glaubte wohl an<br />

einen Scherz, musterte die abgerissene Kleidung Bakunins und antwortete: "Genauso habe ich mir einen<br />

Revolutionär vorgestellt."


200<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Aufstand, Organisation und die Lust an <strong>de</strong>r Verschwörung<br />

Nahezu 12 Jahre war Bakunin von <strong>de</strong>r politischen Bühne Europas verschwun<strong>de</strong>n gewesen. Vieles hatte<br />

sich seither verän<strong>de</strong>rt. Zwar gab es immer noch Aufstän<strong>de</strong> und Revolten, auch die Polen muckten erneut<br />

auf, aber <strong>de</strong>r Elan <strong>de</strong>r achtundvierziger Jahre war einer allgemeinen Ernüchterung gewichen. Revolution<br />

schien doch mehr zu sein als die Inszenierung eines erfolgreichen coup d'etat auf <strong>de</strong>r Straße.<br />

Längerfristige Perspektiven waren gefragt. Welche Volksschichten könnten eine Revolution wünschen,<br />

durchführen und tragen? Wollten die Arbeiter wirklich Freiheit o<strong>de</strong>r nur mehr Brot? Die ›Organisation<br />

<strong>de</strong>s Proletariats‹ rückte auf die Tagesordnung.<br />

Bakunin hatte Schwierigkeiten, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Nicht, weil er die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r<br />

Arbeiterschaft verkannt hätte, son<strong>de</strong>rn weil er <strong>de</strong>n gängigen Organisationsformen mißtraute. Zu Recht<br />

witterte er die Gefahr eines lauwarmen Reformismus, <strong>de</strong>r für eine wirkliche Befreiung <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />

keinen Platz ließe.<br />

Man kann <strong>de</strong>n Rest von Bakunins Leben als <strong>de</strong>n Versuch interpretieren, eine theoretische und praktische<br />

Synthese zwischen Massenbewegung und Aufstand, zwischen kleinen Schritten und großer Revolution zu<br />

suchen. Sein Ziel war im Grun<strong>de</strong> einfach: <strong>de</strong>n naheliegen<strong>de</strong>n Wunsch nach alltäglichen Verbesserungen<br />

mit <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Notwendigkeit einer radikalen Umwälzung unter einen Hut zu bringen - die<br />

Verschmelzung von Status quo* und Utopie in einer praktischen Strategie. Am En<strong>de</strong> seines Lebens sind<br />

die Grundlagen für diese Synthese gelegt, und im neuen Jahrhun<strong>de</strong>rt wird sie die libertären I<strong>de</strong>en in <strong>de</strong>r<br />

Form <strong>de</strong>s Anarchosyndikalismus zum ersten Mal zu einem durchschlagen<strong>de</strong>n Erfolg verhelfen.<br />

Bakunins weiterer Lebensweg beweist, wie schwer es ihm fiel, dieses einfache Ziel anzusteuern, gab es<br />

doch da so viele wi<strong>de</strong>rsprüchliche Faktoren...!<br />

Zum Beispiel seine Vorliebe für <strong>de</strong>n Aufstand, <strong>de</strong>n er als Initialzündung zur allgemeinen Erhebung für<br />

notwendig hielt. Entschlossene Revolutionäre sollten<br />

blitzschnell vollen<strong>de</strong>te Tatsachen schaffen: wichtige Gebäu<strong>de</strong> besetzen, Akten - insbeson<strong>de</strong>re die<br />

Grundbücher! - vernichten, revolutionäre Körperschaften bil<strong>de</strong>n, die Verteidigung organisieren und das<br />

Leben neu strukturieren. In einer Zeit, in <strong>de</strong>r das Pferd das gängige Transportmittel war, und ein Regiment<br />

Soldaten zum Anrücken mehrere Tage brauchte, war eine solche Taktik noch nicht so aussichtslos, wie<br />

sie uns heute erscheinen mag. Auch gab es, zumin<strong>de</strong>st qualitativ, eine Parität <strong>de</strong>r Waffen.<br />

Dagegen stand die Organisation, die bei Bakunin eine ebenso große Rolle spielt. Das war ein langfristiges<br />

Projekt, das Geduld, kleine Schritte und Augenmaß erfor<strong>de</strong>rte - nicht gera<strong>de</strong> Bakuninsche Tugen<strong>de</strong>n.<br />

Trotz<strong>de</strong>m hat er die enorme Wichtigkeit erkannt, eine Organisation aufzubauen, die <strong>de</strong>n elen<strong>de</strong>n Massen<br />

<strong>de</strong>r Arbeiter als Werkzeug zur Überwindung ihrer Lage dienen könnte. Sein Engagement in <strong>de</strong>r<br />

Internationalen Arbeiter Assoziation war nicht nur stark, son<strong>de</strong>rn auch prägend: Bakunin verschaffte in<br />

<strong>de</strong>r ›Internationale‹ <strong>de</strong>m Primat von Freiheit, Autonomie und Spontaneität Gehör.<br />

201<br />

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Bei<strong>de</strong>s aber schien ihm nicht zu genügen. Aufstand war zu kurzatmig, Organisation zu langatmig. Die<br />

Barrika<strong>de</strong> brachte spontan unerfahrene Dilettanten auf die Beine, die im entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Augenblick<br />

versagten. Die Organisation brachte zwar gute Leute hervor, konnte sich aber nicht erlauben, militant und<br />

konspirativ aufzutreten, <strong>de</strong>nn sie wirkte offen und legal. Die Lösung dieses Wi<strong>de</strong>rspruchs scheint Bakunin<br />

zeitlebens in <strong>de</strong>m Aufbau von Geheimgesellschaften gesucht zu haben - seinen berühmten und


erüchtigten "Bru<strong>de</strong>rschaften", "Ligen" und "Allianzen". Sie sind auch innerhalb <strong>de</strong>s Anarchismus oft auf<br />

Unverständnis und kaum verhohlenes Entsetzen gestoßen. Tatsächlich stehen sie eher in <strong>de</strong>r Tradition von<br />

Avantgar<strong>de</strong> und Elite<strong>de</strong>nken als <strong>de</strong>r libertärer I<strong>de</strong>ale. Sie lassen an ›Berufsrevolutionäre‹ <strong>de</strong>nken und<br />

ähneln in letzter Konsequenz <strong>de</strong>r Struktur einer Ka<strong>de</strong>rpartei. Den Preis dafür hat Bakunin, wie wir sehen<br />

wer<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>m verhängnisvollen Abenteuer bezahlen müssen, auf das er sich mit <strong>de</strong>m<br />

Revolutionshochstapler Netschajew einließ, <strong>de</strong>m es mühelos gelang, <strong>de</strong>n alten Kämpen um <strong>de</strong>n Finger zu<br />

wickeln und für seine Machenschaften einzuspannen. Man sollte allerdings nicht <strong>de</strong>n Fehler machen,<br />

Bakunins Vorliebe für Geheimbün<strong>de</strong>lei nach <strong>de</strong>m zu beurteilen, was darüber zu Papier gebracht wur<strong>de</strong>.<br />

Das klingt in <strong>de</strong>r Tat erschreckend autoritär und steht im Gegensatz zu allem, was er ansonsten lebte,<br />

dachte, tat und schrieb. Dennoch: Was ist davon zu halten, wenn ein Gralshüter <strong>de</strong>r Freiheit plötzlich von<br />

einer "unsichtbaren Diktatur" spricht?<br />

Eigentlich ein unbeholfener aber aufrichtiger Versuch, ein freies I<strong>de</strong>al mit unfreien Mitteln zu erreichen,<br />

<strong>de</strong>r sich glücklicherweise in <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung nicht durchgesetzt hat. Vergessen wir aber<br />

nicht, daß in Zeiten von Illegalität und Verfolgung eine offene i<strong>de</strong>allibertäre Struktur kaum möglich ist.<br />

Internationale Organisation, Diskussion, Propaganda, Kommunikation, Koordination und Subversion<br />

verlangten nach einem Netzwerk, das nicht offen vor <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Geheimpolizei ausgebreitet liegen<br />

durfte. Daß Bakunin hierbei versuchte, kleine verschworene Zellen zu bil<strong>de</strong>n, die sich untereinan<strong>de</strong>r nur<br />

über Mittelsmänner kannten, läßt weniger auf Autoritätsgeilheit schließen als vielmehr auf <strong>de</strong>n Wunsch,<br />

die gefähr<strong>de</strong>ten Menschen zu schützen. Interessanterweise aber hat Bakunin aus dieser Not keine Tugend<br />

gemacht. Man merkt ihm seine geistigen Bauchschmerzen gera<strong>de</strong>zu an, wenn er immer wie<strong>de</strong>r betont, daß<br />

Geheimgesellschaften nur zur Initialzündung für die Revolution dienen sollen, in <strong>de</strong>r dann das Volk<br />

alleine über sein Schicksal zu bestimmen habe. Keinesfalls dürfe <strong>de</strong>r Revolutionär irgendwelche<br />

Privilegien, materiellen Vorteile o<strong>de</strong>r Ehren genießen, niemand dürfe eine Funktion auf Dauer beklei<strong>de</strong>n<br />

und letztlich müsse sich <strong>de</strong>r Revolutionär <strong>de</strong>m souveränen Volkswillen unterordnen und nicht umgekehrt.<br />

Schon gar nicht war Bakunin selbst <strong>de</strong>r ›Chef‹ all dieser Organisationen, wie die Beispiele belegen, in<br />

<strong>de</strong>nen er überstimmt o<strong>de</strong>r übergangen wur<strong>de</strong>. Das sind schon <strong>de</strong>utliche Unterschie<strong>de</strong> zum Leninschen<br />

Konzept <strong>de</strong>r Ka<strong>de</strong>rpartei, in <strong>de</strong>r sich tatsächlich die Not zur Tugend erhob. Gewiß hatte für Bakunin das<br />

Verschwörerische immer auch einen Hauch von Revolutionsromantik, und sicher hat er sich gelegentlich<br />

mit <strong>de</strong>m konspirativen Gebrauch von Chiffrierco<strong>de</strong>s und Geheimtinte über herbe Rückschläge<br />

hinweggetröstet und -getäuscht. Auch existierten manche dieser Gesellschaften wohl eher<br />

202<br />

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in <strong>de</strong>r Phantasie <strong>de</strong>s Meisters als in <strong>de</strong>r Realität. Tatsache aber bleibt, daß aus <strong>de</strong>m unentwirrbaren<br />

Spinnennetz Bakuninscher Verschwörungsfä<strong>de</strong>n ein ganz ausgezeichnetes System internationaler<br />

Verbindungen hervorging, das in entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Momenten immer wie<strong>de</strong>r gute Dienste leistete. Hier<br />

reifte eine neue Generation von Menschen heran, die in <strong>de</strong>n nächsten Jahrzehnten die anarchistische I<strong>de</strong>e<br />

in alle Welt hinaustragen und zu Protagonisten <strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n Kämpfe wer<strong>de</strong>n sollten. Hier entstan<strong>de</strong>n<br />

die Kontakte, die durch die Entsendung eines einzelnen Menschen zur Bildung einer ganzen Sektion in<br />

einem neuen Land führten, wie im Falle von Bakunins Emissär Fanelli, <strong>de</strong>r in Spanien innerhalb weniger<br />

- Monate einen wahren Massenboom auslöste.<br />

Bakunins Traum, mittels einer recht autoritären Organisationsform in Europa die generelle antiautoritäre<br />

Revolte zu entfesseln, ging nicht in Erfüllung. Aber sie legte wichtige Grundlagen für spätere<br />

Revolutionen. Schon <strong>de</strong>shalb sollte, bei aller berechtigten Kritik, die Geheimbün<strong>de</strong>lei nicht einzig daran<br />

gemessen wer<strong>de</strong>n, wieweit sie mit <strong>de</strong>r Gedankenwelt libertärer I<strong>de</strong>ale konform geht.<br />

Geburtsstun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung<br />

Von London aus beginnt Bakunin unverzüglich wie<strong>de</strong>r seine Fä<strong>de</strong>n zu spinnen, unzufrie<strong>de</strong>ne Slawen um<br />

sich zu sammeln und zu schreiben. In Rußland<br />

macht eine von seinen I<strong>de</strong>en inspirierte Oppositionsbewegung namens "Bo<strong>de</strong>n und Freiheit" von sich<br />

re<strong>de</strong>n, und 1863 erlebt Russisch-Polen erneut einen Aufstand und die Ausrufung einer provisorischen


Regierung. Die Hilfsexpedition, mit <strong>de</strong>r Bakunin per Schiff von London aus aufbricht, scheitert jedoch<br />

schon in Schwe<strong>de</strong>n: die Revolutionäre hatten sich unterwegs zerstritten.<br />

In London aber hatte Bakunin die Bekanntschaft <strong>de</strong>s italienischen Revolutionärs Giuseppe Mazzini<br />

gemacht. Mit ihm sollte ihn, trotz grundlegen<strong>de</strong>r politischer Differenzen, eine lange Freundschaft<br />

verbin<strong>de</strong>n, ähnlich seinem von Respekt und Anerkennung getragenen Verhältnis zum italienischen<br />

Nationalhel<strong>de</strong>n Giuseppe Garibaldi. Bakunin ent<strong>de</strong>ckt sein Herz für Italien und die Italiener, und bald<br />

beginnt er für sie ebenso zu schwärmen wie für die Slawen. Die nächsten Jahre lebt er in Florenz, später<br />

in Neapel, immer von Reisen unterbrochen, während <strong>de</strong>r er auch wie<strong>de</strong>r mit Marx und Proudhon<br />

zusammentrifft. Es sollten außeror<strong>de</strong>ntlich fruchtbare Jahre wer<strong>de</strong>n: vielerorts fin<strong>de</strong>t er schon eine aktive<br />

anarchistische Bewegung mit reifen I<strong>de</strong>en vor. Von einem Denker und Organisator wie Carlo Piscane<br />

kann sogar ein Bakunin vieles lernen; sein etwas rustikaler Anarchismus verfeinert sich zu ausgereiften<br />

I<strong>de</strong>en. Er verfaßt eine Reihe kleinerer, aber sehr klarer Aufsätze, in <strong>de</strong>nen er auch I<strong>de</strong>en Proudhons<br />

aufgreift und weiterführt. Diese ›Neapolitanischen Schriften‹ wur<strong>de</strong>n für lange Zeit zur Wurzel je<strong>de</strong>r<br />

weiteren Entwicklung <strong>de</strong>s Anarchismus. In ihrer einfachen Sprache leicht verständlich, erlangen sie -<br />

nicht nur in Italien - eine ungemeine Popularität. Bakunins "Revolutionärer Katechismus" von 1865/66 -<br />

nicht zu verwechseln mit <strong>de</strong>m von Netschajew inspirierten "Katechismus <strong>de</strong>s Revolutionärs" - gehört zu<br />

<strong>de</strong>n radikalsten politisch-humanitären Utopien <strong>de</strong>r Literatur. Die Broschüre löst in Italien unter <strong>de</strong>r<br />

revolutionären Jugend, die von <strong>de</strong>n religiösen und nationalen Unter-<br />

203<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

tönen Mazzinis und Garibaldis irritiert ist, ein lebhaftes Echo aus. Bakunin hat nun wie<strong>de</strong>r Substanz für<br />

seine Geheimgesellschaften. Die "Internationale Bru<strong>de</strong>rschaft" bekam spürbar Leben eingehaucht;<br />

Malatesta, Fanelli, Francia und Costa, die allesamt be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Anarchisten wer<strong>de</strong>n sollten, erlebten hier<br />

ihre libertäre Initiation*.<br />

Mit <strong>de</strong>m Umzug in die Schweiz beginnt für Bakunin 1867 die Ära <strong>de</strong>r politischen Organisation, die<br />

begleitet ist von spektakulären Auftritten in <strong>de</strong>r Arena internationaler Versammlungen und Kongresse. Im<br />

Schweizer Jura hatte <strong>de</strong>r Anarchismus, beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>r dortigen Uhrenindustrie, eine breite<br />

Anhängerschaft gewonnen; Bakunins Freund James Guillaume gehörte zu ihren klügsten Köpfen und<br />

fähigsten Organisatoren. Die sehr aktive Jurassische Fö<strong>de</strong>ration gab die Zeitung Liberté heraus, Bakunin<br />

wur<strong>de</strong> ihr Redakteur.<br />

Ebenso wie Sozialisten aller Couleur, waren Anarchisten von Anfang an auch in <strong>de</strong>r "Internationalen<br />

Arbeiter-Assoziation" organisiert. 1868 treten auch Bakunin und seine Anhänger bei. Parallel dazu<br />

wirkten sie weiterhin in <strong>de</strong>r "Liga für Frie<strong>de</strong>n und Freiheit", in <strong>de</strong>r "Bru<strong>de</strong>rschaft" und in <strong>de</strong>r im gleichen<br />

Jahr gegrün<strong>de</strong>ten "Internationalen Allianz <strong>de</strong>r sozialistischen Demokratie", was Marx, <strong>de</strong>r die<br />

"Internationale" auf seinen Kurs einschwören wollte, zum Anlaß nahm, um gegen Bakunin und die<br />

"Antiautoritären" vorzugehen. In Wirklichkeit ging es um die politische Frage, ob das Ziel <strong>de</strong>r<br />

Internationalen ein autoritärer o<strong>de</strong>r ein freiheitlicher Sozialismus sein sollte. Es kam zu einem jahrelangen<br />

Hickhack, an <strong>de</strong>ssen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Kongress von St. Imier stand, auf <strong>de</strong>m sich die libertäre Arbeiterbewegung<br />

in einer eigenen Internationale von <strong>de</strong>n autoritären und reformistischen Sozialisten abnabelte. Dieser i$.<br />

September 1872, an <strong>de</strong>m sich in <strong>de</strong>m kleinen schweizer Industriestädtchen Delegierte aus Spanien, Italien,<br />

Frankreich, <strong>de</strong>r Schweiz und Amerika trafen, um eine autonome, fö<strong>de</strong>ralistische, libertäre und<br />

revolutionäre Organisation zu bil<strong>de</strong>n, gilt seither als das ›offizielle‹ Geburtsdatum einer organisierten und<br />

internationalen anarchistischen Bewegung. Michail Bakunin war ihr Architekt, ihr Mentor und ihr Motor.<br />

Organisationsarbeit und die Abwehr von Intrigen aber war nicht alles, was <strong>de</strong>r gealterte Revolutionär in<br />

diesen Jahren trieb. Noch 1870, beim Ausbruch <strong>de</strong>s<br />

<strong>de</strong>utsch-französischen Krieges, hatte er große Hoffnungen auf einen Aufstand in Frankreich gegen <strong>de</strong>n<br />

unfähigen Louis-Napoleon gesetzt. Tatsächlich gärte es an vielen Orten; es kam zu Unruhen in Lyon,<br />

Marseille und schließlich, 1871, in Paris, die in <strong>de</strong>r berühmten Commune gipfelte. Nur zu gern hätte


Bakunin eine allgemeine Revolte in eine soziale Revolution verwan<strong>de</strong>lt. Er läßt seine ›Beziehungen‹<br />

spielen und reist nach Lyon, wo sich bereits ein "Wohlfahrtsausschuß" konstituiert hat, <strong>de</strong>r sich nach<br />

seiner Ankunft flugs in ein "revolutionäres Komitee" verwan<strong>de</strong>lt. Am 14. September wird das Stadthaus<br />

erobert. Eine Proklamation, die auch Bakunins Unterschrift trägt, erklärt die Abschaffung von Staat,<br />

Steuern und Zinsen und ruft zu einer "Fö<strong>de</strong>ration revolutionärer Kommunen" auf. Unter <strong>de</strong>m Feuer <strong>de</strong>r<br />

Nationalgar<strong>de</strong> bricht dieser Aufstand ebenso rasch zusammen wie die vielen an<strong>de</strong>ren schlecht<br />

organisierten coups ohne ausreichen<strong>de</strong> Basis, an <strong>de</strong>nen er zuvor teilgenommen hatte. Bakunin wird<br />

gefangen, aber seine franctireurs* hauen ihn wie<strong>de</strong>r raus, und er kann in die<br />

204<br />

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Schweiz entkommen. Er dürfte kaum geahnt haben, welcher an<strong>de</strong>ren Gefahr er entronnen war, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r<br />

Zar hatte die Preußen gebeten, Bakunin zu verhaften, falls er ihnen in Frankreich in die Hän<strong>de</strong> fiele. Otto<br />

von Bismarck ließ <strong>de</strong>m russischen Gesandten antworten: "Unsere Aufmerksamkeit ist bereits auf die<br />

genannte Person gerichtet, und wir wer<strong>de</strong>n, sobald sie in unsere Hän<strong>de</strong> fällt, sie in Haft halten und<br />

Mitteilung nach Petersburg machen."<br />

Bakunins Gesundheitszustand war inzwischen be<strong>de</strong>nklich gewor<strong>de</strong>n. Ruhelos zieht er in <strong>de</strong>r Schweiz<br />

umher, immer auch, wie sein ganzes Leben lang, von finanziellen Sorgen gedrückt. In nie<strong>de</strong>rgeschlagener<br />

Stimmung verbringt er <strong>de</strong>n Winter schreibend in Locarno. Als ihn im Frühjahr erste Nachrichten von <strong>de</strong>r<br />

Pariser Commune erreichen, flackert trotz aller Skepsis seine Hoffnung wie<strong>de</strong>r auf, und er begibt sich für<br />

alle Fälle an die französische Grenze. Er ist aber zu krank zum Reisen und erfährt bald, daß auch dieser<br />

Aufstand, <strong>de</strong>r diesmal tatsächlich von <strong>de</strong>r Masse <strong>de</strong>r Bevölkerung getragen war, nach zwei Monaten<br />

erbittertem Wi<strong>de</strong>rstand besiegt wur<strong>de</strong>.<br />

1873 zieht sich Bakunin aus <strong>de</strong>r Politik zurück. Er ist alt, verbraucht, krank und enttäuscht. Er verläßt die<br />

Internationale und will sich nur noch <strong>de</strong>m Schreiben widmen. Marxens Verleumdungen haben seinem<br />

Ruf gescha<strong>de</strong>t, und noch immer fällt <strong>de</strong>r Schatten einer Affäre auf ihn, in die er sich knapp vier Jahre<br />

zuvor in unglaublicher Einfalt und mit <strong>de</strong>m für ihn typischen blin<strong>de</strong>n Vertrauen selbst hineinlaviert hatte:<br />

<strong>de</strong>r ›Affäre Netschajew‹.<br />

Verrat an <strong>de</strong>r Seele: Die Affäre Netschajew<br />

Im Frühjahr 1869 war bei Bakunin ein junger Mann aufgetaucht, <strong>de</strong>r sich als Delegierter <strong>de</strong>s Moskauer<br />

Komitees einer "großen russischen<br />

Geheimgesellschaft" ausgab. Dieser Sergej Netschajew berichtete von konspirativen Netzen und Scharen<br />

opferbereiter Jugendlicher, die nur darauf warteten, ihr Leben <strong>de</strong>r Revolution zu weihen. In Wirklichkeit<br />

hatte er sich in oppositionellen Stu<strong>de</strong>ntenkreisen bewegt, ein bißchen <strong>de</strong>n Verschwörer gespielt und sich<br />

die krause Theorie eines gna<strong>de</strong>nlos harten Revolutionärstums zurechtgelegt, die er aus Babeuf,<br />

Buonarotti, Bakunin und <strong>de</strong>m "Kommunistischen Manifest" von Marx und Engels <strong>de</strong>stilliert hatte. Von<br />

<strong>de</strong>m legendären Bakunin erhoffte er sich Prestige und Hilfe, konkret wollte er Geld, Ausweise,<br />

Propagandamaterial. Bakunin war von <strong>de</strong>m mit ungewöhnlicher Suggestivkraft begabten jungen Mann<br />

begeistert und griff die vermeintlich guten Nachrichten aus Rußland mit <strong>de</strong>rselben naiven Hoffnung auf,<br />

wie er das bei allem tat, was nach Revolution roch. Mehr noch - er scheint an <strong>de</strong>m Asketen mit <strong>de</strong>n<br />

märtyrerhaften Allüren einen Narren gefressen zu haben. Möglicherweise projizierte er in <strong>de</strong>n jungen<br />

Hel<strong>de</strong>n auch die Enttäuschung <strong>de</strong>s alten Revoluzzers, und band all seine Hoffnungen an das Phantom<br />

jener angeblichen Organisation. Je<strong>de</strong>nfalls unterstützte er ihn bei <strong>de</strong>r Herstellung einer Reihe von<br />

Broschüren, die sich an die Jugend, an die Offiziere und an die Stu<strong>de</strong>nten wandten. Sie erschienen En<strong>de</strong><br />

1869, um nach Rußland geschmuggelt zu wer<strong>de</strong>n. Eine davon, die "Prinzipien <strong>de</strong>r Revolution", liest sich<br />

wie ein Horrormanual; "Gift, Dolch, Strick – die Revolution rechtfertigt alle Mittel ohne Unterschied".<br />

Ihre Bot-<br />

205


--------------------------------------------------------------------------------<br />

schaft besteht darin, daß die Revolution ein hehres Ziel sei, das je<strong>de</strong>s Mittel heilige und je<strong>de</strong>s Opfer<br />

verlangen dürfe. Sie erkenne "keine an<strong>de</strong>re Tätigkeit als die Sache <strong>de</strong>r Zerstörung" an. Eine unter <strong>de</strong>m<br />

Titel "Katechismus <strong>de</strong>s Revolutionärs" bekannt gewor<strong>de</strong>ne Broschüre listet die "Regeln, nach <strong>de</strong>nen sich<br />

<strong>de</strong>r Revolutionär richten muß" auf. Ihr zufolge müsse eine Elite von "Geweihten" das Volk führen. Ein<br />

Revolutionär dürfe keine menschlichen Regungen entwickeln, und habe emotionslos und gehorsam <strong>de</strong>r<br />

Sache zu dienen. Eine solche Mischung aus macchiavellischer Kälte und jesuitischem Fanatismus<br />

wi<strong>de</strong>rspricht vollständig <strong>de</strong>m, was Bakunin sein Leben lang vertrat und lebte. Die Autorenschaft <strong>de</strong>r<br />

Broschüren wur<strong>de</strong> nie geklärt. Fest steht, daß Netschajew es geschickt verstand, zu suggerieren, Bakunin<br />

sei <strong>de</strong>r Autor. Gewisse Re<strong>de</strong>wendungen sind so ein<strong>de</strong>utig seinem Stil entlehnt, daß noch heute<br />

Nachdrucke und Übersetzungen unter Bakunins Namen kursieren. Fest steht ferner, daß Bakunin sich im<br />

Juni 1870 in einem Brief vom Umfang eines Taschenbuchs von Netschajew distanzierte und <strong>de</strong>n Inhalt<br />

dieser Traktate gehörig auseinan<strong>de</strong>rnahm. Sein Fazit: Die Gedanken <strong>de</strong>s "furchtbaren Ehrgeizlings" seien<br />

"für <strong>de</strong>n Leib einzig und allein Gewalt, für die Seele die Lüge". Aber da war es schon zu spät. Inzwischen<br />

nämlich war Netschajew mit <strong>de</strong>m brisanten Material nach Moskau gereist, um Zellen aufzubauen. Er<br />

agiert im Namen eines geheimnisvollen Zentralkomitees; ein von Bakunin unterschriebener Ausweis<br />

verschafft ihm Autorität. Als ein Genösse Verdacht schöpft und die Existenz <strong>de</strong>r Organisation anzweifelt,<br />

wird er "als Verräter verurteilt" und hingerichtet. Die Gruppe fliegt auf, Netschajew kann fliehen und<br />

mel<strong>de</strong>t sich erneut bei Bakunin, ohne die Vorfälle auch nur zu erwähnen. Erneut dringt er in <strong>de</strong>n alten<br />

Mann, sich nunmehr ganz "in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>r Sache zu stellen". Es kam jedoch zu keinen weiteren<br />

Netschajewschen Projekten mehr, <strong>de</strong>nn wenig später wur<strong>de</strong> er verhaftet und an Rußland ausgeliefert –<br />

seine Moskauer Machenschaften wur<strong>de</strong>n publik. Erst jetzt ging Bakunin gänzlich auf, mit wem und auf<br />

was er sich da eingelassen hatte. Zu spät, <strong>de</strong>nn mittlerweile war <strong>de</strong>r große, legendäre Revolutionär in<br />

weiten Kreisen als Menschenverachter diffamiert und als Abenteurer verspottet. Es war auch kaum mehr<br />

zu verhin<strong>de</strong>rn, daß diese Eskapa<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Anarchismus angelastet wur<strong>de</strong>n.<br />

Netschajew wur<strong>de</strong> abgeurteilt und starb 1882 an Skorbut und Unterernährung im Gefängnis. Für viele<br />

wur<strong>de</strong> er zum Märtyrer und Hel<strong>de</strong>n. Nicht wenige, die in späteren Jahren die sogenannte "Propaganda <strong>de</strong>r<br />

Tat" praktizierten, griffen auf jene Schriften zurück, mit <strong>de</strong>ren Hilfe es ein leichtes war, einem<br />

gewöhnlichen Raubmord ein ›anarchistisches‹ Etikett aufzukleben.<br />

Kein Hel<strong>de</strong>ntod<br />

In seinen Schweizer Jahren, <strong>de</strong>n letzten seines Lebens, entstan<strong>de</strong>n Bakunins wichtigste Schriften, die fast<br />

alle fragmentarisch bleiben, und von <strong>de</strong>nen etliche erst nach seinem To<strong>de</strong> gedruckt wur<strong>de</strong>n. Er erlebte<br />

aber noch, welche positive Aufnahme manche von ihnen fan<strong>de</strong>n. "Staatlichkeit und Anarchie" wur<strong>de</strong> in<br />

hoher Auflage nach Rußland geschmuggelt und übte starken Einfluß auf die Narodniki* aus. Die<br />

"Antwort eines Internationalisten an<br />

206<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Mazzini" führte in Italien zu einer regelrechten Beitrittswelle in die Internationale. In Spanien kam es im<br />

Sommer 1873 zu einer Serie von Generalstreiks und Erhebungen, <strong>de</strong>ren Urheber die junge Sektion <strong>de</strong>r<br />

Internationale war.<br />

Bakunins Saat ging an vielen Orten auf, und die Bewegung hatte talentierten Nachwuchs hervorgebracht.<br />

Er hätte sich getrost auf das Landgut La Baronata zurückziehen können, das ihm ein junger Anhänger,<br />

Carlo Cafiero, zur Verfügung gestellt hatte. Eigentlich hatte er auch vor, nur noch zu schreiben und sich<br />

zu schonen, und er begann sogar, im Garten mit Obstkulturen zu experimentieren. Aber wie<strong>de</strong>r einmal<br />

zog ihn die Nachricht von einem geplanten Aufstand ins Ausland - zum letzten Mal.<br />

In Bologna war für <strong>de</strong>n Juli 1874 ein Aufstand vorbereitet, <strong>de</strong>r auf ganz Norditalien übergreifen sollte und


ei <strong>de</strong>m Republikaner, Mazzini-Anhänger und Anarchisten gemeinsame Sache machen wollten. Bakunin<br />

reiste in die Stadt, um sich <strong>de</strong>r Erhebung anzuschließen. Der politisch nicht einmal so abwegige Plan<br />

wur<strong>de</strong> allerdings schon im Vorfeld verraten und war, wie üblich, nur mangelhaft geplant. Die von<br />

mehreren Seiten anrücken<strong>de</strong>n Kolonnen wur<strong>de</strong>n nach kurzen Scharmützeln vom Militär zerstreut, und das<br />

Unternehmen daraufhin abgeblasen. Bakunin mußte fliehen - zu seiner großen Schmach in <strong>de</strong>r<br />

Verkleidung eines Priesters.<br />

Als ihm die Nachricht vom Zusammenbruch <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s überbracht wur<strong>de</strong>, wollte er sich eine Kugel<br />

in <strong>de</strong>n Kopf schießen, weil es ihm nicht vergönnt war, im revolutionären Tumult zu sterben. Es scheint,<br />

daß <strong>de</strong>r große alte Mann <strong>de</strong>r Revolte nur nach Bologna gefahren war, um dort <strong>de</strong>n Tod zu suchen. Der<br />

ereilte ihn in Form <strong>de</strong>r Wassersucht, die er sich Jahre zuvor im Kerker geholt hatte, am 1. Juli 1876 im<br />

Hospital eines befreun<strong>de</strong>ten Arztes in Bern.<br />

Philosophie <strong>de</strong>r Dynamik<br />

"Bakunin", so sagte sein Freund Herzen einmal, "hielt <strong>de</strong>n ersten Monat <strong>de</strong>r Schwangerschaft für <strong>de</strong>n<br />

neunten". Diese Anspielung trifft ziemlich genau das, was ihm immer wie<strong>de</strong>r vorgehalten wur<strong>de</strong>: seine<br />

revolutionäre Ungeduld‹. Bei Bakunin mußte immer alles heute, hier und sofort geschehen. Es läge nahe<br />

zu vermuten, daß auch seine anarchistische Philosophie die Handschrift eines Hau-Ruck-Revolutionärs<br />

trüge. Das stimmt aber nur bedingt. Es erstaunt zu sehen, daß Bakunin offenbar differenzierter dachte als<br />

er han<strong>de</strong>lte. Verän<strong>de</strong>rung sieht auch er als einen komplexen Prozeß, in <strong>de</strong>m sich Evolution und<br />

Revolution ablösen: "Wir fallen in die Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Evolution zurück, das heißt in die <strong>de</strong>r unterirdischen,<br />

unsichtbaren und oft selbst unfühlbaren Revolution", schrieb er 1875 an "einen Freund Elisée Reclus.<br />

Warum aber ist er dann so atemlos herumgewirbelt, pausenlos bemüht, <strong>de</strong>n revolutionären Umsturz<br />

herbeizuführen?<br />

Bakunins Philosophie ist eine Philosophie <strong>de</strong>r Dynamik. In sie setzte er ein fast unbegrenztes Vertrauen.<br />

Ihm war klar, daß alles schöne Re<strong>de</strong>n, Schreiben und Denken — die "Philisterei", wie er es nannte —,<br />

solange nichts konkret än<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong>, wie das gegenwärtige<br />

207<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

System nicht erschüttert und zu Fall gebracht wäre. Das könne nur durch Taten geschehen. Und solche<br />

Taten wür<strong>de</strong>n, sofern sie von unterdrückten Menschen getragen wären, sich schon irgendwie in Richtung<br />

Freiheit entwickeln. Deshalb war Bakunin bei <strong>de</strong>r Auswahl <strong>de</strong>r sozialen Bewegungen, <strong>de</strong>nen er sich<br />

anschloß, nie sehr wählerisch. Entschei<strong>de</strong>nd schien ihm einzig die Aussicht auf Dynamik, die einen<br />

Prozeß in Gang setzen könnte, fähig, die gegenwärtige Ordnung zu ›zerstören‹. Erst dann könne wirklich<br />

Neues entstehen. Daß dies dann auch geschehen wür<strong>de</strong>, davon war Bakunin in einem zwar sympathischen<br />

aber auch blin<strong>de</strong>n Optimismus felsenfest überzeugt.<br />

Plausibel machen konnte er diesen Glauben an die ›spontane Schöpfungskraft <strong>de</strong>r Massen‹ zeitlebens<br />

nicht — we<strong>de</strong>r praktisch noch theoretisch. Man darf ihm vorhalten, daß er das Problem <strong>de</strong>s Heranreifens<br />

einer revolutionären Situation - also das diffizile Wechselspiel zwischen <strong>de</strong>r Möglichkeit eines<br />

Umsturzes, <strong>de</strong>m Wunsch <strong>de</strong>r Menschen nach einer radikalen Verän<strong>de</strong>rung und ihrer tatsächlichen<br />

kreativen Fähigkeit zu einer Erneuerung - zu leicht genommen hat. Aber solch ein Vorwurf wäre aus<br />

heutiger Sicht ziemlich selbstgerecht. Erstens, weil die Bewegung noch arm an praktischer Erfahrung war.<br />

Es sollte noch fünfundzwanzig Jahre dauern, bis dieses Problem eine theoretisch wie praktisch<br />

befriedigen<strong>de</strong> Lösung fand, die jedoch ohne die Grundlagen, die Bakunin legte, kaum möglich gewesen<br />

wäre. Zweitens, weil <strong>de</strong>r Gedanke, <strong>de</strong>n han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Menschen und <strong>de</strong>r Kraft ihrer Dynamik überhaupt<br />

einen Wert einzuräumen, neu und von großer Wichtigkeit war.<br />

Alle vorherigen Libertären — mit Ausnahme Stirners, <strong>de</strong>r sich dafür sowieso nicht interessierte — hatten


eher versucht, Baupläne eines künftigen Paradieses zu erstellen. Die I<strong>de</strong>e, daß die Revolution selbst<br />

ungeahnte kreative Kräfte freisetzen könnte, daß ganz einfache Menschen, die we<strong>de</strong>r etwas von<br />

Philosophie, Ökonomie noch Politik verstün<strong>de</strong>n, die Schöpfer <strong>de</strong>r neuen Ordnung sein sollten, diese I<strong>de</strong>e<br />

ist neu, und es war Bakunin, <strong>de</strong>r sie lautstark und polternd eingeführt hat. Eine solche These ist ja nun<br />

we<strong>de</strong>r ›falsch‹ noch ›richtig‹, son<strong>de</strong>rn ein Teil <strong>de</strong>r komplexen Faktoren, nach <strong>de</strong>nen soziale<br />

Umwälzungen ablaufen. Möglich, daß Bakunin zu einseitig darauf herumgeritten ist und von ihr wahre<br />

Wun<strong>de</strong>r erwartete, aber seither ist "die Spontaneität <strong>de</strong>r Massen" je<strong>de</strong>nfalls ein fester Bestandteil<br />

anarchistischer Szenarien. Sie ist ein äußerst wirksames Gegengift gegen alle Arten ehrgeiziger<br />

Beglückungstheoretiker, von <strong>de</strong>nen Bakunin mit Recht fürchtet, daß sie nach <strong>de</strong>r Revolution die ersten<br />

sein wür<strong>de</strong>n, eine neue Herrschaft zu begrün<strong>de</strong>n — und sei es, im Namen <strong>de</strong>r Freiheit, <strong>de</strong>s Fortschritts<br />

o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Vernunft. "Nehmt <strong>de</strong>n radikalsten Revolutionär und setzt ihn auf <strong>de</strong>n Thron aller Reussen",<br />

schreibt Bakunin, "und nach einem Jahr wird er schlimmer als <strong>de</strong>r Zar gewor<strong>de</strong>n sein". Sein Fazit: eine<br />

Gesellschaft ohne Thron.<br />

In diesem Zusammenhang erscheint auch Bakunins ›Zerstörungswahn‹ in einem an<strong>de</strong>ren Licht. Man hat<br />

ihm vorgeworfen, ein ›Kaputtschlag-Revolutionär‹ zu sein. Dabei geht es ihm, wenn er von "zerstören"<br />

spricht, um ein radikales En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r gegenwärtigen sozialen Werte. Er wolle, so sagt er, keinen Krieg gegen<br />

Menschen, son<strong>de</strong>rn gegen "Positionen und Dinge", die er auch konkret benennt: Grenzen, Heere, Pässe,<br />

Zölle, Erbrecht - das sind für ihn rote Tücher. Seine Gegner heißen Staat, Kapital und Kirche. Man dürfe<br />

diese Dinge<br />

208<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

nicht in eine neue Ordnung einbauen, da sie <strong>de</strong>n Keim <strong>de</strong>r alten Ordnung in sich trügen. Erst wenn sie<br />

überwun<strong>de</strong>n seien, aus <strong>de</strong>m "Amorphismus" also, könne wirklich Neues entstehen. Daher wäre es<br />

gera<strong>de</strong>zu ein "Verbrechen", schon heute genaue Pläne für die künftige Gesellschaft zu erstellen.<br />

Skizzen einer freien Gesellschaft<br />

An<strong>de</strong>rerseits war es auch Bakunin völlig klar, daß eine Revolution ohne Zielvorstellungen ebenso<br />

"verbrecherisch" wäre. Im Gegensatz zu seinem Image ist seine Philosophie nämlich stellenweise<br />

ausgesprochen konstruktiv. Der Unterschied zu an<strong>de</strong>ren Theoretikern liegt vor allem darin, daß er bewußt<br />

vieles offen läßt und damit Spielraum für Möglichkeiten bietet, die heute noch gar nicht vorstellbar sind:<br />

Raum für Spontaneität.<br />

Für Bakunin heißt das Ziel einer neuen Gesellschaft "Freiheit". Die sollte absolut für alle mündigen<br />

Menschen gelten und frei von Dogmen sein. Je<strong>de</strong> Art "sozialistischer Religion" lehnt er ab. Für ihn ist es<br />

übrigens schon selbstverständlich, daß die Frau, <strong>de</strong>ren beson<strong>de</strong>re Qualitäten er immer wie<strong>de</strong>r hervorhebt,<br />

die gleichen Rechte haben müsse wie <strong>de</strong>r Mann. Freiheit be<strong>de</strong>ute das Recht auf autonomes Han<strong>de</strong>ln.<br />

Verantwortlich sei das autonome Individuum dabei zunächst gegenüber sich selbst, das heißt, seinem<br />

Gewissen und seiner Vernunft, und dann gegenüber <strong>de</strong>r Gesellschaft - aber nur in <strong>de</strong>m Maße, wie es ihr<br />

freiwillig angehört. Geschickt verknüpft Bakunin individuelles Glück mit gesellschaftlicher Freiheit: Man<br />

könne nur dann wirklich frei sein, wenn auch die Menschen drumherum die gleiche Freiheit genießen<br />

könnten. Das soziale Umfeld wird hiermit zur Voraussetzung persönlicher Freiheiten, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r einzelne<br />

Mensch alleine in <strong>de</strong>r Natur ist alles an<strong>de</strong>re als frei. Bakunin zweifelt nicht daran, daß <strong>de</strong>r Mensch ein<br />

soziales Wesen ist und in <strong>de</strong>r Regel stets dazu tendiert, das Leben in Gesellschaft vorzuziehen. In <strong>de</strong>r<br />

Anarchie allerdings hätte er zu einer wirklichen Wahl erstmals die Gelegenheit, <strong>de</strong>nn hier gäbe es<br />

verschie<strong>de</strong>ne Alternativen. Bakunin spricht von "autonomen Gemein<strong>de</strong>n", die sich auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r<br />

"Provinz" in "freiwilliger Fö<strong>de</strong>ration" zusammenschließen können. Je<strong>de</strong> Administration, Struktur und<br />

Entscheidungsfindung müsse dabei "von unten nach oben, von <strong>de</strong>r Peripherie zum Zentrum" erfolgen.<br />

Freiheit aber bliebe ohne wirtschaftliche Gerechtigkeit ein leeres Wort. Daher will Bakunin "Gleichheit" –<br />

nicht <strong>de</strong>r Menschen, son<strong>de</strong>rn ihrer Chancen und Rechte. Klassen, Rangordnungen und Privilegien<br />

gehörten abgeschafft. Ausgehend von Proudhon for<strong>de</strong>rt er, daß <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n Eigentum aller sein solle, aber


im Besitz <strong>de</strong>rjenigen bliebe, die ihn bearbeiten. Bis hin zur Erziehung und <strong>de</strong>m Umgang mit Straftätern<br />

macht sich <strong>de</strong>r angebliche Feind aller Pläne so seine Gedanken. Allerdings will er sie nur als Vorschläge<br />

verstan<strong>de</strong>n wissen. Entschei<strong>de</strong>n wird, da macht er keine Abstriche, in je<strong>de</strong>m Fall "das Volk".<br />

Die anarchistische Gesellschaft Bakuninscher Prägung beruht nicht nur auf <strong>de</strong>r Gleichheit <strong>de</strong>r Rechte,<br />

son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>r Pflichten. Obwohl das Individuum sich frei und lustvoll entfalten können soll, läßt<br />

Bakunin keinen Zweifel daran, daß für ihn die gesellschaftliche Gruppe die Basis <strong>de</strong>s sozialen Lebens ist.<br />

Nur in <strong>de</strong>r Gesellschaft wer<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Mensch zum<br />

209<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Menschen. Das "Kollektiv" ist Garant <strong>de</strong>r Freiheiten und Rechte eines je<strong>de</strong>n, hat aber auch eigene Rechte.<br />

Also müsse auch je<strong>de</strong>r Mensch, <strong>de</strong>r sich einer Gesellschaft anschließt, dieser seiner Gesellschaft dienen.<br />

Nur in <strong>de</strong>m Maße könne er von ihr eine Gegenleistung erwarten. Alle erwachsenen und gesun<strong>de</strong>n<br />

Menschen sollten zur Arbeit angehalten wer<strong>de</strong>n, und nur gemäß ihren Leistungen hätten sie Anspruch auf<br />

die Früchte <strong>de</strong>r Arbeit. Das Recht einer Gesellschaft, sich durch Ausschluß vor "Parasiten" zu schützen,<br />

wird ausdrücklich erwähnt. All das erinnert stark an die sozial-juristische Rechtfertigung gewöhnlicher<br />

Staaten in ihrem Anspruch auf Loyalität. Es klingt, etwas überspitzt interpretiert, nach <strong>de</strong>m recht<br />

unanarchistischen Satz "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen". So ist es aber nicht zu verstehen, <strong>de</strong>nn<br />

bei aller Ähnlichkeit gibt es zwei entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Unterschie<strong>de</strong>. Zum einen muß dieser Standpunkt als eine<br />

nur zu verständliche Reaktion auf die parasitäre Lebensweise <strong>de</strong>s A<strong>de</strong>ls und <strong>de</strong>s Bürgertums verstan<strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong>n, die ohne entsprechen<strong>de</strong> Leistung auf Kosten <strong>de</strong>r Ärmsten in exuberantem* Überfluß lebten. Zum<br />

an<strong>de</strong>ren stand dahinter die Überzeugung, daß eine Gesellschaft nur dann ausreichend Waren und<br />

Lebensmittel produzieren könne, wenn alle Menschen fleißig zupackten. Das "Recht auf Faulheit" wird<br />

nicht <strong>de</strong>shalb verwehrt, weil es unmoralisch wäre, son<strong>de</strong>rn weil Bakunin vermutet, daß sich die<br />

Gesellschaft dieses Recht einfach nicht leisten könne. Eine Sichtweise, für die man bei <strong>de</strong>m niedrigen<br />

Produktivitätsgrad und <strong>de</strong>r geringen technischen Entwicklung Mitte <strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rts Verständnis<br />

aufbringen muß.<br />

Diese Sichtweise einer anarchistischen Gesellschaft wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n libertären Theorie<strong>de</strong>batten späterer<br />

Jahre als "kollektivistischer Anarchismus" bekannt, und man stellte sie in Gegensatz zum<br />

"kommunistischen Anarchismus", <strong>de</strong>ssen Vertreter Peter Kropotkin war. Der allerdings konnte die<br />

Entwicklung <strong>de</strong>r Produktivität schon viel optimistischer einschätzen, <strong>de</strong>nn er war einige Jahrzehnte jünger<br />

und glaubte als Wissenschaftler außer<strong>de</strong>m an <strong>de</strong>n technischen Fortschritt. So proklamierte er guten<br />

Gewissens das Recht eines je<strong>de</strong>n Mitglieds <strong>de</strong>r Gesellschaft auf ein menschenwürdiges Auskommen,<br />

unabhängig von seiner Leistung.<br />

Es darf bezweifelt wer<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r Unterschied zwischen <strong>de</strong>n Mo<strong>de</strong>llen dieser bei<strong>de</strong>n Anarchisten so<br />

be<strong>de</strong>utend war, wie er oft dargestellt wird. Vielleicht hat die anarchistische Scholastik* hier ein wenig<br />

über die Stränge geschlagen und einen etwas künstlichen Gegensatz aufgebaut, <strong>de</strong>r lange Zeit für<br />

fruchtlose Spitzfindigkeiten sorgte. Je<strong>de</strong>nfalls kann man <strong>de</strong>m alten Bakunin kaum unterstellen, daß sein<br />

"kollektivistischer Anarchismus" die Vision einer Art Zwangsarbeiterkolonie war, wenn man Sätze wie<br />

die folgen<strong>de</strong>n liest, die er 1865 am Golf von Neapel schrieb:<br />

"Die Freiheit je<strong>de</strong>s mündigen Individuums, Mann o<strong>de</strong>r Frau, muß absolut und vollständig sein; Freiheit,<br />

zu gehen und zu kommen, laut je<strong>de</strong> Meinung auszusprechen, faul o<strong>de</strong>r fleißig, unmoralisch o<strong>de</strong>r<br />

moralisch zu sein, mit einem Wort: über die eigene Person und <strong>de</strong>n eigenen Besitz nach Belieben zu<br />

verfügen, ohne jeman<strong>de</strong>m Rechenschaft abzulegen: Freiheit, ehrlich zu leben durch eigene Arbeit o<strong>de</strong>r<br />

durch schimpfliche Ausbeutung <strong>de</strong>r Wohltätigkeit o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s privaten Vertrauens, sobald bei<strong>de</strong> freiwillig<br />

sind und nur von<br />

210


--------------------------------------------------------------------------------<br />

Erwachsenen gespen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. (...) Die Freiheit kann und soll sich nur durch die Freiheit verteidigen,<br />

und es ist ein gefährlicher Wi<strong>de</strong>rsinn, sie zu beeinträchtigen unter <strong>de</strong>m durch <strong>de</strong>n Schein blen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Vorwand, sie zu beschützen."<br />

Literatur<br />

/ Michail Bakunin: Gesammelte Werke (3 B<strong>de</strong>) Berlin 1975 (1923), Karin Kramer, 311, 285 u. 278 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.; Staatlichkeit und Anarchie u.a. Schriften (Hrsg. u. eingeleitet v. <strong>Horst</strong> Stuke) Frankfurt, Berlin,<br />

Wien 1972, Ullstein, 885 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Gott und <strong>de</strong>r Staat u.a. Schriften (Hrsg. v. Susanne Hillmann) Reinbek 1969, Rowohlt, 24; S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Philosophie <strong>de</strong>r Tat (Textsammlung, Hrsg. v. Rainer Beer) Köln 1968, Hegner, 382 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Sozialpolitischer Briefwechsel Berlin 1977, Kann Kramer, 489 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs: Schriften gegen Marx (Textsammlung) Hannover 1981, Die Freie Gesellschaft, 82 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Freiheit und Sozialismus (3 Aufsätze) Berlin 1978, Libertad, 28 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Die Reaktion in Deutschland Hamburg 1984, Naualus/Nemo, 64 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Die vollständige Ausbildung Köln 1976, Heinzelpress, 25 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Die Berner Bären und <strong>de</strong>r Bär von Petersburg Zürich 1970, Die Arche, 55 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Revolutionärer Katechismus Osnabrück o.J. (197.1?), Autonomes Jugendzentrum, 20 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: "Gewalt für <strong>de</strong>n Körper, Verrat für die Seele" - ein Brief an Sergej Netschajew Berlin 1980, Karin<br />

Kramer, 126 S., ill. (darin enthalten: Sergej Netschajew[?]: Prinzipien <strong>de</strong>r Revolution)<br />

/ Justus Franz Wittkop: Bakunin Reinbek 1974, Rowohlt, (rororo Bildmonographie), 147 S., ill.<br />

/ Fritz Brupbacher: Bakunin, <strong>de</strong>r Satan <strong>de</strong>r Revolte Berlin 1979, Libertad, 111 S.<br />

/ Arthur Lehning (Hrsg.): Unterhaltungen mit Bakunin Nördlingen 1987, Greno, 451 S., ill.<br />

/ Josef Pfitzner: Bakunin-Studien Berlin 1977, Karin Kramer, 244 S.<br />

/ Ricarda Huch: Michael Bakunin und die Anarchie Frankfurt/M. 1972, Suhrkamp, 259 S.<br />

/ Riccardo Bacchelli: Der Teufel auf <strong>de</strong>m Pontelungho Zürich 1972, Manesse, 542 S.<br />

/ <strong>Horst</strong> Bienek: Bakunin, eine Invention München 1970, Hanser, 93 S.<br />

/ Herbert Wehner: Bakunin führt zum Sieg! Frankfurt/M. 1970 (1923/24), Freie Gesellschaft, 16 S.<br />

211<br />

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Kapitel 25<br />

Ein folgenschwerer Streit:<br />

die Spaltung <strong>de</strong>r Ersten Internationale<br />

Wie aber sollte eine egalitäre und freie Gesellschaft aus einer<br />

autoritären Organisation hervorgehen? Das ist unmöglich.<br />

- Zirkular <strong>de</strong>r Jura-Fö<strong>de</strong>ration -<br />

ES IST OFFENSICHTLICH, daß bis heute eine Befreiung <strong>de</strong>r Menschheit nicht stattgefun<strong>de</strong>n hat. Die<br />

vielen erheben<strong>de</strong>n Theorien sozialen Lebens blieben letztendlich Luftschlösser. Die libertären Versuche<br />

wur<strong>de</strong>n zerschlagen, die autoritären gingen an sich selbst zugrun<strong>de</strong>. Dabei hätten gera<strong>de</strong> sie die<br />

Gelegenheit gehabt, sich zu entwickeln, <strong>de</strong>nn immerhin genossen sie – etwa in Rußland – siebzig Jahre<br />

lang genügend Unabhängigkeit zu ihrer freien Entfaltung. Sie scheiterten nicht, weil sie von Fein<strong>de</strong>n<br />

bedroht wor<strong>de</strong>n wären, son<strong>de</strong>rn – eben – weil sie durch und durch autoritär waren. Im Kommunismus<br />

sowjetischer Prägung gab es keine Freiheit, und die Menschen hatten nichts zu mel<strong>de</strong>n. "Sozialismus" war<br />

reduziert auf Phrasen, Gleichmacherei und täglichen Mangel. Der Nie<strong>de</strong>rgang dieses Systems kam<br />

schleichend, grau und unspektakulär: die Menschen machten nicht mehr mit, das schwindsüchtige<br />

Phantom brach zusammen.


Heute sind viele Menschen geneigt, darin <strong>de</strong>n Beweis zu sehen, daß soziale Utopien Spinnerei sind.<br />

"Sozialismus" ist ein gebrandmarktes Wort mit <strong>de</strong>m Geschmack von vorgestern. Dabei sind die Probleme<br />

<strong>de</strong>r Menschheit nach wie vor ungelöst. Sie haben sich,<br />

211<br />

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global gesehen, sogar dramatisch verschärft. Zwar geht es heute kaum mehr um die "Emanzipation <strong>de</strong>r<br />

Arbeiterklasse", son<strong>de</strong>rn um das Überleben auf diesem Planeten, soziale Utopien jedoch sind, obwohl<br />

<strong>de</strong>rzeit außer Mo<strong>de</strong>, nötiger <strong>de</strong>nn je.<br />

Diese Hypothek, die so schwer auf <strong>de</strong>m Traum einer freien und gerechten Gesellschaft lastet, geht<br />

ein<strong>de</strong>utig auf das Konto <strong>de</strong>s autoritären Kommunismus. Es gibt einen direkten Weg von Marx zu Lenin,<br />

Stalin und Pol Pot*. So wur<strong>de</strong> die Geschichte <strong>de</strong>s Sozialismus zu einer Geschichte <strong>de</strong>r vertanen Chancen.<br />

Eine solche Tragik <strong>de</strong>s Versagens verlangt gera<strong>de</strong>zu nach <strong>de</strong>r Frage, was hätte sein können! Am Anfang<br />

war doch alles so schön klar und einfach: Die I<strong>de</strong>ale. Das Ziel. Die Utopien. Das unsägliche Elend. Die<br />

Menschen, die all das wollten: frei sein und menschenwürdig leben. Die Kraft, die daraus erwuchs.<br />

Warum wur<strong>de</strong> aus schönen Visionen eine abscheuliche Wirklichkeit? Wie hat das alles angefangen?<br />

Hätte es nicht auch an<strong>de</strong>rs kommen können?<br />

Diese Fragen führen uns zurück zu <strong>de</strong>n Wurzeln. Sie liegen in jenen Jahren, als die große Chance vertan<br />

wur<strong>de</strong>, eine gemeinsame Perspektive all jener Kräfte zu fin<strong>de</strong>n, die von <strong>de</strong>r Ellenbogengesellschaft die<br />

Nase voll hatten. Sie führt uns zurück zu jenem folgenschweren Streit, in <strong>de</strong>m sich die Erste<br />

Internationale zerzankte: <strong>de</strong>r Streit zwischen <strong>de</strong>n "Autoritären" und <strong>de</strong>n "Libertären". Ein Streit, bei <strong>de</strong>m<br />

die Weichen gestellt wur<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r all das vorwegnahm, was die Welt in <strong>de</strong>n nächsten hun<strong>de</strong>rt Jahren<br />

politisch in Atem halten sollte.<br />

"Die Arbeiter haben kein Vaterland"<br />

Die Internationale Arbeiter-Assoziation war 1864 angetreten, um Ordnung in <strong>de</strong>n sozialistischen Ursumpf<br />

zu bringen. Da gab es Arbeitervereine, Gewerkschaften, Parteien, Bün<strong>de</strong>, Theoriekreise, Schulen,<br />

Korrespon<strong>de</strong>nzclubs, Geheimzirkel, lose Gruppen, Kulturinitiativen, Konsum- und Sparvereine,<br />

Bru<strong>de</strong>rschaften von Wan<strong>de</strong>rgesellen und Turnerriegen. Es gab die großen Denker, Philosophen und<br />

Wissenschaftler - verstorbene wie leben<strong>de</strong> - mit ihrem jeweiligen Anhang: Fourier, Proudhon, Marx,<br />

Lasalle, Engels, Bakunin, Owen, Bebel, Herzen, Schulze-Delitzsch, Liebknecht, Baboeuf, Saint-Simon<br />

und wie sie alle hießen. Und die unübersehbare Masse verarmter ›Proletarier‹, die sich immer wie<strong>de</strong>r<br />

gegen ihr Elend erhoben: spontane Streiks, Sabotage, Revolten - meist gar nicht o<strong>de</strong>r nur lose organisiert,<br />

in isolierten Gruppen von kurzer Lebensdauer. Es lag auf <strong>de</strong>r Hand, diese Kräfte zu bün<strong>de</strong>ln und eine<br />

gemeinsame Linie zu fin<strong>de</strong>n - um sich zu wehren, und um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Dies mußte<br />

natürlich international geschehen. Nicht nur, weil lokale und nationale Aktionen ziemlich chancenlos<br />

gewesen wären - die Arbeiter verstan<strong>de</strong>n sich auch zunehmend als eine internationale Familie: "Wir<br />

Arbeiter haben kein Vaterland", hieß es damals.<br />

Das gemeinsame Ziel war in seinen groben Zügen nicht strittig: eine Gesellschaft mit sozialer<br />

Gerechtigkeit, ohne Klassen und Unterdrückung. Selbst über die Rolle <strong>de</strong>s Staates war man sich,<br />

zumin<strong>de</strong>st theoretisch, im Groben einig: er sollte verschwin<strong>de</strong>n und durch etwas Besseres ersetzt wer<strong>de</strong>n.<br />

Paktieren mit <strong>de</strong>m Staat und seinen Institutionen war<br />

212<br />

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verpönt. Es war eine Zeit, in <strong>de</strong>r noch kaum zwischen Sozial<strong>de</strong>mokraten, Kommunisten, Anarchisten,<br />

Fö<strong>de</strong>ralisten, Demokraten, Republikanern, Mutualisten unterschie<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>. Die Worte waren zwar<br />

schon in Gebrauch, aber sie trennten nicht. Unterm Strich waren alle schlicht "Sozialisten", und das<br />

genügte.<br />

Die wenigen Delegierten, die 1864 in London zusammenkamen, um die Internationale zu grün<strong>de</strong>n, waren<br />

britische Tra<strong>de</strong>-Unionisten und eine Gruppe französischer Sozialisten um Henry Tolain. In ihren ersten<br />

Jahren war die Organisation sehr stark von <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en Owens und Proudhons beeinflußt, was sich in ihrer<br />

Struktur nie<strong>de</strong>rschlug: Die einzelnen Sektionen genossen eine starke Autonomie, ihr Zusammenhalt war<br />

fö<strong>de</strong>ralistisch organisiert; <strong>de</strong>r Schwerpunkt lag auf sozialen Kämpfen, nicht auf <strong>de</strong>r politischen Eroberung<br />

<strong>de</strong>r Macht. Die Leitung <strong>de</strong>r Internationale sollte kein Zentralapparat mit diktatorischer Vollmacht sein,<br />

son<strong>de</strong>rn eher ein Korrespon<strong>de</strong>nz- und Verbindungssekretariat. Auf <strong>de</strong>n periodisch stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Kongressen war das Stimmrecht <strong>de</strong>r Delegierten entsprechend <strong>de</strong>r Größe ihrer Sektionen bemessen. Karl<br />

Marx, <strong>de</strong>r schon früher versucht hatte, ein Koordinationsbüro aufzuziehen, war von Anfang an dabei und<br />

übernahm rasch eine führen<strong>de</strong> Rolle. Er wur<strong>de</strong> Sekretär <strong>de</strong>s Generalrates <strong>de</strong>r Internationale, <strong>de</strong>ren Sitz in<br />

London lag. Die Organisation bekam rasch Zulauf. Überall wo die Industrialisierung vorangeschritten<br />

war, bil<strong>de</strong>ten sich Sektionen. So entstand in <strong>de</strong>n meisten europäischen und einigen amerikanischen<br />

Staaten ein organisatorischer Rahmen, in <strong>de</strong>m vereinzelte Aktionen zu einer gemeinsamen Praxis<br />

gebün<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>n.<br />

Schon früh knisterte im Gebälk <strong>de</strong>r Internationale eine unheilvolle Spannung: Immer wie<strong>de</strong>r entzün<strong>de</strong>te<br />

sich an taktischen Fragen <strong>de</strong>r Streit über <strong>de</strong>n richtigen Weg. Karl Marx und Friedrich Engels hatten die<br />

Organisation als Forum genutzt, um ihre Theorien eines "wissenschaftlichen Sozialismus" zu propagieren.<br />

Der lief auf einen sehr engen "Klassenstandpunkt" hinaus. Nur <strong>de</strong>r Proletarier sei, aufgrund <strong>de</strong>r inneren<br />

Logik historischer Gesetze, in <strong>de</strong>r Lage, eine Revolution zu machen. Dies sei nur mit Hilfe einer<br />

zentralen, proletarischen Partei möglich, die durch Wahlen die politische Macht erobern müsse.<br />

Starke, zentrale Massengewerkschaften hätten diesen Kampf durch Streiks und Aktionen zu unterstützen.<br />

Derartige Theorien fan<strong>de</strong>n vor allem in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen und österreichischen Sozial<strong>de</strong>mokratie, teilweise<br />

auch in Großbritannien Anklang - Län<strong>de</strong>rn mit fortgeschrittener Industrialisierung und einer<br />

theoriegläubigen Arbeiterschaft, die sich gerne in <strong>de</strong>r Rolle einer historisch auserwählten Klasse sah.<br />

Diese Sektionen stellten in <strong>de</strong>r Internationale zwar die Min<strong>de</strong>rheit, aber Marx konnte seine Sichtweise,<br />

die er für einzig wahr und richtig hielt, von zentraler Stelle aus wirkungsvoll verbreiten. Die meisten<br />

an<strong>de</strong>ren Sektionen teilten diesen dogmatischen Standpunkt nicht. Viele suchten einen Mittelweg zwischen<br />

<strong>de</strong>n Marxisten und <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren großen Ten<strong>de</strong>nz innerhalb <strong>de</strong>r Organisation - <strong>de</strong>n Anhängern Proudhons<br />

und Bakunins. Diese Strömung sah in <strong>de</strong>r Internationale eher ein revolutionäres Werkzeug sozialer<br />

Kämpfe, <strong>de</strong>ren Form die Arbeiter selbst bestimmen sollten. Damit waren keineswegs nur ›E<strong>de</strong>lproletarier‹<br />

im Sinne von Marx gemeint, son<strong>de</strong>rn ebenso auch Bauern, Arbeitslose, Handwerker, verarmte und<br />

entwurzelte Schichten, die Marx verächt-<br />

213<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

lieh "Lumpenproletarier" nannte, und <strong>de</strong>nen er das ›richtige Bewußtsein‹ absprach. Politische Parteien<br />

lehnten die "Antiautoritären" ab. Statt<strong>de</strong>ssen befürworteten sie direkte Aktionen, vor allem <strong>de</strong>n<br />

revolutionären Generalstreik, mit <strong>de</strong>m Ziel einer sozialen Umwälzung. Für sie durfte die Internationale<br />

schon <strong>de</strong>shalb kein Zwangsapparat sein, weil in ihren Formen bereits ein Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r künftigen<br />

Gesellschaft vorweggenommen wer<strong>de</strong>n sollte. Ein sozialistischer Embryo sozusagen. Solche I<strong>de</strong>en fan<strong>de</strong>n<br />

überwiegend in <strong>de</strong>n romanischen Län<strong>de</strong>rn Anklang: in Spanien, Italien, Frankreich und <strong>de</strong>r Westschweiz;<br />

aber auch in Belgien und Holland, einigen slawischen Län<strong>de</strong>rn und <strong>de</strong>n USA hatten sie zahlreiche<br />

Anhänger.<br />

Frei o<strong>de</strong>r nicht frei, das ist hier die Frage<br />

Zu ersten Spannungen kam es, als Bakunin und einige seiner Anhänger 1868 <strong>de</strong>r Internationale beitraten,


wobei sie sie um eine Reihe aktiver Sektionen<br />

bereicherten. In naiver Unbefangenheit schrieb Bakunin seinem carissimo amico* Marx damals: "Mein<br />

Vaterland ist jetzt die Internationale, von <strong>de</strong>r Du einer <strong>de</strong>r wichtigsten Begrün<strong>de</strong>r bist. Du siehst also,<br />

mein lieber Freund, daß ich Dein Schüler bin und stolz bin, es zu sein." Die meisten Anarchisten in <strong>de</strong>r<br />

Internationale glaubten damals, daß innerhalb <strong>de</strong>r Organisation eine ›Einheit in Vielfalt‹ möglich und<br />

nötig wäre. Aber Marx war mißtrauisch. Er, <strong>de</strong>r schon zwei Jahrzehnte darunter gelitten hatte, im<br />

Schatten <strong>de</strong>s "Dillettanten Proudhon" zu stehen, ahnte, daß <strong>de</strong>r Einfluß <strong>de</strong>s legendären Revoluzzers seine<br />

Pläne stören könnte. Vertraulich schrieb er an Engels: "Dieser Russe will offenbar Diktator <strong>de</strong>r<br />

europäischen Arbeiterbewegung wer<strong>de</strong>n. Er soll sich in Acht nehmen. Sonst wird er offiziell<br />

exkommuniziert."<br />

Es ist nicht von Interesse, hier die Schlammschlacht nachzuzeichnen, die sich in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahren<br />

zwischen Marx und Bakunin entspann, <strong>de</strong>nn in diesem Konflikt geht es nicht um Personen, um gute o<strong>de</strong>r<br />

böse Charaktere. Die bei<strong>de</strong>n Kampfhähne interessieren hier nur als Stellvertreter für die zwei gänzlich<br />

unterschiedlichen Auffassungen <strong>de</strong>ssen, was "Sozialismus" ist.<br />

Der offene Streit begann 1869 auf <strong>de</strong>m Kongreß <strong>de</strong>r Internationale in Basel und entzün<strong>de</strong>te sich an <strong>de</strong>r<br />

eher nebensächlichen Frage <strong>de</strong>r Abschaffung <strong>de</strong>s Erbrechts, <strong>de</strong>m Bakunin zum Anlaß genommen hatte,<br />

nicht nur Marx' i<strong>de</strong>ologische und politische Position anzuzweifeln, son<strong>de</strong>rn auch die Funktion <strong>de</strong>s<br />

Londoner Generalrates zu kritisieren. Marx konnte nicht zulassen, daß ›seine‹ Internationale unter <strong>de</strong>n<br />

Einfluß <strong>de</strong>r "Bakunisten" geriet. Taktisch geschickt bestimmte er <strong>de</strong>n Zeitpunkt für <strong>de</strong>n Gegenschlag.<br />

1871 berief er eine "Geheimkonferenz" nach London ein, zu <strong>de</strong>r Bakunin und seine engeren Gefolgsleute<br />

nicht eingela<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n. Die antiautoritären Delegierten blieben in <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rzahl und konnten nicht<br />

verhin<strong>de</strong>rn, daß Beschlüsse gefaßt wur<strong>de</strong>n, die ein<strong>de</strong>utig im Wi<strong>de</strong>rspruch zu <strong>de</strong>n Statuten <strong>de</strong>r<br />

Internationale stan<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen es hieß, daß "die Emanzipation <strong>de</strong>r Arbeiter das Werk <strong>de</strong>r Arbeiter<br />

selbst" sein müsse: Die Autonomie <strong>de</strong>r Sektionen und Fö<strong>de</strong>rationen wur<strong>de</strong> aufgehoben, und <strong>de</strong>r<br />

Generalrat erhielt fast diktatorische Vollmachten.<br />

214<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Überdies machte diese sogenannte "Winkelkonferenz" allen Sektionen die Bildung politischer Parteien<br />

zur Pflicht. Marx hielt damit <strong>de</strong>n Einfluß Bakunins für gebrochen. Die Beschlüsse stießen jedoch fast<br />

überall auf Murren, und bei <strong>de</strong>n Libertären auf offenen Wi<strong>de</strong>rstand. "Dringend war nun geboten", schrieb<br />

James Guillaume, "die Internationale, die als umfassen<strong>de</strong> Fö<strong>de</strong>ration von Gruppierungen (...) organisiert<br />

wor<strong>de</strong>n war, nicht durch eine kleine Clique von marxistischen (...) Sektierern absorbieren zu lassen." Die<br />

Jura-Fö<strong>de</strong>ration lehnte die Londoner Beschlüsse ab und verschickte ein Zirkular, das von Spanien, Italien,<br />

Belgien, <strong>de</strong>n meisten Sektionen Frankreichs und <strong>de</strong>r USA inhaltlich gebilligt wur<strong>de</strong>. In ihm hieß es: "Die<br />

künftige Gesellschaft darf nichts an<strong>de</strong>res sein als die Universalisierung <strong>de</strong>r Organisation, die sich die<br />

Internationale gegeben haben wird. Wir müssen also dafür sorgen, diese Organisation unserem I<strong>de</strong>al so<br />

weit wie möglich anzunähern. Wie aber sollte eine egalitäre und freie Gesellschaft aus einer autoritären<br />

Organisation hervorgehen? Das ist unmöglich. Die Internationale, Embryo <strong>de</strong>r künftigen menschlichen<br />

Gesellschaft, ist gehalten, (...) je<strong>de</strong>s Prinzip, das nach Autorität und Diktatur strebt, aus ihrem Inneren<br />

auszuschließen."<br />

Das kam einer Kriegserklärung gleich. Im Herbst 1872 wur<strong>de</strong> die Generalversammlung einberufen - in<br />

einen möglichst nördlichen Ort, weit weg von <strong>de</strong>n aufmüpfigen Südlän<strong>de</strong>rn und unerreichbar für <strong>de</strong>n mit<br />

Haftbefehl gesuchten Bakunin. In Den Haag versammelten sich 62 Männer, von <strong>de</strong>nen lediglich 22 echte<br />

Delegierte waren, 40 hingegen ausgesuchte Anhänger von Marx mit zweifelhaften Mandaten, die im<br />

Grun<strong>de</strong> nur sich selbst vertraten. Mit diesen "aus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n gestampften Delegierten", wie Engels später<br />

zugab, kam eine kommo<strong>de</strong> Mehrheit zustan<strong>de</strong>, zumal <strong>de</strong>r Generalrat festgelegt hatte, nach Anwesen<strong>de</strong>n<br />

abzustimmen und nicht nach <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>rstärke <strong>de</strong>r Sektionen. So konnte die von Marx gewünschte<br />

"Exkommunizierung" glatt über die Bühne gehen: Bakunin und Guillaume wur<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>r Internationale<br />

ausgeschlossen - mit einer ehrenrührigen Begründung, in <strong>de</strong>r kein politisches Argument genannt wur<strong>de</strong>:<br />

Bakunin sei <strong>de</strong>r Betrügerei, <strong>de</strong>r Erpressung und <strong>de</strong>r Konspiration überführt und Guillaume sein Komplize.


Der gelassene Kommentar <strong>de</strong>s alten Revolutionärs: "Das Damokles-Schwert, mit <strong>de</strong>m sie uns so lange<br />

bedroht haben, ist endlich auf unsere Häupter herabgefallen. Genaugenommen ist es gar kein Schwert,<br />

son<strong>de</strong>rn die übliche Waffe <strong>de</strong>s Herrn Marx: ein Kübel Dreck."<br />

Was nach einem Sieg für Marx aussah, war in Wirklichkeit das En<strong>de</strong> einer großen Chance. Die Einheit<br />

einer jungen, hoffnungsvollen Bewegung war <strong>de</strong>n kleinlichen Ambitionen eines intoleranten Theoretikers<br />

geopfert wor<strong>de</strong>n. Die Anarchisten organisierten sich nur eine Woche später auf <strong>de</strong>m Kongreß von St.<br />

Imier in einer eigenen Internationale, die, mit einigen Unterbrechungen, bis heute besteht und ihre<br />

Blütezeit zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Weltkriegen erlebte. Marx verlegte <strong>de</strong>n Sitz ›seines‹ Generalrates nach<br />

New York, wo die Organisation jedoch rasch zur Be<strong>de</strong>utungslosigkeit verkam. In Europa schwand ihr<br />

Einfluß, und die zuvor gegrün<strong>de</strong>ten Parteien entfalteten nunmehr in je<strong>de</strong>m Land ein von Wahlzielen<br />

bestimmtes Eigenleben. 1876 löste sich die Marxsche Rest-Internationale in Phila<strong>de</strong>lphia selbst auf.<br />

215<br />

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Parabel <strong>de</strong>r vertanen Chancen<br />

Die Be<strong>de</strong>utung dieser Spaltung als ein Lehrstück für das Scheitern <strong>de</strong>s Sozialismus im Zwanzigsten<br />

Jahrhun<strong>de</strong>n läßt sich an <strong>de</strong>r weiteren Geschichte jener "Internationalen" ablesen, die <strong>de</strong>r Ersten<br />

nachfolgten. Sie symbolisieren auf unterschiedlichste Weise, wie die Saat <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Hauptelemente <strong>de</strong>s<br />

Marxismus aufging: reformistische Sozial<strong>de</strong>mokratie und autoritärer Kommunismus. 1889 regten<br />

<strong>de</strong>utsche Sozial<strong>de</strong>mokraten die Zweite Internationale an, die in Paris gegrün<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong> und im Ersten<br />

Weltkrieg auseinan<strong>de</strong>rbrach, weil die staatsfixierten Sozial<strong>de</strong>mokraten trotz ihres theoretischen<br />

Internationalismus die Arbeiter ins große Völkermor<strong>de</strong>n schickten. Sie wur<strong>de</strong> 1923 in Brüssel reanimiert*<br />

und ging 1940, im nächsten Weltkrieg, erneut unter. In Frankfurt wur<strong>de</strong> 1951 die kreuzbrave und<br />

lammfromme Sozialistische Internationale gegrün<strong>de</strong>t. Sie gilt als reformistische Fortsetzung <strong>de</strong>r Ersten<br />

und Zweiten Internationale und dient heute überwiegend als Forum zur Selbstdarstellung<br />

sozial<strong>de</strong>mokratischer Staatschefs. 1919 spalteten sich die Kommunisten von <strong>de</strong>n Sozial<strong>de</strong>mokraten ab,<br />

die sich gleichermaßen auf Marx beriefen, und grün<strong>de</strong>ten die Dritte Internationale, kurz Komintern<br />

genannt - ein Zwangsapparat aller kommunistischen Parteien unter <strong>de</strong>r Regie Moskaus. 1945 aus<br />

taktischen Grün<strong>de</strong>n aufgelöst, 1947 in Belgrad als Kominform wie<strong>de</strong>rerweckt, diente sie Stalin als<br />

i<strong>de</strong>ologische Glaubenskirche zur Kontrolle <strong>de</strong>r sowjetischen Satellitenstaaten. Nach<strong>de</strong>m sich Tito in<br />

Jugoslawien gegen Stalins Diktat aufgelehnt hatte, verlegte sie ihren Sitz 1948 nach Bukarest, wo sie<br />

1956 aufgelöst wur<strong>de</strong>. Ein prominentes Opfer <strong>de</strong>r brutalen Bru<strong>de</strong>rkämpfe unter kommunistischen<br />

Diktatoren, Leo Trotzki, grün<strong>de</strong>te im mexikanischen Exil, kurz bevor ihn dort sein rivalisieren<strong>de</strong>r<br />

Genosse Stalin ermor<strong>de</strong>n ließ, die Vierte Internationale, die als Sammelbecken für kommunistische<br />

Dissi<strong>de</strong>nten aber ohne Be<strong>de</strong>utung blieb.<br />

Es fällt schwer, angesichts dieses abstoßen<strong>de</strong>n Trauerspiels, in all <strong>de</strong>m keine Parabel* zu erkennen. Nur<br />

mit Zorn kann man heute an die vertanen Chancen zurück<strong>de</strong>nken, die im Schoß <strong>de</strong>r Ersten Internationale<br />

schlummerten. Die Intrigen, die Marx dort gegen seine Gegner inszenierte, waren nur ein matter<br />

Vorgeschmack auf das, was seine A<strong>de</strong>pten* in <strong>de</strong>n nächsten hun<strong>de</strong>rt Jahren bis zur Perfektion<br />

weiterentwickelten: Parteidiktatur, Schauprozesse, Meinungsterror, inszenierte Massenkundgebungen,<br />

Denunziantentum, Geheimdiplomatie, Wahlfälschungen, Säuberungen, Kriege, Bespitzelung — die ganze<br />

perfi<strong>de</strong> Welt von GULAG* bis STASI*. Sie steht für die Lebenslüge einer I<strong>de</strong>ologie <strong>de</strong>r<br />

Zwangsbeglückung, die die Menschen, die sie zu beglücken vorgab, nie ernst genommen hat.<br />

Angesichts unserer geschichtlichen Erfahrungen, müssen uns heute die Worte, die Bakunin im Jahr seines<br />

Ausschlusses aus <strong>de</strong>r Internationale schrieb, wie die Worte eines Rufers in <strong>de</strong>r Wüste erscheinen:<br />

"Der ganze Unterschied zwischen revolutionärer Diktatur und Staatlichkeit besteht nur in <strong>de</strong>n äußeren<br />

Umstän<strong>de</strong>n. Faktisch be<strong>de</strong>uten sie das gleiche: die Verwaltung einer Mehrheit durch eine Min<strong>de</strong>rheit im<br />

Namen <strong>de</strong>r angeblichen Dummheit ersterer und <strong>de</strong>r angeblichen Weisheit letzterer. Deshalb sind sie auch<br />

gleich reaktionär und


216<br />

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haben, die eine wie die an<strong>de</strong>re, als unmittelbares und notwendiges Ergebnis die Sicherung politischer und<br />

ökonomischer Privilegien für die herrschen<strong>de</strong> Min<strong>de</strong>rheit und die politische und wirtschaftliche<br />

Verskla<strong>vu</strong>ng <strong>de</strong>r Volksmassen."<br />

Literatur:<br />

/ Pierre Ramus, Hector Zoccoli: Die Erste Internationale 1864 (Textsammlung) Berlin 1979, Libertad, 44<br />

S.<br />

/ Henryk Grossmann, Carl Grünberg: Die Internationalen in: dieselben: Anarchismus, Bolschewismus,<br />

Sozialismus Frankfurt/M. 1971, Europäische Verlagsanstalt, 540 S.<br />

/ N.N.: Die IAA - Geschichte <strong>de</strong>r Internationalen Arbeiter-Assoziation Berlin 1980, Libertad, 48 S.<br />

/ Fritz Brupbacher: Marx und Bakunin - Ein Beitrag zur Geschichte <strong>de</strong>r Internationalen Arbeiter-<br />

Assoziation Berlin 1976, Karin Kramer, 228 S.<br />

Kapitel 26<br />

"Vive la Commune!"<br />

Schön wäre die Natur, wäre <strong>de</strong>r Mensch nicht Sklave <strong>de</strong>s Menschen.<br />

- Louise Michel -<br />

JAHRZEHNTELANG HATTEN DIE SOZIALISTEN ALLER COULEUR auf eine Gelegenheit<br />

gewartet, wo sich ihre I<strong>de</strong>en in großem Maßstab wür<strong>de</strong>n verwirklichen und bewähren können. Wann und<br />

wie und warum dieser herbeigesehnte Moment kommen wür<strong>de</strong>, darüber gab es dutzendweise Theorien.<br />

Als es am 18. März 1871 plötzlich soweit war, waren alle Theoretiker ebenso überrascht wie ratlos.<br />

In <strong>de</strong>r Nacht <strong>de</strong>s 17. März schickte die Regierung in Paris ihre Artilleristen los, um die Kanonen wie<strong>de</strong>r in<br />

ihre Gewalt zu bringen, die sich auf <strong>de</strong>m Montmartre in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Nationalgar<strong>de</strong> befan<strong>de</strong>n. Diese<br />

Reservetruppe, eine Art Miliz, bestand überwiegend aus Arbeitern und galt bei <strong>de</strong>r bürgerlichen<br />

Regierung als politisch unzuverlässig — mit Recht, wie sich bald herausstellen sollte. Seit acht Monaten<br />

tobte <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-französische Krieg, <strong>de</strong>r für Frankreich so gut wie verloren war. Bereits im September<br />

<strong>de</strong>s Vorjahres war <strong>de</strong>r Kaiser in Gefangenschaft geraten, und das Land zum dritten Male Republik<br />

gewor<strong>de</strong>n. Die bürgerliche Regierung glänzte durch Unfähigkeit und suchte ein rasches En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Krieges.<br />

Nicht aus Frie<strong>de</strong>nsliebe, son<strong>de</strong>rn weil sie <strong>de</strong>n sozialen Aufruhr fürchtete. Auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> herrschte zwar<br />

eine teilnahmslose Kriegsmüdigkeit, in <strong>de</strong>n Städten aber hatte sich sozialer Sprengstoff angesammelt. In<br />

seltener Einmütigkeit fürchteten die oppositionellen Intellektuellen und die Arbeiterschaft eine<br />

Unterwerfung Frankreichs durch das autoritäre Preußentum. Sie waren stinksauer auf die Regierung <strong>de</strong>r<br />

Republik und zum Wi<strong>de</strong>rstand entschlossen. Die Kühnsten unter ihnen verknüpften die politische<br />

Unzufrie<strong>de</strong>nheit mit <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Not zu einem Szenario für <strong>de</strong>n revolutionären Umsturz.<br />

Tatsächlich war in Lyon, Marseiile, Bor<strong>de</strong>aux, Le Creuzot und St. Etienne die Wut in Aufstän<strong>de</strong><br />

umgeschlagen: ›Revolutionäre Kommunen‹ wur<strong>de</strong>n proklamiert, aber rasch nie<strong>de</strong>r-<br />

217<br />

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geworfen. Die Libertären — wir erinnern uns an Bakunins Intermezzo in Lyon — hofften auf eine levée<br />

en masse*, aus <strong>de</strong>r eine ›Fö<strong>de</strong>ration Freier Kommunen‹ hervorgehen sollte, während Marx und Engels<br />

ganz ungeniert <strong>de</strong>n militärischen Sieg Preußens wünschten, weil damit die Vormacht <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />

Arbeiterbewegung - sprich: <strong>de</strong>s Marxismus - über die von Proudhon ›verdorbene‹ französische


Arbeiterschaft gefestigt wür<strong>de</strong>.<br />

Inzwischen war Paris von preußischen Truppen belagert, die Regierung hatte einen Waffenstillstand<br />

geschlossen, die Armee sollte die Waffen strecken. Zuvor aber mußten <strong>de</strong>r Nationalgar<strong>de</strong>, dieser<br />

unzufrie<strong>de</strong>nen und unzuverlässigen Volkstruppe, die Kanonen genommen wer<strong>de</strong>n. Denn davor hatte die<br />

Bourgeoisie allemal mehr Angst als vor <strong>de</strong>r preußischen Armee.<br />

Die Flucht <strong>de</strong>r Mächtigen<br />

Es war eine Gruppe von Arbeiterfrauen, die <strong>de</strong>n Anmarsch <strong>de</strong>r Truppen auf <strong>de</strong>n Montmartre bemerkte,<br />

und in allen Quartiers von Paris Alarm schlug. Wie ein Lauffeuer ging die Kun<strong>de</strong> durch die<br />

Arbeiterviertel, die nächtlichen Straßen füllten sich mit ärmlich geklei<strong>de</strong>ten Menschenmassen. Soldaten<br />

erschossen ihre eigenen Generäle, liefen über o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>sertierten. Die Kanonen aber blieben, wo sie waren.<br />

Während die reichen Bürger von Paris noch schlummerten, versammelten sich Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong> von<br />

Arbeitern vor <strong>de</strong>m Rathaus und for<strong>de</strong>rten La Commune!.<br />

Die Erhebung war spontan, einmütig und von nieman<strong>de</strong>m angezettelt. Angesichts <strong>de</strong>r Lage floh die<br />

Regierung, und unzählige Bourgeois folgten ihr mit Sack und Pack. Am Abend <strong>de</strong>s 18. März hatte die<br />

Stadt begriffen, daß sie frei war. Mit einer Mischung aus Erstaunen, Jubel und Beklemmung sah man die<br />

Chance, dieses Machtvakuum zu nutzen und das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Die einfachen<br />

Leute hatten die Mächtigen verjagt. Paris, die große Metropole, war faktisch in <strong>de</strong>r Hand <strong>de</strong>r<br />

Arbeiterschaft. Und diese war bewaffnet.<br />

Das war nun fast eine revolutionäre Situation wie aus <strong>de</strong>m Lehrbuch. Allerdings hatte man so etwas noch<br />

nie zuvor erlebt. Bei allem kämpferischen Elan <strong>de</strong>r unteren Schichten, bei allem Wunsch nach<br />

tiefgreifen<strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung und mutigem Neuanfang, regierte in <strong>de</strong>n siebzig Tagen, die die Commune<br />

standhielt, überwiegend die Unsicherheit. Zumin<strong>de</strong>st auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r politischen Macht. Halbherzig<br />

waren die Kompromisse, die unter <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Fraktionen zustan<strong>de</strong> kamen, zögerlich das<br />

Anpacken politischer Neuerungen und tastend das Suchen nach einer politischen Zukunft für das Mo<strong>de</strong>ll<br />

einer autonomen, freien Kommune, zu <strong>de</strong>r die größte Stadt <strong>de</strong>s europäischen Festlands über Nacht<br />

gewor<strong>de</strong>n war.<br />

Es fehlte nicht an Gruppierungen, die einen Weg zu kennen glaubten. Auch gab es Strukturen, die schon<br />

vor <strong>de</strong>m eigentlichen Aufstand bestan<strong>de</strong>n. Aber es fehlte an jeglicher Erfahrung im Umgang mit einer<br />

solch unerhört neuen Situation. Überdies war die äußere Situation, beson<strong>de</strong>rs die militärische,<br />

aussichtslos. Paris war von zwei Armeen umfaßt. Ein Sieg <strong>de</strong>r Waffen war von vornherein<br />

ausgeschlossen. So konnte die Commune lediglich<br />

218<br />

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versuchen, ihren Freiraum zu verteidigen, auf eine günstige Konstellation für die Zukunft hinzuwirken,<br />

und bestenfalls in ihrem Inneren mit <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung sozialer Experimente vollen<strong>de</strong>te Tatsachen zu<br />

schaffen.<br />

Die politischen Kräfte<br />

Die 'offiziellem' Träger <strong>de</strong>r Commune, die von nun an versuchten, die Geschicke <strong>de</strong>r Erhebung zu lenken,<br />

waren aus <strong>de</strong>n politischen Clubs <strong>de</strong>r Hauptstadt hervorgegangen, die seit drei Jahren wie<strong>de</strong>r erlaubt<br />

waren. Hier trafen sich Patrioten und Revolutionäre aller Schattierungen: junge Stu<strong>de</strong>nten mit einem stark<br />

emotionalen Hang zum Extremismus und altehrwürdige Deputierte <strong>de</strong>r Achtundvierziger Generation,<br />

Arbeiteraktivisten aus Syndikaten und Kooperativen, geistvolle Journalisten und Delegierte aus <strong>de</strong>n<br />

Stadtteilen, Milizionäre <strong>de</strong>r Nationalgar<strong>de</strong> und abgehalfterte Politiker <strong>de</strong>r dritten Wahl, die ihre Chance<br />

witterten. Auch politisch gesehen war das Spektrum durchaus bunt. Alle <strong>de</strong>nkbaren Sorten von


Republikanern, Sozialisten <strong>de</strong>r libertären und autoritären Richtung, Befürworter <strong>de</strong>r revolutionären<br />

Diktatur, Anhänger direkter Volksregierung und kommunaler Autonomie. Sie alle einte, mehr als alle<br />

Theorie, die Tatsache, daß sie gemeinsam in einer ebenso revolutionären wie verfahrenen Situation<br />

festsaßen. Sie zogen zwar die Republik <strong>de</strong>n Preußen und <strong>de</strong>r drohen<strong>de</strong>n Monarchie vor, aber viele wollten<br />

letztlich auch die Republik überwin<strong>de</strong>n. Sie alle verteidigten die Autonomie ihrer Stadt, aber die freie<br />

Kommune war für die einen eine Not, für die an<strong>de</strong>ren die Tugend, auf <strong>de</strong>r die neue Gesellschaft gegrün<strong>de</strong>t<br />

sein sollte. Einig waren sie sich zwar in ihrem Haß auf <strong>de</strong>n zentralistischen französischen Staat, aber die<br />

einen sahen nur das Versagen einer bestimmten Regierung, die an<strong>de</strong>ren lehnten das Regieren überhaupt<br />

ab.<br />

Dieses Gerangel um <strong>de</strong>n richtigen Weg spielte sich in <strong>de</strong>n neuen Einrichtungen ab, die sich die Commune<br />

selbst gegeben hatte. Schon im September <strong>de</strong>s Vorjahres waren angesichts <strong>de</strong>s Krieges und <strong>de</strong>r miserablen<br />

Regierungspolitik in fast allen Stadtteilen "Komitees <strong>de</strong>r republikanischen Wachsamkeit" gebil<strong>de</strong>t<br />

wor<strong>de</strong>n, die je vier Vertreter in einen gemeinsamen Zentralrat entsandten. Ihr Mißtrauen gegen die<br />

Regierung und ihr Wille zur Selbstverwaltung <strong>de</strong>r Riesenstadt äußerte sich in For<strong>de</strong>rungen nach<br />

Aufhebung <strong>de</strong>r zentral geleiteten Polizei, <strong>de</strong>r Wahl aller Behör<strong>de</strong>n einschließlich <strong>de</strong>r Sicherheitsorgane,<br />

<strong>de</strong>r kommunalen Erfassung und Rationierung aller Lebensmittel sowie nach Presse- und<br />

Versammlungsfreiheit. An<strong>de</strong>rerseits hatten die einzelnen Kompanien und Bataillone <strong>de</strong>r Nationalgar<strong>de</strong><br />

Delegierte in eine "Fédération <strong>de</strong> la Gar<strong>de</strong> Nationale" gewählt. Diese fédérés wur<strong>de</strong>n nach anfänglich eher<br />

patriotischer Ausrichtung rasch zum Fokus* <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s und zum Organisator <strong>de</strong>s militärischen<br />

Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s.<br />

Am 26. Mai wur<strong>de</strong> durch eine allgemeine Wahl <strong>de</strong>r Rat <strong>de</strong>r Commune gebil<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r aus achtundzwanzig<br />

Arbeitern und dreißig Intellektuellen bestand. Die Komitees <strong>de</strong>r Stadtteile und <strong>de</strong>r Gar<strong>de</strong> legten ihre<br />

politische Mission nie<strong>de</strong>r. Die revolutionären Gruppen besaßen im Rat zwar die Mehrheit, blockierten<br />

sich aber bald aufgrund ihrer unterschiedlichen Konzeptionen. Und die waren im Grun<strong>de</strong> unvereinbar.<br />

219<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Konkret waren drei wichtige Gruppierungen zu unterschei<strong>de</strong>n. Am straffsten organisiert waren die<br />

Blanquisten. Die Anhänger <strong>de</strong>s alten Revolutionärs Auguste Blanqui, <strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> in einem<br />

Provinzgefängnis einsaß, befürworteten eine harte, revolutionäre Diktatur geschulter Ka<strong>de</strong>r zum Wohle<br />

<strong>de</strong>s einfachen Volkes — ein Vorgriff auf das Leninsche Staats- und Parteimo<strong>de</strong>ll. Ihrem hierarchischen<br />

Verständnis gemäß waren sie darauf aus, möglichst viele wichtige Schlüsselpositionen zu besetzen.<br />

Ihnen nahe stan<strong>de</strong>n die Neojakobiner, kaum organisiert aber zahlreich, vertreten durch bekannte<br />

Persönlichkeiten mit starken Ambitionen, die allesamt von einer Restauration <strong>de</strong>r Zustän<strong>de</strong> von 1789<br />

träumten. Der alte Jakobiner Delesciuze wur<strong>de</strong> zum militärischen Führer <strong>de</strong>s letzten Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s.<br />

Ansonsten bestand ihr Beitrag mehr in traditioneller Symbolik und radikaler Demagogie als in klaren<br />

Vorstellungen für die Zukunft. So drückte ihr Vertreter Jules Miot am 1. Mai die Bildung eines<br />

diktatorischen "Wohlfahrtsausschusses" durch und spaltete damit <strong>de</strong>n Rat <strong>de</strong>r Commune endgültig in<br />

autoritäre Zentralisten und antiautoritäre Fö<strong>de</strong>ralisten.<br />

Die Fö<strong>de</strong>ralisten stellten in Paris, vor allem in <strong>de</strong>n Arbeitervierteln und an <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r communards, die<br />

vermutlich stärkste Gruppe. Sie waren aber vergleichsweise schlecht organisiert und konnten in <strong>de</strong>m<br />

Intrigenspiel um Posten und Pöstchen in <strong>de</strong>n neuen Strukturen nicht mithalten. I<strong>de</strong>ologisch stan<strong>de</strong>n sie in<br />

<strong>de</strong>r Tradition Proudhons, organisatorisch waren sie überwiegend in <strong>de</strong>r Pariser Sektion <strong>de</strong>r Internationale<br />

vertreten, wo Bakunins Ansichten ein starkes Echo gefun<strong>de</strong>n hatten. Zu <strong>de</strong>n aktivsten Persönlichkeiten<br />

unter diesen Libertären zählten Auguste Vermorel und Eugene Varlin, unermüdlicher Organisator von<br />

Genossenschaften und Arbeiterverbän<strong>de</strong>n. Die intemationalistes von Paris waren eng mit <strong>de</strong>m<br />

gewerkschaftlichen Dachverband, <strong>de</strong>r "Fö<strong>de</strong>ration <strong>de</strong>s Chambres Syndicales et <strong>de</strong>s Associations<br />

Ouvrieres*, verbun<strong>de</strong>n - entsprechen<strong>de</strong>n Nachdruck legten sie daher auf die ökonomische Seite <strong>de</strong>r<br />

Revolution. Für sie war die Commune verloren, wenn sie sich nicht <strong>de</strong>r sozialen Gerechtigkeit annähme,<br />

was nichts an<strong>de</strong>res be<strong>de</strong>utete, als daß Produktion und Verteilung in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Arbeiterschaft


sozialisiert und selbst organisiert wer<strong>de</strong>n müsse. So fin<strong>de</strong>n wir die Vertreter <strong>de</strong>r fe<strong>de</strong>ralistes folgerichtig<br />

auch in <strong>de</strong>n Kommissionen für Arbeit, Industrie, Warenverkehr und Bildung wie<strong>de</strong>r, wo sie in <strong>de</strong>r kurzen<br />

Zeit versuchten, die Grundlagen einer Neuordnung zwischen Kapital und Arbeit zu legen.<br />

Was all diese Revolutionäre jenseits <strong>de</strong>r äußeren Bedrohung einte, war eigentlich recht wenig: Sie fühlten<br />

sich von <strong>de</strong>r Masse <strong>de</strong>r sozial niedrig Gestellten beauftragt, für menschenwürdigere Zustän<strong>de</strong> zu sorgen.<br />

Über Weg und Ziel aber war man uneins. Für die gemäßigten Republikaner ging es um eine militärische<br />

Kraftprobe mit <strong>de</strong>n Regierungstruppen in Versailles; soziale und politische Reformen hielten sie für<br />

verfrüht und störend. Blanquisten und Jakobiner sahen im Rat <strong>de</strong>r Commune einen revolutionären,<br />

diktatorischen Konvent, in <strong>de</strong>m alle Autorität zu energischen Maßnahmen konzentriert sein müsse, um<br />

die Interessen <strong>de</strong>s Volkes mit allen zur Verfügung stehen<strong>de</strong>n Gewaltmitteln zu vertei-<br />

220<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

digen. Die Fö<strong>de</strong>ralisten glaubten, <strong>de</strong>r Kampf mit <strong>de</strong>r Waffe könne ohne soziale Grundlage und moralische<br />

Legitimität nicht gewonnen wer<strong>de</strong>n. Umwälzen<strong>de</strong> Reformen und das Festhalten an fö<strong>de</strong>ralistischen und<br />

humanistischen Prinzipien seien nicht das Ergebnis, son<strong>de</strong>rn die Voraussetzung für einen Sieg <strong>de</strong>r<br />

Commune. Im Rat sahen sie lediglich eine Art Kontrollorgan mit <strong>de</strong>r Aufgabe, die Selbsttätigkeit und<br />

Initiative <strong>de</strong>r Massen zu för<strong>de</strong>rn, ohne sie in ihrer freien Entfaltung zu behin<strong>de</strong>rn. Dieser <strong>de</strong>utlich<br />

anarchistische Standpunkt war zwar an <strong>de</strong>r Basis durchaus populär, konnte sich aber im Rat nicht<br />

durchsetzen.<br />

Nach <strong>de</strong>m Rückzug <strong>de</strong>r gemäßigt-fö<strong>de</strong>ralistischen Vertreter erlangten die Autoritären die Mehrheit und<br />

installierten schließlich ihren "Wohlfahrtsausschuß", <strong>de</strong>r rasch dazu überging, in geheimer Sitzung<br />

selbstherrlich Beschlüsse zu fassen. Das <strong>de</strong>mokratische Mandat durch die Basis war verraten, die<br />

Libertären verließen <strong>de</strong>n Rat unter Protest und kehrten in die Stadtteile zurück. Hier versuchten sie, jene<br />

beschei<strong>de</strong>nen Ansätze voranzutreiben, die sie in <strong>de</strong>n offiziellen Kommissionen bereits begonnen hatten.<br />

Erste konstruktive Initiativen<br />

Das war nicht gera<strong>de</strong> wenig, auch wenn es in <strong>de</strong>r kurzen Lebensdauer <strong>de</strong>r Commune kaum greifbare<br />

Erfolge brachte. Es läßt aber <strong>de</strong>n Rückschluß darauf zu, was auf <strong>de</strong>r Tagesordnung gestan<strong>de</strong>n hätte, wäre<br />

<strong>de</strong>m Experiment mehr Zeit beschie<strong>de</strong>n gewesen: <strong>de</strong>r Übergang von einer Revolte zur sozialen Revolution.<br />

Im starren Rahmen <strong>de</strong>r Kommissionen freilich kamen viele Projekte kaum über das Stadium von<br />

Dekreten hinaus: Die Trennung von Kirche und Staat, die Aufhebung <strong>de</strong>r Konskription*, <strong>de</strong>r Erlaß <strong>de</strong>r<br />

Mieten, die Unterstützung <strong>de</strong>r Waisen und Witwen gefallener communards, bis hin zur Rückerstattung<br />

<strong>de</strong>r in Pfandleihhäusern verpfän<strong>de</strong>ten Gegenstän<strong>de</strong> — vor allem aber die Sozialisierung <strong>de</strong>r von ihren<br />

Besitzern verlassenen Betriebe — all das zeigt eine klare Zielrichtung <strong>de</strong>r "Wirtschaftskommission",<br />

<strong>de</strong>ren Mitglie<strong>de</strong>r ausschließlich <strong>de</strong>r Pariser Sektion <strong>de</strong>r Internationale angehörten. Die Schaffung<br />

unentgeltlicher Laienschulen stand ebenso auf <strong>de</strong>m Programm wie die Einrichtung handwerklicher<br />

Berufsschulen o<strong>de</strong>r das Verbot <strong>de</strong>r Nachtarbeit in <strong>de</strong>n Bäckereien.<br />

Schon bald aber traten solche Fragen in <strong>de</strong>n Hintergrund, <strong>de</strong>nn am 2. April begann die Offensive <strong>de</strong>r<br />

französischen Armee gegen die Stadt. Die i<strong>de</strong>ologischen Differenzen verstummten damit keineswegs, sie<br />

wur<strong>de</strong>n eher noch heftiger, <strong>de</strong>nn auch in <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r richtigen Verteidigung verhielten sich die<br />

Ansichten wie Feuer und Wasser. Wie so oft, diente auch hier die militärische Lage zur Abrechnung mit<br />

<strong>de</strong>m politischen Gegner: Die autoritäre Mehrheit an <strong>de</strong>n Hebeln <strong>de</strong>r Macht begann, die Fö<strong>de</strong>ralisten<br />

nunmehr offen als Verräter zu diffamieren. Erst in <strong>de</strong>n letzten Tagen sollten sie alle wie<strong>de</strong>r vereint<br />

nebeneinan<strong>de</strong>r stehen, um gemeinsam unterzugehen.<br />

Die Kraft <strong>de</strong>r Basis<br />

Das alles aber war nur die eine Seite <strong>de</strong>r Medaille. Das, was die Pariser Commune schon kurz nach ihrer


lutigen Nie<strong>de</strong>rschlagung zur Legen<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n ließ, waren nicht die<br />

221<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Fraktionskämpfe <strong>de</strong>r ›führen<strong>de</strong>n‹ Revolutionäre. Es war jene an<strong>de</strong>re Seite dieser siebzig Tage: die jäh<br />

entfesselte, intuitive und heitere Suche nach Freiheit durch die einfachen Menschen aus <strong>de</strong>n Pariser<br />

Quartiers. Ihre spontane Erhebung, ihre Solidarität, ihre naiv-euphorische Art, mit <strong>de</strong>r sie in die neu<br />

errungene Freiheit sprangen, <strong>de</strong>r trunkene Taumel, mit <strong>de</strong>m sie sie genossen und die gefaßte Konsequenz,<br />

mit <strong>de</strong>r sie bis zum En<strong>de</strong> kämpften - all das macht <strong>de</strong>n Mythos aus, <strong>de</strong>r sich bis heute um die Pariser<br />

Commune rankt. Ein Bild, an <strong>de</strong>m auch bei genauer und nüchterner Betrachtung kaum Abstriche gemacht<br />

wer<strong>de</strong>n müssen.<br />

Der Masse <strong>de</strong>r einfachen Kämpfer <strong>de</strong>r Pariser Commune, die Frauen und Männer aus <strong>de</strong>n Fabriken, die<br />

confédérés, die Bewohner <strong>de</strong>r Vorstädte, die hungern<strong>de</strong>n Jugendlichen, die Deklassierten - sie alle<br />

kümmerten sich kaum um ›Politik‹. Das Schattenboxen in <strong>de</strong>n Komitees, Räten und Ausschüssen<br />

interessierte sie nicht. Dort wur<strong>de</strong> Revolution im Kopf gemacht, hier fand sie im Bauche statt. Gewiß, von<br />

ihren ›Führern‹ hätten sie sich energische Lösungen erhofft - dazu waren sie ja gewählt -, aber die kamen<br />

nicht. Trotz<strong>de</strong>m, das merkte man, war alles wie verwan<strong>de</strong>lt: das Leben, die Arbeit, die Straße. Die Luft<br />

schien Revolution zu atmen, und die Revolution, das war klar, mußte weitergehen.<br />

Für das Gros <strong>de</strong>r Pariser Bevölkerung war <strong>de</strong>r 18. März ein Tag <strong>de</strong>r Entladung gewesen. Mehrere Monate<br />

hatte die Stadt einer Belagerung standgehalten, die die sozialen Gegensätze klar wie nie zuvor hatte<br />

erkennen lassen. Während die Arbeiter hungerten und verhungerten, während das Fleisch von Ratten zu<br />

festen Marktpreisen gehan<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>, konnte je<strong>de</strong>rmann sehen, daß es <strong>de</strong>m Bourgeois an nichts fehlte.<br />

Wer Geld hatte, <strong>de</strong>r aß. Seine Interessen waren durch <strong>de</strong>n Krieg nicht bedroht, für ihn ging das Leben<br />

weiter wie gewohnt. Er machte Profit, ganz gleich, ob im Namen <strong>de</strong>s Kaisers, <strong>de</strong>r Republik o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Preußen. Wie Hohn klangen die patriotischen Phrasen, mit <strong>de</strong>nen man die jungen Arbeiter in <strong>de</strong>n Krieg<br />

getrieben hatte, jetzt, angesichts einer unfähigen und tumben Regierung, die sich, als es brenzlig wur<strong>de</strong>,<br />

nach Bor<strong>de</strong>aux abgesetzt hatte. Die Regierung war in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r einfachen Menschen nichts weiter<br />

als eine Ban<strong>de</strong> schmarotzen<strong>de</strong>r Nichtsnutze. Der Staat - darauf wur<strong>de</strong> in jenen Tagen gespuckt. Die<br />

Commune - die war naheliegend, überschaubar und konkret. Dafür, daß diese Freiheit erhalten bliebe und<br />

sich entwickeln könnte, dafür wür<strong>de</strong> man kämpfen, und für diesen Kampf notfalls auch <strong>de</strong>n Preis<br />

bezahlen. Und <strong>de</strong>r Preis, darüber gab es im Proletariat dieser Stadt keine Illusionen, wäre <strong>de</strong>r Tod.<br />

Diese Menschen waren gewiß keine ›Anarchisten‹, ebensowenig wie sie ›Blanquisten‹, ›Jakobiners‹,<br />

›Kommunisten‹ o<strong>de</strong>r ›Republikaner‹ waren - obwohl es von all jenen auch überzeugte Anhänger unter<br />

ihnen gab. Die Pariser Commune war keine i<strong>de</strong>ologische Revolution, son<strong>de</strong>rn eine Revolution <strong>de</strong>r<br />

Gefühle. Ihre konkreten Errungenschaften, ja selbst ihre Proklamationen und Dekrete sind, gemessen an<br />

<strong>de</strong>n politischen I<strong>de</strong>alen ihrer Protagonisten, mehr als mager. Man wird ihre Be<strong>de</strong>utung nicht an ihren<br />

Ergebnissen messen können, son<strong>de</strong>rn an <strong>de</strong>m Geist <strong>de</strong>r Menschen, die sie gemacht und gelebt haben. Und<br />

<strong>de</strong>r war so überwältigend spontan, antiautoritär und staatsverachtend, daß es verwun<strong>de</strong>rt, wie sich schon<br />

einige Wochen später ein Karl Marx schreibend auf die Seite <strong>de</strong>r<br />

222<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

communards schlagen konnte. Es scheint, als habe er die Kröte wohl o<strong>de</strong>r übel schlucken müssen: Das<br />

waren nicht die disziplinierten, zentral geleiteten <strong>de</strong>utschen Parteiproletarier, von <strong>de</strong>nen er träumte,<br />

son<strong>de</strong>rn Menschen, die sich nicht vereinnahmen ließen. Sie erklärten Paris nicht zur Hauptstadt einer<br />

neuen französischen Regierung, son<strong>de</strong>rn setzten auf die freie Fö<strong>de</strong>ration autonomer Kommunen. Es waren<br />

Menschen, die die Siegessäule Napoleons nie<strong>de</strong>rrissen o<strong>de</strong>r öffentlich eine Guillotine verbrannten, und<br />

daraus ein Volksfest machten. Es waren Milizionäre, die zwar revolutionäre Kämpfer, aber keine


gehorsamen Soldaten sein wollten. Menschen, die ohne <strong>de</strong>n Befehl aus irgen<strong>de</strong>iner Zentrale Barrika<strong>de</strong>n<br />

bauten, rote und schwarze Fahnen schwenkten, miteinan<strong>de</strong>r sangen, aßen, kämpften und schließlich<br />

untergingen.<br />

In <strong>de</strong>r Tat war die Pariser Commune die erste bewaffnete, spontane Massenerhebung <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen<br />

Proletariats. Es gelang ihr, ein großes, zusammenhängen<strong>de</strong>s urbanes Gebiet zu befreien und sich selbst zu<br />

organisieren. Sie tat die ersten Schritte zu einem sozialen Experiment, bei <strong>de</strong>m die hergebrachten<br />

Autoritäten so herausfor<strong>de</strong>rnd in Frage gestellt wur<strong>de</strong>n, daß die alten Kräfte fürchterliche Rache nahmen.<br />

Die Rache <strong>de</strong>s Staates<br />

Während die preußischen Truppen in aller Ruhe abwarteten, organisierte die französische Regierung von<br />

Versailles aus eine regelrechte Reconquista* gegen das eigene Volk, für die schwerlich ein mil<strong>de</strong>res Wort<br />

gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann als das einer Blutorgie. Sie dauerte volle 45 Tage. Fast alle großen Gestalten <strong>de</strong>r<br />

Commune fan<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>r Barrika<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Tod, wo viele ihn zuletzt auch gesucht haben mögen. Nach<strong>de</strong>m<br />

die Truppen <strong>de</strong>s Generals Mac Mahon die Innenstadt erobert hatten, dauerte es noch acht Tage, bis in <strong>de</strong>n<br />

Arbeitervororten <strong>de</strong>r letzte Wi<strong>de</strong>rstand gebrochen war. Zuletzt verteidigte man sich Straße um Straße,<br />

Haus um Haus.<br />

Die Regierung Thiers hatte schon zuvor jegliche Verhandlungen abgelehnt und proklamiert, es wür<strong>de</strong><br />

kein Pardon gegeben. So wur<strong>de</strong> es auch gehalten. Gefangene und Verwun<strong>de</strong>te wur<strong>de</strong>n exekutiert, auch<br />

vor <strong>de</strong>r Erschießung von Frauen und Kin<strong>de</strong>rn schreckte man nicht zurück. Es schien, als wolle <strong>de</strong>r<br />

französische Staat die Schmach seiner Nie<strong>de</strong>rlage gegen die Deutschen in einem Gemetzel gegen die<br />

eigenen Landsleute wie<strong>de</strong>r wettmachen. Am En<strong>de</strong> zählte man in <strong>de</strong>n Straßen von Paris über 20.000<br />

erschossene communards. 40.000 Menschen wur<strong>de</strong>n bis En<strong>de</strong> Mai verhaftet, von <strong>de</strong>nen viele noch auf<br />

<strong>de</strong>m Weg zum Gefängnis mißhan<strong>de</strong>lt o<strong>de</strong>r füsiliert wur<strong>de</strong>n. Die Kriegsgerichte verurteilten 18.700<br />

Menschen, davon 270 zum To<strong>de</strong> und 7459 zur Deportation.<br />

Man hat dieses Massaker als Reaktion auf die Erschießung von Geiseln durch Kommunar<strong>de</strong>n zu<br />

rechtfertigen versucht. So verfehlt das Aufrechnen von Mor<strong>de</strong>n auch ist, muß diese Legen<strong>de</strong> hier doch ins<br />

rechte Licht gerückt wer<strong>de</strong>n – nicht zur Rechtfertigung, son<strong>de</strong>rn zur Klärung von Ursache und Wirkung.<br />

In <strong>de</strong>r Tat hatte die Commune am 6. April das "Geiselgesetz" <strong>de</strong>kretiert, und zwar nach<strong>de</strong>m die ersten<br />

Nachrichten über die Erschießung von Gefangenen durch Versailler Truppen zum erbitterten Ruf nach<br />

energischer<br />

223<br />

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Vergeltung geführt hatten. Demnach sollten für je<strong>de</strong>n weiteren erschossenen Gefangenen drei Personen,<br />

die bereits <strong>de</strong>r Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>m Feind überführt wor<strong>de</strong>n waren, hingerichtet wer<strong>de</strong>n. Von dieser<br />

Drohung erhoffte man sich ein En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gewalttaten, zumal zu <strong>de</strong>n Geiseln so prominente Männer wie<br />

<strong>de</strong>r Erzbischof von Paris zählten. Obwohl sich diese Hoffnung nicht erfüllte, schreckte <strong>de</strong>r Rat vor <strong>de</strong>r<br />

Erschießung <strong>de</strong>r Geiseln zurück. Erst in <strong>de</strong>n letzten Tagen holten fö<strong>de</strong>rierte Nationalgardisten <strong>de</strong>n eigenen<br />

Tod vor Augen, 100 Geiseln aus ihren Kerkern und erschossen sie.<br />

Louise Michel und die Rolle <strong>de</strong>s Anarchismus<br />

Für die anarchistische Bewegung war die Commune von Paris Bestätigung und Nie<strong>de</strong>rlage zugleich.<br />

Bestätigt hatten sich ihre Auffassung vom Charakter einer sozialen Umwälzung: von <strong>de</strong>n Bedürfnissen,<br />

Fähigkeiten und Triebkräften <strong>de</strong>r einfachen Menschen, <strong>de</strong>m weit verbreiteten Wunsch nach Revolution<br />

und <strong>de</strong>n Kräften <strong>de</strong>r Spontaneität. Ironischerweise war auch die Nie<strong>de</strong>rlage <strong>de</strong>r Bewegung in gewissem<br />

Sinne eine Bestätigung – nämlich <strong>de</strong>r schlimmsten Befürchtungen. Befürchtungen hinsichtlich <strong>de</strong>r<br />

folgenschweren Bevormundung durch eine autoritäre Avantgar<strong>de</strong>. Befürchtungen über das ungeklärte<br />

Verhältnis zwischen <strong>de</strong>r aufmüpfigen Masse und einer libertären Organisation. Befürchtungen vor allem


aber bezüglich <strong>de</strong>r ungehemmten Bereitschaft <strong>de</strong>s Gegners, je<strong>de</strong>s Aufbegehren im Blut zu ersticken.<br />

Diese Lehre sollten die Arbeiter <strong>de</strong>r Welt so schnell nicht wie<strong>de</strong>r vergessen. Seit <strong>de</strong>m Mai 1871 nannte<br />

man <strong>de</strong>n Bourgeois in aller Welt nur noch <strong>de</strong>n "Klassenfeind", und dieses Wort entsprach ohne jene<br />

Übertreibung <strong>de</strong>n Maßstäben, die die französische Armee im Auftrag <strong>de</strong>s französischen Staates und im<br />

Interesse <strong>de</strong>s französischen Bürgertums gesetzt hatte.<br />

Die Pariser Anarchisten haben in <strong>de</strong>r Commune einen hohen Blutzoll gezahlt. Die meisten Aktivisten,<br />

unter ihnen Varlin und Vermorel, starben unter <strong>de</strong>n Kugeln <strong>de</strong>r Armee. Die wenigen Überleben<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

Pariser Sektion <strong>de</strong>r Internationale wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>poniert o<strong>de</strong>r mußten ins Exil fliehen, unter ihnen die Brü<strong>de</strong>r<br />

Elie und Elisee Reclus, die in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahren großen Einfluß auf die libertäre Bewegung nehmen<br />

sollten. Von beson<strong>de</strong>rer Faszination aber ist die Figur <strong>de</strong>r Louise Michel, <strong>de</strong>ren bewegte Erzählungen und<br />

Tagebücher aus <strong>de</strong>n Tagen <strong>de</strong>r Commune einen lebendigen Eindruck von jenem Geist <strong>de</strong>r Freiheit<br />

vermitteln, <strong>de</strong>r Paris damals erfaßt hatte. Sie berichtet nicht aus <strong>de</strong>m Hôtel <strong>de</strong> Ville* mit seinen Phrasen,<br />

Spaltungen und Intrigen, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>n Orten, an <strong>de</strong>nen sie das kleinliche Mittelmaß vor <strong>de</strong>n Realitäten<br />

<strong>de</strong>s wirklichen Lebens verblassen sah: die Straße, das Viertel, <strong>de</strong>r Vorposten, die Barrika<strong>de</strong> - Orte <strong>de</strong>r<br />

Solidarität. Diese bemerkenswerte Frau, die 1855 als junge Lehrerin nach Paris gekommen war, die<br />

Commune als republikanische Patriotin begann und als überzeugte Anarchistin verließ, sparte nicht mit<br />

scharfer Kritik an <strong>de</strong>n revolutionären Defiziten <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s, an <strong>de</strong>ssen Basis Frauen eine ganz<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielten. Aber sie Schil<strong>de</strong>n auch das Gefühl von Freiheit und Hoffnung, das<br />

Zigtausen<strong>de</strong> erfaßte. Louise Michel wur<strong>de</strong> vor das Versailler Kriegsgericht gestellt, wo sie, anstatt sich zu<br />

verteidigen, eine wortgewaltige Anklage gegen ihre Ankläger<br />

224<br />

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erhob. Für sich selbst for<strong>de</strong>rte sie, gleich an<strong>de</strong>ren Revolutionären behan<strong>de</strong>lt zu wer<strong>de</strong>n und lehnte je<strong>de</strong><br />

Bevorzugung als Frau ab – sie bestand auf ihrem eigenen Tod. Die Richter schickten "la bonne Louise",<br />

wie das Volk sie nannte, lieber nach Neukaledonien in die Verbannung. Dort wirkte sie als Lehrerin unter<br />

<strong>de</strong>n Eingeborenen, überlebte das Klima und alle Entbehrungen und kehrte schließlich nach Europa<br />

zurück. Bis zu ihrem To<strong>de</strong> 1905 blieb sie die charismatischste und aktivste Propagandistin <strong>de</strong>s<br />

Anarchismus.<br />

Louise Michel verkörpert <strong>de</strong>n freiheitlichen Geist <strong>de</strong>r Pariser Commune weit glaubhafter als die<br />

umfangreiche analytische Literatur, die seither über dieses Kapitel verfaßt wur<strong>de</strong>. Für sie waren die<br />

Ereignisse im Frühjahr 1871 schlicht ein Kampf um wirkliches Leben.<br />

Literatur:<br />

/ Dieter Marc Schnei<strong>de</strong>r (Hrsg.:) Pariser Kommune 1871 (2 B<strong>de</strong>., Textsammlung) Reinbek 1971,<br />

Rowohlt, 207 u. 196 S.<br />

/ N.N.: Die Pariser Kommune 1871 (Textsammlung) Berlin 1979, Libertad, 38 S.<br />

/ P.L. Lavrov: Die Pariser Kommune vom 18. März 1871 Berlin 1971, Wagenbach, 191 S.<br />

/ Klaus Meschkat: Pariser Kommune Köln 1971, Infodruck, 267 S.<br />

/ Heinrich Koechlin: Die Pariser Commune im Bewußtsein ihrer Anhänger Basel 1950, Don Quichotte,<br />

248 S.<br />

/ Gerd Koch: Zerstört <strong>de</strong>n Staat! Marx und Bakunin zur Pariser Kommune Hamburg 1974, Association, in<br />

S.<br />

/ Louise Michel: Memoiren Münster 1977, Frauenpolitik, 372 S., ill.<br />

/ N.N.: Frauen in <strong>de</strong>r Revolution: Loiuse Michel Berlin 1976, Karin Kramer, 173 S., ill.<br />

Kapitel 27<br />

"Hoch das Dynamit!" – Der Anarchismus und die Bombe<br />

Die Explosion meiner Bombe ist nicht allein das Zeichen <strong>de</strong>r Verzweiflung eines einzelnen Menschen,<br />

sie ist <strong>de</strong>r Ausdruck <strong>de</strong>r Not einer ganzen Klasse, die bald <strong>de</strong>n Schrei <strong>de</strong>s Einzelnen übertönen wird.


– Auguste Vaillant –<br />

ZWANZIGTAUSEND TOTE HATTE DER STAAT in <strong>de</strong>n Straßen von Paris zurückgelassen.<br />

Zwanzigtausend ausgelöschte Leben je<strong>de</strong>n Alters und Geschlechts. Sie hatten kein an<strong>de</strong>res Verbrechen<br />

begangen, als sich gegen die Obrigkeit aufzulehnen und Autonomie zu for<strong>de</strong>rn.<br />

Das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Pariser Commune war für alle freiheitlich <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n Menschen ein Schock. Ein Trauma,<br />

das tief saß und die Arbeiterbewegung wie betäubt zurückließ. Niemals hatte man sich Illusionen darüber<br />

gemacht, daß die Herrschen<strong>de</strong>n ihre Privilegien verteidigen wür<strong>de</strong>n. Aber das, was im Mai 1871 in Paris<br />

geschah, war kein Klassenkampf mehr, das war Krieg. Während die Organisationen gelähmt ihre Wun<strong>de</strong>n<br />

leckten, ihre großen Denker ratlos schwiegen und niemand einen Ausweg zu sehen schien, gab es<br />

einzelne, verzweifelte Menschen, die diese Kriegserklärung trotzig aufnahmen.<br />

Als <strong>de</strong>r kollektive Aufstand scheiterte, schlug die Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r individuellen Kämpfer.<br />

225<br />

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Tyrannenmord als Allheilmittel<br />

Die Jahre nach 1871 sind geprägt von einer fast tatenlosen Ohnmacht. Alle Sozialisten spüren diese Krise<br />

und geraten nun zusätzlich noch in die Defensive, <strong>de</strong>nn in fast allen europäischen Län<strong>de</strong>rn nimmt die<br />

Verfolgung <strong>de</strong>r Arbeiterbewegung bedrohliche Ausmaße an. Der Londoner Anarchistenkongreß von 1881<br />

konnte seinen Anhängern nichts besseres mehr empfehlen, als in die Illegalität abzutauchen. Schon bald<br />

folgte eine Welle individueller Gewalt, ausgeführt von einzelnen Attentätern, Verschwörergruppen und<br />

berufsmäßigen Ban<strong>de</strong>n. Tyrannenmord, Attentate auf verhaßte Staatsdiener und Einrichtungen, Bomben<br />

zur Unterstützung von Streiks, wahllose Anschläge auf Orte bürgerlicher Vergnügungen bis hin zu<br />

politisch motiviertem Räuberhandwerk — all das wur<strong>de</strong> zum Ausdruck dieser wüten<strong>de</strong>n Verzweiflung<br />

und all ihrer Perspektivlosigkeit. Die Bombe avanciert zum Symbol dieser Zeit, das Dynamit zum<br />

Zaubermittel <strong>de</strong>r Ausweglosen.<br />

Viele <strong>de</strong>rjenigen, die damals zum Mittel individueller Gewalt griffen, beriefen sich auf <strong>de</strong>n Anarchismus.<br />

Es war nicht schwer, in Schriften Stirners, Bakunins, Kropotkins o<strong>de</strong>r Malatestas Stellen zu fin<strong>de</strong>n, aus<br />

<strong>de</strong>nen man eine politische Rechtfertigung für Gewalt herauslesen konnte. Angereichert mit ein bißchen<br />

Blanqui, Robespierre und Netschajew, ergab sich eine bizarre Theorie, mit <strong>de</strong>r alles zu begrün<strong>de</strong>n war.<br />

Die Attentäter han<strong>de</strong>lten für gewöhnlich im Hochgefühl moralischer Überlegenheit, fühlten sich<br />

selbstverständlich im Recht und betrachteten ihre Gegner mit kalter Verachtung. Genau damit aber hatten<br />

sie sich auf das Niveau <strong>de</strong>rjenigen begeben, <strong>de</strong>ren Abscheulichkeit man bekämpfen wollte. Sehr effektiv<br />

war diese blutige Taktik - selbst im Rahmen ihrer eigenen Moral und Logik – übrigens auch nicht. Die<br />

meisten Anschläge mißlangen, und fast alle Attentäter en<strong>de</strong>ten am Galgen o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Schafott.<br />

Bei <strong>de</strong>n Anarchisten hieß dieses Vorgehen "Propaganda <strong>de</strong>r Tat", die Bürger nannten es Mord, Terror,<br />

Chaos – eben das, was man noch heute landläufig unter ›Anarchie‹ versteht. Liegt im Werfen von<br />

Bomben, im individuellen Terror also doch das Wesen <strong>de</strong>s Anarchismus?<br />

Die Propaganda <strong>de</strong>r Tat<br />

Es hat tatsächlich eine Zeit gegeben, in <strong>de</strong>r große Teile <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung im individuellen<br />

Attentat <strong>de</strong>n Stein <strong>de</strong>r Weisen sahen. Diese Phase, vor allem in Frankreich, aber auch in Rußland und<br />

vereinzelt in Spanien, Deutschland, Italien <strong>de</strong>n USA und Lateinamerika, hatte ihren Höhepunkt zwischen<br />

1891 und 1894. Man machte aus <strong>de</strong>r Not eine Tugend und gebar ein Konzept, das beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>n<br />

Verzweifelten einleuchtete.<br />

Die Not bestand darin, daß die Arbeiterbewegung seit <strong>de</strong>r Commune in einer Sackgasse steckte.


An<strong>de</strong>rerseits hatte man in all <strong>de</strong>n Jahren in <strong>de</strong>m Glauben gelebt, die soziale Revolution stün<strong>de</strong> unmittelbar<br />

vor <strong>de</strong>r Tür. Fast zwangsläufig wur<strong>de</strong> ihr ›Erscheinen‹ erwartet, wenn nicht heute, dann spätestens<br />

übermorgen. Man müsse Staat und Kapital nur mal kräftig gegen's Schienbein treten, dann wür<strong>de</strong>n sie<br />

schon umfallen.<br />

226<br />

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Vor diesem Hintergrund predigten die Jünger <strong>de</strong>r "Propaganda <strong>de</strong>r Tat" eine einfache I<strong>de</strong>e: Einzelne,<br />

entschlossene Männer sollten beson<strong>de</strong>rs verhaßte Repräsentanten <strong>de</strong>s Systems – Könige, Bischöfe,<br />

Präsi<strong>de</strong>nten, Kapitalisten und Polizeichefs - durch gezielte Attentate töten. Die wären dann nicht mehr da,<br />

<strong>de</strong>r Gegner also geschwächt. Das wie<strong>de</strong>rum wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Volk Mut machen, sich "massenhaft zu erheben",<br />

<strong>de</strong>nn ein je<strong>de</strong>r wür<strong>de</strong> erkennen, daß <strong>de</strong>r mächtige Gegner verwundbar sei. Die Prozesse könne man zu<br />

lei<strong>de</strong>nschaftlichen Anklagen gegen das System nutzen, darin läge großer propagandistischer Wert. Und<br />

wenn man dann angesichts <strong>de</strong>r Guillotine ein entschlossenes "Vive l'Anarchie!" ausriefe, wäre <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e<br />

ein unschätzbarer Dienst erwiesen. Außer<strong>de</strong>m brauchte es dazu keine starke Bewegung, keine mühsame<br />

Organisationsarbeit – nur ein paar Entschlossene.<br />

Es klang wie ein Patentrezept, das alle Probleme <strong>de</strong>r verzweifelten Bewegung jener Jahre mit einem<br />

Schlag zu lösen schien. Den Pfer<strong>de</strong>fuß, daß man dabei die eigenen I<strong>de</strong>ale verraten mußte, ›vergaßen‹ viele<br />

Anhänger dieser Taktik in ihrer Begeisterung. Die Sache aber hatte, jenseits aller ethischen Vorbehalte,<br />

noch weitere Haken. Das Volk tat alles an<strong>de</strong>re, als <strong>de</strong>n Hel<strong>de</strong>n begeistert nachzustürmen. Es gaffte, es<br />

konsumierte, es applaudierte allenfalls. Statt zum Fanal <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s, wur<strong>de</strong>n die Prozesse zu<br />

Lieferanten für <strong>de</strong>n grusligen Stoff schauriger Geschichten in <strong>de</strong>n Klatschblättern <strong>de</strong>r Epoche. Statt zu<br />

zerfallen, festigte sich die Macht <strong>de</strong>r Herrschen<strong>de</strong>n; unter <strong>de</strong>m Druck <strong>de</strong>s Dynamits verschwan<strong>de</strong>n<br />

Rivalitäten. Der Machtapparat kroch nicht zu Kreuze, son<strong>de</strong>rn holte zum Gegenschlag aus. Je<strong>de</strong>r<br />

Anarchist, ja die gesamte Arbeiterbewegung mußte mit harter Verfolgung, mit Verhaftungen, mit <strong>de</strong>r<br />

Liquidierung rechnen. Die ausgeflipptesten Kriminellen begannen plötzlich, ihre Taten mit <strong>de</strong>m<br />

magischen Wort "Anarchie!" zu rechtfertigen. Sie hatten für ihr soziales Elend, das sie zu Kriminellen<br />

gemacht hatte, eine politische Interpretation ent<strong>de</strong>ckt, die all ihre Taten zu rechtfertigen schien. Die<br />

anarchistische I<strong>de</strong>e, ihre gesamte Bewegung konnte nun mit Leichtigkeit diffamiert wer<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>r<br />

Anarchist war fortan ein Bombenleger, nichts weiter. Am En<strong>de</strong> stand die Bewegung mit einem Haufen<br />

›Märtyrer‹ da und einem <strong>de</strong>nkbar üblen Image.<br />

Dabei hatte nur ein Teil <strong>de</strong>r Anarchisten mit <strong>de</strong>r "Propaganda <strong>de</strong>r Tat" sympathisiert, und nur eine kleine<br />

Min<strong>de</strong>rheit sie jemals angewandt. Die wirbelte dafür aber um so mehr Staub auf. Der größte Teil wandte<br />

sich schon bald entschie<strong>de</strong>n gegen diese blutige Mo<strong>de</strong>, unter ihnen auch Kropotkin und Malatesta. Sie<br />

stellten nachdrücklich fest, daß sie Gewalt allenfalls im Zusammenhang mit <strong>de</strong>m Recht einer<br />

gewaltsamen Erhebung <strong>de</strong>s Volkes gegen seine Unterdrücker gutgeheißen hätten, nicht aber als Mittel<br />

individuellen Terrors. Der sei we<strong>de</strong>r moralisch noch praktisch ein probates Mittel zur Erlangung <strong>de</strong>r<br />

Freiheit. Es sei überdies eine Illusion, schrieb Kropotkin, <strong>de</strong>n Zusammenhalt <strong>de</strong>r Ausbeuter durch ein paar<br />

Kilo Sprengstoff brechen zu können.<br />

Eine Welle <strong>de</strong>r Gewalt<br />

Zunächst aber blieben solche Worte ungehört. Für einige Jahre hatte erst einmal <strong>de</strong>r "Anarchisterich mit<br />

<strong>de</strong>m Attentatterich" Hochkonjunktur, wie Erich Mühsam diesen Typus vierzig Jahre später ironisch<br />

nannte.<br />

227<br />

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In <strong>de</strong>n achtziger Jahren sorgten die russischen Narodniki für eine Reihe von spektakulären Attentaten<br />

gegen Polizeiminister und höchste Repräsentanten <strong>de</strong>s Zarismus. Diese "Volkstümler", wie sie sich selbst<br />

nannten, waren eine straff organisierte Politorganisation junger Menschen aus <strong>de</strong>n gebil<strong>de</strong>ten Stän<strong>de</strong>n, die<br />

sich zunächst voller I<strong>de</strong>alismus <strong>de</strong>n Bauern zuwandten. Unter ihnen gab es auffallend viele Frauen.<br />

Bakunins Auffor<strong>de</strong>rung, "zu <strong>de</strong>n Wurzeln <strong>de</strong>s Volkes zurückzukehren", interpretierten die Narodniki<br />

schon bald auf ihre Weise und versuchten, Netschajews Revolutionsszenarien folgend, mit ihren<br />

Anschlägen eine Volkserhebung zu entfesseln. Selten ist ein Attentat in aller Welt so freudig<br />

aufgenommen wor<strong>de</strong>n wie das, <strong>de</strong>m 1881 <strong>de</strong>r verhaßte Zar Alexan<strong>de</strong>r II. zum Opfer fiel — <strong>de</strong>r Aufstand<br />

<strong>de</strong>r Massen aber blieb aus. Führen<strong>de</strong> Narodniki wie Wera Sassulitsch, Boris Ssawinkow, Sofia<br />

Perowskaja o<strong>de</strong>r Vera Figner gingen zwar in <strong>de</strong>n Pantheon <strong>de</strong>r linken Legen<strong>de</strong>n ein, ihre Bewegung aber<br />

wur<strong>de</strong> Stück für Stück und ziemlich unspektakulär aufgerieben.<br />

Als isolierte Taten Einzelner stellten sich die meisten Attentate heraus, die zwischen 1878 und 1900<br />

führen<strong>de</strong>n Regenten im westlichen Europa galten. Der arbeitslose Klempnergeselle Maximilian Hö<strong>de</strong>l,<br />

ein ehemaliger Sozial<strong>de</strong>mokrat, und <strong>de</strong>r zum Mystizismus neigen<strong>de</strong> Philosoph Dr. Carl Nobiling verüben<br />

im Sommer 1878 in Berlin, unabhängig voneinan<strong>de</strong>r, in kurzer Folge Attentate auf Kaiser Wilhelm I., <strong>de</strong>r<br />

jedoch bei<strong>de</strong> Male <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> entgeht. Hö<strong>de</strong>l wird hingerichtet, Nobiling stirbt später an <strong>de</strong>n Folgen einer<br />

unmittelbar nach <strong>de</strong>m Attentat versuchten Selbsttötung. Die Anschläge dienen Bismarck zum Vorwand<br />

für die Verhängung <strong>de</strong>s Ausnahmezustan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>m Namen "Sozialistengesetz" bekannt wur<strong>de</strong><br />

und zwischen 1878 und 1890 alle linken Parteien und Gruppierungen Deutschlands in die Illegalität<br />

zwang. Im Herbst <strong>de</strong>sselben Jahres schießt <strong>de</strong>r junge Arbeiter Oliva Moncasi auf <strong>de</strong>n spanischen König<br />

Alfons XIII., ohne ihn jedoch zu treffen. Moncasi, <strong>de</strong>r sich als Mitglied <strong>de</strong>r spanischen Internationale zu<br />

erkennen gibt, beruft sich im Verhör ausdrücklich auf Hö<strong>de</strong>l und Nobiling, <strong>de</strong>ren Beispiel er folgen<br />

wollte. Im Dezember wird er in Madrid öffentlich mit <strong>de</strong>r garrote, <strong>de</strong>m mittelalterlichen Würgeeisen,<br />

hingerichtet.<br />

Ebenfalls 1878 mißlingt das Attentat <strong>de</strong>s jungen Kochs Giovanni Passanante auf <strong>de</strong>n italienischen König<br />

Umberto I. Mit <strong>de</strong>m Ruf "Es lebe die internationale Republik!" stürzte er mit einem Messer auf <strong>de</strong>n<br />

Monarchen. Zum To<strong>de</strong> verurteilt, wird er begnadigt und stirbt 1910 in <strong>de</strong>r Haft. 1897 entgeht <strong>de</strong>rselbe<br />

Umberto I. erneut einem Messerattentat. Unter seiner Regentschaft war es inzwischen zu harten<br />

Repressalien gegen alle Arbeiterorganisationen und die aufständischen Bauern in Sizilien gekommen;<br />

Presse- und Versammlungsfreiheit waren aufgehoben, und 847.000 Menschen wur<strong>de</strong> wegen<br />

"Progressismus" das Wahlrecht aberkannt. Kriegerische Abenteuer in Afrika stürzten das Land in eine<br />

wirtschaftliche Krise. In diesem sozialen Klima will <strong>de</strong>r anarchistische Einzelgänger Pietro Acchiarito am<br />

König exemplarische Rache nehmen, verfehlt <strong>de</strong>n Monarchen aber und sticht sein Messer in die Polster<br />

<strong>de</strong>r Kutsche. Auch er been<strong>de</strong>t sein Leben im Zuchthaus. Die sozialen Unruhen verschärfen sich, die<br />

Repression wird härter, und im folgen<strong>de</strong>n Jahr<br />

228<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

kommt es in fast allen Provinzen zu Protesten. Universitäten wer<strong>de</strong>n geschlossen, Zeitungen verboten. In<br />

Mailand unterdrückt <strong>de</strong>r General Bava Beccaris <strong>de</strong>n Protest von Arbeitern und Stu<strong>de</strong>nten und hinterläßt<br />

dabei 80 Tote und 450 Verletzte. Umberto beglückwünscht ihn öffentlich und verleiht ihm "wegen seiner<br />

Verdienste um die Zivilisation" <strong>de</strong>n höchsten Verdienstor<strong>de</strong>n Savoyens. Damit hatte er sein eigenes<br />

To<strong>de</strong>surteil gesprochen, <strong>de</strong>nn nun tritt erstmals eine organisierte anarchistische Gruppe auf <strong>de</strong>n Plan, die<br />

<strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>s Tyrannen beschließt. Im fernen Paterson, New Jersey, wird dieser Entschluß gefaßt. Das Los<br />

fällt auf <strong>de</strong>n Drucker Gaetano Bresci, einen jungen italienischen Einwan<strong>de</strong>rer, <strong>de</strong>r im Jahre 1900 nach<br />

Europa reist und <strong>de</strong>n König am 7. Mai aus drei Metern Entfernung erschießt. Die Bürger im Park <strong>de</strong>r<br />

Sommerresi<strong>de</strong>nz, die ihn lynchen wollen, schreien ihn an: "Mör<strong>de</strong>r! Du hast Umberto getötet", worauf<br />

Bresci antwortet: "Ich habe nicht Umberto getötet, son<strong>de</strong>rn einen König."<br />

Alle Monarchen <strong>de</strong>r Epoche lebten mit einem beson<strong>de</strong>rs hohen Berufsrisiko, und nicht nur Umberto<br />

wur<strong>de</strong> mehrere Male zum Ziel von Anschlägen. In Spanien hatte 1880 Alfons XIII. erneut das Glück,<br />

einem Attentat zu entgehen, das diesmal Olivero Gonzales verübte, <strong>de</strong>r Moncasi rächen wollte. Eine vom


Regen aufgeweichte Zündschnur bewahrte 1883 etliche Bischöfe und die höchsten <strong>de</strong>utschen Fürsten<br />

davor, mitsamt ihrem Kaiser in die Luft gesprengt zu wer<strong>de</strong>n. Eine Anarchistengruppe um August<br />

Reinsdorf hatte das Dynamit anläßlich <strong>de</strong>r Einweihung eines vaterländischen Monumental<strong>de</strong>nkmals<br />

plaziert und aus Kostengrün<strong>de</strong>n die billigere Lunte verwen<strong>de</strong>t. Im Spätsommer 1898 lungerte <strong>de</strong>r<br />

italienische Anarchist Luigi Luccheni am Genfer See herum, um irgen<strong>de</strong>inen Monarchen umzubringen.<br />

Kaiserin Elisabeth von Österreich hatte das Unglück, ihm zufällig über <strong>de</strong>n Weg zu laufen und mußte<br />

sterben. Sterben mußten natürlich auch Gonzales, Reinsdorf und Luccheni.<br />

In Frankreich jedoch, wo das Trauma <strong>de</strong>r Commune nie vergessen wur<strong>de</strong>, sollte die "Propaganda <strong>de</strong>r Tat"<br />

zu Beginn <strong>de</strong>r 90er Jahre ihren Höhepunkt erreichen. Sie trat wie eine Epi<strong>de</strong>mie auf und war offenbar<br />

ansteckend. Zwar gab es auch hier <strong>de</strong>n klassischen Einzeltäter, aber im Gegensatz zu an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn<br />

entstand - beson<strong>de</strong>rs in Paris - gera<strong>de</strong>zu eine soziale Szene <strong>de</strong>r Gewaltverherrlichung mit <strong>de</strong>m typischen,<br />

fast möchte man sagen folkloristischen Ambiente <strong>de</strong>s outlaw*. Auflagenstarke Anarchoblätter wie <strong>de</strong>r<br />

Père Peinard unterstützten militantes Han<strong>de</strong>ln, applaudierten <strong>de</strong>r Gewalt und sorgten für weiteste<br />

Verbreitung <strong>de</strong>r Gedanken, die die Protagonisten <strong>de</strong>r Aktion von sich gaben. Taten wie die von Henry,<br />

Ravachol o<strong>de</strong>r Bonnot hielten in einer Mischung aus klammheimlicher Bewun<strong>de</strong>rung, Nervenkitzel,<br />

Scha<strong>de</strong>nfreu<strong>de</strong> und Märtyrerkult Einzug in die subversive Phantasie <strong>de</strong>r einfachen Leute. Als Lie<strong>de</strong>r,<br />

Legen<strong>de</strong>n und Folklore lebten sie fort in <strong>de</strong>n Trivialmythen <strong>de</strong>r vorstädtischen Subkultur. Aus dieser<br />

Szene ging überdies ein ganz spezieller Typus <strong>de</strong>s sich politisch legitimieren<strong>de</strong>n Kleinkriminellen hervor,<br />

<strong>de</strong>r sich stolz "Anarchiste expropriateur" nannte - auf <strong>de</strong>utsch; "anarchistischer Enteigner".<br />

Emile Henry, <strong>de</strong>r hochintelligente Sohn eines überleben<strong>de</strong>n communard, wur<strong>de</strong> am<br />

229<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

24. Juli 1894 guillotiniert - seinen Kopf kann man übrigens in einem mit Formalin gefüllten Glas im<br />

Polizeimuseum von Paris bewun<strong>de</strong>rn. Er war unter an<strong>de</strong>rem verurteilt wor<strong>de</strong>n, weil er eine Bombe in das<br />

vollbesetzte Cafe Terminus geschleu<strong>de</strong>rt und dabei einen Gast getötet und zwanzig verletzt hatte. "Es gibt<br />

keine Unschuldigen" sagte <strong>de</strong>r eiskalt-rationale Überzeugungstäter vor Gericht. "Die Bourgeoisie soll<br />

endlich begreifen, daß die, die gelitten haben, ihrer Lei<strong>de</strong>n mü<strong>de</strong> sind. Sie kennen keine Achtung vor <strong>de</strong>m<br />

Menschenleben, weil die Bourgeoisie es auch nicht respektiert."<br />

Nirgends kommt <strong>de</strong>r ins krankhafte gesteigerte Haß gegen alles, was bourgeois ist, klarer zum Ausdruck<br />

als bei Henry. Dabei kann man, bei aller Abscheu vor blin<strong>de</strong>m Terror, <strong>de</strong>r Argumentation in seiner<br />

berühmt gewor<strong>de</strong>nen Verteidigungsre<strong>de</strong> kaum die Stringenz* absprechen, mit <strong>de</strong>r er beweist, daß er<br />

nichts an<strong>de</strong>res getan hat als seine Fein<strong>de</strong>: wahllos Unschuldige zu töten. Eben darum aber, so urteilten die<br />

meisten Anarchisten seiner Zeit, könne er sich nicht auf <strong>de</strong>n Anarchismus berufen.<br />

Bei <strong>de</strong>n Bombenanschlägen auf das Hotel Foyot und das Café Terminus wer<strong>de</strong>n auch die mit <strong>de</strong>m<br />

Anarchismus sympathisieren<strong>de</strong>n Schriftsteller Laurent Tailha<strong>de</strong> und Octave Mirbeau verletzt, was in <strong>de</strong>r<br />

Presse zu einmütiger Scha<strong>de</strong>nfreu<strong>de</strong> führt. Mirbeau bemerkte damals: "Ein Todfeind <strong>de</strong>s Anarchismus<br />

hätte diesem keinen größeren Scha<strong>de</strong>n zufügen können als Emile Henry mit seinem unerklärlichen<br />

Bombenanschlag auf friedliche Bürger, die in ein Cafe gekommen waren, um vor <strong>de</strong>m Zubettgehen noch<br />

ein Bier zu trinken. (...) Émile Henry versichert, er sei Anarchist. Das ist möglich. Aber <strong>de</strong>r Anarchismus<br />

hat einen breiten Rücken, er ist geduldig wie Papier. Heute pflegen sich Kriminelle auf ihn zu berufen,<br />

wenn sie ein gutes Verbrechen begangen haben. (...) Je<strong>de</strong> Partei hat ihre Kriminellen und Wahnsinnigen,<br />

weil je<strong>de</strong> Partei sich aus Menschen zusammensetzt."<br />

Typisch für Henry und viele seiner Bombenwerferkollegen war, daß sein erstes Attentat in engem<br />

Zusammenhang mit sozialen Kämpfen stand. Vor <strong>de</strong>m Büro einer Bergwerksgesellschaft, die auf<br />

streiken<strong>de</strong> Arbeiter hatte schießen lassen, <strong>de</strong>ponierte er seinen aus einem Kochtopf gebastelten<br />

Sprengsatz, <strong>de</strong>r dann in einem Polizeirevier <strong>de</strong>tonierte. Ganz ähnlich war die Motivation <strong>de</strong>s Anarchisten<br />

Charles Gallo, <strong>de</strong>r eine Explosivröhre in die Pariser Börse geschleu<strong>de</strong>rt hatte, ohne freilich jeman<strong>de</strong>n zu<br />

verletzen. Er tat dies aus Solidarität mit <strong>de</strong>n Bergarbeitern von Decazeville. Deren Lohn war zwischen


1878 und 1886 um 50% gedrückt wor<strong>de</strong>n und reichte nicht einmal mehr fürs Essen, während die<br />

Gesellschaft ihren Aktionären einen Jahresgewinn von 460.000 Franc ausschüttete. Nun sollten die Löhne<br />

abermals gekürzt wer<strong>de</strong>n. Die aufgebrachten Arbeiter warfen daraufhin <strong>de</strong>n verhandlungsführen<strong>de</strong>n<br />

Ingenieur, <strong>de</strong>m im Erfolgsfalle eine Provosion von 5 % versprochen war, aus <strong>de</strong>m Fenster, wobei sich<br />

dieser das Genick brach. Als Gallo im Prozeß gefragt wur<strong>de</strong>, ob man in Anarchistenkreisen die Mör<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>s Ingenieurs verherrliche, antwortete dieser: "Natürlich, und ich selbst habe gehofft, es sei nur <strong>de</strong>r<br />

Anfang einer ganzen Serie."<br />

Aus einer Bewegung zur Befreiung <strong>de</strong>r Menschheit schien ein Zirkel einsamer Rächer gewor<strong>de</strong>n zu sein.<br />

230<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Kaum noch etwas von sozialem Rächertum ist bei Clau<strong>de</strong> Ravachol zu fin<strong>de</strong>n, einem verarmten<br />

Angestellten, <strong>de</strong>r sich zunächst als Kleinkrimineller und Grabräuber durchs Leben schlug, um sich später<br />

auf Raubmor<strong>de</strong> zu verlegen. Sofern Ravachol alle Verbrechen begangen hat, die ihm zur Last gelegt, aber<br />

letztlich nicht nachgewiesen wur<strong>de</strong>n, trifft hier Mirbeaus Wort von <strong>de</strong>n "Kriminellen und Wahnsinnigen"<br />

ins Schwarze, <strong>de</strong>nn manche Taten fielen durch ihre beson<strong>de</strong>re Bestialität auf. Je<strong>de</strong>nfalls prahlte Ravachol<br />

mit großen Verbrechen ebenso wie mit anarchistischen Phrasen, die er in linken Kreisen aufgeschnappt<br />

hatte. Nach zwei dilettantisch inszenierten Bombenanschlägen gegen einen Richter und einen<br />

Staatsanwalt verrät er sich durch Wichtigtuerei und en<strong>de</strong>t am 14. Juli 1892 unter <strong>de</strong>r Guillotine. Obwohl<br />

schon vor ihm in Deutschland das Anarchistenduo Stellmacher/Kämmerer und in Osterreich <strong>de</strong>ren<br />

Gesinnungsgenossen Engel und Pfleger ähnlich blutige Raubzüge veranstaltet hatten, war es Ravachols<br />

Name, <strong>de</strong>r als Synonym <strong>de</strong>s Expropriateurs in die Geschichte einging und als "La Ravachole" sogar in<br />

einem zeitweise sehr beliebten Mo<strong>de</strong>tanz seinen Nie<strong>de</strong>rschlag fand.<br />

Anarchokriminelle Taten dieser Art fan<strong>de</strong>n noch eine ganze Weile ihre Nachahmer - nun aber vermehrt in<br />

Ban<strong>de</strong>n. Für die Mitglie<strong>de</strong>r solcher Gangs war Raub eine revolutionäre Form <strong>de</strong>s Klassenkampfes.<br />

Weniger brutal als Ravachol, dafür aber wirtschaftlich be<strong>de</strong>utend erfolgreicher praktizierten etwa die<br />

Ortiz- Ban<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r die Panther von Batignolles diese mo<strong>de</strong>rne Version <strong>de</strong>r Robin-Hood-Legen<strong>de</strong>. Noch<br />

1911 machte die berüchtigte Bonnot-Ban<strong>de</strong> von sich re<strong>de</strong>n, die im Vorgriff auf <strong>de</strong>n amerikanischen<br />

Gangsterstil das Automobil als Werkzeug <strong>de</strong>r anarchistischen Expropriation einführte. In einem<br />

regelrechten show down wur<strong>de</strong>n sie schließlich von <strong>de</strong>r Polizei in ihrem Versteck umstellt, von Militär<br />

belagert und medienwirksam zusammengeschossen.<br />

Eher ein individueller Verzweiflungstäter war hingegen die tragische Gestalt <strong>de</strong>s Auguste Vaillant: ein<br />

ausgemachter Pechvogel und philosophieren<strong>de</strong>r Schwärmer, <strong>de</strong>r mit seinen zwanzig Franc Monatslohn<br />

Frau und Tochter nicht ernähren konnte. In seiner Aussichtslosigkeit bastelte er eine Bombe, die sich als<br />

recht harmlos erwies, und warf sie in die Deputiertenkammer <strong>de</strong>s Pariser Parlaments, ohne daß dabei<br />

jemand verletzt wur<strong>de</strong>. Obwohl sich mehrere <strong>de</strong>r Abgeordneten für ihn verwen<strong>de</strong>ten, verurteilte ihn das<br />

Schwurgericht zum To<strong>de</strong>. Sein Gna<strong>de</strong>ngesucht wur<strong>de</strong> abgelehnt, und auch Vaillant en<strong>de</strong>te unter <strong>de</strong>m<br />

Fallbeil. Der Mann, <strong>de</strong>r das To<strong>de</strong>surteil zur Vollstreckung freigab, war <strong>de</strong>r Staatspräsi<strong>de</strong>nt Sadi Carnot,<br />

<strong>de</strong>r seinerseits am 24. Juni 1884 von <strong>de</strong>m italienischen Bäckergesellen Sante Caserio aus Rache erdolcht<br />

wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>ssen Kopf wie<strong>de</strong>rum am 15. August unter <strong>de</strong>r Guillotine fallen sollte...<br />

Es schien, als hätte die Verzweiflungstheorie von <strong>de</strong>r "Propaganda <strong>de</strong>r Tat" ein Karussell <strong>de</strong>s Wahnsinns<br />

in Gang gesetzt, eine Art politischer Blutrache, die in schwin<strong>de</strong>lerregen<strong>de</strong>r Folge ihre Kreise zog: Ein<br />

je<strong>de</strong>r wollte jeman<strong>de</strong>n rächen o<strong>de</strong>r bezog sich auf einen Vorgänger, <strong>de</strong>r seinerseits jeman<strong>de</strong>n hatte rächen<br />

wollen. Eine Spirale <strong>de</strong>r Gewalt, <strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> nicht abzusehen war. Ein Kampf aber auch, <strong>de</strong>r niemals zu<br />

gewinnen war.<br />

Rirette Maitrejean, die zusammen mit Victor Serge das Blatt Anarchie herausgab, in <strong>de</strong>ren Redaktion die<br />

Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Bonnot-Ban<strong>de</strong> ein- und ausgingen, schrieb später über<br />

231


--------------------------------------------------------------------------------<br />

diese Epoche: "Unsere I<strong>de</strong>en waren schön. Lei<strong>de</strong>r verstan<strong>de</strong>n diese Neulinge, die jungen Burschen, nicht<br />

die abstrakte Lehre daraus zu ziehen. Sie haben getötet. Und das vergossene Blut fiel auf uns zurück."<br />

Die gesamte anarchistische Bewegung durchlebte nun eine nie zuvor gekannte Repression, die keine<br />

Unterschie<strong>de</strong> machte und nicht nach Schuld fragte. Viele Anarchisten, die anfänglich <strong>de</strong>m Tyrannenmord<br />

applaudiert hatten, wandten sich angewi<strong>de</strong>rt von <strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>r Bombenleger und Raubmör<strong>de</strong>r ab. Es<br />

dauerte nicht lange, bis sich bei <strong>de</strong>n Libertären die Erkenntnis wie<strong>de</strong>r durchgesetzt hatte, daß Terror kein<br />

Weg sein konnte und durfte. Das war im Anarchismus theoretisch auch nie an<strong>de</strong>rs gesehen wor<strong>de</strong>n. Aber<br />

die Dynamik, die jene entfesselten, die glaubten, zwischen "revolutionärer Gewalt" und "Terror" eine<br />

saubere Grenze ziehen zu können, setzte starke Emotionen und zeitweise auch gewisse Sympathien frei.<br />

Es spricht für die innere Stärke <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung, daß sie sich nach kaum zehn Jahren aus<br />

eigener Kraft aus dieser tödlichen Sackgasse befreite. Die bombige I<strong>de</strong>e von <strong>de</strong>r Zauberwaffe Dynamit<br />

verschwand ebenso schnell wie<strong>de</strong>r, wie sie aufgetaucht war. Der Anarchismus entwickelte neue,<br />

konstruktivere Formen <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung, in <strong>de</strong>r das individuelle Attentat keinen Platz mehr hatte.<br />

Der Schatten <strong>de</strong>r Bombe aber lastet noch heute auf ihm.<br />

Das ist erstens ungerecht, und zweitens ist es grotesk. Ungerecht, weil Gewalt kein Merkmal <strong>de</strong>s<br />

Anarchismus ist. Grotesk, weil diejenigen, die <strong>de</strong>m Anarchismus Gewalt vorhalten, das Gewaltmonopol<br />

innehaben und sich darüber in keiner Weise moralisch <strong>de</strong>n Kopf zerbrechen. Ganz im Gegensatz zu <strong>de</strong>n<br />

Anarchisten.<br />

Exkurs: Anarchismus und Gewalt<br />

Einer <strong>de</strong>r wichtigsten Grundsätze <strong>de</strong>s Anarchismus for<strong>de</strong>rt die Anwesenheit <strong>de</strong>s Zieles in <strong>de</strong>n Mitteln.<br />

Freiheit kann man nicht mit unfreien Mittel erpressen, ein harmonisches Nebeneinan<strong>de</strong>r nicht mit<br />

Dynamit herbeibomben. Versucht man es doch, birgt dies bereits <strong>de</strong>n Keim zu neuer Gewalt in sich, <strong>de</strong>r<br />

in <strong>de</strong>r künftigen Gesellschaft üppig wuchern wür<strong>de</strong>. Dieser Grundsatz ist das genaue Gegenteil solch<br />

weitverbreiteten Unsinns, daß man mit <strong>de</strong>r Diktatur einer Partei zu einer freien Gesellschaft o<strong>de</strong>r mit<br />

staatlichen Vorschriften zum mündigen Bürger gelangen könne. Für Anarchisten heiligt <strong>de</strong>r Zweck also<br />

nicht die Mittel.<br />

Hat irgendjemand das Recht, einem an<strong>de</strong>ren das Leben zu nehmen? Sicher nicht. Auch nicht die<br />

Anarchisten. Kann irgendjemand einer geschun<strong>de</strong>nen Kreatur verbieten, sich zu wehren, sich zu rächen?<br />

Ja, aber es wäre lächerlich.<br />

Sprechen wir <strong>de</strong>shalb nicht von <strong>de</strong>n spontanen Wutausbrüchen, von geplün<strong>de</strong>rten Kirchen o<strong>de</strong>r<br />

erschlagenen Folterern, von angezün<strong>de</strong>ten Militärkasernen, verwüsteten Justizarchiven o<strong>de</strong>r gelynchten<br />

Polizeispitzeln. Solche Eruptionen <strong>de</strong>s angestauten Zorns wird es immer geben, solange Unterdrückung,<br />

Erniedrigung und Demütigung Instrumente <strong>de</strong>r Herrschaft sind. Mit "Anarchismus" haben sie nichts zu<br />

tun. Die alten Ostfriesen ließen gelegentlich einen fürstlichen Steuereintreiber im Grünkohlkessel<br />

verschwin<strong>de</strong>n, ein drang-<br />

232<br />

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salierter Ju<strong>de</strong> im Jahre Null hat schon mal einen Besatzer erschlagen, auch wur<strong>de</strong> hier und da ein<br />

Inquisitor gelyncht, und selbst Benito Mussolini hat man ohne Gerichtsurteil einfach erschossen. Solche<br />

Dinge mag man verurteilen, man mag dabei schau<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r sich klammheimlich darüber freuen — das<br />

än<strong>de</strong>rt nichts daran, daß die Opfer bisweilen <strong>de</strong>n Spieß umdrehen. Denn <strong>de</strong>r Inquisitor, Mussolini und <strong>de</strong>r<br />

Römer haben eines gemeinsam: die lange Liste ihrer Opfer.


Das soll keine Rechtfertigung von Gewalt wer<strong>de</strong>n. Solche Gewalt entzieht sich je<strong>de</strong>r Rechtfertigung wie<br />

auch je<strong>de</strong>r Verdammung. Sie wird immer wie<strong>de</strong>r produziert von vorausgehen<strong>de</strong>r Gewalt. Sie ist für Täter<br />

und Opfer kein ethisches Problem und kennt keine Abwägung von Gut und Böse. Über diese Art von<br />

Gegengewalt <strong>de</strong>n Stab zu brechen, wäre pervers. Dann müßte man auch einer jüdischen Mutter, die,<br />

nackt, mit ihrem Kind auf <strong>de</strong>m Arm, in Auschwitz in die Gaskammer getrieben wird, <strong>de</strong>n Vorwurf <strong>de</strong>r<br />

Körperverletzung machen, wenn sie in ihrer Verzweiflung auf die I<strong>de</strong>e käme, über <strong>de</strong>n SS-Offizier<br />

herzufallen.<br />

Re<strong>de</strong>n wir statt<strong>de</strong>ssen von geplanter Gewalt. Von Gewalt als Mittel zum Zweck und ihrem Verhältnis<br />

zum Anarchismus.<br />

Die Frage <strong>de</strong>r Gewalt ist für <strong>de</strong>n Anarchismus in keiner Weise prägend o<strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>nd. Hierin<br />

unterschei<strong>de</strong>t er sich nicht im geringsten von allen an<strong>de</strong>ren politischen, religiösen o<strong>de</strong>r weltanschaulichen<br />

Strömungen.<br />

Es gab immer Anarchisten, die Gewalt prinzipiell und kategorisch ablehnten, aber auch solche, die<br />

Gewalt zum Prinzip erhoben. Das ergibt sich schon aus <strong>de</strong>r Vielfalt - man könnte auch sagen: <strong>de</strong>r<br />

Inkonsequenz - dieser Bewegung. Pazifistische und gewaltbereite Anarchisten sind in<strong>de</strong>s nur die<br />

Extrempositionen, zwischen <strong>de</strong>nen sich die ganze Bandbreite einer Bewegung entfaltet, die auch in ihrem<br />

Verhältnis zur Gewalt keinen einheitlichen Standpunkt kennt.<br />

Das ist aber überall so und keinesfalls charakteristisch für Anarchisten. Liberale und Nationalisten,<br />

Christen und Patrioten, Mohammedaner und Demokraten, Rassisten und Republikaner, Kommunisten<br />

und Protestanten, Imperialisten und Sozialisten, Palästinenser und Israelis, Kapitalisten und Separatisten,<br />

Bourgeois und Proletarier, Fö<strong>de</strong>ralisten und Faschisten, Kaufleute, Forscher und Wissenschaftler, Braune,<br />

Rote, Schwarze, Grüne, Bunte und Schwarzrote - kurz: die Menschen schlechthin - haben zu allen Zeiten<br />

mehr o<strong>de</strong>r weniger intensiv Gewalt für ihre Ziele angewen<strong>de</strong>t. Alle, mit Ausnahme wirklicher Pazifisten,<br />

haben zu bestimmten Zeiten und für bestimmte Ziele Bomben gelegt, Menschen getötet, Geiseln<br />

genommen, ohne daß es einem vernünftigen Menschen einfallen wür<strong>de</strong>, auch nur eine <strong>de</strong>r genannten<br />

Menschengruppen als "Bombenwerfer" zu <strong>de</strong>finieren, wie es mit <strong>de</strong>n Anarchisten geschah.<br />

Die meisten Mor<strong>de</strong> in<strong>de</strong>s geschehen im Namen <strong>de</strong>s Staates. Das ist offensichtlich. Der Staat baut, besitzt<br />

und benutzt die meisten Bomben. Er hat Milliar<strong>de</strong>n von ihnen hergestellt und auch eingesetzt. Darin liegt<br />

das eigentlich Groteske am Gewaltvorwurf gegen <strong>de</strong>n<br />

233<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Anarchismus: Nüchtern betrachtet ist <strong>de</strong>r Staat <strong>de</strong>r berufsmäßige Terrorist, ein Profi unter lauter<br />

Stümpern. Er baut seine Bomben nicht in nächtlicher Schwarzarbeit wie Vaillant, son<strong>de</strong>rn als<br />

Serienprodukt in Fabriken. Er unterhält eine ganze Klasse von Menschen, die berufsmäßig zum Mor<strong>de</strong>n<br />

und Bombenwerfen ausgebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. O<strong>de</strong>r ist ein Bomberpilot <strong>de</strong>r Luftwaffe etwas an<strong>de</strong>res als ein<br />

professioneller Bombenwerfer mit Pensionsanspruch? Im Vergleich zum Terrorpotential <strong>de</strong>s Staates sind<br />

die anarchistischen Attentäter - vielleicht zwei Dutzend an <strong>de</strong>r Zahl - ein hoffnungsloses Häuflein von<br />

Dilettanten. Der Staat mitsamt seinen Armeen, Polizisten, agents provocateurs und Geheimdiensten - das<br />

sind die Profis <strong>de</strong>r Gewalt. Ein Blick auf die täglichen Schlagzeilen beweist, daß es Heuchelei sein muß,<br />

wenn sich ausgerechnet <strong>de</strong>r Staat über Gewalt im Anarchismus empört: Sie sind täglich voll von Terror<br />

und Gegenterror, Krieg und Vergeltungskrieg. Kein Hahn kräht danach. Es ist die Normalität. Für <strong>de</strong>n<br />

Staat war Gewalt nie eine Frage <strong>de</strong>r Moral, für ihn ist sie ein wichtiges Monopol. Er hat Angst, daß ihm<br />

jemand ins Handwerk pfuschen und seine eigenen Waffen gegen ihn kehren könnte.<br />

Ich sagte vorhin, niemand habe das Recht, einen an<strong>de</strong>ren Menschen zu töten, und das gelte auch für<br />

Anarchisten. Die Betonung liegt aber auch auf niemand: We<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Mör<strong>de</strong>r hat dieses Recht, noch sein<br />

Henker hat es, we<strong>de</strong>r Emile Henry, noch <strong>de</strong>r Richter, <strong>de</strong>r ihn zum To<strong>de</strong> verurteilte, we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Offizier, <strong>de</strong>r<br />

auf Streiken<strong>de</strong> schießt, noch <strong>de</strong>r Anarchist, <strong>de</strong>r die Streiken<strong>de</strong>n rächt. Nur - wer sich am allerwenigsten an


diese Ethik hält, ist <strong>de</strong>r Staat.<br />

Die moralische Frage von Gewalt ist ein Problem, mit <strong>de</strong>m sich die Anarchisten immer herumgequält<br />

haben und bis heute herumquälen. Der Staat tut das nicht. Anarchisten müssen mit diesem ihrem<br />

Dilemma leben und selbst zurechtkommen - <strong>de</strong>r Staat sollte hierzu am besten <strong>de</strong>n Mund halten. In <strong>de</strong>r<br />

Frage von Gewalt und Moral wäre er <strong>de</strong>r inkomptenteste Ratgeber, <strong>de</strong>n man sich <strong>de</strong>nken kann.<br />

Der Nobelpreisträger Bertrand Russell, Philosoph, Pazifist und Libertärer, hat das treffend ausgedrückt:<br />

"Wir können die ganze Frage <strong>de</strong>r Gewalt, die in <strong>de</strong>r allgemeinen Einbildung eine so große Rolle spielt,<br />

beiseite lassen, weil sie we<strong>de</strong>r etwas Wesentliches, noch etwas Beson<strong>de</strong>res für die anarchistische Position<br />

darstellt."<br />

Gewalt als Übel<br />

Das Dilemma <strong>de</strong>r Anarchisten ist damit freilich nicht gelöst. Wenngleich die historische Ära <strong>de</strong>r Attentate<br />

rasch überwun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>, so blieb <strong>de</strong>r Anarchismus in <strong>de</strong>r Folge keineswegs gewaltfrei. Der Unterschied<br />

bestand darin, daß fortan in <strong>de</strong>r Gewalt an sich niemand mehr eine Taktik o<strong>de</strong>r gar etwas Positives sah.<br />

Wo immer Gewalt noch auftrat, geschah dies, weil man glaubte, daß sie unvermeidbar war und nicht, weil<br />

man sie sich wünschte: In <strong>de</strong>r Russischen, <strong>de</strong>r Deutschen, <strong>de</strong>r Spanischen Revolution wur<strong>de</strong> geschossen.<br />

Die militante Taktik <strong>de</strong>r "Direkten Aktion" libertärer Gewerkschaften in Spanien, Lateinamerika und <strong>de</strong>n<br />

USA war auch nicht gera<strong>de</strong> friedfertig. Selbst die anarchistische Expropriation lebte in abgewan<strong>de</strong>lter<br />

Form wie<strong>de</strong>r auf, um Streikkassen zu füllen, Schulen zu finanzieren, illegale<br />

234<br />

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Gewerkschaften aufzubauen. Der Kampf anarchistischer Partisanen gegen Mussolini o<strong>de</strong>r libertärer<br />

Guerillas gegen Franco konnte nur mit Gewalt geführt wer<strong>de</strong>n. Sogar Attentate hat es nach 1900 noch<br />

vereinzelt gegeben - etwa gegen Mussolini und Franco, <strong>de</strong>n spanischen Diktator Primo <strong>de</strong> Rivera, <strong>de</strong>n<br />

faschistoi<strong>de</strong>n Bischof von Zaragoza o<strong>de</strong>r die Militärs Falcon und Varela, die die Verantwortung für<br />

blutige Massaker an <strong>de</strong>r argentinischen Arbeiterschaft trugen. Das geschah nicht aus Lust an <strong>de</strong>r Gewalt,<br />

son<strong>de</strong>rn die Beteiligten hielten es für unumgänglich. Diese "Beteiligten" han<strong>de</strong>ln jetzt auch nicht mehr,<br />

wie Ravachol o<strong>de</strong>r Bonnot, auf eigene Rechnung, son<strong>de</strong>rn im Kontext sozialer Kämpfe. Sie waren Teil<br />

einer politischen Organisation o<strong>de</strong>r Bewegung, <strong>de</strong>r sie Rechenschaft ablegen mußten. Keine von ihnen<br />

aber hat jemals wie<strong>de</strong>r Gewalt zum Inhalt ihres Han<strong>de</strong>lns gemacht, sie alle betrachteten Gewalt als Übel.<br />

Das alles aber beantwortet nicht das ethische Problem, das sich <strong>de</strong>n Anarchisten bei <strong>de</strong>r Anwendung von<br />

Gewalt stellt. Diese Frage beantworten verschie<strong>de</strong>ne Anarchisten auf verschie<strong>de</strong>ne Weise, und nur bei <strong>de</strong>n<br />

Pazifisten ist diese Antwort ein<strong>de</strong>utig. In <strong>de</strong>r Tat sind es die sogenannten gewaltfreien Libertären, die sich<br />

als einzige konsequent nicht nur gegen Gewalt wen<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn aktiv für Friedfertigkeit eintreten. In <strong>de</strong>n<br />

Traditionen von Tolstoi, Gandhi, Martin Luther-King und Russell haben sie dabei ein ganzes System<br />

ethischen Han<strong>de</strong>lns entwickelt, das durchaus in <strong>de</strong>r Lage ist, sozialen Druck auszuüben, ohne gewalttätig<br />

zu sein. Für sie ist Ablehnung von Gewalt nicht das Ergebnis einer Abwägung <strong>de</strong>r Vor- und Nachteile,<br />

son<strong>de</strong>rn eine ein<strong>de</strong>utige ethische Entscheidung. In regelrechten Workshops trainieren sie passiven<br />

Wi<strong>de</strong>rstand, <strong>de</strong>fensive Taktik und Deeskalation, und bestens aufeinan<strong>de</strong>r eingespielte "gewaltfreie<br />

Bezugsgruppen" tragen solche Aktionsformen dann in die Arenen politischer Kämpfe, in <strong>de</strong>nen sonst eher<br />

Knüppel und Pflasterstein regieren. Dabei nehmen sie lieber eine Nie<strong>de</strong>rlage in Kauf, als zur Gewalt zu<br />

greifen, <strong>de</strong>nn dies wäre ihre schlimmste Nie<strong>de</strong>rlage. Sie setzen auf Zeit, beweisen Geduld und kommen<br />

immer wie<strong>de</strong>r. Dabei sind sie durchaus zornig und keineswegs immer sanftmütig - aber eben nie<br />

gewalttätig. Auf diese Weise haben sie, auch in Deutschland, durch jahrelanges Beispiel Stück für Stück<br />

das Klima <strong>de</strong>r politischen Kultur und Auseinan<strong>de</strong>rsetzung verän<strong>de</strong>rt. Selbstverständlich ist in <strong>de</strong>r Theorie<br />

ein gewaltfreier Anarchismus zugleich auch <strong>de</strong>r konsequenteste Anarchismus, <strong>de</strong>nn Gewalt ist immer<br />

auch Zwang.<br />

Im Mainstream-Anarchismus dominiert heute eine ein<strong>de</strong>utige Abscheu vor Gewalt; noch in <strong>de</strong>n siebziger


Jahren war eher die Lust am "militanten Zoff" die Regel. Heute wird Gewalt fast ausnahmslos als ein<br />

Übel verstan<strong>de</strong>n, das so selten wie möglich als ›unver-meidlich‹ angesehen wer<strong>de</strong>n darf. Ihr Nutzen wird<br />

sehr begrenzt eingeschätzt und müsse, so die vorherrschen<strong>de</strong> Meinung, sehr verantwortungsbewußt gegen<br />

ihre Gefahren abgewägt wer<strong>de</strong>n. Wobei nicht vergessen wer<strong>de</strong>n darf, daß in <strong>de</strong>r politischen Diskussion<br />

unter "Gewalt" heute eher ein geworfener Pflasterstein, ein nie<strong>de</strong>rgerissener Bauzaun o<strong>de</strong>r ein<br />

zerschlagenes Schaufenster verstan<strong>de</strong>n wird als die Bomben <strong>de</strong>s Emile Henry, die selbst in<br />

Anarchistenkreisen kaum mehr <strong>de</strong>m Hörensagen nach bekannt sind.<br />

Das führt natürlich zu <strong>de</strong>r Frage, was <strong>de</strong>nn Gewalt überhaupt genau ist.<br />

235<br />

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Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r nicht meint, die Herrschen<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n eines Tages wegen <strong>de</strong>r besseren Argumente <strong>de</strong>r<br />

Unterdrückten freiwillig abtreten, muß wissen, daß sich gewaltsame Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen - gleich in<br />

welcher Form - kaum vermei<strong>de</strong>n lassen wer<strong>de</strong>n. Gewalt kann viele Gesichter haben: brutal o<strong>de</strong>r sanft,<br />

physisch o<strong>de</strong>r psychisch, direkt o<strong>de</strong>r indirekt, vernichtend o<strong>de</strong>r erpresserisch. Letztendlich ist je<strong>de</strong>r Druck,<br />

<strong>de</strong>n Menschen auf an<strong>de</strong>re Menschen ausüben, damit diese etwas tun, was sie nicht wollen, eine Form von<br />

Gewalt. In diesem Sinne wäre selbst ein Hungerstreik Gandhis als Gewalt zu werten. Es ist keine Frage,<br />

daß ein überzeugter Anarchist im Zweifelsfalle stets eine ›Gewalt à la Gandhi‹ vorziehen wür<strong>de</strong>. Nur: Die<br />

Herrschen<strong>de</strong>n stellen die Machtfrage meist in ihrem Sinne und mit ihren Mitteln, und die bestehen eben in<br />

<strong>de</strong>r Regel aus – Gewalt.<br />

Die "Anwesenheit <strong>de</strong>s Ziels in <strong>de</strong>n Mitteln" ist ein kluger Grundsatz <strong>de</strong>s Anarchismus. Je<strong>de</strong>r Mensch<br />

weiß, daß auch dieser Grundsatz ein Ziel ist, ein Ziel, daß beständig angestrebt wer<strong>de</strong>n muß, aber nicht<br />

immer erreicht wird. Eine Maxime, wie die Philosophen sagen.<br />

Die Terroristen vom Schlage Henrys und Ravachols hatten, selbst wenn sie sich Anarchisten nannten, mit<br />

dieser Maxime nichts im Sinn. Die Anarchistin Severine, Lebensgefährtin <strong>de</strong>s Ex-Kommunar<strong>de</strong>n Jules<br />

Volles, spricht über sie ein mitleidloses Urteil: Sie waren "Hysteriker <strong>de</strong>s Elends, Neurotiker <strong>de</strong>r Revolte,<br />

die sich an ihrer Virulenz wie an einem allzu feurigen Wein berauschten."<br />

Wie wichtig diese Maxime im Denken späterer Generationen wer<strong>de</strong>n sollte, mag das Zitat <strong>de</strong>r jungen<br />

Anarchistin Victoria d'Andrea zeigen. Es stammt aus <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>nschaftlichen Gewaltdiskussion, die in <strong>de</strong>n<br />

zwanziger Jahren die Gemüter <strong>de</strong>r argentinischen Libertären erhitzte und eine <strong>de</strong>r stärksten, populärsten<br />

und hoffnungsvollsten anarchistischen Bewegungen <strong>de</strong>r Welt in eine verhängnisvolle Spaltung trieb:<br />

"Wir sind nicht Anarchisten weil wir hassen, son<strong>de</strong>rn weil wir das Leben lieben. Der Mensch ist von<br />

Natur aus ein geselliges Wesen, und wir kämpfen dafür, daß je<strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>r zu seinem Recht kommt, über<br />

sein Leben zu verfügen; das be<strong>de</strong>utet, die jetzige Gesellschaftsform zu vernichten und eine anarchistische<br />

aufzubauen, die <strong>de</strong>r natürlichen Entwicklung <strong>de</strong>s Menschen gerecht wird. Da für uns Mord unmenschlich<br />

ist, können wir ihn auch nicht als Kampfmetho<strong>de</strong> akzeptieren."<br />

Literatur:<br />

/ Justus F. Wittkop: Propaganda <strong>de</strong>r Tat, in: Unter <strong>de</strong>r schwarzen Fahne, Frankfurt/M. 1973, Fischer, 270<br />

S., ill.<br />

/ James Joll: Terrorismus und Propaganda durch die Tat, in: Die Anarchisten, Berlin 1969, Ullstein, 222<br />

S.<br />

/ Rudolf Krämer-Badoni: Terror m: Anarchismus, Wien, München, Zürich 1970, Mel<strong>de</strong>n, 288 S.<br />

/ Ro<strong>de</strong>rick Kedward: Individueller Terror, in: Die Anarchisten Lausanne 1970, Editions Rencontre, 128<br />

S., ill.<br />

/ Georges Sorel: Über die Gewalt Frankfurt/M. 1969, Suhrkamp, 393 S.<br />

/ Johann Most: Revolutionäre Kriegswissenschaft Berlin 1980, Rixdorfer Verlagsanstalt, 97 S.<br />

/ Arthur Holitscher: Ravachol und die Pariser Anarchisten Frankfurt/M. o.J., Freie Gesellschaft, 94 S.<br />

/ Maria Matray, Answald Krüger: Der Tod <strong>de</strong>r Kaiserin Elisabeth von Österreich München, Wien, Basel


1970, Desch, 415 S.<br />

/ Siegfried Schrö<strong>de</strong>r: Bomben, Blut und Bitterkeit Berlin 1980, Militärverlag <strong>de</strong>r DDR, 270 S.<br />

/ Walter Laqueur: Terrorismus Kronberg 1977, Athenäum, 243 S.<br />

/ Friedrich Hacker: Terror Reinbek 1975, Rowohlt, 331 S.<br />

/ Hannah Arendt: Macht und Gewalt München 1970, Piper, 1363.<br />

/ Eric J. Hobsbawm: Sozialrebellen Neuwied 1971, Luchterhand, 285 S.<br />

/ Edith Eucken-Erdsiek: Die Macht <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rheit - Eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m Neuen<br />

Anarchismus Freiburg 1970, Her<strong>de</strong>r, 123 S.<br />

/ George Lakey, Michael Rändle; Gewaltfreie Revolution Berlin 1988, Oppo, 113 S.<br />

/ Kurt Hiller: Pazifismus <strong>de</strong>r Tat -Revolutionärer Pazifismus Berlin 1981, AHDE, 71 S.<br />

/ April Carter: Direkte Aktion - Leitfa<strong>de</strong>n für <strong>de</strong>n Gewaltfreien Wi<strong>de</strong>rstand Berlin 1983, AHDE, 76 S.<br />

236<br />

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Kapitel 28<br />

Gegenseitige Hilfe –<br />

Kropotkin und <strong>de</strong>r kommunistische Anarchismus<br />

Eine zukünftige Gesellschaft muß die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Entlohnens <strong>de</strong>r Arbeit aufgeben.<br />

Es bleibt nur eins: Die Bedürfnisse über die Leistungen zu stellen.<br />

- Peter Kropotkin -<br />

"WIR HATTEN EINEN KLEINEN GARTEN, in <strong>de</strong>m wir uns mit Kegelschieben unterhalten konnten.<br />

Überdies bestellten wir ein schmales Stückchen Land und erzielten fast unglaubliche Mengen an<br />

Salatköpfen und Rettichen, wie auch einige Blumen."<br />

Über <strong>de</strong>n Mann, <strong>de</strong>r so von seinem Gärtlein schwärmte, schrieb George Bernhard Shaw: "Er war so<br />

liebenswert, daß es ans Heilige grenzte; mit seinem roten Vollbart und <strong>de</strong>m gütigen Gesicht hätte man ihn<br />

für einen Hirten aus <strong>de</strong>n lieblichen Bergen halten können." Der vermeintliche Landfreak aber war kein<br />

Hirte, und sein Gärtlein lag im Zentralgefängnis von Clairvaux. In <strong>de</strong>n Mauern <strong>de</strong>s alten Klosters, in <strong>de</strong>m<br />

einst <strong>de</strong>r Heilige Bernhard wirkte, saß Peter Alexandrowitsch Kropotkin eine fünfjährige Haftstrafe ab<br />

und litt trotz <strong>de</strong>r Salatköpfe an Skorbut. Der sanfte Gefangene war ein leibhaftiger russischer Fürst und<br />

prominenter Naturwissenschaftler, <strong>de</strong>r in seiner Zelle Artikel für die Encyclopedia Britannica verfaßte.<br />

Vor allem aber war er <strong>de</strong>r <strong>de</strong>rzeit populärste und <strong>de</strong>shalb, wie die Behör<strong>de</strong>n meinten, gefährlichste<br />

Anarchist. Prominente Zeitgenossen wie Swinbourne, Herbert Spencer, Victor Hugo und Clemenceau<br />

hatten sich für die Lockerung seiner Haftbedingungen eingesetzt, und die Académie <strong>de</strong>s Sciences in Paris<br />

stellte ihm ihre Bibliothek zur Verfügung. 1886 wur<strong>de</strong> er begnadigt und ging nach London, um sich<br />

sogleich wie<strong>de</strong>r seiner Lebensaufgabe zu widmen: <strong>de</strong>r Erneuerung <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung.<br />

Peter Kopotkin war zur zentralen Figur unter <strong>de</strong>njenigen gewor<strong>de</strong>n, die die Krise <strong>de</strong>s Anarchismus<br />

überwin<strong>de</strong>n wollten, und er hatte das Zeug dazu. Seine I<strong>de</strong>en sollten die libertäre Bewegung ins<br />

zwanzigste Jahrhun<strong>de</strong>rt führen. Von ihm gingen erneuern<strong>de</strong> Impulse aus, die <strong>de</strong>n rustikalen Anarchismus<br />

Bakunins weiterentwickelten und verfeinerten, und <strong>de</strong>ren zentrale Gedanken bis heute Bestand haben.<br />

Vom Fürsten zum Rebellen<br />

Dabei hätte aus <strong>de</strong>m 1842 in Moskau geborenen Peter Alexandrowitsch eigentlich etwas ganz an<strong>de</strong>res<br />

wer<strong>de</strong>n sollen. 1857 kam <strong>de</strong>r Sproß eines alten russischen Hocha<strong>de</strong>lsgeschlechtes auf speziellen Wunsch<br />

<strong>de</strong>s Zaren in <strong>de</strong>ssen persönliche Pagencorps an <strong>de</strong>n Hof zu St. Petersburg. Der Fünfzehnjährige aber<br />

fühlte sich alles an<strong>de</strong>re als geehrt. Er empfand die <strong>de</strong>spotische Atmosphäre im Zentrum <strong>de</strong>r Macht als


unerträglich, versuchte sich sogar mit <strong>de</strong>r Herausgabe eines handgeschriebenen revolutionären Blättchens.<br />

Schon als Knabe hatte er Mitleid mit <strong>de</strong>m bedrücken<strong>de</strong>n Schicksal <strong>de</strong>r landlosen Bauern empfun<strong>de</strong>n, von<br />

<strong>de</strong>nen sein Vater immerhin 12.000 ›sein Eigen‹ nannte. Zum Offizier avanciert, mel<strong>de</strong>t er<br />

237<br />

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sich zum Entsetzen seiner adligen Freun<strong>de</strong> freiwillig zu einem <strong>de</strong>r verrufensten Regimenter im fernen<br />

Sibirien, <strong>de</strong>n Amur-Kosaken. Er wollte fort von <strong>de</strong>n Verlogenheiten <strong>de</strong>s Hofes, hin zum harten, einfachen<br />

Leben in <strong>de</strong>n endlosen Weiten Sibiriens, zu <strong>de</strong>n Bauern, Verbrechern und verkrachten Existenzen, die er<br />

in gewisser Weise i<strong>de</strong>alisierte.<br />

In Sibirien trifft er aber auch auf Spuren <strong>de</strong>r Anarchie. In Irkutsk lernt er, kurz nach Bakunins Flucht,<br />

<strong>de</strong>ssen Frau Antonia kennen und <strong>de</strong>n mit Bakunin befreun<strong>de</strong>ten Gouverneur Kukel. In <strong>de</strong>r Bibliothek <strong>de</strong>s<br />

verbannten Schriftstellers M. L. Michailow fin<strong>de</strong>t er die Werke Proudhons, die er mit Gewinn liest.<br />

Prägen<strong>de</strong>r aber sollten sich seine eigenen Erfahrungen erweisen, die <strong>de</strong>r aufmerksame Beobachter mit <strong>de</strong>n<br />

Menschen, <strong>de</strong>m Land und <strong>de</strong>r Natur macht. Mit seiner Truppe aus verurteilten Mör<strong>de</strong>rn und Dieben<br />

unternimmt er ausge<strong>de</strong>hnte Forschungsreisen, <strong>de</strong>ren Ergebnisse weit über die verkehrsstrategischen Ziele<br />

hinausgehen, die <strong>de</strong>r Generalstab ihm gesetzt hatte. Über 8000 Meilen legt er zu Pfer<strong>de</strong>, im Wagen, im<br />

Dampfboot o<strong>de</strong>r im Kahn zurück und dringt als Händler verklei<strong>de</strong>t in Gebiete vor, die noch von keinem<br />

Europäer besucht wor<strong>de</strong>n waren. Hier legt Kropotkin <strong>de</strong>n Grundstock für seine naturwissenschaftliche<br />

Karriere als Geograph und Geologe, aber auch als universeller Beobachter <strong>de</strong>r Natur, die ihn zum<br />

Wegbereiter einer Disziplin machen, die später "Verhaltensforschung" genannt wer<strong>de</strong>n wird.<br />

"Die Jahre, die ich in Sibirien verbrachte", schreibt er in seinen Memoiren, "lehrten mich vieles, das ich<br />

schwerlich woan<strong>de</strong>rs hätte lernen können. Es wur<strong>de</strong> mir bald klar, daß es völlig unmöglich sei, für die<br />

große Masse <strong>de</strong>s Volkes auf <strong>de</strong>m gewöhnlichen Weg <strong>de</strong>r Verwaltung etwas wirklich Heilsames zu<br />

schaffen. (...) Die konstruktive Arbeit, die von <strong>de</strong>r namenlosen Menge getan wird, und die große<br />

Be<strong>de</strong>utung dieser konstruktiven Arbeit für die Entwicklung sozialer Formen trat mir überzeugend vor<br />

Augen. (...) So wur<strong>de</strong> ich dazu vorbereitet, ein Anarchist zu wer<strong>de</strong>n."<br />

1868, nach <strong>de</strong>r blutigen Nie<strong>de</strong>rschlagung eines Aufstan<strong>de</strong>s polnischer Deportierter, zieht er unter Protest<br />

die Uniform aus und widmet sich an <strong>de</strong>r Universität von St. Petersburg <strong>de</strong>m Studium <strong>de</strong>r<br />

Naturwissenschaften. Er wird ein vielbeachtetes Mitglied <strong>de</strong>r Russischen Geographischen Gesellschaft<br />

und schon bald zu ihrem Generalsekretär berufen. Seine wissenschaftlichen Ambitionen hatten sich rasch<br />

erfüllt, aber in ihm gärte bereits ein stärkerer Wunsch. Ein Forschungsauftrag, <strong>de</strong>r ihn nach Skandinavien<br />

führt, bringt ihn erneut in Kontakt mit <strong>de</strong>m kärglichen Leben <strong>de</strong>r Bauern, und als er zurückkehrt, steht<br />

sein Entschluß fest: Fortan will er sein Leben "in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>r sozialen Frage" stellen.<br />

1872 bekommt er die Gelegenheit, nach Zürich zu gehen, wo bereits sein Bru<strong>de</strong>r Alexan<strong>de</strong>r lebt. Durch<br />

ihn fin<strong>de</strong>t er Zugang zu sozialistischen Kreisen und wird Mitglied <strong>de</strong>r Internationale. Er liest mit Eifer,<br />

schaut sich aufmerksam um und erlebt das abstoßen<strong>de</strong> Verhalten karrierebesessener Arbeiterfunktionäre:<br />

"Diese Drahtzieherei seitens <strong>de</strong>r Führer konnte ich mit <strong>de</strong>n flammen<strong>de</strong>n Re<strong>de</strong>n, die ich sie hatte halten<br />

hören, nicht zusammenreimen. Ich fühlte mich abgestoßen."<br />

In Genf lernt er die bakunistische Sektion kennen und wen<strong>de</strong>t sich von dort nach Neuchâtel, ins Herz <strong>de</strong>r<br />

"Jura-Fö<strong>de</strong>ration". In wenigen Wochen machte er sich so ein Bild vom Zustand <strong>de</strong>s Sozialismus — nicht,<br />

in<strong>de</strong>m er sich auf theo-<br />

238<br />

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etische Spitzfindigkeiten einließ, son<strong>de</strong>rn dadurch, daß er genau hinschaute. Am meisten imponierte ihm<br />

das offene, freie Klima bei <strong>de</strong>n Libertären, ihr optimistischer und konstruktiver Geist. Die Uhrmacher<br />

hatten sich in kleinen Kollektiven zusammengeschlossen, die jeweils eine Manufaktur betrieben und die<br />

Gewinne untereinan<strong>de</strong>r aufteilten. Hier gab es kaum hierarchische Strukturen - we<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Arbeit, noch<br />

in <strong>de</strong>r Politik. "Die Trennung zwischen Führern und Arbeitern", schreibt Kropotkin, "existierte dort nicht.<br />

Es fand sich auch dort eine Anzahl von Männern, die scharfsinniger und vor allem tätiger waren als die<br />

an<strong>de</strong>ren, aber das war alles." Von diesen "scharfsinnigen Männern" lernte er <strong>de</strong>n Graveur Adhémar<br />

Schwitzguebel und <strong>de</strong>n Lehrer James Guillaume näher kennen, <strong>de</strong>r ihm übrigens von einem Besuch beim<br />

"alt und mü<strong>de</strong> gewor<strong>de</strong>nen" Bakunin im nahen Locarno abriet. Aber auch ohne die Visite bei seinem<br />

berühmten Landsmann, <strong>de</strong>n er nie persönlich kennenlernen sollte, stand Kropotkins Bilanz nach zwölf<br />

Tagen fest: "Ich war ein Anarchist."<br />

Jahre <strong>de</strong>r Aktion<br />

Als solcher war er fest entschlossen, nach Rußland zurückzukehren. Ein Dasein als Frem<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />

Emigration empfand er als steril. Noch im Sommer <strong>de</strong>s gleichen Jahres reist Kropotkin zurück in die<br />

Heimat — im Gepäck mehrere Bün<strong>de</strong>l illegaler Literatur. In St. Petersburg nimmt er Verbindung zu<br />

Oppositionsgruppen auf: <strong>de</strong>m seit 1869 bestehen<strong>de</strong>n Sozialistischen Bildungsverein und <strong>de</strong>m<br />

konstitutionellen Tschaikowski-Kreis, <strong>de</strong>r sich um <strong>de</strong>n Bru<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Komponisten geschart hatte. Es gelingt<br />

ihm, viele <strong>de</strong>r jungen Leute für seine I<strong>de</strong>en zu interessieren. Neben seinen wissenschaftlichen Arbeiten<br />

entfaltet er im Geheimen eine rege agitatorische Tätigkeit. Auch die Polizei wird auf diesen ominösen*<br />

Mann aufmerksam, <strong>de</strong>r sich Borodin nennt und als Bauer verklei<strong>de</strong>t an illegalen Versammlungen in <strong>de</strong>n<br />

Vorstädten teilnimmt o<strong>de</strong>r Vorträge in Webereien und Baumwollfabriken hält.<br />

Wie üblich herrscht auch in <strong>de</strong>r Gruppe keine Einigkeit über <strong>de</strong>n richtigen Weg. Vom Sozial<strong>de</strong>mokraten<br />

bis zum strammen Narodnik sind alle Richtungen vertreten, nicht wenige hängen <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en Netschajews<br />

an. Agitation halten sie für Zeitverschwendung: Verschwörung und Attentate lautet ihr Rezept, wobei sich<br />

einige sogar auf Bakunin berufen. Kropotkin tritt diesem "Nihilismus" entgegen und entwickelt seine<br />

eigene Auffassung von Revolution:<br />

"Zur Verwirklichung <strong>de</strong>r Gleichheit gehören viele Jahre, viele partielle Ausbrüche, die man beschleunigen<br />

muß. Der Aufstand kann nicht von <strong>de</strong>n Revolutionären gemacht wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn sie müssen <strong>de</strong>n sich<br />

vorbereiten<strong>de</strong>n Aufstand för<strong>de</strong>rn, die unzufrie<strong>de</strong>nen Elemente untereinan<strong>de</strong>r verbin<strong>de</strong>n, kurz, auf je<strong>de</strong><br />

Weise helfen."<br />

Nicht unbedingt nur friedlich, aber so friedlich wie irgend möglich: "Ich begriff allmählich, daß<br />

Revolutionen, d.h. Perio<strong>de</strong>n beschleunigter Entwicklung und reißend schneller Fortschritte, <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r<br />

menschlichen Gesellschaften nicht min<strong>de</strong>r eigen sind als die langsame Fortentwicklung." Es han<strong>de</strong>le sich<br />

also nicht um die Frage, wie man Revolutionen vermei<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn wie "die größten Ergebnisse bei<br />

möglichster Beschränkung <strong>de</strong>r Opfer und einem Minimum gegenseitiger Erbitterung" zu erzielen seien.<br />

Kropotkin plädiert zunächst für die Verbreitung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>en unter <strong>de</strong>n Bauern und Arbeitern: durch<br />

239<br />

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leicht verständliche Broschüren und eine kleine volkstümliche Zeitschrift. Vor allem aber durch eine Art<br />

von Propaganda, "die wir die tägliche nennen": das direkte, nachvollziehbare Vorleben freiheitlicher und<br />

befreien<strong>de</strong>r Lebensformen. Er dachte hierbei an lokale Bewegungen mit weitreichen<strong>de</strong>n sozialen Zielen,<br />

vor allem an Produktions- und Verbrauchsgenossenschaften. Aber damit war er seiner Zeit weit voraus.<br />

Schon bald wird die Gruppe systematisch verfolgt, immer mehr Mitglie<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n verhaftet. Kropotkin<br />

trägt sich mit <strong>de</strong>m Gedanken, nach Südrußland zu gehen, um auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> weiter zu wirken. Im März<br />

1874 wird er jedoch entlarvt und verhaftet. Er lan<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r Peter-und-Pauls-Festung, wo schon Bakunin<br />

dreiundzwanzig Jahre zuvor gelitten hatte. 193 Gesinnungsgenossen sitzen wegen Agitation in strengster<br />

Haft: Isolierung, feuchte Zellen, schlechtes Essen, keine Heizung, absolutes Sprechverbot. Die


Untersuchung sollte sich vier Jahre hinschleppen, während <strong>de</strong>r einundzwanzig Häftlinge Selbstmord<br />

begehen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Wahnsinn verfallen. "Bakunin hat es ausgehalten", sagte sich Kropotkin, "und das muß<br />

auch ich; ich will nicht erliegen." Von Skorbut befallen und völlig entkräftet wird er ins Militärhospital<br />

eingeliefert. Von hier gelingt ihm mit Hilfe von außen die Flucht. Während die ganze Stadt nach <strong>de</strong>m<br />

prominenten Flüchtling durchkämmt wird, sitzt dieser, <strong>de</strong>n Bart gestutzt, dort, wo man ihn am wenigstens<br />

vermutet: beim Diner im besten Restaurant am Platze.<br />

Über Schwe<strong>de</strong>n und Schottland gelangt Kropotkin nach London, immer noch entschlossen, nach ein paar<br />

Monaten Erholung in seine Heimat zurückzukehren. Es sollte aber noch einundvierzig Jahre dauern, bis er<br />

Rußland 1917 wie<strong>de</strong>rsieht. In London verdient er sich seinen Lebensunterhalt mit journalistischen<br />

Arbeiten in <strong>de</strong>r Times und <strong>de</strong>m Magazin Nature, aber es hält ihn nicht in England. Er will wie<strong>de</strong>r an die<br />

Brennpunkte <strong>de</strong>r Bewegung. Nach einigen Reisen kehrt er 1877 zurück in <strong>de</strong>n Schweizer Jura.<br />

Reorganisation<br />

Die Jura-Fö<strong>de</strong>ration fand er in einem be<strong>de</strong>nklichen Zustand vor. Die zahlreichen Flüchtlinge aus <strong>de</strong>r<br />

Pariser Commune hatten einen Hauch von Resignation mitgebracht, und auch in <strong>de</strong>r liberalen Schweiz<br />

wur<strong>de</strong>n nun die Anarchisten von Behör<strong>de</strong>n und Unternehmern schikaniert und bedroht. Immer weniger<br />

Arbeiter trauten sich, offen zu ihrer Überzeugung zu stehen. Vor allem aber fehlte es an Elan, neuen I<strong>de</strong>en<br />

und einem Organisationstalent. Es schien, als wartete hier eine Aufgabe auf <strong>de</strong>n tatendurstigen Russen.<br />

In diesen Jahren entsteht von <strong>de</strong>r Schweiz aus die längst überfällige geistige und personelle Erneuerung<br />

<strong>de</strong>s Anarchismus. Um Kropotkin und Guillaume schart sich eine neue Generation von aktiven<br />

Gesinnungsgenossen, die in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahrzehnten <strong>de</strong>n Motor <strong>de</strong>r Bewegung abgeben wer<strong>de</strong>n: Elisee<br />

Reclus, ein Flüchtling <strong>de</strong>r Commune, vormals Direktor <strong>de</strong>r Pariser Nationalbibliothek und Geograph wie<br />

Kropotkin. Errico Malatesta, ein junger Italiener, ehemals Medizinstu<strong>de</strong>nt, <strong>de</strong>r 1877 mit einer Gruppe<br />

anarchistischer Guerillas in italienischen Bergdörfern <strong>de</strong>n Aufstand geprobt hatte. Der puritanische<br />

Marchese Carlo Cafiero, ebenfalls Teilnehmer <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s und finanzieller För<strong>de</strong>rer <strong>de</strong>s<br />

240<br />

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greisen Bakunin. Der Südfranzose Paul Brousse, ein ruheloser Wirbelwind, Herausgeber eines<br />

französischen sowie eines <strong>de</strong>utschen Blattes und Erfin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s so sehr mißbrauchten Ausdruckes<br />

propagan<strong>de</strong> par le fait*. Dieser harte Kern hochmotivierter Leute dachte das, was bei Bakunin als negative<br />

Kritik begonnen war, zu En<strong>de</strong>. Heraus kam eine positive Utopie, die später als "Anarchistischer<br />

Kommunismus" bezeichnet wur<strong>de</strong>. Schon die anarchistischen Kongresse von Florenz 1876 und La-<br />

Chaux-<strong>de</strong>-Fonds 1880 brachten <strong>de</strong>r neuen I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>n Durchbruch. Kropotkin wur<strong>de</strong> für mehr als dreißig<br />

Jahre ihr prominentester Autor. "Unsere Haupttätigkeit", schrieb er, "bestand in <strong>de</strong>r Ausgestaltung <strong>de</strong>s<br />

anarchistischen Sozialismus nach <strong>de</strong>r praktischen und theoretischen Seite hin".<br />

Nach<strong>de</strong>m das Bulletin <strong>de</strong>r Jura-Fö<strong>de</strong>ration verboten wur<strong>de</strong>, grün<strong>de</strong>ten Kropotkin, Dumatheray und Herzig<br />

1879 in Genf Le Revolte*. Das war nun endlich ein Blatt, das ein breites Publikum ansprach. In ihr<br />

veröffentlichte Kropotkin eine Unzahl seiner volkstümlich geschriebenen Artikel, hier fand die<br />

publizistische Umsetzung <strong>de</strong>r neuen I<strong>de</strong>en statt, die in jenen Jahren im Jura ausgebrütet wur<strong>de</strong>n. Viele<br />

Texte, die später in Buchform zu libertären Klassikern wur<strong>de</strong>n, hatten zuerst im Revolte gestan<strong>de</strong>n. Das<br />

Blatt erschien zunächst vierzehntägig, dann wöchentlich, und die Auflage stieg so rasch, daß die<br />

Behör<strong>de</strong>n begannen, die Druckerei zu schikanieren. Kropotkin & Co. entschlossen sich kurzerhand,<br />

›Unternehmer‹ zu wer<strong>de</strong>n: Sie grün<strong>de</strong>ten die Imprimerie Jurassienne, in <strong>de</strong>r auf Jahre die subversive<br />

Gebrauchsprosa vieler Län<strong>de</strong>r gedruckt wur<strong>de</strong>. Le Revolte, diese vielleicht erste anarchistische<br />

›Publikumszeitschrift‹ wur<strong>de</strong> zum Vorbild vieler an<strong>de</strong>rer libertärer Blätter, die jetzt überall offensiv<br />

begannen, anarchistische I<strong>de</strong>en auch unter <strong>de</strong>m Etikett ›Anarchis-mus‹ zu verbreiten. In Frankreich,<br />

wohin die Redaktion später umzog, trug <strong>de</strong>r Revolte nicht unwesentlich zur Erstarkung <strong>de</strong>s Anarchismus<br />

bei. Elisee Reclus wur<strong>de</strong> zeitweise ihr Herausgeber, gefolgt von <strong>de</strong>m energischen Arbeiter Jean Grave,<br />

<strong>de</strong>r wegen Verbots zweimal <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s Blattes än<strong>de</strong>rn mußte: zunächst in La Revolte* und später in


Les Temps Nouveaux*.<br />

Zeit für die Naturwissenschaften fand Kropotkin nun kaum noch. Er bereiste halb Europa: Frankreich,<br />

Belgien, England und Spanien. Der Besuch auf <strong>de</strong>r iberischen Halbinsel wur<strong>de</strong> zum beeindrucken<strong>de</strong>n<br />

Erlebnis: Hier kam er erstmals in Kontakt mit gut organisierten anarchistischen Arbeiterorganisationen.<br />

Aus <strong>de</strong>m belächelten Netz <strong>de</strong>r Bakuninschen Alliance waren regelrechte Massengewerkschaften<br />

entstan<strong>de</strong>n.<br />

1878 hatte Kropotkin in Genf die Bekanntschaft einer russischen Stu<strong>de</strong>ntin gemacht, die in <strong>de</strong>n<br />

"nihilistischen Kreisen <strong>de</strong>r russischen Jugend" aktiv gewesen war, und die er offenbar sehr sympathisch<br />

fand. Dort, so schreibt Kropotkin mit kaum verhohlener Bewun<strong>de</strong>rung, sah man in einer Frau "einen<br />

Kamera<strong>de</strong>n, ein menschliches Wesen, aber keine Puppe und keinen Klei<strong>de</strong>rstock". Die selbstbewußte und<br />

emanzipierte Sofia Ananeva schien <strong>de</strong>rartiges von <strong>de</strong>m anarchisieren<strong>de</strong>n Fürsten auch nicht erwartet zu<br />

haben. Bald darauf wird sie Frau Kropotkina.<br />

Als Kropotkin 1881 vom Londoner Anarchistenkongreß zurückkehrt, wird er aus <strong>de</strong>r Schweiz<br />

ausgewiesen. Dabei hat vermutlich die Wortradikalität eine Rolle gespielt, mit <strong>de</strong>r<br />

241<br />

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er verschie<strong>de</strong>ne Artikel im Revolte gewürzt hatte, nach<strong>de</strong>m in Rußland einige seiner besten Freun<strong>de</strong><br />

hingerichtet wor<strong>de</strong>n waren. Trotz seiner eigenen Einschätzung, die Zeitung "im Tonfall maßvoll, aber<br />

<strong>de</strong>m Wesen nach revolutionär" zu gestalten, fan<strong>de</strong>n sich Sätze wie diese: "Unsere Aktion muß die<br />

permanente Revolution sein, mit Wort, Schrift, Dolch, Gewehr, Dynamit" — das liest sich nicht gera<strong>de</strong><br />

"maßvoll", beson<strong>de</strong>rs, wenn dabei überlesen wird, daß <strong>de</strong>r Autor damit ausdrücklich keinen individuellen<br />

Terror, son<strong>de</strong>rn das Recht auf kollektive Revolte begrün<strong>de</strong>t. Die Schweizer Behör<strong>de</strong>n haben sich offenbar<br />

für solche Feinheiten nicht interessiert, ebensowenig wie die fanatisierten Jünger, die zu Kropotkins<br />

Entsetzen diese Worte als Blankovollmacht für politische Attentate auffaßten. An<strong>de</strong>rerseits war<br />

Kropotkin inzwischen selbst ins Zielkreuz terroristischer Aktivitäten geraten: Die in Rußland agieren<strong>de</strong><br />

ultrakonservative "Heilige Liga", <strong>de</strong>ren Ziel "die Ausrottung <strong>de</strong>s Nihilismus" war, hatte <strong>de</strong>n Exilfürsten<br />

auf ihre To<strong>de</strong>sliste gesetzt.<br />

Die junge Familie weicht aus und zieht nach Thonon, auf die französische Seite <strong>de</strong>s Genfer Sees,<br />

verbringt ein Jahr in London, wo Artikel für die Encyclopedia Britannien und Nineteenth Century<br />

entstehen, um En<strong>de</strong> 1882 nach Thonon zurückzukehren. Dort wird Kropotkin im Dezember verhaftet und<br />

im Januar zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Als Grund mußte die Mitgliedschaft in <strong>de</strong>r Internationale<br />

herhalten, die in Frankreich nach wie vor verboten war. Tatsächlich wollte man ihm und sechzig an<strong>de</strong>ren<br />

mitangeklagten Anarchisten, die er nie zuvor gesehen hatte, die Verwicklung in einen Anschlag auf ein<br />

Cafe in Lyon und die Ausschreitungen bei einem Bergarbeiterstreik in Montceau-les-mines nachweisen.<br />

Dort hatten die Arbeiter versucht, nach Bakuninscher Lehre die Akten zu verbrennen. Gegen keinen <strong>de</strong>r<br />

Angeklagten konnte <strong>de</strong>r Beweis einer Beteiligung erbracht wer<strong>de</strong>n. Da "geistige Urheberschaft" noch<br />

nicht, wie später in Deutschland, ein Tatbestand war, genügte die Mitgliedschaft in <strong>de</strong>r mittlerweile<br />

übrigens aufgelösten Internationale, um <strong>de</strong>n lästigen Aufwiegler für einige Jahre aus <strong>de</strong>m Verkehr zu<br />

ziehen.<br />

So kam <strong>de</strong>r Fürst zu <strong>de</strong>m zweifelhaften Vergnügen, sich mit aller Muße in <strong>de</strong>r Aufzucht von Rettichen zu<br />

versuchen.<br />

Nach <strong>de</strong>r Haftentlassung 1886 wohnen die völlig mittellosen Kropotkins eine Weile bei Reclus' Bru<strong>de</strong>r<br />

Elie in Paris, um dann einer Einladung nach London zu folgen, wo ein anarchistischer Kreis die<br />

Herausgabe einer Zeitschrift plant, für die man sich die Mitarbeit <strong>de</strong>s prominenten Anarchisten sichern<br />

wollte. Im Oktober <strong>de</strong>sselben Jahres wird die erste Nummer <strong>de</strong>r Freedom gedruckt, die übrigens bis heute<br />

erscheint. Sie wird bis zum Jahre 1914, als es wegen unterschiedlicher Standpunkte zum beginnen<strong>de</strong>n<br />

Weltkrieg zu einem Zerwürfnis kommt, Kropotkins politisches Sprachrohr. Neben <strong>de</strong>m Revolte, für <strong>de</strong>n


er weiterhin schreibt, publiziert er wie<strong>de</strong>r verstärkt in wissenschaftlichen Zeitschriften, hält Vorträge und<br />

wird Mitglied <strong>de</strong>r Königlichen Geographischen Gesellschaft, in <strong>de</strong>r er einen zwiespältigen Ruf genießt:<br />

Als Naturwissenschaftler und Sozialtheoretiker hoch geachtet, gilt er doch als etwas verschroben, da er es<br />

ablehnt, sich beim üblichen Toast auf <strong>de</strong>n König zu erheben.<br />

242<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Privat beginnt diese Londoner Phase, die über dreißig Jahre dauern sollte, düster. Im Sommer erkrankt<br />

seine Frau an Typhus, und aus Sibirien erreicht ihn die Nachricht vom Selbstmord seines in Verbannung<br />

leben<strong>de</strong>n Bru<strong>de</strong>rs Alexan<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r sich stets für ihn eingesetzt hatte. Seine eigene Gesundheit ist schwer<br />

angeschlagen, er fühlt sich physisch und psychisch erschöpft. "Ich habe die Kraft verloren, die ich zehn<br />

Jahre zuvor hatte", antwortet er einem Freund, <strong>de</strong>r ihn zur Mitarbeit in einer <strong>de</strong>utschen Anarchistengruppe<br />

bewegen will. Einziger Lichtblick ist die Geburt einer Tochter, die im An<strong>de</strong>nken an <strong>de</strong>n Bru<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />

Namen Alexandra erhält.<br />

Die wil<strong>de</strong>n Jahre, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r feurige Revolutionär ohne Rücksicht auf seine eigene Substanz ruhelos<br />

herumreiste und sich aufrieb, sind vorbei. Zwar stellt er sich auch weiterhin in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>r<br />

anarchistischen Bewegung, schreibt, kommentiert, besucht Kongresse. Vorträge führen ihn 1901 sogar in<br />

die USA, die Schweiz, nach Italien und auch wie<strong>de</strong>r ins geliebte Frankreich. Seine ganze Kraft aber<br />

widmet er fortan <strong>de</strong>r Ausarbeitung seiner Theorien, die er in mehreren Büchern veröffentlicht. Sie wer<strong>de</strong>n<br />

allesamt zu Klassikern <strong>de</strong>r sozialen Literatur, <strong>de</strong>ren Wirkung weit über die engen Grenzen <strong>de</strong>r<br />

anarchistischen Kreise hinausgeht.<br />

Die Theorie <strong>de</strong>r Solidarität<br />

Kropotkin gilt seither als <strong>de</strong>r große Mo<strong>de</strong>rnisierer <strong>de</strong>s Anarchismus, <strong>de</strong>ssen Anregungen seiner Zeit so<br />

weit voraus waren, daß sie erst heute, im Zeitalter <strong>de</strong>s wirtschaftlichen und ökologischen Schachmatt,<br />

langsam ins Bewußtsein <strong>de</strong>r Menschen rücken. "Fast ein halbes Jahrhun<strong>de</strong>rt vor <strong>de</strong>m technischen Denken<br />

unserer Zeit", schrieb Lewis Mumford 1961, "hatte er erfaßt, daß die Anpassungsfähigkeit und<br />

Anwendbarkeit <strong>de</strong>r Kommunikationsmittel und <strong>de</strong>r elektrischen Energie in Verbindung mit <strong>de</strong>n<br />

Möglichkeiten einer intensiven, biodynamischen Landwirtschaft die Grundlagen für eine <strong>de</strong>zentralisierte<br />

Entwicklung <strong>de</strong>r Städte in Form von kleinen Gemeinschaften geschaffen hatten, die auf direktem<br />

menschlichen Kontakt beruhen und die Vorteile <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s mit <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Stadt verbin<strong>de</strong>n". Dem<br />

ungestümen Impuls einer alles neuschöpfen<strong>de</strong>n Empörung, die Bakunins Denken beherrschte, fügt<br />

Kropotkin in gera<strong>de</strong>zu sachlicher Verfeinerung ein philosophisches Weltbild mit einer soli<strong>de</strong>n<br />

wissenschaftlichen Grundlage hinzu.<br />

Sein Thema ist die Natur <strong>de</strong>s Menschen, die Frage, ob er zu einer an-archischen Lebensform überhaupt<br />

taugt. Sein Ziel ist die Struktur einer libertären Gesellschaft, die nicht auf Spekulation und<br />

Wunsch<strong>de</strong>nken, son<strong>de</strong>rn auf nüchternen Tatsachen beruht. Technik, Soziologie, Statistik,<br />

Verhaltensforschung, Ethik, Biologie und Geschichte, all das sind Elemente, die Kropotkin als erster<br />

systematisch in <strong>de</strong>n anarchistischen Diskurs einbringt. Schon zuvor hatte er eine Reihe von Büchern<br />

veröffentlicht, von <strong>de</strong>nen "Worte eines Rebellen' (188$) und "Die Eroberung <strong>de</strong>s Brotes" (1892) die<br />

populärsten wur<strong>de</strong>n. In diesen Aufbereitungen seiner wichtigsten Artikel aus <strong>de</strong>m Revolte entwickelte<br />

Kropotkin seine bereits bekannte Vision <strong>de</strong>s "kommunistischen Anarchismus" weiter.<br />

Zunächst greift er die übliche anarchistische Polemik gegen Staat, Kirche, Gesetz und die<br />

243<br />

--------------------------------------------------------------------------------


ökonomische Herrschaft <strong>de</strong>s Bürgertums auf. Ganz im Sinne Bakunins wettert er gegen <strong>de</strong>n autoritären<br />

Sozialismus als eine neue Tyrannei und unterstreicht das Recht auf Rebellion gegen das gesamte System<br />

kapitalistischer Unfreiheit. Aber schon bei <strong>de</strong>r Betrachtung <strong>de</strong>s Wesens <strong>de</strong>r Gesetze zeigt sich, daß <strong>de</strong>r<br />

Autor be<strong>de</strong>utend subtiler vorgeht als <strong>de</strong>r poltern<strong>de</strong> Bakunin. Als Naturwissenschaftler differenziert<br />

Kropotkin akkurat zwischen sozialen Verhaltensweisen, Gebräuchen, Sitten, Konventionen und Gesetz.<br />

Dabei kommt er zu <strong>de</strong>m Schluß, daß freiwillige Übereinkünfte in <strong>de</strong>r Regel sozial, solidarisch und<br />

vernünftig waren und es zum Teil bis heute geblieben sind. Das "Gesetz" interpretiert er als ein<br />

"verhältnismäßig mo<strong>de</strong>rnes Produkt", entstan<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Interesse einer Min<strong>de</strong>rheit, an<strong>de</strong>re zu<br />

beherrschen und sich frem<strong>de</strong> Arbeit anzueignen. Im Verein mit religiöser Verklärung hätten es die<br />

Herrschen<strong>de</strong>n verstan<strong>de</strong>n, die hergebrachten "notwendigen Gebräuche" geschickt mit <strong>de</strong>n Erfor<strong>de</strong>rnissen<br />

ihrer eigenen Interessen zu vermischen und in Gesetzesform zu bringen, für die von allen Menschen <strong>de</strong>r<br />

gleiche Respekt eingefor<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>. Übergeordneter Sachwalter dieser Min<strong>de</strong>rheitsinteressen sei in<br />

mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaften <strong>de</strong>r Staat. Ganz Massenpsychologe, untersucht Kropotkin sodann die<br />

Verinnerlichung dieser Gesetze, die von Kin<strong>de</strong>sbeinen an durch Erziehung, Moral und Konvention unser<br />

Verhalten bestimmten und dazu führten, daß <strong>de</strong>r Mensch in allen Lebensbereichen kontrolliert wer<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r<br />

sich selbst kontrolliere. Es entstehe ein Art ›Staat im Kopfes <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Impuls zu autonomem Han<strong>de</strong>ln<br />

hemme. Das Ziel könne daher nicht sein, ein Gesetz durch ein besseres zu ersetzen, son<strong>de</strong>rn das<br />

geschriebene Gesetz abzuschaffen und einen Lernprozeß in Gang zu setzen mit <strong>de</strong>m Ziel, das Soildaritätsund<br />

Gerechtigkeitsempfin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Menschen zu entwickeln.<br />

Für Kropotkin war es nur eine Frage <strong>de</strong>r Zeit, bis eine soziale Revolution mit <strong>de</strong>m Unfug <strong>de</strong>r<br />

herrschen<strong>de</strong>n Gesellschaftsordnung Schluß machen wür<strong>de</strong>. In Italien, Spanien o<strong>de</strong>r Rußland erwartete er<br />

ihren Ausbruch, wobei die Ausgestaltung in je<strong>de</strong>m Falle Sache <strong>de</strong>s Volkswillens bleiben müsse.<br />

Revolutionäre seien in diesem Prozeß lediglich Geburtshelfer. Ziel einer solchen Umwälzung müsse die<br />

Enteignung und die Umverteilung <strong>de</strong>s Eigentums sein, allerdings in <strong>de</strong>r gesamten Gesellschaft. Eine<br />

Enteignung im Kleinen, wie sie die expropriateurs jener Tage pflegten, war in Kropotkins Augen nichts<br />

weiter als eine gewöhnliche Plün<strong>de</strong>rung.<br />

Bislang hatten die Anarchisten gefor<strong>de</strong>rt, ›nach <strong>de</strong>r Revolution‹ weitgehend autonome Kollektive zu<br />

schaffen, die zu Besitzern <strong>de</strong>s Produktivvermögens wer<strong>de</strong>n sollten. Die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kollektive sollten<br />

entsprechend ihrer Leistung in Form von Gutscheinen bezahlt wer<strong>de</strong>n, für die sie in eigenen Lä<strong>de</strong>n die<br />

Produkte <strong>de</strong>s täglichen Bedarfs zum Selbstkostenpreis erstehen könnten. Rasch erkannte Kropotkin die<br />

Beschränktheit dieses Ansatzes. Zum einen verkenne ein solches Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>n komplizierten<br />

Zusammenhang, <strong>de</strong>r in einer mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaft zwischen Industrie, Landwirtschaft, Infrastruktur und<br />

sozialem Leben bestehe, in <strong>de</strong>r "je<strong>de</strong> Arbeit <strong>de</strong>s Individuums das Resultat früherer und gegenwärtiger<br />

Arbeiten <strong>de</strong>r gesamten Gesellschaft" sei. Da die Wertschöpfung in <strong>de</strong>r<br />

244<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

arbeitsteiligen Gesellschaft ein komplexer und vor allem kollektiver Akt sei, müßten die Werte auch allen<br />

Mitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Gesellschaft gehören. Zum an<strong>de</strong>ren sei es unmöglich, Arbeitsleistung exakt o<strong>de</strong>r auch nur<br />

einigermaßen gerecht zu bemessen - schon gar nicht durch die Arbeitszeit. Vor allem aber folge dieses<br />

System, so Kropotkin, im Grun<strong>de</strong> lediglich <strong>de</strong>r Grundphilosophie <strong>de</strong>s Kapitalismus, <strong>de</strong>rzufolge <strong>de</strong>r<br />

Einzelne kein Recht auf die notwendigen Dinge <strong>de</strong>s Lebens habe, sofern er sich nicht ausbeuten lasse.<br />

Was wäre mit Kranken, Ungeschickten, Talentlosen, ja, mit Faulen? Auch sie müßten leben. Deshalb<br />

bliebe nur eines: "Die Bedürfnisse über die Leistungen zu stellen und zuerst das Recht auf das Leben<br />

anzuerkennen."<br />

Je<strong>de</strong>r sollte also bekommen, was er brauchte und geben, was er könnte. Diese For<strong>de</strong>rung wur<strong>de</strong> zum<br />

Grundproblem <strong>de</strong>s "anarchistischen Kommunismus", <strong>de</strong>nn wo kein Zwang zur Arbeit besteht, müßte eine<br />

innere Einsicht vorhan<strong>de</strong>n sein - ein starkes Solidaritätsgefühl, was eine große moralische Entwicklung<br />

<strong>de</strong>r Menschheit voraussetze. Auf die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Weise sollte das gesamte weitere Schaffen<br />

Kropotkins eine Suche nach <strong>de</strong>n Bedingungen dieser Entwicklung wer<strong>de</strong>n. Er spekulierte über <strong>de</strong>n Segen<br />

<strong>de</strong>s technischen Fortschritts, beschäftigte sich mit Arbeitsethik, <strong>de</strong>m Abbau von Entfremdung, <strong>de</strong>m


Problem unangenehmer Tätigkeiten, vor allem aber mit <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s Menschen, in <strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n<br />

Schlüssel zu dieser Frage vermutete.<br />

Natürlich wur<strong>de</strong> so ein Thema auch in <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung kontrovers diskutiert, es kam zu<br />

Reibereien und Disputen, bis am En<strong>de</strong> die Frage immer spitzfindiger erörtert wur<strong>de</strong>. Es gehe nicht an,<br />

schrieb Malatesta 1889, die Bewegung "wegen reiner Hypothesen zu spalten". Schließlich einigte man<br />

sich darauf, <strong>de</strong>n kommunistischen Anarchismus als Ziel zu erklären, während <strong>de</strong>r kollektivistische<br />

Anarchismus, <strong>de</strong>r weniger Anfor<strong>de</strong>rungen an das Bewußtsein <strong>de</strong>r Kollektivmitglie<strong>de</strong>r stellt, als<br />

Übergangsfonn angesehen wur<strong>de</strong>. Im übrigen sollten Kommunen aufgebaut wer<strong>de</strong>n, um als<br />

Mo<strong>de</strong>llversuche Aufschluß darüber zu geben, welche Schwierigkeiten sich bei <strong>de</strong>r praktischen Umsetzung<br />

ergäben. So entstan<strong>de</strong>n frühe anarchistische Experimente, die zu Vorläufern <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen<br />

›Projektanarchismus‹ wur<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ren begrenzte Erfahrungen aber nicht zu ein<strong>de</strong>utigen Rückschlüssen<br />

taugten. Ohne ein soziales Experiment im großen Stil blieb es bei einer eher aka<strong>de</strong>mischen Streitfrage.<br />

1899 erscheint Kropotkins Buch "Landwirtschaft, Industrie und Handwerk", in <strong>de</strong>m er die Frage aufwirft,<br />

ob das gegenwärtige System von Gewinnstreben und Arbeitsteilung wirklich ökonomisch, das heißt<br />

arbeitserleichternd und arbeitssparend funktioniere. Mit einer Fülle von Zahlen und Beispielen kommt er<br />

zu einem vernichten<strong>de</strong>n Urteil: Gera<strong>de</strong> die großen Industriezentren führten zur einer verhängnisvollen<br />

Abhängigkeit, zu einer Trennung von Mensch und Natur, zu einer Ausplün<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Umwelt.<br />

Gewinnmaximierung und Arbeitsteilung hätten zur Folge, daß unsinnige Produkte an unsinnigen Orten<br />

hergestellt wür<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>r Mensch einer stumpfsinnigen Entfremdung zum Opfer fiele. Sein<br />

Gegenmo<strong>de</strong>ll, das er mit akribischer Plausibilitat entwickelt, setzt auf eine völlig an<strong>de</strong>re Struktur: Da die<br />

Zerglie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Arbeit und die Zentralisierung <strong>de</strong>r Produktion keinem<br />

245<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

sinnvollen Bedürfnis entspräche außer <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Unternehmers, möglichst viel Geld zu verdienen, sollten<br />

in <strong>de</strong>r Solidarökonomie einer freien Gesellschaft die verschie<strong>de</strong>nen Arbeitsbereiche statt<strong>de</strong>ssen wie<strong>de</strong>r zu<br />

geschlossenen Kreisläufen zusammengefügt und in <strong>de</strong>zentralen, regionalen Netzen angesie<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n. In<br />

solchen Gemein<strong>de</strong>n wären industrielle Produktion, Landwirtschaft und Handwerk wie<strong>de</strong>r miteinan<strong>de</strong>r<br />

verbun<strong>de</strong>n. Die Menschen müßten nicht lebenslang die gleiche stumpfsinnige Arbeit verrichten, es<br />

entstün<strong>de</strong> eine Synthese aus Arbeit und sozialem Leben. Das meiste für <strong>de</strong>n regionalen Bedarf könne<br />

ohnehin regional produziert und verteilt wer<strong>de</strong>n, nur für <strong>de</strong>n verbleiben<strong>de</strong>n Rest wäre noch ein<br />

überregionaler Austausch von Überschüssen und Fehlen<strong>de</strong>m nötig.<br />

Dieses Mo<strong>de</strong>ll einer teilweisen Autarkie hätte zu<strong>de</strong>m einige angenehme Nebeneffekte: Der Außenhan<strong>de</strong>l<br />

als Quelle <strong>de</strong>r Bereicherung wür<strong>de</strong> verschwin<strong>de</strong>n, die absur<strong>de</strong>n Transportwege wären reduziert,<br />

Monokulturen könnten größtenteils durch Mischkulturen ersetzt wer<strong>de</strong>n und die regionalen Gemein<strong>de</strong>n<br />

wären in vieler Hinsicht unabhängiger und weniger erpreßbar. Das wie<strong>de</strong>rum ist für Kropotkin eine<br />

Voraussetzung, um <strong>de</strong>n Staat als zentrales Verwaltungs- und Herrschaftsgebil<strong>de</strong> zu überwin<strong>de</strong>n. Den<br />

Bewohnern böte es überdies alle Voraussetzungen zu einer umfassen<strong>de</strong>n Bildung und einem vielseitigen,<br />

erfüllten Leben unter menschlichen Arbeitsbedingungen.<br />

Der Frage, ob <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Mensch zu hierarchiefreiem Leben und solidarischem Wirtschaften fähig sei, geht<br />

Kropotkin in seinem wohl berühmtesten Buch nach, <strong>de</strong>r "Gegenseitigen Hilfe", das 1902 erscheint. Das<br />

Werk, <strong>de</strong>ssen vollständiger Titel "Gegenseitige Hilfe in <strong>de</strong>r Tier- und Menschenwelt - Ein Faktor <strong>de</strong>r<br />

Evolution" lautet, war ursprünglich als eine Antwort auf <strong>de</strong>n Darwinismus gedacht, wie ihn Thomas<br />

Huxley vertrat, ein Schüler <strong>de</strong>s britischen Forschungsreisen<strong>de</strong>n Charles Darwin. Dieser hatte 1859 in<br />

seinem aufsehenerregen<strong>de</strong>n Buch "Von <strong>de</strong>r Entstehung <strong>de</strong>r Arten" die These aufgestellt, daß sich die<br />

Entwicklung aller Lebewesen von nie<strong>de</strong>ren zu höheren Formen durch Mutation* und Auslese im Rahmen<br />

eines beständigen Konkurrenzkampfes vollziehe. In <strong>de</strong>r Natur wür<strong>de</strong>n nur die Fähigsten überleben,<br />

diejenigen, die sich an verän<strong>de</strong>rte Bedingungen anpassen und sich in <strong>de</strong>r immerwähren<strong>de</strong>n<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzung als die Stärkeren erwiesen.


Diese "Evolutionstheorie", als biologische Lehre zur genetischen Erklärung <strong>de</strong>r Abstammungsgeschichte<br />

gedacht, wur<strong>de</strong> im Bürgertum <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts begeistert aufgegriffen. Man reduzierte ihre Botschaft<br />

auf die Aussage, Motor <strong>de</strong>s Fortschritts sei <strong>de</strong>r "Kampf ums Überleben" - eine Formulierung, die Darwin<br />

bildlich, nicht wörtlich verstan<strong>de</strong>n wissen wollte, und schon gar nicht als Rechtfertigung sozialer<br />

Zustän<strong>de</strong>. Genau das aber hatten die "Sozialdarwinisten" im Sinn, die eine treffliche wissenschaftliche<br />

Rechtfertigung für all das gefun<strong>de</strong>n zu haben glaubten, was ihnen wichtig war: die Herrschaft <strong>de</strong>s<br />

Mächtigen über die sozial Schwachen, <strong>de</strong>n alltäglichen Konkurrenzkampf aller gegen alle, die<br />

wirtschaftliche Ausbeutung <strong>de</strong>s Arbeiters, <strong>de</strong>n Kolonialismus, ja selbst <strong>de</strong>n Krieg.<br />

Kropotkin bezweifelte die Stichhaltigkeit <strong>de</strong>r These, <strong>de</strong>r Kampf je<strong>de</strong>r gegen je<strong>de</strong>n sei ein<br />

allgemeingültiges ›Naturgesetz‹. Sie war nicht nur unbewiesen, sie wi<strong>de</strong>rsprach seinen Beobachtungen in<br />

<strong>de</strong>r Natur ebenso wie <strong>de</strong>r menschlichen Sozialgeschichte. Schon während<br />

246<br />

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seiner sibirischen Forschungsreisen hatte er festgestellt, daß die natürliche Auslese <strong>de</strong>r Arten weniger auf<br />

gegenseitigen Kampf als auf widrige Lebensumstän<strong>de</strong> zurückzuführen war, und daß sich alle möglichen<br />

Tierarten im Kampf gegen diese äußeren Bedrohungen zu Solidargemeinschaften zusammenschlössen.<br />

Innerhalb <strong>de</strong>r Gattungen war gegenseitige Hilfe min<strong>de</strong>stens ebensooft zu fin<strong>de</strong>n wie Konkurrenz, und für<br />

das Überleben <strong>de</strong>r Gruppe wahrscheinlich von größerer Be<strong>de</strong>utung. Seine Beobachtungen fand er in <strong>de</strong>n<br />

Untersuchungen zahlreicher Biologen bestätigt. Kropotkin bestritt nicht, daß das Leben Kampf sei, und<br />

daß in diesem Kampf die Geeignetsten überlebten. Seine Frage war vielmehr: Wie wird dieser Kampf in<br />

<strong>de</strong>r Natur geführt, und wer hätte in ihm die besseren Chancen - <strong>de</strong>r starke Einzelne o<strong>de</strong>r die eher<br />

schwächeren Vielen, die sich zusammenschließen?<br />

Soweit war das noch nichts Originelles. Viele Tierforscher, selbst Darwin, hatten vor Kropotkin <strong>de</strong>n<br />

sozialen Charakter tierischer Populationen* beobachtet. Neu war aber, daß er diese Beobachtungen zu<br />

einer biologischen und anthropologischen* These zusammenfaßte, die Darwins an sich richtige Aussage<br />

durch eine ebenso wichtige Tatsache ergänzte.<br />

"Glücklicherweise ist Konkurrenz we<strong>de</strong>r im Tierreich noch in <strong>de</strong>r Menschheit die Regel. Sie beschränkt<br />

sich unter Tieren auf Ausnahmezeiten, und die natürliche Auslese fin<strong>de</strong>t bessere Gelegenheiten zu ihrer<br />

Wirksamkeit. Bessere Zustän<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n geschaffen durch die Überwindung <strong>de</strong>r Konkurrenz durch<br />

gegenseitige Hilfe. In <strong>de</strong>m großen Kampf ums Dasein — für die möglichst große Fülle und Intensität <strong>de</strong>s<br />

Lebens mit <strong>de</strong>m geringsten Aufwand an Kraft — sucht die natürliche Auslese fortwährend ausdrücklich<br />

die Wege aus, auf <strong>de</strong>nen sich die Konkurrenz möglichst vermei<strong>de</strong>n läßt."<br />

Erst aus dieser Wechselwirkung zwischen Konkurrenz und gegenseitiger Hilfe, zwischen ›Egoismus‹ und<br />

›Altruismus‹, ergab sich ein realistisches Bild <strong>de</strong>ssen, was sich in <strong>de</strong>r Natur unter Lebewesen abspielte.<br />

Spannend für <strong>de</strong>n Anarchismus waren hierbei natürlich die Rückschlüsse, die daraus für das soziale<br />

Lebewesen ›Mensch‹ gezogen wer<strong>de</strong>n konnten. Aus <strong>de</strong>r Natur je<strong>de</strong>nfalls war eine Rechtfertigung <strong>de</strong>r<br />

Herrschaft <strong>de</strong>s Menschen über <strong>de</strong>n Menschen als zwingen<strong>de</strong>s Ordnungsprinzip nicht abzuleiten.<br />

Allerdings auch keine Notwendigkeit <strong>de</strong>r Herrschaftsfreiheit. Klar war nur, daß Solidarität und<br />

gegenseitige Hilfe, die Voraussetzungen für eine libertäre Gesellschaft, offenbar we<strong>de</strong>r unnatürlich noch<br />

unvorteilhaft waren. Bei<strong>de</strong> Optionen — Kampf und Solidarität — scheinen auch beim Menschen<br />

angelegt, sind aber kulturhistorisch unterschiedlich stark ausgeprägt. In vielen tausend Jahren staatlicher<br />

Konkurrenzethik mußten die Tugen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r gegenseitigen Hilfe verkümmern. Mit Fleiß und viel<br />

Detailwissen <strong>de</strong>ckt Kropotkin diese verschütteten Tugen<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r Menschheit auf und<br />

zeigt, daß sie sich neben <strong>de</strong>r offiziellen hierarchischen Welt bis in die Gegenwart behaupten konnten.<br />

Die Grenzen <strong>de</strong>r Wissenschaftlichkeit


Kropotkin hat tatsächlich versucht, eine umfassen<strong>de</strong> Philosophie <strong>de</strong>r Solidarität aus einem Guß zu<br />

schaffen und ihr eine soli<strong>de</strong> wissenschaftliche Grundlage zu geben. Darin liegt sein Verdienst, aber<br />

gleichzeitig auch eine Schwäche, die allen Theorien eigen ist, die Globalität<br />

247<br />

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anstreben und zur Allgemeingültigkeit tendieren. Die Aussagekraft sogenannter ›wissenschaftlicher<br />

Tatsachen‹ ist immer begrenzt in ihrer Zeit, ihrem Horizont und ihrem unsichtbar vorgegebenen Ziel. Die<br />

marxistische Scholastik ist hierfür ein abschreckend krasses Beispiel. Man kann Kropotkin nicht einmal<br />

vorhalten, daß er ein Dogmatiker gewesen wäre, <strong>de</strong>nn er läßt bei je<strong>de</strong>r ›Erkenntnis‹ zugunsten seiner<br />

Thesen auch immer die ›Gegenkraft‹ zu. Insofern geht er dialektisch vor. Dennoch wird sein<br />

Theoriegebäu<strong>de</strong> für ihn und seine Anhänger in gewisser Weise zu einem Gefängnis. Die Realität wird am<br />

Mo<strong>de</strong>ll gemessen, das Mo<strong>de</strong>ll schafft a priori ein Denkmuster, das nur schwer zu korrigieren ist. So stellt<br />

ihm sein I<strong>de</strong>al so manche Falle. Recht schwärmerisch erscheint uns heute die Interpretation etlicher<br />

Details, die Kropotkin kurzentschlossen zu Kronzeugen seiner Thesen macht. An <strong>de</strong>r fast kindlichen<br />

Freu<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>r er die technischen Erfindungen seiner Zeit bejubelte, beeindruckt uns als skeptische<br />

Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Technologiezeitalters noch am ehesten <strong>de</strong>r erfrischen<strong>de</strong> Optimismus, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r würdige<br />

Wissenschaftler an <strong>de</strong>n Tag zu legen vermochte. Der alte Herr, so wird berichtet, war ganz aus <strong>de</strong>m<br />

Häuschen, als eine Mrs. Cochrane in Illinois eine Waschmaschine erfand, erhoffte er sich doch von einer<br />

flächen<strong>de</strong>cken<strong>de</strong>n Technisierung die Überwindung unangenehmer Arbeit.<br />

In allem und je<strong>de</strong>m schien er Vorboten <strong>de</strong>r nahen<strong>de</strong>n Revolution zu erkennen, und arg verklärt nimmt<br />

sich im Licht <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Geschichtsforschung auch so manches mittelalterliche Beispiel aus, das für<br />

gegenseitige Hilfe, Solidarität und Selbstorganisation herhalten mußte. Auch ist die Art, mit <strong>de</strong>r er die<br />

Überlegenheit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>zentralen Kleingemein<strong>de</strong> verficht und sie zum exemplarischen Mo<strong>de</strong>ll erhebt, nicht<br />

ohne Dogma. Vor allem aber bleibt die Annahme, daß <strong>de</strong>r Mensch zur Solidarität fähig sei, und daß<br />

Einsicht hierbei eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spiele, trotz <strong>de</strong>r Fülle von Beispielen wissenschaftlich letztlich<br />

nicht beweisbar. Es ist im Grun<strong>de</strong> eine Glaubensfrage, auf die <strong>de</strong>r kritische Anarchismus unserer Tage<br />

sich daher auch nicht mehr verläßt: Anarchistische Strukturen müßten auch mit unvollkommenen<br />

Menschen funktionieren, o<strong>de</strong>r sie seien untauglich.<br />

Kropotkin hat zwar nie behauptet, daß <strong>de</strong>r Mensch gut sei, aber <strong>de</strong>nnoch ständig versucht, es zu belegen.<br />

Und dabei war er nicht gera<strong>de</strong> wählerisch.<br />

All das hat ihm gelegentlich <strong>de</strong>n Vorwurf wissenschaftlicher Flachheit eingebracht. Diese Kritik übersieht<br />

jedoch, daß uns in Kropotkins Schriften ein rechtes Durcheinan<strong>de</strong>r von ernsthafter Forschung und<br />

populärer Tagespropaganda begegnet. Vielleicht war es unklug, daß Kropotkin, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />

Agitationsliteratur ein Freund <strong>de</strong>r plausiblen Analogieschlüsse war, nicht stärker auf die Trennung<br />

zwischen Journalismus und Wissenschaft geachtet hat. An<strong>de</strong>rerseits aber hat ihn das davor bewahrt, ein<br />

steriler Theoretiker zu bleiben, <strong>de</strong>ssen Ergüsse von <strong>de</strong>r Fachwelt anerkannt in <strong>de</strong>r British Library<br />

verstaubten. Gera<strong>de</strong> das aber kann man ihm nicht nachsagen: daß <strong>de</strong>r "anarchist prince" unpopulär<br />

gewesen wäre. Allein als Wissenschaftler wäre er heute als interessante Ran<strong>de</strong>rscheinung verbucht und in<br />

Wür<strong>de</strong> vergessen.<br />

Seine große Popularität beruhte neben <strong>de</strong>m Talent, sich einfach ausdrücken zu können, vor allem auf<br />

seiner Persönlichkeit. Die scheint so bizarr, als wäre sie für die Medien<br />

248<br />

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erfun<strong>de</strong>n: Ein hochwohlgeborener Fürst, <strong>de</strong>r in fast puritanischer Askese lebt, sich als honoriger


Wissenschaftler in <strong>de</strong>n Dienst einer nach Pulverdampf riechen<strong>de</strong>n Bewegung stellt, in<strong>de</strong>m er ihr die Güte<br />

predigt, die er dann auch noch selbst vorzuleben versteht — das war etwas nach <strong>de</strong>m Geschmack vieler<br />

Menschen: ein mil<strong>de</strong>r Anarchist, <strong>de</strong>r einen mil<strong>de</strong>n Anarchismus vertrat!<br />

Nach Bakunin, <strong>de</strong>ssen sprö<strong>de</strong>r Charme sich nur wenigen erschloß, endlich ein Anarchist zum Knud<strong>de</strong>ln ...<br />

Die Schwärmerei für Kropotkin liest sich bei <strong>de</strong>n Vorwortschreibern <strong>de</strong>r bürgerlichen Memoirenliteratur<br />

ebenso heraus wie aus <strong>de</strong>r Wortwahl mancher anarchistischer Zeitgenossen, die ihn tatsächlich als<br />

"Apostel <strong>de</strong>r Anarchie" bezeichnet haben. Es fällt noch heute schwer, sich <strong>de</strong>r Ausstrahlung dieses<br />

Mannes zu entziehen, die ihn in seiner Zeit so beliebt machte, und es dürfte schwerfallen, ihm die Schuld<br />

dafür zu geben, daß man ihn auf einen Sockel stellte, auf <strong>de</strong>m er sich gar nicht gerne sah.<br />

Letztendlich wichtig bleibt allein die große Frage, die Kropotkin sich und <strong>de</strong>m Anarchismus stellte, und<br />

diese Frage blieb bei aller Wissenschaftlichkeit spekulativ: Könnte es <strong>de</strong>m Menschen als<br />

vernunftbegabtem und aktiv han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>m Wesen gelingen, soziale Zustän<strong>de</strong> zu schaffen, die eine<br />

Entfaltung seiner latent vorhan<strong>de</strong>nen solidarischen Fähigkeiten gegenüber <strong>de</strong>m Konkurrenzverhalten<br />

begünstigen?<br />

Rückkehr in die Heimat<br />

Während sich Kropotkin mit solch zeitlosen Themen beschäftigte, blieb die Zeit um ihn herum nicht<br />

stehen. Ein neues Jahrhun<strong>de</strong>rt war angebrochen, mit <strong>de</strong>m sich große Hoffnungen verban<strong>de</strong>n. Der<br />

Anarchismus war inzwischen in vielen Län<strong>de</strong>rn verbreitet und hatte in <strong>de</strong>n sozialen Bewegungen mancher<br />

Regionen dauerhaft Fuß fassen können. Die Phase <strong>de</strong>s blin<strong>de</strong>n Aktionismus war auf <strong>de</strong>m Misthaufen <strong>de</strong>r<br />

Geschichte gelan<strong>de</strong>t, und die erste russische Revolution von 1905 hatte unter <strong>de</strong>n Libertären erneut die<br />

Diskussion um die Organisation <strong>de</strong>r Industriearbeiter entfacht. Die Zeit war reif für eine konstruktive<br />

Strategie, die sich schon 1907 auf <strong>de</strong>m Amsterdamer Anarchistenkongreß durchsetzte: <strong>de</strong>r<br />

Anarchosyndikalismus. 1910 schlössen sich die anarchistischen Arbeitersyndikate Spaniens in <strong>de</strong>m<br />

mächtigen Gewerkschaftsbund CNT zusammen.<br />

1914 brach <strong>de</strong>r Erste Weltkrieg aus. Die Anarchisten verstan<strong>de</strong>n sich als Internationalisten und<br />

Antimilitaristen. Sie riefen die Arbeiter aller Nationen zur Kriegsdienstverweigerung, zu Sabotage und<br />

Boykott <strong>de</strong>r Rüstungsindustrie auf. Im Gefolge <strong>de</strong>s Krieges hofften sie auf soziale Unruhen, die zum Fall<br />

<strong>de</strong>s Kapitalismus und zur endgültigen Abschaffung aller Kriege hätten führen sollen. Kropotkin teilte<br />

diese Sichtweise nicht. Im Gegensatz zu früheren Äußerungen und <strong>de</strong>r Meinung fast all seiner<br />

Gesinnungsfreun<strong>de</strong> nahm er für die Län<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Entente* Partei. Er fürchtete, daß ein Sieg <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen<br />

Militarismus fatale Folgen für die Entwicklung aller sozialistischen Bewegungen hätte. Daß er damit ins<br />

Fahrwasser <strong>de</strong>r übelsten Kriegshetzer geriet, schien ihn nicht zu stören. Er blieb bis Kriegsen<strong>de</strong> bei seiner<br />

Meinung und überwarf sich mit fast allen seinen Freun<strong>de</strong>n.<br />

Noch während <strong>de</strong>r Krieg tobt, bricht im Februar 1917 in Rußland die Revolution aus.<br />

249<br />

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Der Zar ist entmachtet, Kropotkin kann nach einundvierzig Jahren Exil in seine Heimat zurückkehren.<br />

En<strong>de</strong> Mai treffen seine Frau und er in Petrograd ein und wer<strong>de</strong>n von sechzigtausend Menschen begeistert<br />

empfangen. Selbst <strong>de</strong>r Chef <strong>de</strong>r provisorischen Regierung, Kerenskij, kommt zur Begrüßung, während die<br />

antimilitaristischen Anarchisten sich <strong>de</strong>monstrativ fernhalten. Die Pläne <strong>de</strong>s heimgekehrten Revolutionärs<br />

zielten darauf ab, <strong>de</strong>n politischen Umsturz in eine soziale Revolution zu verwan<strong>de</strong>ln. Zu diesem Zweck<br />

versuchte er, die unentschlossenen neuen Machthaber zu bewegen, Rußland unverzüglich zu einer<br />

fö<strong>de</strong>ralen Republik mit starker lokaler Autonomie zu erklären. Alles was dabei herauskam war, daß<br />

Kerenskij ihm einen Posten als Minister anbot, was <strong>de</strong>r alte Anarchist empört ablehnte.<br />

Mit <strong>de</strong>r Oktoberrevolution übernehmen die Bolschewiki die Macht, schlagartig än<strong>de</strong>rt sich die Situation.


Zunächst scheint es so, daß Lenins Partei einen sozialrevolutionären Kurs einschlägt und eine Art<br />

Räte<strong>de</strong>mokratie zulassen wür<strong>de</strong>. Schon bald aber wird hinter <strong>de</strong>r taktischen Losung "Alle Macht <strong>de</strong>n<br />

Räten" die Absicht klar: die Diktatur <strong>de</strong>r Partei über das Volk. Eine neue Hierarchie von selbstherrlichen<br />

Apparatschiks*, brutalen Revolutionska<strong>de</strong>rn und tumben Parteifunktionären erstickt je<strong>de</strong> Eigeninitiative<br />

<strong>de</strong>r Menschen schon im Ansatz. Selbst die Arbeiter, zu <strong>de</strong>ren Befreiung die "Partei <strong>de</strong>s Proletariats"<br />

angetreten war, haben nichts zu mel<strong>de</strong>n. Sobald sie von <strong>de</strong>r "Parteilinie" abweichen, wer<strong>de</strong>n auch sie zum<br />

Opfer einer rücksichtslosen Repression.<br />

Kropotkin ist einer <strong>de</strong>r ersten, <strong>de</strong>r diese Entwicklung erkennt. In seiner altersbedingten Abgeklärtheit läßt<br />

er sich nicht von revolutionärem Pathos und kämpferischen Phrasen blen<strong>de</strong>n. 1918 versucht er, mit <strong>de</strong>r<br />

Fö<strong>de</strong>ralistischen Liga, einem Kreis namhafter Wissenschaftler, die seine Auffassung von<br />

Dezentralisierung und Fö<strong>de</strong>ralismus teilen, Einfluß auf das Geschehen zu nehmen. Aber es ist bereits zu<br />

spät. Die Regierung verweigert nicht nur die Kenntnisnahme <strong>de</strong>s ersten Ban<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Memoran<strong>de</strong>n*, die die<br />

Liga erarbeitet hat, son<strong>de</strong>rn verbietet sogar ihren Druck. Die befürchtete Parteidiktatur ist bereits da. Alle<br />

Linken außer <strong>de</strong>n Bolschewiki wer<strong>de</strong>n verfolgt, die Anarchisten gehören zu <strong>de</strong>n ersten Opfern. Mehrmals<br />

wird Kropotkins Wohnung von <strong>de</strong>r politischen Polizei durchsucht. Ihm wird klar, daß sich <strong>de</strong>r neue Staat<br />

mit Riesenschritten auf einen verhängnisvollen Zentralismus zubewegt und daß sich seine Hoffnungen auf<br />

eine Gesellschaft frei fö<strong>de</strong>rierter Gemein<strong>de</strong>n mit einem blühen<strong>de</strong>n Genossenschaftswesen nicht erfüllen<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Im Sommer 1918 zieht Kropotkin mit seiner Familie voller Resignation in das abgelegene Dorf Dimitrov,<br />

sechzig Werst von Moskau entfernt. "Ich muß euch offen gestehen", schreibt er später in seiner Botschaft<br />

"An die Arbeiter <strong>de</strong>r westlichen Welt", "daß meiner Meinung nach <strong>de</strong>r Versuch, eine kommunistische<br />

Republik gemäß <strong>de</strong>n Richtlinien eines streng zentralisierten Staatskommunismus unter <strong>de</strong>r eisernen<br />

Herrschaft <strong>de</strong>r Diktatur einer Partei aufzubauen, dabei ist, in einem Fiasko zu en<strong>de</strong>n. Aus <strong>de</strong>n russischen<br />

Verhältnissen lernen wir, wie <strong>de</strong>r Kommunismus nicht eingeführt wer<strong>de</strong>n sollte." Zu diesem bitteren<br />

Urteil hatte nicht zuletzt eine Unterredung beigetragen, die er 1919 in Moskau mit Lenin hatte. Es gab<br />

keine Möglichkeit, die unterschiedlichen Standpunkte dieser bei<strong>de</strong>n Männer in Einklang zu bringen.<br />

250<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

In Dimitrov lebten die Kropotkins unter <strong>de</strong>nselben bedrücken<strong>de</strong>n Verhältnissen, wie sie in ganz Rußland<br />

zu spüren waren. Schlimmer noch als an <strong>de</strong>n materiellen Entbehrungen litt <strong>de</strong>r alte Rebell an <strong>de</strong>r geistigen<br />

Isolation: Die Post wur<strong>de</strong> zensiert, ausländische Zeitungen erreichten ihn nicht mehr und die nationale<br />

Presse war verstaatlicht. Die Lektüre <strong>de</strong>r Pravda, <strong>de</strong>m Propagandablatt <strong>de</strong>r Bolschewiki, war für je<strong>de</strong>n<br />

kritischen Geist eine Zumutung.<br />

Die letzten zwei Jahre widmete sich Kropotkin <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschrift seiner "Ethik", die eine Synthese seines<br />

gesamten Gedankengebäu<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n sollte und zu <strong>de</strong>r er 1890 bereits die Vorstudie "Anarchistische<br />

Moral* veröffentlicht hatte. Er brachte jedoch nur noch <strong>de</strong>n ersten Band über "Ursprung und Entwicklung<br />

<strong>de</strong>r Sitten" zu Papier. In ihr stellt er Sittlichkeit als ein komplexes System von Instinkt, Gefühl und<br />

Erkenntnis dar, <strong>de</strong>ssen Erreichen auf einem natürlichen Verhalten basieren müsse und nicht auf Zwang.<br />

Ein solidarisches Verhalten aus Angst vor Strafe sei reine Heuchelei. "Das Ziel <strong>de</strong>r Moral darf nicht etwas<br />

›Transzen<strong>de</strong>ntales‹, d.h. Übernatürliches sein, wie es einige I<strong>de</strong>alisten haben möchten: es muß real sein.<br />

Die sittliche Befriedigung müssen wir im Leben, nicht aber in irgen<strong>de</strong>inem Zustand außerhalb <strong>de</strong>s Lebens<br />

fin<strong>de</strong>n."<br />

Am 8. Februar 1921 stirbt <strong>de</strong>r große alte Mann <strong>de</strong>s Anarchismus. Die kommunistische Partei begeht die<br />

Geschmacklosigkeit, ein Staatsbegräbnis anzubieten, was seine Freun<strong>de</strong> und Verwandten indigniert*<br />

ablehnen. Als er am 13. Februar zu Grabe getragen wird, folgen Tausen<strong>de</strong> von Anarchisten schweigend<br />

seinem Sarg. Einige von ihnen sind für einen Tag aus <strong>de</strong>m Gefängnis freigekommen und wer<strong>de</strong>n selbst<br />

schon bald nicht mehr am Leben sein. Vom Gewerkschaftshaus, wo <strong>de</strong>r Tote unter großer Anteilnahme<br />

<strong>de</strong>r Bevölkerung aufgebahrt wor<strong>de</strong>n war, geht <strong>de</strong>r Trauerzug durch die Straßen Moskaus und schwillt auf<br />

fast 100.000 Menschen an. Es war die letzte große anarchistische Demonstration in Rußland, das letzte


Mal, daß anarchistische Transparente in Moskau gezeigt wur<strong>de</strong>n – bis siebzig Jahre später das Imperium<br />

<strong>de</strong>r Bolschewiki zusammenbrechen sollte.<br />

Es war in je<strong>de</strong>r Hinsicht ein Trauermarsch. Peter Alexandrowitsch Kropotkin wur<strong>de</strong> zu Grabe getragen<br />

und mit ihm eine Hoffnung, für die sein Name stand.<br />

Literatur:<br />

/ Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in <strong>de</strong>r Tier- und Menschenwelt Frankfurt/M., Berlin, Wien 1975,<br />

Ullstein, 333 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Die Eroberung <strong>de</strong>s Brotes u.a. Schriften München 1973, Hanser, 228 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Landwirtschaft, Industrie und Handwerk Berlin 1976, Karin Kramer, 292 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.; Worte eines Rebellen Reinbek 1972, Rowohlt, 204 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Ethik Berlin 1976, Karin Kramer, 265 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Anarchistische Moral Frankfurt/M. 1977, Freie Gesellschaft, 40 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Gesetz und Autorität Berlin 1978, Libertad, 51 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Gerechtigkeit und Sittlichkeit Wilnsdorf o.J., Winddruck, l" S,.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Die freie Vereinbarung Wetzlar 1972, An-Archia, 18 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Die Entwicklung <strong>de</strong>r anarchistischen I<strong>de</strong>en Karlsruhe 1978, Laubfrosch, 16 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Der mo<strong>de</strong>rne Staat Berlin o.J., Der freie Arbeiter, 80 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Unterredung mit Lenin Hannover 1980, Die Freie Gesellschaft, 42 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Die französische Revolution Frankfurt 1970, Neue Kritik, ¦M S.<br />

/ <strong>de</strong>n.: I<strong>de</strong>ale und Wirklichkeit in <strong>de</strong>r russischen Literatur Frankfurt/M. 1975, Suhrkamp, 368 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Memoiren eines Revolutionärs Frankfurt/M. 1973, Insel, 616 S.<br />

/ Max Nettlau: Der Anarchismus von Proudhon bis Kropotkin in: Geschichte <strong>de</strong>r Anarchie (Bd. II, vgl.<br />

Kap. 20!), 328 S., ill.<br />

/ Pierre Ramus: Die Neuschöpfung <strong>de</strong>r Gesellschaft durch <strong>de</strong>n kommunistischen Anarchismus Wien-<br />

Klosterneuburg 1923, Erkenntnis und Befreiung, 280 S.<br />

/ Roel van Duyn: Die Botschaft eines weisen Heinzelmännchens Wuppertal 1971, Jugenddienst, 9; S.<br />

/ Heinz Hug: Die Inthronisation <strong>de</strong>r Solidarität: Peter Kropotkin als sozialinnovativer Denker in: W.<br />

Beyer (Hrsg.); Zur Aktualität anarchistischer Klassiker Berlin 1993, Oppo, 128 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Kropotkin zur Einführung Hamburg 1989, SOAK, 167 S.<br />

251<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Kapitel 29<br />

Hoffnung und Resignation: Revolution in Rußland<br />

Langsam aber sicher errichteten die Bolschewiki einen zentralistischen Staat,<br />

<strong>de</strong>r die Sowjets zerstörte und die Revolution nie<strong>de</strong>rschlug,<br />

einen Staat, <strong>de</strong>r sich, was Bürokratie und Despotismus anbelangt,<br />

heute mit je<strong>de</strong>m Großstaat <strong>de</strong>r Welt vergleichen kann.<br />

– Emma Goldman, 1922 –<br />

DIE GRABREDE BEI KROPOTKINS BEERDIGUNG hielt eine Anarchistin, die aus <strong>de</strong>n USA nach<br />

Rußland gekommen war: Emma Goldman. Zusammen mit ihrem Lebensgefährten Alexan<strong>de</strong>r Berkman<br />

war die gefürchtete Agitatorin 1918 von <strong>de</strong>r amerikanischen Regierung kurzerhand zwangs<strong>de</strong>portiert<br />

wor<strong>de</strong>n. Bei<strong>de</strong> reisten mit sehr großen Hoffnungen in ihre alte Heimat, wo es endlich zu einer veritablen<br />

Revolution gekommen war. Es schien, als hätten die einfachen Menschen ihr Schicksal in die eigenen<br />

Hän<strong>de</strong> genommen. Jetzt, wenige Jahre später, blieb ihnen nur noch Resignation. Tief enttäuscht, aber<br />

auch bestätigt in ihrer anarchistischen Kritik am Marxismus, gingen sie in <strong>de</strong>n Westen zurück. Früh<br />

genug, um <strong>de</strong>m Schicksal <strong>de</strong>r meisten russischen Libertären zu entgehen, die bald <strong>de</strong>m neuen linken<br />

Terror zum Opfer fallen sollten. "Ich bin felsenfest davon überzeugt", schrieb die "Rote Emma", "daß je<strong>de</strong>


kommen<strong>de</strong> Revolution zum Untergang verdammt ist, wenn das, was Lenin selbst <strong>de</strong>n militärischen<br />

Kommunismus, nannte, <strong>de</strong>r Welt aufgezwungen wer<strong>de</strong>n sollte. Dies zu zeigen", fügt sie hinzu, "schul<strong>de</strong><br />

ich <strong>de</strong>r Revolution, die ans Kreuz <strong>de</strong>s Bolschewismus geschlagen wur<strong>de</strong>."<br />

Eine libertäre Revolution<br />

Dieser Satz klingt Menschen fremd, die daran gewöhnt sind, zu glauben, die Russische Revolution sei<br />

von Lenin und <strong>de</strong>n Bolschewiki ›gemacht‹ wor<strong>de</strong>n. Tatsächlich hat die bolschewistische Partei dafür<br />

gesorgt, daß die Revolution unterging und die Diktatur triumphierte.<br />

Der Februar 1917 brachte Rußland nach drei Jahren Krieg einen Umsturz, <strong>de</strong>r weit über einen politischen<br />

Kurswechsel hinausging. Zwar trat zunächst nur eine linksbürgerliche Regierung an die Stelle <strong>de</strong>s<br />

entmachteten Zaren, aber entschei<strong>de</strong>nd war, daß die so oft beschworenen ›Massen‹ auf <strong>de</strong>n Plan traten<br />

und die Initiative ergriffen. Rußland war kriegsmü<strong>de</strong>, zarenmü<strong>de</strong>, herrschaftsmü<strong>de</strong>. Man wollte keine<br />

mil<strong>de</strong>re Regierung, son<strong>de</strong>rn das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Despotie und <strong>de</strong>n Beginn <strong>de</strong>r Selbstbestimmung. Das war nicht<br />

die Losung irgendwelcher Revolutionäre, son<strong>de</strong>rn entsprach <strong>de</strong>r allgemeinen Stimmung.<br />

Die politischen Parteien und Bewegungen Rußlands wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Revolution überrascht. Die<br />

lei<strong>de</strong>nschaftliche Woge überrollte sie alle. Selbst Lenin mußte zugeben, daß seine Partei sich von <strong>de</strong>n<br />

Massen links überholt sah. Das, was die Menschen wollten, for<strong>de</strong>rten und auch spontan umzusetzen<br />

begannen, entsprach am ehesten libertären I<strong>de</strong>alen. Dies war allerdings kaum das Verdienst <strong>de</strong>r wenigen<br />

und schlecht organisierten<br />

252<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

anarchistischen Gruppen, son<strong>de</strong>rn Ausdruck eines allgemeinen Wunsches nach Befreiung und<br />

Selbstbestimmung. In dieser Ten<strong>de</strong>nz mag sich bis zu einem gewissen Gra<strong>de</strong> die jahrzehntelange<br />

anarchistische Propaganda wi<strong>de</strong>rspiegeln, aber in erster Linie zeigte sie, daß solche I<strong>de</strong>en einfach<br />

naheliegend und so populär waren, daß sie keiner Avantgar<strong>de</strong> bedurften. Genau das hatten Anarchisten ja<br />

immer gehofft.<br />

Die russische Linke war seit langer Zeit gespalten. Die Sozial<strong>de</strong>mokratie, <strong>de</strong>ren führen<strong>de</strong> Köpfe<br />

überwiegend im Exil lebten, hatte sich 1903 in London zerstritten: Die gemäßigten Sozialisten, die einen<br />

parlamentarischen Weg <strong>de</strong>r Reformen wollten, unterlagen in <strong>de</strong>r Abstimmung und nannten sich nach <strong>de</strong>m<br />

russischen Wort für ›Min<strong>de</strong>rheit‹ Menschewiki. Die ›Mehrheitler‹ – Bolschewiki – hingen einem<br />

revolutionären Marxismus an und wollten mit <strong>de</strong>r Hilfe einer Partei von Berufsrevolutionären die Macht<br />

durch einen Umsturz erobern. Sie verstan<strong>de</strong>n sich als Avantgar<strong>de</strong>, ihr Ziel war die sogenannte "Diktatur<br />

<strong>de</strong>s Proletariats". Der Parteiführer Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, lebte in Zürich im Exil,<br />

verfügte aber in Rußland über ein straff organisiertes Netz ihm ergebener Anhänger mit einem klaren<br />

Programm. Es ist <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Generalstab zu verdanken, daß er, ausgestattet mit Geld plötzlich in St.<br />

Petersburg auftauchte und entschei<strong>de</strong>nd in die Ereignisse eingriff: Man hatte in Deutschland gehofft, daß<br />

die Bolschewiki die Ereignisse in Rußland soweit <strong>de</strong>stabilisieren wür<strong>de</strong>n, daß es an <strong>de</strong>r Ostfront zu einem<br />

Separatfrie<strong>de</strong>n kommen könnte, <strong>de</strong>nn Kaiser Wilhelm brauchte dringend Truppen für <strong>de</strong>n Krieg im<br />

Westen. So durfte <strong>de</strong>r gefürchtete Revolutionär in einem kaiserlichen Son<strong>de</strong>rzug quer durchs Deutsche<br />

Reich fahren, um die Front zu entlasten. Ein cleverer Schachzug <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Geheimdienstes, <strong>de</strong>r<br />

allerdings weitreichen<strong>de</strong>re Folgen haben sollte, als man sich das in Berlin jemals gewünscht hatte.<br />

Die Bewegung <strong>de</strong>r Sozialrevolutionäre war ebenfalls in linke, rechte und an<strong>de</strong>re Splittergruppen<br />

gespalten, die sogenannten Ka<strong>de</strong>tten befürworteten eine gemäßigt <strong>de</strong>mokratische Konstitution, und die<br />

Genossenschaften, Berufsverbän<strong>de</strong> und Gewerkschaften konnten sich zwischen all diesen Angeboten<br />

nicht recht entschei<strong>de</strong>n. Die Anarchisten schließlich lehnten je<strong>de</strong> Organisierung in Parteien ab und waren,<br />

beson<strong>de</strong>rs an <strong>de</strong>r Basis sozialer Bewegungen, in erster Linie durch <strong>de</strong>n Einfluß präsent, <strong>de</strong>n sie in ihrem<br />

Umkreis durch persönliches Wirken ausübten. Sie waren in Gruppen organisiert, die zum Teil lose<br />

fö<strong>de</strong>riert waren; außer<strong>de</strong>m konnten sie auf Vertrauensleute in <strong>de</strong>n Betrieben und einige Zeitungen


zurückgreifen.<br />

Dieser ganze politische Klüngel jedoch hatte mit <strong>de</strong>r eigentlichen Revolution herzlich wenig zu tun. Die<br />

Revolte, die unter <strong>de</strong>n Soldaten an <strong>de</strong>r Front, bei <strong>de</strong>n Matrosen <strong>de</strong>r Flotte, <strong>de</strong>n Arbeitern in <strong>de</strong>r<br />

Schwerindustrie, <strong>de</strong>n hungern<strong>de</strong>n Familien und <strong>de</strong>n Bauern einzelner Distrikte ausbrach, kümmerte sich<br />

nämlich kaum um Parteien, Programme und I<strong>de</strong>ologien. Diese Revolution gehörte nieman<strong>de</strong>m außer <strong>de</strong>m<br />

Volk. Ihr Impuls wirkte von unten nach oben, folgte keinen beson<strong>de</strong>ren Strategien und entwickelte rasch<br />

Organe einer direkten Demokratie. Arbeiter bemächtigten sich spontan <strong>de</strong>r Fabriken, Matrosen besetzten<br />

Schiffe und Häfen, Dorfbewohner und Nachbarn schlossen sich zusammen, bil<strong>de</strong>ten<br />

253<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Komitees und begannen zu han<strong>de</strong>ln. Allenthalben entstan<strong>de</strong>n Räte, die das Leben organisierten, sich<br />

miteinan<strong>de</strong>r verban<strong>de</strong>n und schon bald anfingen, die Zukunft zu planen. Mehr und mehr begannen diese<br />

Räte, sich nicht nur als eine Notlösung zu verstehen, son<strong>de</strong>rn als die Struktur einer künftigen Ordnung:<br />

eine direkte Basis<strong>de</strong>mokratie – freiheitlich, <strong>de</strong>zentral, transparent, offen, gleich, unbürokratisch und ohne<br />

Dogma. Das war Punkt für Punkt die logische Antwort auf das, was man nicht mehr wollte: Despotie,<br />

Zentralismus, Unmündigkeit, Hierarchie, Privilegien, Bürokratie und Starrheit. Die Räte – auf russisch<br />

Sowjets – wur<strong>de</strong>n zum populärsten Ausdruck <strong>de</strong>r neuen Verhältnisse, sie waren das Synonym <strong>de</strong>r<br />

Revolution. Quicklebendig und begeistert begrüßt, hatten sie nichts mit <strong>de</strong>m zu tun, was, die Bolschewiki<br />

in nur wenigen Jahren aus ihnen machten und womit noch heute <strong>de</strong>r Begriff Sowjetunion in so übler<br />

Verbindung steht; einem staatlichen Instrument im Dienste einer bürokratischen Partei zur Beherrschung<br />

<strong>de</strong>r Menschen. Als 1917 die Räte begannen, das soziale Leben im libertären Geist zu gestalten, war Lenin<br />

noch gar nicht im Lan<strong>de</strong>. Aber auch die Räte waren nicht einfach vom Himmel gefallen.<br />

Die Revolution von 1905<br />

Sie waren in Rußland schon zwölf Jahre zuvor geboren wor<strong>de</strong>n, und auf diese Erfahrung von 1905 griffen<br />

die Menschen nun wie<strong>de</strong>r zurück. Auch damals hatte die Not im Gefolge eines Krieges zur Erhebung<br />

geführt. Im fernen Osten waren sich <strong>de</strong>r russische und <strong>de</strong>r japanische Imperialismus in die Haare geraten,<br />

und Rußland unterlag haushoch zu Lan<strong>de</strong> und zu Wasser. Im Januar kam es zu einer großen<br />

Antikriegs<strong>de</strong>monstration; sie wur<strong>de</strong> zwar blutig nie<strong>de</strong>rgemetzelt, aber unter <strong>de</strong>r Oberfläche gärte die<br />

Unzufrie<strong>de</strong>nheit weiter. Bis dahin war die Oppositionsbewegung Rußlands überwiegend eine<br />

Angelegenheit politischer Intellektueller <strong>de</strong>r höheren Stän<strong>de</strong> gewesen, <strong>de</strong>ren Taktik sich in Propaganda<br />

und Verschwörung erschöpfte. Jetzt besteht die Opposition zu vier Fünfteln aus Arbeitern und Bauern,<br />

und sie beginnen, sich zu organisieren: Berufsverbän<strong>de</strong>, Genossenschaften und Bauernbund erstarken<br />

zusehends, Gewerkschaften entstehen. Im Oktober entlädt sich, gegen <strong>de</strong>n Willen vieler Parteimarxisten,<br />

die neue Kraft in einem gewaltigen Generalstreik. Fabrikanten, Adlige, Popen und Großgrundbesitzer<br />

wer<strong>de</strong>n vielerorts verjagt. Wirtschaft und Gesellschaft sind lahmgelegt.<br />

Dies war die Geburtsstun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s ersten Sowjets, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n großen Putilow-Werken von St. Petersburg<br />

entstand und rasch viele Nachahmer fand. Das Konzept dazu hatten sich kurz zuvor einige<br />

Industriearbeiter in <strong>de</strong>r Wohnung <strong>de</strong>s anarchistischen Juristen Wsewolod M. Eichbaum ausgedacht,<br />

besser bekannt unter <strong>de</strong>m Pseudonym Volin. Sie verfolgten schon damals syndikalistische I<strong>de</strong>en, die erst<br />

Jahre später zur >offiziellen< Taktik im Anarchismus wer<strong>de</strong>n sollten. Ihrzufolge wür<strong>de</strong>n kämpferische<br />

"industrielle Verbän<strong>de</strong>" zu einer Art "wirtschaftlicher Schule" für die Arbeiterschaft, um Verwaltung,<br />

Produktion und Verteilung selbst zu übernehmen. Ein solches Netz <strong>de</strong>r Selbstorganisation sollte zur<br />

Grundlage einer befreiten Gesellschaft wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r kurzen Phase <strong>de</strong>r 1905er Revolution entfalteten die<br />

Sowjets eine so rege Aktivität, daß <strong>de</strong>r junge Leo Trotzki, damals Vorsitzen-<br />

254<br />

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<strong>de</strong>r eines Arbeiter- und Soldatenrates, voller Begeisterung schrieb: "Die Aktivität <strong>de</strong>s Rates be<strong>de</strong>utete die<br />

Organisation <strong>de</strong>r Anarchie. Seine Existenz und seine spätere Entwicklung bezeichnen eine<br />

Konsolidierung <strong>de</strong>r Anarchie."<br />

Angesichts <strong>de</strong>r entfesselten Kräfte versprachen <strong>de</strong>r Zar und seine Regierung rasch ein paar Freiheiten:<br />

eine liberale Verfassung, ein freies Parlament, Reformen. Tatsächlich schickte sich das einberufene<br />

Parlament, die Duma, an, eine weitreichen<strong>de</strong> Landreform einzuleiten, <strong>de</strong>n Klerus und <strong>de</strong>n A<strong>de</strong>l zu<br />

enteignen und die Macht <strong>de</strong>s Kaisers zu beschnei<strong>de</strong>n. Die Revolutionäre waren naiv genug, an ihren Sieg<br />

zu glauben. Ernsthafte Versuche, in diesem Moment <strong>de</strong>r Staatskrise die Fabriken, die Verwaltung und die<br />

Schaltstellen <strong>de</strong>r Macht zu übernehmen, gab es kaum. Zu schnell und zu leicht hatte man <strong>de</strong>n<br />

vermeintlichen Erfolg errungen und war nun ein wenig ratlos. Nicht so das Regime, das seine<br />

Versprechen brach, sobald es sich stark genug fühlte. Die Duma wur<strong>de</strong> aufgelöst, die Verfassung<br />

zerrissen, <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand in altbekannter Manier unterdrückt: Auf 400.000 Tote wur<strong>de</strong>n die Opfer <strong>de</strong>r<br />

blutigen Gegenrevolution geschätzt, 142.761 gab die Regierung offiziell zu. Während <strong>de</strong>r Kämpfe fan<strong>de</strong>n<br />

auf <strong>de</strong>r Gegenseite etwa 4000 Menschen <strong>de</strong>n Tod. Eine traumatische Erfahrung, vergleichbar mit <strong>de</strong>r<br />

Pariser Commune, aber ohne die jahrzehntelange Lähmung von damals. Die russische Arbeiterbewegung<br />

zog rasch ihre Lehren aus dieser Nie<strong>de</strong>rlage.<br />

In <strong>de</strong>n Gewerkschaften und Berufsverbän<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n eigentlichen Trägern <strong>de</strong>s Streiks, wur<strong>de</strong> die<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle, die die Räte gespielt hatten, nicht so schnell vergessen. In <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahren, für<br />

die sie sich immerhin eine legale Existenz erkämpft hatten, konnten sie ihre Stellung in <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />

ausbauen. Sie blieben dabei von Parteien und Bewegungen unabhängig, verstan<strong>de</strong>n sich aber auch nicht<br />

als revolutionäre Organisationen. Dennoch waren auch hier typisch libertäre For<strong>de</strong>rungen durchaus<br />

populär gewor<strong>de</strong>n. So beschloß etwa <strong>de</strong>r Bauernbund auf seinem allrussischen Kongreß in Moskau, daß<br />

das Land <strong>de</strong>nen gehören solle, die es bestellen. Land dürfe we<strong>de</strong>r Privatbesitz noch Staatsbesitz sein,<br />

son<strong>de</strong>rn müsse <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> gehören, die in ihrem inneren Verwaltungsleben unabhängig und<br />

selbständig bleiben solle. Man darf nicht vergessen, daß die Bevölkerung Rußlands zu achtzig Prozent aus<br />

Bauern bestand, die in unbeschreiblichem Elend und weitgehen<strong>de</strong>r Rechtlosigkeit lebten. Dabei konnten<br />

sie durchaus auf eigene freiheitliche Traditionen zurückgreifen – etwa die dörfliche Selbstverwaltung, <strong>de</strong>n<br />

Semstwo, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Mir, das bäuerliche Gemeineigentum an Ackerland. Libertäre I<strong>de</strong>en waren ihrem<br />

eigenen Erfahrungshorizont also keineswegs fremd. Vom marxistischen Standpunkt aus galten Semstwo<br />

und Mir jedoch als "rückständig", gera<strong>de</strong>so wie <strong>de</strong>r Bauer an sich, war er doch ungebil<strong>de</strong>t und ohne<br />

proletarisches Bewußtsein. Vermutlich verstand <strong>de</strong>r alte Kropotkin, <strong>de</strong>r in die dörfliche Autonomie so<br />

große Hoffnungen gesetzt hatte, mehr von <strong>de</strong>r Psychologie <strong>de</strong>s russischen Bauern als die russischen<br />

Marxisten, die einzig im mo<strong>de</strong>rnen Industrieproletariat das Heil <strong>de</strong>r Revolution erblickten.<br />

Aber auch die Arbeiter in <strong>de</strong>n großen Städten <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s waren erwacht. Sie entwickelten ein starkes<br />

Selbstbewußtsein, und wußten ihre Unabhängigkeit gegenüber <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>ologen zu wahren. Alle Parteien<br />

Rußlands vertraten lediglich Min<strong>de</strong>rheiten. Die Masse <strong>de</strong>r Bauern<br />

255<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

und Arbeiter han<strong>de</strong>lte, wenn sie in Bewegung kam, intuitiv. In dieser Intuition waren die Erfahrung <strong>de</strong>r<br />

Sowjets von 1905 zu einer festen Größe gewor<strong>de</strong>n, die 1917 wie<strong>de</strong>r aufgegriffen wur<strong>de</strong>.<br />

Die ›Jesuiten‹ schlucken Krei<strong>de</strong><br />

Es stellt sich natürlich die Frage, wie die kleine, relativ isolierte Partei <strong>de</strong>r Bolschewiki es schaffen könne,<br />

eine so große, unabhängige Bewegung wie die von 1917, vor ihren Karren zu spannen. Hierfür gibt es<br />

eine Reihe von Grün<strong>de</strong>n.<br />

Die Partei <strong>de</strong>r Bolschewisten war straff organisiert und gehorchte ohne Verzug <strong>de</strong>n Anordnungen <strong>de</strong>r<br />

Parteiführung. Sie verfügte über eine in sich geschlossene I<strong>de</strong>ologie, die im Rang eines fast heiligen<br />

Dogmas stand, und <strong>de</strong>n Ruf einer allseits abgesegneten ›Wissenschaftlichkeit‹ genoß. Dadurch war sie


weitgehend gegen Kritik abgeschottet. Sie war bewaffnet und scheute sich nicht, Gewalt einzusetzen. Sie<br />

konnte sich auf einen gut organisierten Auslandsapparat stützen, <strong>de</strong>r für logistische Unterstützung, Geld<br />

und Propaganda sorgte. Sie hatte einen unangefochtenen Chef, <strong>de</strong>r ein kluger Taktiker und guter Redner<br />

war. Dieser Chef, Lenin, war intelligent, ehrgeizig und entschlossen, die Macht an sich zu reißen. Er<br />

verfügte über ein ausgeprägtes Gespür für die Gefühle im Volk, verstand es, sich unterschiedlichen Lagen<br />

anzupassen und schnell zu reagieren. All das machte die Bolschewiki zu einer effektiven Truppe, die von<br />

Anfang an <strong>de</strong>n Mythos einer selbstlosen, zielstrebigen und opferbereiten Kampfgemeinschaft unters Volk<br />

brachte; ein Volk, das von jeher einen Hang zur Verehrung <strong>de</strong>s Märtyrertums hatte. Emma Goldman faßte<br />

all diese Eigenschaften in <strong>de</strong>m launigen Satz zusammen: "Die Bolschewisten bil<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Jesuitenor<strong>de</strong>n in<br />

<strong>de</strong>r marxistischen Kirche".<br />

Gegen diese geballte Organisationsstärke waren etwa die Anarchisten hoffnungslose Stümper. Was nützte<br />

es da, daß sie solch ›effektive‹ Strukturen aus Prinzip ablehnten? Und wer verstand schon ihre warnen<strong>de</strong><br />

Kritik vor <strong>de</strong>m unseligen Geist <strong>de</strong>s autoritären Sozialismus? Das waren Dinge, mit <strong>de</strong>nen sich Theoretiker<br />

beschäftigten, Menschen, die Bücher lasen... So wur<strong>de</strong> die revolutionäre Bewegung von 1917, <strong>de</strong>r es bei<br />

allem freiheitlichen Elan vor allem an revolutionärer Erfahrung und <strong>de</strong>r Geschlossenheit einer eigenen,<br />

positiven I<strong>de</strong>e fehlte, relativ leicht übertölpelt.<br />

Und doch hätte all das nicht ausgereicht, <strong>de</strong>n libertären Geist dieser Revolution so einfach einzukassieren.<br />

Um <strong>de</strong>njenigen <strong>de</strong>n Schneid abzukaufen, die in Rußland ohne Lenins Erlaubnis die Revolution gemacht<br />

hatten, mußten die Bolschewiki erst einmal gehörig Krei<strong>de</strong> fressen. Es klingt paradox, ist aber<br />

folgerichtig: Die Bolschewiki mußten zunächst die ›besseren Anarchisten‹ wer<strong>de</strong>n.<br />

Lenin, <strong>de</strong>r Freiheit einstmals als "bürgerliches Vorurteil" bezeichnet hatte, erfaßt nach seiner Ankunft<br />

sofort die Lage. Entgegen allen bolschewistischen Theorien schwenkt er umgehend auf libertären Kurs<br />

und verwirft offiziell all die Dogmen von <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n Rolle <strong>de</strong>r Partei, Verstaatlichung und Diktatur.<br />

Statt<strong>de</strong>ssen schreiben die Bolschewiki plötzlich die libertäre Losung "Alle Macht <strong>de</strong>n Räten!" auf ihre<br />

Fahnen. Damit liegen sie<br />

256<br />

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voll im Trend. "Lenin", schreibt Daniel Guerin, "tat seinen ›Leutnants‹ buchstäblich Gewalt an, in<strong>de</strong>m er<br />

sie verpflichtete, eine libertäre Sprache zu re<strong>de</strong>n. (...) Das Ansehen <strong>de</strong>r Räte war so groß, daß <strong>de</strong>r<br />

Oktoberaufstand nur in ihrem Namen und auf ihren Appell hin ausgelöst wer<strong>de</strong>n konnte."<br />

Mit <strong>de</strong>m Sturm auf das Winterpalais im Oktober 1917 macht die revolutionäre Bewegung Schluß mit <strong>de</strong>r<br />

provisorischen Regierung Kerenskij. Es scheint, als hätten jetzt die Werktätigen die Macht. Noch ziehen<br />

die einfachen Menschen, die Sowjets, Lenin und die Anarchisten an einem Strang. Unzweifelhaft kommt<br />

<strong>de</strong>n Bolschewiki ein be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r Verdienst bei <strong>de</strong>r Organisation und <strong>de</strong>m militärischen Sieg in dieser<br />

Nacht zu. Dieses Ereignis bringt ihnen dann auch einen enormen Prestigegewinn und bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n<br />

Grundstock zur Legen<strong>de</strong> <strong>de</strong>r "siegreichen Oktoberrevolution", die in<strong>de</strong>s nichts an<strong>de</strong>res war als eine<br />

Revolution in <strong>de</strong>r Revolution und zugleich <strong>de</strong>r Anfang ihres Nie<strong>de</strong>rgangs.<br />

En<strong>de</strong> Oktober sitzen die Bolschewiki fest im Sattel und genießen <strong>de</strong>n Ruf entschlossener Revolutionäre.<br />

Die Partei verzeichnet großen Zulauf. Selbst bei <strong>de</strong>n Anarchisten ist das Mißtrauen geschwun<strong>de</strong>n, scheint<br />

es doch, daß sich Lenin zu einem aufrechten Libertären gelaufen hat. In <strong>de</strong>r Tat operieren die<br />

Kommunisten mehr <strong>de</strong>nn je mit knallharten Anarchoparolen. Nur so konnte Lenin hoffen, die nötige<br />

Begeisterung zu entfachen und alle Kräfte zu mobilisieren. Auf <strong>de</strong>m dritten Rätekongreß Anfang 1918<br />

verkün<strong>de</strong>t er wörtlich: "Die anarchistischen I<strong>de</strong>en nehmen jetzt lebendige Gestalt an". Auf ihrem siebten<br />

Kongreß beschließt die Bolschewistische Partei ihre <strong>de</strong>nkwürdigen "Aprilthesen". In ihnen ist die Re<strong>de</strong><br />

von <strong>de</strong>r Abschaffung <strong>de</strong>r Berufsfunktionäre, <strong>de</strong>r Polizei und <strong>de</strong>r Armee, <strong>de</strong>r Gleichheit von Löhnen und<br />

Gehältern sowie <strong>de</strong>r Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktion, die in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Arbeiterorganisationen<br />

liegen müsse. Die Räte sollten an <strong>de</strong>r Regierung teilnehmen, Ziel sei die völlige Aufhebung <strong>de</strong>s Staates<br />

und <strong>de</strong>r Geldwirtschaft. Eine Räterepublik à la Pariser Commune müsse erreicht wer<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>r eine


Köchin in <strong>de</strong>r Lage sei, das Land zu lenken. Kaum jemand traut <strong>de</strong>n Bolschewiki zu, daß all das nur<br />

Taktik ist, kaum jemand hegt Mißtrauen, als sich in <strong>de</strong>r Folge immer mehr prominente Bolschewisten in<br />

<strong>de</strong>n Räten etablieren. Lenin wird Vorsitzen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Rates <strong>de</strong>r Volkskommissare und installiert mit seinen<br />

Gefolgsleuten Schritt für Schritt eine An neuer Regierung, die das Land nach innen und außen vertritt. All<br />

das unter <strong>de</strong>m Etikett "Aufbau <strong>de</strong>r Sowjetmacht".<br />

In aller Welt fällt die Arbeiterschaft in einen Freu<strong>de</strong>ntaumel und feiert die große proletarische Revolution,<br />

in <strong>de</strong>r die Werktätigen die Freiheit errungen haben. Es ist die Re<strong>de</strong> davon, nun das "Paradies <strong>de</strong>r Arbeiter"<br />

aufzubauen. Wie später in China, Kuba, Nicaragua glaubt die Linke nur allzu gerne an die guten<br />

Nachrichten, die aus fernen Län<strong>de</strong>rn kommen. Wer wollte auch angesichts <strong>de</strong>s langersehnten Triumphes<br />

die Schattenseiten sehen! Selbst in Rußland dauerte es ein, zwei Jahre, bis die kritischsten Geister <strong>de</strong>n<br />

wahren Charakter <strong>de</strong>s Bolschewismus erkannten und das Scheitern <strong>de</strong>r Revolution konstatieren mußten –<br />

wie sollte es da erstaunen, wenn im Ausland <strong>de</strong>r Mythos <strong>de</strong>r Russischen Revolution sogar in <strong>de</strong>n Köpfen<br />

<strong>de</strong>r Libertären noch viele Jahre lang festsaß.<br />

Zunächst jedoch schweißt <strong>de</strong>r Druck von außen die revolutionären Kräfte noch einmal<br />

257<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

zusammen und über<strong>de</strong>ckt alle Wi<strong>de</strong>rsprüche: Die Bolschewiki schließen in Brest-Litowsk unter<br />

erdrücken<strong>de</strong>n Bedingungen einen Separatfrie<strong>de</strong>n mit Deutschland. Inzwischen hat sich die Reaktion im<br />

Ausland formiert und beginnt eine gut organisierte Gegenrevolution. Von England unterstützte<br />

exilrussische Truppen greifen die junge Sowjetfö<strong>de</strong>ration von Westen, Sü<strong>de</strong>n und Osten an, eine<br />

Blocka<strong>de</strong> wird verhängt. Das Land fällt in einen Bürgerkrieg und durchlebt furchtbare Hungerperio<strong>de</strong>n.<br />

Die Revolution ist aufs äußerste bedroht.<br />

In diesem Chaos bieten sich die Bolschewiki als Ordnungsfaktor und Retter an, ihre Position festigt sich<br />

weiter. Alle Unzulänglichkeiten und Grausamkeiten wer<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>n ›beson<strong>de</strong>ren Umstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Krieges‹<br />

erklärt o<strong>de</strong>r als Kin<strong>de</strong>rkrankheiten <strong>de</strong>r Revolution dargestellt: bedauerliche Fehler, die sich mit <strong>de</strong>r Zeit<br />

schon legen wür<strong>de</strong>n. Gleichzeitig räumt die Geheimpolizei stückchenweise alle Konkurrenten aus <strong>de</strong>m<br />

Wege. Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Bürgerkrieges ist Lenins Partei, die sich nun Kommunistische Partei <strong>de</strong>r<br />

Sowjetunion (KPdSU) nennt, unumschränkter Herrscher über ein riesiges Reich. Es gibt keine Opposition<br />

mehr, das Land ist militärisch organisiert und bürokratisch gleichgeschaltet. Das Volk hat nichts mehr zu<br />

sagen. Es regiert die Partei, und das tut sie mit Befehlen, Einschüchterung, nackter Gewalt. Der Geist <strong>de</strong>r<br />

Revolution ist tot.<br />

Bittere Lehren<br />

All <strong>de</strong>m stan<strong>de</strong>n die Anarchisten fassungslos und unvorbereitet gegenüber. Sie hatten kein Verhältnis zur<br />

Macht und waren <strong>de</strong>m Umgang mit Machtmenschen hilflos ausgeliefert. Der Durchschlagskraft einer<br />

straffen Organisation hatten sie nichts entgegenzusetzen. Die Erkenntnis, daß auch die Freiheit sich<br />

konkret organisieren müsse, war bitter und wur<strong>de</strong> teuer bezahlt. Anarchisten hatten sich stets darauf<br />

verlassen, daß eine breite Entfesselung <strong>de</strong>s allgemeinen Volksaufstan<strong>de</strong>s ungeahnte Kräfte freisetzen<br />

wür<strong>de</strong>, die sich nach <strong>de</strong>m Sieg <strong>de</strong>r Revolution frei und schöpferisch entfalten könnten. Die Russische<br />

Revolution hatte gezeigt, daß dies zwar möglich war, aber sie hatte auch schonungslos die Lücken im<br />

anarchistischen Revolutionsszenario freigelegt. Der Gegner stand nicht nur jenseits <strong>de</strong>r Barrika<strong>de</strong>n,<br />

son<strong>de</strong>rn auch im Lager <strong>de</strong>r Revolutionäre. Anarchisten verstan<strong>de</strong>n es wohl, zu kämpfen, nicht aber gegen<br />

Intrigen. Vor allem aber verstan<strong>de</strong>n sie es kaum, zu organisieren. Zwischen <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e und <strong>de</strong>ren<br />

tatsächlicher Umsetzung klaffte eine riesige Lücke. Die Fragen <strong>de</strong>r alltäglichen Praxis und ihrer konkreten<br />

Organisation waren sträflich vernachlässigt. So hatte die freiheitliche Revolution keine Zeit zur<br />

Entwicklung ihres eigenen Weges und wur<strong>de</strong> zur leichten Beute <strong>de</strong>rer, die mit Gewalt und<br />

entschlossenem Auftreten die scheinbar einfachste Lösung boten. Der alte Kropotkin hatte das klar<br />

erkannt, als er kurz vor seinem To<strong>de</strong> Emma Goldman seine Lehre aus diesem Debakel anvertraute: "Wir<br />

Anarchisten haben sehr viel von <strong>de</strong>r sozialen Revolution gesprochen. Aber wie wenige von uns haben


sich die Mühe genommen, die nötigen Vorbereitungen für die unmittelbare Arbeit, die während und nach<br />

<strong>de</strong>r Revolution geleistet wer<strong>de</strong>n muß, zu treffen. Die Russische Revolution hat uns die absolute<br />

Notwendigkeit solcher Vorbereitungen für praktische konstruktive Arbeit klar vor Augen geführt."<br />

258<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Bevor diese Lehren verstan<strong>de</strong>n und umgesetzt wer<strong>de</strong>n konnten, mußte noch viel geschehen. In Rußland<br />

jedoch stan<strong>de</strong>n die Zeichen <strong>de</strong>r Zeit nicht auf kritischer Reflexion. Die meisten Anarchisten waren von<br />

<strong>de</strong>r Tscheka verhaftet, viele von ihnen hingerichtet wor<strong>de</strong>n. Aber noch gab es Menschen im Lan<strong>de</strong>, die<br />

die Freiheit nicht verloren gaben und sich gegen die neue Tyrannei genauso wehrten wie gegen die alte.<br />

Literatur:<br />

/ Volin: Die unbekannte Revolution, (3 Bän<strong>de</strong>) Hamburg 1977, Association, 291, 221 u. 189 S.<br />

/ Emma Goldman: Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>r russischen Revolution, Berlin 1987, Karin Kramer, 119 S.<br />

/ Alexan<strong>de</strong>r Berkman: Die russische Tragödie, Berlin 1980, Libertad, 44 S.<br />

/ Rudolf Rocker: Der Bankerott <strong>de</strong>s russischen Staatskommunismus, Berlin o.J. (1921), 45 S., in: E.<br />

Goldmann, R. Rocker: Der Bolschewismus - Verstaatlichung <strong>de</strong>r Revolution<br />

/ Arthur Müller-Lehning: Anarchismus und Marxismus in <strong>de</strong>r russischen Revolution Berlin o.J. (1971 ?),<br />

Verlag für Sozial-Revolutionäre Schriften, 146 S.<br />

/ Maximoff: Die revolutionär-syndikalistische Bewegung in Rußland, ebda.<br />

/ Isaak Steinberg: Gewalt und Terror in <strong>de</strong>r Revolution, Berlin 1981, Karin Krämer, 339 S.<br />

/ Johannes Ch. Traut (Hrsg.): Rußland zwischen Revolution und Konterrevolution (Textsammlung, 2<br />

B<strong>de</strong>.) München 1974/75, Willing, 23; u. 241 S.<br />

/ N.N.: Die russische Revolution I (Textsammlung) Berlin 1980, Libertad, 43 S.<br />

/ Victor Serge: Eroberte Stadt Frankfurt/M. 1977, Freie Gesellschaft, 181 S.<br />

/ A. M. Pankratowa: Fabrikräte in Rußland Frankfurt/M. 1976, Fischer, 337 S.<br />

/ Group Solidarity: Räte in Rußland Berlin 1971, Roter Oktober, 95 S.<br />

/ Maurice Brinton: Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle Hamburg 1976, Association, 136 S.<br />

/ Gottfried Mergner (Hrsg.): Die russische Arbeiteropposition - Die Gewerkschaften in <strong>de</strong>r Revolution<br />

(Textsammlung) Reinbek 1972, Rowohlt, 21; S.<br />

/ Rudi Dutschke: Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen, Berlin 1974, Wagenbach, 348 S., ill.<br />

Kapitel 30<br />

Die Machnotschina: Bauernguerilla in <strong>de</strong>r Ukraine<br />

"Sterben o<strong>de</strong>r siegen – das ist es, was im gegenwärtigen historischen Augenblick <strong>de</strong>n Bauern <strong>de</strong>r Ukraine<br />

bevorsteht. Wir können aber nicht sterben – unser sind zu viele, wir sind die Menschheit. Also wer<strong>de</strong>n wir<br />

siegen. Wir wer<strong>de</strong>n aber nicht siegen, um unser Schicksal einer neuen Regierung zu überantworten,<br />

son<strong>de</strong>rn, um es in unseren eigenen Hän<strong>de</strong>n zu halten. Um unser Leben zu gestalten, wie wir es selbst<br />

wollen und wie wir es als wahr empfin<strong>de</strong>n."<br />

"Armee ukrainischer Insurgenten", aus <strong>de</strong>m ersten Aufruf<br />

VOR FAST ACHTZIG JAHREN streiften verwegene Gestalten durch die Weite <strong>de</strong>r ukrainischen<br />

Landschaft. Ein Heer von über 10.000 Bauernguerillas kontrollierte dort länger als drei Jahre ein Gebiet<br />

von 70.000 Quadratkilometern, in <strong>de</strong>m über sieben Millionen Menschen lebten. Die Bolschewiki nannten<br />

sie Banditen, Konterrevolutionäre und aufständische Kulaken*. Die Bourgeoisie beschimpfte sie als<br />

bolschewistische Hor<strong>de</strong>n. Die ukrainische Bauernschaft aber wußte es besser: es waren die "Machnowzi",<br />

anarchistische Partisanen, die in ihrer Heimat für eine libertäre Revolution kämpften. Es gelang ihnen<br />

tatsächlich – zum ersten Mal in <strong>de</strong>r Geschichte – eine ganze Region von staatlicher Autorität zu befreien.<br />

So martialisch* sie in ihrem waffenstrotzen<strong>de</strong>n Aufzug und <strong>de</strong>n zusammengeklaubten Uniformen auch


wirkten – sie waren fast ausschließlich Bauern, die Ärmsten <strong>de</strong>r Armen,<br />

259<br />

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die mit Krieg nichts im Sinn hatten. Sie hätten viel lieber die Gewehre weggelegt, um in Ruhe ihre Fel<strong>de</strong>r<br />

zu bestellen und jenen Traum zu verwirklichen, für <strong>de</strong>n die schwarze Fahne stand, unter <strong>de</strong>r sie ritten: die<br />

Anarchie. Dieses Wort be<strong>de</strong>utete für sie etwas sehr Handfestes. Zunächst einmal, daß sie überhaupt Land<br />

zum bebauen hatten. Weiterhin, daß sie sich zusammenschlossen, um gemeinsam zu wirtschaften. Das<br />

leuchtete unmittelbar ein und war an sich auch nichts Neues. Vor allem aber, daß es keine Herren mehr<br />

gab, die kommandierten, dreinre<strong>de</strong>ten und <strong>de</strong>n Ertrag fortnahmen. Das war jene schlichte Art von<br />

Anarchie, die aus <strong>de</strong>n Herzen kommt und nicht aus Büchern. Nicht erstaunlich bei einer Bewegung, die<br />

zum größten Teil aus landlosen Bauern bestand, die in ihrem Leben we<strong>de</strong>r lesen und schreiben gelernt<br />

hatten, noch Politik o<strong>de</strong>r militärische Strategie.<br />

Dennoch waren sie, wenn es drauf an kam, hervorragen<strong>de</strong> Soldaten. Nicht aus Neigung zum Militär,<br />

son<strong>de</strong>rn weil sie eine Sache verteidigten, in <strong>de</strong>r sie alles zu verlieren hatten. In <strong>de</strong>r "Armee Ukrainischer<br />

Insurgenten", wie sich die Machnowzi offiziell nannten, gab es we<strong>de</strong>r militärischen Drill noch<br />

Rangabzeichen; die Anführer <strong>de</strong>r Kampfgruppen wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r ganzen Mannschaft aus <strong>de</strong>n fähigsten<br />

Leuten gewählt. Blin<strong>de</strong>r Gehorsam war verpönt, aber es herrschte strenge Disziplin. Diese<br />

Freiwilligenarmee brauchte we<strong>de</strong>r Nachschub noch Verwaltung o<strong>de</strong>r Kasernen. Ihre Leute waren bei <strong>de</strong>n<br />

Bauern <strong>de</strong>r Region willkommen, konnten sich überall verpflegen, die Pfer<strong>de</strong> wechseln o<strong>de</strong>r untertauchen.<br />

Das hatten die Bewohner auf <strong>de</strong>n großen Rayonkongressen selbst so beschlossen, und darauf konnten sich<br />

die Machnowzi verlassen. In <strong>de</strong>n wenigen friedlichen Perio<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>r Bewegung vergönnt waren,<br />

gingen die Partisanen nach Hause und wur<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r zu Landwirten. Gute Reiter von Kin<strong>de</strong>sbeinen an,<br />

entwickelten diese Menschen eine Taktik <strong>de</strong>s mobiles Krieges, die ihre gut ausgerüsteten Gegner zum<br />

Wahnsinn trieb. Sie schlugen überraschend dort zu, wo sie am wenigsten vermutet wur<strong>de</strong>n, zogen sich<br />

wie<strong>de</strong>r zurück, blieben unauffindbar, um an<strong>de</strong>rnorts wie<strong>de</strong>r anzugreifen. So zermürbten sie die<br />

<strong>de</strong>utschösterreichische Besatzungsarmee, trieben die eroberungslustigen Truppen <strong>de</strong>r zaristischen<br />

Konterrevolution zur Flucht und wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>n lange Zeit <strong>de</strong>r Roten Armee, die sich anschickte, die<br />

aufrührerische Ukraine ihrem Sowjetstaat zu unterwerfen. Und so schufen sie auch die Grundlage zur<br />

Befreiung eines Landstriches von <strong>de</strong>r Größe Irlands, in <strong>de</strong>m sie sich, wann immer es ging, an <strong>de</strong>n Aufbau<br />

einer libertären Gesellschaft machten.<br />

Die rebellische Ukraine<br />

Das, was sich wie das Drehbuch eines revolutionsromantischen Spielfilms ausnimmt, hatte einen sehr<br />

realen Hintergrund. Die Ukraine – <strong>de</strong>r Name be<strong>de</strong>utet übersetzt "am Ran<strong>de</strong>" – war für Rußland schon<br />

immer ein ganz beson<strong>de</strong>res Territorium: eine Art Halbkolonie vor <strong>de</strong>r eigenen Haustür mit einem Hauch<br />

von Exotik. Moskau kümmerte sich wenig um diese ›unzivilisierte‹ Gegend. Solange das fruchtbare Land<br />

nur genug Lebensmittel erzeugte, durfte es eine relativ große Freizügigkeit genießen. Es wur<strong>de</strong><br />

Zufluchtsort von entlaufenen Leibeigenen und lokalen Kosakenhäuptlingen, die in <strong>de</strong>n ausge<strong>de</strong>hnten<br />

Wäl<strong>de</strong>rn reichlich Unterschlupf fan<strong>de</strong>n. Die Städte am Schwarzen Meer, in <strong>de</strong>nen sich viele Ju<strong>de</strong>n nie<strong>de</strong>r-<br />

260<br />

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gelassen hatten, galten als kosmopolitische Schmelztiegel verschie<strong>de</strong>nster Volksgruppen und Orte<br />

südlicher Lebensart. Die Ukraine aber war kein unabhängiger Staat, son<strong>de</strong>rn eine Provinz <strong>de</strong>s Russischen<br />

Reiches.<br />

Während <strong>de</strong>r Unruhen Anfang 1917 hatten die ukrainischen Bauern vielerorts die Großgrundbesitzer


verjagt, das Land enteignet und sich auf eigene Faust in autonomen Sowjets organisiert. Auch in <strong>de</strong>n<br />

Industrien kam es vereinzelt zur Bildung von Fabrikkomitees und Übernahmen durch die Belegschaft. Die<br />

Provinzregierung war zu schwach, um sich gegen diese Bestrebungen durchzusetzen. Die<br />

Oktoberrevolution fand im Sü<strong>de</strong>n Rußlands praktisch nicht statt; erst zum Jahreswechsel versuchte die<br />

Sowjetregierung ohne großen Erfolg, in <strong>de</strong>r Ukraine Fuß zu fassen. Die Anhängerschaft <strong>de</strong>r Bolschewiki<br />

beschränkte sich hier vorwiegend auf intellektuelle Zirkel in <strong>de</strong>n Städten. Zu<strong>de</strong>m hatte sich inzwischen<br />

noch eine bürgerlich-liberale Bewegung unter Ssemjon Petljura gebil<strong>de</strong>t, die im November eine nahezu<br />

folgenlose "Ukrainische Republik" ausrief.<br />

Durch <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n von Brest-Litowsk fiel das Land 1918 an die Deutschen und Österreicher, die aus ihm<br />

herausholten, was nur irgend ging. Es kam zu bewaffnetem Wi<strong>de</strong>rstand, Gewalttaten, Vergeltung und<br />

Unruhen. Die Besatzer versuchten daraufhin, mit Hilfe <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschfreundlichen Hetman* Skoropadski ein<br />

autoritäres Marionettenregime zu installieren, das sich anschickte, die Landnahme rückgängig zu machen.<br />

Dagegen wehrten sich die Bauern nur noch energischer. Erstmals tauchen nun kleine Freischärlergruppen<br />

von 20 bis 100 Bewaffneten auf, die von <strong>de</strong>r Verteidigung zum Angriff übergehen. Sie überfallen die<br />

Miliz, plün<strong>de</strong>rn Arsenale und verjagen die Gutsbesitzer. Mit zunehmen<strong>de</strong>m Erfolg verteidigen sie die<br />

enteigneten Güter gegen die anrücken<strong>de</strong>n Regierungstruppen. Die Bewegung radikalisiert sich zusehends<br />

und gewinnt an Einfluß und Selbstbewußtsein. Immer öfter tauchen politische Parolen und Manifeste auf,<br />

die eine ein<strong>de</strong>utig anarchistische Handschrift verraten. Die Regierung wird nervös. Trotz <strong>de</strong>r großen<br />

Härte, mit <strong>de</strong>r sie vorgeht, wird sie nicht Herr <strong>de</strong>r Lage. Weite Teile <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s scheinen praktisch<br />

unregierbar zu wer<strong>de</strong>n. Das Zentrum <strong>de</strong>s Ungehorsams liegt irgendwo im Gebiet zwischen Berdjansk,<br />

Jekaterinoslaw, Alexandrowsk und Mariupol – im Rajon von Gulaj-Pole, einer unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n<br />

Provinzstadt. Was zum Teufel ist dort los?<br />

"Väterchen Machno"<br />

Dort agierte ein Mann, <strong>de</strong>ssen Name bald zu <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n sollte: Nestor Machno. Er kam<br />

frisch aus <strong>de</strong>m Gefängnis <strong>de</strong>s Zaren und hatte das Zeug dazu, aus <strong>de</strong>m vereinzelten Wi<strong>de</strong>rstand eine<br />

soziale Bewegung zu machen. Gera<strong>de</strong> dreißig Jahre alt, wird er von <strong>de</strong>n Bauern <strong>de</strong>s Rayons wie ein<br />

weiser Alter verehrt — sie nennen ihn "Väterchen Machno".<br />

Dieser ehemalige Viehhirt wird während <strong>de</strong>r nächsten vier Jahre das bis dahin größte sozialrevolutionäre<br />

Experiment <strong>de</strong>s Anarchismus in Gang setzen und dafür Sorge tragen, daß die Generalstäbe mehrerer<br />

Armeen keine Ruhe mehr fin<strong>de</strong>n. Im Westen, wo er später das bittere Los <strong>de</strong>r Emigration trägt, wird man<br />

<strong>de</strong>n Mann ohne Schulbildung, <strong>de</strong>r ebenso selbstverständlich mit Lenin konferiert wie er sein<br />

Maschinengewehr bedient, zum<br />

261<br />

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"anarchistischen Robin-Hood" verklären, zu einem Rächer <strong>de</strong>r Unterdrückten. Das liegt bei einer solchen<br />

Biographie nahe – Machno war wirklich jemand, <strong>de</strong>r zum Anekdotenlieferant taugte.<br />

1905 hatte sich <strong>de</strong>r Siebzehnjährige in seiner Heimatstadt Gulaj-Pole einer anarcho-kommunistischen<br />

Gruppe angeschlossen. An seinem Arbeitsplatz, einer Gießerei, beginnt er mit <strong>de</strong>r Organisierung seiner<br />

Kollegen, nachts widmet er sich militanten Aktionen – die damals übliche Taktik. Dafür wird er 1908<br />

zum To<strong>de</strong> verurteilt, angesichts seiner Jugend aber zu lebenslänglich begnadigt. Wie für die meisten<br />

Revolutionäre <strong>de</strong>r Epoche wird die Haft für ihn zur i<strong>de</strong>ologischen Volkshochschule. Er schließt seine<br />

Bildungslücken und freun<strong>de</strong>t sich mit <strong>de</strong>m erfahrenen Anarchisten Peter Arschinoff an, <strong>de</strong>r später die<br />

Kulturabteilung <strong>de</strong>r Machnotschina aufbauen wird. 1917 befreit die Revolution bei<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m Moskauer<br />

Butirky-Gefängnis, und Machno kehrt voll Tatendrang in seine Heimatstadt zurück. Als einziger befreiter<br />

Gefangene <strong>de</strong>s Ortes genießt er eine gewisse Prominenz, die Kollegen bereiten ihm einen herzlichen<br />

Empfang.<br />

Als erstes ruft er einen Gewerkschaftsverband <strong>de</strong>r Bauernknechte ins Leben, bald wird er zum


Vorsitzen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Rayon-Bauernbun<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>s Gulaj- Polsker Bauern- und Arbeiterrates gewählt. Seine<br />

ungewöhnlichen Metho<strong>de</strong>n sprechen sich schnell herum und wer<strong>de</strong>n nachgeahmt. Beauftragt mit <strong>de</strong>r<br />

Landverteilung an die Tagelöhner, schlägt er statt<strong>de</strong>ssen die Einrichtung von agrarischen Kommunen vor,<br />

in <strong>de</strong>nen das Land allen gehört und gemeinsam bewirtschaftet wer<strong>de</strong>n soll. Den Bauern gefällt die I<strong>de</strong>e.<br />

Von <strong>de</strong>n Latifundisten* erzwingt er die Herausgabe genauer Inventarlisten und sorgt <strong>de</strong>monstrativ dafür,<br />

daß sie genug für ihr Auskommen behalten, aber auch nicht mehr, als allen an<strong>de</strong>ren zusteht. Das gefällt<br />

<strong>de</strong>n Bauern noch besser. Natürlich <strong>de</strong>nkt <strong>de</strong>r Landa<strong>de</strong>l nicht wirklich daran, auf seinen Besitzstand zu<br />

verzichten, angesichts <strong>de</strong>r Lage spielt er jedoch zähneknirschend mit. Als die Deutschen ins Land<br />

kommen, scheint die Stun<strong>de</strong> günstig, die Güter mit Hilfe <strong>de</strong>r Regierung zurückzuerobern. Das ist <strong>de</strong>r<br />

Augenblick, wo <strong>de</strong>r Rat Machno mit <strong>de</strong>r Aufstellung "revolutionärer Arbeiter- und Bauernbataillone"<br />

beauftragt – die Geburtsstun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Insurgentenarmee.<br />

Machno bewältigt diese Aufgabe in kürzester Zeit und mit erstaunlicher Effektivität. Da es mehr<br />

Freiwillige als Waffen gibt, bedient er sich bei <strong>de</strong>n Besatzern: In dreisten Handstreichen fällt <strong>de</strong>n<br />

Aufständischen mo<strong>de</strong>rnstes <strong>de</strong>utsches Gerät in die Hän<strong>de</strong>. Rasch stehen tausend Reiter unter Waffen,<br />

Gulaj- Pole wird befreit. Das 25.000 Einwohner zählen<strong>de</strong> Städtchen mit seiner mittelständischen Industrie<br />

verwaltet sich nun selbst. Aus einzelnen Überfällen entwickelt sich ein regelrechter Zermürbungskrieg,<br />

<strong>de</strong>ssen Ziel zunehmend darin besteht, gewisse Orte und Landstriche ganz von staatlicher Autorität frei zu<br />

halten, um dort <strong>de</strong>n Aufbau autonomer Kommunen und die Entwicklung von Selbstverwaltungsorganen<br />

zu begünstigen. Regelrechte Fronten entstehen. Mit einem an Provokation grenzen<strong>de</strong>n Selbstbewußtsein<br />

ignorieren die Menschen alles, was an staatlichen Strukturen übriggeblieben ist. Die verbitterten<br />

Kleinbauern haben <strong>de</strong>n Geruch <strong>de</strong>r Freiheit gewittert, und ihr Beispiel wirkt ansteckend. Wie ein<br />

Steppenbrand breitet sich die Bewegung aus. Die Staatlichkeit zieht sich in die Städte zurück.<br />

262<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Innerhalb weniger Monate hat die Guerilla <strong>de</strong>n Spieß umgedreht: Aus Verfolgern wur<strong>de</strong>n Verfolgte.<br />

Machnos Reiterei war nicht die einzige aufständische Gruppe in Südrußland. Bewaffnete Erhebungen<br />

haben in <strong>de</strong>r Ukraine eine lange Tradition, auch 1905 war <strong>de</strong>r Rayon Schauplatz heftiger Kämpfe<br />

gewesen. Kropotkins Lehren, seit Jahren durch kleine, illegale Gruppen propagiert, ließen nun vielerorts<br />

aufständische Trupps entstehen, in <strong>de</strong>nen meistens Anarchisten die Initiative ergriffen. Rasch entstan<strong>de</strong>n<br />

hieraus die Keimzellen <strong>de</strong>r Partisanenarmee. Die Gruppen operierten teils unter einem gemeinsamen Stab,<br />

teils autonom, und ihr Beispiel wirkte inspirierend. Auch außerhalb <strong>de</strong>r Ukraine, bis in <strong>de</strong>n Ural hinein,<br />

flackerten bewaffnete Rebellionen auf.<br />

Väterchen Machno schien die Figur zu sein, die all das zusammenhielt. Er war <strong>de</strong>r entschlossene<br />

militärische Stratege, <strong>de</strong>n die Guerilla brauchte, und es zeigte sich, daß er ein ausgesprochen taktisches<br />

Geschick entwickelte. Zweifellos besaß er großen persönlichen Mut. Sein Hang zu einem gewissen<br />

Draufgängertum, seine Trinkfestigkeit und sein bäuerlich-<strong>de</strong>rber Charakter stießen in städtischen<br />

Anarchistenkreisen gelegentlich auf Kritik, machten ihn bei <strong>de</strong>r Landbevölkerung hingegen sehr populär.<br />

Dabei war er alles an<strong>de</strong>re als <strong>de</strong>r lan<strong>de</strong>stypische kriegslüsterne Kosak. Persönliche Macht und<br />

Bereicherung waren <strong>de</strong>m zutiefst i<strong>de</strong>alistischen Revolutionär zuwi<strong>de</strong>r; entsprechen<strong>de</strong> Verstöße seiner<br />

Leute ließ er mit erschrecken<strong>de</strong>r Härte bestrafen. Im Grun<strong>de</strong> war Machno ein rigi<strong>de</strong>r anarchistischer<br />

Moralist, <strong>de</strong>ssen einfache Lebensphilosophie <strong>de</strong>n Bauern gera<strong>de</strong> durch ihre Gradlinigkeit verständlich<br />

wur<strong>de</strong>. Er war ein passabler Redner, verstand zu überzeugen, und seine etwas bildhaften politischen<br />

Manifeste trafen in ihrer Einfachheit genau <strong>de</strong>n Geschmack <strong>de</strong>r Adressaten.<br />

Es verwun<strong>de</strong>rt nicht, daß dieser Mann schon auf <strong>de</strong>m ersten Rayonkongreß <strong>de</strong>r Insurgenten zum<br />

militärischen Führer <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s gewählt wur<strong>de</strong>. Mit je<strong>de</strong>m Handstreich wird sein Kopfgeld erhöht,<br />

sein Name bekannter. Schon bald geben die Menschen <strong>de</strong>r ganzen Bewegung <strong>de</strong>n Namen ihres<br />

Organisators: "Machnotschina".<br />

Der Krieg


Niemals zuvor hatten spezifisch anarchistische I<strong>de</strong>en eine so breite soziale Basis und eine so starke<br />

Ausgangssituation gehabt wie diese "Machno- Bewegung". Die erste großangelegte Verwirklichung <strong>de</strong>r<br />

libertären Utopie war auf die Tagesordnung gesetzt. Allerdings stand dieses gewaltige Sozialrevolutionäre<br />

Experiment von Anfang an unter einem ungünstigen Zeichen: <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Krieges. Vom ersten bis zum<br />

letzten Tag waren die Machnowzi in einen unseligen Kampf verwickelt. Da sie sich als die Garanten <strong>de</strong>r<br />

freien Lebensentfaltung im Rayon verstan<strong>de</strong>n, waren sie ständig damit beschäftigt, die wechseln<strong>de</strong>n<br />

Invasoren fernzuhalten. Die Perio<strong>de</strong>n relativen Frie<strong>de</strong>ns waren zu kurz, um eine wirklich tiefgreifen<strong>de</strong><br />

soziale Umwälzung durchzusetzen.<br />

Zwar gelang es <strong>de</strong>r Bewegung, die Deutschen und Österreicher zu zermürben und die<br />

Marionettenregierung <strong>de</strong>s Hetman zu vertreiben, ebenso wie sie in ihrem Rayon die Re-<br />

263<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

gierung Petljura schachmatt setzte. Auch <strong>de</strong>r Anspruch <strong>de</strong>r Bolschewiki auf die Staatshoheit <strong>de</strong>r<br />

Sowjetregierung blieb in <strong>de</strong>r Region zunächst ein theoretisches Konstrukt, von <strong>de</strong>m praktisch nichts zu<br />

spüren war. Lenins Schreibtisch und die Rote Armee waren weit weg. Aber die Ukraine war inzwischen<br />

zum Spielball ganz an<strong>de</strong>rer Mächte gewor<strong>de</strong>n.<br />

Zarentreue Generäle rückten mit loyalen Truppen von Südosten her auf Zentralrußland vor. Auf ihrem<br />

Weg mußten sie zunächst die Ukraine erobern. Diese sogenannte "weiße" Konterrevolution wur<strong>de</strong> von<br />

England und exilrussischen Finanziers unterstützt, war gut ausgerüstet und bedrohte nicht nur <strong>de</strong>n freien<br />

Rayon, son<strong>de</strong>rn die Russische Revolution insgesamt. So focht die Machnotschina, inzwischen zu einer<br />

mobilen Partisanenarmee von bis zu 30.000 Freiwilligen angewachsen, einen erbitterten Kleinkrieg gegen<br />

die "weißen Generäle" Denikin und Wrangel.<br />

Die Bolschewiki wie<strong>de</strong>rum hatten in ihrem russischen Herrschaftsbereich machtpolitisch bald alles unter<br />

Kontrolle. Die "neuen Zaren" wollten sich nun auch <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>s alten Reiches einverleiben und stießen<br />

von Nor<strong>de</strong>n her in die Ukraine vor. An ihrer Spitze stand <strong>de</strong>r Marschall <strong>de</strong>r Roten Armee, Leo Trotzki,<br />

<strong>de</strong>r sich schon vorher einen üblen Namen bei <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschlagung <strong>de</strong>r Opposition gemacht hatte. Er<br />

gebär<strong>de</strong>te sich wie ein Feldherr in Fein<strong>de</strong>sland und zerschlug im Namen <strong>de</strong>r Sowjetmacht alle freien<br />

Sowjets, die in <strong>de</strong>n Bereich seines Militarismus gerieten. Aus <strong>de</strong>m Anarchosympathisanten war ein<br />

wahrer Anarchistenfresser gewor<strong>de</strong>n, ein Machtmensch, <strong>de</strong>r eine libertäre Alternative nicht dul<strong>de</strong>n<br />

konnte, und <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Wille <strong>de</strong>s Volkes wenig be<strong>de</strong>utete.<br />

Die Machnowisten jedoch sahen in <strong>de</strong>n Bolschewiki zunächst keine Gegner. Für sie waren Marxisten<br />

gleichfalls Sozialisten, also Klassenbrü<strong>de</strong>r. Daß sie eine an<strong>de</strong>re Auffassung von Sozialismus vertraten,<br />

schien ihnen nicht wichtig. Die libertären Bauern waren we<strong>de</strong>r versierte Theoretiker, noch ahnten sie, was<br />

die Tscheka inzwischen in Zentralrußland mit <strong>de</strong>n Anarchisten angestellt hatte. Sie wären nicht im Traum<br />

darauf gekommen, daß für die Bolschewiki ein friedliches Nebeneinan<strong>de</strong>r zweier unterschiedlicher<br />

Mo<strong>de</strong>lle gar nicht in Frage kam. Hatte nicht Machno noch im Sommer 1918 ein langes Gespräch mit<br />

Lenin geführt, in <strong>de</strong>m dieser <strong>de</strong>n Ernst und <strong>de</strong>n Mut <strong>de</strong>r ukrainischen Anarchisten lobte und von<br />

Zusammenarbeit sprach? An machtpolitisches Kalkül mochte ein aufrechter Machnowist nicht glauben.<br />

Die Revolution <strong>de</strong>r Bolschwiki hielten sie für gut, ihre eigene für besser.<br />

So waren die ersten Kontakte zwischen <strong>de</strong>n roten und <strong>de</strong>n schwarzen Truppen freundlich, ja gera<strong>de</strong>zu<br />

brü<strong>de</strong>rlich. Man respektierte sich und war sich einig im Bewußtsein, einen gemeinsamen Feind zu haben,<br />

<strong>de</strong>r die bolschewistische und die anarchistische Revolution gleichermaßen bedrohte.<br />

Dieser Feind rückte mittlerweile sehr handfest vor: General Denikins Invasionsarmee stand vor <strong>de</strong>r Tür.<br />

Unter diesem Druck ging die oberste Führung <strong>de</strong>r Sowjetarmee ein formelles Bündnis mit Machno ein,<br />

obwohl Lenin und Trotzki sehr wohl wußten, daß das Beispiel einer freien Ukraine mit blühen<strong>de</strong>r<br />

Selbstverwaltung eine ernste Bedrohung für ihren Kasernenhofsozialismus hätte wer<strong>de</strong>n können. Im<br />

Kreise seiner Vertrauten äußerte Trotzki: "Es ist besser, die gesamte Ukraine an Denikin abzutreten, als


eine Weiterentwick-<br />

264<br />

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lung <strong>de</strong>r Machnotschina zu dul<strong>de</strong>n." Aber die Kampfmoral <strong>de</strong>r Roten Südarmee war miserabel, ihre<br />

Truppen kontrollierten kaum mehr als die Eisenbahnlinien und ein paar befestigte Stützpunkte. Die<br />

hochmotivierten Machnowisten hingegen kämpften auf heimischem Bo<strong>de</strong>n und verteidigten ihre eigenen<br />

Interessen. Sie verfügten inzwischen über Kraftwagen, Eisenbahnen, Artillerie und sogar gepanzerte<br />

Fahrzeuge. Militärisch waren sie unverzichtbar. Und tatsächlich konnten sie <strong>de</strong>n Ansturm stoppen. Zwei<br />

Jahre dauerte das zähe Ringen — ein verwirren<strong>de</strong>s und atemloses Auf und Ab mit fließen<strong>de</strong>n Fronten und<br />

wechseln<strong>de</strong>m Kriegsglück, <strong>de</strong>ssen aufschlußreicher Detailgeschichte von Taktik, Verrat, Geniestreichen,<br />

Opfermut und Hinterlist hier nicht nachgegangen wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Um es kurz zu machen: Die Bolschewiki spielten ein machiavellistisches Spiel. Genau viermal bie<strong>de</strong>rten<br />

sie sich bei <strong>de</strong>r Machnobewegung an – immer dann, wenn <strong>de</strong>r militärische Druck zunahm. Je<strong>de</strong>smal kam<br />

es zu einem Appell an revolutionäre Gemeinsamkeiten, zu einem Bündnis und zum Marsch <strong>de</strong>r<br />

Insurgenten an die Front. Dort kämpften die Guerillas unter großen Opfern gegen die überlegenen weißen<br />

Truppen, während sich die Rote Armee meist diplomatisch auf ›strategische Positionen‹ zurückzog.<br />

Kaum waren die Partisanen jedoch in ihren Rayon zurückgekehrt, sickerte die Rote Armee wie<strong>de</strong>r ein und<br />

hinter ihr die rote Staatsmacht, um das freie Gemeinwesen zu bedrängen. Zunächst kaum merklich, aber<br />

mit <strong>de</strong>r Zeit immer dreister und brutaler. Die Machnowisten hatten ihre naive Gutgläubigkeit zwar längst<br />

begraben, aber zur Verteidigung ihres Lan<strong>de</strong>s sahen sie keine Alternative als <strong>de</strong>n Versuch, die<br />

Bolschewiki durch Kooperation ruhigzustellen. Als schließlich <strong>de</strong>r weiße Gegner endgültig geschlagen<br />

war, setzte die Anarchistenhatz mit voller Stärke ein. Der Auftakt hierzu begann noch während <strong>de</strong>r<br />

gemeinsamen Siegesfeiern <strong>de</strong>r roten und schwarzen Regimenter auf <strong>de</strong>r zurückeroberten Halbinsel Krim:<br />

Tscheka-Kommissare zerrten die machnowistischen Komman<strong>de</strong>ure von <strong>de</strong>r Tafel weg und ließen sie in<br />

einem Hinterhof erschießen. Die Partei wollte endlich die aufmüpfige Ukraine unterwerfen.<br />

Hierzu bedurfte es allerdings noch eines vollen Jahres erbitterter Kämpfe. Mit enormem Aufwand rollte<br />

man nun <strong>de</strong>n freien Rayon militärisch auf. Die aufständischen Truppen wur<strong>de</strong>n zersprengt, die<br />

Kommunen zerschlagen, die Räte aufgelöst. Unter <strong>de</strong>r Bevölkerung, die noch immer zu Machno hielt,<br />

übte die Invasionsarmee blutige Rache. Noch im Sommer 1922 rangen einzelne Guerillaverbän<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>r<br />

Roten Armee, aber sie kämpften auf verlorenem Posten. Das Experiment war militärisch liquidiert.<br />

Das konstruktive Werk <strong>de</strong>r Machnotschina<br />

Sobald die Partisanen eine Ortschaft eingenommen hatten, schlugen sie Plakate an, auf <strong>de</strong>nen zu lesen<br />

stand: "Die Freiheit <strong>de</strong>r Bauern und Arbeiter gehört ihnen selbst und darf nicht eingeschränkt wer<strong>de</strong>n. Die<br />

Bauern und Arbeiter han<strong>de</strong>ln selbst, organisieren sich, verständigen sich untereinan<strong>de</strong>r über alle Bereiche<br />

<strong>de</strong>s Lebens, so wie sie es selbst verstehen und wünschen. Die Machnowisten können ihnen nur helfen,<br />

ihnen diesen o<strong>de</strong>r jenen Ratschlag geben, aber sie können und wollen auf keinen Fall regieren." Das war<br />

<strong>de</strong>r freie Rahmen, in <strong>de</strong>m sich die Selbstverwaltung entfalten sollte.<br />

265<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Überall dort, wo dieser Rahmen garantiert wer<strong>de</strong>n konnte, übernahmen Menschen, die nie zuvor<br />

Verantwortung getragen hatten, die Initiative. Grundlage <strong>de</strong>s Systems waren freie Räte, die sich übrigens<br />

allesamt dafür aussprachen, ihre Arbeit frei von Parteipolitik zu halten. Je<strong>de</strong>r Mensch sprach nur mit einer<br />

Stimme für sich selbst.


Die Räte waren in ein wirtschaftliches Gesamtsystem integriert, das auf <strong>de</strong>r Basis sozialer Gleichheit die<br />

Organisation <strong>de</strong>r Arbeit und <strong>de</strong>n Austausch <strong>de</strong>r Waren organisierte. Produktionseinheiten waren in<br />

Distrikte, Distrikte in Regionen zusammengefaßt. Die Delegierten hatten dabei das Mandat zu vertreten,<br />

mit <strong>de</strong>m sie von ihren Kollegen o<strong>de</strong>r ihrer Region beauftragt wor<strong>de</strong>n waren. Die gewählten Menschen<br />

verstan<strong>de</strong>n sich als Ausführen<strong>de</strong>, die ihren Auftrag vom Sowjet bezogen; gleiches galt für die<br />

Partisanenarmee. Ämter waren nicht mit wirtschaftlichen Vorteilen verbun<strong>de</strong>n, und nach Ablauf <strong>de</strong>r<br />

Amtszeit nahmen die Leute ihre gewöhnliche Arbeit wie<strong>de</strong>r auf. Die Rayonkongresse, auf <strong>de</strong>nen mehrere<br />

Tausend Menschen zusammenkamen, um die Fragen von großer Tragweite zu entschei<strong>de</strong>n, bil<strong>de</strong>ten<br />

sozusagen <strong>de</strong>n Gipfel <strong>de</strong>r Selbstverwaltung. Von ihnen wur<strong>de</strong>n insgesamt drei durchgeführt. Den vierten<br />

unterban<strong>de</strong>n die Bolschewiki, die dazu übrigens alle potentiellen Teilnehmer für vogelfrei erklärten.<br />

Die vordringlichste Aufgabe war neben <strong>de</strong>r Verteidigung <strong>de</strong>s Rayons die Organisation <strong>de</strong>r Arbeit.<br />

Fabrikbelegschaften, Bauern und Transportarbeiter waren hierbei aufeinan<strong>de</strong>r angewiesen. Die größten<br />

Fortschritte gab es dabei auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong>. Zwar kam es auch in etlichen größeren Städten, die von <strong>de</strong>n<br />

Machnowzi besetzt wur<strong>de</strong>n, zur Gründung von Räten und ansatzweiser Selbstverwaltung in <strong>de</strong>n<br />

Industrien, aber dort konnte sich die Guerilla nie für längere Zeit etablieren. Auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> hingegen<br />

florierte das Netz <strong>de</strong>r Bauernkommunen. Die erste wur<strong>de</strong> nach <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sozialistin Rosa Luxemburg<br />

benannt und später von <strong>de</strong>n Kommunisten zerstört; alle weiteren erhielten nur noch Nummern. Obgleich<br />

sich die Initiatoren <strong>de</strong>r Kommunen als "Anarchokommunisten" bezeichneten, folgte ihr Mo<strong>de</strong>ll eher <strong>de</strong>r<br />

"anarchokollektivistischen" I<strong>de</strong>e: Alle Männer, Frauen und Kin<strong>de</strong>r mußten ihren Kräften entsprechend<br />

arbeiten. Das waren die Menschen nicht an<strong>de</strong>rs gewohnt, und es entsprach ihrer Auffassung von<br />

Gleichheit und Solidarität. Trotz <strong>de</strong>r Kriegslage blieb die Agrarproduktion beachtlich. Die Machnowzi<br />

schickten ganze Güterzüge mit Getrei<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>n hungern<strong>de</strong>n Arbeitern nach Petrograd, wobei sie sich<br />

bezeichnen<strong>de</strong>rweise weigerten, mit <strong>de</strong>r Regierung in Kontakt zu treten. Sie wollten nur von Sowjet zu<br />

Sowjet verhan<strong>de</strong>ln. Der Ukraine blieben die großen Hungersnöte nicht <strong>de</strong>shalb erspart, weil sie ein<br />

Agrarland war – das galt für <strong>de</strong>n größten Teil Zentralrußlands ebenso –, son<strong>de</strong>rn weil die Menschen<br />

freiwillig und ohne Zwang arbeiten konnten.<br />

Ein Hauptproblem <strong>de</strong>r Bewegung war ihr Mangel an Intellektuellen. Sie hatte kaum Verbindung nach<br />

Rußland o<strong>de</strong>r ins Ausland. Der soziale Charakter <strong>de</strong>r Bewegung war so gut wie unbekannt, in <strong>de</strong>r<br />

staatlichen Presse war stets die Re<strong>de</strong> von "Banditen", und selbst die meisten Anarchisten schenkten <strong>de</strong>m<br />

Glauben. Erst eine Reise Machnos nach Rußland brachte im Sommer 1918 eine gewisse Verbesserung.<br />

Außer mit Lenin traf er mit Kropotkin zusammen und besuchte verschie<strong>de</strong>ne anarchistische Gruppen. Mit<br />

einem Koffer voll ver-<br />

266<br />

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botener Anarcholiteratur reiste er unerkannt in die Ukraine zurück, und wenig später folgten ihm unter<br />

abenteuerlichen Umstän<strong>de</strong>n einige risikofreudige städtische Anarchisten nach, die mit <strong>de</strong>m Aufbau einer<br />

eigenen Abteilung für Kultur und Volksbildung begannen. Unter ihnen befan<strong>de</strong>n sich auch Arschinoff<br />

und Volin, die in <strong>de</strong>n Städten die Bildung <strong>de</strong>r Nabat angeregt hatten, eines Kartells anarchistischer<br />

Gruppen zur Unterstützung <strong>de</strong>r Guerillabewegung. Die Kulturabteilung gab neben einer Reihe von<br />

Zeitschriften und einfachen Broschüren das Hauptorgan <strong>de</strong>r Aufständischen, Putj k Swobo<strong>de</strong>, heraus und<br />

sorgte ansonsten für die Pressefreiheit aller linken Gruppen und Parteien. Sie organisierte Schulungen<br />

unter <strong>de</strong>n Partisanen, initiierte eine breite Alphabetisierungskampagne und fand sogar Muße, sogenannte<br />

"revolutionäre Bauerntheater" zu för<strong>de</strong>rn, die sich bei <strong>de</strong>r Verbreitung libertärer I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>r Literatur als<br />

überlegen erwiesen. Die durchschlagendste Überzeugungskraft aber besaß nach wie vor die konkrete Tat.<br />

Das Verteilen von Land, das Verbrennen von Grundbüchern und Schuldlisten, die Vertreibung <strong>de</strong>r<br />

Großgrundbesitzer und Popen, die gemeinsame Arbeit in <strong>de</strong>r Kommune, <strong>de</strong>r Austausch von Gütern und<br />

das freie Wort als Grundlage zu freier Entscheidung – das war leicht zu verstehen. Wenn das, was die<br />

Machnowzi vorlebten, Anarchie sei, nun ja, dann war Anarchie eben etwas Gutes.<br />

Wir kennen lei<strong>de</strong>r sehr wenig Details über <strong>de</strong>n innerem Aufbau <strong>de</strong>s freien Rayons. Wie sah <strong>de</strong>r Alltag<br />

aus? Wie genau funktionierten die Kommunen? Wie geschah <strong>de</strong>r wirtschaftliche Austausch? Welche


Rolle spielten die verschie<strong>de</strong>nen Währungen? Wie verfuhren die Menschen mit unterschiedlichen<br />

Interessen? Welche Wirkung hatte die bewaffnete Präsenz <strong>de</strong>r Partisanen? All das bleiben offene Fragen.<br />

Als die letzten versprengten Trupps <strong>de</strong>r anarchistischen Hauptarmee, unter ihnen <strong>de</strong>r schwerverwun<strong>de</strong>te<br />

Machno, am 28. August 1921 über <strong>de</strong>n Dnjestr nach Rumänien flohen, hatten sie Besseres zu tun, als die<br />

Archive <strong>de</strong>r Bewegung zu retten. Die waren ohnehin dürftig genug, <strong>de</strong>nn die Machnotschina produzierte<br />

wenig bedrucktes Papier. Das meiste davon ging unwie<strong>de</strong>rbringlich verloren. So sind wir auf die<br />

spärlichen persönlichen Erinnerungen angewiesen, die die überleben<strong>de</strong>n Kämpfer im Exil<br />

veröffentlichten.<br />

Lehrstück mit tragischem Ausgang<br />

Ihnen können wir entnehmen, daß die freie Ukraine nicht das perfekte anarchistische Wunschmo<strong>de</strong>ll war,<br />

eher ein Lehrstück mit tragischem Ausgang. Die wichtigste Lehre lautete, daß es möglich ist, eine<br />

libertäre Revolution in Gang zu setzen und auf breitester Basis zu entwickeln. Die Grundzüge einer<br />

anarchistischen Gesellschaftsform sind auch in großem Stil nachvollziehbar, lebbar und funktionsfähig;<br />

offensichtlich entsprechen sie, unabhängig von politischen I<strong>de</strong>ologien, menschlichen Bedürfnissen. Die<br />

zweite Lehre ist ambivalent: Das Machtvakuum, das in chaotischen Zustän<strong>de</strong>n großer gesellschaftlicher<br />

Umbrüche entsteht, kann <strong>de</strong>n Ausbruch einer befreien<strong>de</strong>n Revolte und die Umsetzung einer libertären<br />

Gesellschaft begünstigen. Der Preis dafür ist oft die Militarisierung <strong>de</strong>r Bewegung, die <strong>de</strong>n Freiraum<br />

erkämpfen und verteidigen muß. Die Chance, <strong>de</strong>n Freiraum bei einer Normalisierung <strong>de</strong>r Lage gegen <strong>de</strong>n<br />

Staat mit Waffengewalt zu behaupten, ist<br />

267<br />

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gering. Als Ausweg aus diesem Dilemma bietet sich die dritte, die indirekte Lehre an: Je mehr eine<br />

Bewegung traditionell verankert, strukturell entwickelt und inhaltlich reif ist, <strong>de</strong>sto geringer wird die<br />

Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s militärischen Aspekts. Die Machnotschina war eine Spontangeburt, <strong>de</strong>r diese drei<br />

Voraussetzungen fast völlig fehlten. Entsprechend prägend war in ihr die Dynamik <strong>de</strong>s Kampfes und<br />

entsprechend spurlos verschwand sie nach <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rlage <strong>de</strong>r Guerilla. Ein Gemeinwesen ohne soli<strong>de</strong><br />

Tradition, Struktur und Vision kann Zeiten <strong>de</strong>r Okkupation nicht überleben. Die vierte Lehre ist kurz,<br />

traurig und bis heute prägend: In <strong>de</strong>r Ukraine machten die Anarchisten die traumatische Erfahrung, daß<br />

autoritärer und libertärer Sozialismus keine ungleichen Brü<strong>de</strong>r, son<strong>de</strong>rn Gegner sind.<br />

An <strong>de</strong>r Machnotschina haben sich seither die anarchistischen Geister geschie<strong>de</strong>n. Für die einen war sie ein<br />

heroisches Epos voller Hel<strong>de</strong>nmut und Opferwillen, für die an<strong>de</strong>ren war sie gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>swegen<br />

unarnachistisch.<br />

Tatsache ist, daß Krieg Hierarchie för<strong>de</strong>rt. Wieso gab es einen Machno, weshalb trägt die Bewegung<br />

seinen Namen? Wäre es ohne ihn genauso gekommen, o<strong>de</strong>r war er <strong>de</strong>r unverzichtbare Führer? Peter<br />

Arschinoff, <strong>de</strong>r Chronist <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s, ist überzeugt davon, daß sich auch ohne Machno eine<br />

vergleichbare Bewegung entwickelt hätte. An<strong>de</strong>rerseits war er tatsächlich <strong>de</strong>r Volksheld, <strong>de</strong>r sich voll und<br />

ganz für die Sache einsetzte, <strong>de</strong>r er sich verschrieben hatte. Es darf bezweifelt wer<strong>de</strong>n, daß die Bewegung<br />

ohne ihn solche Ausmaße angenommen hätte. Ohne Frage war er die zentrale Integrationsfigur zwischen<br />

bäuerlichem Zorn und anarchistischem I<strong>de</strong>al, gepaart mit strategischem Genius. Ob seine Qualitäten über<br />

die eines Partisanen-Feldherrn weit hinausreichten, ist umstritten; sicher ist aber, daß er als Mensch<br />

integer blieb und je<strong>de</strong>n Führerkult ablehnte. Dafür spricht auch das unauffällige Leben, das er im<br />

französischen Exil führte, wo er 1935 in einem Armenhospital an <strong>de</strong>n Spätfolgen von Kriegsverletzungen<br />

und Gefängnistuberkulose starb.<br />

Tatsache ist auch, daß <strong>de</strong>r Aufstand eine ungemein blutige Angelegenheit war. Die Anarchie, die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s<br />

herrschaftslosen Frie<strong>de</strong>ns, kam im Gewan<strong>de</strong> eines riesigen Gemetzels zur Welt. Das war nicht die Schuld<br />

<strong>de</strong>r Anarchisten – die verhielten sich inmitten <strong>de</strong>r entfesselten Blutorgie <strong>de</strong>s Bürgerkrieges<br />

vergleichsweise zurückhaltend –, aber für das einzelne Opfer wird es kaum ein Trost gewesen sein, zu<br />

wissen, warum und woher die Kugel kam, die es tötete. Daß Anarchisten, die Herrschaft abbauen statt


aufbauen wollten, ausgerechnet Krieg führen mußten, kam <strong>de</strong>r Herausbildung libertärer Friedfertigkeit<br />

nicht entgegen. Es gab für die ukrainischen Anarchisten aber in keinem Augenblick die Wahl zwischen<br />

kriegerischem und friedlichem Weg. Trotz<strong>de</strong>m: Krieg, egal in welcher Form, ist das Autoritärste was sich<br />

<strong>de</strong>nken läßt. Er macht die Menschen hart und verroht sie. Kein gutes Klima für Anarchie. Den Frie<strong>de</strong>n, in<br />

<strong>de</strong>m sie an<strong>de</strong>re Formen hätten fin<strong>de</strong>n können, haben die ukrainischen Partisanen nie gekannt. Sie waren<br />

daher nicht zimperlich, Gewalt war ihr tägliches Geschäft. Disziplin setzten sie in ihrer Armee oft brutal<br />

durch, und <strong>de</strong>r Tod war eine Strafe, die die Kämpfer nicht selten über ihre eigenen Kamera<strong>de</strong>n<br />

verhängten, wenn diese sich "gegen das Volk" o<strong>de</strong>r die "anarchistischen Prinzipien" vergingen. Ebenso<br />

268<br />

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unerbittlich wie gegen sich selbst, gingen die Aufständischen auch gegen die Fein<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Freiheit vor.<br />

Während man gefangene Soldaten, die ohnehin oft zu <strong>de</strong>n Machnowzi überliefen, entwaffnete und wie<strong>de</strong>r<br />

freiließ, fielen Offiziere, Großgrundbesitzer und Popen nicht selten <strong>de</strong>r aufgestauten Wut zum Opfer.<br />

Viele von ihnen wur<strong>de</strong>n erschossen, gehängt, oft auch gelyncht von <strong>de</strong>nen, <strong>de</strong>ren Angehörige zuvor<br />

erschossen, gehängt und gelyncht wor<strong>de</strong>n waren. Dadurch aber wird eine Hinrichtung nicht weniger<br />

unanarchistisch, ebensowenig wie durch die Tatsache, daß die Gegenseite ungleich brutaler vorging o<strong>de</strong>r<br />

die Partisanen immer wie<strong>de</strong>r einschritten, um schlimmere Exzesse zu verhin<strong>de</strong>rn.<br />

Es fällt <strong>de</strong>nnoch schwer, <strong>de</strong>n Philister zu spielen und über ein Volk, das sich mit Gewalt befreit, <strong>de</strong>n Stab<br />

zu brechen. Bei aller Kritik darf nicht vergessen wer<strong>de</strong>n, daß Gewalt bei <strong>de</strong>n Machnowzi kein<br />

Selbstzweck war. An<strong>de</strong>rs als Ravachol o<strong>de</strong>r Henry, die <strong>de</strong>r Gewalt an sich huldigten, war <strong>de</strong>r Krieg für<br />

die Aufständischen <strong>de</strong>r Ukraine ein offenbar unvermeidliches Mittel auf <strong>de</strong>m Weg zu einer freien<br />

Gesellschaft.<br />

Ob dieses Ziel auf diese Art jemals erreicht wor<strong>de</strong>n wäre, können wir nicht wissen. Die Frage, ob aus <strong>de</strong>m<br />

freien Rayon eine funktionieren<strong>de</strong> anarchistische Gesellschaft hervorgegangen wäre, hätte nur dann eine<br />

Antwort gefun<strong>de</strong>n, wenn man das Experiment hätte gewähren lassen. Das ist die Lehre Nummer sechs,<br />

und sie gilt für <strong>de</strong>n Anarchismus allgemein.<br />

Literatur:<br />

/ Nestor Machno: Das ABC <strong>de</strong>s revolutionären Anarchisten, Osnabrück o.J., Packpapier, 40 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: My Visit to the Kremlin Edmonton 1979, Black Cat Press, 32 S., ill.<br />

/ Peter Arschinoff: Geschichte <strong>de</strong>r Machno-Bewegung iyiS -1911 Berlin 1969, Institut f. Praxis u. Theorie<br />

d. Rätekomniunismus, 31; S.<br />

/ Volin: Ukraine iyi8 - 1921 in: <strong>de</strong>rs.: Die unbekannte Revolution Bd. III (vgl. Kap. 29!)<br />

/ Augustin Souchy: Wie lebt <strong>de</strong>r Arbeiter und Bauer in Rußland und in <strong>de</strong>r Ukraine? in: <strong>de</strong>rs.: Reise nach<br />

Rußland 79.20, Berlin 1971, Europäische I<strong>de</strong>en/Guhl, 172 S., ill.<br />

/ <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: Die Machnotschina Wetzlar 1982, An-Archia, 122 S., ill.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Machno (16 S.) in: Lehen ohne Chef und Staat Frankfurt/M. 1986, Eichborn, 192 S., ill.<br />

/ N.M.: Die Machno-Bewegung- Texte und Dokumente Berlin 1980, Libertad, 32 S.<br />

/ Michael Palij: The Anarchism of Nestor Makhno Seattle und London 1970, University of Washington<br />

Press, 428 S.<br />

/ Michael Malet: Neitor Makhno in the Russian Civil War London 1982, The Macmillan Press, 232 S.<br />

/ Alexandre Skirda: Nestor Makhno - LtCosaque <strong>de</strong> l'Anarchie Millau 1982, Selbstverlag, 476 S., ill.<br />

/ Dittmar Dahlmann: Land und Freiheit - Madmovscina und Zapatismo als Beispiele agrarrevolutionarer<br />

Bewegungen Stuttgart 1986, Franz Steiner, 296 S.<br />

Kapitel 31<br />

Die Kommune von Kronstadt<br />

Das Blut <strong>de</strong>r Unschuldigen wird auf die Häupter<br />

<strong>de</strong>r autoritätstrunkenen kommunistischen Fanatiker fallen.


- Kronstädter "Izvestia", 8.3.1921 -<br />

ALS "STOLZ UND RUHM DER RUSSISCHEN REVOLUTION" hatte Trotzki die Matrosen von<br />

Kronstadt bezeichnet. Das war im Jahre 1917. Im Jahre 1921 nannte er sie "gegen-revolutionäre<br />

Meuterer" und ließ ihnen eine unmißverständliche Warnung zukommen: "Wir wer<strong>de</strong>n Euch abknallen wie<br />

die Rebhühner!" Wenige Tage später lagen Tausen<strong>de</strong> von Toten im Schnee <strong>de</strong>r Insel. Was war in diesen<br />

vier Jahren geschehen? Die Kronstädter<br />

269<br />

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Matrosen hatten an ihrer For<strong>de</strong>rung von 1917, "Alle Macht <strong>de</strong>n Räten!", festgehalten. Leo Trotzki aber<br />

war inzwischen ein Staatsmann gewor<strong>de</strong>n. Was interessierte ihn sein Geschwätz von gestern? Die Zeiten<br />

hatten sich geän<strong>de</strong>rt.<br />

Kronstadt und seine Matrosen<br />

Kronstadt, auf einer Insel im Finnischen Meerbusen gelegen, ist bis heute Heimathafen <strong>de</strong>r russischen<br />

Ostseeflotte und vollständig als Marinestützpunkt ausgebaut. Die Insel ist St. Petersburg knapp dreißig<br />

Kilometer vorgelagert und dient mit ihren schweren Batterien <strong>de</strong>m Schutz <strong>de</strong>r ehemaligen Hauptstadt, die<br />

1921 bereits Petrograd hieß und schon bald Leningrad heißen sollte. In Kronstadt lebten 1921 etwa<br />

30.000 Menschen, überwiegend Marineangehörige und Werftarbeiter.<br />

Unter <strong>de</strong>n Kronstädter Matrosen herrschte seit jeher ein kritischer und revolutionärer Geist. 1905 gaben<br />

sie das Signal zum bewaffneten Aufstand, 1906 scheiterte eine Erhebung, 1917 setzen sie ihre Offiziere<br />

ab und unterstützten die Revolution, <strong>de</strong>r sie im Oktober unter Einsatz ihrer Schiffe und Kanonen zum<br />

Durchbruch verhalfen. Ohne diese Matrosen hätte die Oktoberrevolution nicht stattgefun<strong>de</strong>n.<br />

Begünstigt durch die isolierte Situation bil<strong>de</strong>te sich unter <strong>de</strong>n Menschen auf <strong>de</strong>r Insel ein eigenartiges<br />

Zusammenhörigkeitsgefühl heraus, in <strong>de</strong>m das neue Räteprinzip sehr ernst genommen wur<strong>de</strong>. Der<br />

zentrale Festungsplatz konnte die gesamte Bevölkerung fassen und diente oft als Forum für riesige<br />

Versammlungen. In <strong>de</strong>r Marine, einer hochtechnisierten Waffengattung, dienten überdurchschnittlich<br />

viele gebil<strong>de</strong>te Menschen aus allen Lan<strong>de</strong>steilen, <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r ziemlich leichte Dienst genügend Zeit ließ,<br />

die politischen Ereignisse aufmerksam zu verfolgen. Kronstadt war, noch bevor es zu einer<br />

aufständischen Kommune wur<strong>de</strong>, bereits eine sehr rege Gemein<strong>de</strong> mit einer starken I<strong>de</strong>ntität: sensibel,<br />

kritisch und relativ frei. Aufgrund ihres revolutionären Rufs hatten die Matrosen das Recht erhalten, an<br />

<strong>de</strong>n Arbeiterversammlungen von Petrograd teilzunehmen.<br />

Im Grun<strong>de</strong> waren die Bewohner Kronstadts die i<strong>de</strong>altypischen Anhänger <strong>de</strong>r Oktoberrevolution. Sie<br />

repräsentierten ihren Geist und versuchten, aufrichtig nach <strong>de</strong>m zu leben, was die Bolschewisten<br />

seinerzeit propagiert hatten. Die meisten waren überzeugte Parteigänger Lenins, und die Bolschewiki<br />

zählten auf <strong>de</strong>r Insel viele Mitglie<strong>de</strong>r. Es gab auch organisierte Anarchisten und linke Sozialrevolutionäre,<br />

aber Parteiunterschie<strong>de</strong> spielten kaum eine Rolle. Man lebte ja in einer Räte<strong>de</strong>mokratie, und das, darin<br />

war man sich einig, war das Wichtigste.<br />

Unruhe und Empörung<br />

1921 erwarteten die Menschen in Rußland endlich eine Verbesserung ihres schweren Lebens. Die weißen<br />

Generäle waren besiegt, <strong>de</strong>r Bürgerkrieg zu En<strong>de</strong>, es gab keinen Vorwand mehr für die harte Hand <strong>de</strong>r<br />

Diktatur und die Militarisierung <strong>de</strong>s Lebens. Aber die wirtschaftliche Lage blieb katastrophal. Es fehlte an<br />

Nahrung, Heizmaterial und allen Dingen <strong>de</strong>s täglichen Bedarfs bis hin zu Streichhölzern. Die Partei fuhr<br />

fort, <strong>de</strong>n Diktator<br />

270


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zu spielen, während sich ihre Funktionäre immer schamloser mit allem bedienten, was sie brauchten.<br />

En<strong>de</strong> Februar kam es in Petrograd, Moskau und an<strong>de</strong>ren Industriezentren zu Streiks, und auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong><br />

brachen Unruhen aus. Die For<strong>de</strong>rungen waren einfach: Brot und Freiheit. Die Regierung ließ die Proteste<br />

mit Gewalt auflösen. Aber die Arbeiter kamen wie<strong>de</strong>r, und diesmal war ihre Kritik schärfer: Die Partei<br />

wur<strong>de</strong> als autokratisch, machtgierig und unfähig angegriffen, die For<strong>de</strong>rung nach Wie<strong>de</strong>rherstellung freier<br />

Sowjets wur<strong>de</strong> laut. Die Antwort; Aussperrungen, Verhaftungen, Schüsse, die ersten Toten. Über<br />

Petrograd wur<strong>de</strong> das Kriegsrecht verhängt.<br />

In Kronstadt hatte man von diesen Ereignissen gehört und eine Delegation zu <strong>de</strong>n Streiken<strong>de</strong>n entsandt.<br />

Nach ihrer Rückkehr bestätigen die Matrosen die schlimmsten Befürchtungen. Während zweier<br />

Massenversammlungen auf <strong>de</strong>m Forum solidarisiert sich die Stadt mit <strong>de</strong>n Streiken<strong>de</strong>n und übernimmt<br />

<strong>de</strong>ren For<strong>de</strong>rungen. Noch glaubt niemand an eine Eskalation, obwohl <strong>de</strong>r zufällig anwesen<strong>de</strong> Staatschef<br />

Kalinin wutentbrannt abreist, nach<strong>de</strong>m er öffentlich von 16.000 Menschen überstimmt wor<strong>de</strong>n war, die<br />

auf <strong>de</strong>m großen Platz eine Protestnote verabschie<strong>de</strong>t hatten. Kernstück dieser Resolution war die<br />

For<strong>de</strong>rung nach einer parteilosen Konferenz von Arbeitern, <strong>de</strong>n roten Soldaten und Marineangehörigen<br />

von Petrograd, Kronstadt sowie <strong>de</strong>r Provinz, die die Vorfälle untersuchen sollte. Im Grun<strong>de</strong> hoffen die<br />

Matrosen auf die Einsicht <strong>de</strong>r Regierung, da die Arbeiter im Recht seien und eigentlich dasselbe for<strong>de</strong>rn<br />

wie die Bolschewiki. Sie bieten sich sogar als Vermittler an und entsen<strong>de</strong>n ein zweites Komitee. Als die<br />

dreißig Matrosen mit <strong>de</strong>r Resolution im Gepäck in Petrograd eintreffen, wer<strong>de</strong>n sie verhaftet und<br />

verschwin<strong>de</strong>n spurlos. Die Kommunistische Partei hatte die Bedrohung erkannt: Es ging letztlich um die<br />

Infragestellung ihres Herrschaftsmonopols. Sie reagiert mit Verleumdung und bezeichnet die Kronstädter<br />

als Meuterer gegen die Sowjetmacht im Sol<strong>de</strong> weißer Generäle, Pariser Finanziers und exilierter<br />

Menschewiken.<br />

In Kronstadt wird die Botschaft so verstan<strong>de</strong>n, wie sie gemeint war: als Kriegserklärung. Aber niemand<br />

wollte so recht daran glauben, daß die Regierung <strong>de</strong>r Revolution tatsächlich mit Gewalt gegen<br />

Revolutionäre vorgehen wür<strong>de</strong>. Während Trotzki, <strong>de</strong>r ehemalige zaristische Marschall Tuchatschewski<br />

und <strong>de</strong>r Petrogra<strong>de</strong>r KP-Chef Sinowjew bereits Truppen konzentrieren und <strong>de</strong>n Plan zur militärischen<br />

Eroberung ausarbeiten, verlegen sich die Kronstädter auf beschwören<strong>de</strong> Worte und hoffen auf ein<br />

Einlenken. Über ihren Radiosen<strong>de</strong>r und die täglich erscheinen<strong>de</strong> Izvestia rufen sie das russische Volk zur<br />

Solidarität und appellieren gleichzeitig an die Einsicht jener Partei, <strong>de</strong>r viele von ihnen selbst angehören.<br />

Die einzigen Antworten, die sie erhalten, sind ein Ultimatum Trotzkis sowie ein<strong>de</strong>utige Angebote<br />

zweifelhafter "Freun<strong>de</strong>" aus <strong>de</strong>m westlichen Exil. Die Arbeiter Petrograds liehen hinter Bajonetten und<br />

können nichts unternehmen, im Rest <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s weiß man nur, was in <strong>de</strong>r Prawda steht.<br />

Kronstadt weist die ausländischen Trittbrettfahrer ab und ruft zum Wi<strong>de</strong>rstand gegen die Regierung auf.<br />

Diesmal ist <strong>de</strong>r Bruch endgültig: Das Ultimatum wird zurückgewiesen, <strong>de</strong>r Gehorsam verweigert –<br />

Kronstadt versteht sich als rebellische Kommune.<br />

271<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Die Arbeiter und Matrosen nehmen nun kein Blatt mehr vor <strong>de</strong>n Mund, ihre Manifeste lesen sich wie die<br />

Statements anarchistischer Parteikritik: Die Partei habe die Macht an sich gerissen, sich von <strong>de</strong>n Massen<br />

gelöst, ihre Unfähigkeit hinlänglich bewiesen und das Vertrauen <strong>de</strong>r Arbeiter verloren. Sie sei<br />

bürokratisiert und zu einer mächtigen Polizeimaschinerie gewor<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m Volk ihr Gesetz mit<br />

Terrormaßnahmen diktiere. Die Bolschewiki hätten die Räte ihrer Macht beraubt und die Gewerkschaften<br />

verstaatlicht. Anstelle <strong>de</strong>s versprochenen Sozialismus herrsche ein kru<strong>de</strong>r Staatskapitalismus, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />

Arbeiter Lohnempfänger eines Staatskonzerns gewor<strong>de</strong>n sei. - Das war <strong>de</strong>utlich.<br />

Die unmittelbaren For<strong>de</strong>rungen Kronstadts beziehen sich auf die Wie<strong>de</strong>rherstellung politischer Rechte<br />

und freie Wahlen zu allen Organen <strong>de</strong>r Räte<strong>de</strong>mokratie; hierzu müsse die Parteimacht beschnitten


wer<strong>de</strong>n: Abschaffung <strong>de</strong>r "Politoffiziere", <strong>de</strong>r "Stoßtruppabteilungen" in <strong>de</strong>r Armee und <strong>de</strong>r<br />

"kommunistischen Gar<strong>de</strong>n" in <strong>de</strong>n Fabriken. Keine Partei sollte Privilegien haben. In <strong>de</strong>r Izvestia<br />

erscheinen seitenweise Austrittserklärungen aus <strong>de</strong>r Kommunistischen Partei. Obwohl sich die Rebellen<br />

sogar über Lenin und Trotzki lustig machen und keinen Zweifel daran lassen, daß die Macht <strong>de</strong>r Partei<br />

gebrochen wer<strong>de</strong>n muß, "damit nicht die Arbeiter und Bauern wie<strong>de</strong>r Sklaven wer<strong>de</strong>n", zerstören sie doch<br />

nicht alle Brücken zwischen sich und <strong>de</strong>m Regime. Ihr Ziel ist eine "dritte Revolution", die das Werk <strong>de</strong>r<br />

Befreiung vollen<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, und darin sollten, wie ausdrücklich betont wird, die "Kommunisten"<br />

durchaus vorkommen, ebenso wie "Anarchisten und Linkssozialisten".<br />

So suchen sie trotz allem eine Verständigung und meinen, <strong>de</strong>n Bolschewiki gol<strong>de</strong>ne Brücken zu bauen,<br />

in<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r sozialen Revolution nicht verlassen. Die aber interessierte die Kommunisten<br />

schon lange nicht mehr. Die Matrosen betonen immer wie<strong>de</strong>r, daß sie kein Blutvergießen wollen und<br />

achten peinlich darauf, daß <strong>de</strong>n kommunistischen Funktionären auf <strong>de</strong>r Insel kein Haar gekrümmt wird.<br />

Zu <strong>de</strong>m Zeitpunkt hat die Tscheka längst die in Petrograd wohnen<strong>de</strong>n Familienangehörigen <strong>de</strong>r<br />

Kronstädter in Geiselhaft genommen.<br />

Das En<strong>de</strong><br />

Am Morgen <strong>de</strong>s 7. März begann die Bombardierung <strong>de</strong>r Festung. Schwere Artillerie sollte die Rebellen<br />

von mehreren Forts <strong>de</strong>s Festlan<strong>de</strong>s aus sturmreif schießen, aber <strong>de</strong>r erste Angriff über das Eis <strong>de</strong>r<br />

gefrorenen Bucht scheiterte. Überhaupt sollte es Trotzki schwer haben, die ›Rebhühner‹ zu erlegen –<br />

ganze 11 Tage hielten die Matrosen stand. Militärisch war ihre Lage ohne Hoffnung. Die Befestigungen<br />

Kronstadts waren in Richtung See ausgelegt, <strong>de</strong>r Rücken war unge<strong>de</strong>ckt, die Kriegsschiffe lagen im Eis<br />

fest und die Lebensmittel gingen zur Neige. Aber die Appelle <strong>de</strong>r Matrosen zeigten Wirkung. Obwohl<br />

zuvor die "unzuverlässigen Truppen" bereits verlegt wor<strong>de</strong>n waren, weigerten sich viele Abteilungen <strong>de</strong>r<br />

Roten Armee, gegen ihre "Klassenbrü<strong>de</strong>r" vorzugehen, an<strong>de</strong>re for<strong>de</strong>rten Diskussionen mit <strong>de</strong>n<br />

Vorgesetzten. Selbst aus <strong>de</strong>n kommunistischen Elitetruppen <strong>de</strong>r Kursanty liefen die Soldaten zu <strong>de</strong>n<br />

Aufständischen über. Um die Disziplin wie<strong>de</strong>rherzustellen, ließ Tuchatschewski in einigen Regimentern<br />

je<strong>de</strong>n dritten Soldaten vortreten und exekutieren. Eine beson<strong>de</strong>rs geniale I<strong>de</strong>e lieferte ein junger<br />

Kommissar namens Josef Dschugaschwili, <strong>de</strong>r vor-<br />

272<br />

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schlug, asiatische Verbän<strong>de</strong> einzusetzen, da sie kein Russisch verstün<strong>de</strong>n und somit gegen die Propaganda<br />

<strong>de</strong>r Matrosen immun seien. So setzten auf Anraten dieses Mannes, <strong>de</strong>r schon bald unter <strong>de</strong>m Namen<br />

Stalin bekannt wer<strong>de</strong>n sollte, schließlich baschkirische und kirgisische Einheiten mit zum Sturm an. Die<br />

Sieger richteten in <strong>de</strong>n Straßen <strong>de</strong>r Stadt ein fürchterliches Blutbad an, <strong>de</strong>ren Opfer nie gezählt wur<strong>de</strong>n.<br />

Bis zuletzt wur<strong>de</strong> um einzelne Straßenzüge und Häuser gekämpft. Den Rest erledigte die Tscheka in <strong>de</strong>n<br />

folgen<strong>de</strong>n Tagen. Nur wenigen Matrosen gelang die gefährliche Flucht über das Eis bis nach Finnland.<br />

Am 18. März feierte die Kommunistische Partei <strong>de</strong>r Sowjetunion mit großem Pomp <strong>de</strong>n 50. Jahrestag <strong>de</strong>r<br />

Kommune von Paris, die im Blut <strong>de</strong>r französischen Arbeiter unterging. Am selben Tag feierte sie auch<br />

ihren Sieg über die Kommune von Kronstadt.<br />

Anarchisten hatten beim Aufstand von Kronstadt keine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle gespielt. Es gab zwar etliche<br />

erklärte Libertäre auf <strong>de</strong>r Insel, einige waren auch in <strong>de</strong>n Revolutionären Komitees vertreten, und ganz<br />

offensichtlich sympathisierten die Matrosen von Kronstadt zunehmend mit <strong>de</strong>m Anarchismus - aber nur<br />

<strong>de</strong>shalb, weil ihre eigene Kritik sich mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>ckte, die auch die Anarchisten vertraten. Der Aufstand aber<br />

war we<strong>de</strong>r geplant noch organisiert noch traten in ihm irgendwelche bekannten Persönlichkeiten auf. Er<br />

war im Grun<strong>de</strong> ein Beweis dafür, wie populär <strong>de</strong>r libertäre Geist von 1905 und 1917 nach vier Jahren<br />

Leninismus noch immer war.<br />

Das Regime benutzte <strong>de</strong>n Sieg über die Rebellen zu einer Endabrechnung mit einer Bewegung, die es<br />

noch immer fürchtete. Erst wenige Wochen zuvor waren an die hun<strong>de</strong>rttausend Menschen Kropotkins


Sarg gefolgt, und auf <strong>de</strong>n schwarzen Fahnen stand zu lesen: "Wo Autorität ist, da gibt es keine Freiheit".<br />

In <strong>de</strong>r Ukraine war Machno noch immer nicht geschlagen. Ein Kronstadt konnte sich je<strong>de</strong>n Tag<br />

wie<strong>de</strong>rholen ... In <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Monaten zerschlägt <strong>de</strong>r Staat die letzten anarchistischen Gruppen und<br />

verhaftet die wenigen noch verbliebenen Aktivisten. Viele en<strong>de</strong>n wie Fanny Baron und acht ihrer<br />

Genossen, die in einem Keller <strong>de</strong>r Moskauer Tscheka erschossen wer<strong>de</strong>n.<br />

Kronstadt war das letzte Aufbegehren <strong>de</strong>s Volkes gegen die Diktatur <strong>de</strong>r Kommunistischen Partei und <strong>de</strong>r<br />

erste große Auftritt jenes Mannes, <strong>de</strong>r als Lenins Nachfolger diese Diktatur zum Gipfel <strong>de</strong>r Perversion<br />

führte: Josef Stalin. Von <strong>de</strong>njenigen, die Kronstadt nie<strong>de</strong>rschlugen und die Machnotschina liquidierten,<br />

hat keiner Stalins Terror überlebt. Erst viele Jahrzehnte später sollten in Rußlands Satellitenstaaten erneut<br />

die Menschen gegen <strong>de</strong>n Bolschewismus aufbegehren – in Berlin, in Budapest, in Prag. Die Antwort, die<br />

die Kommunistische Partei fand, war stets dieselbe wie 1921.<br />

Literatur:<br />

/ Alexan<strong>de</strong>r Berkman: Die Kronstadt-Rebellion, Karlsruhe o.J., Laufbrosch, 34 S.<br />

/ Ida Mett: Kommune von Kronstadt Berlin 1971, Karin Kramer, 92 S.<br />

/ Victor Karelin: Aufstand <strong>de</strong>r Matrosen - Bericht über eine verratene Revolution Freiburg, Basel, Wien<br />

1972, Her<strong>de</strong>r, 219 S.<br />

/ Frits Kools, Erwin Oberlän<strong>de</strong>r (Hrsg.): Arbeiter<strong>de</strong>mokratie o<strong>de</strong>r Parteidiktatur, Bd. II: Kronstadt<br />

(Textsammlung) München 1972, dtv, 536 S.<br />

/ N.N.: Dossier: Kronstadt 1921 o<strong>de</strong>r die Dritte Revolution (28 S.) in: H. M. Enzensberger (Hrsg.):<br />

Kursbuch 9 Berlin 1967, Kursbuch Verlag<br />

/ <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: Der Aufstand <strong>de</strong>r Kronstädter Matrosen Wetzlar 1973, An-Archia, 46 S., ill.<br />

/ N.N.: Wir hoffen sehr auf Kronstadt Köln 1954, Greve, 354 S.<br />

/ Theodor Schübel: Die Matrosen von Kronstadt München 1983, Doemer-Knaur, 127 S.<br />

/ Dieter Kühn: Kronstadt: Thesen und Antithesen in: <strong>de</strong>rs.: Grenzen <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s Frankfurt/M. 1972,<br />

Suhrkamp, 163 S.<br />

/ Volin: Kronstadt in: Die unbekannte Revolution Bd. II (vgl. Kap. 29!)<br />

273<br />

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Kapitel 32<br />

Anarchosyndikalismus – Geburtshelfer <strong>de</strong>r Revolution<br />

Man muß die Arbeiter nicht so sehr dazu auffor<strong>de</strong>rn,<br />

die Arbeit nie<strong>de</strong>rzulegen, als vielmehr dazu,<br />

sie unter eigener Regie fortzuführen.<br />

– Errico Malatesta –<br />

IM DEZEMBER 1922 KAMEN IN BERLIN Delegierte aus einem Dutzend europäischer und<br />

amerikanischer Län<strong>de</strong>r zusammen, um eine anarchistische Gewerkschaftsinternationale zu grün<strong>de</strong>n. Sie<br />

vertraten knapp zwei Millionen organisierter Mitglie<strong>de</strong>r. Zehn Jahre später zählte die Internationale<br />

Arbeiter- Assoziation mehr als doppelt soviele Anhänger in dreiundzwanzig Län<strong>de</strong>rn. Nach gut weiteren<br />

zehn Jahren waren von dieser mächtigen Bewegung nur noch kümmerliche Reste vorhan<strong>de</strong>n.<br />

Die einundzwanzig Jahre zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Weltkriegen markieren eine erste große Blütezeit <strong>de</strong>s<br />

Anarchismus. Die libertäre Bewegung hatte endgültig <strong>de</strong>n Bannkreis <strong>de</strong>r kleinen, isolierten Zirkel<br />

verlassen und war zu <strong>de</strong>m gewor<strong>de</strong>n, was man damals eine "Massenbewegung" nannte. Ihre I<strong>de</strong>en wur<strong>de</strong>n<br />

in manchen Län<strong>de</strong>rn gera<strong>de</strong>zu volkstümlich. Eine Zeit großer Erwartungen brach an, und tatsächlich sollte<br />

es in dieser Phase erstmals gelingen, die libertäre Utopie in einer mo<strong>de</strong>rnen Massengesellschaft im großen


Stil zum Funktionieren zu bringen. Die neue Formel, mit <strong>de</strong>r dies gelang, hieß Anarchosyndikalismus.<br />

Mit diesem Wort verband sich in <strong>de</strong>n zwanziger und dreißiger Jahren die Hoffnung einer ganzen<br />

Generation.<br />

Am En<strong>de</strong> aber stand <strong>de</strong>r Sieg <strong>de</strong>r Bajonette, und die Hoffnung en<strong>de</strong>te erneut unter <strong>de</strong>n Stiefeln <strong>de</strong>r<br />

Militärs. Ein neuer Gegner war auf die Bühne <strong>de</strong>r Geschichte getreten, an <strong>de</strong>m das anarchistische<br />

Experiment vorerst scheiterte: <strong>de</strong>r Faschismus. Zwar war <strong>de</strong>ssen Triumph von relativ kurzer Dauer und<br />

währte etwa in Deutschland nur zwölf Jahre, aber die verbrannte Er<strong>de</strong>, die er zurückließ, hinterließ auch<br />

eine politische Wüste, in <strong>de</strong>r es für lange Zeit keinen Platz mehr für soziale Utopien zu geben schien. Die<br />

anarchistische Bewegung war zerschlagen, ihre Hoffnungen ins Bo<strong>de</strong>nlose gefallen. Nach 1945 versank<br />

ihr reicher Schatz an Erfahrungen und Experimenten im Vergessen einer Gesellschaft, in <strong>de</strong>r einzig <strong>de</strong>r<br />

Sieger als Inhaber von Wahrheit und Werten auftrat.<br />

Der Wille zur Verän<strong>de</strong>rung<br />

Zu Beginn <strong>de</strong>r zwanziger Jahre hatten die Erfahrungen in Rußland gezeigt, daß die libertäre<br />

Selbstorganisation <strong>de</strong>r Menschen kein Hirngespinst war. Sogar das Scheitern dieser Revolution hatte<br />

indirekt <strong>de</strong>r anarchistischen Kritik am Kommunismus recht gegeben. Aus diesen Fehlern wollte man<br />

lernen, und die erste Lehre war, daß das naive Vertrauen in Lenins Phrasen von 1917 ein tödliches<br />

Vertrauen war. Als logische Konsequenz daraus brauchte man endlich einen eigenen, soli<strong>de</strong>n und<br />

gangbaren Weg, auf <strong>de</strong>m man die Höhenflüge <strong>de</strong>r schönen Utopie auf <strong>de</strong>n rauhen Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Wirklichkeit<br />

holen könnte. Funktionsfähige Umsetzungsmo<strong>de</strong>lle waren gefragt: Revolution ohne Avantgar<strong>de</strong>,<br />

Produktion ohne Kapi-<br />

274<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

talisten, Ordnung ohne Diktatur. Nicht gera<strong>de</strong> wenig, und vor allem keine Strategie, bei <strong>de</strong>r die großen<br />

Sprüche zählten. Gera<strong>de</strong> die kleinen Schritte wür<strong>de</strong>n hierbei wichtig sein. In gewissem Sinne Neuland für<br />

Anarchisten, die sich bisher eher in <strong>de</strong>r Pose <strong>de</strong>s radikalen Kritikers eingerichtet hatten.<br />

Aber die Einsicht war ebenso groß wie <strong>de</strong>r Wunsch, die Utopie endlich zu verwirklichen. Das Konzept<br />

hierzu war in Ansätzen schon vorhan<strong>de</strong>n und wartete nur darauf, umgesetzt zu wer<strong>de</strong>n. So wur<strong>de</strong> das<br />

möglich, was am ersten Weihnachtstag <strong>de</strong>s Jahres 1922 die frieren<strong>de</strong>n Delegierten aus Mexiko, Spanien<br />

und Chile mit <strong>de</strong>n kälteresistenten Genossen aus Rußland und Norwegen in Berlin an einen Tisch brachte.<br />

Als <strong>de</strong>r Kongreß am 2. Januar 1925 auseinan<strong>de</strong>rging, gab es eine weltweite libertäre Organisation mit<br />

einem gemeinsamen Programm und einer konkreten Strategie. Noch zehn Jahre zuvor hätte man das<br />

kaum für <strong>de</strong>nkbar gehalten.<br />

Es schien, als hätten sich die Anarchisten das zu Herzen genommen, was <strong>de</strong>r alte Kropotkin ihnen kurz<br />

vor seinem To<strong>de</strong> ins Stammbuch geschrieben hatte: daß es höchste Zeit sei, vom bloßen Gere<strong>de</strong> über die<br />

Soziale Revolution zur unmittelbaren Vorbereitung <strong>de</strong>r konstruktiven Arbeit überzugehen.<br />

Sozialpartnerschaft o<strong>de</strong>r Revolution?<br />

Unter Gewerkschaften versteht man gemeinhin die Interessenvertretung <strong>de</strong>r Arbeiterschaft. In ihrem<br />

heutigen Selbstverständnis begreift sich eine mo<strong>de</strong>rne Gewerkschaft als "Sozialpartner", <strong>de</strong>r in<br />

Verhandlungen mit <strong>de</strong>r Interessenvertretung <strong>de</strong>r Arbeitgeber versucht, bessere Arbeitsbedingungen zu<br />

erreichen. In <strong>de</strong>r Praxis läuft das auf ein Dienstleistungsunternehmen mit Vereinskasse hinaus, das die<br />

Löhne <strong>de</strong>r jeweiligen Inflation anpaßt – angesie<strong>de</strong>lt irgendwo zwischen Behör<strong>de</strong>, Traditionsverband und<br />

Geselligkeitsverein. Ihre Philosophie besteht im Interessenausgleich. Ihr ganzer Stolz ist es, ein wichtiger<br />

Teil <strong>de</strong>s Rechts-, Sozial- und Politiksystems zu sein – dafür haben Generationen von Gewerkschaftern<br />

gerungen, ganz beson<strong>de</strong>rs in Deutschland. Keine Frage: Gewerkschaften sind heute eine tragen<strong>de</strong> Stütze<br />

im mo<strong>de</strong>rnen Industriestaat.


Das war keineswegs schon immer so.<br />

Ursprünglich hatten Gewerkschaften mit <strong>de</strong>m Staat nichts am Hut. Er spuckte auf sie, und sie pfiffen auf<br />

ihn. Arbeiter hatten sich zusammengeschlossen, um gemeinsam dagegen zu kämpfen, daß es ihnen so<br />

dreckig ging. Es gab damals keine Gewerkschaft, die nicht als Endziel eine an<strong>de</strong>re Gesellschaft angestrebt<br />

hätte. Alle wollten ein Leben ohne Kapitalisten, die meisten auch ohne Obrigkeit. Vom Verschwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />

Staates zu träumen, gehörte m <strong>de</strong>r Gewerkschaftsbewegung, bevor sich die <strong>de</strong>utschen Sozial<strong>de</strong>mokraten<br />

ihrer annahmen, sozusagen zum guten Ton. Sich als Partner <strong>de</strong>r Kapitalisten zu verstehen, hätte als<br />

unanständig gegolten, Teil <strong>de</strong>s Staatssystems zu sein, als lächerlich. Erst nach<strong>de</strong>m Theorien und<br />

Theoretiker in <strong>de</strong>n Arbeitervereinen <strong>de</strong>n Ton angaben, wur<strong>de</strong>n Gewerkschaften zum Objekt für Parteien<br />

und tagespolitische Interessen: eine vielversprechen<strong>de</strong> Spielwiese für karrierebewußte Funktionäre und<br />

profilierungsfreudige Politiker. Die klügsten unter ihnen<br />

275<br />

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hatten in <strong>de</strong>n Arbeitern längst die kommen<strong>de</strong> soziale Kraft erkannt, ohne die politisch nichts mehr ginge;<br />

die cleveren hatten gerochen, daß man im Gewerkschaftsapparat steil aufsteigen und Geld machen konnte.<br />

Dazu aber war es nötig, daß die Gewerkschaften das System nicht mehr bedrohten – sie mußten ein Teil<br />

von ihm wer<strong>de</strong>n.<br />

So entstand die Philosophie <strong>de</strong>r Sozialpartnerschaft, so wur<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>n Gewerkschaften ein Teil <strong>de</strong>r<br />

Ausbeutungsmaschine.<br />

Für die Anarchisten sind Gewerkschaften stets das geblieben, was sie ursprünglich sein sollten: eine<br />

Organisationsform zur Erreichung <strong>de</strong>r freien und sozialen Gesellschaft. Mit <strong>de</strong>r Herausbildung <strong>de</strong>s<br />

Anarchosyndikalismus bekam dieser diffuse Wunsch eine geschlossene Theorie und eine gangbare Praxis.<br />

Das syndikalistische Rezept<br />

Ihr zufolge sollte die Gewerkschaft - französisch syndicat - eine doppelte Funktion bekommen. Zum einen<br />

bleibt sie ein Werkzeug, um die Arbeits- und Lebensbedingungen <strong>de</strong>r Menschen hier und heute konkret<br />

zu verbessern. Zum an<strong>de</strong>ren ist sie eine Organisation, aus <strong>de</strong>r sich Strukturen <strong>de</strong>r Zukunft entwickeln<br />

sollen. Die Syndikate mußten <strong>de</strong>mnach dazu taugen, das bestehen<strong>de</strong> System zu zermürben, anzugreifen<br />

und zu kippen, gleichzeitig in ihrem Schöße aber die Alternativen heranreifen zu lassen, die an die Stelle<br />

<strong>de</strong>r alten Ordnung treten sollten. Dieses Konzept war <strong>de</strong>struktiv und konstruktiv zugleich. Damit bot es<br />

sich als Lösung für das alte Dilemma <strong>de</strong>s Anarchismus an, <strong>de</strong>r zwischen Negation und Utopie oft keine<br />

gangbare Brücke fin<strong>de</strong>n konnte.<br />

Daß <strong>de</strong>r Kampf um alltägliche Verbesserungen nicht bittstellernd und <strong>de</strong>vot geführt wur<strong>de</strong>, versteht sich<br />

bei Anarchisten fast von selbst. Ihr Syndikalismus verstand sich als selbstbewußt und kämpferisch und<br />

entwickelte einen ganzen Fächer verschie<strong>de</strong>ner Metho<strong>de</strong>n und Formen <strong>de</strong>r Aktion. Angefangen von<br />

Betriebsversammlungen, Protest und Demonstrationen über Streiks, Blocka<strong>de</strong>n, Boykott und Sabotage<br />

reichte dieses Spektrum bis hin zu direkten Aktionen, Generalstreik, Arbeiterbewaffnung und<br />

Volksaufstand. Eine Horrorvision für je<strong>de</strong>n DGB-Funktionär unserer Tage, eine Hoffnungsvision für<br />

Millionen Arbeiter <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit. Die libertären Gewerkschaften waren <strong>de</strong>swegen aber keine<br />

Rabaukenhaufen, son<strong>de</strong>rn überaus disziplinierte Arbeiterorganisationen, die durchweg auch das taten, was<br />

man ›seriöse Gewerkschaftsarbeit nennt: Da gab es Streiks um Arbeitsverbesserungen, Tarifabschlüsse,<br />

Sicherheit am Arbeitsplatz und soziale Absicherung gera<strong>de</strong> so wie ein stetiges Engagement in sozialen<br />

Bereichen und allgemeinen gesellschaftlichen Fragen. Zwei Dinge aber waren grundlegend an<strong>de</strong>rs:<br />

Erstens behielten die Syndikalisten ein völlig an<strong>de</strong>res Ziel im Auge: die Überwindung dieser Gesellschaft.<br />

Deswegen blieben sie bei diesen Aktionsformen nicht stehen, son<strong>de</strong>rn verhielten sich latent subversiv.<br />

Wann immer die Gelegenheit günstig schien, griffen sie in <strong>de</strong>n reichen Fundus ihrer empfindlicheren<br />

Kampfformen. Sie waren ständig bereit, vom Lohnstreik zum Aufstand zu schreiten. Kleine Schritte<br />

waren <strong>de</strong>r Weg, nicht das Ziel. Zweitens verhan<strong>de</strong>lten o<strong>de</strong>r kämpften bei ihnen nicht die Gewerkschaften


für die Arbeiter, son<strong>de</strong>rn die Arbeiter be-<br />

276<br />

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stimmten selbst und direkt. Sie waren die Gewerkschaft. Der Anarchosyndikalismus kannte keinen<br />

anonymen Apparat; Funktionäre, Bürokratie und Tarifmauschelei hinter verschlossenen Türen waren ihm<br />

fremd. Es entschie<strong>de</strong>n ausschließlich die Betroffenen selbst - entwe<strong>de</strong>r als Vollversammlung <strong>de</strong>r<br />

Belegschaft o<strong>de</strong>r als gewerkschaftliche Basisgruppe. Eine Organisationsform also, in <strong>de</strong>r die<br />

Entscheidungsfindung von unten nach oben lief und dadurch die Gewerkschaft zu einer Art<br />

Volkshochschule für <strong>de</strong>n libertären Alltag machte.<br />

Genau hier beginnt <strong>de</strong>r konstruktive Teil <strong>de</strong>s syndikalistischen Konzepts.<br />

Die libertären Syndikate verstan<strong>de</strong>n sich als Keimzelle <strong>de</strong>r neuen Gesellschaft, als ihr verkleinertes<br />

Abbild, in <strong>de</strong>m sich schon in <strong>de</strong>r Gegenwart ansatzweise die Lebensformen <strong>de</strong>r Zukunft entwickeln<br />

sollten. Insofern waren sie weit mehr als Berufsorganisationen: ein Vorgriff auf das Ziel, ein Stück<br />

vorwegenommener Utopie. Das war natürlich nur begrenzt möglich, <strong>de</strong>nn innerhalb <strong>de</strong>r Unfreiheit ist die<br />

vollkommene Simulation von Freiheit nicht <strong>de</strong>nkbar. Dennoch erfüllte <strong>de</strong>r Anarchosyndikalismus seine<br />

Funktion als ›soziales Laboratoriums in<strong>de</strong>m er um die klassischen gewerkschaftlichen Aktivitäten herum<br />

eine eigene Welt entstehen ließ, die für viele Menschen zur sozialen Heimat wur<strong>de</strong>. Hier bil<strong>de</strong>ten sich<br />

neue Formen <strong>de</strong>s Zusammenlebens, <strong>de</strong>r Kultur, <strong>de</strong>r Wirtschaft und <strong>de</strong>s sozialen Umgangs heraus, in <strong>de</strong>r<br />

eine ganze Generation selbstbewußter Menschen lernte, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu<br />

nehmen: vom Lohnkampf über Erziehung, Bildung und Kultur bis hin zum täglichen Einkauf entstand<br />

hier eine Schule <strong>de</strong>r Selbstverwaltung, in <strong>de</strong>r auch die kniffligsten Fragen von Kommunikation und<br />

Organisation praktisch bewältigt wur<strong>de</strong>n. In diesen Inseln <strong>de</strong>r Freiheit wur<strong>de</strong>n ›libertäre Grundtugen<strong>de</strong>n‹<br />

zu alltäglichen Handlungsmustern. So entwickelte sich das, was sich nach <strong>de</strong>n Vorstellungen mancher<br />

Anarchisten am "Tag <strong>de</strong>r Revolution" angeblich von selbst einstellen sollte: libertäres Verhalten.<br />

Weit entfernt davon, sich von <strong>de</strong>r Welt abzuschotten, wur<strong>de</strong> diese soziale Kultur zu einer Art virulenter<br />

Gegengesellschaft, die die hierarchische Normgesellschaft <strong>de</strong>s Staates von innen her untergrub. Zugleich<br />

schuf sie in <strong>de</strong>r Nachbarschaft, in Betrieben, Stadtteilen, Genossenschaften und Kulturgruppen ein Klima<br />

<strong>de</strong>s Vertrauens. Anarchisten waren keine anonymen Bestien mehr, son<strong>de</strong>rn Nachbarn und Kollegen, <strong>de</strong>ren<br />

Wort etwas galt. Dies hat vermutlich mehr zum Verständnis und zur Verbreitung <strong>de</strong>s Anarchismus<br />

beigetragen als Tonnen von Agitationsliteratur.<br />

In erster Linie aber bereitete sich die syndikalistische Arbeiterschaft auf die Übernahme <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />

vor, insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r Betriebe. Und das tat sie mit System. Nach einem Umsturz, <strong>de</strong>m man nach Kräften<br />

zuarbeitete, sollten die im gewerkschaftlichen Umfeld gewachsenen Strukturen dazu dienen, die<br />

Selbstverwaltung einer ganzen Gesellschaft in Gang zu setzen. Dem kam die Erfahrung in <strong>de</strong>r<br />

lan<strong>de</strong>sweiten Vernetzung einer großen Gewerkschaft ebenso zugute, wie die internationalen Kontakte, die<br />

sich zunehmend entwickelten. Vor allem aber war es nötig, exakte Kenntnisse über <strong>de</strong>n Fluß von Waren,<br />

Werten und Rohstoffen zu erlangen. Produktionsablauf, Kalkulation, Transport, Austausch - das ganze<br />

ABC <strong>de</strong>r Betriebs- und Volkswirtschaft rückte ins Interesse <strong>de</strong>r einfachen<br />

277<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich vorgenommen hatten, die neue Gesellschaft zu errichten. Ohne <strong>de</strong>n<br />

nötigen Durchblick durch die komplexen Zusammenhänge einer mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaft war es we<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>nkbar, freiheitliche Alternativen zu entwickeln, noch einen möglichst reibungslosen Übergang zu<br />

schaffen.


So erklärte das anarchosyndikalistische Konzept praktisch die vorrevolutionäre Phase zu einem<br />

Trainingslauf für die nachrevolutionäre Zeit. Während gleichzeitig soziale Verbesserungen erkämpft, die<br />

autoritäre Gesellschaft geschwächt und die notwendigen Erfahrungen gesammelt wur<strong>de</strong>n, stan<strong>de</strong>n immer<br />

mehr fähige Menschen in <strong>de</strong>n Startlöchern, bereit, jene große Umwandlung zu vollziehen, die aus einer<br />

Revolte erst eine Revolution macht. Man brauchte dann eigentlich nur noch auf eine günstige Gelegenheit<br />

zu warten, und die lieferte das System mit seinen tiefen Krisen in schöner Regelmäßigkeit. Es leuchtet<br />

ein, daß die politische Taktik <strong>de</strong>r Anarchosyndikalisten darin bestand, diesen Krisen nachzuhelfen. Je<strong>de</strong><br />

Situation eines staatlichen Machtvakuums konnte so zum Ausgangspunkt <strong>de</strong>r sozialen Revolution<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Dieses Konzept war in sich schlüssig und genügte sich selbst. Die herkömmliche Gewerkschaft war ein<br />

Hilfswerkzeug politischer Parteien gewesen, nun wur<strong>de</strong> sie zu einem eigenständigen Faktor. Hieraus<br />

erklärt sich die strikte Abgrenzung <strong>de</strong>r libertären Syndikate gegen politische Parteien, Wahlen und<br />

Parlamente - eine Haltung, die in etwas irreführen<strong>de</strong>r Weise "apolitisch" genannt wur<strong>de</strong>. Gemeint war<br />

damit, daß diese Gewerkschaften kein Instrument einer politischen Organisation sein wollten - auch<br />

keiner anarchistischen! -, son<strong>de</strong>rn autonome Körperschaften <strong>de</strong>r Werktätigen. Es versteht sich von selbst,<br />

daß die Mitgliedschaft kein Glaubensbekenntnis zum Anarchismus voraussetzte. Die Syndikate vertraten<br />

<strong>de</strong>n Standpunkt einer Klasse, keine I<strong>de</strong>ologie. Ihre Strukturen, Aktionsformen und Ziele waren libertär,<br />

das genügte.<br />

So einfach war die Grundi<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s anarchosyndicalisme, <strong>de</strong>r in Frankreich ausgebrütet und schon bald als<br />

anarcosindicalismo in Spanien verfeinert wur<strong>de</strong>.<br />

Die Geburt eines Konzeptes<br />

Natürlich ist dieses ›Rezept‹ nicht küchenfertig vom Himmel gefallen. Schon Proudhon und Bakunin<br />

müssen als gedankliche Urheber angesehen wer<strong>de</strong>n, und schon immer waren Anarchisten<br />

gewerkschaftlich organisiert. In <strong>de</strong>r Arbeiterbewegung <strong>de</strong>r romanischen Län<strong>de</strong>r war <strong>de</strong>r libertäre<br />

Standpunkt ohnehin prägen<strong>de</strong>r als <strong>de</strong>r sozial<strong>de</strong>mokratische. Als die Sozialisten 1889 die von <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>utschen Sozial<strong>de</strong>mokratie beherrschte Zweite Internationale aus <strong>de</strong>r Taufe hoben, machte man <strong>de</strong>n<br />

Anarchisten zunehmend Schwierigkeiten. Es kam zu ›Säuberungen‹ und schließlich wur<strong>de</strong>n alle<br />

"Antiparlamentarischen" ausgeschlossen. In diesem Klima und im Bewußtsein <strong>de</strong>r Sackgasse, in die die<br />

"Propaganda <strong>de</strong>r Tat" geführt hatte, besann man sich in libertären Kreisen auf die Zielsetzung <strong>de</strong>r Ersten<br />

Internationale. 1895 erschien in Les Temps Nouveaux ein Aufsatz, in <strong>de</strong>m Fernand Pelloutier bereits das<br />

Grundmuster eines Syndikalismus vorstellte, <strong>de</strong>r zu einer "praktischen Schule <strong>de</strong>s Anarchismus" wer<strong>de</strong>n<br />

sollte. Pierre Monatte entwickelte die I<strong>de</strong>e weiter und wies euphorisch<br />

278<br />

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auf die Perspektiven hin, die sich aus <strong>de</strong>r geballten Kraft dieses Konzepts ergeben könnten. Emile Pouget<br />

insistierte* auf <strong>de</strong>r Eigenständigkeit <strong>de</strong>s Syndikalismus und entwickelte mit seiner Schrift Le Sabotage<br />

eine neue Form <strong>de</strong>s militanten, passiven Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s. Arnold Roller schließlich entwickelte eine Theorie<br />

<strong>de</strong>s Sozialen Generalstreiks und steuerte <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r "direkten Aktion" bei, die zu einer ungemein<br />

populären Aktionsform wur<strong>de</strong>. Selbst <strong>de</strong>r schillern<strong>de</strong> Sozialphilosoph Georges Sorel, <strong>de</strong>r sich zeitlebens<br />

als kämpferischer Marxist verstand, wur<strong>de</strong> zum Theoretiker <strong>de</strong>s militanten Syndikalismus und verhalf <strong>de</strong>r<br />

I<strong>de</strong>e vor <strong>de</strong>m Ersten Weltkrieg in <strong>de</strong>n französischen Gewerkschaften zum Durchbruch. In Spanien, wo<br />

sich das neue Konzept bereits auf reiche Erfahrung stützen konnte, trugen die Schriften von Soledad<br />

Gustavo und Anselmo Lorenzo zu einer praktischen Ausrichtung bei.<br />

In einem sehr kontroversen Diskussionsprozeß hielt die I<strong>de</strong>e einer libertären Gewerkschaftsstrategie nur<br />

langsam Einzug in die anarchistische Bewegung. Vor allem die Anhänger einer ›reinen Lehre‹<br />

befürchteten, daß Gewerkschaft "niemals etwas an<strong>de</strong>res sein kann, als eine legalitäre* und konservative<br />

Bewegung", wie Errico Malatesta sich ausdrückte. Diese Kritik, die vor allem auf die Gefahren <strong>de</strong>r


Funktionärsbürokratie hinwies, war im Rückblick auf die gemachten Erfahrungen durchaus verständlich.<br />

Sie verkannte allerdings die Innovationskraft <strong>de</strong>s Konzepts und zeichnete sich angesichts <strong>de</strong>r Chancen,<br />

die in dieser I<strong>de</strong>e steckten, durch konservative Phantasielosigkeit aus. Vor allem aber waren die Kritiker<br />

vom puristischen Flügel selbst ratlos, <strong>de</strong>nn ihnen mangelte es überhaupt an irgen<strong>de</strong>iner Strategie. "Sie<br />

verkrochen sich", wie Daniel Guerin schreibt, "in ihren geistigen Klöstern und verbarrikadierten sich in<br />

Elfenbeintürmen, um dort eine I<strong>de</strong>ologie zu reproduzieren, die zunehmend irrealer wur<strong>de</strong>". Es war nur<br />

eine Frage <strong>de</strong>r Zeit, bis so kluge Köpfe wie Malatesta sich zu einer differenzierteren Sichtweise<br />

durchrangen, und so <strong>de</strong>m pragmatischeren Weg zum Durchbruch verhalfen. Die Gefahr <strong>de</strong>r Bewegung,<br />

zur Sekte zu verkommen, war gebannt.<br />

Um 1910 ist <strong>de</strong>r neue Kurs allgemein akzeptiert und wird vielerorts mit Elan umgesetzt. Da die<br />

Entwicklungen und Voraussetzungen in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Län<strong>de</strong>rn unterschiedlich waren, ergaben sich<br />

hierbei starke zeitliche Verschiebungen. In Frankreich etwa lag die Blüte <strong>de</strong>s Syndikalismus sehr früh,<br />

während sie in Deutschland, <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>n, Portugal und Italien erst nach <strong>de</strong>m Ersten Weltkrieg<br />

einsetzte. In <strong>de</strong>n USA und einigen Län<strong>de</strong>rn Lateinamerikas prägte er die Gewerkschaftsbewegung ohne<br />

Unterbrechung von <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> bis in die vierziger Jahre, wohingegen er in Schwe<strong>de</strong>n einen<br />

lan<strong>de</strong>stypischen Son<strong>de</strong>rweg beschritt, <strong>de</strong>r bis heute fortdauert. In Spanien, wo <strong>de</strong>r Anarchosyndikalismus<br />

1956 schließlich zur praktischen Umsetzung gelangte, erfuhr das Konzept seine differenzierteste<br />

Mo<strong>de</strong>rnisierung. Populäre Autoren wie Ricardo Mella, Eleuterio Quintanilla o<strong>de</strong>r Isaac Puente trugen zu<br />

einer weiten Verbreitung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>en bei, für die eine überaus reiche Presse zur Verfügung stand. Zeitungen<br />

wie die Solidaridad Obrera o<strong>de</strong>r das Kulturmagazin La Revista Bianca erreichten enorme Auflagenhöhen.<br />

Fähige Organisatoren wie Salvador Segui und Angel Pestana beschleunigten das Wachstum, Praktiker<br />

wie Juan Peiro und Buenaventura Durruti entwickelten neue Aktionsformen. Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Impulse zu<br />

einer<br />

279<br />

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inhaltlichen Mo<strong>de</strong>rnisierung, die zum Teil auch in sehr kontroversen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen<br />

vorangetrieben wur<strong>de</strong>, trugen Theoretiker wie Orobon Fernan<strong>de</strong>z und Diego Abad <strong>de</strong> Santilldn bei. Der<br />

Deutsche Rudolf Rocker schließlich profilierte sich zu einem <strong>de</strong>r profun<strong>de</strong>sten Denker <strong>de</strong>s<br />

Syndikalismus, und noch in <strong>de</strong>n sechziger Jahren arbeiteten Helmut Rüdiger und Evert Arvidsson an einer<br />

Anpassung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e an die Gegebenheiten <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Sozialstaates.<br />

Die direkte Aktion<br />

Eine Hinterlassenschart <strong>de</strong>r kämpferischen Gewerkschaften, die alle Zeiten überdauert hat, ist die Taktik<br />

<strong>de</strong>r direkten Aktion. Sie erfreut sich ungebrochener Beliebtheit und ist auch außerhalb anarchistischer<br />

Kreise heimisch gewor<strong>de</strong>n.<br />

Wie bei allen genialen I<strong>de</strong>en liegt auch hier <strong>de</strong>r Trick in <strong>de</strong>r Einfachheit: Ein Problem wird direkt<br />

angegangen, die angestrebte Lösung zielt direkt auf die Ursache. Wenn Menschen hungern, bittet man<br />

nicht seinen Abgeordneten um Hilfe, son<strong>de</strong>rn man gibt ihnen zu essen und nimmt es <strong>de</strong>nen, die genug<br />

davon besitzen. Sind die Löhne zu niedrig, hört man auf zu arbeiten bis <strong>de</strong>r Lohn wie<strong>de</strong>r stimmt, statt<br />

seinen Gewerkschaftssekretär aufzufor<strong>de</strong>rn, mit <strong>de</strong>m Arbeitgeberverband in Verhandlungen um einen<br />

Manteltarifvertrag zu treten. Gibt es keine Schulen, so hofft man nicht auf die Kirche, <strong>de</strong>n Staat o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />

Sieg <strong>de</strong>r Fortschrittspartei bei <strong>de</strong>n nächsten Wahlen, son<strong>de</strong>rn grün<strong>de</strong>t selbst welche. Ist <strong>de</strong>r Arbeitstag zu<br />

lang, tritt man nicht einer Partei bei, <strong>de</strong>r es <strong>de</strong>reinst im Parlament gelingen möge, einen<br />

Arbeitsgesetzentwurf einzubringen, son<strong>de</strong>rn macht einfach früher Feierabend - überall und gleichzeitig.<br />

Solches Vorgehen hat etwas von <strong>de</strong>r erfrischen<strong>de</strong>n Direktheit kleiner Kin<strong>de</strong>r und <strong>de</strong>r Dickköpfigkeit von<br />

Menschen, die zu oft an <strong>de</strong>r Nase herumgeführt wur<strong>de</strong>n. Die anarchistischen Arbeiter zwischen Feuerland<br />

und Finnischem Meerbusen haben dieses Prinzip sehr geliebt und es mit viel Phantasie auf alle möglichen<br />

und unmöglichen Situationen angewandt - meist mit durchschlagen<strong>de</strong>m Erfolg. Staat und Unternehmer<br />

haben es ebenso ein<strong>de</strong>utig gefürchtet. Die militantesten Anarchos machten daraus in <strong>de</strong>n zwanziger und<br />

dreißiger Jahren sogar eine sehr direkte Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Geldbeschaffung. Fehlte es an finanziellen Mitteln


zur Organisierung eines Streiks, zur Gründung einer Schule o<strong>de</strong>r zur Unterstützung <strong>de</strong>r Familien<br />

inhaftierter Genossen, eröffneten sie kein Spen<strong>de</strong>nkonto, son<strong>de</strong>rn holten es sich direkt von dort, wo es<br />

lag: von <strong>de</strong>r Bank. Moralische Be<strong>de</strong>nken schienen dabei keine große Rolle gespielt zu haben, stan<strong>de</strong>n sie<br />

doch auf <strong>de</strong>m Standpunkt, daß das Geld <strong>de</strong>r Kapitalisten ohnehin von <strong>de</strong>n Arbeitern erwirtschaftet wur<strong>de</strong>.<br />

Und wo immer es ging, wur<strong>de</strong>n die Gefangenen nicht durch Petitionen aus <strong>de</strong>m Gefängnis befreit,<br />

son<strong>de</strong>rn eben - direkt.<br />

Das ähnelt natürlich in gewisser Weise <strong>de</strong>m Denkmuster <strong>de</strong>r "anarchistischen Expropriation" wie es etwa<br />

bei <strong>de</strong>r Bonnot-Ban<strong>de</strong> gepflegt wur<strong>de</strong>. Aber die Historiker sind sich über einen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Unterschied einig: Die syndikalistischen Diebe waren treuherzig wie pedantische Buchhalter, und ihre<br />

"revolutionäre Ehre" gebot ihnen, nur für "die Sache" zu stehlen. Das spätere Massenidol Durruti, <strong>de</strong>ssen<br />

ganzes Leben <strong>de</strong>r Inszenierung einer<br />

280<br />

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acción directa glich, pflegte seiner Organisation stets Abrechnungen vorzulegen, die auf die Pesete genau<br />

stimmten. Gegenüber <strong>de</strong>r Presse erklärte seine Mutter einmal, daß sie ihn je<strong>de</strong>smal, wenn er heimlich bei<br />

ihr auftauchte, neu einklei<strong>de</strong>n mußte - weil er immer so abgerissen herumlief.<br />

Bis heute wirkt die direkte Aktion als Schei<strong>de</strong>mittel <strong>de</strong>r Geister. Die einen erhoffen vom Staat, er möge<br />

ihre maro<strong>de</strong>n Betriebe subventionieren und die Arbeitsplätze erhalten, die an<strong>de</strong>ren besetzen <strong>de</strong>n Betrieb<br />

und führen ihn in Selbstverwaltung weiter. Die einen beten zu Gott, er möge Kriege verhin<strong>de</strong>rn und<br />

Frie<strong>de</strong>n bringen, die an<strong>de</strong>ren blockieren Rüstungstransporte o<strong>de</strong>r sabotieren <strong>de</strong>n Wallenexport. Die einen<br />

wählen eine bestimmte Partei, die verhin<strong>de</strong>rn möchte, daß Wohnraumspekulation betrieben,<br />

Atomkraftwerke gebaut und Wale ausgerottet wer<strong>de</strong>n, die an<strong>de</strong>ren besetzen Häuser, legen Baustellen<br />

lahm o<strong>de</strong>r attackieren die Walfänger mit <strong>de</strong>m eigenen Schiff.<br />

Die direkte Aktion ist, wie aus diesen Beispielen ersichtlich, eine Form <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns - nicht mehr. Sie<br />

läßt sich nicht überall einsetzen und schon gar nicht aus Prinzip. Sie ist we<strong>de</strong>r ein Konzept, noch ersetzt<br />

sie eine Bewegung o<strong>de</strong>r eine Strategie. Und ohne eine angemessene Handlungsethik wird aus diesem<br />

Mittel <strong>de</strong>r Befreiung nur allzu leicht ein Werkzeug <strong>de</strong>s Terrors. Richtig dosiert aber ist sie fast<br />

unschlagbar.<br />

Die Wahl zwischen direkter Aktion und indirekter Aktion ist immer auch die Wahl zwischen<br />

Selbstvertretung und Stellvertretung, zwischen selbst han<strong>de</strong>ln und han<strong>de</strong>ln lassen. Selbst und direkt<br />

agieren be<strong>de</strong>utet, geradlinig aufs Ziel zuzugehen. Das stärkt das Vertrauen in die eigene Kraft und schafft<br />

überdies unverhohlene Sympathie, <strong>de</strong>nn es macht Dinge nachvollziehbar und zieht die Lacher auf die<br />

Seite <strong>de</strong>r Listigen. Das dürfte erklären, warum direkte Aktionen bei allen staatsbejahen<strong>de</strong>n Strömungen<br />

wie Sozialismus, Kommunismus, Sozial<strong>de</strong>mokratie, Parteien, Kirchen und sonstigen Sekten so unbeliebt<br />

sind.<br />

Zur Aktualität <strong>de</strong>r Struktur<br />

Vom Anarchosyndikalismus als Klassenbewegung ist heute nicht viel übriggeblieben. Das liegt in erster<br />

Linie daran, daß die Klassenbewegung überhaupt auf <strong>de</strong>n Hund gekommen ist. Die Arbeiterklasse, von<br />

<strong>de</strong>r sich viele fragen, ob es sie überhaupt noch gibt, ist mit Sicherheit nicht mehr <strong>de</strong>r Motor sozialer<br />

Verän<strong>de</strong>rung. Die große Zeit <strong>de</strong>r Gewerkschaften ist vorbei. Der Wunsch nach gesellschaftlicher<br />

Umwälzung ergibt sich heute aus an<strong>de</strong>ren Spannungsfel<strong>de</strong>rn als ausgerechnet <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Elends westlicher<br />

Industriearbeiter.<br />

Deshalb versuchen mo<strong>de</strong>rnere anarchistische Szenarien, das genial-einfache Konzept <strong>de</strong>s<br />

Anarchosyndikalismus zu übertragen. Hierzu müssen sie seine Struktur von ihren historischen Bindungen<br />

lösen, <strong>de</strong>nn sie ist ja keineswegs an die Form <strong>de</strong>r Gewerkschaft o<strong>de</strong>r die Klasse <strong>de</strong>s Industrieproletariats


gekoppelt. Gewiß machen auch heute noch einige Gruppen wackerer Anarchas und Anarchos in Nostalgie<br />

und halten das Banner <strong>de</strong>s Proletariats hoch. Solche historisieren<strong>de</strong>n Versuche erschöpfen sich aber für<br />

gewöhnlich in einem Syndikalismus ohne Gewerkschaften und einem Klassenkampf ohne Klasse. Selbst<br />

die wenigen noch funktionieren<strong>de</strong>n echten Anarcho-Gewerkschaften sind sich bei allen Achtungserfolgen,<br />

281<br />

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die sie gelegentlich erringen, ihrer Marginalisierung* durchaus bewußt. Nur in Spanien und Schwe<strong>de</strong>n<br />

und gibt es heute libertäre Gewerkschaften, die diesen Namen verdienen.<br />

Das Originelle am Anarchosyndikalismus aber war ja nicht, daß die Anarchisten vor hun<strong>de</strong>rt Jahren ihr<br />

Herz für die Gewerkschaften ent<strong>de</strong>ckten, son<strong>de</strong>rn daß sie einen Weg fan<strong>de</strong>n, wie die Lücke zwischen<br />

Utopie und Realität zu schließen wäre. Das ganze schlüssige Zusammenspiel zwischen sofortiger<br />

Verbesserung und revolutionärer Strategie, zwischen Aufbau und Subversion, zwischen kleinen Schritten<br />

und großen Sprüngen ist das eigentlich Interessante an dieser Strategie - ihr Wesen, das auch jenseits <strong>de</strong>s<br />

historischen Zusammenhanges noch heute seine Be<strong>de</strong>utung hat. Es dürfte nach wie vor <strong>de</strong>r einzig<br />

plausible Weg sein, wie eine libertäre Gesellschaft zu erreichen wäre. Ein Weg, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r großen Masse<br />

unpolitischer Menschen die Möglichkeit gäbe, die Verän<strong>de</strong>rung auch herbeizuführen, <strong>de</strong>ren<br />

Notwendigkeit sie möglicherweise spüren. Ein Weg, auf <strong>de</strong>m die Anarchisten ihre ungeliebte Funktion<br />

einer politischen Elite überwin<strong>de</strong>n und das Risiko von Chaos, Diktatur, Krieg und Hungersnot bei <strong>de</strong>r<br />

Geburt <strong>de</strong>r freien Gesellschaft kalkulierbar machen könnten.<br />

Literatur: Max Nettlau: Anarchisten und Syndikalisten, Teil I (= Geschich. d. Anarchie, Bd V) Vaduz<br />

1985, Topos, 551 S. / Enrico Malatesta: Anarchismus- Syndikalismus Berlin 1978, Libertad, 40 S. / Emile<br />

Pouget: Der Syndikalismus Berlin o.J., Der Syndikalist, 16 S. / Arnold Roller: Die direkte Aktion Bremen<br />

o.J., Impuls, 85 S. / <strong>de</strong>rs.: Der soziale Generalstreik Berlin o.J., 48 S. / Rudolf Rocker: Die<br />

Prinzipienerklärung <strong>de</strong>s Syndikalismus Berlin 1924, Der Syndikalist, 20 S. / Bertrand Russell: Wege zur<br />

Freiheit – Sozialismus, Anarchismus, Syndikalismus Frankfurt/M. 1971, Suhrkamp, 173 S. / G. Yvetot:<br />

ABC <strong>de</strong>s Syndikalismus Hamburg o.J. (1973?), MaD, 20 S. / Evert Arvidsson: Der freiheitliche<br />

Syndikalismus im Wohlfahrtsstaat Darmstadt 1960, Die Freie Gesellschaft, 51 S. / Ahto Uisk:<br />

Syndikalismus – eine I<strong>de</strong>enskizze Berlin 198 5, Libertäres Forum, 37 S. / Helmut Rüdiger: Sozialismus in<br />

Freiheit (Aufsätze) Wetzlar 1976, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 156 S.<br />

Kapitel 33 Zwischen <strong>de</strong>n Kriegen<br />

"Die Weltgeschichte zeigt zu allen Zeiten,<br />

daß die auf Unterdrückungen unmittelbar folgen<strong>de</strong>n<br />

sogenannten ›Befreiungen‹ noch lange keine wirkliche Freiheit bringen."<br />

- Max Nettlau -<br />

DIE RELATIV KURZE ZEITSPANNE zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Weltkriegen war in <strong>de</strong>r ganzen Welt eine<br />

Ära <strong>de</strong>s politischen Umbruchs, eine Zeit, in <strong>de</strong>r die Karten neu gemischt wur<strong>de</strong>n. In diesem Übergang zur<br />

Mo<strong>de</strong>rne installierte sich <strong>de</strong>r Kapitalismus amerikanischer Prägung, und in vielen westlichen Län<strong>de</strong>rn<br />

verschwan<strong>de</strong>n die Reste <strong>de</strong>ssen, was man in romantischer Verklärung als monarchistische Gemütlichkeit<br />

empfun<strong>de</strong>n hatte. In Rußland versuchte sich eine Alternative zu etablieren, die, wie wir gesehen haben,<br />

keine war. Zwischen diesen bei<strong>de</strong>n Polen wird sich in <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n siebzig Jahren die Weltgeschichte<br />

abspielen.<br />

Die Epoche, die wir in Deutschland die "Weimarer Ära" nennen, war von einer unglaub-<br />

282


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lichen Dichte an Ereignissen, I<strong>de</strong>en und Experimenten geprägt, die Kultur, Technik, Politik, Wissenschaft<br />

und Weltanschauung gleichermaßen aufwühlten. Es schien, als ob die Menschen nach <strong>de</strong>m Schock <strong>de</strong>s<br />

Ersten Weltkrieges nichts so sehr suchten wie einen radikalen Neuanfang. Diese latente Bereitschaft war<br />

diffus und grenzte nicht selten an irrationalen Wahn. Heilsverkün<strong>de</strong>r aller Couleur hatten Hochkonjunktur<br />

in dieser durchgerüttelten Menschheit und hielten reiche Ernte. Am En<strong>de</strong> setzten sich die brutalsten und<br />

fanatisiertesten durch und führten gera<strong>de</strong>wegs in <strong>de</strong>n nächsten großen Krieg.<br />

Jenseits von Faschismus, Stalinismus und gewöhnlichem Kapitalismus gab es jedoch mehr als eine<br />

interessante Alternative. Die meisten von ihnen sind heute vergessen. Der Anarchismus spielte auch in<br />

diesen Jahren auf <strong>de</strong>r politischen Bühne keine Hauptrolle, aber seine Alternativen zählen zu <strong>de</strong>n<br />

innovativsten und sind nicht mehr zu übersehen. Aus anarchistischer Perspektive stand diese Zeit ohne<br />

Zweifel für einen enormen Aufschwung. Nicht nur ein Zuwachs an Stärke machte sich bemerkbar,<br />

son<strong>de</strong>rn vor allem auch an Kreativität und Aktion. Im neunzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rt hatte <strong>de</strong>r Anarchismus zu<br />

keinem Zeitpunkt eine für ein Land prägen<strong>de</strong> soziale Rolle gespielt, in <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit <strong>de</strong>s<br />

zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rts sollte dies gleich in mehreren Län<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Fall sein.<br />

Machen wir also einen kurzen Streifzug durch diese zwei Jahrzehnte, bei <strong>de</strong>m wir neben <strong>de</strong>r<br />

syndikalistischen Hauptströmung auch an<strong>de</strong>re Stränge verfolgen wer<strong>de</strong>n, um lan<strong>de</strong>stypischen o<strong>de</strong>r<br />

inhaltlichen Ten<strong>de</strong>nzen nachzugehen, die bei <strong>de</strong>r bisherigen Betrachtung ausgeblen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n mußten.<br />

Einige dieser damals exotischen ›Nebenlinien‹ sind inzwischen übrigens zu Trendsettern gewor<strong>de</strong>n.<br />

Nordamerika<br />

Das Land, das sich im Zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rt anschickte, seine Lebensart in alle Welt zu exportieren,<br />

gilt als die Heimat <strong>de</strong>s smarten, erfolgsorientierten Unternehmertums. Der amerikanische Mythos von <strong>de</strong>n<br />

unbegrenzten Möglichkeiten <strong>de</strong>s Selfma<strong>de</strong>man* hat jedoch als Kehrseite eine beson<strong>de</strong>rs kru<strong>de</strong>* Variante<br />

<strong>de</strong>s Kapitalismus hervorgebracht, mit <strong>de</strong>ren Hilfe sich die Vereinigten Staaten zur führen<strong>de</strong>n<br />

Industrienation machten. Das Fußvolk dieser rasanten Entwicklung bil<strong>de</strong>ten die Massen billiger<br />

Arbeitskräfte, die als nahezu rechtlose Emigranten ins Land gekommen waren. Unter ihnen machten sich<br />

schon früh radikalsozialistische Ten<strong>de</strong>nzen bemerkbar, die mit <strong>de</strong>r starken individualistischen Tradition<br />

amerikanischen Pioniergeistes zu einer lan<strong>de</strong>stypischen anarchoi<strong>de</strong>n Legierung verschmolzen. Beson<strong>de</strong>rs<br />

<strong>de</strong>utsche Einwan<strong>de</strong>rer spielten hier eine wichtige Rolle, später zunehmend auch russische, schwedische,<br />

jüdische, und italienische Emigrantenkreise. Den Samen legten die <strong>de</strong>utschen Revoluzzer von 1848, die<br />

nach Amerika geflohen waren, <strong>de</strong>m "Land <strong>de</strong>r großen Freiheit".<br />

In <strong>de</strong>n Industriezentren <strong>de</strong>s Ostens gibt es bereits um 1860 eine kämpferische Arbeiterbewegung, einige<br />

sehr aktive Sektionen sind in <strong>de</strong>r Internationale organisiert. Die <strong>de</strong>utschen Sozialisten verfügen über die<br />

beste Infrastruktur. Ihre Mitglie<strong>de</strong>r zählen nach Tausen<strong>de</strong>n und gelten als ebenso diszipliniert wie aktiv.<br />

Sie besitzen Häuser, Druckereien,<br />

283<br />

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mehrsprachige Zeitungen, Verlage und kleinere genossenschaftliche Unternehmen. Ihre beliebteste<br />

Organisationsform ist <strong>de</strong>r "Lehr- und Wehrverein", eine Mischung aus linker Abendschule und<br />

Schützenverein. Selbstverteidigung schien auch dringend angeraten: Die Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Unternehmer<br />

waren oft brutal, Arbeitskonflikte ließen sie gerne von mietbaren Agenten, <strong>de</strong>n berüchtigten "Pinkertons",<br />

mit <strong>de</strong>m Revolver lösen. Spezifisch anarchistische I<strong>de</strong>en erlangen erst unter <strong>de</strong>m Einfluß von Johann<br />

Most größere Be<strong>de</strong>utung, <strong>de</strong>r 1883 in die USA auswan<strong>de</strong>rt und dort das legendäre Blatt Freiheit<br />

herausgibt. Dieser volkstümliche Agitator, <strong>de</strong>r sich vom populärsten Sozial<strong>de</strong>mokraten Deutschlands zum<br />

überzeugten Anarchisten gewan<strong>de</strong>lt hatte, verhilft <strong>de</strong>n libertären I<strong>de</strong>en auch in <strong>de</strong>n USA zu einer großen<br />

Anhängerschaft. Um diese Zeit tobt ein harter Kampf um die Einführung <strong>de</strong>s Achtstun<strong>de</strong>ntages. Am 1.


Mai 1886 streiken in Chicago 80.000 Arbeiter. Es kommt zu Ausschreitungen, die auf bei<strong>de</strong>n Seiten Tote<br />

for<strong>de</strong>rn. Acht anarchistischen Streikführern wird daraufhin <strong>de</strong>r Prozeß gemacht, vier von ihnen wer<strong>de</strong>n<br />

gehängt, einer begeht Selbstmord. Die drei Überleben<strong>de</strong>n kommen 1893 frei, nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Gouverneur<br />

von Illinois <strong>de</strong>n Schauprozeß offiziell zum Justizmord erklärt hatte. Die fünf Justizopfer, vier von ihnen<br />

<strong>de</strong>utsche Emigranten, gingen als die "Märtyrer von Chicago" in die Geschichte ein; <strong>de</strong>r erste Mai ist<br />

seither <strong>de</strong>r internationale Kampftag <strong>de</strong>r Arbeiter.<br />

1927 wird die Welt erneut durch amerikanische Justizmor<strong>de</strong> erschüttert: Am 23. August sterben die Italo-<br />

Amerikaner Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti auf <strong>de</strong>m elektrischen Stuhl. Der Gesinnungsprozeß<br />

gegen die bei<strong>de</strong>n Anarchisten, <strong>de</strong>nen man die Beteiligung an einem Raubüberfall vorwarf, hatte sieben<br />

Jahre lang für Schlagzeilen gesorgt und auf allen fünf Kontinenten die größten Protest<strong>de</strong>monstrationen<br />

ausgelöst, die die Welt bis dahin gesehen hatte. Auch Sacco und Vanzetti wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r amerikanischen<br />

Justiz rehabilitiert - nach genau fünfzig Jahren. 1977 erklärte <strong>de</strong>r Gouverneur von Massachusetts <strong>de</strong>n<br />

23.August zum "Sacco und Vanzetti-Ge<strong>de</strong>nktag"...<br />

Die amerikanische Justiz hat eine sehr lange Liste von anarchistischen ›Märtyrern‹ produziert. Solch harte<br />

Verfolgung wirft ein Schlaglicht auf die Bedrohung, die die Behör<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n Anarchismus empfun<strong>de</strong>n<br />

haben müssen; die bei<strong>de</strong>n ausgewählten Fälle markieren die Bandbreite <strong>de</strong>r Bewegung: Vom militanten<br />

Arbeiterverein bis zur klassischen Agitationsgruppe, zu <strong>de</strong>nen Sacco und Vanzetti gehörten, war <strong>de</strong>r<br />

Anarchismus in <strong>de</strong>n Vereinigten Staaten präsent und prägend. Dabei spielte er eine weitaus wichtigere<br />

Rolle als etwa die sozialistische Partei, die niemals Be<strong>de</strong>utung erlangte. Auch <strong>de</strong>r Marxismus blieb in <strong>de</strong>n<br />

USA eher das Hobby städtischer Intellektueller <strong>de</strong>r Ostküste. Die respektlose Direktheit <strong>de</strong>s Anarchismus<br />

und das libertäre I<strong>de</strong>al eines freien Individuums schienen <strong>de</strong>n rebellischen Traditionen <strong>de</strong>s<br />

amerikanischen Volkscharakters eher zu entsprechen.<br />

Es überrascht nicht, daß auch <strong>de</strong>r Syndikalismus in diesem riesigen Land eine etwas an<strong>de</strong>re Prägung<br />

bekam. Hier waren die klassenbewußten Arbeiter frei von sozial<strong>de</strong>mokratischer Konkurrenz, mußten sich<br />

dafür jedoch gegen mafiaähnliche Branchenkartelle behaupten, die die offiziellen Gewerkschaften fest im<br />

Griff hatten. Diese sahen in <strong>de</strong>r Interessenvertretung <strong>de</strong>r Arbeiter eher ein lukratives Protektionsgeschäft<br />

ohne sozial-<br />

284<br />

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politische Inhalte. Die 1905 gegrün<strong>de</strong>ten Industrial Workers of the World, kurz IWW genannt, waren die<br />

Antwort <strong>de</strong>r selbstbewußten Arbeiter auf diese Zustän<strong>de</strong>. Der Rückhalt dieses Verban<strong>de</strong>s lag in <strong>de</strong>n<br />

Schlüsselindustrien Stahl und Kohle, seine Stärke waren die Transportarbeiter auf Straßen, Schiene und<br />

zur See. Ihr verdankten die Wobblies, wie die militanten Syndikalisten im Volksmund genannt wur<strong>de</strong>n,<br />

eine rasante Verbreitung im ganzen Land und auch in Übersee, wo sie einige Filialen grün<strong>de</strong>ten. In <strong>de</strong>r<br />

gesamten Zwischenkriegszeit gab die IWW in <strong>de</strong>n wichtigsten Arbeitskämpfen <strong>de</strong>n Ton an und brachte es<br />

in <strong>de</strong>n Variationen <strong>de</strong>r direkten Aktion zu wahrer Meisterschaft. Neben militanten Streiks entwickelten<br />

sie sehr effektvolle Taktiken <strong>de</strong>r Blocka<strong>de</strong>, <strong>de</strong>s passiven Wi<strong>de</strong>rstands und vor allem <strong>de</strong>s Boykotts, die<br />

nahtlos in die Aktionsformen <strong>de</strong>r Bürgerrechts- und Protestbewegungen unserer Tage übergegangen sind.<br />

Mit Erfolg wandte die IWW auch das Mittel <strong>de</strong>s Label an, eines syndikalistischen Markenzeichens für<br />

Waren, <strong>de</strong>ren Konsum von <strong>de</strong>n Gewerkschaften empfohlen wur<strong>de</strong>. Industriezweige, die einen<br />

arbeiterfeindlichen Kurs verfolgten, erhielten kein Label, und ihre Produkte wur<strong>de</strong>n, begleitet von sehr<br />

wirksamen Publicity-Kampagnen, mit einem Boykott belegt. Der große Anklang, <strong>de</strong>n die Wobblies unter<br />

<strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>rarbeitern, im Millionenheer <strong>de</strong>r entwurzelten Arbeitslosen und <strong>de</strong>n Saisonarbeitern in <strong>de</strong>r<br />

kalifornischen Landwirtschaft fan<strong>de</strong>n, trug zur Bildung einer spezifischen Subkultur unter Tramps bei, die<br />

Eingang in Mythen und Folklore fand. So ist es nicht überraschend, daß <strong>de</strong>r legendäre ›Märtyrer‹ <strong>de</strong>r<br />

Wobblies, Josef Hillström, nicht nur ein berüchtigter Streikredner war, son<strong>de</strong>rn vor allem Musiker,<br />

Dichter und Sänger. Die Popularität seiner Protestsongs war so besorgniserregend, daß auch er einem<br />

Justizkomplott zum Opfer fiel. Auf Betreiben <strong>de</strong>r Kupferbosse wur<strong>de</strong> Joe Hill, wie ihn die Arbeiter<br />

nannten, im November 1915 hingerichtet. Auch seine typisch amerikanische Form <strong>de</strong>s Protestes lebte<br />

durch Sänger wie Woodie Guthrie, Pete Seeger und die Protestsänger <strong>de</strong>r 68er Generation fort und ist


heute eine feste Größe im Repertoire sozialer Bewegungen.<br />

Der spätere Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>r Wobblies ist nicht nur durch die äußerst brutale Verfolgung zu erklären, <strong>de</strong>r<br />

die militante Gewerkschaft ausgesetzt war. In einem immens großen Land mit einem stetigen<br />

Überangebot von Arbeitskräften war es schwierig genug, Arbeitskämpfe zu rühren und Solidarität zu<br />

wahren. Für die Durchsetzung politischer Ziele blieb da wenig Spielraum. So kam die IWW selten über<br />

punktuelle Aktionen hinaus. Sie blieb in erster Linie eine Organisation, die mit großer Militanz zwar<br />

einiges an <strong>de</strong>n himmelschreien<strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong>n im wil<strong>de</strong>n Kapitalismus Amerikas än<strong>de</strong>rte, aber nicht in <strong>de</strong>r<br />

Lage war, Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und <strong>de</strong>m aufkommen<strong>de</strong>n Nationalismus <strong>de</strong>r vierziger<br />

Jahre zu begegnen.<br />

Typisch für <strong>de</strong>n amerikanischen Anarchismus war, daß die linke Dogmatik Europas kaum eine Rolle<br />

spielte. Die Trennung zwischen reinem Anarchismus, militantem Syndikalismus und sozialer<br />

Protestbewegung mit ihren rivalisieren<strong>de</strong>n Theorien und Schulen hat die USA weitgehend verschont. Als<br />

herausragen<strong>de</strong> Vertreterin eines solch undogmatischen Standpunktes kann Emma Goldman gelten, die<br />

von <strong>de</strong>r zeitgenössischen Presse einmal als "die gefährlichste Frau Amerikas" bezeichnet wur<strong>de</strong>. Sie hat<br />

sich nicht unterteilt in Frau<br />

285<br />

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und Feministin, Anarchistin und Agitatorin, Gewerkschafterin und Philosophin, und genau <strong>de</strong>shalb war<br />

sie so geachtet. Statt<strong>de</strong>ssen hat sie, wie <strong>de</strong>r Titel ihrer Autobiographie verrät, ihr Leben gelebt, und das<br />

äußerst intensiv. Ihr bewegtes Schicksal, das sie zwischen Rußland, Amerika und Europa hin und her<br />

führte, machte sie schon früh zum begehrten Objekt <strong>de</strong>r Medien. Als junge Fabrikarbeiterin teilt sie das<br />

typische Schicksal russischjüdischer Emigranten, engagiert sich für die Rechte <strong>de</strong>r Frau, beteiligt sich an<br />

Streiks, agitiert für die mexikanische Revolution und wird zu einer <strong>de</strong>r brillantesten Rednerinnen<br />

Amerikas. Sie grün<strong>de</strong>t ihre eigene Zeitschrift, Mother Earth, hält Vorträge, lebt in provozierend offenen<br />

Männerbeziehungen. Als man sie nach Rußland <strong>de</strong>portiert, stürzt sie sich in die revolutionären Ereignisse,<br />

flieht vor drohen<strong>de</strong>r Verfolgung nach Europa, organisiert die Gefangenenhilfe, spricht auf anarchistischen<br />

Kongressen, erlernt einen weiteren Beruf. Bei all<strong>de</strong>m schreibt sie ebenso klug wie offenherzig über<br />

politische Themen, wobei sie ihre eigenen Erfahrungen nachvollziehbar reflektiert. Sie greift dabei auch<br />

Fragen auf, die in <strong>de</strong>r männergeprägten Welt <strong>de</strong>s Anarchismus tabu o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>stens heikel sind.<br />

Selbstverständlich fin<strong>de</strong>n wir sie 1936 im revolutionären Spanien wie<strong>de</strong>r, und sie setzt all ihre Kraft ein,<br />

im Ausland um Unterstützung für dieses libertäre Experiment zu werben. Es ist bezeichnend, daß die<br />

Vereinigten Staaten, <strong>de</strong>ren Bürgerin sie einst war, <strong>de</strong>r berühmten Anarchistin die Rückkehr nie erlaubt<br />

haben. Als sie 1940 in Kanada stirbt, war die erste libertäre Blüte in Amerika schon vorüber. Immerhin<br />

fühlten sich die Vereinigten Staaten von Amerika dadurch so nachhaltig bedroht, daß sie bis auf <strong>de</strong>n<br />

heutigen Tag grundsätzlich je<strong>de</strong>m Menschen ein Visum verweigern, <strong>de</strong>r sich vor <strong>de</strong>m Immigration Office<br />

als Anhänger anarchistischer I<strong>de</strong>en zu erkennen gibt. Es wird ausdrücklich danach gefragt.<br />

Lateinamerika<br />

Als die IWW nach <strong>de</strong>m ersten Weltkrieg in <strong>de</strong>n Pazifikhäfen Süd- und Mittelamerikas erste Ortskartelle<br />

grün<strong>de</strong>te, drang sie auf ein Terrain vor, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Anarchosyndikalismus bereits Fuß gefaßt hatte. Kein<br />

Wun<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>nn einzelne Län<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Subkontinents konnten auf eine lange libertäre Tradition<br />

zurückblicken. Der erste Streik in <strong>de</strong>r Geschichte Mexikos fand 1865 statt, organisiert vom libertären<br />

Syndikat <strong>de</strong>r Hutmacher. In Brasilien wur<strong>de</strong> 1890 eines <strong>de</strong>r frühen anarchistischen Siedlungsprojekte, die<br />

Kommune Cecilia gegrün<strong>de</strong>t. Argentinien galt als das Land mit <strong>de</strong>r weltweit größten Dichte<br />

anarchistischer Presse: dort erschienen über 60 libertäre Blätter in allen möglichen Sprachen, und Buenos<br />

Aires leistete sich gar <strong>de</strong>n Luxus zweier anarchistischer Tageszeitungen – eine morgens, eine abends.<br />

Das sind natürlich nur Indizien, die auf die frühe Popularität <strong>de</strong>s Anarchismus in Lateinamerika schließen<br />

lassen. Seine Verbreitung war jedoch keineswegs gleichmäßig und hatte sehr unterschiedliche Ursachen.<br />

Zwar dürfte es auf <strong>de</strong>m Subkontinent kaum ein Land ohne libertäre Spuren geben, aber während man in


Mexiko, Argentinien, Uruguay o<strong>de</strong>r Kuba von wirklich starken Traditionen sprechen kann, fin<strong>de</strong>n wir in<br />

Brasilien, Chile, Peru, Bolivien, Costa Rica o<strong>de</strong>r Paraguay bestenfalls zeitweise und regional interessante<br />

Ansätze. In Argentinien wie<strong>de</strong>rum ist die Kraft <strong>de</strong>s Anarchismus ein<strong>de</strong>utig in <strong>de</strong>n Einwan<strong>de</strong>rungs-<br />

286<br />

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bewegungen um die Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> zu suchen, während seine Wurzeln in Mexiko bis ins<br />

hausgemachte Elend <strong>de</strong>r indianischen Ureinwohner reichen. Unterschiedlich stark wirkten sich auch die<br />

Bindungen an das sogenannte "Mutterland" Spanien aus, das seinerseits intensiv vom anarchistischen<br />

Virus befallen war. Diese Bindungen waren zu Kuba und Mexiko be<strong>de</strong>utend stärker als etwa zu<br />

Argentinien. Mexiko ist überdies ein Land mit ausgesprochen rebellischen Traditionen. Beson<strong>de</strong>rs die<br />

landlosen indianischen Kleinbauern haben immer wie<strong>de</strong>r rebelliert und tun dies bis heute. Dabei haben<br />

sie, ohne ›Anarchisten‹ zu sein. Aktions- und Lebensformen hervorgebracht, die kaum an<strong>de</strong>rs als libertär<br />

zu nennen sind. Als in <strong>de</strong>r Agrarrevolution vor <strong>de</strong>m Ersten Weltkrieg <strong>de</strong>r Bauerngeneral Emiliano Zapata<br />

die Indios zum Sturm auf die Hauptstadt führte, geschah dies nicht zufällig unter <strong>de</strong>r libertären Losung<br />

"Land und Freiheit". Zapata stand in regem Kontakt zu <strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>rn Flores-Magon, <strong>de</strong>n hervorragendsten<br />

Köpfen <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung Mexikos. Gewisse Analogien mit Machnos ukrainischer<br />

Bauernguerilla fallen hier gera<strong>de</strong>zu ins Auge.<br />

In <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit jedoch war Argentinien das mit Abstand interessanteste lateinamerikanische<br />

Beispiel für die Blüte <strong>de</strong>s Anarchismus.<br />

Bei aller Vorsicht gegenüber Superlativen dürfte Argentinien das Land gewesen sein, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />

Anarchismus seinen bisher höchsten Grad an Popularität erreichte. In dieser sehr europäisch geprägten<br />

Republik hatte sich schon 1901 die anarchosyndikalistische Fe<strong>de</strong>ración Obrera Regional Argentina<br />

gegrün<strong>de</strong>t, die bis zur Ära <strong>de</strong>s Peronismus* in <strong>de</strong>n 40er Jahren stets die Mehrheitsgewerkschaft stellte.<br />

Vielen Neueinwan<strong>de</strong>rern, die 1914 33 Prozent <strong>de</strong>r insgesamt acht Millionen Einwohner ausmachten,<br />

wur<strong>de</strong> diese FORA zur politischen Heimat. In ihr organisierte sich <strong>de</strong>r Industriearbeiter ebenso wie <strong>de</strong>r<br />

Taxifahrer o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gaucho in <strong>de</strong>r Pampa. Das riesige Land zwischen Chaco, An<strong>de</strong>n und Kap Hoorn<br />

wur<strong>de</strong> mit einem Netz von Syndikaten überzogen. Als 1904 Syndikalisten und Anarchisten zur<br />

Demonstration riefen, zogen 70.000 Menschen durch die Straßen <strong>de</strong>r Hauptstadt, die noch keine Million<br />

Einwohner zählte. Argentinische Historiker schätzen, daß zur Zeit <strong>de</strong>s Ersten Weltkrieges je<strong>de</strong>r zehnte<br />

Erwachsene organisierter Libertärer war o<strong>de</strong>r anarchistischen I<strong>de</strong>en anhing. Die Delegierten <strong>de</strong>r FORA<br />

konnten unangemel<strong>de</strong>t beim Präsi<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>r Republik erscheinen, um ihm die Meinung zu sagen –<br />

niemand hätte gewagt, sie zurückzuweisen.<br />

Diese starke Bewegung baute auf einer langen und soli<strong>de</strong>n Vorarbeit zahlreicher anarchistischer Gruppen<br />

auf, die seit Jahrzehnten im Lan<strong>de</strong> wirkten. Bekannte Denker wie Enrico Malatesta, Pietro Gori und Luigi<br />

Fabbri hatten am Rio <strong>de</strong> la Plata gelebt und gelehrt und <strong>de</strong>r libertären Kultur dort einen sehr lebendigen,<br />

sehr italienischen tauch gegeben. Spanier, Deutsche, Polen, Russen, Balten taten das ihrige dazu, daß <strong>de</strong>r<br />

argentinische Anarchismus bunt blieb.<br />

Diese Vielfalt schien in<strong>de</strong>s einer einheitlichen Strategie im Wege zu stehen, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r argentinische<br />

Anarchismus blieb von einer tiefen und unheilvollen Spaltung beherrscht. Man könnte meinen, <strong>de</strong>r<br />

organisierte Syndikalismus sei in diesem Land zu früh losgeprescht<br />

287<br />

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– bevor nämlich die Debatte um die richtige Strategie zu einem breiten Konsens geführt hatte. Während<br />

ein libertärer Flügel <strong>de</strong>n gewerkschaftlichen Weg beschritt und programmatisch beschloß, daß "<strong>de</strong>r


Generalstreik die Basis <strong>de</strong>s wirtschaftlichen Kampfes und <strong>de</strong>r Streik eine Schulung zur Rebellion" zu sein<br />

habe, beharrte <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re auf anarchistischem Skeptizismus: Er hielt je<strong>de</strong> Gewerkschaft für zahm und<br />

kompromißlerisch. Der alte Streit darüber, ob das System an <strong>de</strong>n staatlichen Organen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

wirtschaftlichen Basis anzugreifen sei, brach nach <strong>de</strong>m ersten großen Generalstreik in aller Härte aus:<br />

Man konnte sich nicht darüber einigen, ob er nun ein Sieg o<strong>de</strong>r eine Nie<strong>de</strong>rlage war. Fortan wur<strong>de</strong><br />

polemisiert, und man ging zunehmend getrennte Wege. Während das FORA-Blatt La Protesta zu<br />

Kundgebungen, Streiks und Boykotten aufrief, sah sich die Leserschaft von La Antorcha ' eher zu<br />

Gefangenenbefreiung, Sabotageaktionen o<strong>de</strong>r "revolutionären Enteignungen" animiert. Aus dieser Ecke<br />

kam übrigens auch <strong>de</strong>r skurrile* Plan, <strong>de</strong>n Kapitalismus durch <strong>de</strong>n massenhaften Umlauf von Falschgeld<br />

in die Knie zu zwingen, wobei es nicht einer gewissen Ironie entbehrt, daß die allerbesten ›Blüten‹<br />

heimlich in <strong>de</strong>r Druckerei <strong>de</strong>s Staatsgefängnisses von Punta Carreta hergestellt wur<strong>de</strong>n. Trotz aller Härte,<br />

mit <strong>de</strong>r diese i<strong>de</strong>ologischen Grabenkämpfe ausgetragen wur<strong>de</strong>n, taten sie <strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>n Popularität <strong>de</strong>s<br />

Anarchismus in Argentinien keinen Abbruch. Der anarchophile Durchschnittsporteño* interessierte sich<br />

nicht übermäßig für anarchistische Glaubensfragen; er schien selbst zu wissen, wann Friedfertigkeit<br />

angesagt war und wann es Zeit wur<strong>de</strong>, die Faust aus <strong>de</strong>r Tasche zu ziehen.<br />

Das war zum Beispiel zur Jahreswen<strong>de</strong> 1918/19 <strong>de</strong>r Fall gewesen, als es in Buenos Aires zu <strong>de</strong>m<br />

erwähnten bewaffneten Generalstreik kam, <strong>de</strong>r sich vierzehn Tage lang mit schweren Kämpfen hinzog.<br />

Der für südamerikanische Verhältnisse geringfügige Anlaß – Polizisten hatten das Feuer auf einen<br />

anarchistischen Trauerzug eröffnet –, reichte diesmal zur Explosion <strong>de</strong>s Zorns. Unter <strong>de</strong>m Eindruck <strong>de</strong>r<br />

Russischen Revolution und meutern<strong>de</strong>r Matrosen in Deutschland ging es <strong>de</strong>n Industriearbeitern von<br />

Buenos Aires jetzt nicht mehr um irgendwelche For<strong>de</strong>rungen, son<strong>de</strong>rn um <strong>de</strong>n Besitz <strong>de</strong>r Fabriken, um<br />

die soziale Revolution. Seit 1905 hatte die FORA bereits <strong>de</strong>n freien Sonntag, das Streikrecht, Renten,<br />

Unfallkassen, Arbeitslosengeld und Arbeitszeitverkürzungen erstritten und fragte sich, ob sie damit ihrem<br />

eigentlichen Ziel näher gekommen sei. Diesmal wollten es die Syndikalisten wissen und riefen zum<br />

Umsturz. Das Echo war enorm, das Land wur<strong>de</strong> lahmgelegt und die Revolte griff um sich. Wichtige<br />

strategische Punkte und zahllose Fabriken wur<strong>de</strong>n besetzt, unter ihnen <strong>de</strong>r größte<br />

Schwerindustriekomplex <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s, die Vasena-Werke. Aber gegen Armee, Polizei und die<br />

halbfaschistischen Ban<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Liga Patriotica konnten sich die spärlich bewaffneten Arbeiter nicht lange<br />

halten. Dennoch gab die Regierung nach, bestrafte die Polizisten, ersetzte <strong>de</strong>n Gewerkschaften ihre<br />

Schä<strong>de</strong>n und erfüllte eine Reihe alter For<strong>de</strong>rungen - ein überaus kluger Akt <strong>de</strong>r Staatskunst <strong>de</strong>s<br />

populistischen Präsi<strong>de</strong>nten Yrigoyen. Der hatte klar erkannt, daß an<strong>de</strong>rnfalls ein Putsch <strong>de</strong>r Militärs o<strong>de</strong>r<br />

die anarchistische Revolution auf <strong>de</strong>r Tagesordnung gestan<strong>de</strong>n hätte. Es erstaunt nicht, daß dieser<br />

Schachzug die Anarchisten entzweite.<br />

Noch einmal vereint waren sie, als die FORA 1921/22 im fernen Patagonien einen Land-<br />

288<br />

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arbeiterstreik organisierte, <strong>de</strong>r schnell in einen allgemeinen Aufstand umschlug. Hier, im dünn besie<strong>de</strong>lten<br />

kalten Sü<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>reien wallisischer Schafzüchter, arbeiteten überwiegend chilenische<br />

Wan<strong>de</strong>rknechte und europäische Emigranten unter schau<strong>de</strong>rhaften Bedingungen. Fast alle waren<br />

gewerkschaftlich organisiert. Die rebellieren<strong>de</strong>n peones zogen nun von Estancia zu Estancia,<br />

proklamierten in je<strong>de</strong>m Dorf <strong>de</strong>n comunismo libertario und vertrieben mit Leichtigkeit die ohnehin<br />

schwach vertretene staatliche Autorität. Aus einem Gebiet, halb so groß wie Deutschland, flohen die<br />

Besitzen<strong>de</strong>n. Die Revolutionäre konnten ihr Glück kaum fassen! Während die einen eine permanente<br />

fiesta feierten, begannen an<strong>de</strong>re, sich konstruktiveren Plänen zuzuwen<strong>de</strong>n. Aber nach anfänglichem<br />

Zau<strong>de</strong>rn kehrte die Staatlichkeit zurück: Auf Druck <strong>de</strong>r einflußreichen Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Country Club<br />

sandte die Regierung in Buenos Aires ein Expeditionskorps aus. Zwar hatten die Anarchisten neben Staat<br />

und Privatbesitz auch die Armee für abgeschafft erklärt, aber das 10. argentinische Regiment unter<br />

Coronel Varela störte sich nicht daran. Es machte kurzen Prozeß und hinterließ 1800 Tote.<br />

Der Anarchismus in Argentinien aber ließ sich nicht so einfach erledigen wie <strong>de</strong>r patagonische Aufstand;


seine Wurzeln reichten zu tief und er überlebte bis heute. Daß er so viele, so langwierige und so grausame<br />

Diktaturen überstehen konnte, liegt gewiß auch an seiner einzigartigen Volkstümlichkeit. Jenseits aller<br />

politischen Tageskämpfe entstan<strong>de</strong>n hier Werte, die steh tief ins Unterbewußtsein <strong>de</strong>r nationalen I<strong>de</strong>ntität<br />

gruben. Anarchisten hatten Bibliotheken, Schulen, Kin<strong>de</strong>rhorte und Volksküchen organisiert,<br />

Kooperativen aufgebaut, Theater übers Land geschickt. Sie hinterließen ihre Spuren in Poesie und Musik,<br />

und umstürzlerische Vokabeln mischten sich in Tangos und Zambas, die von <strong>de</strong>n beliebten payadores*<br />

auf je<strong>de</strong>m Fest gesungen wur<strong>de</strong>n. Ihre folkloristischste Kreation aber blieb <strong>de</strong>r Typ <strong>de</strong>s linyera: ein<br />

umherziehen<strong>de</strong>r Agitator mit wallen<strong>de</strong>m Haar und langem Bart, zu gleichen Teilen Gaucho, Vagabund<br />

und Gelehrter. Mit Büchern, Gitarre und Pferd zog er durch die Pampa, um <strong>de</strong>n Leuten Lesen, Schreiben<br />

und das ABC <strong>de</strong>s Anarchismus beizubringen. Eine für die Zwischenkriegsepoche gera<strong>de</strong>zu typische<br />

Figur, <strong>de</strong>ren Pendant* wir damals auch in Thüringen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Extremadura hätten begegnen können.<br />

1929 schlossen sich auf einem Kongreß in Buenos Aires vierzehn libertäre Gewerkschaftsverbän<strong>de</strong><br />

Mittel- und Südamerikas zur ACAT zusammen, <strong>de</strong>r Kontinental-Amerikanischen Arbeiter-Assoziation,<br />

einer Untergruppierung <strong>de</strong>r in Berlin ansässigen IAA. Noch stand <strong>de</strong>r Anarchismus Lateinamerikas in<br />

kräftiger Blüte, noch schien es möglich, die sich abzeichnen<strong>de</strong> Gefahr <strong>de</strong>s Faschismus zu ersticken. Aber<br />

die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Schlachten wur<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rswo geschlagen und verloren. Obwohl nur indirekt betroffen,<br />

überstand die libertäre Bewegung <strong>de</strong>s Subkontinents die Jahre <strong>de</strong>s Naziterrors auch nicht viel besser als<br />

die europäische. Die tiefe Krise, in <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Anarchismus nach <strong>de</strong>m zweiten Weltkrieg wie<strong>de</strong>rfand,<br />

setzte mit einigen Jahren Verzögerung auch dort mit voller Wirkung ein. Die zeitweilige Belebung durch<br />

die Flüchtlinge <strong>de</strong>r Spanischen Revolution war im Grun<strong>de</strong> nichts weiter als das Echo einer Nie<strong>de</strong>rlage. Es<br />

konnte nicht verhin<strong>de</strong>rn, daß <strong>de</strong>r libertäre Diskurs in <strong>de</strong>n Zeiten <strong>de</strong>s kalten Krieges kein Thema mehr war.<br />

289<br />

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Die italienischen Fabrikräte<br />

Generelles Alkoholverbot und strenge Selbstdisziplin hatten sich die Arbeiter auferlegt, die im Sommer<br />

1920 in Norditalien die Metallbetriebe besetzten, um sie in eigene Regie zu übernehmen. Bewaffnete<br />

Patrouillen sicherten die großen Fabriken von Mailand und Turin, die man mit Laufgräben und<br />

Maschinengewehren in wahre Festungen verwan<strong>de</strong>lt hatte. Da sich die meisten Ingenieure und<br />

Vorarbeiter <strong>de</strong>r Selbstverwaltung verweigerten, organisierten sogenannte "Arbeiterkomitees für Technik<br />

und Verwaltung" <strong>de</strong>n Produktionsablauf. Ab nun bestimmten die Fabrikräte <strong>de</strong>n Kurs <strong>de</strong>r Branche. Da<br />

das Experiment auch auf an<strong>de</strong>re Wirtschaftszweige übergriff, konnten die selbstverwalteten Betriebe in<br />

eine direkte solidarwirtschaftliche Kooperation treten: Erz und Kohle wur<strong>de</strong> in Gemeineigentum<br />

überführt, und sogar die Banken spielten zunächst mit. Als diese sich später abwandten, gaben die Räte<br />

eigene Zahlungsmittel heraus.<br />

Zu diesem Experiment kam es zweifellos unter <strong>de</strong>m Eindruck <strong>de</strong>r Russischen Revolution, die vom<br />

italienischen Proletariat einschließlich <strong>de</strong>r Anarchisten begeistert gefeiert wur<strong>de</strong>. Eine regelrechte Räte-<br />

Euphorie setzte ein. Schon im Februar 1919 hatte <strong>de</strong>r italienische Metallarbeiterverband FIOM die<br />

Einrichtung betriebsinterner "Arbeiterkommissionen" erkämpft. Sie sollten sich, so hoffte man, durch<br />

Streiks, Besetzungen und direkte Aktionen schrittweise in Fabrikräte umwan<strong>de</strong>ln, die in <strong>de</strong>r Lage wären,<br />

die Produktionsmittel zu sozialisieren. Daraufhin sperrt im August 1920 das Patronat* die Arbeiter aus,<br />

die antworten mit <strong>de</strong>r generellen Besetzung <strong>de</strong>r Betriebe. Dieser Zustand währte einige Wochen und fand<br />

in Rom sein En<strong>de</strong> in Verhandlungen, bei <strong>de</strong>nen die Rückgabe <strong>de</strong>r Fabriken mit <strong>de</strong>m Versprechen erkauft<br />

wur<strong>de</strong>, eine Arbeiterkontrolle einzuführen. Der reformistische Mehrheitsflügel <strong>de</strong>r Gewerkschaft stellte<br />

das als großen Sieg hin, die radikalen Kräfte waren fassungslos. Der Triumph war in greifbare Nähe<br />

gerückt und wur<strong>de</strong> um nichts verspielt. Mit Recht bemerkte Malatesta, daß man sich kaum eine günstigere<br />

Gelegenheit zur sozialen Revolution hätte wünschen können: die Regierung schwach, die Bourgeoisie<br />

verunsichert, die Menschen radikalisiert durch Krieg und Hunger, die heimgekehrten Soldaten geschult<br />

im Umgang mit Waffen und die Schlüsselindustrie in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Arbeiter. Wie zutreffend diese<br />

Einschätzung war, bewies zwei Jahre später Mussolini, <strong>de</strong>m mit nur vier von diesen Druckmitteln <strong>de</strong>r<br />

italienische Staat wie eine reife Pflaume in <strong>de</strong>n Schoß fiel.


Nach Auflösung <strong>de</strong>r Fabrikräte kam es zum endgültigen Bruch zwischen <strong>de</strong>m reformistischen<br />

italienischen Gewerkschaftsverband und <strong>de</strong>n Anarchosyndikalisten, <strong>de</strong>ren 1914 gegrün<strong>de</strong>te Unione<br />

Sindacale Italiana rund eine halbe Million Mitglie<strong>de</strong>r zählte. Sie hatte die Besetzungen aktiv unterstützt,<br />

und nach<strong>de</strong>m sich die Wogen geglättet hatten, stellte <strong>de</strong>r Staat über 80 Libertäre unter Anklage. Bis auf<br />

<strong>de</strong>n USI-Vorsitzen<strong>de</strong>n Armando Borghi und Errico Malatesta, <strong>de</strong>r die anarchistische Tageszeitung<br />

Umanita Nova herausgab, wur<strong>de</strong>n alle freigesprochen. Zwar konnte man auch diesen bei<strong>de</strong>n nichts<br />

Strafbares anhängen, aber sie galten, wohl nicht ganz zu unrecht, als gefährliche Elemente; man behielt<br />

sie vorsichtshalber noch acht Monate hinter Gittern. Tragischer verlief das Schicksal <strong>de</strong>s jungen Turiner<br />

290<br />

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Intellektuellen Antonio Gramsci, <strong>de</strong>m eigentlichen geistigen Vater <strong>de</strong>s italienischen Rätemo<strong>de</strong>lls. Dieser<br />

von anarchistischen I<strong>de</strong>en stark beeinflußte Linkssozialist entwickelte in seinem Wochenblatt Ordine<br />

Nuovo eine eigenständige Rätetheorie. Obwohl Mitglied <strong>de</strong>r Sozialistischen Partei, vertrat er die These,<br />

daß die direkte Arbeitermacht sowohl <strong>de</strong>n Syndikalismus als auch Parteien und politische Gruppen<br />

überflüssig machen wür<strong>de</strong>. Dabei glaubte er noch, daß sich <strong>de</strong>rzeit in Rußland genau dies vollziehe. Die<br />

heißen Debatten, die sich Sozialisten, Syndikalisten, Räteanhänger und Anarchisten damals über <strong>de</strong>n<br />

wahren und unwahren Charakter <strong>de</strong>r Räte lieferten, mögen uns heute vielleicht etwas überspannt<br />

erscheinen. Entschei<strong>de</strong>nd jedoch war, daß aus dieser Diskussion ein grober Konsens entstand, <strong>de</strong>r zu einer<br />

gemeinsamen Plattform, zu einheitlichem Han<strong>de</strong>ln und einem großen sozialen Experiment führte. Es<br />

entstand eine Art libertärer Einheitsfront, die bewies, daß antiautoritäre I<strong>de</strong>en auch außerhalb <strong>de</strong>s<br />

Anarchismus eine Basis fan<strong>de</strong>n und – was entschei<strong>de</strong>nd war – in <strong>de</strong>r Arbeiterschaft lebhafte Resonanz<br />

hervorriefen. Der Staat machte Gramsci zum Sün<strong>de</strong>nbock <strong>de</strong>r Unruhen und ließ ihn büßen. Nach fast<br />

zehnjähriger Einzelhaft starb er im Gefängnis. Ihres kritischsten Kopfes beraubt, wur<strong>de</strong> die Sozialistische<br />

Partei schon im folgen<strong>de</strong>n Jahr zur leichten Beute <strong>de</strong>r moskauhörigen Kommunisten: Sie inszenierten<br />

eine Spaltung, aus <strong>de</strong>r 1921 die Kommunistische Partei Italiens hervorging.<br />

Bezeichnend für die politische Wirrnis jener Tage ist <strong>de</strong>r Versuch eines bolschewistischen Abgesandten,<br />

die Inhaftierung von Borghi und Malatesta zu nutzen, um die USI zu kaufen. Er bot 300.000 Lire an, falls<br />

die Anarchosyndikalisten ihren Vorsitzen<strong>de</strong>n abwählten und sich <strong>de</strong>m reformistischen Dachverband<br />

anschlössen. Lenin glaubte, auf diese Weise das anarchistische Element eindämmen und gleichzeitig über<br />

eine starke oppositionelle Fraktion im Zentralverband verfügen zu können, die er auf Moskauer Kurs zu<br />

trimmen hoffte. Zuvor nämlich war in Rußland <strong>de</strong>r Versuch gescheitert, die anarchosyndikalistische<br />

Internationale zu umwerben und vor <strong>de</strong>n eigenen Karren zu spannen. Sie sollte – angesichts <strong>de</strong>s<br />

weltweiten Mangels an kommunistischen Gewerkschaften – zum Beitritt in die "Rote<br />

Gewerkschaftsinternationale" bewegt wer<strong>de</strong>n, einem Konstrukt, an <strong>de</strong>m man in Moskau seit Jahren<br />

laborierte, um es international zum Werkzeug <strong>de</strong>r russischen Interessen zu machen. Die zahlreichen<br />

Anarchisten, die 1920 und 1921 als Delegierte in Rußland weilten, sahen sich jedoch kritisch um und<br />

brachten ernüchtern<strong>de</strong> Berichte nach Hause, die am wahren Charakter <strong>de</strong>r Bolschewiki keinen Zweifel<br />

ließen. Auch die USI ging nicht auf das Manöver ein.<br />

Europa<br />

Das Experiment <strong>de</strong>r italienischen Fabrikräte steht hier stellvertretend für das politische Klima <strong>de</strong>r<br />

Zwischenkriegszeit in Europa. Natürlich ist es nur ein Beispiel. Auch in an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn, ja sogar in<br />

Italien, kam es zu zahlreichen weiteren Gärungen, Experimenten, Erschütterungen. In allen zeigte sich die<br />

Hoffnung, mit <strong>de</strong>r die Zwischenkriegszeit begann. In Deutschland und Ungarn entstan<strong>de</strong>n Räterepubliken,<br />

Unruhen in Polen, Finnland und auf <strong>de</strong>m Balkan stan<strong>de</strong>n im Zeichen gesellschaftlicher Emanzipation, in<br />

Frankreich, Spanien<br />

291<br />

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und Portugal brachen soziale Konflikte auf und selbst in braven Gegen<strong>de</strong>n wie Großbritannien und<br />

Skandinavien machte sich eine zunehmen<strong>de</strong> Sympathie mit <strong>de</strong>n Bewegungen:, bemerkbar, die eine freie<br />

soziale Ordnung anstrebten.<br />

Was <strong>de</strong>n Anarchismus angeht, so stehen diese Jahre jenseits aller spektakulären Experimente für ein<br />

stetiges Anwachsen und die innere Festigung <strong>de</strong>r Bewegung. In vielen Län<strong>de</strong>rn können die Libertären<br />

jetzt legal auftreten und ihre I<strong>de</strong>en öffentlich verbreiten. Allenorts entstehen Gruppen, Zeitungen,<br />

Fö<strong>de</strong>rationen. In Bulgarien, Portugal, Österreich, Polen und <strong>de</strong>r Tschechoslowakei verschafft sich <strong>de</strong>r<br />

Anarchismus zunehmend Gehör. Und überall das gleiche Bild: Die erste Euphorie über die Russische<br />

Revolution verfliegt, gefolgt von einem Prozeß <strong>de</strong>r eigenen Konsolidierung, <strong>de</strong>r schon bald an die<br />

Grenzen stößt, die ein neuer Gegner diktiert: <strong>de</strong>r Faschismus. In einigen Län<strong>de</strong>rn stramm national geprägt,<br />

in an<strong>de</strong>ren eher rassistisch, sozialchauvinistisch, gewerkschaftlich o<strong>de</strong>r religiös, breitet er sich in <strong>de</strong>n<br />

zwanziger Jahren in ganz Europa aus. In einigen Län<strong>de</strong>rn kommt er sehr früh an die Macht, in an<strong>de</strong>ren<br />

verzögert sich seine Ausbreitung um viele Jahre. Das Gemeinsame aller faschistoi<strong>de</strong>n Spielarten ist, daß<br />

sie erklärte Gegner <strong>de</strong>r Freiheit sind und unversöhnliche Fein<strong>de</strong> einer selbstbewußten, kämpferischen<br />

Arbeiterschaft. Mithin wird <strong>de</strong>r Faschismus in Europa zum Gegner Nummer eins <strong>de</strong>r Anarchisten.<br />

Einer, <strong>de</strong>r diese Gefahr früh erkannte und schon 1920 auf eine Einheitsfront gegen Rechts hinzuwirken<br />

versuchte, war <strong>de</strong>r unermüdliche Malatesta. Als die antifaschistische Allianz 1922 endlich zustan<strong>de</strong> kam<br />

und einen Generalstreik proklamierte, waren Mussolinis Schwarzhem<strong>de</strong>n bereits zu stark. Ihr "Marsch auf<br />

Rom" war nicht mehr aufzuhalten, und <strong>de</strong>r Duce, auf <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Anarchist Anteo Zamboni 1926 ein<br />

erfolgloses Attentat verüben sollte, wur<strong>de</strong> zum ersten faschistischen Diktator. Dieser krankhafte<br />

Egomane, <strong>de</strong>r sich bis 1914 als Sozialist verstand und gelegentlich auch versucht hatte, sich bei<br />

Anarchisten anzubie<strong>de</strong>rn, war Malatesta übrigens 1913 persönlich begegnet. Das Urteil <strong>de</strong>s alten<br />

Anarchisten über <strong>de</strong>n damaligen Herausgeber <strong>de</strong>s Sozialistenblattes Avanti war ein<strong>de</strong>utig: "Ich habe mit<br />

diesem Menschen nichts gemein."<br />

Als Polizei und Faschisten 1922 <strong>de</strong>n Generalstreik blutig unterdrückten, wur<strong>de</strong> auch das Bild Malatestas<br />

öffentlich verbrannt. Der populäre Anarchist war <strong>de</strong>n neuen Machthabern ein rotes Tuch. Als er 1919<br />

sechsundsechzigjährig nach Italien zurückgekehrt war, jubelte ihm die Volksmenge zu, und <strong>de</strong>r liberale<br />

Corriere <strong>de</strong>lla Sera bezeichnete ihn als "eine <strong>de</strong>r größten Persönlichkeiten <strong>de</strong>s italienischen Lebens".<br />

Zusammen mit an<strong>de</strong>ren Oppositionellen wur<strong>de</strong> er jetzt erneut verhaftet, aber ohne Gerichtsverhandlung<br />

wie<strong>de</strong>r freigelassen. Mit siebzig Jahren nahm er seinen Beruf als Elektriker wie<strong>de</strong>r auf und lehnte es ab,<br />

ins Exil zu gehen. Bis zu seinem To<strong>de</strong> hielten ihn die Behör<strong>de</strong>n unter Hausarrest, wo er noch einige für<br />

die Programmatik <strong>de</strong>s Anarchismus be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Aufsätze verfaßte. Als er 1932 starb, trauerte die halbe<br />

Nation um <strong>de</strong>n unbeugsamen alten Mann. Der Hafen von Genua erstarb unter <strong>de</strong>m minutenlangen Heulen<br />

<strong>de</strong>r Schiffs- und Fabriksirenen.<br />

Ähnlich wie Emma Goldman ist Errico Malatesta oft und gerne als exemplarischer<br />

292<br />

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Anarchist dargestellt wor<strong>de</strong>n. Auch wenn stets etwas Verklärung mit im Spiel ist, wenn abenteuerliche<br />

Lebensläufe <strong>de</strong>n Hintergrund eines Menschen abgeben, so kann man diesem Kompliment kaum<br />

wi<strong>de</strong>rsprechen. Malatesta zeichnete sich in <strong>de</strong>r Tat durch eine hohe persönliche Integrität aus, die ihn zum<br />

Vorzeigeanarchisten gera<strong>de</strong>zu prä<strong>de</strong>stinierte. Obwohl er zu einer berühmten Figur wur<strong>de</strong>, hat er <strong>de</strong>n<br />

Rummel um Personen zutiefst gehaßt. Als er einmal als "Bakunist" bezeichnet wur<strong>de</strong>, entgegnete er<br />

gereizt: "Wir folgen I<strong>de</strong>en, nicht Männern." Im Gegensatz zu Bakunin o<strong>de</strong>r Kropotkin, die im Grun<strong>de</strong><br />

immer konvertierte Aristokraten blieben, lebte <strong>de</strong>r Bauernsohn Malatesta, <strong>de</strong>r "für die Revolution" sein<br />

Medizinstudium aufgab, ausschließlich von seiner Hän<strong>de</strong> Arbeit. Diese Revolution schürte er nach<br />

Kräften in Italien, England, Frankreich, Argentinien, Kuba, in <strong>de</strong>n USA, <strong>de</strong>r Schweiz und sogar in<br />

Ägypten. Er floh in einer als Nähmaschine <strong>de</strong>klarierten Stückgutkiste nach Buenos Aires und entwich in<br />

einem Ru<strong>de</strong>rboot von <strong>de</strong>r Gefängnisinsel Lampedusa. Mehr als zehn Jahre verbrachte er in<br />

Untersuchungshaft, ohne jemals rechtskräftig verurteilt zu wer<strong>de</strong>n. Seine klaren Analysen brachten


komplizierte Sachverhalte auf <strong>de</strong>n Punkt, und als Redner war er ebenso beliebt wie als Autor populär.<br />

Ganze Generationen einfacher Menschen fan<strong>de</strong>n durch seine wohlfeilen und leichtverständlichen<br />

Broschüren, in <strong>de</strong>nen die Arbeiter Carlo und Luigi o<strong>de</strong>r die Bauern Giorgio und Pepino im Zwiegespräch<br />

soziale Fragen erörtern, Zugang zur I<strong>de</strong>enwelt <strong>de</strong>s Anarchismus. Sie erschienen in allen möglichen<br />

Sprachen, erreichten Massenauflagen und sind noch heute ungetrübt genießbar.<br />

Große Sympathien heimste Malatesta auch durch seine politische Offenheit ein. Obgleich er sehr<br />

entschie<strong>de</strong>n Stellung beziehen konnte, hatte er für i<strong>de</strong>ologische Fraktionen nichts übrig. Wie wenige<br />

besaß er die Gabe, das Gemeinsame zu ent<strong>de</strong>cken und vermittelnd zu wirken. Sein Anarchismus war ein<br />

"Anarchismus ohne Adjektive*"; statt Formeln zu folgen, zog er es vor, sich sein eigenes kritisches Urteil<br />

zu bil<strong>de</strong>n und, wenn nötig, umzu<strong>de</strong>nken. Angesichts starrköpfiger Dogmatiker, wie sie auch im<br />

Anarchismus nicht selten vorkommen, hielt er es mit seinem Freund Saverio Merlino, <strong>de</strong>r geschrieben<br />

hatte: "Die Menschheit marschiert nicht auf einem einzigen Weg und nach <strong>de</strong>r Schulrute ihrem Ziele zu.<br />

Erwarten wir viele Überraschungen und vertrauen wir nicht zu sehr unserer eigenen Phraseologie."<br />

Exotica<br />

Unweit von Seoul befin<strong>de</strong>t sich das Museum <strong>de</strong>r Nationalen Unabhängigkeit. In <strong>de</strong>r großzügigen Anlage<br />

ist eine ganze Abteilung <strong>de</strong>m "heroischen Kampf <strong>de</strong>r Anarchisten in Korea" gewidmet, an <strong>de</strong>ren Eingang<br />

eine überlebensgroße Bronzestatue von Kim Jwa Jin steht, <strong>de</strong>m "koreanischen Machno". Dessen<br />

Bauernguerilla befreite in <strong>de</strong>n zwanziger Jahren die Hälfte <strong>de</strong>r mandschurischen Provinz Fu Kien, unter<br />

<strong>de</strong>ren 15 Millionen Einwohnern sie <strong>de</strong>n Aufbau eines dörflichen Gemeinwesens nach <strong>de</strong>n Prinzipien <strong>de</strong>r<br />

Koreanischen Anarchistischen Fö<strong>de</strong>ration vorantrieb. Der Befreier wur<strong>de</strong> 1930 von einem Agenten<br />

Stalins ermor<strong>de</strong>t; die Volksarmee ging im Wi<strong>de</strong>rstand gegen die japanische Invasion unter und mit ihr das<br />

libertäre Experiment.<br />

293<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Der koreanische Anarchismus führt seine Wurzeln tief in die Traditionen <strong>de</strong>r eigenen Kultur zurück und<br />

datiert ihren Beginn auf das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Lee-Dynastie, als <strong>de</strong>r rationalistische Philosoph Yui Hyan Won<br />

Anfang <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts das egalitäre Kyun-Jeon System zur Landreform entwickelte, um damit das<br />

En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Feudalismus einzuläuten. Solche libertären Traditionen entstan<strong>de</strong>n völlig unabhängig vom<br />

abendländischen Denken o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n sozialen Kämpfen Europas. Erst nach <strong>de</strong>r Öffnung <strong>de</strong>r asiatischen<br />

Nationen kamen um die Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> die I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s westlichen Anarchismus nach Japan, China und<br />

Korea. Es han<strong>de</strong>lte sich dabei meist um Exportware: Zahlreiche Intellektuelle, die in Paris, London, Rom<br />

o<strong>de</strong>r Berlin studierten, wur<strong>de</strong>n zu begeisterten A<strong>de</strong>pten <strong>de</strong>r Lehre und versuchten nach ihrer Rückkehr<br />

eine - oftmals unkritische - Verpflanzung in ihre Heimat. So erlebte etwa Japan um 1905 einen<br />

regelrechten Kropotkin-Boom. Erst in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit eigenen freiheitlichen und rebellischen<br />

Traditionen kam es teilweise zu einer Synthese, die in manchen Län<strong>de</strong>rn zum Ausgangspunkt einer<br />

eigenständigen anarchistischen Bewegung wur<strong>de</strong>. Auffallend aber blieb stets <strong>de</strong>r Versuch, die nationale<br />

Variante in Analogie zur europäischen Entwicklung zu sehen. So wird beispielsweise <strong>de</strong>r koreanische<br />

Philosoph Chung Dasan (1760 - 1833), <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Yeo-Jeon System ein dörfliches<br />

Selbstverwaltungsmo<strong>de</strong>ll anarchokollektivistischen Zuschnitts entwickelte, gerne als <strong>de</strong>r "koreanische<br />

Godwin" bezeichnet. Und die Bauernrevolten, die zwischen 1867 und 1894 dreiundfünfzig Landkreise<br />

befreiten, in <strong>de</strong>nen die Hälfte <strong>de</strong>r Getrei<strong>de</strong>produktion <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s kollektivwirtschaftlich erbracht wur<strong>de</strong>,<br />

gilt unter koreanischen Libertären als Vorläufer <strong>de</strong>r Spanischen Revolution.<br />

Im Vergleich zum europäischen Anarchismus nehmen diese Bewegungen oft bizarre Formen an. Klare<br />

Grenzen zwischen nationaler Befreiung und konfuzianischem Hierarchie<strong>de</strong>nken lassen sich oftmals<br />

schwer erkennen. So fin<strong>de</strong>t sich im Shanghaier Exilkabinett <strong>de</strong>s späteren koreanischen Premierministers<br />

Syngman Rhee 1919 ein anarchistischer Minister namens Yu Rim, und 1946 spaltet sich aus <strong>de</strong>r<br />

libertären Bewegung gar eine "Anarchistische Partei" ab, die nach <strong>de</strong>n Wahlen fünf Abgeordnete ins<br />

Parlament bringt. Solche Indizien lassen auf einen recht starken Rückhalt <strong>de</strong>r koreanischen Anarchisten<br />

schließen, die seit <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> mit zahllosen Gruppen, Zeitungen und auffallend vielen


schwarzen Fahnen die gleiche plakative Propaganda betreiben, wie sie auch im Westen üblich ist. Das<br />

große Prestige aber, von <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r koreanische Anarchismus noch heute zehrt und <strong>de</strong>r ihm <strong>de</strong>n kuriosen<br />

Ehrenplatz im Nationalmuseum besehene, grün<strong>de</strong>t sich auf <strong>de</strong>r Rolle, die Anarchisten zwischen 1931 und<br />

1945 im Kampf gegen die japanischen Besatzer spielten. Im Mutterland ebenso wie im Exil organisierten<br />

sie einen empfindlichen Wi<strong>de</strong>rstand, <strong>de</strong>r von Guerillagruppen bis zu Attentaten auf japanische Generäle<br />

reichte.<br />

Hierzulan<strong>de</strong> ist <strong>de</strong>r koreanische Anarchismus selbst unter belesenen Libertären eine unbekannte Größe.<br />

Und Korea steht hier nur als Beispiel für an<strong>de</strong>re Län<strong>de</strong>r, die ähnliche Entwicklungen vorweisen können.<br />

Im Allgemeinen ist Anarchismus in Asien für westliche Anarchos eher ein Stück Exotik als ein<br />

ernstzunehmen<strong>de</strong>s Thema. Dabei könnte man über die Rolle <strong>de</strong>r japanischen Meji-Sozialisten im<br />

Spannungsfeld zwischen Sozial<strong>de</strong>mokratie<br />

294<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

und Anarchismus vor <strong>de</strong>m Ersten Weltkrieg ebenso trefflich disputieren wie über die<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen zwischen <strong>de</strong>n Libertären und Marxisten Europas in <strong>de</strong>r ersten o<strong>de</strong>r zweiten<br />

Internationale. Unser eurozentrisches* Weltbild jedoch verfährt recht gna<strong>de</strong>nlos mit solchen ›Exotica‹.<br />

Das führt leicht dazu, <strong>de</strong>n Einfluß zu übersehen, <strong>de</strong>n die libertären Bewegungen Asiens in <strong>de</strong>r<br />

Zwischenkriegszeit, beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>n Wirren <strong>de</strong>s chinesischen Bürgerkrieges und <strong>de</strong>r japanischen<br />

Aggressionen, ausübten. In China beispielsweise erschöpfte sich dieser Einfluß nicht in <strong>de</strong>m<br />

philosophischen Disput, <strong>de</strong>r die Kreise fortschrittlicher Intellektueller erfaßte, zu <strong>de</strong>nen übrigens auch <strong>de</strong>r<br />

junge Mao Tse-Tung zählte, <strong>de</strong>r vor seiner Karriere als Parteikommunist einer sogenannten "weichen<br />

Linie" <strong>de</strong>s chinesischen Anarchismus angehörte. Das Echo libertärer I<strong>de</strong>en reichte weiter und hinterließ<br />

auch dauerhaftere Spuren. So wur<strong>de</strong>n etliche Schriftsteller <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s zu veritablen Libertären, etwa <strong>de</strong>r<br />

große chinesische Literat Pa Chin. Die anarchistische Agitation erfaßte insbeson<strong>de</strong>re die Arbeiterschaft in<br />

<strong>de</strong>n Industriezentren; Schanghai wur<strong>de</strong> zeitweise zu einer Drehscheibe libertärer Aktivitäten. Aus<br />

Berichten von asiatischen Anarchistenkongressen jener Tage geht zum Beispiel hervor, daß die in<br />

libertären Kreisen weltweit propagierte Kunstsprache Esperanto damals unter <strong>de</strong>n Delegierten als gängige<br />

Verkehrssprache benutzt wur<strong>de</strong>. Selbst im ultraautoritären Japan schien <strong>de</strong>r Tennö-Staat die<br />

anarchistischen Umtriebe als Bedrohung empfun<strong>de</strong>n zu haben. So nutzte die Militärpolizei das Chaos<br />

nach <strong>de</strong>m großen Erdbeben von 1923, um mit <strong>de</strong>n militanten Libertärsozialisten abzurechnen, zu <strong>de</strong>nen<br />

übrigens zahlreiche koreanische ›Gastarbeiter‹ zählten. Sie inszenierte ein Massaker, bei <strong>de</strong>m auch die<br />

bekannte japanische Anarchistin Ito Noe und ihr Lebensgefährte Ösugi Sakae <strong>de</strong>n Tod fan<strong>de</strong>n. Dennoch<br />

sah sich die japanische Bewegung En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r zwanziger Jahre in <strong>de</strong>r Lage, große Mobilisationen gegen <strong>de</strong>n<br />

Militarismus o<strong>de</strong>r für Sacco und Vanzetti zu organisieren.<br />

Auch wenn <strong>de</strong>r chinesische Mao-Kommunismus, <strong>de</strong>r Imperialismus Japans und die folgen<strong>de</strong><br />

Amerikanisierung im pazifischen Raum <strong>de</strong>n libertären Aufbruch Asiens stoppten, konnten sie doch die<br />

Bewegung nicht ausrotten. Nur ein Jahr nach <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mokratischen Öffnung Koreas konnte die<br />

wie<strong>de</strong>rauferstan<strong>de</strong>ne Anarchistische Fö<strong>de</strong>ration <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s 1988 mit einem großen, internationalen<br />

Kongress <strong>de</strong>monstrieren, daß ihre I<strong>de</strong>en auch vierzig Jahre Illegalität überstehen konnten.<br />

Weniger exotisch aber ebenso unbekannt präsentiert sich die anarchistische Bewegung in Australien, die<br />

1986 zu einer fast offiziösen internationalen Geburtstagsparty einlud. Hun<strong>de</strong>rt Jahre zuvor war es in<br />

Melbourne als Reaktion auf <strong>de</strong>n Justizmord von Chicago zu Unruhen gekommen, in <strong>de</strong>ren Folge sich die<br />

ersten "Anarchist Clubs" bil<strong>de</strong>ten. Die Bewegung war <strong>de</strong>r Nordamerikas sehr ähnlich, obwohl in<br />

Australien – infolge <strong>de</strong>r Bindungen ans britische "Mutterland" – die Rolle <strong>de</strong>r Gewerkschaften und <strong>de</strong>r<br />

sozialistischen Partei eher von europäischem Zuschnitt war. Die meisten Anarchisten entstammten <strong>de</strong>r<br />

Arbeiterbewegung und hatten einen soli<strong>de</strong>n sozialistischen Hintergrund. Anarchosyndikalistische Praxis<br />

verfing hier weit mehr als die reine anarchistische Philosophie. Während<br />

295


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<strong>de</strong>r ersten Jahrzehnte spielten die Libertären eine Art Oppositionsrolle in <strong>de</strong>n australischen<br />

Gewerkschaften, später bereichert durch <strong>de</strong>n Einfluß <strong>de</strong>r IWW, <strong>de</strong>r über die australischen Seehäfen auf<br />

<strong>de</strong>n fünften Kontinent gelangte. Die Bewegung brachte einige populäre Gestalten hervor, wie William<br />

Lerne, <strong>de</strong>r 1892 <strong>de</strong>n vielgelesenen Roman "Workingman's Paradise" schrieb o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n talentierten und<br />

wortgewaltigen Organisator J. W. Fleming. Beim Kriegseintritt Australiens 1914 bil<strong>de</strong>ten die Anarchisten<br />

die einzige ernstzunehmen<strong>de</strong> antimilitaristische Opposition, wobei das große Engagement von Frauen<br />

beson<strong>de</strong>rs auffällig war.<br />

Immer wie<strong>de</strong>r gab es auch libertäre Intellektuelle, von <strong>de</strong>nen sich einige anschickten, die freiheitlichen<br />

Wurzeln zu untersuchen, die die sanften Lebenszusammenhänge <strong>de</strong>r australischen Ureinwohner<br />

auszeichnen, <strong>de</strong>ren archaische Gesellschaft auf gegenseitiger Hilfe aufbaut und keine Herrscher kennt.<br />

Diese Aborigines rückten durch die Verfolgungen, <strong>de</strong>nen sie durch die weißen Eindringlinge ausgesetzt<br />

waren, zunehmend in <strong>de</strong>n Mittelpunkt <strong>de</strong>r Aufmerksamkeit und bil<strong>de</strong>n heute ein wichtiges Feld libertären<br />

Engagements. Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite bil<strong>de</strong>te auch <strong>de</strong>r traditionell-australische Habitus <strong>de</strong>s unabhängigen<br />

und obrigkeitsfeindlichen Outback-Pioniers, <strong>de</strong>r von jeher Elemente einer ebenso individualistischen wie<br />

rebellischen Dickköpfigkeit aufwies, einen guten Nährbo<strong>de</strong>n für libertäre I<strong>de</strong>en und begünstigte die<br />

Entwicklung <strong>de</strong>r Bewegung. Die I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>s weißen Australien entstand schließlich aus einer<br />

Strafkolonie! Das klassische Einwan<strong>de</strong>rungsland wur<strong>de</strong> seit <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> ungezählten<br />

Immigranten zur neuen Heimat, unter ihnen viele politisch Verfolgte, die sich eifrig in ihren jeweiligen<br />

Gruppen organisierten und zum Entstehen einer vielsprachigen libertären Presse beitrugen.<br />

Der australische Anarchismus führte - bedingt durch die geografische Isolation - ein recht unspektakuläres<br />

Eigenleben, das naturgemäß schwache Bindungen an die Bewegung im Westen entwickelte. Eine <strong>de</strong>r<br />

lan<strong>de</strong>stypischen Varianten, die ihn bis heute hervorhebt, ist sein reiches Repertoire an ländlichen<br />

Kommune- und Siedlungsexperimenten, was in einem solch großflächigen Land nicht erstaunt, in <strong>de</strong>m<br />

<strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n billig ist und die Regierung weit. Während anarchistische Gewerkschafter in <strong>de</strong>n großen<br />

Städten Streiks organisierten, gab es in Australien schon immer auch Individualisten, die in Gruppen aufs<br />

Land zogen, um auf irgen<strong>de</strong>iner Farm <strong>de</strong>s Hinterlan<strong>de</strong>s zu versuchen, das anarchistische I<strong>de</strong>al praktisch<br />

umzusetzen.<br />

Projektanarchismus<br />

Wir können unseren Querschnitt durch das politische Leben <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit nicht been<strong>de</strong>n, ohne<br />

einen Blick auf eine wichtige, aber schwer <strong>de</strong>finierbare libertäre Ten<strong>de</strong>nz geworfen zu haben, <strong>de</strong>ren<br />

Benennung schon <strong>de</strong>shalb schwerfällt, weil sie keinen eigenen Namen hat. Die Re<strong>de</strong> ist von <strong>de</strong>n vielen<br />

kleinen sozialen Exponenten, die uns bisher schon <strong>de</strong>s öfteren begegnet sind. Jenen Siedlungen und<br />

Kommunen, Selbsthilfegruppen und Kooperativen, Schulen, Farmen, Lä<strong>de</strong>n, Kneipen,<br />

Handwerksbetrieben und selbstverwalteten Kollektiven, die im libertären Sinne versuchen, als soziale<br />

Experimente schon hier und heute ein Stück vorweggenommener Utopie zu leben. Projekte, die<br />

unspektakulär und<br />

296<br />

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weitgehend legal ohne die Begleitumstän<strong>de</strong> von Revolten und Volkserhebungen geboren wer<strong>de</strong>n und<br />

vielleicht gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb die interessanteren Versuche sind. Es hat sie seit jeher gegeben, und sie haben<br />

<strong>de</strong>n Mainstream-Anarchismus zu allen Zeiten begleitet. Da sie aber nie selber "Mainstream" waren, lange<br />

Zeit keine eigene Theorie und viel weniger eine geschlossene Strategie entwickelten, kamen sie auch zu<br />

keinem historischen Namen. Angesichts <strong>de</strong>r holprigen Vokabel "Anarchosyndikalismus" mag man<br />

darüber sogar erfreut sein... In Ermangelung einer besseren Alternative möchte ich <strong>de</strong>n nicht weniger<br />

sprö<strong>de</strong>n Begriff "Projektanarchismus" verwen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sich in unseren Tagen einzubürgern beginnt.


Das Fehlen einer eigenen Theorie und Strategie ist zum einen daraus erklärbar, daß sich diese Strömung<br />

kaum je als Konkurrenzmo<strong>de</strong>ll zu an<strong>de</strong>ren libertären Richtungen verstan<strong>de</strong>n hat, son<strong>de</strong>rn eher als <strong>de</strong>ren<br />

Ergänzung o<strong>de</strong>r Umsetzung. Zum an<strong>de</strong>ren neigen praktisch veranlagte Menschen - und genau solche<br />

waren und sind die Promotoren* solcher Projekte - weniger zum Theoretisieren. Während manche<br />

Anarchisten ihr halbes Leben damit verbringen, die Frage zu erörtern, ob eine Revolution die<br />

Voraussetzung für ein an<strong>de</strong>res Leben ist o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>res Leben die Voraussetzung <strong>de</strong>r Revolution, pflegen<br />

die ›Pragmatiker‹ mit <strong>de</strong>n Schultern zu zucken und mit <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung zu beginnen. Sie sind<br />

gewöhnlich <strong>de</strong>r Auffassung, daß Revolution und Beginnen etwas miteinan<strong>de</strong>r zu tun haben und sich<br />

wechselseitig bedingen.<br />

"Beginnen" lautet auch <strong>de</strong>r Titel eines Buches von Gustav Landauer, das <strong>de</strong>ssen gesammelte Schriften<br />

zum Aufbau <strong>de</strong>s "Sozialistischen Bun<strong>de</strong>s" enthält. Der von <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie zum Anarchismus<br />

gekommene Landauer, Philosoph, Übersetzer und auf <strong>de</strong>r Suche nach einer Alternative zum<br />

Parteisozialismus einerseits und zur blin<strong>de</strong>n Militanz an<strong>de</strong>rerseits. Platte Propaganda überzeugte <strong>de</strong>n<br />

sanften Pazifisten ebensowenig wie dumpfe Massenbewegung. Er zählte auf die Initiative selbstbewußter,<br />

aktiver Individuen. Sein breit angelegtes Projekt, zwischen 1906 und 1915 konzipiert, sollte zu einer<br />

großen Siedlungsbewegung wer<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>r eine organisierte Welle von ›Aussteigern‹ <strong>de</strong>n Staat nicht<br />

zerschlägt, son<strong>de</strong>rn ihm von innen her die Kräfte entzieht. Gleichzeitig sollte sie eine blühen<strong>de</strong><br />

Alternative entwickeln, die attraktiv genug wäre, immer mehr Menschen dazu zu bringen, <strong>de</strong>r<br />

kapitalistischen Gesellschaft einfach <strong>de</strong>n Rücken zu kehren. Je weiter ein solches Projekt gediehen sei,<br />

<strong>de</strong>sto schwerer wäre es zu bekämpfen o<strong>de</strong>r zu zerschlagen. Dem Titel seines Buches entsprechend, tat<br />

Landauer alles, um zu beginnen. Tatsächlich entstan<strong>de</strong>n im Vorkriegs<strong>de</strong>utschland einige<br />

vielversprechen<strong>de</strong> Ansätze. Es bil<strong>de</strong>ten sich Gruppen, und man begann Land zu kaufen, Höfe aufzubauen<br />

und Siedlungen zu grün<strong>de</strong>n. Bis 1914 entstand eine Grundstruktur <strong>de</strong>s Sozialistischen Bun<strong>de</strong>s, von <strong>de</strong>r<br />

einiges zu erwarten gewesen wäre. Der Krieg aber zerstörte das noch dünne Netz, und Landauer selbst,<br />

<strong>de</strong>r sich in <strong>de</strong>r Münchner Räterepublik als Volkskommissar für Bildung hervorgetan hatte, wur<strong>de</strong> 1918<br />

beim Einmarsch <strong>de</strong>r Regierungstruppen in einem Gefängnishof von johlen<strong>de</strong>n Soldaten gelyncht.<br />

Kaum einer von <strong>de</strong>nen, die sich in <strong>de</strong>r weltweiten Aufbruchbewegung <strong>de</strong>r sechziger Jahre auf die Suche<br />

nach alternativen Lebensformen begaben, die Landkommunen, Wagen-<br />

297<br />

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siedlungen, Wohngemeinschaften, Alternativbetriebe und Stadtteilprojekte aufbauten, hatte jemals seinen<br />

Namen gehört. Als nach <strong>de</strong>n Hippies und <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntenrevolte die "Alternativbewegung" zu einem Trend<br />

wur<strong>de</strong>, wur<strong>de</strong>n auch Landauers Schriften wie<strong>de</strong>r aufgelegt – von "Alternativverlagen", wie sich versteht.<br />

Viele, die damals glaubten, das "Aussteigertum" sei ihre eigene Erfindung, stellten mit Erstaunen fest, daß<br />

die "Alternatives" einen frühen Vorläufer hatten, <strong>de</strong>r zu<strong>de</strong>m noch viel weiter vorausgedacht hatte als sie<br />

selbst.<br />

Nicht nur das. Die Zwischenkriegszeit erlebte auch schon eine erste Blüte solcher Projekte, die wir heute<br />

"alternativ" nennen wür<strong>de</strong>n, die aber mittlerweile so gut wie vergessen sind. Deutschland erlebte während<br />

<strong>de</strong>r Weimarer Republik einen regelrechten Boom an sozialen, politischen, ökonomischen und<br />

lebensreformerischen Projekten und stand damit nicht allein. In vielen Län<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> begannen mehr<br />

Menschen <strong>de</strong>nn je, sozial zu experimentieren.<br />

Ein Schüler und enger Freund Landauers, <strong>de</strong>r libertär-religiöse Sozialphilosoph Martin Buber, emigriert<br />

1938, von <strong>de</strong>n Nationalsozialisten verfolgt, nach Palästina. Dort war im Schatten <strong>de</strong>r großen Politik seit<br />

vielen Jahrzehnten ein soziales Projekt im Gange, das weltweite Aufmerksamkeit erregen sollte. 1882<br />

kamen die ersten jüdischen Einwan<strong>de</strong>rer ins Land, um gemäß <strong>de</strong>r zionistischen I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>m Volk Israels<br />

wie<strong>de</strong>r eine Heimat zu schaffen. Die blutige Geschichte <strong>de</strong>s israelischen Staates und <strong>de</strong>r ethnisch*nationale<br />

Konflikt mit <strong>de</strong>m palästinensischen Volk wäre <strong>de</strong>n Menschen vermutlich erspart geblieben,<br />

wenn sich die libertäre Tradition <strong>de</strong>r jüdischen Sozialbewegung behauptet hätte, zu <strong>de</strong>ren Inspiratoren


Landauer und Buber zählten.<br />

Schon mit <strong>de</strong>r ersten Einwan<strong>de</strong>rungswelle von 1882 entstehen landwirtschaftliche Kolonien, die ab 1921<br />

zunehmend durch einen neuen Typ, die Moschawim, abgelöst wer<strong>de</strong>n: genossenschaftliche<br />

Siedlungsdörfer mit Gemeinbesitz an Bo<strong>de</strong>n und kollektiver Vermarktung, frei von Lohnarbeit, aber mit<br />

<strong>de</strong>r Pflicht zu gegenseitiger Hilfeleistung. Erste Kibbuzim folgen, Siedlungen, die neben <strong>de</strong>r<br />

Landwirtschaft auch Handwerk, Verarbeitung und Industrie betreiben, und in <strong>de</strong>nen alles allen gehört.<br />

Diese Kleindörfer erstreben eine weitgehen<strong>de</strong> Autarkie: Der Kibbuz ist allen Bedürfnissen seiner<br />

Mitglie<strong>de</strong>r verpflichtet, einschließlich Bildung, Gesundheit, Unterhaltung, Kin<strong>de</strong>r- und Altenpflege. Je<strong>de</strong>r<br />

Kibbuz ist autonom und beruht auf freiwilliger Mitgliedschaft. Zur Überraschung zahlreicher Skeptiker<br />

erweist sich diese Lebensform nicht nur für gestan<strong>de</strong>ne Linke als attraktiv. Sie entstehen in bunter<br />

Vielfalt: sozialistisch, libertär, religiös, atheistisch, apolitisch. Auch wirtschaftlich sind sie ausgesprochen<br />

erfolgreich und bil<strong>de</strong>n bald ein ebenso dichtes wie stabiles Netz. Das Entstehen dieser Bewegung ist auf<br />

<strong>de</strong>n Einzug fortschrittlicher I<strong>de</strong>en zurückzuführen, die mit <strong>de</strong>r zweiten und dritten Einwan<strong>de</strong>rungswelle<br />

ins Land kommen. Unter diesen überwiegend politisch motivierten Ju<strong>de</strong>n aus Rußland, Polen, Rumänien,<br />

Deutschland und <strong>de</strong>r Ukraine gab es neben Sozialisten auch Libertäre aller Couleur. Sie bringen die I<strong>de</strong>en<br />

von Kropotkin und Landauer mit und auch <strong>de</strong>n Mythos <strong>de</strong>r untergegangenen Machnotschina. Das bleibt<br />

nicht ohne Folgen. Auch in <strong>de</strong>n Arbeitervierteln<br />

298<br />

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<strong>de</strong>r Städte, im Gewerkschaftsverband Histadrut, in <strong>de</strong>r großen Kultur und im täglichen Leben, im<br />

Bildungswesen und in <strong>de</strong>n Medien wird <strong>de</strong>r libertäre Standpunkt zu einem festen Bestandteil <strong>de</strong>r<br />

öffentlichen Meinung. Und <strong>de</strong>r besagt mit fast prophetischer Weitsicht, daß die beabsichtigte Gründung<br />

eines Staates Israel ein verhängnisvoller Fehler wäre. Führen<strong>de</strong> Intellektuelle wie Buber plädierten<br />

statt<strong>de</strong>ssen für eine offene Fö<strong>de</strong>ration aller Volks- und Religionsgruppen auf <strong>de</strong>r Basis kommunaler<br />

Selbstverwaltung. Eine solche sanft-libertäre Lösung aber scheint nach <strong>de</strong>m Holocaust und <strong>de</strong>r politischen<br />

Polarisierung <strong>de</strong>r Lage während <strong>de</strong>r britischen Mandatsschaft in Palästina nicht mehr durchsetzbar.<br />

Mehrheitsfähig ist sie unter <strong>de</strong>n zahlreichen Neueinwan<strong>de</strong>rern auch nicht mehr. So bekommen die Ju<strong>de</strong>n<br />

schließlich ihren eigenen Nationalstaat, in <strong>de</strong>m sie am En<strong>de</strong> ihr einziges Heil erblickten. Mit ihm<br />

bekamen sie auch eine endlose Kette von Tragödien.<br />

Die Frage, wie die Entwicklung im Nahen Osten verlaufen wäre, wenn sich das libertäre Mo<strong>de</strong>ll hätte<br />

durchsetzen können, ist eine verlocken<strong>de</strong> Spekulation. Fesseln<strong>de</strong>r noch wäre die Frage nach <strong>de</strong>n<br />

Auswirkungen, die <strong>de</strong>r Triumph eines solchen, sagen wir ruhig "projektanarchistischen Ansatzes", für das<br />

Schicksal politischer Utopien allgemein hätte haben können. Martin Buber, Autor <strong>de</strong>s Buches "Pfa<strong>de</strong><br />

durch Utopia", hätte darauf gewiß eine Antwort gewußt.<br />

Die Palette libertärer Projekte erschöpft sich nicht im Sozialistischen Bund o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Kibbuzim in<br />

Palästina, und Gustav Landauer ist nur einer von vielen geistigen Paten. Die Eckwerte solcher<br />

Experimente fin<strong>de</strong>n sich in vielen praktischen Initiativen wie<strong>de</strong>r, die in <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit beson<strong>de</strong>rs<br />

stark sprossen: freies Leben, nachvollziehbare Beispielhaftigkeit, Einklang mit <strong>de</strong>r Natur, gemeinsames<br />

Wirtschaften, selbstbestimmte Arbeit, kreatives Lernen, solidarisches Verhalten, individueller Freiraum,<br />

aktive Aktion, passiver Wi<strong>de</strong>rstand, vielfältige Kultur, Offenheit und Respekt vor <strong>de</strong>r Einzigartigkeit<br />

je<strong>de</strong>s Menschen und natürlich auch <strong>de</strong>r Eigenheit von Frauen und Kin<strong>de</strong>rn. Die Größe solcher<br />

Unternehmungen war sehr unterschiedlich, ihre Qualitäten auch, genauso wie ihre Einbindung in die<br />

anarchistische Bewegung. Vor allem aber war sie stets offen für die unterschiedlichsten Impulse. Die<br />

britische Gartenstadtbewegung wirkte da ebenso inspirierend wie Leo Tolstois anarchopraktische<br />

Lebensweise, <strong>de</strong>r experimentelle Landbau <strong>de</strong>s Pioniers Bernhard Kampffmeyer, das ästhetisieren<strong>de</strong><br />

Kunsthandwerk eines William Morris o<strong>de</strong>r das Erziehungswerk von Francisco Ferrer und Sébastien<br />

Faure. Die atheistischen Frei<strong>de</strong>nker trugen zu diesem esprit libertaire bei, ebenso die Esperantisten,<br />

Nudisten*, Vegetarier, Freireligiöse o<strong>de</strong>r Rohköstler. In <strong>de</strong>r Tessiner Künstlerkolonie von Monte Veritä<br />

war dieser Geist zu Hause, gera<strong>de</strong>so wie in <strong>de</strong>r frühökologischen "Naturwarte" von Paul Robien, <strong>de</strong>n<br />

Marmorkooperativen von Carrara o<strong>de</strong>r jener genossenschaftlichen Glasfabrik, die CNT-Aktivisten 1926


im katalanischen Mataró grün<strong>de</strong>ten. Und natürlich auch in <strong>de</strong>r kleinen Münchner Mietwohnung, in <strong>de</strong>r<br />

Erich Mühsam mit seinen Bohemefreun<strong>de</strong>n einst versuchte, ein Projekt aufzuziehen, das sich mit <strong>de</strong>r<br />

Reparatur und <strong>de</strong>m Verkauf gebrauchter Schuhe befaßte, um so genug Geld für das Freibier zu<br />

erwirtschaften, das man<br />

299<br />

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<strong>de</strong>n Stadtstreichern auf anarchistischen Versammlungen spendierte. Mühsams Projekt scheiterte übrigens,<br />

während die Fabrik von Mataró bis heute existiert.<br />

Die Blüte <strong>de</strong>s Anarchismus in <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit war im gleichen Maße eine Blüte <strong>de</strong>s<br />

Projektanarchismus wie <strong>de</strong>s Syndikalismus, die genau genommen auch nicht voneinan<strong>de</strong>r zu trennen sind.<br />

Schließlich ist die anarchistische Gewerkschaftsi<strong>de</strong>e nichts weiter als ein auf die Arbeitswelt angewandter<br />

›projektanarchistischer‹ Ansatz. Allerdings war <strong>de</strong>r Projektanarchismus stets wenig spektakulär und daher<br />

kein Medienereignis. Das gilt auch für das große anarchosyndikalistische Experiment <strong>de</strong>r<br />

Zwischenkriegszeit und erklärt vielleicht, warum so viele Menschen immer wie<strong>de</strong>r die Spanische<br />

Revolution mit <strong>de</strong>m Spanischen Bürgerkrieg verwechseln: Der Krieg wur<strong>de</strong> zum Spektakel, die libertäre<br />

Revolution wur<strong>de</strong> kaum wahrgenommen. Sie war ein Prozeß von dreißig Jahren, <strong>de</strong>r zunächst auf leisen<br />

Sohlen daherkam, um dann in einem großen Knall zu kulminieren*. Nach ›projekt-anarchistischer‹<br />

Auffassung macht in<strong>de</strong>s nicht <strong>de</strong>r Knall die Revolution aus, son<strong>de</strong>rn all das zusammen: ›Projekte‹, soziale<br />

Bewegung, Krise, Revolte, Umsturz — volià, das einfachste Grundrezept für eine Revolution, die diesen<br />

Namen verdient.<br />

1936 sollte die Welt Zeuge einer solchen Revolution wer<strong>de</strong>n.<br />

Literatur: <strong>Horst</strong> Karasek (Hrsg.): Haymarket! Die <strong>de</strong>utschen Anarchisten von Chicago Berlin 1975,<br />

Wagenbach, 191 S., ill. / Pierre Ramus: Der Justizmord von Chicago Wien, Graz, Köln 1922, Erkenntnis<br />

und Befreiung, 175 S. / Jeremy Brecher: Amerikanische Arbeiterbewegung 1877-1970 Frankfurt/M.<br />

1975, Fischer, 282 S. / Gisela Bock: Die ›an<strong>de</strong>re‹ Arbeiterbewegung in <strong>de</strong>n USA von 1905-1922<br />

München 1976, Trikont, 197 S. / Louis Adamic: Dynamit! Geschichte <strong>de</strong>s Klassenkampfes in <strong>de</strong>n USA<br />

1880-1930 München 1974, Trikont, 412 S., ill. / Augustin Souchy: Schreckensherrschaft in Amerika<br />

Berlin o.J., Der Syndikalist, 144 S., ill. / Helmut Ortner: Der Justizmord: Sacco und Vametti Frankfurt/M.<br />

1988, Zambon, 287 S. / Emma Goldman; Gelebtes Leben (Memoiren, 3 B<strong>de</strong>.) Berlin 1978 - 1980, Karin<br />

Kramer, 1472 S., ill. / Alexan<strong>de</strong>r Berkman: Die Tat. Gefängniserinnerungen eines Anarchisten<br />

Frankfurt/M. 1976, Freie Gesellschaft, 370 S. / Walter Bittner: Gewerkschaften in Argentinien: Vom<br />

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Anarchisten Elmstein o.J., Die schwarze Kunst, 32 S. / <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: Gauchos, Geld und Generale -<br />

Argentinische Geschichte im Überblick (28 S.), in: Dirk Bruns (Hrsg.): Argentinien Rie<strong>de</strong>n/Allg. 1988,<br />

Mundo, 4818., ill. / <strong>de</strong>rs.: Mör<strong>de</strong>r und Märtyrer (29 S., zu Argentinien), in: <strong>de</strong>rs.: Leben ohne Chef und<br />

Staat, vgl. Kap. 30! / <strong>de</strong>rs.: Das Erdbeben und <strong>de</strong>r frische Wind (29 S., zu Mexiko), ebda. / Dittmar<br />

Dahlmann: Land und Freiheit -Machnovscina und Zapatismo als Beispiele agrarrevolutionärer<br />

Bewegungen vg!, Kap. 30! / Sam Dolgoff: Leuchtfeuer in <strong>de</strong>r Karibik - eine libertäre Betrachtung <strong>de</strong>r<br />

kubanischen Revolution Berlin 1983, Libertad, 316 S. / Daniel Guerin: Der Anarchismus in <strong>de</strong>n<br />

italienischen Fabrikräten in: <strong>de</strong>rs.: Anarchismus vgl, Kap. 1! / Justus F. Wittkop: Ein exemplarischer*<br />

Anarchist (zu Malatesta) in; <strong>de</strong>rs,: Unter <strong>de</strong>r schwarzen Fahne, vgl, Kap. 1! / Klaus Haag: Anarchismus in<br />

China Meppen 1977, Ems-Kopp, 98 S., ill / N.N.: Anarchistische Bewegung in China lyoo -1972<br />

Karlsruhe o.J. (1977?), Laubfrosch, 50 S., ill. / Le Libertaire Group (Hrsg.): A Short History Of The<br />

Anarchist Movement in Japan Tokyo 1979, The I<strong>de</strong>a Publishing House, 2; 2 S. / Herbert Worm: Studie<br />

über <strong>de</strong>n Jungen Ösugi Sakae und <strong>de</strong>n Meifi-Sozialismus zwischen Sozial<strong>de</strong>mokratie und Anarchismus<br />

Hamburg 1981, Ges. f. Natur- und Volkskun<strong>de</strong>, 542 S. / Ito Noe: Wil<strong>de</strong> Blume auf unfreiem Feld<br />

-Feminismus und Anarchismus in Japan Berlin\1978, Karin Kramer, 183 S., ill. / Ha Ki-Rak: A History of<br />

Korean Anarchist Movement Taegu 1986, Anarchist Publishing Comittee, 182 S. / Bob James (Hrsg.):<br />

Anarchism in Australia - An Anthology Parkville 1986, Selbstverlag, 232 S. / Gustav Landauer: Beginnen<br />

Wetzlar 1977, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 134 S. / Siegbert Wolf: Martin Kuber zur Einführung Hamburg 1992,


Junius, 214 S. / N.N.; Martin Buber - Leben, Werk und Wirkung o.O. (Mannheim?) 1978, Ges. f.<br />

christlich-jüdische Zusammenarbeit, 144 S., ill. / Augustin Souchy: Im Lan<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Kibbuz in: <strong>de</strong>rs.:<br />

Vorsicht Anarchist! Darmstadt und Neuwied 1977, Luchterhand, 286 S.<br />

300<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Kapitel 34<br />

Der kurze Sommer <strong>de</strong>r Anarchie –<br />

Revolution in Spanien<br />

Durch seine Psychologie, sein Temperament und seine Reaktionen<br />

war <strong>de</strong>r Anarchismus <strong>de</strong>r spanischste Teil von ganz Spanien<br />

- Jose Peirats -<br />

EINE ALTE, VORNEHME UND SEHR KATHOLISCHE DAME aus Barcelona erzählte mir vor Jahren<br />

folgen<strong>de</strong>s aus ihrer Erinnerung: "Ja, ja, die Anarchisten. An die kann ich mich noch gut erinnern. Das<br />

waren ja wil<strong>de</strong> Gestalten. Aber eines muß man ihnen lassen: Die U-Bahn fuhr nie so pünktlich wie zu<br />

ihrer Zeit!"<br />

Die Zeit <strong>de</strong>r Anarchisten liegt lange zurück. Aber sie hat Spuren hinterlassen, Erinnerungen und mehr als<br />

das. Die Erfahrung <strong>de</strong>r alten Dame ist nicht ohne Symbolik. Anarchisten als Organisatoren? Pünktlichkeit<br />

als anarchistische Tugend? Das klingt <strong>de</strong>m Bürger paradox. In Spanien aber sind solche Assoziationen bis<br />

heute keine Seltenheit. Noch immer ist das iberische Land in gewisser Weise ein anarchistisches Reservat,<br />

in <strong>de</strong>m selbst vierzig Jahre Franco-Diktatur <strong>de</strong>n libertären I<strong>de</strong>en nicht <strong>de</strong>n Garaus machen konnten. Dabei<br />

ist es natürlich nicht abwegig, Anarchie mit Organisation und Ordnung in Verbindung zu bringen -<br />

Konstruktivität ist Ziel und Quintessenz je<strong>de</strong>r libertären Utopie. Das, und nicht etwa Zerstörung, ist das<br />

Wesen <strong>de</strong>s Anarchismus. Wie wir gesehen haben, hatten die Anarchisten in ihrer Geschichte wenig<br />

Gelegenheiten zu zeigen, daß sie hierzu fähig seien.<br />

In Spanien bot sich diese Gelegenheit im sonnigen Sommer <strong>de</strong>s Jahres 1936. Er führte zu <strong>de</strong>m bisher<br />

umfassendsten und erfolgreichsten Experiment, in <strong>de</strong>m eine ganze Gesellschaft anarchisch organisiert war<br />

- und funktionierte. Das Experiment war grandios und tragisch zugleich. Es scheiterte nicht an seinen<br />

beträchtlichen inneren Wi<strong>de</strong>rsprüchen, son<strong>de</strong>rn ganz banal durch militärische Nie<strong>de</strong>rlage: Im Kampf<br />

gegen eine libertäre Gesellschaft waren sich Faschisten und Stalinisten völlig einig.<br />

Die Spanische Revolution hat die radikale Utopie von <strong>de</strong>r großen Freiheit frech auf die Tagesordnung<br />

gesetzt. Sie hat funktioniert und ist gescheitert. Hans Magnus Enzensberger hat dieses tragische<br />

Experiment auf einen treffen<strong>de</strong>n Begriff reduziert: "Der kurze Sommer <strong>de</strong>r Anarchie".<br />

Eine Revolution mit Vorgeschichte<br />

In jenem Sommer 1936 putschten in Spanien faschistisch orientierte Generäle gegen die legale Regierung<br />

<strong>de</strong>r jungen Spanischen Republik. Aber <strong>de</strong>r Schuß ging nach hinten los.<br />

Erst im Februar war eine Volksfront, die Frente Popular, durch Wahlen an die Macht gekommen. Sie<br />

hatte eine bürgerliche Koalitionsregierung abgelöst, die durch Korruption, Mißwirtschaft und eine<br />

verfehlte Sozialpolitik gründlich abgewirtschaftet hatte. Die stärkste soziale Kraft Spaniens, die<br />

Anarchosyndikalisten, waren an <strong>de</strong>r Volksfront schon aus Prinzip nicht beteiligt, hatten ihre Wahl aber<br />

indirekt unterstützt. Ihre mächtige Gewerk-


301<br />

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schaft, die Confe<strong>de</strong>ración Nacional <strong>de</strong>l Trabajo, hielt nichts von Parlamentarismus und bürgerlicher<br />

Demokratie. Ihr Ziel war <strong>de</strong>r socialismo libertario, und <strong>de</strong>r sei nicht über die Wahlurnen, son<strong>de</strong>rn nur<br />

durch soziale Umwälzung zu erreichen. In diesem Sinne wirkte die CNT seit dreißig Jahren auf <strong>de</strong>r<br />

iberischen Halbinsel. Die I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Anarchosyndikalismus mit ihrer ausgeklügelten Balance<br />

zwischen kleinen Schritten und großem Ziel war wohl in keinem an<strong>de</strong>ren Land so konsequent und<br />

erfolgreich umgesetzt wor<strong>de</strong>n wie in Spanien. Dadurch wur<strong>de</strong> die Confe<strong>de</strong>ración nicht nur zur<br />

wichtigsten Gewerkschaft, son<strong>de</strong>rn gleichzeitig zu einem wirkungsvollen Verstärker <strong>de</strong>r seit langem<br />

vorhan<strong>de</strong>nen libertären Traditionen <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s. Libertäre Utopien einer an<strong>de</strong>ren Gesellschaft waren<br />

Bauern ebenso geläufig wie Intellektuellen, Technikern, Angestellten und vor allem <strong>de</strong>n Arbeitern. Dem<br />

kommunistischen Gesellschaftsentwurf <strong>de</strong>r Sowjetunion stand das spanische Proletariat ablehnend<br />

gegenüber - man wollte Sozialismus und Freiheit. Die Kommunistische Partei Spaniens zählte 1936 etwa<br />

30.000 Mitglie<strong>de</strong>r, die CNT an die zwei Millionen.<br />

Der spanische Anarchismus<br />

Der mo<strong>de</strong>rne spanische Anarchismus war das Produkt einer doppelten Entwicklung, die mit jener<br />

folgenreichen Reise begann, die Fanelli 1868 im Auftrage Bakunins nach Barcelona und Madrid führte:<br />

Im rückständigen ländlichen Spanien war <strong>de</strong>r agrarische Kollektivismus seit jeher eine eigenständige<br />

Größe gewesen - die Antwort <strong>de</strong>r Landarbeiter auf die Allmacht <strong>de</strong>r Latifundistas. In <strong>de</strong>n<br />

hochentwickelten Industriezentren <strong>de</strong>s Nor<strong>de</strong>ns hingegen war ein mo<strong>de</strong>rnes Proletariat entstan<strong>de</strong>n:<br />

selbstbewußt, kämpferisch und offen für neue I<strong>de</strong>en. An bei<strong>de</strong>n Orten fällt die Botschaft auf fruchtbaren<br />

Bo<strong>de</strong>n, und bald <strong>de</strong>cken die Syndikate <strong>de</strong>r CNT <strong>de</strong>n Agrarbereich ebenso ab wie Industrie und Handwerk.<br />

Bei <strong>de</strong>n Bauern in Andalusien, <strong>de</strong>r Levante, Aragon und Zaragoza rennt die CNT beinahe offene Türen<br />

ein. Hier ist die Tradition von gemein<strong>de</strong>eigenem Bo<strong>de</strong>n und kollektiver Wirtschaftsweise noch in Resten<br />

vorhan<strong>de</strong>n, hier ist die Auflehnung gegen Landbarone, Kirche und Obrigkeit ein Stück eigene I<strong>de</strong>ntität.<br />

Die kleinen volkstümlichen Broschüren eines Jose Sanchez Posa, die von Dorf zu Dorf ziehen<strong>de</strong>n<br />

anarchistischen ›Wan<strong>de</strong>rprediger‹, die vermehrten Streiks <strong>de</strong>r Tagelöhner – all das führte nach<br />

Jahrzehnten zu einer fast messianischen Heilserwartung. Für viele Bauern lag dieses Heil im comunismo<br />

libertario.<br />

Das Ziel <strong>de</strong>r Industriearbeiter trägt zwar <strong>de</strong>nselben Namen, dahinter verbergen sich allerdings etwas<br />

an<strong>de</strong>re Vorstellungen. Der Syndikalismus in <strong>de</strong>n großen Städten ist nicht nur weniger romantisch, er wird<br />

auch zunehmend praktischer. Die frühen apologetischen* Autoren kommen aus <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong> und machen<br />

einer neuen Generation von Theoretikern und Aktivisten Platz, die mit bei<strong>de</strong>n Beinen im zwanzigsten<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rt stehen. Während auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> das I<strong>de</strong>al einer selbstgenügsamen dörflichen Kommune à la<br />

Kropotkin das Leitbild bleibt, erfährt die syndikalistische Theorie in <strong>de</strong>n Industrieregionen eine<br />

Mo<strong>de</strong>rnisierung, die sich <strong>de</strong>r Wirklichkeit einer Massengesellschaft <strong>de</strong>s zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rts stellt.<br />

Barcelona o<strong>de</strong>r Madrid lassen sich nicht wie eine Landkommune verwalten, und die<br />

302<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Wirtschaft eines Lan<strong>de</strong>s ist weit komplexer als <strong>de</strong>r Austausch von Weizen und Wein zwischen zwei<br />

Dörfern. Eine solche Erneuerung be<strong>de</strong>utet eine Abkehr von idyllischen aber unverbindlichen Visionen<br />

und eine Hinwendung zum Praktischen und mün<strong>de</strong>t schließlich in handfesten Plänen, Strukturen und<br />

Programmen.<br />

Diese Mo<strong>de</strong>rnisierung führte im libertären Lager zu Spannungen - nicht nur zwischen Stadt und Land,<br />

son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>n Industriesyndikaten selbst. Die Ursachen lagen in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>likaten Balanceakt<br />

zwischen populärer Massenbewegung und revolutionärem Anspruch, die <strong>de</strong>m Anarchosyndikalismus


eigen ist; man könnte auch sagen: zwischen Pragmatik und Utopie. Als mögliche Lösung hierfür bot sich<br />

die 1927 gegrün<strong>de</strong>te Fe<strong>de</strong>racion Anarquista Iberica an, die ihre Aufgabe darin sah, "die Integrität <strong>de</strong>r<br />

anarchistischen Lehre zu vertreten und zu verteidigen". Die Rolle dieser FAI war von Anfang an<br />

Gegenstand heftiger Kontroversen. Von <strong>de</strong>n reformistischen Kräften wur<strong>de</strong> sie als politische Avantgar<strong>de</strong><br />

verspottet, vom revolutionären Flügel als notwendige Ergänzung zur reinen Gewerkschaftsarbeit<br />

enthusiastisch begrüßt. In Wirklichkeit war sie we<strong>de</strong>r von ihrer Struktur noch von ihrem Selbstverständnis<br />

her mit einer Leninschen Avantgar<strong>de</strong>partei vergleichbar. Sie war zwar eng mit <strong>de</strong>r CNT verbun<strong>de</strong>n,<br />

respektierte aber <strong>de</strong>ren Autonomie und befaßte sich mit Aufgaben, die jenseits <strong>de</strong>s gewerkschaftlichen<br />

Bereiches und oft auch außerhalb <strong>de</strong>r Legalität lagen. Im Grun<strong>de</strong> han<strong>de</strong>lte es sich um einen späten Aufguß<br />

<strong>de</strong>r Bakuninschen I<strong>de</strong>e, daß innerhalb einer sozialen Bewegung politisch entschlossene Menschen eine<br />

Art Katalysatorfunktion übernehmen müßten, wenn diese nicht im platten Reformismus versan<strong>de</strong>n sollte.<br />

Entsprechend Bakunins For<strong>de</strong>rung genossen die Aktivisten <strong>de</strong>r FAI we<strong>de</strong>r mehr Rechte o<strong>de</strong>r Privilegien,<br />

noch bil<strong>de</strong>ten sie eine Elite o<strong>de</strong>r Bürokratie.<br />

Es ist kaum von <strong>de</strong>r Hand zu weisen, daß die Rolle <strong>de</strong>r Anarchistischen Fö<strong>de</strong>ration in diesem Sinne<br />

för<strong>de</strong>rlich war. Ohne ihre Existenz hätte die CNT kaum die Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r gewaltsamen Verfolgung durch<br />

die pistoleros <strong>de</strong>s Unternehmerverban<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>n zwanziger Jahren überlebt, und 1936 sollte die FAI bei<br />

<strong>de</strong>r Organisierung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s gegen <strong>de</strong>n faschistischen Putsch eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielen.<br />

Man kann ihr auch schwerlich vorwerfen, daß sie die I<strong>de</strong>en einer abgehobenen Min<strong>de</strong>rheit vertrat - im<br />

Gegenteil. Die Mehrheit <strong>de</strong>r CNT stand hinter <strong>de</strong>m anarchistischen Ziel und verstand die FAI als eine Art<br />

verlängerten Arm <strong>de</strong>r Gewerkschaft. Der 1931 abgespaltene reformistische Flügel unter Angel Pestana,<br />

<strong>de</strong>r eine "Syndikalistische Partei" grün<strong>de</strong>te, blieb ohne Be<strong>de</strong>utung. Und kein Anarchist <strong>de</strong>r Geschichte<br />

dürfte je so populär gewesen sein wie <strong>de</strong>r Schlosser Buenaventura Durruti, <strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>rn und<br />

bekanntesten Aktivisten <strong>de</strong>r FAI gehörte. Als er 1936 zu Grabe getragen wur<strong>de</strong>, säumte eine halbe<br />

Million Trauern<strong>de</strong>r die Straßen Barcelonas.<br />

Jenseits aller inneren Konflikte bewies die CNT fast ständig, daß sie sich - auch ohne FAI - als<br />

revolutionäre Gewerkschaft verstand, insbeson<strong>de</strong>re in <strong>de</strong>n bewegten dreißiger Jahren. Nach<strong>de</strong>m die<br />

Monarchie abgewirtschaftet hatte und die Diktatur <strong>de</strong>s Mussolini-Bewun<strong>de</strong>rers Primo <strong>de</strong> Rivera mangels<br />

Masse bankrott ging, drängte die Basis <strong>de</strong>r Arbeiterschaft immer ungeduldiger auf einen sozialen<br />

Umsturz. Die wirtschaftliche Lage auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> war trostlos wie immer, und auch die Industriearbeiter<br />

spülten die Verelendung, die<br />

303<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

sie nach <strong>de</strong>n Jahren <strong>de</strong>s Booms befiel, <strong>de</strong>n Spanien als neutrales Land im Ersten Weltkrieg erlebt hatte.<br />

Der revolutionäre Generalstreik, die schärfste Waffe im syndikalistischen Arsenal, wur<strong>de</strong> nun auffallend<br />

oft eingesetzt und führte wie<strong>de</strong>rholt an <strong>de</strong>n Rand eines allgemeinen Umsturzes. Die Erhebung von Casas<br />

Viejas 1933 und <strong>de</strong>r Aufstand <strong>de</strong>r Minenarbeiter in Asturien 1934 zeigten, wie wichtig es war, für die<br />

Revolution gut vorbereitet zu sein.<br />

Was die Theorie anging, so hatte die CNT auf ihrem Kongreß von Zaragoza 1931 die nötige Vorarbeit<br />

geleistet und ein praktikables Programm verabschie<strong>de</strong>t. Namhafte Theoretiker und engagierte Praktiker<br />

hatten im Verein mit unzähligen Delegierten <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Industriezweige schon im Vorfeld dazu<br />

beigetragen, daß sich dieser Kongreß nicht in <strong>de</strong>r bloßen Bestätigung libertärer Ansichten erschöpfte,<br />

son<strong>de</strong>rn Vorschläge zu ihrer konkreten Umsetzung erarbeitete. So verabschie<strong>de</strong>ten die 649 Delegierten<br />

einen ziemlich klaren Abriß über wirtschaftliche Kooperation und die Strukturen einer direkten<br />

Demokratie. Mit einer bis dahin ungewohnten Genauigkeit wird das Funktionieren <strong>de</strong>r generalisierten<br />

Selbstverwaltung <strong>de</strong>finiert, von <strong>de</strong>r dörflichen Gemeinschaft über Stadtteilkomitees bis hin zu<br />

lan<strong>de</strong>sweiten Entscheidungen. Aufbauend auf <strong>de</strong>m vorhan<strong>de</strong>nen Netz <strong>de</strong>r Syndikate und <strong>de</strong>ren praktischer<br />

Erfahrung, sollte <strong>de</strong>r Wille <strong>de</strong>r Bevölkerung ebenso respektiert wer<strong>de</strong>n wie die Autonomie einer je<strong>de</strong>n<br />

Gemein<strong>de</strong>. So wird zwar ein Verrechnungs- und Tauschsystem zwischen Produzenten und Konsumenten<br />

entwickelt, aber die Teilnahme daran bleibt freiwillig; ebenso wird <strong>de</strong>n Kommunen die Möglichkeit<br />

eingeräumt, ganz auf das Prinzip <strong>de</strong>s Tauschs zu verzichten. Vor allem aber wer<strong>de</strong>n exakte Pläne


aufgestellt, wie die Schlüsselindustrien übernommen und in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Arbeiter funktionieren<br />

könnten.<br />

Die Anarchisten hatten ihre Hausaufgaben gemacht, jetzt brauchten sie nur noch auf einen günstigen<br />

Moment zu warten.<br />

Der 19. Juli 1936<br />

Dieser Moment kündigte sich im Sommer 1936 an. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Volksfrontregierung<br />

das Vertrauen <strong>de</strong>r unteren Schichten schon weitgehend verspielt. Man machte sich über die<br />

parlamentarischen Spielregeln lustig und begann ungefragt mit längst überfälligen sozialen Neuerungen.<br />

Die Zeichen <strong>de</strong>r Zeit stan<strong>de</strong>n schon vor <strong>de</strong>m Staatsstreich <strong>de</strong>r Generäle auf Soziale Revolution; er lieferte<br />

nur noch <strong>de</strong>n Anlaß, das Machtvakuum auszunutzen und die Initiative an sich zu reißen.<br />

Am 19. Juli bricht im ganzen Land ein generalstabsmäßig geplanter Putsch los, angezettelt von einer<br />

ultrarechten Koalition, in <strong>de</strong>r sich konservative Militärs, reaktionäre Klerikale, verunsicherte<br />

Grundbesitzer, Königstreue und vor allem Vertreter <strong>de</strong>r Falange wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r spanischen Variante<br />

<strong>de</strong>s Faschismus. Planung und Ausführung liegt bei hochrangigen Armeekomman<strong>de</strong>uren, die über große<br />

Teile <strong>de</strong>s Heeres und schwere Waffen verfügen. Als ihr Führer setzt sich schon bald <strong>de</strong>r in Spanisch-<br />

Marokko stationierte Oberst Francisco Franco Bahamon<strong>de</strong> durch.<br />

304<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Angesichts <strong>de</strong>s Militärputsches verharrt die Regierung in Ratlosigkeit und Untätigkeit. Sie zau<strong>de</strong>rt und<br />

hält die loyalen Truppen in <strong>de</strong>n Kasernen. Innerhalb weniger Stun<strong>de</strong>n aber stellt sich die organisierte<br />

Arbeiterschaft <strong>de</strong>n Putschisten entgegen und ruft lan<strong>de</strong>sweit <strong>de</strong>n Generalstreik aus. Als einzige ihrer<br />

Organisationen verfügt die CNT über Waffen, Erfahrungen und einen Aktionsplan; Arbeiter aller<br />

politischen Richtungen orientieren sich an ihrem Beispiel. Wichtige Gebäu<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n besetzt, Barrika<strong>de</strong>n<br />

errichtet, <strong>de</strong>r Sturm auf die; Kasernen beginnt. Die Kämpfe scheinen aussichtslos. Mit Flinten, Revolvern<br />

und alten Karabinern gehen anarchistische Stoßtrupps gegen die Festungen <strong>de</strong>r Putschisten vor. Ihre<br />

selbstgebastelten Handgranaten sind von so schlechter Qualität, daß sie von <strong>de</strong>n Leuten imparciales<br />

genannt wer<strong>de</strong>n - die "Unparteiischen", weil sie angeblich genausooft diesseits wie jenseits <strong>de</strong>r Barrika<strong>de</strong><br />

explodieren. Dennoch: Die Generäle wanken, ziehen sich zurück, igeln sich ein. Die Arbeiter setzen zum<br />

Sturm an, erbeuten erste schwere Waffen, Soldaten laufen über. In diesen Stun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s stirbt<br />

die Blüte <strong>de</strong>r jungen libertären Aktivisten im Feuer <strong>de</strong>r Maschinengewehre. Beson<strong>de</strong>rs hoch ist <strong>de</strong>r<br />

Blutzoll bei <strong>de</strong>r FAI.<br />

Am folgen<strong>de</strong>n Tag ist <strong>de</strong>r Staatsstreich in <strong>de</strong>n wichtigsten Regionen gestoppt und bricht auch in <strong>de</strong>n<br />

meisten großen Städten innerhalb von zwei, drei Tagen zusammen. Staat und Regierung aber haben ihr<br />

Prestige verspielt und sind nur noch eine Karikatur ihrer selbst. In Katalonien liegt die Macht <strong>de</strong> facto in<br />

<strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Volkes, und die Menschen wußten, was sie damit anzufangen hatten. Niemand hört mehr<br />

auf die Generalität <strong>de</strong> Catalunya*, die politische Initiative liegt in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s "Komitees <strong>de</strong>r<br />

antifaschistischen Milizen".<br />

Dies ist <strong>de</strong>r Beginn einer parallelen Entwicklung: einerseits <strong>de</strong>s Spanischen Bürgerkrieges, <strong>de</strong>r drei Jahre<br />

dauern sollte und dank <strong>de</strong>r Hilfe Hitlers und Mussolinis letztlich doch mit <strong>de</strong>m Sieg <strong>de</strong>s Putschgenerals<br />

Franco über die Spanische Republik en<strong>de</strong>te. Er war <strong>de</strong>r verzweifelte Versuch, <strong>de</strong>n aufkommen<strong>de</strong>n<br />

Faschismus noch vor Beginn <strong>de</strong>s Zweiten Weltkrieges zu schlagen.<br />

An<strong>de</strong>rerseits ist <strong>de</strong>r 19. Juli 1936 die Geburtsstun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s bisher größten und erfolgreichsten Experiments<br />

allgemeiner Selbstverwaltung. Denn während <strong>de</strong>r Krieg tobte, wur<strong>de</strong> im Hinterland eine soziale<br />

Revolution verwirklicht, die sich anschickte, libertäre Utopien für Millionen von Menschen in eine<br />

alltägliche Realität umzusetzen. Obgleich sie erstaunliche Erfolge und wertvolle Erfahrungen lieferte,


lieb dieses konstruktive Werk <strong>de</strong>s "panischen Anarchismus bis heute weitgehend unbekannt. Es stand im<br />

Schatten <strong>de</strong>s Krieges, <strong>de</strong>r das Interesse <strong>de</strong>r Weltöffentlichkeit mehr zu fesseln vermochte als<br />

Selbstverwaltung in Industrie o<strong>de</strong>r Landwirtschaft.<br />

Die Revolution<br />

Nun zahlte sich die systematische Vorbereitung, die die CNT jahrzehntelang betrieben hatte, aus. Überall<br />

dort, wo die Anarchosyndikalisten <strong>de</strong>n Ton angaben - in Aragon, <strong>de</strong>r Levante, Teilen Kastiliens,<br />

Andalusiens, Asturiens und <strong>de</strong>r Estremadura, vor allem aber im<br />

305<br />

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hochindustrialisierten Katalonien - entstand binnen kürzester Frist eine funktionieren<strong>de</strong><br />

Selbstverwaltungswirtschaft, die die Grundlage für freiheitliche Strukturen auch in Verwaltung, Kultur<br />

und sozialem Zusammenleben bil<strong>de</strong>te. Von <strong>de</strong>r Kriegsführung bis zur Milchwirtschaft funktionierte<br />

plötzlich ein halbes Land nach an-archischen Organisationsmo<strong>de</strong>llen. Zum Erstaunen zahlloser<br />

Ökonomen und Theoretiker brach nicht das Chaos aus - im Gegenteil: Die Selbstverwaltung erwies sich<br />

als funktionstüchtig und leistungsfähig. Mit Phantasie und Improvisationstalent wur<strong>de</strong>n die massenhaft<br />

auftreten<strong>de</strong>n Probleme angepackt, Mängel ausgeglichen, Rückschläge überwun<strong>de</strong>n. Trotz <strong>de</strong>r ungünstigen<br />

Konstellation, ›nebenbei‹ auch noch einen Krieg führen zu müssen, konnten durchweg die sozialen<br />

Bedingungen <strong>de</strong>r Arbeit verbessert und gleichzeitig die Produktion erhöht wer<strong>de</strong>n.<br />

Es fehlt hier <strong>de</strong>r Platz, eine genaue Analyse dieses großen Experiments zu leisten. Wir können lediglich<br />

einige wichtige Charakteristika hervorheben. Im Gegensatz zum Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r kommunistischen Staaten<br />

war die Spanische Revolution nicht zentralistisch, we<strong>de</strong>r befohlen noch erzwungen, son<strong>de</strong>rn<br />

basis<strong>de</strong>mokratisch. In Betriebs- o<strong>de</strong>r Ortsversammlungen, <strong>de</strong>n mitínes und asambleas, bestimmten die<br />

Betroffenen selbst die Richtlinien ihres Lebens. Gewählte Delegierte waren verpflichtet, diesen<br />

Volkswillen umzusetzen und wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Basis kontrolliert; Mandatsträger unterlagen in <strong>de</strong>r Regel<br />

einer Rotation. Regelmäßig fan<strong>de</strong>n Kongresse <strong>de</strong>r Bauern- o<strong>de</strong>r Industriesyndikate statt, auf <strong>de</strong>nen die<br />

allgemeine Richtung festgelegt wur<strong>de</strong>. Sie schufen auch brauchbare Strukturen zur praktischen<br />

Durchführung <strong>de</strong>r Vorhaben und sorgten für die nötige Koordinierung. Pro Industriezweig wur<strong>de</strong> ein<br />

"Generalrat" eingesetzt; die Feinabstimmung erfolgte auf <strong>de</strong>r Ebene von Orts-, Kantonais- und<br />

Regionalräten. Auf <strong>de</strong>r untersten Ebene gab es <strong>de</strong>n consejo <strong>de</strong>s Dorfes o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Stadtteils. Auf diese<br />

Weise wur<strong>de</strong> die Herausbildung einer Bürokratie vermie<strong>de</strong>n und eine hohe Motivation und Effektivität<br />

erreicht.<br />

Selbst große Industriebetriebe wur<strong>de</strong>n von einem Komitee geleitet, <strong>de</strong>m kaum mehr als 10-15 Personen<br />

angehörten. Die Struktur dieser ›horizontalen Gesellschaft funktionierte somit nach <strong>de</strong>m Prinzip einer<br />

Vernetzung, die sich auf die bestehen<strong>de</strong>n Einrichtungen <strong>de</strong>r Gewerkschaften stützen konnte. Sie geschah<br />

parallel nach wirtschaftlichen und geografischen Kriterien, wobei Verwaltung und Koordination lediglich<br />

dort eingerichtet wur<strong>de</strong>n, wo sie nötig waren - z.B. im Verkehrswesen, im Export, bei Rohstoffen o<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>m Solidarausgleich zwischen reichen und armen Kollektiven. In aller Regel war die Teilnahme an<br />

diesen Experimenten freiwillig. Wer zum Beispiel auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Kollektiv nicht beitreten wollte,<br />

konnte auch als "individualista" weiterwirtschaften, durfte aber nicht mehr Land besitzen, als er bestellen<br />

konnte. Ausbeutung sollte vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Allerdings kam er auch nicht in <strong>de</strong>n Genuß <strong>de</strong>r<br />

weitreichen<strong>de</strong>n Errungenschaften <strong>de</strong>r Revolution. So waren Lebensmittel, Miete, Elektrizität,<br />

medizinische Versorgung, Rentenanspruch und Schulbildung kostenlos.<br />

Vor allem aber war diese Revolution vielfältig. Verschie<strong>de</strong>nste Mo<strong>de</strong>lle existierten einträchtig<br />

nebeneinan<strong>de</strong>r: In einigen Gegen<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong> das Geld abgeschafft, und je<strong>de</strong>r konnte nach seinen<br />

Bedürfnissen von <strong>de</strong>m, was es gab, nehmen; in an<strong>de</strong>ren Gegen<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong> es<br />

306


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beibehalten, teilweise wur<strong>de</strong>n auch Tausch- und Arbeitsbons eingeführt. In <strong>de</strong>r Industrie existierten<br />

ebenfalls verschie<strong>de</strong>ne Typen <strong>de</strong>r Selbstverwaltung: Kollektivierung, Sozialisierung und<br />

Arbeiterkontrolle, in <strong>de</strong>n unterschiedlichsten Spielarten.<br />

Nur wenige Tage nach <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschlagung <strong>de</strong>s Rutsches begann die Sozialisierung <strong>de</strong>r Industrie. In<br />

Katalonien erfaßte sie siebzig Prozent aller Unternehmen. Wo die Firmenleitung sich kooperationsbereit<br />

zeigte, wur<strong>de</strong>n "Komitees <strong>de</strong>r Arbeiterkontrolle" eingesetzt, ansonsten übernahm die Belegschaft <strong>de</strong>n<br />

Betrieb. In manchen Industriezweigen war die Sozialisierung flächen<strong>de</strong>ckend, so daß sie von <strong>de</strong>r<br />

Gewerkschaft völlig umstrukturiert und geordnet wer<strong>de</strong>n konnte.<br />

Noch während die Barrika<strong>de</strong>nkämpfe tobten, kollektivierten am 21. Juli 1936 die katalanischen<br />

Eisenbahner die Bahnen, am 25. Juli folgten die städtischen Verkehrsbetriebe. Schließlich wur<strong>de</strong> das<br />

gesamte Kommunikationswesen - Schiene, Straßentransport, öffentlicher Verkehr, Taxis, Telefon, Radio<br />

sowie Teile <strong>de</strong>s Schiffs- und Luftverkehrs - in Selbstverwaltung betrieben. Die größten Anstrengungen<br />

galten hierbei <strong>de</strong>r Verteilung von Lebensmitteln und Konsumgütern sowie <strong>de</strong>m Transport von Industrieund<br />

Kriegsmaterial. Auch von <strong>de</strong>n zahlreichen kleinen Dienstleistungsbetrieben und<br />

Kleingewerbetreiben<strong>de</strong>n führten die meisten spontan und mit fast kindlichem Elan auf eigene Faust die<br />

Kollektivierung ein. Vom Cafe bis zum Friseursalon betrieben die ehemaligen Angestellten ihren Betrieb<br />

nun in eigener Regie, wie beseelt vom Gefühl sozialer Verantwortung. Aus feinen Restaurants wur<strong>de</strong>n<br />

öffentliche Volksküchen, kostenlose Kin<strong>de</strong>rgärten entstan<strong>de</strong>n, Kellner und Taxifahrer wiesen Trinkgel<strong>de</strong>r<br />

als Beleidigung ihrer Wür<strong>de</strong> zurück. Das mondäne Hotel Ritz bot ein ungewohntes Bild. Milizionärinnen,<br />

Arbeiter in blauen Overalls, diskutieren<strong>de</strong> Gewerkschafter nahmen hier inmitten einer Schar tollen<strong>de</strong>r<br />

Kin<strong>de</strong>r ihr Aben<strong>de</strong>ssen ein.<br />

Handwerksbetriebe, Manufakturen und Unternehmen unter hun<strong>de</strong>rt Beschäftigten wur<strong>de</strong>n - sofern sie<br />

nicht während <strong>de</strong>r Revolution bereits beschlagnahmt wor<strong>de</strong>n waren - auf Antrag von drei Vierteln <strong>de</strong>r<br />

Belegschaft sozialisiert. Dies geschah meist in Form von Genossenschaften o<strong>de</strong>r angeglie<strong>de</strong>rt an die<br />

Industriesyndikate. Nach <strong>de</strong>m Selbstverwaltungskongreß von Valencia im Dezember 1936 schufen die<br />

Gewerkschaften eine zentrale Ausgleichskasse zum Abbau von sozialem Gefälle und unnötiger<br />

Konkurrenz sowie für die immer dringen<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kriegsproduktion.<br />

An die Einrichtung einer Kriegsindustrie war zuvor nicht gedacht wor<strong>de</strong>n. Als die Nie<strong>de</strong>rwerfung <strong>de</strong>s<br />

Putsches ins Stocken kam, bil<strong>de</strong>ten sich Fronten und ein langwieriger Krieg begann. Wichtige<br />

Rüstungsbetriebe lagen auf <strong>de</strong>m Gebiet <strong>de</strong>r "Nationalen", die zu<strong>de</strong>m ausländische Waffenhilfe erhielten.<br />

Die "Republikaner" hingegen waren auf sich gestellt und mußten improvisieren. Viele Metallbetriebe<br />

widmeten sich notgedrungen <strong>de</strong>r Kriegsindustrie, und die Milizen an <strong>de</strong>r Front mel<strong>de</strong>ten ständig<br />

steigen<strong>de</strong>n Bedarf: von <strong>de</strong>r Gewehrpatrone bis zu gepanzerten Fahrzeugen. Die sozialisierte Industrie<br />

mußte so in einem Rüstungswettlauf mithalten, <strong>de</strong>n sie kaum gewinnen konnte.<br />

307<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> die ersehnte revolución libertaria meist positiv aufgenommen, bisweilen mit<br />

überschwänglicher Begeisterung und hohen Erwartungen. Die meisten Hacien<strong>de</strong>ros waren, ebenso wie<br />

viele Fabrikanten, rechtzeitig geflohen. In <strong>de</strong>n befreiten Teilen <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s schlössen sich neunzig Prozent<br />

<strong>de</strong>r Tagelöhner und Kleinbauern auf ehemaligen Latifundien in mehr als tausend freiwilligen Kollektiven<br />

zusammen. Die Agrarproduktion steigerte sich je nach Region um dreißig bis fünfzig Prozent. Vielerorts<br />

trat man mit <strong>de</strong>r kollektivierten Industrie in ein direktes Tauschverhältnis und konnte auf Zahlungsmittel,<br />

Tauschbons o<strong>de</strong>r Arbeitskarten ganz verzichten. In Dörfern, wo je<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>n kannte, war ein Mißbrauch<br />

dieser neuen Freiheit nicht zu befürchten. So manche Bäuerin bekam zum ersten Mal in ihrem Leben ein<br />

paar richtige Schuhe.


Zu <strong>de</strong>n großen Leistungen <strong>de</strong>r libertären Selbstverwaltung in Spanien gehörte die ausreichen<strong>de</strong><br />

Versorgung <strong>de</strong>r Bevölkerung unter Kriegsbedingungen. Wie die gesamte Selbstverwaltungsökonomie, so<br />

hatte auch die Versorgungswirtschaft mit Engpässen und Problemen zu kämpfen. Einige davon waren auf<br />

typische Umstellungsprobleme zurückzuführen, die meisten allerdings waren kriegsbedingt. Sie trafen<br />

alle Regionen Spaniens auf bei<strong>de</strong>n Seiten <strong>de</strong>r Front und können daher nicht <strong>de</strong>r<br />

Selbstverwaltungswirtschaft angelastet wer<strong>de</strong>n. Trotz Rohstoffknappheit und fehlen<strong>de</strong>r traditioneller<br />

Absatzmärkte zeitigte sie unterm Strich gute Ergebnisse. Die berüchtigten Hungerjahre trafen Spanien<br />

erst nach Francos Sieg 1939 und dauerten bis 1944 an.<br />

In vielen Dörfern bil<strong>de</strong>ten sich während <strong>de</strong>r Revolution sogenannte "Libertäre Gemein<strong>de</strong>n", in <strong>de</strong>nen<br />

Handwerk, Dienstleistung, Landwirtschaft und lokale Industrie zusammengefaßt waren. Komitees <strong>de</strong>r<br />

Landarbeiter und <strong>de</strong>s Transportsyndikats arbeiteten bei <strong>de</strong>r Produktion und Verteilung <strong>de</strong>r Nahrungsmittel<br />

Hand in Hand. In sogenannten "Kollektivlä<strong>de</strong>n" wur<strong>de</strong>n die Güter <strong>de</strong>s täglichen Bedarfs in <strong>de</strong>r Regel<br />

kostenlos abgegeben - ein erster Schritt in Richtung solidarischer Bedarfswirtschaft. Auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong><br />

wur<strong>de</strong>n die Lä<strong>de</strong>n und Lager häufig in <strong>de</strong>r Kirche untergebracht, <strong>de</strong>m einzigen soli<strong>de</strong>n Gebäu<strong>de</strong> in vielen<br />

Dörfern.<br />

Trotz Krieg und radikaler Umwälzung <strong>de</strong>r Wirtschaft erlebte das republikanische Spanien einen<br />

unerhörten Aufschwung <strong>de</strong>r Kultur. Literatur, Presse, Ausstellungen, Film und Theater drangen bis in die<br />

entlegensten Dörfer vor. Mit fortschreiten<strong>de</strong>r Alphabetisierung auch <strong>de</strong>r Erwachsenen wur<strong>de</strong>n zahllose<br />

"Volksbibliotheken" eingerichtet und Kurse angeboten, die regen Zulauf erzielten. Sogar die meisten<br />

Schauspieler waren gewerkschaftlich organisiert; viele Theater und fast die gesamte Filmindustrie<br />

funktionierten in freier Selbstverwaltung. In Barcelona schuf <strong>de</strong>r "Rat <strong>de</strong>r Escuela Nueva Unificada" in<br />

<strong>de</strong>n ersten fünf Monaten <strong>de</strong>r Revolution über einhun<strong>de</strong>rt neue Schulen, in <strong>de</strong>nen 20.000 Kin<strong>de</strong>r mehr<br />

unterrichtet wur<strong>de</strong>n als zuvor. Auch die Landbevölkerung kam nun zum ersten Mal in <strong>de</strong>n Genuß eines<br />

flächen<strong>de</strong>cken<strong>de</strong>n Unterrichtssystems. Der strengkatholische ›Schulmeister‹ und die bigotten Nonnen<br />

verschwan<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Schulwesen. Francisco Feuers libertäres Erziehungsmo<strong>de</strong>ll erlebte hier praktisch<br />

seinen ersten großen Feldversuch. In <strong>de</strong>n Erinnerungen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r jener Generation bekommen die<br />

escuelas libres übrigens durchweg hervorragen<strong>de</strong> Noten ausgestellt.<br />

308<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Typisch für die Spanische Revolution war, daß sich - im Gegensatz etwa zu Rußland - die Angehörigen<br />

<strong>de</strong>r sogenannten ›gehobenen Berufe‹ wie Techniker, Ingenieure und Arzte in großer Zahl <strong>de</strong>r Bewegung<br />

anschlössen und sie unterstützten, obwohl sie durchaus wirtschaftliche Einbußen hinnehmen mußten. So<br />

konnte innerhalb kürzester Zeit das gesamte Gesundheitswesen neu gestaltet wer<strong>de</strong>n. Medizinische<br />

Betreuung war nicht länger ein Privileg <strong>de</strong>r Reichen.<br />

Das Straßenbild <strong>de</strong>r Millionenstadt Barcelona war völlig verwan<strong>de</strong>lt, die Metropole schien wie in einem<br />

Taumel zu leben. Das katalanische Sinfonieorchester gab auf Freiluftkonzerten die etwas pathetischen<br />

Anarchohymnen zum Besten, und Zigtausen<strong>de</strong> hörten zu. Frauen konnten sich plötzlich in <strong>de</strong>r<br />

Öffentlichkeit frei bewegen und lebten ihre neue Freiheit, selbstbewußt aus. Sie organisierten sich, etwa<br />

in <strong>de</strong>n Mujeres Libres, und begannen im öffentlichen Leben eine zunehmend prägen<strong>de</strong> Rolle zu spielen.<br />

Sogar in <strong>de</strong>n Milizen waren sie vertreten.<br />

Die mo<strong>de</strong>bewußten Katalanen kürten <strong>de</strong>n blauen Overall, die Kleidung <strong>de</strong>r Milizionäre und Malocher,<br />

zum Hit <strong>de</strong>r Saison, <strong>de</strong>n sie mit <strong>de</strong>rselben Eleganz zu tragen verstan<strong>de</strong>n wie Zweireiher und Kostüm.<br />

Natürlich war auch Anpassung im Spiel, bisweilen Tarnung und ein Gutteil Mitläufertum. Es ist albern zu<br />

glauben, Millionen Menschen wären über Nacht zu Anarchisten gewor<strong>de</strong>n. Aber mehr als je zuvor<br />

begannen, sich für <strong>de</strong>n anarquismo zu interessieren und ihn zu begreifen. Bei <strong>de</strong>n meisten war es ein<br />

heiteres Mitlaufen, nicht diese dumpfe Angst wie in Stalins Rußland. Anarchie war zum ›Zeitgeist‹<br />

gewor<strong>de</strong>n.<br />

Die Spanische Revolution war keine Zwangsbeglückung, keine Diktatur, son<strong>de</strong>rn ein buntes,


wi<strong>de</strong>rsprüchliches, lebendiges Experimentierfeld. Wie je<strong>de</strong>s System hatte es Schwächen,<br />

Reibungsverluste, Konflikte und Unzulänglichkeiten. Es entwickelte aber erstaunliche Kraft, sich zu<br />

perfektionieren und Fehler auszugleichen. Es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, daß die generalisierte<br />

Selbstverwaltung in Spanien sich zu einem funktionieren<strong>de</strong>n wirtschaftlich- sozialen System eingespielt<br />

hätte, einer ›gelebten Anarchie‹, wenn man ihr die Möglichkeit einer ungestörten Entwicklung gegeben<br />

hätte. Diese Chance war ihr nicht vergönnt.<br />

Krieg, Gewalt, Lei<strong>de</strong>nschaft<br />

Man hat <strong>de</strong>n Spanischen Bürgerkrieg als <strong>de</strong>n Friedhof <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ale bezeichnet. Das locker-libertäre Leben<br />

auf Barcelonas Ramblas, die ausgelassene fiesta, die <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschlagung <strong>de</strong>s Putsches folgte, darf nicht<br />

darüber hinwegtäuschen, daß aus <strong>de</strong>m Volksfest ein Schlachtfest wur<strong>de</strong>. Die Generäle waren eben nicht<br />

überall besiegt. Sie rüsteten zur "Rückeroberung <strong>de</strong>s Vaterlan<strong>de</strong>s", und sie machten einen Kreuzzug<br />

daraus - Franco hat das wörtlich so genannt.<br />

Es wur<strong>de</strong> ein Kreuzzug gegen das eigene Volk, und er wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Nationalisten sehr sauer. Was sie als<br />

einen triumphalen Spaziergang nach Madrid geplant hatten, zog sich drei Jahre lang als mo<strong>de</strong>rner<br />

Vernichtungskrieg hin. Hermann Göring hatte reichlich Gelegen-<br />

309<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

heit, seine neue Luftwaffe für <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Weltkrieg zu testen. Die Junkers 52 und Heinkel 111 von<br />

Hitlers "Legion Condor" bombardierten die Metropolen und legten das baskische Provinzstädtchen<br />

Guernica in Schutt und Asche: das erste Flächenbombar<strong>de</strong>ment <strong>de</strong>r Geschichte, und die westlichen<br />

Großmächte schauten diskret weg.<br />

Zunächst waren die Milizen an die Orte geeilt, wo die Faschisten gesiegt hatten. Einige konnten sie<br />

entsetzen, an an<strong>de</strong>ren bissen sie sich fest. Die republikanische Armee wur<strong>de</strong> reorganisiert, loyale<br />

Polizeitruppen kamen hinzu und immer mehr Freiwillige mel<strong>de</strong>ten sich zu <strong>de</strong>n Waffen. Die aber waren<br />

knapp und wur<strong>de</strong>n zunehmend zum Erpressungsinstrument im Kampf um politischen Einfluß. Auf <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren Seite kämpften neben wehrpflichtigen Spaniern die für ihre Grausamkeit bekannten Moros,<br />

Francos marokkanische Söldnertruppen, unter spanischen Offizieren fürs christliche Abendland. Weit<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r aber sollte die Hilfe wer<strong>de</strong>n, die Hitler und Mussolini schickten: zwei hochmo<strong>de</strong>rne<br />

Invasionsarmeen mit Marine, Luftwaffe, Infanterie und Panzern. Die rechtmäßige republikanische<br />

Regierung <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s hingegen konnte im westlichen Ausland nicht einmal Waffen kaufen. England,<br />

Frankreich und Amerika wollten ›neutral‹ bleiben und vertraten eine Politik <strong>de</strong>r ›Nichteinmischung‹.<br />

Offizielle Linie war, Hitler nicht zu reizen, um ihn friedlich zu halten. So glaubte man, <strong>de</strong>n Zweiten<br />

Weltkrieg zu verhin<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Einverleibung Österreichs, <strong>de</strong>m Einmarsch in die Tschechoslowakei<br />

und <strong>de</strong>r Intervention in Spanien doch schon längst begonnen hatte. Waffenhilfe erhielt die Republik nur<br />

aus Mexiko, die naturgemäß eher symbolischen Wert hatte, und - sehr spät - aus Rußland. Stalin ließ sich<br />

seine "proletarische Solidarität" übrigens mit <strong>de</strong>n Goldreserven <strong>de</strong>r Spanischen Nationalbank bar<br />

bezahlen.<br />

Das wechseln<strong>de</strong> Kriegsglück kann hier nicht nachgezeichnet wer<strong>de</strong>n. Militärgeschichte ist nicht unser<br />

Thema. Verschie<strong>de</strong>ne Regierungen versuchten verschie<strong>de</strong>ne Strategien, Internationale Briga<strong>de</strong>n von<br />

Freiwilligen kamen ins Land, diverse Militärreformen führten zu zweifelhaften Ergebnissen, aber nichts<br />

von alle<strong>de</strong>m führte zum militärischen Durchbruch. Die Antifaschistischen Milizen waren per Dekret<br />

militärischem Kommando unterstellt wor<strong>de</strong>n, mußten nun Dienstgra<strong>de</strong>, Hierarchie und Kommißton<br />

akzeptieren und wur<strong>de</strong>n Teil <strong>de</strong>r regulären Armee. Das nahm <strong>de</strong>n Arbeitern viel von ihrer Motivation und<br />

Kampfbegeisterung und diente in keiner Weise <strong>de</strong>r militärischen Effizienz. Das republikanische<br />

Territorium schmolz trotz einiger erfolgreicher Offensiven stetig dahin. Daran konnte auch die<br />

dramatische Rettung <strong>de</strong>r im November 1936 von seiner Regierung bereits verlassenen Hauptstadt nichts<br />

mehr än<strong>de</strong>rn - Milizen und Internationale Briga<strong>de</strong>n brachten hier ein im En<strong>de</strong>ffekt vergebliches Blutopfer.


Im März 1939 hielt Franco, inzwischen zum "Generalissimus" avanciert, einen pompösen Einzug in<br />

Madrid. Kurz zuvor war Barcelona gefallen. Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong> flüchteten über die verschneiten Pässe <strong>de</strong>r<br />

Pyrenäen o<strong>de</strong>r versuchten, sich über das Meer zu retten. Francos Rache wur<strong>de</strong> fürchterlich. To<strong>de</strong>surteile<br />

in fünfstelliger Höhe, ungezählte Konzentrationslager und auf Jahrzehnte überfüllte Zuchthäuser sollten<br />

<strong>de</strong>r spanischen Arbeiterbewegung für alle Zeiten ein En<strong>de</strong> machen.<br />

310<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Gestorben aber wur<strong>de</strong> nicht nur an <strong>de</strong>r Front und unter <strong>de</strong>n Bomben <strong>de</strong>r Flugzeuge. Der Bürgerkrieg<br />

entfesselte mit fanatischer Lei<strong>de</strong>nschaft die tiefsitzen<strong>de</strong>n sozialen Konflikte <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s; i<strong>de</strong>ologische<br />

Differenzen wur<strong>de</strong>n mit einer Inbrunst ausgetragen, die in ihren provozieren<strong>de</strong>n Details an<br />

Religionskriege erinnert. Anarchomilizionäre veranstalteten ihre Schießübungen auf die monumentalen<br />

Christusstandbil<strong>de</strong>r, und aus <strong>de</strong>n Krypten <strong>de</strong>r Klöster holte man die mumifizierten Gebeine heiliger<br />

Männer und Frauen, um sie aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Volksaufklärung öffentlich zur Schau zu stellen. Es blieb<br />

aber nicht bei Bil<strong>de</strong>rstürmerei und provokanter Symbolik - die sozialen Spannungen schlugen in Haß um.<br />

In Spanien schoß buchstäblich <strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Bru<strong>de</strong>r. Das galt hinter <strong>de</strong>r Front zwischen Stalinisten<br />

und Anarchisten ebenso wie für <strong>de</strong>n Kampf zwischen "Faschisten" und "Roten", wie bei<strong>de</strong> Seiten sich<br />

gegenseitig nannten.<br />

In Zaragoza, wo die Putschgeneräle nach tagelangen Kämpfen schließlich die Oberhand gewannen,<br />

mußten die Miliztruppen auf <strong>de</strong>n gegenüberliegen<strong>de</strong>n Bergen schon im Sommer 1936 hilflos mit ansehen,<br />

wie mehrere tausend Arbeiter füsiliert wur<strong>de</strong>n. Wo immer die Nationalen in <strong>de</strong>r Folgezeit<br />

einmarschierten, wur<strong>de</strong> blutig "gesäubert". Prominente "rojos" wur<strong>de</strong>n ebenso erschossen wie Mitläufer,<br />

aktive Gewerkschafter und gefangene Milizionäre, sogar reguläre republikanische Soldaten und Offiziere<br />

stellte man oftmals nach <strong>de</strong>m Verhör an die Wand.<br />

Auch wenn die Geschichtsschreibung Eskalation, Exzesse und Übergewicht <strong>de</strong>r Greuel ein<strong>de</strong>utig auf<br />

Seiten <strong>de</strong>r Nationalen festgestellt hat, so ist doch die Unschuld <strong>de</strong>r Republik ein propagandistisches<br />

Märchen. Das gilt auch für die Anarchisten. Es ist eine Tatsache, daß e" auch auf Seiten <strong>de</strong>r Revolution<br />

Ausschreitungen gab. So mancher tatsächliche o<strong>de</strong>r angebliche "Faschist" wur<strong>de</strong> von selbsternannten<br />

Rächern erschossen, und an etlichen Orten wur<strong>de</strong> ohne viel Aufhebens <strong>de</strong>r Pfarrer gelyncht. Die Kirche<br />

stand in <strong>de</strong>r Tat ein<strong>de</strong>utig auf Seiten <strong>de</strong>s "Klerikalfaschisten" Franco, und in manchen Gotteshäusern<br />

fan<strong>de</strong>n sich geheime Waffenlager <strong>de</strong>r Falange. Daran aber gibt es nichts zu beschönigen: Das Töten<br />

gefangener Gegner wi<strong>de</strong>rsprach ein<strong>de</strong>utig <strong>de</strong>m libertären I<strong>de</strong>al, das spanische Anarchisten seit<br />

Generationen gepredigt hatten.<br />

So wi<strong>de</strong>rwärtig ein Aufrechnen und Abwägen von Mor<strong>de</strong>n auch ist, darf doch ein wesentlicher<br />

Unterschied nicht verkannt wer<strong>de</strong>n: Auf <strong>de</strong>r faschistischen Seite war Terror durch Töten ein System und<br />

gehörte zur Strategie. Er wur<strong>de</strong> angeordnet und gezielt betrieben. Nicht ohne Grund lautete <strong>de</strong>r irrsinnige<br />

Wahlspruch <strong>de</strong>r Falangisten viva la muerte!*. Auf Seiten <strong>de</strong>r Revolution hingegen kam es zu Übergriffen,<br />

und als solche wur<strong>de</strong>n sie auch betrachtet. Die Milizen, die Gewerkschaften, die Komitees taten alles, um<br />

solche Exzesse zu unterbin<strong>de</strong>n. Sie sparten dabei nicht mit Drohungen, Anordnungen, selbstkritischen<br />

Reflexionen und Appellen an die "revolutionäre Ehre". Der Dorfpfarrer Moisés Arnal bestätigt dies als<br />

glaubhafter Zeuge. In seinen Memoiren berichtet er, wie Durruti ihn davor bewahrte, von aufgebrachten<br />

Bauern erschossen zu wer<strong>de</strong>n. Während einer folgen<strong>de</strong>n Tätigkeit als Sekretär im Stab <strong>de</strong>r Milizen hatte<br />

er reichlich Gelegenheit zu beobachten, daß <strong>de</strong>r berüchtigte "Anarchistenhäuptling" alles an<strong>de</strong>re als ein<br />

blut-<br />

311<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

rünstiger Rächer war. Disciplina! war damals eine <strong>de</strong>r meistgebrauchten Losungen bei <strong>de</strong>n Anarchisten.


Der <strong>de</strong>utsche Zeitzeuge Augustin Souchy, ein vor <strong>de</strong>n Konzentrationslagern rechtzeitig geflohener<br />

Anarchosyndikalist, erzählt von seinem Besuch in einem von <strong>de</strong>n Anarchisten betriebenen<br />

Internierungslager für gefangene Faschisten. Zu seinem Erstaunen bekamen Bewacher und Bewachte<br />

gleiche Kleidung, gleiche Kost und gleiche Unterbringung. Nach <strong>de</strong>r Arbeit hatten die Gefangenen<br />

Anrecht auf <strong>de</strong>n Besuch ihrer Frauen und Freundinnen, die über Nacht bei <strong>de</strong>n Männern bleiben durften.<br />

Die offizielle Linie <strong>de</strong>r spanischen Libertären je<strong>de</strong>nfalls folgte - trotz aller spontanen Übergriffe in <strong>de</strong>n<br />

Tagen unmittelbar nach <strong>de</strong>m Putsch - <strong>de</strong>r Überzeugung Bakunins und Kropotkins, daß we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Kriminelle noch <strong>de</strong>r politische Gegner ein zu bestrafen<strong>de</strong>r Feind sei.<br />

Politik<br />

Die Spanische Revolution scheiterte mit <strong>de</strong>m Sieg <strong>de</strong>s Faschismus über die Spanische Republik. Aber das<br />

ist nur die halbe Wahrheit. Die an<strong>de</strong>re Hälfte ist ebenso tragisch wie lehrreich.<br />

Anarchisten haben ein gebrochenes Verhältnis zur Macht; sie sind bis zur Naivität unfähig zur politischen<br />

Intrige. Das macht sie zwar sehr sympathisch, aber auch zur leichten Beute <strong>de</strong>r Politik. In ihren<br />

spanischen Hochburgen gingen sie davon aus, daß sie mit <strong>de</strong>r Eroberung <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Macht und<br />

<strong>de</strong>s kulturellen Alltags auf <strong>de</strong>n Staat pfeifen könnten. Sie versäumten es - bedingt auch durch die<br />

Tatsache, daß sie in manchen Gegen<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rheit waren -, konsequent die staatlichen Strukturen<br />

abzuschaffen. Im Glauben an die Loyalität <strong>de</strong>r Volksfront im Kampf gegen <strong>de</strong>n gemeinsamen<br />

faschistischen Feind suchten sie das breite Bündnis, unterschätzten die Kraft <strong>de</strong>r verbliebenen<br />

Regierungen und ließen <strong>de</strong>ren Apparat weitgehend unangetastet. Das war, im nachhinein betrachtet, ein<br />

Fehler, <strong>de</strong>ssen Konsequenzen sie auf Dauer nicht gewachsen waren. Sie begaben sich damit nämlich<br />

schrittweise in ein Intrigenspiel, in <strong>de</strong>m sie am En<strong>de</strong> kaltgestellt wur<strong>de</strong>n.<br />

Beson<strong>de</strong>rs verhängnisvoll erwies sich hierbei die Erpressungspolitik Rußlands, das durch die<br />

Waffenlieferungen über ein starkes Druckmittel verfügte. Die russischen Interessen spielten eine ständig<br />

wachsen<strong>de</strong> Rolle, <strong>de</strong>r sich am En<strong>de</strong> auch die republikanische Regierung unterordnete. Stalins Botschafter<br />

trat hinter <strong>de</strong>n Kulissen wie ein Regierungschef auf, und im Hinterland begann die russische<br />

Geheimpolizei zu agieren wie bei sich daheim. Die Erpressungspolitik zwang die Libertären am En<strong>de</strong><br />

sogar, in die Regierung einzutreten. Die republikanische Administration erhoffte sich dadurch eine<br />

bessere Kontrolle <strong>de</strong>r Anarchisten, während die CNT sich davon die Zuteilung von Waffen für die<br />

libertären Milizen versprach. Das Bild "anarchistischer Minister" führte zu heftigem Protest an <strong>de</strong>r<br />

Gewerkschaftsbasis, die darin nicht nur ein peinliches Paradox, son<strong>de</strong>rn einen Verrat an <strong>de</strong>r Revolution<br />

erblickte. Trotz dieses Zugeständnisses gingen die Waffen schließlich an linientreue kommunistische<br />

Regimenter.<br />

So begann im republikanischen Lager ein Bru<strong>de</strong>rkampf, ein Bürgerkrieg im Bürgerkrieg, <strong>de</strong>r die<br />

anarchistische Position zunehmend isolierte und <strong>de</strong>r Kommunistischen Partei großen Zulauf aus <strong>de</strong>r<br />

Mittelschicht und <strong>de</strong>m Kleinbürgertum einbrachte. Die Parole <strong>de</strong>r KP<br />

312<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

und damit <strong>de</strong>r Regierung war bewußt auf diese Zielgruppe zugeschnitten. Sie lautete: Keine Revolution!<br />

Erst <strong>de</strong>n Krieg gewinnen, dann die parlamentarische Demokratie festigen! Während Zehntausen<strong>de</strong><br />

libertäre Milizionäre unzureichend bewaffnet an <strong>de</strong>r Front kämpften und starben, begann im Hinterland<br />

bereits die stalinistische "Säuberung gegen Trotzkisten und Anarchisten". Es kam wie<strong>de</strong>rholt zu<br />

Erhebungen, Barrika<strong>de</strong>n und Straßenkämpfen in Barcelona und Madrid - Arbeiter schössen auf Arbeiter.<br />

Dieser Strategie fielen auch – noch während <strong>de</strong>s Bürgerkrieges – die meisten Errungenschaften <strong>de</strong>r<br />

Selbstverwaltung "um Opfer. Stalin hatte natürlich zuallerletzt Interesse an einer libertären Revolution.<br />

Zunächst hatte die Regierung angesichts <strong>de</strong>r Tatsachen die Kollektivierung anerkannt und per Dekret<br />

juristisch abgesichert. Selbstverwaltung war mithin staatlich sanktioniert. Mit <strong>de</strong>r Verschiebung <strong>de</strong>r<br />

Kräfte wur<strong>de</strong>n die selbstverwalteten Betriebe und Kollektive aber schon bald systematisch schikaniert, an


<strong>de</strong>n Rand gedrängt und teilweise sogar ›verboten‹. Überall dort, wo das wirtschaftliche Netz dünn war,<br />

gelang das recht einfach durch <strong>de</strong>n Entzug von Krediten. Die Revolutionäre <strong>de</strong>s 19. Juli hatten we<strong>de</strong>r eine<br />

eigene Genossenschaftsbank einleuchtet noch die Staatsbank entmachtet. In gutem Glauben waren ihre<br />

bewaffneten Kräfte an die Front gezogen und nun nicht mehr in <strong>de</strong>r Lage, ihre Errungenschaften zu<br />

verteidigen.<br />

In einem schleichen<strong>de</strong>n Prozeß hatte das Volk die Macht, die es erobert hatte, wie<strong>de</strong>r an du zähe und<br />

anpassungsfähige Prinzip <strong>de</strong>r Staatlichkeit verloren.<br />

Nekrolog<br />

Das, was in jenen paar Jahren in Spanien geschah, ist keine Nostalgie für <strong>de</strong>n Misthaufen <strong>de</strong>r Geschichte.<br />

Die vielschichtigen Erfahrungen <strong>de</strong>r Spanischen Revolution eignen sich nicht fürs Museale, <strong>de</strong>nn ihre<br />

Lehren sind zeitlos. Seither hat es kein soziales Experiment von solcher Radikalität und Brisanz mehr<br />

gegeben; alles, was uns in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten politisch in Atem hielt, ist im Hinblick auf eine<br />

Befreiung <strong>de</strong>r Menschheit von weit geringerer Relevanz und schon längst verblaßte Tagespolitik. Mit<br />

Sicherheit wäre die Menschheit einen an<strong>de</strong>ren Weg gegangen, wenn eine ganze Gesellschaft <strong>de</strong>n<br />

lebendigen Beweis geliefert hätte, daß ein Gemeinwesen ohne Staat auch auf Dauer lebensfähig ist. Aber<br />

diesen Beweis hat es nicht geben dürfen. Auch die Politik <strong>de</strong>s zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rts wäre ohne Frage<br />

eine an<strong>de</strong>re gewesen, wenn <strong>de</strong>r internationale Faschismus in Spanien schon 1936 besiegt wor<strong>de</strong>n wäre.<br />

Aber diesen Sieg haben die westlichen Demokratien nicht zugelassen.<br />

Der kurze Sommer <strong>de</strong>r Anarchie wur<strong>de</strong> so zu einer Randnotiz <strong>de</strong>r Geschichte.<br />

Literatur: Gerald Brenan: Die Geschichte Spaniens Berlin 1978, Karin Kramer, 396 S., ill. / Pierre Broué,<br />

Èmile Témime: Revolution und Krieg in Spanien (2 B<strong>de</strong>.) Frankfurt/M. 1972, Suhrkamp, 721 S. / Gaston<br />

Leval: Das libertäre Spanien Hamburg 1976, Association, 352 S. / Augustin Souchy: Nacht über Spanien<br />

1936-1939 Berlin 1974, Karin Kramer 236 S. / Walther L. Bernecker: Kollektivismus und Freiheit.<br />

Quellen zur Geschichte <strong>de</strong>r soz. Rev. i. Spanien 1936-1939 München 1980, dtv, 502 S. / Camillo Berneri:<br />

Klassenkrieg in Spanien Hamburg 1974, MaD, 58 S. / Abel Paz: Durruti - Leben und To<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />

spanischen Anarchisten Hamburg 1984, Nautilus, 816 S., ill. / Hans Magnus Enzensberger: Der kurze<br />

Sommer <strong>de</strong>r Anarchie Frankfurt/M. 1972, Suhrkamp, 300 S. / George Orwell: Mein Katalonien Zürich<br />

1975, Diogenes, 287 S. / Carlos Semprún-Maura: Revolution und Konterrevolution in Katalonien<br />

Hamburg 1983, Nautilus, 284 S., ill. / Thomas Kleinspehn, Gottfried Mergner (Hrsg.): Mythen <strong>de</strong>s<br />

Spanischen Bürgerkrieges Grafenau 1989, Trotz<strong>de</strong>m, 169 S.<br />

313<br />

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Kapitel 35<br />

Das hoffnungsvolle Stiefkind: Anarchismus in Deutschland<br />

Die Deutschen sind ein Volk, das in hohem Maße<br />

von <strong>de</strong>r Staatsi<strong>de</strong>e durchdrungen ist.<br />

- Michail Bakunin -<br />

DEUTSCHLAND WAR NIEMALS EIN LAND, in <strong>de</strong>m libertäre I<strong>de</strong>en eine wichtige Rolle gespielt<br />

haben, und ohne Zweifel stimmt grosso modo die Sichtweise von einem eher angepaßten und staatstreuen<br />

Volk mit einem ausgeprägten Anlehnungsbedürfnis an die jeweils angesagten Autoritäten. Aber eben nur<br />

grob gesehen. Eine verfeinerte Optik offenbart Deutschland als ein Land, in <strong>de</strong>m es einige erstaunliche<br />

Ent<strong>de</strong>ckungen zu machen gibt. Ein Land, das zwar Stiefkind <strong>de</strong>r libertären Bewegung blieb, aber allemal<br />

gut ist für die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Überraschung.


Wie zum Beispiel jene syndikalistischen Bergarbeiter aus Dortmund und Umgebung, die am 20. Januar<br />

1919 als Welturaufführung <strong>de</strong>n Sechsstun<strong>de</strong>ntag einführen. Sie besetzen die Zeche "Minister Achenbach",<br />

bil<strong>de</strong>n einen Zechenrat, sozialisieren <strong>de</strong>n Betrieb und fahren nur noch die Sechsstun<strong>de</strong>nschicht. Ihr<br />

Beispiel funktioniert zur allgemeinen Zufrie<strong>de</strong>nheit außer <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Unternehmer und macht in kürzester<br />

Zeit Schule: Vierzig weitere Zechen schließen sich an, und im Februar steht <strong>de</strong>r größte Teil <strong>de</strong>s<br />

Ruhrbergbaus unter <strong>de</strong>r Kontrolle <strong>de</strong>r Arbeiter. An<strong>de</strong>re Industriezweige verfahren nach <strong>de</strong>m gleichen<br />

Muster: selbst han<strong>de</strong>ln, direkt agieren, nur noch sechs Stun<strong>de</strong>n arbeiten. Das Herz <strong>de</strong>r Schwerindustrie in<br />

<strong>de</strong>r Hand von Syndikalisten, <strong>de</strong>r Bergbau als Experimentierfeld <strong>de</strong>r direkten Aktion? Das erstaunt selbst<br />

Historiker, und kaum jemand wür<strong>de</strong> so etwas ausgerechnet in Deutschland vermuten, gelten doch<br />

<strong>de</strong>utsche Arbeiter bis heute als lammfromm und fest im Griff <strong>de</strong>r sozial<strong>de</strong>mokratischen Gewerkschaften.<br />

Eben diese aber hatten damals durch ihre Paktiererei mit <strong>de</strong>r kaiserlichen Kriegswirtschaft viel an<br />

Glaubwürdigkeit verloren und waren bei <strong>de</strong>n Kumpels unten durch. Auch die staatliche Autorität war<br />

durch <strong>de</strong>n verlorenen Krieg und die Novemberrevolution bis in ihre Fundamente erschüttert. So blieb ihr<br />

nichts an<strong>de</strong>res übrig, als sich zurückzuhalten.<br />

Eine <strong>de</strong>utsche Revolution<br />

Drei Monate zuvor war durch das Deutsche Reich eine Welle <strong>de</strong>s Umsturzes gegangen, in <strong>de</strong>r Arbeiterund<br />

Soldatenräte <strong>de</strong>m alten Regime die Machtfrage gestellt hatten. Kriegsmü<strong>de</strong> Matrosen und Landser*,<br />

hungern<strong>de</strong> Frauen und Kin<strong>de</strong>r, die ausgemergelten Arbeiterinnen und Arbeiter <strong>de</strong>r kriegswichtigen<br />

Industrien hatten die soziale Revolution auf die Tagesordnung gesetzt. Auslöser dieser<br />

"Novemberrevolution" waren Meutereien <strong>de</strong>r kaiserlichen Matrosen in Wilhelmshaven und Kiel, <strong>de</strong>ren<br />

Beispiel - gera<strong>de</strong> so wie ein Jahr zuvor in Rußland – wie ein Lauffeuer das ganze Land erfaßte. Vielerorts<br />

übernahmen die "A+S – Räte" faktisch die Macht, "Räterepubliken" entstan<strong>de</strong>n von Ostfriesland bis nach<br />

314<br />

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München. Die Räte fühlten <strong>de</strong>n Sturz <strong>de</strong>s Kaisers herbei, verjagten die fürstlichen Dynastien in <strong>de</strong>n<br />

einzelnen Län<strong>de</strong>rn und begannen sofort mit <strong>de</strong>r Organisation <strong>de</strong>s sozialen Lebens. Ganz oben auf <strong>de</strong>r<br />

Tagesordnung stan<strong>de</strong>n Probleme: Hunger, Kälte und die Kriegsfolgen. Politisches Nahziel war das En<strong>de</strong><br />

von Preußentum, Militarismus und Klassenstaat, als Endziel schwebte ihnen ein freies Deutschland vor,<br />

sozialistisch in <strong>de</strong>m Sinne, daß die einfachen Leute jetzt das Sagen haben sollten. Der A<strong>de</strong>l müsse<br />

enteignet, die Industrie sozialisiert, <strong>de</strong>r Obrigkeitsstaat durch einen Volksstaat ersetzt wer<strong>de</strong>n. Auf je<strong>de</strong>n<br />

Fall sollten die Räte zur Grundstruktur wer<strong>de</strong>n, auf keinen Fall wollte man sich mit <strong>de</strong>r bloßen<br />

Einführung einer parlamentarischen Demokratie zufrie<strong>de</strong>ngeben. Das Mo<strong>de</strong>ll eines "Räte<strong>de</strong>utschland"<br />

sollte internationalistisch sein, in friedlichem Miteinan<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren europäischen Völkern, von<br />

<strong>de</strong>nen man ebenfalls eine "proletarische Revolution" erhoffte.<br />

Unterstützung fand diese Bewegung jenseits <strong>de</strong>r noch unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n anarchistischen Zirkel vor allem in<br />

Kreisen sozial<strong>de</strong>mokratischer Oppositioneller, die während <strong>de</strong>s großen Völkermor<strong>de</strong>ns zu Kriegsgegnern<br />

gewor<strong>de</strong>n waren - namentlich <strong>de</strong>r Unabhängigen Sozial<strong>de</strong>mokratischen Partei Deutschlands und <strong>de</strong>m<br />

Spartakusbund. Inzwischen aber hatte das untergehen<strong>de</strong> Kaiserreich "loyale‹ Sozial<strong>de</strong>mokraten vom alten<br />

Schlag in die Regierung gehievt und so einen Rettungsanker zurückgelassen, mit <strong>de</strong>ssen Hilfe sich die<br />

konservativbürgerlichen Kräfte in Deutschland behaupten sollten. Hurra-Patrioten aus Kaiser Wilhelms<br />

Kriegskabinett wie Friedrich Ebert, Gustav Noske und Philipp Schei<strong>de</strong>mann bil<strong>de</strong>ten 1918 eine neue,<br />

SPD-geführte Regierung, die aber weitgehend im Leeren regierte. Die "Arbeitermassen" waren weit<br />

radikaler als ihre traditionellen Führer; sie wollten mehr als einen sozial<strong>de</strong>mokratischen Kanzler – sie<br />

wollten das, was seit fünfzig Jahren angeblich das Ziel <strong>de</strong>r SPD war: eine Revolution.<br />

So lief <strong>de</strong>nn im Winter 1918/1919 alles auf ein Ringen zwischen SPD und Rätebewegung hinaus,<br />

zwischen Restauration und Revolution, zugespitzt in <strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Frage: Verfassungsgeben<strong>de</strong><br />

Nationalversammlung o<strong>de</strong>r Räte<strong>de</strong>mokratie. In Berlin fiel zum Jahresbeginn die Entscheidung, und sie<br />

fiel nach klassischer Manier durch die Macht <strong>de</strong>r Waffen. Sozial<strong>de</strong>mokratische Politiker scheuten sich<br />

nicht, mit Artillerie und Minenwerfern gegen Arbeiterviertel vorzugehen. Rosa Luxemburg und Karl


Liebknecht, die Führerfiguren <strong>de</strong>s "Spartakus", wur<strong>de</strong>n ermor<strong>de</strong>t. Rechtsnationale "Freikorps"-Truppen<br />

stellten das wie<strong>de</strong>r her, was Ebert unter Ordnung verstand.<br />

Die <strong>de</strong>utsche Revolution von 1918 blieb eine unvollen<strong>de</strong>te Revolution. In ihr setzte das konservative<br />

Deutschland die schärfste Waffe ein, die sie noch in Hän<strong>de</strong>n hielt: die <strong>de</strong>utsche Sozial<strong>de</strong>mokratie. Sie war<br />

seit <strong>de</strong>n Tagen <strong>de</strong>r Ersten Internationale beharrlich <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>s Parlamentarismus gegangen und<br />

folgerichtig von einer revolutionären Bewegung zu einer staatstragen<strong>de</strong>n, ja patriotischen Partei<br />

gewor<strong>de</strong>n. Aber noch konnte niemand so recht an diese Ungeheuerlichkeit glauben. Die Arbeiter am<br />

allerwenigsten. Als sie sahen, daß ›ihre Partei" mit <strong>de</strong>n alten Kräften <strong>de</strong>s untergegangenen Reiches<br />

gleiche Sache machte, wandten sich viele von ihr ab. So leicht wollten sie ihr Ziel einer sozialen<br />

Umwälzung nicht aufgeben,<br />

315<br />

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und die Gelegenheit hierfür schien günstiger <strong>de</strong>nn je. Die Regierung <strong>de</strong>s frischgebackenen Reichskanzlers<br />

Ebert saß alles an<strong>de</strong>re als fest im Sattel.<br />

Eine <strong>de</strong>utsche "Commune"<br />

In diesem Klima fan<strong>de</strong>n jene Zechenbesetzungen im Ruhrgebiet statt, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Sechsstun<strong>de</strong>ntag<br />

›erfun<strong>de</strong>n‹ wur<strong>de</strong>. Ein günstiges Klima für entschlossenes Han<strong>de</strong>ln und direkte Aktionen: Wertekrise und<br />

Machtvakuum. Die in Gang gesetzte Bewegung konnte sich recht unbehelligt entwickeln – <strong>de</strong>r<br />

verunsicherte Staat hielt sich raus, und die Betriebsräte stellten die Grubenbesitzer vor mehr o<strong>de</strong>r weniger<br />

vollen<strong>de</strong>te Tatsachen. Die SPD mauerte und bereitete sich ganz behutsam darauf vor, die Lage wie<strong>de</strong>r in<br />

<strong>de</strong>n Griff zu kriegen.<br />

Unter<strong>de</strong>ssen übten sich die Kumpel in <strong>de</strong>r schwierigen Kunst <strong>de</strong>r Selbstverwaltung. Sie waren praktisch<br />

über Nacht in <strong>de</strong>n Besitz <strong>de</strong>r Bergwerke gekommen und betraten Neuland. Unter ihnen gab es nur wenige<br />

Fachleute o<strong>de</strong>r Arbeiter mit entsprechen<strong>de</strong>r Vorbildung. So mußten sie sich ganz überwiegend darauf<br />

beschränken, Verwaltung, Wirtschaft und Bürokratie <strong>de</strong>r Zeche zu kontrollieren. Die generalisierte<br />

Selbstverwaltung, die ihnen vorschwebte, auch tatsächlich durchzuführen, darauf waren sie nicht<br />

vorbereitet. Wann hätten sie dies in <strong>de</strong>n langen Kriegsjahren auch lernen sollen?<br />

Aber sie machten Ernst mit ihrer Vision von <strong>de</strong>r Sozialisierung. Zunächst erstellten sie einen Arbeitsplan<br />

und fühlten das neue Schichtsystem ein. Dadurch erreichten sie für die ausgehungerten Bergleute<br />

menschlich verkraftbare Arbeitszeiten, stellten die För<strong>de</strong>rung sicher und erhöhten sogar die Produktion.<br />

Dann zwangen sie die Verwaltung zur Einstellung neuer Arbeitskräfte, womit sie viele Arbeitslose und<br />

<strong>de</strong>ren Familien satt machten. Sie schmissen beson<strong>de</strong>rs verhaßte Schin<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n Betrieben, organisierten<br />

<strong>de</strong>n Vertrieb <strong>de</strong>r Kohle, tauschten teilweise direkt mit Bauern aus <strong>de</strong>r Umgebung und wachten über eine<br />

gerechte Verteilung <strong>de</strong>r Güter. Sie setzten das um, was sie in ihrem selbstverfaßten Manifest so<br />

ausgedrückt hatten: "Die Bergarbeiter verschaffen sich selbst mehr Freiheit und ein einigermaßen<br />

erträgliches Dasein."<br />

Der an<strong>de</strong>re Teil ihres Programm war weit schwieriger zu erreichen: "Die Sozialisierung <strong>de</strong>s Bergbaues im<br />

Sinne <strong>de</strong>r Enteignung <strong>de</strong>s privaten Kapitals, die Übernahme <strong>de</strong>r Kohlenschätze und <strong>de</strong>r Produktionsmittel<br />

in <strong>de</strong>n Besitz <strong>de</strong>r Gesamtheit und die Verwaltung <strong>de</strong>s Bergbaues durch die Bergarbeiter." Hierzu fehlte es<br />

an einer entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Vorbedingung, die Der Syndikalist später etwas pathetisch aber treffend<br />

formulierte: Der <strong>de</strong>utsche Arbeiter müsse erst "körperlich und geistig reif für die soziale Revolution"<br />

wer<strong>de</strong>n. Er war an vielen Orten dazu bereit, aber nicht vorbereitet. Die Dortmun<strong>de</strong>r Syndikalisten wußten,<br />

was sie wollten, aber nicht genau, wie. Eines jedoch war klar: die Bewegung konnte nur dann erfolgreich<br />

sein, wenn sie auf ganz Deutschland übergriff. Der öffentliche Druck müßte stark genug sein, das<br />

Eingreifen <strong>de</strong>s Staates zu verhin<strong>de</strong>rn, hinauszuzögern o<strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>nd zu schwächen. Die Bergleute<br />

wußten, daß sie Vorreiter waren und <strong>de</strong>n Menschen nicht davongaloppieren durften. Sie suchten<br />

Verbün<strong>de</strong>te und fan<strong>de</strong>n sie in Spartakus und USPD. Gemeinsam organisierte man riesige


Demonstrationen und Massenkundgebungen,<br />

316<br />

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auf <strong>de</strong>nen rüberkam, was im Ruhrpott Sache war: Man wollte soziale Verbesserungen. Man wollte Taten<br />

statt Worte. Und man wollte die Übernahme <strong>de</strong>r Produktionsmittel durch "die Gesamtheit" – das Wort<br />

Staat fiel nicht. Verstaatlichung war für die Arbeiter <strong>de</strong>s Jahres 1919 kein Thema.<br />

Als En<strong>de</strong> März in Witten Angehörige eines Freikorps in eine Demonstration schossen und mehrere<br />

Arbeiter töteten, kam es zu spontanen Arbeitsnie<strong>de</strong>rlegungen, die sich rasch zu einem Generalstreik<br />

ausweiteten. Weitreichen<strong>de</strong> politische For<strong>de</strong>rungen wur<strong>de</strong>n laut. Das war für die Reichsregierung <strong>de</strong>r<br />

willkommene Anlaß, durchzugreifen und <strong>de</strong>n Belagerungszustand zu verhängen. Damit galt automatisch<br />

das Kriegsrecht. Die Macht lag nun in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Generalleutnants Freiherr von Watter, eines<br />

preußischen Bil<strong>de</strong>rbuchmilitärs, und <strong>de</strong>r machte ganze Arbeit. Die "führen<strong>de</strong>n Agitatoren" wan<strong>de</strong>rten in<br />

Schutzhaft, Versammlungen und Publikationen außer <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r SPD wur<strong>de</strong>n verboten. Deren<br />

Gewerkschaften übernahmen nun taktisch geschickt die For<strong>de</strong>rung nach <strong>de</strong>m Sechsstun<strong>de</strong>ntag und<br />

verkün<strong>de</strong>ten nach kurzen Verhandlungen stolz <strong>de</strong>n errungenen Sieg: siebeneinhalb Stun<strong>de</strong>n und<br />

Schmalzstullen für alle!<br />

Der erste große autonome Bergarbeiterkampf <strong>de</strong>s Ruhrgebietes stand plötzlich ohne Kopf da. Dennoch<br />

hielt <strong>de</strong>r Streik, nahm sogar an Intensität noch zu. In etlichen Betrieben verhin<strong>de</strong>rten die Arbeiter nun<br />

auch sogenannte ›Notschichten‹, die die Anlagen vor größeren Schä<strong>de</strong>n bewahren sollten. Bei Hoesch ließ<br />

man einen Hochofen in aller Ruhe ausglühen und ruinierte ihn so für min<strong>de</strong>stens ein Jahr. Unternehmer<br />

und Sozial<strong>de</strong>mokraten waren entsetzt - sowas hatten <strong>de</strong>utsche Arbeiter noch nie getan! Vierzig Tage hielt<br />

<strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand an, erst dann begann die Streikfront zu bröckeln. Die SPD propagierte Vernunft und<br />

stellte "die Behandlung <strong>de</strong>r Sozialisierungsfrage im Reichstag" in Aussicht. Die erste Kraftprobe war<br />

verloren, aber die Arbeiter hatten viel gelernt. Von einigen Zechen ist belegt, daß sie noch ein volles Jahr<br />

lang <strong>de</strong>n Sechsstun<strong>de</strong>ntag beibehielten.<br />

Der Moment, aus diesen Lehren Konsequenzen zu ziehen, sollte schon bald kommen: Am 13. März 1920<br />

putscht <strong>de</strong>r rechtsradikale Politiker Wolfgang Kapp gegen die Reichsregierung in Berlin. Unterstützt wird<br />

er von <strong>de</strong>m Reichswehrgeneral von Lüttwitz und <strong>de</strong>r Marinebriga<strong>de</strong> Ehrhardt, <strong>de</strong>m ersten Freikorps, das<br />

Hakenkreuze an <strong>de</strong>n Stahlhelmen trägt. Die Regierung flieht aus Berlin, die Faschisten marschieren auf<br />

die Hauptstadt und - aufs Ruhrgebiet. Die Reichswehr ist gespalten: Ein Teil schließt sich Kapp an, ein<br />

Teil zögert, weil sie Kapp nicht für voll nimmt und stellt sich später auf die Seite <strong>de</strong>r Regierung. Wer<br />

nicht zögert, sind die Proleten. Im ganzen Reich wird <strong>de</strong>r Generalstreik ausgerufen und fast vollständig<br />

befolgt. Am weitesten jedoch gehen die Kumpels an <strong>de</strong>r Ruhr. Hier hat man nicht vergessen, was ein Jahr<br />

vorher geschehen war. Die Arbeiter bewaffnen sich, stellen eine "Rote Ruhr Armee" auf und begegnen<br />

<strong>de</strong>m Putsch auf eigene Faust. Es entsteht eine regelrechte Front quer durchs Ruhrgebiet bis ins<br />

Münsterland hinein.<br />

Der militärische Kampf war kurz. Nach nur fünf Tagen bricht <strong>de</strong>r rechte Putsch zusammen. Kapp und<br />

seine Drahtzieher fliehen. Generalstreik, Reichswehr und Rote Ruhr Armee hatten <strong>de</strong>n ersten<br />

faschistischen Spuk verjagt. Nach Meinung <strong>de</strong>r Regierung war nun<br />

317<br />

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alles wie<strong>de</strong>r normal. Den Arbeitern wur<strong>de</strong> artig gedankt, und sie sollten doch, bitte schön, nun die Waffen<br />

abliefern und wie<strong>de</strong>r arbeiten gehen. Die aber sahen das an<strong>de</strong>rs. Sie hielten die Macht in Hän<strong>de</strong>n – warum<br />

sollten sie diese Errungenschaft wie<strong>de</strong>r aufgeben? Die Lehren <strong>de</strong>s vergangenen Frühjahrs waren noch


frisch, und die alten For<strong>de</strong>rungen keineswegs erfüllt; viele sahen die Chance, <strong>de</strong>n verpaßten Umsturz jetzt<br />

zu vollen<strong>de</strong>n. Die Rote Ruhr Armee blieb unter Waffen, und so wur<strong>de</strong> am 17. März die Front <strong>de</strong>r Arbeiter<br />

gegen Kapp zu einer Front <strong>de</strong>r Reichswehr gegen die Arbeiter.<br />

Achtzehn Tage dauerte <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand gegen das Militär, achtzehn Tage, in <strong>de</strong>nen im ›Hinterland‹ viel<br />

geschah. Schon zu Beginn <strong>de</strong>s Putsches hatte man die Gefängnisse gestürmt und "die Genossen befreit".<br />

In je<strong>de</strong>r Stadt und Gemein<strong>de</strong> bil<strong>de</strong>ten sich sogenannte "Vollzugsausschüsse", die sich <strong>de</strong>r Organisation<br />

<strong>de</strong>s täglichen Lebens annahmen. Die staatlichen Organisationen hatten sich als unfähig erwiesen und<br />

wur<strong>de</strong>n einfach ignoriert. Beson<strong>de</strong>rs im Dortmun<strong>de</strong>r Raum versuchte man, mit <strong>de</strong>r Selbstverwaltung ernst<br />

zu machen. In <strong>de</strong>n Betrieben hielt man Wahlen ab, und alles, was <strong>de</strong>r Staat seit April 1919 schrittweise<br />

abgeschafft hatte, wur<strong>de</strong> nun wie<strong>de</strong>r eingefühlt. Diesmal ging man sogar noch weiter.<br />

Die Versorgung <strong>de</strong>r Bevölkerung lag nun in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Räte. Der Austausch mit <strong>de</strong>n Bauern wur<strong>de</strong><br />

organisiert, Preise wur<strong>de</strong>n festgesetzt, Transport und Verteilung geregelt. Die wenigen erhaltenen<br />

Dokumente jener Tage zeigen, daß man sich auch mit <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Alltags befaßte, etwa, was die<br />

Regelung von Alkoholkonsum auf Festlichkeiten, die Schlichtung von Streit zwischen Nachbarn und<br />

Kollegen o<strong>de</strong>r die Entschädigung aufgebrachter La<strong>de</strong>nbesitzer anging, bei <strong>de</strong>nen man Waren für die<br />

Armee requiriert hatte. Auch die Empfehlung, freiwillig das Backen von Kuchen einzuschränken, weil<br />

dafür zuviel Eier und Zucker verwen<strong>de</strong>t wür<strong>de</strong>n, zeigt durchaus ein Gespür für die Wichtigkeit von<br />

Details.<br />

Dabei ging es natürlich um Größeres. Die gleichen For<strong>de</strong>rungen, die schon die Resolution <strong>de</strong>s<br />

Generalstreiks vom Vorjahr enthielt, kamen jetzt wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Tisch: allgemeine Anerkennung <strong>de</strong>s<br />

Rätesystems, Bildung einer revolutionären "Arbeiterwehr", Freilassung <strong>de</strong>r politischen Gefangenen,<br />

generelle Einführung <strong>de</strong>s Sechsstun<strong>de</strong>ntages, 25-prozentige Lohnanhebung, Entwaffnung <strong>de</strong>r Polizei im<br />

Revier und Auflösung <strong>de</strong>r Freikorps. Was immer möglich war, wur<strong>de</strong> nun versucht, umzusetzen. Aber<br />

nur knapp drei Wochen dauerte das Machtvakuum, in <strong>de</strong>m die Syndikalisten die Geschicke einer großen<br />

Stadt, ja, einer ganzen Region in Hän<strong>de</strong>n hielten. Zu wenig Zeit, um große Erfolge zu erzielen.<br />

Achtzehn Tage nach Beginn <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s schließt das Gros <strong>de</strong>r arg bedrängten Roten Ruhr Armee mit<br />

<strong>de</strong>r Reichswehr einen Frie<strong>de</strong>nsvertrag. Dieses "Bielefel<strong>de</strong>r Abkommen" aber wird vom Militär kaum<br />

eingehalten. Die besten Kämpfer und die fähigsten Organisatoren sterben unter <strong>de</strong>n Kugeln <strong>de</strong>r<br />

vorrücken<strong>de</strong>n Truppe. Der Traum von Selbstverwaltung und Räte<strong>de</strong>mokratie wird zerschlagen, die<br />

Generale räumen auf. Im April 1920 stirbt im Ruhrgebiet <strong>de</strong>r letzte Rest <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Revolution vom<br />

November 1918.<br />

318<br />

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Man kann das, was sich in jenen Wochen in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Bergbaumetropole abspielte, ohne<br />

Übertreibung die ›Commune von Dortmund‹ nennen. Die Ähnlichkeit mit <strong>de</strong>n Ereignissen von Paris,<br />

Kronstadt, Buenos Aires o<strong>de</strong>r Barcelona fällt gera<strong>de</strong>zu ins Auge. Niemand hat ihr je diesen Namen<br />

gegeben, aber <strong>de</strong>nnoch hat sie existiert. Daß es diesen Namen nicht gibt, daß in Deutschland diese<br />

Ereignisse so gut wie unbekannt blieben, hat viel mit Geschichtsschreibung und Parteilichkeit zu tun.<br />

Denn die Träger dieser Bewegung waren Anarchosyndikalisten, und die passen überhaupt nicht ins Bild<br />

gängiger <strong>de</strong>utscher Geschichtsraster.<br />

Der <strong>de</strong>utsche Anarchosyndikalismus<br />

Sechzig Prozent <strong>de</strong>r aktiven Kämpfer <strong>de</strong>r Region trugen, ebenso wie zwölftausend Arbeiter allein im<br />

Raum Groß-Dortmund, ein kleines grünes Mitgliedsbuch mit <strong>de</strong>m Aufdruck F.A.U.D, in <strong>de</strong>r Tasche.<br />

Dabei hatte sich die Freie Arbeiter Union Deutschlands erst im September 1919 gegrün<strong>de</strong>t. Ihr Vorläufer<br />

war die Freie Vereinigung <strong>de</strong>utscher Gewerkschaften, ein 1897 gegrün<strong>de</strong>ter Oppositionsverband, <strong>de</strong>r seit<br />

1904 anarchosyndikalistische Positionen vertrat und bei Kriegsbeginn gera<strong>de</strong> mal achttausend Mitglie<strong>de</strong>r<br />

zählte. Trotz massivster Behin<strong>de</strong>rung und blutiger Verfolgung während <strong>de</strong>s Krieges steht diese kleine


Gruppe nach <strong>de</strong>m Umsturz von 1918 plötzlich auf <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>r Zeit und stellt sich <strong>de</strong>r Herausfor<strong>de</strong>rung.<br />

Nicht zuletzt wegen ihrer konsequenten Haltung gegen <strong>de</strong>n Krieg und ihrer klaren Vorstellungen zur<br />

Sozialisierung <strong>de</strong>r Industrie laufen ihr nun diejenigen Arbeiter zu, die zwischen sozial<strong>de</strong>mokratischer<br />

Regierung und kommunistischer Diktatur eine Alternative suchen. Im Sommer 1919 zählt sie bereits<br />

sechzigtausend Mitglie<strong>de</strong>r. Aus <strong>de</strong>n Kämpfen im Ruhrgebiet waren zahlreiche autonome<br />

Gewerkschaftsgruppen hervorgegangen; weitere sechzigtausend Arbeiter, die sich nun mit <strong>de</strong>r Freien<br />

Vereinigung zur anarchosyndikalistischen FAUD verbin<strong>de</strong>n. Jetzt gibt es auch in Deutschland eine<br />

libertäre Arbeiterbewegung mit einer festen Organisation und einem konkreten Programm.<br />

Die <strong>de</strong>utschen Anarchisten, seit über vierzig Jahren stets im Schatten <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie, waren<br />

sozusagen über Nacht zu politischen ›Trendsettern‹ gewor<strong>de</strong>n. Im Ruhrgebiet willen sie sogar die<br />

dominieren<strong>de</strong> Kraft. Hervorgegangen aus kleinen, illegalen Grüppchen Gleichgesinnter entstehen im<br />

Revier innerhalb weniger Monate ganze Gewerkschaftszweige. Allein im Dortmun<strong>de</strong>r Raum sind 1921 an<br />

die zwanzigtausend ›Malocher‹ in <strong>de</strong>r anarchistischen Gewerkschaft organisiert. Auch im restlichen<br />

Deutschland wächst die Anhängerschaft <strong>de</strong>r FAUD, die 1925, auf <strong>de</strong>m Höhepunkt ihrer Entwicklung,<br />

hun<strong>de</strong>rtfünfzigtausend betragen wird. An<strong>de</strong>re syndikalistische Organisationen wie die Allgemeine<br />

Arbeiter Union bringen es ebenfalls auf fast hun<strong>de</strong>rttausend Mitglie<strong>de</strong>r.<br />

In diesem Umfeld ge<strong>de</strong>iht ein breites Spektrum an Presse und Literatur, und zum ersten Male gelangt<br />

auch in Deutschland anarchistisches Gedankengut zu Massenauflagen und einer gewisscn Popularität. Die<br />

Wochenzeitung <strong>de</strong>r FAUD, Der Syndikalist, erreicht trotz zahlreicher Verbote eine Leserschaft von<br />

Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong>n, und in Düsseldorf erscheint gar eine anarchistische Tageszeitung, die <strong>de</strong>n vielsagen<strong>de</strong>n<br />

Titel Die Schöpfung trägt. Unter<br />

319<br />

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<strong>de</strong>r Regie <strong>de</strong>s alten Gewerkschafters und Anarchoverlegers Fritz Kater entsteht eine Büchergil<strong>de</strong>, die<br />

leichtverständliche Broschüren, anspruchsvolle Literatur und preiswerte Anarchoklassiker unters Volk<br />

bringt und gleichzeitig <strong>de</strong>n Vertrieb zahlreicher libertärer Zeitschriften besorgt. Diese entstehen nun in<br />

großer Zahl und widmen sich, sofern sie nicht regional o<strong>de</strong>r branchenspezifisch ausgerichtet sind, <strong>de</strong>n<br />

unterschiedlichsten Zielgruppen und Themen: Frauen, Antimilitarismus, Kin<strong>de</strong>r, Kultur, Jugend, Theorie,<br />

Individualismus, Satire, Atheismus und Literatur.<br />

Im Windschatten <strong>de</strong>r FAUD ge<strong>de</strong>iht eine rege libertäre Bewegung, von <strong>de</strong>r sich Teile in einer<br />

Anarchistischen Fö<strong>de</strong>ration, einer Jugendorganisation, einem Frauenbund organisieren. Eine solch bunte,<br />

libertäre Alltagskultur war Deutschland bisher fremd. Vom strammen Gewerkschafter über die<br />

Künstlerboheme bis zur Kommunesiedlung fin<strong>de</strong>t sich hier so ziemlich das ganze Spektrum wie<strong>de</strong>r. In<br />

Berlin grün<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r anarchistische Frie<strong>de</strong>nsaktivist Ernst Friedrich das erste - und bis heute einzige -<br />

Antikriegsmuseum <strong>de</strong>r Welt.<br />

Was die rein syndikalistische Bewegung angeht, so wur<strong>de</strong> sie in gewisser Weise Opfer ihres eigenen<br />

Anfangserfolges. Seit ihrer Gründung litt sie unter <strong>de</strong>m kometenhaften Aufstieg, mit <strong>de</strong>m sie auf die<br />

politische Bühne gestolpert war. Massen von Arbeitern waren ihr urplötzlich zugeströmt, Menschen, die<br />

gewohnt waren, daß die Gewerkschaft für sie han<strong>de</strong>lt. Die Vermittlung libertärer Eigenständigkeit, das<br />

Erlernen autonomen Han<strong>de</strong>lns ist jedoch ein langer Prozeß. In Spanien, Argentinien, Italien gab es hierzu<br />

Gelegenheit, die FAUD aber war zu schnell gewachsen. Sie selbst beklagte stets einen gewissen "Mangel<br />

an Reife" ihrer Mitgliedschaft und tat in <strong>de</strong>r Folgezeit alles, um dieses Defizit auszugleichen. Mit diesem<br />

Defizit aber stand sie von <strong>de</strong>r ersten Stun<strong>de</strong> an inmitten heftigster sozialer Kämpfe wie <strong>de</strong>m an <strong>de</strong>r Ruhr.<br />

Kämpfe, in <strong>de</strong>nen sie Hervorragen<strong>de</strong>s leistete, die sie aber nicht ›gewinnen‹ konnte.<br />

Zwar gelang es <strong>de</strong>r FAUD, in einigen Branchen und verschie<strong>de</strong>nen Regionen Fuß zu fassen und soli<strong>de</strong><br />

Organisationsarbeit zu leisten, aber sie konnte sich lan<strong>de</strong>sweit nie als Alternative durchsetzen. In <strong>de</strong>r<br />

Arbeiterschaft wur<strong>de</strong> sie zunehmend als eine Protestgewerkschaft empfun<strong>de</strong>n. Ähnliches galt für ihr<br />

konsequentes Programm sowie ihre richtungsweisen<strong>de</strong>n Standpunkte zu <strong>de</strong>n politischen Fragen <strong>de</strong>r Zeit:


Sie wur<strong>de</strong>n oft mit Beifall aufgenommen, aber nicht befolgt. Ein so brillanter Kopfe wie <strong>de</strong>r FAUD-<br />

Organisator und Vor<strong>de</strong>nker Rudolf Rocker war zwar ein vielgelesener Autor und gern gela<strong>de</strong>ner<br />

Vortragsredner, aber in <strong>de</strong>r atemlosen Alltagspolitik dominierten längst an<strong>de</strong>re Schlagworte. Es wur<strong>de</strong><br />

wie<strong>de</strong>r kürzer gedacht, wenn überhaupt, <strong>de</strong>nn zwischen zwei ›Alternativen‹, die sich glichen wie ein Ei<br />

<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren, blieb nicht viel Platz zum Denken: Nazis und Stalinisten polarisierten zunehmend die<br />

Politik <strong>de</strong>r Weimarer Republik, im Hintergrund eine unschlüssige SPD und die rechtslastige bürgerliche<br />

Mitte. NSDAP und KPD bombardierten die Arbeiterschaft mit aufpeitschen<strong>de</strong>n Parolen, und bei<strong>de</strong><br />

versprachen einen starken, genialen Führer, <strong>de</strong>r alles lösen könnte. Sie verfügten über riesige Geldmittel<br />

für Organisation und Propaganda und zögerten nicht, <strong>de</strong>m politischen Gegner mit <strong>de</strong>m Schlagring zu<br />

antworten. Da blieb für eine kleine und finanzschwache Bewegung, die<br />

320<br />

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eigenständiges Denken und autonomes Han<strong>de</strong>ln zum Inhalt hatte, auf Dauer kein Platz. Im Grun<strong>de</strong> hatte<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Anarchosyndikalismus nie eine wirkliche Chance.<br />

Dennoch hat die FAUD ihre Rolle mit Bravour gespielt. Die ständigen Verbote ihrer Zeitung belegen, wie<br />

oft ihre Kritik <strong>de</strong>n Nerv <strong>de</strong>r Zeit traf. Mit einer Klarheit, die damals beim Durchschnittsbürger nur<br />

Kopfschütteln erregte, wies sie darauf hin, daß Denkstruktur und Handlungsmuster von Faschismus und<br />

Stalinismus i<strong>de</strong>ntisch seien und sich nur durch ihre i<strong>de</strong>ologische Tünche voneinan<strong>de</strong>r unterschie<strong>de</strong>n. Es<br />

ist schon fast von symbolhafter Ironie, daß die Veröffentlichung von Rudolf Rockers tiefgründigem Werk<br />

über <strong>de</strong>n Gegensatz von Nationalismus und Kultur ausgerechnet durch die Machtübernahme <strong>de</strong>r Nazis<br />

verbin<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>. Es erschien erst 1949 unter <strong>de</strong>m Titel "Die Entscheidung, <strong>de</strong>s Abendlan<strong>de</strong>s". Da wur<strong>de</strong><br />

es zwar von Albert Einstein, Thomas Mann und Bertrand Russell sehr gelobt, aber die Zeit, in <strong>de</strong>r es unter<br />

<strong>de</strong>n Menschen etwas hätte bewirken können, war längst vorbei.<br />

Als 1933 die FAUD zusammen mit allen an<strong>de</strong>ren linken Organisationen zerschlagen wur<strong>de</strong>, gaben jedoch<br />

nicht alle Syndikalisten <strong>de</strong>n Kampf gegen Hitler auf. Der Wi<strong>de</strong>rstand in Deutschland, <strong>de</strong>r hauptsächlich<br />

von Exilierten aus <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>n unterstützt wur<strong>de</strong>, kostete vielen Libertären Freiheit und Leben.<br />

Viele von <strong>de</strong>nen, die damals ins Ausland fliehen konnten, fin<strong>de</strong>n wir 1936 in Spanien wie<strong>de</strong>r, wo sie eine<br />

eigene Kampfgruppe <strong>de</strong>utscher Anarchosyndikalisten gegen <strong>de</strong>n Faschismus aufstellten. Ihre Zeitung Die<br />

Soziale Revolution legt Zeugnis ab von <strong>de</strong>r letzten Bastion einer libertären Gewerkschaft, die bei <strong>de</strong>r<br />

Geburt <strong>de</strong>r ersten <strong>de</strong>utschen Republik ein Hoffnungsträger für große Teile <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Arbeiterschaft<br />

war, und die mit dieser Republik unterging.<br />

Importiertes Saatgut<br />

Der verhängnisvolle Fehlstart <strong>de</strong>r FAUD hat natürlich auch damit zu tun, daß es vor 1918 m Deutschland<br />

keine wirklich lebendige anarchistische Bewegung gab, und libertäre I<strong>de</strong>en nicht annähernd so verbreitet<br />

waren wie etwa in Spanien, Frankreich o<strong>de</strong>r Italien. Hierfür gibt es eine Reihe von Grün<strong>de</strong>n, und die<br />

weisen stets auf die merkwürdigen Ursprünge <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Anarchismus.<br />

Alle Wurzeln libertären Denkens in Deutschland führen ins Ausland. Es han<strong>de</strong>lte sich durchweg um<br />

Importware, die in gedruckter Form über die Grenzen kam, und wenn man einmal von Foignys<br />

"Südlandreise" absieht, die 1704 in <strong>de</strong>utscher Übersetzung erschien und weitgehend folgenlos blieb, so<br />

eröffnete Proudhon <strong>de</strong>n Reigen libertärer Denker, <strong>de</strong>ren I<strong>de</strong>en in Deutschland ein gewisses Echo fan<strong>de</strong>n.<br />

1844 erschien in Bern die erste <strong>de</strong>utsche Übersetzung seiner Schrift über das Eigentum, 1865 lagen von<br />

ihm bereits 20 Bän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>utscher Sprache vor und wirkten still vor sich hin. Dies geschah in erster Linie<br />

geistesgeschichtlich das heißt, in Kreisen sogenannter gebil<strong>de</strong>ter Leute, die mehr o<strong>de</strong>r weniger<br />

philosophisch, ökonomisch o<strong>de</strong>r klassenkämpferisch interessiert waren. Daß hieraus keine anarchistsiche<br />

Bewegung entstand, hat, abgesehen von <strong>de</strong>m Mißtrauen, mit <strong>de</strong>m fremdländische Gedanken in<br />

Deutschland traditionell zu kämpfen haben, im wesentlichen zwei Ursachen.<br />

321


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Die erste ist in jener beson<strong>de</strong>ren Form <strong>de</strong>s i<strong>de</strong>ologischen Papsttums zu suchen, mit <strong>de</strong>m Marx und Engels<br />

von Anfang an die Herausbildung <strong>de</strong>s Sozialismus überzogen. Gera<strong>de</strong> in Deutschland dominierten sie aus<br />

ihren starken Schlüsselpositionen heraus die Debatte und je<strong>de</strong> weitere Entwicklung. So gingen sie in<br />

scharfer Polemik gegen abweichen<strong>de</strong> Meinungen vor und versuchten nacheinan<strong>de</strong>r Feuerbach, Bauer,<br />

Stirner, Proudhon, Bakunin, Weitung, Grün, Heß und Dühring "abzumurksen", wie Engels sich<br />

ausdrückte. Auf diese Weise mangelte es <strong>de</strong>r sozialistischen Bewegung von vornherein an Vielfalt;<br />

Gegenpositionen gelangten gar nicht erst unter die Leute.<br />

Die zweite Ursache ist mit <strong>de</strong>r ersten eng verwandt, sie liefert in gewisser Weise sogar die Erklärung für<br />

das ›Phänomen Marx/Engels‹ und ihre staatstriefen<strong>de</strong> Vision vom Sozialismus. Die Deutschen sind das<br />

Produkt einer allgegenwärtigen staatlichen Erziehung und Durchdringung. Relativ spät zur Nation<br />

gewor<strong>de</strong>n, wur<strong>de</strong> ihnen nichts mehr ans Herz gelegt, als zu nationalem Ruhm und vaterländischer Größe<br />

zu streben. Fast einhun<strong>de</strong>rt Jahre lang wur<strong>de</strong> die Energie eines ganzen Volkes auf wirtschaftliche Macht,<br />

Aus<strong>de</strong>hnung, Militär und Kolonien vergeu<strong>de</strong>t. Deutschland war <strong>de</strong>r klassische "Obrigkeitsstaat". Die<br />

entsprechen<strong>de</strong>n Tugen<strong>de</strong>n waren je<strong>de</strong>m ›guten Deutschem so in die Wiege gelegt, daß er sich nichts<br />

Würdiges, Diszipliniertes und Funktionieren<strong>de</strong>s ohne Gehorsam und Staat vorstellen konnte. Das hat auch<br />

auf die <strong>de</strong>utschen Sozialisten abgefärbt. Nichts hat sie je so hart getroffen wie Bismarcks Vorwurf, sie<br />

seien "vaterlandslose Gesellen". Nicht zufällig war daher die sozialistische Bewegung in Deutschland<br />

immer in erster Linie eine autoritäre. Die staatstragen<strong>de</strong> <strong>de</strong>utsche Sozial<strong>de</strong>mokratie, erst marxistisch, dann<br />

revisionistisch*, dann opportunistisch*, war und ist bis heute weltweit das leuchten<strong>de</strong> Vorbild aller<br />

Durchschnittssozialisten.<br />

Das war kein guter Acker für die Anarchie, und so dauerte es lange, bis das importierte Saatgut aufging<br />

und libertäre Keime trieb. Ab 1874 wer<strong>de</strong>n erste anarchistische Gruppen bekannt, vornehmlich in <strong>de</strong>n<br />

größeren Städten. Es han<strong>de</strong>lt sich durchweg um sozialistische Arbeiter, für die die anarchistischen I<strong>de</strong>en<br />

einfach die ehrlichere Form <strong>de</strong>s Sozialismus sind. Sie wer<strong>de</strong>n immer wie<strong>de</strong>r polizeilich verfolgt und<br />

haben es schwer genug, ihre bloße Existenz als Gruppe zu behaupten. Ein französischer Anarchist, Victor<br />

Dave, leistet dabei wichtige organisatorische Hilfestellung. Ab 1876 erscheint in Bern die vom<br />

unermüdlichen Paul Brousse vierzehntägig herausgegebene "Arbeiterzeitung", die auch in Deutschland<br />

und Österreich verbreitet wird. Sie steht unter starkem Einfluß <strong>de</strong>r italienischen Fö<strong>de</strong>ration, die <strong>de</strong>n<br />

kommunistischen Anarchismus und <strong>de</strong>n revolutionären Aufstand predigt.<br />

1878 dienen die Attentatsversuche <strong>de</strong>r Nicht-Anarchisten Hö<strong>de</strong>l und Nobiling auf <strong>de</strong>n Kaiser zum<br />

Vorwand für das "Sozialistengesetz", das die gesamte Linksopposition verbietet. Während <strong>de</strong>r Illegalität<br />

hängen die versprengten <strong>de</strong>utschen Anarchisten erneut am Tropf <strong>de</strong>s Auslan<strong>de</strong>s: Die seit 1879 von Johann<br />

Most in London herausgegebene Freiheit, eigentlich ein sozial<strong>de</strong>mokratisches Blatt, wird zur populärsten<br />

sozialistischen Zeitung <strong>de</strong>utscher Sprache und wen<strong>de</strong>t sich zunehmend anarchistischen Positionen zu.<br />

Zum Entsetzen <strong>de</strong>r nach Zürich emigrierten Parteileitung schwingt sich das respektlose Blatt aus <strong>de</strong>r<br />

322<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

miesen Stimmung, die die Parteibasis in Deutschland befallen hatte, zu ungeahnter Popularität auf. Schon<br />

damals muckte das Fußvolk vernehmlich gegen <strong>de</strong>n Anpassungskurs <strong>de</strong>r SPD und ließ sich in<br />

gepfefferten Tira<strong>de</strong>n über Selbstherrlichkeit, Vetternwirtschaft und Professorendünkel <strong>de</strong>r Parteibeamten<br />

aus. Die legendäre Freiheit wur<strong>de</strong> auf extradünnem Papier gedruckt und auf abenteuerlichen Wegen nach<br />

Deutschland geschmuggelt. In Österreich, wo die preußischen Gesetze nicht galten, konnte das Blatt<br />

relativ offen vertrieben wer<strong>de</strong>n. Hier war es Anarchisten unter <strong>de</strong>m Einfluß von Josef Peukert gelungen,<br />

in einigen sozial<strong>de</strong>mokratischen Hochburgen Fuß zu fassen.<br />

1881 nehmen <strong>de</strong>utsche Vertreter am anarchistischen Kongreß in London teil, <strong>de</strong>ssen Absegnung <strong>de</strong>r<br />

"Propaganda <strong>de</strong>r Tat" auch unter <strong>de</strong>n marginalisierten <strong>de</strong>utschen Anarchisten ihr Echo fin<strong>de</strong>t. 1883 plant


eine Gruppe um August Reinsdorf, bei <strong>de</strong>r Einweihung <strong>de</strong>s vaterländischen Nie<strong>de</strong>rwald-Denkmals <strong>de</strong>n<br />

Kaiser mitsamt <strong>de</strong>n dort versammelten <strong>de</strong>utschen Fürsten und Bischöfen in die Luft zu sprengen. Das<br />

Attentat mißlingt, Reinsdorf wird 1885 zusammen mit seinem Gesinnungsgenossen Küchler in Leipzig<br />

enthauptet. Im gleichen Jahr ersticht Julius Lieske aus Rache <strong>de</strong>n Polizeikommissar Rumpf, <strong>de</strong>r sich bei<br />

fast allen Anarchistenverfolgungen beson<strong>de</strong>rs hervorgetan hatte. Als 1885 auch Lieske in Kassel<br />

hingerichtet wird, geht die kurze Phase <strong>de</strong>s individuellen Terrors im <strong>de</strong>utschen Anarchismus zu En<strong>de</strong>.<br />

Von einer anarchistischen Bewegung im eigentlichen Sinne aber kann noch immer keine Re<strong>de</strong> sein.<br />

Dennoch hat es in Deutschland schon vorher eine mächtige Strömung gegeben, die an-archisch war, ohne<br />

es zu ahnen. Sie steht in ihrer ganzen Wi<strong>de</strong>rsinnigkeit für die verfahrene politische Situation, in <strong>de</strong>r sich<br />

die Spätgeburt <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Anarchismus abspielte.<br />

Johann Most, anarchoi<strong>de</strong>r Volkstribun <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie<br />

Der populärste Mann, <strong>de</strong>n die Sozial<strong>de</strong>mokratische Partei jemals an <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r Arbeiterschaft hatte,<br />

hieß Johann Most. Mit fünfundzwanzig Jahren saß er als einer <strong>de</strong>r jüngsten Parlamentarier Deutschlands<br />

im Reichstag, <strong>de</strong>n er aber überhaupt nicht ernst nahm. Das "Reichskasperletheater", wie er es<br />

<strong>de</strong>spektierlich* taufte, diente ihm lediglich als Plattform, um <strong>de</strong>n Parlamentarismus in einer Weise<br />

lächerlich zu machen, die wir heute "Spaßguerilla" nennen wür<strong>de</strong>n. Nicht zuletzt <strong>de</strong>swegen war er bei <strong>de</strong>n<br />

sozial<strong>de</strong>mokratischen Arbeitern überaus beliebt. Die wählten ihn - sehr zum Verdruß <strong>de</strong>r Parteifürsten -<br />

immer wie<strong>de</strong>r und rissen sich in verschie<strong>de</strong>nen Städten gera<strong>de</strong>zu um seine Kandidatur. Seinen letzten<br />

Wahlkampf bestritt er aus einer Gefängniszelle in Plötzensee und schlug seinen bürgerlichen<br />

Gegenkandidaten im fernen Chemnitz mit vierzehntausend zu zehntausend Stimmen - und das, obwohl<br />

dieser das Gerücht ausgestreut hatte, Most habe sich im Gefängnis erhängt, und je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r ihn nicht wähle,<br />

erhalte zum Dank "Dünnbier, saure Gurken und Speck". Der gelernte Buchbin<strong>de</strong>r brachte aber nicht nur<br />

glänzen<strong>de</strong> Wahlergebnisse ein, er war auch anerkannter Spezialist für Mobilisation. Wo immer er<br />

auftauchte, sorgte er für überfüllte Vortragssäle, hochschnellen<strong>de</strong> Zeitungsauflagen, steigen<strong>de</strong><br />

Mitgliedszahlen und die tollsten<br />

323<br />

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Demonstrationen, die das Kaiserreich je erlebte. Wenn Most zum Aufmarsch rief, gab es keine ö<strong>de</strong>n<br />

Trauermärsche, son<strong>de</strong>rn provokante Happenings, kunstvoll inszeniert, mit peinlichen Fallen für<br />

Gendarmen und Bürger. Berüchtigt war die ironische Schärfe und die anschauliche, einfache Sprache, die<br />

er in seinen Re<strong>de</strong>n und Schriften pflegte. Als Redakteur <strong>de</strong>r Chemnitzer Freien Presse, <strong>de</strong>r Berliner Freien<br />

Presse und <strong>de</strong>r Süd<strong>de</strong>utschen Volksstimme war er ein ebenso populärer Verbreiter subversiver I<strong>de</strong>en wie<br />

als Verfasser kleiner Agitationsbroschüren, die so provozieren<strong>de</strong> Titel trugen wie "Die Gottespest* o<strong>de</strong>r<br />

"Die Eigentumsbestie". Sie erreichten Massenauflagen, gera<strong>de</strong>so wie das im Gefängnis verfaßte Büchlein<br />

"Kapital und Arbeit", in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r ehemalige Handwerksgeselle <strong>de</strong>n Inhalt von Marxens unverdaulichem<br />

werk "Das Kapital" in die Sprache <strong>de</strong>r einfachen Leute übertrug.<br />

All das geschah in <strong>de</strong>n siebziger Jahren, vor <strong>de</strong>m Sozialistengesetz. Most war damals kein Anarchist,<br />

son<strong>de</strong>rn Sozial<strong>de</strong>mokrat. Er war es genau <strong>de</strong>shalb, weil es in Deutschland fast überall Sozial<strong>de</strong>mokraten<br />

gab und so gut wie keine Anarchisten. Von seinem Temperament jedoch, ebenso wie von seinen<br />

Ansichten und seinem rebellischen Lebenslauf her scheint er <strong>de</strong>r geborene Anarcho gewesen zu sein.<br />

Aber we<strong>de</strong>r ahnte er, daß dieses passen<strong>de</strong> Wort für seine Einstellung existierte, noch, daß es eine<br />

dazugehörige Bewegung gab. Über dreißig Jahre sollte es dauern, bis er diese Ent<strong>de</strong>ckung machte. In<br />

seinen Memoiren erinnert er sich, daß er zwar schon 1867 im Schweizer Jura "bakunistische Arbeiter"<br />

kennenlernte, aber auch die nannten sich damals noch schlicht "Sozialisten". Deren Ansichten allerdings<br />

gaben seinem Sozialismus die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Prägung. ›Anarchisten‹ aber, so schreibt er, habe er damals<br />

we<strong>de</strong>r in Österreich noch in Deutschland jemals getroffen. Das wirft ein bezeichnen<strong>de</strong>s Licht auf <strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>solaten Zustand <strong>de</strong>r vereinzelten libertären Grüppchen und darauf, wie fest die Sozial<strong>de</strong>mokratie <strong>de</strong>n<br />

politischen Zeitgeist im Griff hatte.


Interessant an dieser ganzen Geschichte ist aber nicht sosehr das Schicksal eines verirrten linksradikalen<br />

Agitationstalentes, son<strong>de</strong>rn das enorme Echo, das ausgerechnet einer wie Most in <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie<br />

fand. Wenn ein begabter Agitator wie ein Anarcho auftritt und damit zum populärsten Sozi wird, wenn<br />

jemand mit antiparlamentarischer Veralberung parlamentarische Triumphe erzielt, wenn sich Arbeiter für<br />

Aktionen begeistern, die so gar nicht ins Konzept <strong>de</strong>r seriösen Arbeiterpartei passen, dann kann einiges<br />

von <strong>de</strong>m, was zu offiziellen Wahrheiten <strong>de</strong>r Sozialgeschichte gewor<strong>de</strong>n ist, nicht recht stimmen. Zum<br />

Beispiel, daß <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Arbeiter stets bie<strong>de</strong>r und mo<strong>de</strong>rat gewesen sei, Ruhe und Ordnung liebend und<br />

für Revolutionen nicht zu haben. Mosts sagenhafte Popularität läßt da an<strong>de</strong>re Schlüsse zu. Wenn unterm<br />

Strich am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r angepaßte Arbeitnehmer herausgekommen ist <strong>de</strong>n wir alle kennen, dann ist die<br />

Sozial<strong>de</strong>mokratie für diesen Saldo verantwortlich. Sie hat sich systematisch genau die Arbeiterschaft<br />

herangez&uuml;chtet, die sie brauchte: Wählerpotential. Daß die <strong>de</strong>utschen Proletarier 1914 lammfromm<br />

in <strong>de</strong>n Krieg marschierten o<strong>de</strong>r 1935 nicht gegen Hitler aufstan<strong>de</strong>n, hat die "Führerin <strong>de</strong>r Arbeiterklasse"<br />

nicht nur zu vertreten, sie hat es so gewollt.<br />

Das, was Johann Most unter ›Sozialismus‹ verstand, war zu seiner Zeit in <strong>de</strong>r SPD so normal wie nur<br />

irgen<strong>de</strong>twas. So wie er fühlte, sprach und han<strong>de</strong>lte, so dachten damals<br />

324<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Millionen sozial<strong>de</strong>mokratischer Arbeiter. Bis zum Sozialistengesetz war dies, bringt man die<br />

Manipulationen <strong>de</strong>r Parteileitung in Anrechnung, vielleicht sogar die Mehrheitsmeinung in <strong>de</strong>r SPD. Für<br />

die Partei aber war das Sozialistengesetz eine willkommene Gelegenheit, sich ihres lästigen linken<br />

Flügels zu entledigen. Nach Aufhebung <strong>de</strong>s Verbots war die SPD geläutert und reif für eine staatstragen<strong>de</strong><br />

Rolle.<br />

Als Johann Most sich um 1880 <strong>de</strong>finitiv zum Anarchisten wan<strong>de</strong>lte, lebte er bereits im Exil und hatte<br />

kaum noch direkten Einfluß auf die <strong>de</strong>utsche Arbeiterbewegung. Als sich die Anarchisten schließlich zu<br />

einem Standpunkt bequemten, <strong>de</strong>r für Most und seine Anhänger von 1875 attraktiv gewesen wäre, war<br />

dieser bereits tot - ebenso wie die kämpferische <strong>de</strong>utsche Arbeiterschaft, in <strong>de</strong>r er sich einst bewegte. So<br />

wur<strong>de</strong> er als Sozialist zu spät und als Anarchist zu früh geboren. Wäre <strong>de</strong>r Anarchismus in Deutschland<br />

etwas zeitiger aus <strong>de</strong>n Startlöchern gekommen, hätte jemand wie Most ihm womöglich die Popularität<br />

verschaffen können, die stets so bitter fehlte. An Sympathien in <strong>de</strong>r Arbeiterschaft hätte es je<strong>de</strong>nfalls nicht<br />

gemangelt.<br />

Gustav Landauer: tiefsinnige Konsequenzen<br />

Als 1890 das Sozialistengesetz fiel, feierte die SPD ihre Auferstehung, hinreichend angepaßt m<br />

sozialreformerischen Stimmviehpartei. Zwar war sie auch jetzt noch nicht von innerer Opposition befreit,<br />

<strong>de</strong>nn eine neue politische Generation war herangewachsen, die mit Kritik nicht sparte. Aber diesmal war<br />

es eine Min<strong>de</strong>rheit, mit <strong>de</strong>r man kurzen Prozeß machen konnte. Auf <strong>de</strong>m Kongreß von Erfurt wird<br />

praktisch die gesamte linke Opposition aus <strong>de</strong>r Partei entfernt. Diese Gruppe, im Parteijargon<br />

bezeichnen<strong>de</strong>rweise "Die Jungen" genannt, zieht es jedoch vor, sich zu organisieren: 1891 grün<strong>de</strong>n sie<br />

<strong>de</strong>n "Verein unabhängiger Sozialisten". Aus dieser Dissi<strong>de</strong>ntenbewegung <strong>de</strong>r "Jungen" regeneriert sich<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Anarchismus zu seinem zweiten Anlauf, aus <strong>de</strong>m in <strong>de</strong>r Weimarer Republik dann seine erste<br />

Blüte hervorging. Rudolf Rocker hat hier seine politischen Wurzeln, und er gehört 1897 zu <strong>de</strong>n<br />

Gründungsmitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r "Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften", <strong>de</strong>m Vorläufer <strong>de</strong>r FAUD.<br />

Seine Person steht für eine Fortführung <strong>de</strong>r klassischen anarchistischen Position, die eng mit <strong>de</strong>r<br />

Arbeiterschaft verbun<strong>de</strong>n bleibt und <strong>de</strong>ren Fa<strong>de</strong>n uns direkt zu <strong>de</strong>n Dortmun<strong>de</strong>r Ereignissen von 1919<br />

führt. In diesem Umfeld entstehen noch vor <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> die ersten größeren libertären<br />

Zeitungen Deutschlands, die nicht vom Ausland abhängen: Die Einheit, Neues Leben, Der Freie Arbeiter.<br />

Ansonsten war man überwiegend auf die Mostsche Freiheit angewiesen, die nun aus <strong>de</strong>n USA kam, viel<br />

gelesen wur<strong>de</strong> und bis 1910 erschien. Mit einer Ausnahme, <strong>de</strong>r allerdings wenig Beachtung geschenkt<br />

wur<strong>de</strong>:


Die jungen SPD-Dissi<strong>de</strong>nten hatten bereits 1891, unmittelbar nach ihrem Bruch mit <strong>de</strong>r Partei, ein<br />

unscheinbares Blatt namens Der Sozialist gegrün<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>ssen Schriftleitung wenig später ein<br />

zweiundzwanzigjähriger Anarchist übernimmt: Gustav Landauer.<br />

Der ehemalige Philosophie- und Germanistikstu<strong>de</strong>nt profiliert sich als brillanter Autor und macht die<br />

kleine Zeitung zu einer vielbeachteten Tribüne sozialistischer Diskussion<br />

325<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

und anarchistischer Erneuerung. Dabei geht er einen an<strong>de</strong>ren Weg als Rocker. Landauer ist nicht <strong>de</strong>r<br />

populäre Massenorganisator, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r sensible Denker. Ihm liegt die Gemeinschaft geistig gefestigter,<br />

selbständig han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Individuen näher als die kollektive Anonymität <strong>de</strong>r Gewerkschaften. Ausgehend<br />

vom Versagen <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie entwickelt er in <strong>de</strong>n nächsten zwanzig Jahren ein eigenständiges<br />

anarchistisches Gedankengebäu<strong>de</strong>, das die Grenzen <strong>de</strong>r Arbeiterbewegung erkennt, die Gefahren<br />

i<strong>de</strong>ologischer Vereinnahmung benennt und eine strenge Trennungslinie zwischen Gesellschaft und Staat<br />

zieht. Seine Kritik richtet sich gegen das geistlose wilhelminische Deutschland ebenso wie gegen <strong>de</strong>ssen<br />

Sozial<strong>de</strong>mokraten, spart aber auch die Anarchisten nicht aus. Landauer entwickelt einen ethischen<br />

Sozialismus, an <strong>de</strong>ssen Beginn das "Ich" stehen müsse, das erst "durch Abson<strong>de</strong>rung zur Gemeinschaft<br />

fin<strong>de</strong>n" könne. Solidarisches Han<strong>de</strong>ln setze eine kritische Selbstreflexion voraus, erst dann könne ein<br />

kommunitäres Miteinan<strong>de</strong>r angegangen wer<strong>de</strong>n, wobei auch kleine Verän<strong>de</strong>rungen im Lebensbereich <strong>de</strong>s<br />

Einzelnen ihre Wichtigkeit hätten. Einfacher ausgedrückt be<strong>de</strong>utet das, daß Menschen, die sich selbst<br />

nicht än<strong>de</strong>rn, auch keine ›Revolution machen‹ können, und daß diese Verän<strong>de</strong>rung sofort beginnen kann<br />

und muß. Es scheint fast so, als hätte Landauer die ›Reifeprobleme‹, die die FAUD in <strong>de</strong>n zwanziger<br />

Jahren beklagen wird, genau vorausgesehen.<br />

Landauer ist nicht nur <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Schwäche <strong>de</strong>s zeitgenössischen Anarchismus die<br />

weitreichendsten Konsequenzen zog, in<strong>de</strong>m er ihre tieferen Ursachen analysierte; er ist wohl auch <strong>de</strong>r<br />

tiefgreifendste anarchistische Philosoph, <strong>de</strong>n Deutschland je hervorgebracht hat. Die Bandbreite seines<br />

Schaffens geht weit über das bei Anarchisten übliche Maß hinaus. Neben sachlich gehaltenen<br />

programmatischen Schriften wie "Ein Weg zur Befreiung <strong>de</strong>r Arbeiterklasse", "Die Revolution" o<strong>de</strong>r<br />

"Aufruf zum Sozialismus" widmet sich Landauer auch <strong>de</strong>r Belletristik, <strong>de</strong>r Literaturwissenschaft und<br />

einem kritischem Mystizismus. Die Wege <strong>de</strong>r Erkenntnis und Mittel <strong>de</strong>r Verbreitung sind bei ihm<br />

vielfältig: er schreibt Romane, übersetzt Shakespeare, beschäftigt sich mit jüdischer und mittelalterlicher<br />

Mystik, Erkenntnistheorie und Sprachkritik. Dennoch wird er nicht zum abgehobenen Schöngeist,<br />

son<strong>de</strong>rn bleibt in erster Linie Praktiker, <strong>de</strong>r etwas verän<strong>de</strong>rn will. Seinen ›projektanarchistischen‹ Beitrag,<br />

<strong>de</strong>n Sozialistischen Bund, haben wir bereits vorgestellt1; in einem zweiten praktischen Experiment, <strong>de</strong>m<br />

sich <strong>de</strong>r sanfte Anarchist mit aller Konsequenz verschrieb, sollte er einen tragischen Tod fin<strong>de</strong>n.<br />

Die Münchner Räterepublik<br />

Die Novemberrevolution stürzte in Bayern die Dynastie <strong>de</strong>s Hauses Wittelsbach und machte das<br />

Königreich zum Freistaat. Zum Ministerpräsi<strong>de</strong>nten wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Vorsitzen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Arbeiter- und<br />

Soldatenrates, Kurt Eisner, gewählt - ein aufrechter Sozialist, Kriegsgegner und Mitglied <strong>de</strong>r USPD.<br />

Eisner stand libertären I<strong>de</strong>en mit Sympathie gegenüber und war mit einigen bekannten Anarchisten<br />

befreun<strong>de</strong>t. Sein politisches Programm sah ein behutsames Übergangsmo<strong>de</strong>ll aus Räte<strong>de</strong>mokratie und<br />

Parlament vor, das vor allem <strong>de</strong>m starken<br />

1) Siehe Kapitel 33!<br />

326


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politischen Gefälle zwischen <strong>de</strong>n großen Städten und <strong>de</strong>m flachen Land Rechnung tragen sollte. Er<br />

mißtraute <strong>de</strong>m plötzlichen Stimmungsumschwung und <strong>de</strong>r vergänglichen Euphorie revolutionärer<br />

Massen‹. So versuchte er alles, um im Freistaat eine sozialistische Entwicklung in Gang zu setzen, die auf<br />

möglichst breiter Basis stehen sollte. Zu diesem Aufbauwerk gelang es Eisner, einige bekannte Libertäre<br />

zu gewinnen, so <strong>de</strong>n Alternativökonomen Silvio Gesell und Gustav Landauer. Die recht aktive Szene <strong>de</strong>r<br />

Münchner Anarchisten und Linkssozialisten hatte ohnehin aktiv am Umsturz teilgenommen und war<br />

bereits in <strong>de</strong>n diversen Räten und Ausschüssen vertreten. Zu ihnen zählten neben Erich Mühsam auch <strong>de</strong>r<br />

später unter <strong>de</strong>m Pseudonym B. Traven berühmt gewor<strong>de</strong>ne Schriftsteller Ret Marut sowie <strong>de</strong>r<br />

Dramatiker Ernst Toller.<br />

Landauer, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>m unblutigen Verlauf <strong>de</strong>r Revolution in München begeistert war, stellte sich voller<br />

Elan seiner neuen Aufgabe, die Eisner etwas blumig als "rednerische Betätigung an <strong>de</strong>r Umbildung <strong>de</strong>r<br />

Seelen" umschrieb. Den Umsturz in Süd<strong>de</strong>utschland hielt Landauer für tiefgreifen<strong>de</strong>r als an<strong>de</strong>rswo und<br />

sah gute Chancen zu einer Umgestaltung im libertären Sinne. Schon 1911 hatte er in seinem Pamphlet<br />

"Abschaffung <strong>de</strong>s Krieges durch die Selbstbestimmung <strong>de</strong>s Volkes" geschrieben: "We<strong>de</strong>r Regierungen<br />

noch Partei-Bürokraten sollten für das Volk sprechen und <strong>de</strong>nken. Die wahren Schlachten <strong>de</strong>r Völker<br />

wer<strong>de</strong>n im Unsichtbaren geschlagen; nicht Haß und Gewalt schlagen sie, son<strong>de</strong>rn Liebe und Arbeit." Dies<br />

umzusetzen schien ihm nun möglich, und er nutzte die wenigen Monate, die <strong>de</strong>m revolutionären Freistaat<br />

vergönnt waren, zu emsiger Tätigkeit. Sein Hauptaugenmerk war dabei auf die Stärkung einer<br />

<strong>de</strong>mokratischen Rätekultur gerichtet, die eine direkte Beteiligung möglichst vieler Menschen<br />

gewährleisten sollte. Seinem Wirkungskreis entsprechend knüpfte Landauer hierbei die Kontakte, die ihn<br />

dann in <strong>de</strong>r Räterepublik zur Übernahme <strong>de</strong>s Kulturressorts prä<strong>de</strong>stinierten*.<br />

Vor allem mußte die junge Bewegung versuchen, ihre soziale Basis zu erweitern. Die war außerhalb<br />

Münchens, Ingolstadts, Nürnbergs und Augsburgs sehr schwach. Selbst in <strong>de</strong>r Hauptstadt konnte sie sich<br />

neben einigen bekannten Intellektuellen nur auf die radikalisierten Soldaten und die Arbeiterschaft stützen<br />

- und selbst die war gespalten. Die SPD <strong>de</strong>s rechten Flügels trat zwar <strong>de</strong>r Regierung bei, aber nur, um von<br />

dieser Position aus je<strong>de</strong> revolutionäre Verän<strong>de</strong>rung zu hintertreiben. Wie überall im Reich agitierte sie in<br />

<strong>de</strong>n Fabriken gegen die Räte und torpedierte alle Initiativen <strong>de</strong>r Regierung Eisner, <strong>de</strong>r sie selbst<br />

angehörte. Die Unternehmerschaft polemisierte gegen Sozialisierungsvorhaben, rechte Professoren und<br />

national gesinnte Stu<strong>de</strong>nten wi<strong>de</strong>rsetzten sich <strong>de</strong>r Hochschulreform, die bürgerliche Presse rief zum<br />

Wi<strong>de</strong>rstand. Die Reaktion begann sich zu sammeln und bereitete sich darauf vor, die Ereignisse<br />

zurückzudrehen. Im Hintergrund drehte die SPD fleißig mit. Es gärte. Stimmen wur<strong>de</strong>n laut, die<br />

Revolution endlich zu vollen<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n Freistaat in eine echte Räterepublik zu verwan<strong>de</strong>ln; an<strong>de</strong>re<br />

plädierten dafür, die Ziele <strong>de</strong>r Bewegung besser zu vermitteln und verstärkt für sie zu werben. Das ging<br />

aber kaum in wenigen Wochen, <strong>de</strong>nn für <strong>de</strong>n 12. Januar waren allgemeine Wahlen angesetzt.<br />

Erwartungsgemäß siegten SPD und Bürgerliche im bayerischen Lan<strong>de</strong>sdurchschnitt mit klarer Mehrheit.<br />

327<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Am 21. Februar wird Kurt Eisner auf <strong>de</strong>m Weg in <strong>de</strong>n Landtag, wo er seinen Rücktritt bekanntgeben<br />

wollte, von einem rechtsnationalen Offizier ermor<strong>de</strong>t. Es kommt zu Tumulten, das Parlament löst sich<br />

auf, ein provisorischer Zentralrat wird gebil<strong>de</strong>t. Die Frage, die sich <strong>de</strong>n revolutionären Kräften nun stellt,<br />

heißt: aufgeben o<strong>de</strong>r durchstarten? In München scheint die Selbstverwaltung nach wie vor populär - in<br />

Bayern aber, das weiß man nun, sind ihre Anhänger hoffnungslos in <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rheit. Die Räte stellen<br />

diese Frage auf einer öffentlichen Massenversammlung zur Entscheidung. Die Proklamation einer<br />

Räterepublik wird beschlossen, und zwar als "notwendige Bedingung zur Weiterführung <strong>de</strong>r Revolution".<br />

Nach zähen Verhandlungen zwischen SPD, USPD, Bauernbund, <strong>de</strong>r Armee, <strong>de</strong>n revolutionären<br />

Körperschaften und <strong>de</strong>r neugegrün<strong>de</strong>ten KPD um die künftige Struktur wird am 7. April die Räterepublik<br />

ausgerufen. Im Proklamationsmanifest, mit <strong>de</strong>ssen Formulierung Landauer und Mühsam beauftragt<br />

wur<strong>de</strong>n, heißt es unter an<strong>de</strong>rem: "Baiern ist Räterepublik. Das werktätige Volk ist Herr seines Geschickes.


Die revolutionäre Arbeiterschaft und Bauernschaft Baierns, durch keine Parteigegensätze mehr getrennt,<br />

sind sich einig, daß von nun an jegliche Ausbeutung und Unterdrückung ein En<strong>de</strong> haben muß."<br />

Angestrebt wer<strong>de</strong> "die Verwirklichung eines wahrhaft sozialistischen Gemeinwesens, in <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r<br />

arbeiten<strong>de</strong> Mensch sich am öffentlichen Leben beteiligen soll".<br />

Das "En<strong>de</strong> jeglicher Unterdrückung" jedoch blieb ein frommer Wunsch. In Bamberg habe sich bereits<br />

eine konservative Gegenregierung gebil<strong>de</strong>t, die auf Eberts Unterstützung rechnen konnte. Der allzeit<br />

bereite Noske drängte auf die ›Befreiung‹ Münchens. Die Bayerische Republik und das Reich lösten ihre<br />

diplomatischen Beziehungen.<br />

Die wenigen Wochen, die <strong>de</strong>m Experiment noch blieben, zeugen von atemloser Betriebsamkeit - alles,<br />

was bisher versäumt wur<strong>de</strong>, sollte nun angepackt wer<strong>de</strong>n: Die ausländischen Kriegsgefangenen wur<strong>de</strong>n<br />

befreit, die Banken besetzt, Presse und Bergbau sozialisiert, die Lebensmittelverteilung kontrolliert, die<br />

Polizei entwaffnet und eine Verteidigungsarmee aufgestellt. Man beschlagnahmte die zahlreichen<br />

Spekulationsgrundstücke zum Zwecke <strong>de</strong>s Wohnungsbaus und quartierte kin<strong>de</strong>rreiche Arbeiterfamilien in<br />

Industriellenvillen ein. Sogar ein "Revolutionstribunal" wur<strong>de</strong> eingerichtet. Die meisten vor ihm<br />

verhan<strong>de</strong>lten Fälle en<strong>de</strong>ten übrigens mit Freispruch, das härteste Urteil lautete auf zwei Jahre Gefängnis.<br />

Silvio Gesell war nun "Volksbeauftragter für Finanzen" gewor<strong>de</strong>n und begann eine Wirtschaftsreform auf<br />

<strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>s Freigel<strong>de</strong>s1. Das Bankgeheimnis wur<strong>de</strong> aufgehoben, Abhebungen eingeschränkt und<br />

Bestimmungen zur Sozialisierung <strong>de</strong>r Geldinstitute erarbeitet. Gustav Landauer übernahm als<br />

"Volksbeauftragter für Volksaufklärung" die Arbeit <strong>de</strong>s ehemaligen Kultusministeriums. Im Schulwesen,<br />

im Theater, an <strong>de</strong>n Hochschulen, in <strong>de</strong>r bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Kunst, <strong>de</strong>n Bibliotheken und <strong>de</strong>r Architektur brachte er<br />

Projekte auf <strong>de</strong>n Weg, die nicht einfach vom Ministerium angeordnet, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>n<br />

Selbstverwaltungskörperschaften gestaltet wer<strong>de</strong>n sollten. Er wur<strong>de</strong> damit vermutlich zum Vater <strong>de</strong>r<br />

ersten bayerischen Behör<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>zentralem Arbeitsstil.<br />

All das hört sich gewiß gut an, aber dieses sympathische Experiment stand wie auf einer<br />

1) Vergleiche Kapitel 14!<br />

328<br />

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schmelzen<strong>de</strong>n Eisscholle. Die Wahlen hatten gezeigt, daß man <strong>de</strong>m Willen <strong>de</strong>r schweigen<strong>de</strong>n Mehrheit<br />

zuwi<strong>de</strong>rhan<strong>de</strong>lte. Deshalb hofften die Revolutionäre, durch das praktische Beispiel zu überzeugen. Aber<br />

selbst unter ihnen herrschte Uneinigkeit. Der KPD war diese "Scheinräterepublik" nicht proletarisch<br />

genug, und sie verweigerte die Mitarbeit - vermutlich, weil ihre Partei nicht die Führungsrolle spielte. Das<br />

än<strong>de</strong>rte sich, als am 13. April ein blutiger Putsch <strong>de</strong>r Bamberger Gegenregierung nie<strong>de</strong>rgeschlagen wird.<br />

Nun übernimmt die KPD die Macht, und unter Eugen Levine als Zentralratsvorsitzen<strong>de</strong>m beginnt die<br />

zweite und letzte Phase <strong>de</strong>r Räterepublik. Ihre Losung lautet "Diktatur <strong>de</strong>s Proletariats", ihre Aktivitäten<br />

erschöpfen sich in einem Generalstreik, <strong>de</strong>r Entwaffnung <strong>de</strong>s Bürgertums und <strong>de</strong>m Versuch, die<br />

militärische Verteidigung zu organisieren. Aber die fünfzehntausend Münchner "Rotarmisten" hatten<br />

gegen die fünfundvierzigtausend Reichswehr- und Freikorpssoldaten keine Chance. Am 3. Mai fällt die<br />

Lan<strong>de</strong>shauptstadt. Mit <strong>de</strong>r Räterepublik sterben fast tausend ihrer Anhänger. Unter ihnen befin<strong>de</strong>t sich<br />

auch Gustav Landauer. Er en<strong>de</strong>t am 2. Mai 1919 im Hof <strong>de</strong>s Gefängnisses Sta<strong>de</strong>lheim unter <strong>de</strong>n<br />

Fußtritten und Kolbenschlägen <strong>de</strong>r siegestrunkenen Soldateska.<br />

Erich Mühsam: das En<strong>de</strong><br />

Mit <strong>de</strong>rselben Amnestie, die <strong>de</strong>n vorbestraften österreichischen Putschisten Adolf Hitler in Freiheit setzte,<br />

wur<strong>de</strong> 1924 auch Erich Mühsam aus <strong>de</strong>r Festungshaft entlassen. Genau zehn Jahre später war Hitler<br />

Reichskanzler und Mühsam eine Leiche in einem "Konzentrationslager". Ein neues Wort, das die Welt<br />

noch zu lernen hatte.


Nach <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschlagung <strong>de</strong>r Räterepublik war Mühsam zu einer Freiheitsstrafe von fünfzehn Jahren<br />

verurteilt wor<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>n wenigen Jahren, die er noch zu leben hatte, wur<strong>de</strong> dieser rothaarige<br />

Wuschelkopf zum bekanntesten und beliebtesten Anarchisten <strong>de</strong>r Weimarer Republik. Zu seiner<br />

Popularität trugen neben <strong>de</strong>r Standhaftigkeit, mit <strong>de</strong>r er zu seiner Überzeugung stand, vor allem seine<br />

einprägsamen Couplets, Gedichte und Gassenhauer bei. Der vielseitige Apothekersohn, <strong>de</strong>n man getrost<br />

als Bohemien, Revolutionär, Organisator, Verleger, Redakteur, Theoretiker, Zeichner, Komponist,<br />

Satiriker o<strong>de</strong>r Agitationsredner bezeichnen durfte, war nämlich vor allem an<strong>de</strong>ren Dichter.<br />

1905 kommt <strong>de</strong>r anarchisierend umherschweifen<strong>de</strong> Mühsam in Berlin mit Gustav Landauer zusammen,<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Kaffeehaussozialisten zum überzeugten Anarchisten macht. Zuvor hatte er die Wochenschrift Der<br />

arme Teufel herausgegeben, nun schreibt er mit zunehmend spitzer Fe<strong>de</strong>r und satirischem Zungenschlag<br />

in größeren Publikumszeitschriften: Welt am Montag, Gesellschaft, Jugend und <strong>de</strong>m Simplicissimus. Als<br />

er sich vor <strong>de</strong>m Ersten Weltkrieg für Landauers "Sozialistischen Bund" engagiert, hat er sich bereits einen<br />

Namen gemacht, ohne sich jedoch wie ein arrivierter Schriftsteller zu gebär<strong>de</strong>n. Seine beschei<strong>de</strong>nen<br />

Honorare fließen in eine Zeitschrift von beachtlichem Niveau: <strong>de</strong>n 1911 gegrün<strong>de</strong>ten Kain,<br />

avantgardistische Tribüne für Kultur und Politik mit <strong>de</strong>m bezeichnen<strong>de</strong>n Untertitel "Zeitschrift für<br />

Menschlichkeit". Unter <strong>de</strong>m Eindruck <strong>de</strong>s Weltkrieges stellt er das Blatt ein, nur, um es im November<br />

1918 sofort wie<strong>de</strong>r aufleben zu lassen, als ihn die Revolution<br />

329<br />

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aus <strong>de</strong>m Gefängnis befreite. Dort saß <strong>de</strong>r inzwischen zu konsequenter Antikriegsaktion tendieren<strong>de</strong><br />

Mühsam ein, weil er im Frühjahr einen Streik <strong>de</strong>r Munitionsarbeiter unterstützt hatte. Der Kain, nunmehr<br />

im Großformat und mit hoher Auflage, begleitete Mühsams kurze aber prägen<strong>de</strong> Rolle während <strong>de</strong>r<br />

Räterepublik und vermittelte <strong>de</strong>n Standpunkt <strong>de</strong>r beteiligten Anarchisten.<br />

Nach <strong>de</strong>r Haftentlassung im Jahre 1924 läßt sich Mühsam in Berlin nie<strong>de</strong>r und engagiert sich als Redner<br />

<strong>de</strong>r "Roten Hilfe" für das Los <strong>de</strong>r politischen Gefangenen. Als Folge seiner Isolation in <strong>de</strong>r Festung<br />

Landsberg fin<strong>de</strong>t er sich zunächst nur schwer in <strong>de</strong>r verän<strong>de</strong>rten politischen Welt zurecht. Länger als<br />

an<strong>de</strong>re Anarchisten liebäugelt er mit Rußland und <strong>de</strong>r KPD. 1926 kehrt er, politisch wie publizistisch, zu<br />

seinen Wurzeln zurück und grün<strong>de</strong>t die Monatsschrift Fanal. Sie knüpft an die Tradition <strong>de</strong>s Kain an,<br />

wird aber zunehmend zum Sprachrohr gegen <strong>de</strong>n anwachsen<strong>de</strong>n Faschismus. Mühsam, <strong>de</strong>r vor allem bei<br />

<strong>de</strong>r libertären Jugend Anklang fin<strong>de</strong>t, sieht zunehmend <strong>de</strong>n Untergang von Kultur und Freiheit - und<br />

damit seinen eigenen - voraus. Neben seinem literarischen Schaffen dominiert fortan die politische<br />

Analyse: Reflexionen, Appelle, Aufrufe, zunehmend warnen<strong>de</strong>r und verzweifelter, aber auch nie ohne Biß<br />

und Ironie. Bis zuletzt hoffte Mühsam auf eine Einheitsfront im Kampf gegen <strong>de</strong>n geistlosen und<br />

gefühllosen Faschismus, <strong>de</strong>r in Deutschland unter <strong>de</strong>m bigotten* Etikett "Nationalsozialismus" auftrat.<br />

Als die Nazis 1933 <strong>de</strong>n Weimarer Staat aus <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n seiner Repräsentanten übernehmen, gehört Erich<br />

Mühsam zu <strong>de</strong>nen, die mit <strong>de</strong>r ersten Verhaftungswelle die neu eingerichteten Konzentrationslager füllen.<br />

Vollbärtiger, linksradikaler Ju<strong>de</strong>, Intellektueller und Brillenträger, Münchner "Novemberverbrecher" -<br />

Mühsam ist die leben<strong>de</strong> Karikatur aller Feindbil<strong>de</strong>r von SA und SS. Man schlägt, tritt, bespuckt und<br />

verhöhnt ihn, bricht ihm die Daumen, zertritt seine Brille. In <strong>de</strong>r Nacht zum 10. Juli 1934 zerren ihn die<br />

Wachleute von seiner Pritsche, fesseln ihn und hängen ihn an einem Balken <strong>de</strong>r Latrine <strong>de</strong>s<br />

Konzentrationslagers Oranienburg auf.<br />

Literatur: Ulrich Linse: Organisierter Anarchismus im Deutschen Kaiserreich Berlin 1969, Duncker &<br />

Humboldt, 410 S. / <strong>Horst</strong> Karasek: Belagerungszustand! Reformisten und Radikale unter <strong>de</strong>m<br />

Sozialistengesetz Berlin 1978, Wagenbach, 158 S., ill./ <strong>de</strong>rs.; Propaganda und Tat Frankfurt/M. o.J., Freie<br />

Gesellschaft, 148 S. /Johann Most: Schriften (3 B<strong>de</strong>., hrsg. v. Volker Szmula) Grafenau 1988-92,<br />

Trotz<strong>de</strong>m, 761 S. / Rudolf Rocker: Johann Most: das Leben eines Rebellen Berlin 1984, P}8, 508 S. /<br />

<strong>de</strong>rs.; Aus <strong>de</strong>n Memoiren eines <strong>de</strong>utschen Anarchisten Frankfurt/M. 1974, Suhrkamp, 401 S. / <strong>de</strong>rs.: Die<br />

Entscheidung <strong>de</strong>s Abendlan<strong>de</strong>s (2 B<strong>de</strong>.) Hamburg 1949, Hammonia, 749 S, / Peter Wienand: Rudolf<br />

Rocker - Der 'geborene' Rebell Berlin 1981, Karin Kramer, 471 S. / <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: November iyi8


Wetzlar 1979, An-Arehia, 7} S., ill. / <strong>de</strong>rs.: Sechs Stun<strong>de</strong>n Arbeit (29 S., zu ›Dortmund‹) in; Leben ohne<br />

Chefund Staat, vgl. Kap. 50! / <strong>de</strong>rs.; Der Plüschsessel (23 S., zu Most), ebda. / Hans M. Bock: Geschichte<br />

<strong>de</strong>s 'Linken Radikalismus^ in Deutschland Frankfurt/M. 1976, Suhrkamp, 370 S. / Angela Vogel: Der<br />

<strong>de</strong>utsche Anarchosyndikalismus Berlin 1977, Karin Kramer, 312 S. / Hartmut Rübner: Freiheit und Brot -<br />

die FA U D Berlin 1994, Libertad, 317 S. / Ulrich Klemm, Dieter Nelles: Es lebt noch eine Flamme<br />

Grafenau 1986, Trotz<strong>de</strong>m, 368 S. / Ernst Friedrich; Vom Frie<strong>de</strong>nsmuseum zur Hitlerkaserne Berlin 1978,<br />

Libertad, 237 S., ill./ <strong>de</strong>rs.: Krieg <strong>de</strong>m Kriege! Frankfurt/M. 1980, Zweitausen<strong>de</strong>ins, 252 S., ill. / Arno<br />

Maierbrugger: Die Presse <strong>de</strong>r [dt.] Anarchisten 1890 - 1933 Grafenau 1991, Trotz<strong>de</strong>m, 214 S., ill, /<br />

Gustav Landauer: Auch die Vergangenheit ist Zukunft (Essays, hrsg. v. Siegbert Wolf) Frankfurt/M.<br />

1989, Luchterhand, 301 S. / Ulrich Linse: Gustav Landauer und die Revolutionszeit Berlin 1974, Karin<br />

Kramer, 298 S. / Günter Hillmann (Hrsg.): Die Rätebewegung (2B<strong>de</strong>.) Reinbek 1971/72, Rowohlt, 250 u.<br />

219 S. / Michael Seligmann: Aufstand <strong>de</strong>r Räte (2 B<strong>de</strong>.) Grafenau 1989, Trotz<strong>de</strong>m, 711 S. / Kurt Eisner:<br />

Die halbe Macht <strong>de</strong>n Räten Köln 1969, Hegner, 292 S. / Erich Mühsam; Ich bin verdammt zu warten in<br />

einem Bürgergarten (Literarische u. politische Aufsätze, Hrsg. v. Wolfgang Haug, 2 B<strong>de</strong>.) Darmstadt<br />

1983 , Luchterhand, 197 u. 183 S. / Wolfgang Haug: Erich Mühsam - Schriftsteller und Revolutionär<br />

Reutlingen 1979, Trotz<strong>de</strong>m, 204 S.<br />

330<br />

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Kapitel 36<br />

Neubeginn auf Trümmern<br />

Wollen wir an 1933 anschließen? Nein!<br />

Nachahmung o<strong>de</strong>r Neugestaltung,<br />

das ist das Problem.<br />

- Otto Reimers, 1945 -<br />

DER ZWEITE WELTKRIEG HINTERLIESS einen unermeßlichen Trümmerhaufen. Das ist ebenso<br />

wörtlich wie bildlich zu nehmen. Der Faschismus, <strong>de</strong>r Europa fast eine Generation lang geistig umnachtet<br />

und die halbe Welt mit einem mör<strong>de</strong>rischen Krieg überzogen hatte, trat nicht ohne finale furioso von <strong>de</strong>r<br />

politischen Bühne. Zerstörte Län<strong>de</strong>r, verbrannte Er<strong>de</strong>, Hunger und soziale Verödung. Die umständliche<br />

Technik, mit <strong>de</strong>r die Nazis 1934 <strong>de</strong>n KZ-Häftling Erich Mühsam ermor<strong>de</strong>t hatten, war von <strong>de</strong>utschen<br />

Technokraten industrialisiert wor<strong>de</strong>n. Das Wort "Auschwitz" wur<strong>de</strong> zum Synonym für das<br />

Unaussprechbare, das Un<strong>de</strong>nkbare.<br />

Für viele Menschen ging 1945 eine dunkle Nacht zu En<strong>de</strong>; für <strong>de</strong>n Anarchismus sah es eher so aus, als ob<br />

auch die Zukunft düster bleiben wür<strong>de</strong>. Ohne Frage gehörte die libertäre Kultur zu <strong>de</strong>n Opfern <strong>de</strong>r<br />

faschistischen Ära. Sie war fast überall zwischen die Mühlsteine <strong>de</strong>r großen Politik geraten, pulverisiert<br />

und fortgeblasen. Nach <strong>de</strong>m Krieg waren nicht nur die meisten ihrer Strukturen zerschlagen, auch das<br />

Klima, das sie einst hervorgebracht hatte, gab es nicht mehr.<br />

1945 zementierte sich im Osten <strong>de</strong>r Spätstalinismus im Wohlgefühl seines militärischen Triumphes über<br />

Hitler. Die UdSSR war jetzt eine allseits anerkannte Großmacht, die an ihrem Westrand ein halbes<br />

Dutzend Län<strong>de</strong>r geschluckt hatte. Der Marxismus-Leninismus war zu seiner übelsten Stufe pervertiert<br />

und wur<strong>de</strong> nun <strong>de</strong>n slawischen Volkern und halb Deutschland aufgezwungen. Die neuen Parteidiktaturen<br />

ließen nicht <strong>de</strong>n kleinsten Freiraum übrig, und selbstverständlich wur<strong>de</strong>n alle libertären Organisationen<br />

zerstört, oft genug auch die Menschen, die sie trugen.<br />

Der Westen verfiel für mehr als zwanzig Jahre <strong>de</strong>m Aufbaurausch. Wirtschaftliches Wachstum,<br />

Anpassung, Konsum und eine weitverbreitete geistige Hohlheit kennzeichnen die Mainstream-<br />

Gesellschaft <strong>de</strong>r Nachkriegs-Generation. Mit <strong>de</strong>m amerikanischen Kapital kam auch <strong>de</strong>r lifestyle


Amerikas. Und <strong>de</strong>r führte zu einem neuen <strong>de</strong>utsch-amerikanischen Zeitgeist aus Egoismus, Konkurrenz<br />

und <strong>de</strong>m Glauben an die unbeschränkten Möglichkeiten, die je<strong>de</strong>r im blühen<strong>de</strong>n Kapitalismus habe. Man<br />

mußte smart sein, kritiklos, clever und sich unterordnen können. Der Kapitalismus blühte, und Millionen<br />

Menschen fühlten sich wohl wie die Ma<strong>de</strong> im Speck. In ganz Europa wur<strong>de</strong> das - verständlicherweise -<br />

nun sehr genossen. Alles wur<strong>de</strong> jetzt gut, <strong>de</strong>r Wohlstand kam, die Welt wur<strong>de</strong> immer perfekter. Kein<br />

Problem schien mehr unlösbar, und es wür<strong>de</strong> immer, immer so weitergehen: Fortschrittsglaube wur<strong>de</strong> bis<br />

in die sechziger Jahre zur ungebrochenen Religion <strong>de</strong>s Westens. Der kalte Krieg zwischen West und Ost<br />

gab all <strong>de</strong>m noch eine beson<strong>de</strong>re Plattheit. Auf bei<strong>de</strong>n Seiten <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ologischen Grenze, die die Welt<br />

331<br />

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in gut und böse teilte, wur<strong>de</strong> fortan nur noch schwarzweiß gedacht. Im Westen be<strong>de</strong>utete das die<br />

Diskriminierung für je<strong>de</strong> Art von kritischem Denken, das auch nur entfernt als ›links‹ einzuordnen war.<br />

Ernüchtern<strong>de</strong> Bestandsaufnahme<br />

Der Anarchismus als Bewegung war so gut wie tot, und die neue gesellschaftliche Situation bot wenig<br />

Ansätze für einen neuen Anfang. In manchen Län<strong>de</strong>rn gab es zwischen <strong>de</strong>n Trümmern libertärer Kultur<br />

noch Reste, die von ehemaliger Größe zeugten. Niemand aber interessierte sich noch für irgendwelche<br />

Dinge, die vor <strong>de</strong>m Krieg geschehen waren; die Leute schauten voraus und in die Lohntüte. Ein kritischer<br />

Neuanfang und soziale Utopien waren zwar unmittelbar nach <strong>de</strong>m Krieg weit verbreitete Themen<br />

gewesen, kamen aber rasch aus <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong> und galten schon bald als verdächtig. Vor allem aber schienen<br />

im sozialen Klima <strong>de</strong>r Nachkriegszeit die Themen obsolet gewor<strong>de</strong>n zu sein, die die Menschen <strong>de</strong>r<br />

Vorkriegszeit und damit <strong>de</strong>n klassischen Anarchismus bewegt hatten. Damit waren auch seine<br />

Aktionsformen und Organisationsmo<strong>de</strong>lle zu La<strong>de</strong>nhütern gewor<strong>de</strong>n. Selbst die klassenkämpferische<br />

Sprache <strong>de</strong>r alten Zeit schien niemand mehr zu verstehen. Es war, als ob zwischen 1933 und 1945 ein<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rt läge.<br />

In vielen Län<strong>de</strong>rn kam hinzu, daß die Bewegung regelrecht vernichtet wor<strong>de</strong>n war. Verfolgung,<br />

Vertreibung, Deportation, Gefängnis, Hinrichtungen und die hohen Opfer im Wi<strong>de</strong>rstand hatten die Zahl<br />

aktiver Anarchisten dahinschmelzen lassen. Viele <strong>de</strong>r Überleben<strong>de</strong>n hatten einfach resigniert. In<br />

Deutschland besaßen in dieser trostlosen Zeit vielleicht noch ein paar hun<strong>de</strong>rt überleben<strong>de</strong> Libertäre <strong>de</strong>n<br />

Mut und die Kraft, an ihren alten I<strong>de</strong>alen festzuhalten und einen Neuanfang zu versuchen.<br />

Man kann ohne Übertreibung sagen, daß es dreiundzwanzig Nachkriegsjahre lang eine anarchistische<br />

Agonie* gab. Sie war gekennzeichnet von <strong>de</strong>r Unmöglichkeit, sich in neuen sozialen Wirkungsfel<strong>de</strong>rn zu<br />

verankern und <strong>de</strong>r Unfähigkeit, zu einer geistigen Erneuerung zu fin<strong>de</strong>n. Zum ersten Mal in seiner<br />

Geschichte war <strong>de</strong>r Anarchismus rückwärtsgewandt. Da in <strong>de</strong>r Gegenwart Ratlosigkeit herrschte und die<br />

Zukunft düster aussah, verlegte sich das Gros <strong>de</strong>r Libertären weltweit auf Nostalgie. Die Publikationen<br />

jener Zeit sind voll von Klassikern und Erinnerungen an die diversen anarchistischen Revolutionen. Einer<br />

solchen ›Bewegung‹ ging natürlich <strong>de</strong>r Nachwuchs aus. Die Restinseln libertärer Gruppen,<br />

Organisationen und Freun<strong>de</strong>skreise begannen zu vergreisen, ja, sie drohten ganz auszusterben.<br />

Im Grun<strong>de</strong> gab es nur eine Perspektive, und die lautete: durchhalten, überleben, die I<strong>de</strong>en hinüberretten in<br />

bessere Zeiten.<br />

Dies ist ein düsteres Bild und hat nur Gültigkeit für die allgemeine Ten<strong>de</strong>nz jener Jahrzehnte. Insofern ist<br />

es ein grobes Bild, eine Vereinfachung. In <strong>de</strong>r Bilanz aber stimmt diese Skizze, und die Rechnung ging<br />

auf: Als 1968 eine Welle <strong>de</strong>s antiautoritären Protests um die Welt ging, gab es jene libertäre Inseln noch,<br />

auf <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Anarchismus überwintert hatte. Es kam zu einer gegenseitigen Befruchtung, aus <strong>de</strong>r eine<br />

neue Bewegung entstand. Deshalb lohnt ein Blick in jene Nischen, in <strong>de</strong>nen eine längst totgeglaubte I<strong>de</strong>e<br />

überleben konnte.


332<br />

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Inseln <strong>de</strong>r Hoffnung<br />

Eines <strong>de</strong>r vitalsten Nester saß in Südwestfrankreich. Dorthin hatten sich einige Zehntausend Überleben<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r Spanischen Revolution gerettet, die zunächst in Konzentrationslagern interniert wor<strong>de</strong>n waren. Nicht<br />

zuletzt wegen ihrer hervorragen<strong>de</strong>n Rolle in <strong>de</strong>r Resistance gegen die <strong>de</strong>utschen Besatzer hatten sie sich<br />

in Frankreich ein Bleiberecht erkämpft. Auch im Exil blieb die CNT nach ihren alten<br />

Gewerkschaftsstrukturen organisiert und übte jahrzehntelang einen starken Einfluß auf die arg<br />

geschwächte französische Bewegung aus. Von hier starteten unmittelbar nach <strong>de</strong>m Krieg erste Versuche<br />

einer internationalen Reorganisation, zu <strong>de</strong>nen auch verschie<strong>de</strong>ne syndikalistische Kongresse gehörten.<br />

Obwohl dabei nicht viel mehr als <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>r Bewegung konstatiert wer<strong>de</strong>n konnte, hielt die<br />

Mehrheit an einer Fortführung <strong>de</strong>r alten Strategie fest. Zu Streit und Spaltungen kam es immer wie<strong>de</strong>r bei<br />

<strong>de</strong>r Frage, wie die Franco-Diktatur zu bekämpfen sei. 1945 waren nämlich nicht alle Faschistenregime<br />

gefallen - in Portugal und Spanien blieben die dienstältesten Klerikalfaschos, Salazar und Franco, noch<br />

jahrzehntelang unbehelligt im Amt. Es gehört zu <strong>de</strong>n beeindruckendsten Leistungen <strong>de</strong>r Exil-CNT, daß<br />

sie fast vierzig Jahre lang in Spanien ein Untergrundnetz unterhielt, Wi<strong>de</strong>rstands- und Sabotageaktionen<br />

durchführte, Streiks unterstützte und unverzagt Propaganda trieb. In <strong>de</strong>n sechziger Jahren begann die<br />

jüngere Generation mit empfindlichen Aktionen gegen <strong>de</strong>n Tourismus, unterhielt eine rege Stadtguerilla<br />

und versuchte einige erfolglose Attentate auf <strong>de</strong>n Diktator. Als <strong>de</strong>r greise Generalissimus 1976 starb,<br />

zählte die unermüdliche spanische Exil- CNT noch immer knapp dreißigtausend Mitglie<strong>de</strong>r.<br />

Viele spanische Anarchosyndikalisten hatten sich 1936 nach Nordafrika abgesetzt, wo sie ebenfalls kleine<br />

Anarchoenklaven unterhielten, die aber nur in Ausnahmefällen ihre kulturelle Isolation durchbrechen<br />

konnten. Ähnlich erging es <strong>de</strong>n zahllosen Spaniern, die sich nach Australien retten konnten. Besser hatten<br />

es da schon die CNTler, die in Lateinamerika Asyl fan<strong>de</strong>n. In Mexiko, Kuba, Venezuela, Argentinien und<br />

Uruguay faßten sie schnell Fuß und integrierten sich mühelos in eine Kultur, die ihnen politisch und<br />

sprachlich geläufig war. In diesen Län<strong>de</strong>rn aber war - vielleicht mit Ausnahme Kubas - <strong>de</strong>r Anarchismus<br />

ebenfalls in vollem Nie<strong>de</strong>rgang begriffen. Selbst dort, wo die Libertären nicht, wie in Argentinien, von<br />

<strong>de</strong>n Militärs mit Gewalt ausgeschaltet wur<strong>de</strong>n, kam bei <strong>de</strong>r kritischen Jugend und <strong>de</strong>r kämpferischen<br />

Arbeiterschaft zunehmend <strong>de</strong>r Kommunismus in Mo<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r seit <strong>de</strong>n fünfziger Jahren enorme Geldmittel<br />

in die Infiltration* <strong>de</strong>r Dritten Welt fließen ließ.<br />

Das einzige Land, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Syndikalismus - allerdings in einer etwas zahmeren Variante - relativ<br />

unbescha<strong>de</strong>t überlebt hatte, war Schwe<strong>de</strong>n. Hier saß die 1910 gegrün<strong>de</strong>te Sveriges Arbetares<br />

Centralorganisation mit etwa dreißigtausend Mitglie<strong>de</strong>rn in einigen Wirtschaftsbereichen fest im Sattel,<br />

ihre zwei Tageszeitungen konnten ungestört libertäres Gedankengut verbreiten. Schwe<strong>de</strong>n war während<br />

<strong>de</strong>r faschistischen Ära in vielerlei Hinsicht eine wichtige Drehscheibe gewesen. 1936 organisierte die<br />

SAC <strong>de</strong>n Import von Produkten aus <strong>de</strong>n spanischen Kollektiven und unterstützte die Revolution nach<br />

Kräften,<br />

333<br />

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während <strong>de</strong>s Krieges bot das Land vielen Nazigegnern Asyl und diente als Stützpunkt im Wi<strong>de</strong>rstand.<br />

Nun organisierten die schwedischen Syndikalisten die Hilfe für ihre notlei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Genossen. Von<br />

Lebensmittelpaketen bis hin zum Drucken von Propaganda taten sie, was in ihren Kräften stand. 1951<br />

verlegte die immer noch existieren<strong>de</strong> IAA ihren Sitz nach Stockholm. Aus <strong>de</strong>n spezifischen Erfahrungen<br />

in Schwe<strong>de</strong>n gingen auch einige <strong>de</strong>r wenigen Innovationsvorschläge <strong>de</strong>r Nachkriegszeit hervor, die <strong>de</strong>m<br />

Syndikalismus einen neu <strong>de</strong>finierten Platz in <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen Wohlfahrtsstaaten weisen wollten. An ihnen<br />

waren auch <strong>de</strong>utsche Anarchosyndikalisten wie Helmut Rüdiger beteiligt. Seine Schriften wur<strong>de</strong>n auch in<br />

Deutschland gedruckt, fan<strong>de</strong>n aber im traditionellen Anarchismus wenig Echo.


In Italien hatten die Anarchisten <strong>de</strong>n Faschismus Mussolinis vergleichsweise besser überlebt als ihre<br />

Genossen in Deutschland die rigorosere Verfolgung durch die Nazis. Durch ihre exponierte Stellung im<br />

Partisanenkampf genossen sie nach <strong>de</strong>r Befreiung in manchen Regionen ein gewisses Prestige. Dennoch<br />

blieb die Bewegung isoliert und unbe<strong>de</strong>utend - sie kehrte rasch zu <strong>de</strong>n Fraktionierungen <strong>de</strong>s Vorkrieges<br />

zurück und versuchte erfolglos, die seit über 20 Jahren verbotenen Organisationen wie<strong>de</strong>rzubeleben.<br />

Beson<strong>de</strong>rs krass zeigte sich in diesem Land, wie sich das Kräfteverhältnis in <strong>de</strong>r Linken verschoben hatte.<br />

Ähnlich wie in Lateinamerika wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Kommunismus zur beherrschen<strong>de</strong>n Kraft im linken Spektrum.<br />

Entschei<strong>de</strong>nd kam hinzu, daß sich im Zeitalter <strong>de</strong>s kalten Krieges mit seinen großangelegten<br />

Medienkampagnen marginale Gruppen kaum Gehör verschaffen konnten. In <strong>de</strong>n Materialschlachten<br />

weltanschaulicher Propaganda, die die Nachkriegszeit prägten, hatten nur die Bewegungen eine Chance,<br />

hinter <strong>de</strong>nen Geldgeber stan<strong>de</strong>n. Dem Anarchismus leistete kein Land finanzielle und logistische Hilfe;<br />

hinter <strong>de</strong>n kommunistischen Parteien aber stan<strong>de</strong>n die Sowjetunion und Dutzen<strong>de</strong> an<strong>de</strong>rer Staaten <strong>de</strong>s<br />

sogenannten "sozialistischen Lagers". Das schien im Westen ›<strong>de</strong>n Kommunismus‹ zur einzig real<br />

existieren<strong>de</strong>n Alternative zu machen, <strong>de</strong>r viele kritische Leute in seinen Bann zu schlagen vermochte.<br />

Dies erklärt zu einem großen Teil die Schwäche <strong>de</strong>r libertären Position, beson<strong>de</strong>rs in Italien und<br />

Frankreich.<br />

Deutschland<br />

Das war auch in Deutschland ähnlich, wenngleich die Kommunistische Partei in <strong>de</strong>r Westzone nie eine<br />

vergleichbare Stärke erreichte. Beson<strong>de</strong>rs nach<strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r wahre Charakter <strong>de</strong>s Ostzonenregimes<br />

offenbarte, ließ auch <strong>de</strong>r zeitweilige Zulauf zur West-KPD schlagartig nach. Im sowjetisch besetzten Teil<br />

Deutschlands hatte sich nämlich eine perfekte Schauinszenierung stalinistischer Staatskunst vollzogen:<br />

die angebliche Vereinigung von SPD und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, die später<br />

die Deutsche Demokratische Republik aus <strong>de</strong>r Taufe heben sollte. Alle diese Konstrukte waren schöner<br />

Schein. Hinter ihr stand <strong>de</strong>r phantasielose, verknöcherte und unterwürfige Rest <strong>de</strong>r Vorkriegska<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

KPD, die als Jasager das Exil in Moskau überlebt hatten. Was nun als Stalins Werkzeug zurückkehrte,<br />

waren wohl die schleimigsten Büromenschen, die die <strong>de</strong>utsche Linke jemals hervorgebracht hat. Von<br />

Sozialismus war in <strong>de</strong>ren Köpfen außer schema-<br />

334<br />

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tischen Formeln nichts übriggeblieben, ihr Leben hatten sie <strong>de</strong>n Parteidirektiven geweiht. Es gehört zu<br />

<strong>de</strong>n traurigsten Fehlleistungen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Nachkriegsgeschichte, wie diese Riege tumber, grauer<br />

"Apparatschiks" in weniger als zehn Jahren all das vergeigte, was in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Bevölkerung nach<br />

1945 an Bereitschaft zu radikaler Erneuerung steckte.<br />

Die allgemeine Skizze <strong>de</strong>s geistigen Nachkriegsklimas vom Anfang <strong>de</strong>s Kapitels stimmt nämlich auf die<br />

ersten Jahre bezogen nur bedingt. Zunächst nämlich herrschte nach <strong>de</strong>m Krieg überall<br />

Aufbruchstimmung. Der Hunger nach Neuem stand <strong>de</strong>m nach Speck und Kartoffeln auch in Deutschland<br />

in nichts nach. Die Jahre nach 1945 brachten einen wahren Ansturm auf Kultur und Bildung, die<br />

tiefgreifen<strong>de</strong> Verunsicherung begünstigte eine breite Diskussion über die Zukunft. Im Westen en<strong>de</strong>te<br />

diese Phase erst mit <strong>de</strong>r Währungsreform in <strong>de</strong>r Buttercremeära <strong>de</strong>r A<strong>de</strong>nauerzeit. Vorher waren weite<br />

Kreise offen für einen Neuanfang: ohne Armee und Machtspielchen, bereit zu tiefgreifen<strong>de</strong>n<br />

Verän<strong>de</strong>rungen. Der gefühlsmäßige Trend zu einer ›sozialistischen‹ Alternative war so stark, daß selbst<br />

die CDU in ihr erstes Programm die Sozialisierung <strong>de</strong>r Schlüsselindustrien und <strong>de</strong>s Großkapitals aufnahm<br />

- For<strong>de</strong>rungen für <strong>de</strong>ren Wie<strong>de</strong>rholung sie zehn Jahre später Menschen verfolgen ließ.<br />

Dieser allgemeine Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit war nach zwölf Jahren Diktatur für die meisten<br />

Menschen allerdings mit einem ebenso allgemeinen Wunsch nach ›Freiheit‹ verbun<strong>de</strong>n. Diesem<br />

doppelten Bedürfnis konnten die klassischen Parteien mit ihren aufgewärmten und hastig umgebauten<br />

I<strong>de</strong>ologien in West und Ost nicht gerecht wer<strong>de</strong>n. Die West-SPD verabschie<strong>de</strong>te sich endgütig von<br />

jeglicher Vision und wan<strong>de</strong>lte sich mit aller Kraft zum sozialen Gewissen <strong>de</strong>s Kapitalismus; die Ost-KPD<br />

blieb auch als SED so stockautoritär wie eh und je. Dabei hätte sie theoretisch je<strong>de</strong> Chance gehabt, einen


einigermaßen menschengerechten Sozialismus zu verwirklichen, <strong>de</strong>nn Millionen waren in <strong>de</strong>n ersten<br />

Jahren aufrichtig bereit, mit Begeisterung und Elan ihr Opfer für einen Neubeginn zu bringen. Aber <strong>de</strong>r<br />

Wunsch zu einer freiheitlichen Entwicklung war we<strong>de</strong>r in Moskau noch in Pankow vorhan<strong>de</strong>n. Der DDR-<br />

Sozialismus glich schon bald einem Kasernenregime, das <strong>de</strong>n Menschen nicht das Min<strong>de</strong>ste zutraute. So<br />

wur<strong>de</strong> die schöpferische Kraft <strong>de</strong>r frühen Jahre verspielt; sie en<strong>de</strong>te in Resignation und <strong>de</strong>r<br />

Hervorbringung eines neuen SED-Untertanenmenschen. Das Gros <strong>de</strong>r Bevölkerung aber wandte sich ab.<br />

Der sogenannte "Arbeiter- und Bauernstaat" erhielt am 17. Juni 1953 von seinen Arbeitern und Bauern<br />

hierfür eine erste Quittung: Generalstreik, Schmähung <strong>de</strong>r Partei, Ruf nach Freiheit. Als Antwort<br />

schickten die Betonsozialisten ihre Panzer.<br />

Die Anarchisten versuchten trotz ihrer Schwäche, die kleinen Chancen zu nutzen, die im Nachkriegs-<br />

Neubeginn lagen. Sie bauten kleine Gruppen auf, gaben unter großen Entbehrungen schon 1945 wie<strong>de</strong>r<br />

kleine Zeitschriften heraus, versuchten auch, untereinan<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Kontakt zu organisieren. In <strong>de</strong>r DDR<br />

allerdings war das schon bald nicht mehr möglich: Viele Libertäre verschwan<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>nselben<br />

Haftanstalten und Lagern, in <strong>de</strong>nen sie schon unter <strong>de</strong>n Nazis gesessen hatten. Bei aller Verfolgung<br />

mangelte es aber in erster Linie an neuen I<strong>de</strong>en und einer aktuellen Strategie. Nur zu oft erschöpften sich<br />

die Anarchisten in <strong>de</strong>n alten Argumenten und <strong>de</strong>m Hinweis, daß sie - wie immer - mit ihrer<br />

335<br />

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Kritik Recht behalten hätten. Viele von ihnen waren mittlerweile auch in linke Parteien o<strong>de</strong>r Verbän<strong>de</strong><br />

eingetreten - teils aus Resignation, teils aus gewan<strong>de</strong>lter Überzeugung. Nur wenige Libertäre betrieben<br />

eine Neuorientierung wie <strong>de</strong>r Hamburger Otto Reimers, <strong>de</strong>r ein breiteres linkes Bündnis suchte o<strong>de</strong>r<br />

Rudolf Rocker und Augustin Souchy, die vom Ausland her für ein Engagement <strong>de</strong>r Anarchisten auf <strong>de</strong>r<br />

Ebene kommunaler Vernetzung plädierten. Statt <strong>de</strong>r Gründung eigener Organisationen empfahlen sie <strong>de</strong>n<br />

Eintritt in Gewerkschaften und Genossenschaften. Anarchisten sollten durch ihr Beispiel wirken und sich<br />

ansonsten eher kulturell profilieren. Manche Initiativen führten kurzfristig auch zu einer Bün<strong>de</strong>lung <strong>de</strong>r<br />

Kräfte, die in <strong>de</strong>n fünfziger Jahren die Fö<strong>de</strong>ration Freiheitlicher Sozialisten hervorbrachte, die einzige<br />

libertäre Organisation im Nachkriegs<strong>de</strong>utschland, die ein gewisses Echo hervorrief. Ihre Zeitschrift Die<br />

freie Gesellschaft und ihr reger Buchverlag erzielten einige Achtungserfolge, und obwohl Aktivisten wie<br />

Gretel Leinau, Anni und Georg Hepp o<strong>de</strong>r Hans Spaltenstein noch dreißig Jahre und länger durchhielten,<br />

mangelte es <strong>de</strong>r kleinen Bewegung insgesamt an Durchschlagskraft. Daran konnte auch das unermüdliche<br />

Engagement <strong>de</strong>s vielsprachigen und weltläufigen Altanarchisten Souchy nichts än<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>r ebenfalls bis<br />

ins hohe Alter unermüdlich Vorträge in überfüllten Sälen hielt und für <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen<br />

Nachkriegsanarchismus so etwas wie eine personifizierte Überlebenshilfe war. Sein altersweiser und<br />

mo<strong>de</strong>rater Anarchismus fand zu<strong>de</strong>m nicht überall Zustimmung. Inzwischen lebten auch alte Streitigkeiten<br />

zwischen Fraktionen und Fraktiönchen aus Weimarer Tagen wie<strong>de</strong>r auf, als wäre nichts geschehen.<br />

In dieser schwierigen Zeit fiel jenen Län<strong>de</strong>rn, die vorher eher zu <strong>de</strong>n anarchistischen Mauerblümchen<br />

gehört hatten, eine wichtige Rolle zu. In Großbritannien, <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Schweiz, <strong>de</strong>n USA und,<br />

wie wir gesehen haben, in Schwe<strong>de</strong>n, waren die Libertären relativ unbehelligt geblieben. Obgleich sie<br />

dort in <strong>de</strong>r Regel schwach waren, erfüllten sie nun eine nicht zu unterschätzen<strong>de</strong> Entwicklungs- und<br />

Aufbauhilfe für <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Anarchismus. Das galt vor allem für <strong>de</strong>n Druck von Propagandamaterial,<br />

aber auch für direkte materielle Hilfe und die Kontinuität <strong>de</strong>r internationalen libertären Diskussion. Viele<br />

<strong>de</strong>utsche Anarchoblätter jener Jahre, als die Besatzungskommandanten die begehrten Drucklizenzen<br />

vergaben, tragen im Impressum einen ausländischen Erscheinungsort.<br />

Klimaverbesserungen<br />

Während <strong>de</strong>r klassische Anarchismus sich so auf <strong>de</strong>m absteigen<strong>de</strong>n Weg von <strong>de</strong>r Bewegung zur Sekte<br />

befand, erfuhr die libertäre I<strong>de</strong>e einige Klimaverbesserungen, die sich in jener Durststrecke <strong>de</strong>s<br />

Überlebens einer freiheitlichen Weltanschauung vielleicht als lebensrettend erwiesen.<br />

Allem voran ist hier <strong>de</strong>r Triumph eines pazifistischen Libertären zu nennen, <strong>de</strong>ssen vielbelächelter


gewaltfreier Wi<strong>de</strong>rstand schließlich eine Weltmacht nie<strong>de</strong>rrang: Mahatma Gandhi, Symbolfigur <strong>de</strong>s<br />

indischen Unabhängigkeitskampfes. Er hatte es fertiggebracht, in mehr als vierzig Jahren konsequent<br />

pazifistischer Aktionen eine Massenbewegung aufzubauen, die mit passiver Verweigerung und zivilem<br />

Ungehorsam die englische Kolonialmacht<br />

336<br />

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dazu brachte, ihre wertvollste Kolonie aufzugeben und sich aus Indien zurückzuziehen. Das riesige Land<br />

wird am 15. August 1947 eine eigene Nation.<br />

Gandhi, Sohn eines indischen Getrei<strong>de</strong>händlers, kommt schon als junger Stu<strong>de</strong>nt in London mit<br />

Kriegsdienstverweigerern, Atheisten, Theosophen und Anarchisten zusammen, die wie er im Vegetarier-<br />

Club verkehren. Beson<strong>de</strong>rs beeindrucken ihn die I<strong>de</strong>en von Leo Tolstoi, Henry David Thoreau, John<br />

Ruskin und Peter Kropotkin. In Südafrika, wo er als frischgebackener Rechtsanwalt zum Wortführer und<br />

Organisator seiner unterdrückten indischen Landsleute wird, erprobt er zum Schrecken <strong>de</strong>s britischen<br />

Gouverneurs eine neue und ganz ungewöhnliche Taktik: protestieren, boykottieren, nicht kooperieren und<br />

dabei immer freundlich und korrekt bleiben. Als er 1914 nach Indien zurückkehrt, wird er zum Inspirator<br />

einer gewaltlosen Volksbewegung, die durch eine endlose Kette von Streiks, direkten Aktionen und<br />

massenhaften Gesetzesübertretungen die Obrigkeit langsam zermürbt und das Selbstbewußtsein <strong>de</strong>s<br />

indischen Volkes stärkt.<br />

Obwohl Gandhi sich gelegentlich auch als "Anarchist" bezeichnete, ist seine spezifisch indische Variante<br />

einer libertären Ethik <strong>de</strong>utlich weiter gefaßt als <strong>de</strong>r europäisch geprägte Mainstream-Anarchismus. In ihr<br />

fließen spirituelle, sozialistische, religiöse, anarchistische und intuitive Elemente zusammen, die weit<br />

mehr in <strong>de</strong>r indischen Kultur als in <strong>de</strong>r europäischen Arbeiterbewegung verwurzelt sind. Gandhi verachtet<br />

<strong>de</strong>n Staat ebenso wie die Gewalt, sein Gesellschaftsi<strong>de</strong>al beruht auf Toleranz, Gleichheit und Harmonie.<br />

In <strong>de</strong>r <strong>de</strong>zentralen Fö<strong>de</strong>ration autarker dörflicher Gemein<strong>de</strong>n sieht er das Rückgrat einer freien<br />

Gesellschaft.<br />

Als er im Januar 1948 von einem radikalen Hindu ermor<strong>de</strong>t wird, avanciert <strong>de</strong>r bereits zu Lebzeiten<br />

ungemein populäre sanfte Rebell weltweit zum Idol einer ganzen Generation. Noch heute sind viele<br />

Anarchisten <strong>de</strong>r Meinung, Gandhi sei <strong>de</strong>r erfolgreichste libertäre Revolutionär <strong>de</strong>r Geschichte gewesen<br />

und seine Weltanschauung <strong>de</strong>r konsequenteste Ausdruck anarchistischer Philosophie. Gandhis Triumph<br />

<strong>de</strong>s gewaltfreien Umsturzes wur<strong>de</strong> lei<strong>de</strong>r nicht von seiner Vision einer libertären Gesellschaft gekrönt.<br />

Indien wur<strong>de</strong> ein Staat, in <strong>de</strong>m er selbst kein Regierungsamt übernehmen mochte. "Das unabhängige<br />

Indien", schrieb Bertrand Russell, "hat Gandhi zu einem Heiligen gemacht und alle seine Lehren<br />

ignoriert." Die Nation, die er hinterließ, wur<strong>de</strong> eine von sozialem Elend und ethnischen Unruhen<br />

geschüttelte Großmacht, die mit ihren inneren Konflikten ebenso autoritär verfuhr wie je<strong>de</strong>r beliebige<br />

Staat. Gandhis Beispiel aber sollte Schule machen und zum klassischen Vorbild für die<br />

Bürgerrechtsbewegungen und sozialen Kämpfe <strong>de</strong>r westlichen Nationen wer<strong>de</strong>n.<br />

Ganz an<strong>de</strong>rer Art war ein Experiment, das ab 1950 in Jugoslawien begann. Hier hatte eine<br />

Partisanenarmee unter Josip Broz Tito die <strong>de</strong>utsche Wehrmacht bekämpft und nach <strong>de</strong>ren Nie<strong>de</strong>rlage eine<br />

sozialistische Regierung installiert, die aber schon 1949 mit Stalin brach und einen eigenständigen Kurs<br />

steuerte. Die jugoslawischen Kommunisten waren undogmatischer als ihre moskauhörigen Genossen, und<br />

Tito brüstete sich, <strong>de</strong>n wahren Kommunismus getreu <strong>de</strong>n Schriften von Karl Marx zu verwirklichen. Aber<br />

auch hier<br />

337<br />

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gelang die Quadratur <strong>de</strong>s Kreises nicht: Die Partei überzog das Land mit einer lähmen<strong>de</strong>n Bürokratie, <strong>de</strong>r<br />

Elan <strong>de</strong>r Menschen versiegte, die wirtschaftliche Lage war bedrückend. In dieser Situation schlug ein<br />

enger Kampfgefährte Titos, Milovan Djilas, als Gegengift die ›freie Assoziation <strong>de</strong>r Produzenten‹ vor, mit<br />

an<strong>de</strong>ren Worten: die Selbstverwaltung <strong>de</strong>r Industrie durch die Arbeiter selbst. So wur<strong>de</strong> das<br />

"jugoslawische Selbstverwaltungsmo<strong>de</strong>ll" geboren: per staatlichem Dekret als Bun<strong>de</strong>sgesetz.<br />

Djilas selbst, <strong>de</strong>r ebenso von Marx wie von Proudhon beeinflußt war, schwebte sicher etwas an<strong>de</strong>res vor<br />

als das, was fortan in <strong>de</strong>m Balkanstaat praktiziert wur<strong>de</strong>. Es entstand so etwas wie ein erweitertes<br />

Mitbestimmungsmo<strong>de</strong>ll. Zwar hatten die Gemein<strong>de</strong>n und die Arbeiter ein erhöhtes Mitspracherecht, nach<br />

wie vor aber blieben staatliche Direktoren und bürokratische Planung. Auch gingen die Fabriken nicht in<br />

<strong>de</strong>n Besitz <strong>de</strong>r Belegschaften über. Auf die generelle Wirtschaftspolitik <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s konnten sie<br />

ebensowenig Einfluß nehmen wie es ihnen erlaubt war, in freie Han<strong>de</strong>ls- und Tauschbeziehungen zu<br />

an<strong>de</strong>ren Gemein<strong>de</strong>n zu treten. Für die Partei schien diese wohldosierte Selbstverwaltung nichts weiter als<br />

eine vorübergehen<strong>de</strong> Medizin zu sein, um Menschen zu motivieren, Bürokratie einzusparen und die<br />

Wirtschaft anzukurbeln. All das ist in gewissem Maße auch eingetreten. Für die Libertären aber war es ein<br />

eindrucksvolles Beispiel dafür, daß Freiheit nicht von oben verordnet wer<strong>de</strong>n kann. Selbstverwaltung<br />

allein als eine bessere Form <strong>de</strong>s Industriemanagements taugt nicht dazu, aus einem autoritären Staat ein<br />

libertäres Gemeinwesen zu machen - eine Erfahrung, die sich wenig später auch im<br />

Selbstverwaltungsexperiment <strong>de</strong>r jungen Nation Algerien wie<strong>de</strong>rholen sollte.<br />

Djilas, einst Minister und Vizepräsi<strong>de</strong>nt, versuchte vergebens, die halbherzige Reform in eine<br />

authentische Selbstverwaltung zu verwan<strong>de</strong>ln. Wegen seiner wie<strong>de</strong>rholten Kritiken fiel er schließlich in<br />

Ungna<strong>de</strong> und verbrachte lange Jahre im Gefängnis.<br />

Beson<strong>de</strong>rs hilfreich erwies sich schließlich <strong>de</strong>r Einfluß einiger prominenter Intellektueller, die einen<br />

Beitrag zur Kontinuität libertären Denkens jener Jahre leisteten, als libertäres Han<strong>de</strong>ln nicht auf <strong>de</strong>r<br />

Tagesordnung stand.<br />

George Orwell, <strong>de</strong>r schon im Spanischen Bürgerkrieg auf Tuchfühlung zu <strong>de</strong>n Anarchisten gegangen war,<br />

lieferte mit seiner beißen<strong>de</strong>n Parabel "Farm <strong>de</strong>r Tiere" und <strong>de</strong>m zum Kultbuch gewor<strong>de</strong>nen Roman<br />

"1984" eine zeitlose Kritik am staatlichen Totalitarismus mo<strong>de</strong>rner Massengesellschaften. Seine Bücher,<br />

in <strong>de</strong>nen die Absurdität i<strong>de</strong>ologischer Rechtfertigungsmuster ebenso thematisiert wer<strong>de</strong>n wie <strong>de</strong>r<br />

elektronische Überwachungsstaat und die Macht <strong>de</strong>r Massenmedien, gehörten jahrzehntelang zur<br />

Standardlektüre kritischer Menschen.<br />

Zu <strong>de</strong>n libertär gestrickten Geistern jener Jahre zählte auch <strong>de</strong>r hochangesehene britische Philosoph und<br />

Nobelpreisträger Bertrand Russell, ein überzeugter Pazifist und nimmermü<strong>de</strong>r Organisator <strong>de</strong>s zivilen<br />

Ungehorsams. Sein Engagement für Abrüstung und Menschenrechte machte ihn zum Vorläufer <strong>de</strong>r neuen<br />

sozialen Bewegungen, und er gilt <strong>de</strong>n Ostermarschierern ebenso als geistiger Vater wie <strong>de</strong>r<br />

Frie<strong>de</strong>nsbewegung o<strong>de</strong>r Amnesty International. In gewisser Weise verkörperte Russell in Europa das Ver-<br />

338<br />

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mächtnis Gandhis, <strong>de</strong>m er sehr nahe stand.<br />

Ähnlich dachte auch Albert Einstein, was bei einem führen<strong>de</strong>n Mitarbeiter <strong>de</strong>s amerikanischen<br />

Atombombenprojekts paradox erscheinen mag. Die inneren Konflikte eines überzeugten Pazifisten<br />

freiheitlich-jüdischer Gesinnung, sich <strong>de</strong>m Bau einer Atombombe zu verschreiben, um damit Hitler<br />

zuvorzukommen, dürften sich auf <strong>de</strong>r Höhe einer griechischen Tragödie bewegt haben. Einstein, <strong>de</strong>r stark<br />

von Gandhi, Russell und Rocker beeindruckt war und kaum politische Literatur verfaßte, wirkte vor allem<br />

durch Interviews und provokante Lebensart. Die breite Sympathie, die sein antiautoritär-respektloses<br />

Verhalten allseits erregte, ist ebenso ein Indiz für <strong>de</strong>n latent vorhan<strong>de</strong>nen libertären Geist jener Zeit, wie<br />

die fast epi<strong>de</strong>mische Anhängerschaft, die ein junger Amerikaner namens Garry Davis fand. Der ehemalige<br />

US-Soldat kam 1948 auf die provozieren<strong>de</strong> I<strong>de</strong>e, sich als "Weltbürger" zu fühlen und die Staatsgrenzen


einfach zu ignorieren. In Paris verbrannte er öffentlich seinen Paß und spielte jahrelang mit <strong>de</strong>n Behör<strong>de</strong>n<br />

Katz und Maus. Die "Weltbürgerbewegung" schwoll in kürzester Zeit auf Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong> Anhänger an,<br />

die überall die staatliche Autorität ins Lächerliche zogen und in spektakulären direkten Aktionen die<br />

Aufhebung aller Grenzen for<strong>de</strong>rten. Einer ihrer Anhänger war Albert Camus, <strong>de</strong>r<br />

Literaturnobelpreisträger <strong>de</strong>s Jahres 1957. Der im Wi<strong>de</strong>rstand gegen die Deutschen politisierte<br />

Schriftsteller, <strong>de</strong>r in seinen Romanen zur gewaltfreien Revolte gegen <strong>de</strong>n gesamten Irrsinn <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />

Staatlichkeitskultur aufrief, faszinierte die kritische Jugend <strong>de</strong>r frühen sechziger Jahre nicht nur in<br />

Europa. Von allen sogenannten "existentialistischen" Autoren stand er <strong>de</strong>n Anarchisten am nächsten.<br />

Mit <strong>de</strong>n französischen "Existentialisten*", die einen nachhaltigen Einfluß auf Philosophie, Politik, Kunst<br />

und jugendliche Subkultur <strong>de</strong>r sechziger Jahre ausübten, beginnt das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r selbstzufrie<strong>de</strong>nen, satten<br />

Nachkriegsära. Eine neue Generation ist herangewachsen, die angesichts <strong>de</strong>r staatlichen Heuchelei einen<br />

zunehmen<strong>de</strong>n Gesellschaftsekel empfin<strong>de</strong>t und artikuliert*. Die gängigen I<strong>de</strong>ologien wer<strong>de</strong>n zunehmend<br />

in Frage gestellt, und politischer Wi<strong>de</strong>rstand beginnt sich zu formieren. "Entkolonialisierung" wird hierbei<br />

zum zentralen Thema. In Algerien und Indochina toben blutige Kriege, im Nahen Osten, Lateinamerika<br />

und Schwarzafrika geraten alte Werte ins Wanken, kolonialisierte Völker erwachen und Alternativen<br />

scheinen sich anzubieten. Ein neues Thema beginnt, die alte Ausrichtung <strong>de</strong>r europäischen Linken am<br />

Klassenkampf zu verdrängen: die "Dritte Welt".<br />

Literatur:<br />

/ Günther Bartsch: Anarchismus in Deutschland, Bd. I 1945-1965 Hannover 1971, Fackelträger, 314 S.,<br />

ill.<br />

/ Rudolf Rocker: Die Möglichkeit einer anarchistischen und syndikalistischen Bewegung - eine<br />

Einschätzung <strong>de</strong>r Lage in Deutschland Frankfurt 1978 (1947), Freie Gesellschaft, 36 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Gefahren <strong>de</strong>r Revolution (3 Aufs.) Hannover 1980 (1952), Die Freie Gesellschaft, 34 S.<br />

/ Carl Langer: Fö<strong>de</strong>ralismus und Freier Sozialismus London, New York, Paris 1948, 16 S.<br />

/ Willy Huppenz: Kapitalismus o<strong>de</strong>r Gemeinschaft freier Menschen Köln o.J., 19 S.<br />

/ Thomas Schmidt: Anarchistische Versuche einer politischen Neuordnung nach <strong>de</strong>m 2. Weltkrieg und in<br />

<strong>de</strong>n 50er Jahren in West<strong>de</strong>utschland Gießen 1987, unveröfftl. Magisterarbeit, 110 S.<br />

/ <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: Eine unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Sache (22 S., zu Anni und Georg Hepp) in: <strong>Horst</strong> Scharnagl<br />

(Hrsg.): Das hört nie auf Frankfurt 1983, AZ, 1918., ill.<br />

/ Helmut Rüdiger: Sozialismus in Freiheit vgl. Kap. 32!<br />

/ George Woodcock: Leben und Wirken Mahatma Gandhis Kassel 1980, Weber, Zucht & Co, 123 S.<br />

/ Gandhi Informationszentrum (Hrsg.): Das Leben und Wirken von M. K. Gandhi Kassel 1988, Weber,<br />

Zucht & Co, 304 S., ill.<br />

/ Augustin Souchy: Jugoslawiens revisionistischer Kommunismus in: Vorsicht Anarchist! vgl. Kap. 33!<br />

/ Hans Jürgen Degen: Wir wollen keine Sklaven sein! Der Aufstand <strong>de</strong>s 17. Juni 1953 Berlin 1988,<br />

Libertad, 46 S.<br />

/ Garry Davis: Die obige Einschränkung ist hiermit aufgehoben Basel 1977, Lenos, 266 S.<br />

339<br />

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Kapitel 37<br />

Mai '68<br />

Unter <strong>de</strong>m Pflaster liegt <strong>de</strong>r Strand!<br />

– Straßenparole, anonym –<br />

IM SPÄTSOMMER 1968 ROCH ES IM QUARTIER LATIN stark nach Teer. Die Stadtverwaltung ließ<br />

in vielen Straßen <strong>de</strong>s alten Stu<strong>de</strong>ntenviertels das Kopfsteinpflaster mit Asphalt überziehen. Diese<br />

Maßnahme diente nicht <strong>de</strong>r Verkehrsberuhigung, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Vermeidung künftigen Aufruhrs. Erst<br />

wenige Wochen zuvor, am 10. Mai, waren die Pflastersteine zu Barrika<strong>de</strong>n emporgewachsen o<strong>de</strong>r in die


Reihen <strong>de</strong>r vorrücken<strong>de</strong>n Bereitschaftspolizei geschleu<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n. Drei Tage später, am 13. Mai, ziehen<br />

eine Million Menschen – Stu<strong>de</strong>nten, Arbeiter, Schüler – <strong>de</strong>monstrierend durch Paris. Der Generalstreik<br />

wird ausgerufen. Ab <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>n Tag beginnt eine Serie von Fabrikbesetzungen. Die Arbeiter han<strong>de</strong>ln<br />

jetzt auf eigene Faust, sie for<strong>de</strong>rn die autogestion: Selbstverwaltung ...<br />

Ganz Frankreich befin<strong>de</strong>t sich im Aufruhr, und die Hauptstadt durchlebt einen Taumel revolutionärer<br />

Begeisterung. Während die Stu<strong>de</strong>nten auf <strong>de</strong>n Straßen Schlachten schlagen und Feste feiern, steht die<br />

Regierung am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Abgrunds. Ratlos muß sie feststellen, daß die Stu<strong>de</strong>nten keine<br />

Universitätsreform und die Arbeiter keine Lohnerhöhung for<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn la revolution. Was soll man<br />

dazu sagen? Seit 1871 ruhten die Pflastersteine fest im Bo<strong>de</strong>n. Nun hat die junge Generation sie erneut<br />

herausgerissen und festgestellt, daß unter <strong>de</strong>m Pflaster <strong>de</strong>r Strand liegt. Ein symbolischer Satz, <strong>de</strong>r zum<br />

geflügelten Wort jener Tage wur<strong>de</strong> und um die ganze Welt ging.<br />

Die Revolte <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>nten<br />

Berkeley, Berlin, Paris, Tokio, Madrid, Warschau, Rom, Prag, Buenos Aires, London, Chicago und kein<br />

En<strong>de</strong>... Die Medien können gar nicht so schnell nachkommen, wie die Revolte <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>nten um sich<br />

greift. Sie erfaßt die gesamte westliche Welt und schwappt über <strong>de</strong>ren Rand hinaus. Sie verläßt <strong>de</strong>n<br />

Campus <strong>de</strong>r Universitäten und ergreift Lehrlinge und Schüler, Arbeiter und Intellektuelle. Frauen treten<br />

selbstbewußt aus ihrem sozialen Schattendasein heraus, und sogar Kin<strong>de</strong>r benehmen sich frech und frei.<br />

Wie konnte das in einer selbstzufrie<strong>de</strong>nen Wohlstandswelt passieren?<br />

Es war nicht allzuweit her mit Wohlstand und Zufrie<strong>de</strong>nheit. Unter <strong>de</strong>r ruhigen Oberfläche bro<strong>de</strong>lte es<br />

seit geraumer Zeit. Beson<strong>de</strong>rs die Jugend fühlte sich nicht wohl im belanglosen Zeitgeist <strong>de</strong>r<br />

Wirtschaftswun<strong>de</strong>rjahre und hatte seit langem ihre eigenen Protestformen entwickelt: Rockmusik,<br />

Motorradgangs, Haartracht, Kleidung und provozieren<strong>de</strong>s Benehmen prägte die unangepaßte proletarische<br />

Jugend <strong>de</strong>r Industriestädte. Aus <strong>de</strong>n USA kam die sanftere Variante <strong>de</strong>r "Hippies" hinzu: Mit Blumen,<br />

Liebe, weichen Drogen und wallen<strong>de</strong>m Haar gaben sie ihrer Suche nach kommunitärer Geborgenheit und<br />

menschlicher Wärme Ausdruck. An <strong>de</strong>n Universitäten verband sich "existentialistische Philosophie" mit<br />

"antikolonialer Solidarität" zu einem brisanten Tatendrang, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r<br />

340<br />

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traditionell eher konservativen Stu<strong>de</strong>ntenschaft die Speerspitze einer Bewegung machte, die bereit war,<br />

auf Anpassung und Karriere zu pfeifen. Statt<strong>de</strong>ssen gingen nun junge Aka<strong>de</strong>miker auf die Straße, um für<br />

die Befreiung <strong>de</strong>r Lohnarbeiter o<strong>de</strong>r gegen <strong>de</strong>n Krieg in Vietnam zu <strong>de</strong>monstrieren, wobei sie fast lustvoll<br />

in Kauf nahmen, dafür fürchterlich verprügelt zu wer<strong>de</strong>n.<br />

All das war die logische Konsequenz jener geist- und prinzipienlosen Nachkriegsära und insofern<br />

natürlich auch ein Protest <strong>de</strong>r Jugend gegen die angepaßte Generation <strong>de</strong>r Eltern. Das gesellschaftliche<br />

Pen<strong>de</strong>l schwang in die an<strong>de</strong>re Richtung zurück, eine Richtung in <strong>de</strong>r die entgegengesetzten Werte<br />

vermutet wur<strong>de</strong>n: Gemeinschaft statt Isolation, Solidarität statt Egoismus, Gerechtigkeit statt Zynismus.<br />

Eine kollektive Sinnsuche hatte eingesetzt, und ihre Protagonisten waren zum Erstaunen aller Soziologen<br />

nicht die verelen<strong>de</strong>ten Proletarier, son<strong>de</strong>rn die privilegierten Stu<strong>de</strong>nten.<br />

Die Eskalation* lief stets nach <strong>de</strong>m gleichen Muster ab. Relativ kleine Proteste aus oft nichtigem Anlaß<br />

wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Obrigkeit mit einer Mischung aus ungeschickter Hektik und brutaler Gewalt beantwortet.<br />

Die Demonstranten erleben das direkte Zusammenspiel staatlicher, wirtschaftlicher, medienpolitischer<br />

und i<strong>de</strong>ologischer Macht und erfahren auf diese Weise hautnah politische Realitäten, die sie bisher nur<br />

aus Lehrbüchern kannten. Sie solidarisieren, politisieren und radikalisieren sich. In Frankreich geben sie<br />

sich <strong>de</strong>n Namen enragés - die Wüten<strong>de</strong>n.<br />

Diese Wut steckte das ganze Land an und zeigte, wie zerbrechlich das soziale und politische


Gleichgewicht war. Aber auch die Unzufrie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Arbeiter war größer als es das Gere<strong>de</strong> von<br />

Wohlstand und Sozialpartnerschaft vermuten ließ. Als sich das alles für kurze Zeit verband, glaubten<br />

viele, die Revolution in einer <strong>de</strong>r mächtigsten und mo<strong>de</strong>rnsten Industrienationen sei zum Greifen nahe.<br />

In <strong>de</strong>r Tat wankte die Regierung <strong>de</strong>s General <strong>de</strong> Gaulle. Der Präsi<strong>de</strong>nt verließ <strong>de</strong>n Elysée-Palast, um sich<br />

in Deutschland mit hohen französischen Offizieren zu beraten, aber am En<strong>de</strong> schaffte er es, daß alles bei<br />

einer Staatskrise blieb. Die linken Parteien und Gewerkschaften zau<strong>de</strong>rn, verhan<strong>de</strong>ln, schlagen ein paar<br />

Verbesserungen heraus und stellen sich hinter die Staatsmacht. Sie rufen ihre Mitglie<strong>de</strong>r zur Ordnung,<br />

verurteilen die Fabrikbesetzungen und dul<strong>de</strong>n, daß die Polizei in die Betriebe einrückt, um die Ordnung<br />

wie<strong>de</strong>rherzustellen. Die verkalkten Altlinken hatten diese Erhebung nicht verstan<strong>de</strong>n und sie - mit gutem<br />

Grund -intuitiv gefürchtet. Die enrages paßten nicht in ihre Schubla<strong>de</strong>n; sie waren we<strong>de</strong>r zu zähmen noch<br />

zu beherrschen. Also waren sie eine Bedrohung. Im Grun<strong>de</strong> dachten die linken Funktionäre genau wie <strong>de</strong><br />

Gaulle, <strong>de</strong>r gesagt hatte: "Reformen ja, Mummenschanz nein". Dieser "Mummenschanz" zielte in <strong>de</strong>r Tat<br />

mit naiver Frische und anarchischer Direktheit auf das gesamte System. Er war spontan, radikal,<br />

antiautoritär und schöpferisch.<br />

Anarchistische Renaissance<br />

Es war kein Zufall, daß in dieser Revolte die schwarze Fahne, das alte Symbol anarchistischen Protests,<br />

wie<strong>de</strong>r auftauchte, <strong>de</strong>nn es war ein libertärer Geist, <strong>de</strong>r da durch die Köpfe<br />

341<br />

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pfiff und nun die Straßen und Plätze erfüllte. Die Bewegung war im übrigen nicht ganz so vom Himmel<br />

gefallen, wie es <strong>de</strong>n Anschein hatte. Eine ihrer Wurzeln führte nach Straßburg, wo die anarchophile<br />

Stu<strong>de</strong>ntengruppe Internationale Situationiste im Jahr zuvor mit radikalen Thesen und direkten Aktionen<br />

für einigen Wirbel gesorgt hatte, <strong>de</strong>r noch lange durch die Universitäten echote. In jüngster Zeit hatten<br />

auch im anarchistischen Milieu Frankreichs endlich Debatten begonnen, die auf einem hohen Niveau nach<br />

Wegen <strong>de</strong>r Erneuerung suchten. Zeitungen wie Noir et Rouge, Socialisme ou Barbarie und Recherches<br />

Libertaires waren zu Wegbereitern <strong>de</strong>s Mai '68 gewor<strong>de</strong>n. Aus dieser Ecke stammten auch die Brü<strong>de</strong>r<br />

Gabriel und Daniel Cohn-Bendit, die zu einer Art Sprecher- und Propagandistenteam <strong>de</strong>r Mairevolte<br />

wur<strong>de</strong>n. Beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r "rote Dany", wie die Zeitungen <strong>de</strong>n jüngeren <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n nannten, wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n<br />

Medien zu einem Star <strong>de</strong>r enrages aufgebaut. Sein plötzlich ent<strong>de</strong>cktes Talent für Improvisation und<br />

Mobilisation und seine verblüffend neue Art, so einfach zu re<strong>de</strong>n, daß ihn min<strong>de</strong>stens die halbe Nation<br />

sympathisch fand, machte ihn zu einem gefährlichen Mann. De Gaulle schob <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschstämmigen<br />

Halbju<strong>de</strong>n <strong>de</strong>shalb bei erster Gelegenheit als "unerwünschten Auslän<strong>de</strong>r" nach Deutschland ab. In<br />

Frankfurt nahmen ihn die, aus <strong>de</strong>nen bald die "Spontis" wer<strong>de</strong>n sollten, als willkommene Verstärkung mit<br />

offenen Armen auf. Die Zeitung, <strong>de</strong>ren Herausgeber er später wur<strong>de</strong>, trug <strong>de</strong>n beziehungsreichen Namen<br />

Pflasterstrand.<br />

Auch nach<strong>de</strong>m an <strong>de</strong>r Seine <strong>de</strong>r Asphalt getrocknet und <strong>de</strong>r gefährliche Agitator außer Lan<strong>de</strong>s war, kehrte<br />

noch keine Ruhe ein. Die Regierung wur<strong>de</strong> nicht gestürzt, und noch viel weniger war ›die Revolution<br />

ausgebrochen‹. Aber eine neue Zeit hatte begonnen. Die Menschen stellten jetzt vieles in Frage, und man<br />

war nicht mehr angepaßt. Autoritär war out, Verän<strong>de</strong>rung war in. Gewiß war bei all<strong>de</strong>m auch Mo<strong>de</strong> im<br />

Spiel, aber seit <strong>de</strong>r Vorkriegszeit hatten es noch nie so viele Menschen so ernst gemeint, wenn sie das<br />

Wort "Revolution" in <strong>de</strong>n Mund nahmen. Und das taten jetzt immer mehr. Der Mai 68 war eine<br />

antiautoritäre Revolte, die Millionen Menschen erreichte, und er war ein Medienereignis. Das konnte<br />

nicht ohne Auswirkungen auf <strong>de</strong>n Anarchismus bleiben.<br />

Im Gefolge <strong>de</strong>s Pariser Mai kam es zu einer regelrechten anarchistischen Renaissance. Es schien, als wäre<br />

er von einer wil<strong>de</strong>n Fee mal eben wachgeküßt wor<strong>de</strong>n. Schwarze Fahnen und anarchische Plakate gehören<br />

nun zum Straßenbild, libertäre Slogans und Symbole wer<strong>de</strong>n populär, anarchistische Zeitungen, Bücher,<br />

Gruppen sprießen allenthalben. Auch die klassischen anarchistischen Organisationen, die die<br />

Stu<strong>de</strong>ntenrevolte eher mißtrauisch beäugt hatten, spüren <strong>de</strong>n Aufwind. Die bärtigen Klassiker Proudhon,


Kropotkin und Bakunin, in <strong>de</strong>n kleinen anarchistischen Buchlä<strong>de</strong>n längst zu La<strong>de</strong>nhütern gewor<strong>de</strong>n,<br />

fin<strong>de</strong>n plötzlich eine interessierte Lesergemein<strong>de</strong> und erleben in <strong>de</strong>n großen Verlagen als Taschenbücher<br />

hohe Auflagen. Berühmte Leitartikler schreiben in gewählten Worten weise Kolumnen über <strong>de</strong>n<br />

schöpferischen Geist <strong>de</strong>r Anarchie. Nicht nur Frankreich erlebt diesen Boom, er erfaßt auch Län<strong>de</strong>r, in<br />

<strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Anarchismus schon im Dämmerzustand darnie<strong>de</strong>rlag. Mal sofort, mal langsam diffundierend,<br />

geht diese Wie<strong>de</strong>rgeburt in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahren einmal rund um <strong>de</strong>n Globus.<br />

342<br />

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Ab 1968 gibt es wie<strong>de</strong>r eine wachsen<strong>de</strong> libertäre Bewegung. Sie ist aber auch eine neue Bewegung, in<br />

vielem kaum noch mit <strong>de</strong>r alten zu vergleichen. In manchem mußte sie völlig von vorne beginnen. Das<br />

war schwer, aber darin lag auch eine große Chance.<br />

APO und Establishment<br />

In Deutschland war die Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckung anarchistischer Traditionen zunächst kein Thema. Viele von<br />

<strong>de</strong>nen, die 1968 in Osnabrück o<strong>de</strong>r Lü<strong>de</strong>nscheid mit einer schwarzen Fahne auf eine Stu<strong>de</strong>nten<strong>de</strong>mo<br />

gingen, hatten das <strong>de</strong>n Illustrierten abgeguckt und dachten, sie trügen eine Trauerfahne. Bei <strong>de</strong>utschen<br />

Demonstranten war zunächst noch Rot angesagt, Disziplin und die korrekte soziologische Analyse. Der<br />

kritische <strong>de</strong>utsche Stu<strong>de</strong>nt hatte seinen SDS, und <strong>de</strong>r war or<strong>de</strong>ntlich sozialistisch.<br />

Dieses Bild sollte sich aber bald än<strong>de</strong>rn. Der akkurate Kurzhaarstu<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>s Sozialistischen Deutschen<br />

Stu<strong>de</strong>ntenbun<strong>de</strong>s mit Kassenbrille und Nyltesthemd macht binnen Monaten eine Wandlung durch, die die<br />

Medien entzückt. Er paart sich - bildlich gesprochen - mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Variante <strong>de</strong>s Großstadthippies,<br />

<strong>de</strong>m sogenannten "Gammler". Und er sucht die Nähe zum Proletariat. Ein im Kasten<strong>de</strong>nken <strong>de</strong>r<br />

A<strong>de</strong>nauer-Ära unerhörter Kontakt fin<strong>de</strong>t statt: Der kritische Jungarbeiter und <strong>de</strong>r progressive Aka<strong>de</strong>miker<br />

begegnen einan<strong>de</strong>r mit bewun<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>m Staunen. Heraus kommt ein philosophieren<strong>de</strong>r Alltagsaktivist, <strong>de</strong>r<br />

leben will und die Welt verän<strong>de</strong>rn. Er verschwistert und verbrü<strong>de</strong>rt sich mit Schülern und Lehrlingen<br />

bei<strong>de</strong>rlei Geschlechts zu kleinen, virulenten Zellen: "Rote Zelle Germanistik" etwa o<strong>de</strong>r<br />

"Schulungsgruppe materialistische Geschichtsphilosophie", aber auch "Zentralrat <strong>de</strong>r umherschweifen<strong>de</strong>n<br />

Haschrebellen" o<strong>de</strong>r schlicht "Kommune I", gefolgt von Nummer 2 und 5. Man liest, diskutiert und<br />

missioniert. Man agiert, agitiert, experimentiert munter drauflos. Alles ist hier und sofort zu verän<strong>de</strong>rn.<br />

Wer irgend kann, lebt jetzt in einer "Kommune". In <strong>de</strong>r Phantasie <strong>de</strong>r Bild-Zeitung sind dies die Tatorte<br />

von wil<strong>de</strong>m "Gruppensex" und "Haschorgien". In Wahrheit wür<strong>de</strong>n wir sie heute eher als schlichte<br />

Wohngemeinschaften einstufen. Nur ganz wenige widmen sich <strong>de</strong>m Extremexperiment einer radikalen<br />

Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Gegenstän<strong>de</strong>, Gefühle und Aktionen und wer<strong>de</strong>n so berühmt wie die Berliner "K<br />

1". Die meisten hingegen bleiben beschei<strong>de</strong>ne Inseln kreativer Selbstverwirklichung, in die sich<br />

langhaarige Jugendliche vor <strong>de</strong>m allgemeinen Mief retten. In <strong>de</strong>n moralinsauren und prü<strong>de</strong>n Sechzigern<br />

aber war schon das Teilen von Wohnung, Brot und Auto für die öffentliche Meinung ein ungeheurer Akt<br />

<strong>de</strong>r Subversion; für die Beteiligten jedoch oft ein realer Akt alltäglicher Befreiung. Genauso wie das<br />

nächtelange Diskutieren bei Lambrusco aus <strong>de</strong>m "Konsum", die Tramptour nach Griechenland und immer<br />

wie<strong>de</strong>r die Demonstrationen... Gegen <strong>de</strong>n Vietnamkrieg und für freie Liebe in <strong>de</strong>n Schulen, gegen die<br />

Notstandsgesetze und für <strong>de</strong>n Prager Frühling, gegen <strong>de</strong>n Schah von Persien und für Ché Guevara.<br />

All das nannte sich nicht zufällig die Außerparlamentarische Opposition. Das Kürzel "APO" wur<strong>de</strong> zum<br />

Markenzeichen, und es war kein schlechtes: Man war gegen diese Gesellschaft, man wollte eine an<strong>de</strong>re,<br />

und man mißtraute <strong>de</strong>r bürgerlichen Politik.<br />

343<br />

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Die APO kreierte nicht nur einen neuen Lebensstil, son<strong>de</strong>rn auch neue Aktionsformen und eigene<br />

Strukturen, was wie<strong>de</strong>rum einen neuen Jargon hervorbrachte. In einem Mischprozeß entstan<strong>de</strong>n aus<br />

Soziologenchinesisch, Proletarier<strong>de</strong>utsch, Scene-Slang und vielen Anglizismen* für neue Phänomene<br />

neue Wörter, die damals je<strong>de</strong>r kennen mußte, insbeson<strong>de</strong>re die Zeitungs- und Fernsehkommentatoren.<br />

Besetzungen wur<strong>de</strong>n zu go-ins, Sitzblocka<strong>de</strong>n zu sit-ins, Propagandaveranstaltungen zu teach-ins. Als<br />

schlimmstes Schimpfwort galt "autoritär", <strong>de</strong>nn die APO versuchte, mit Hirn und Herz "antiautoritär" zu<br />

sein. Daß die systemimmanenten Wi<strong>de</strong>rsprüche <strong>de</strong>s Spätkapitalismus nur in emanzipatorisch-negativer<br />

Dialektik entlarvt wer<strong>de</strong>n konnten, war 1969 je<strong>de</strong>m Stu<strong>de</strong>nten, <strong>de</strong>r es mit <strong>de</strong>r K(ritik) d(er) b(ürgerlichen)<br />

W(issenschaft) ernst nahm, nicht nur geläufig - es kam ihm auch ohne Holpern über die Lippen. Solche<br />

Dinge wie die KdbW wur<strong>de</strong>n dann meist auf <strong>de</strong>r VV ausdiskutiert - worunter eine Vollversammlung zu<br />

verstehen war. Beliebter aber waren die happenings - phantasievolle Aktionen von meist symbolischem<br />

Wert mit einem kräftigen Schuß direkter Aktion. Die anarchischen Provokationsspäße <strong>de</strong>r K1-Mitglie<strong>de</strong>r<br />

Rainer Langhans und Fritz Teufel, die mit Mut, Witz und entlarven<strong>de</strong>r Groteske die staatliche Autorität<br />

bloßstellten, zogen seinerzeit in Deutschland Millionen von Lachern vom Millowitsch-Theater zur<br />

Tagesschau ab. Bei<strong>de</strong>s, Millowitsch und Tagesschau, gehörte übrigens ein<strong>de</strong>utig zum Establishment, <strong>de</strong>r<br />

damaligen Lieblingsvokabel, für die es in <strong>de</strong>r Tat kein passen<strong>de</strong>s <strong>de</strong>utsches Wort gibt. Gemeint war die<br />

verkrustete, selbstzufrie<strong>de</strong>ne etablierte Gesellschaft mit all ihren Institutionen direkter und indirekter<br />

Herrschaft.<br />

Genau das war <strong>de</strong>r Gegner <strong>de</strong>r APO. Die antiautoritäre Revolte zielte nicht mehr gegen einzelne<br />

Mißstän<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn gegen das ganze "verlogene System".<br />

Breitenwirkung<br />

Was aus <strong>de</strong>m zeitlichem Abstand heraus so sehr zur leicht ironischen Schil<strong>de</strong>rung verlockt, war in<br />

Wirklichkeit eine tiefgreifen<strong>de</strong> soziale Umorientierung. Für die Protagonisten, die "Generation <strong>de</strong>r<br />

Achtundsechziger", han<strong>de</strong>lte es sich um eine ernste Angelegenheit, die tief in ihr Leben einschnitt. Und<br />

diese Generation, Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong>, wirkte auf <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>r Deutschen, die angepaßten Millionen. Die<br />

wil<strong>de</strong>n Jahre verloren mit <strong>de</strong>r Zeit natürlich an Wildheit. Was damals entstand, wan<strong>de</strong>lte sich, wur<strong>de</strong> zu<br />

Trends, Bewegungen, Experimenten; vieles schlief auch wie<strong>de</strong>r ein. Aber die Gesellschaft <strong>de</strong>r<br />

Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland trat in einen Wandlungsprozeß, aus <strong>de</strong>m nach einigen Jahren ein an<strong>de</strong>res<br />

Land hervorging.<br />

Diese Breitenwirkung ist vermutlich das, was an <strong>de</strong>r APO am meisten verkannt wird. Legionen von<br />

Sozialwissenschaftlern haben sich <strong>de</strong>r Spurenverfolgung sozialer Bewegungen und politischer Theorien<br />

verschrieben, aber die augenfälligste Bresche, die die Achtundsechziger hinterlassen haben, wird kaum<br />

wahrgenommen. Dabei kann sich ein <strong>de</strong>utscher Mensch, <strong>de</strong>r nach 1970 geboren wur<strong>de</strong>, kaum vorstellen,<br />

wie das Leben in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik vor 1968 aussah. Strammstehen vor <strong>de</strong>m Lehrer, tiefe Diener und<br />

braver Knicks waren normales "gutes Benehmen". An Gymnasien waren "Nietenhosen"* und<br />

344<br />

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Parkas* per Erlaß verboten, und in einer sauberen Gegend gingen Buben und Mä<strong>de</strong>l selbstverständlich in<br />

getrennte "Oberschulen". Über Sexualität zu sprechen, war unanständig, Küssen unter freiem Himmel ein<br />

Skandal. Frauen, die in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit rauchten o<strong>de</strong>r alleine eine Gaststätte aufsuchten, wur<strong>de</strong>n als<br />

Huren betrachtet. Anständige Frauen gehörten in die Wohnung, bekamen vom Mann das abgezählte<br />

Haushaltsgeld und zogen ihm abends die Pantoffeln an. Ein geschirrspülen<strong>de</strong>r Mann gab sich <strong>de</strong>r<br />

Lächerlichkeit preis, und wenn eine Frau irgendwo hinging, ohne in Begleitung ihres Ehemannes zu sein,<br />

dann "stimmte mit <strong>de</strong>r Ehe irgendwas nicht". Im Betrieb war <strong>de</strong>r Meister ein Vorgesetzter und <strong>de</strong>r Chef<br />

eine gottähnliche Respektsperson. In einer Zeit, als <strong>de</strong>r Verzehr einer Pizza ein exotischer Genuß und die<br />

Fahrt im VW-Käfer an <strong>de</strong>n Gardasee ein prickeln<strong>de</strong>s Fernabenteuer war, galt ein Einwohner Mailands <strong>de</strong>n<br />

meisten Deutschen noch als "dreckiger Makkaronifresser". Kin<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Schule o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Straße zu<br />

verprügeln, wur<strong>de</strong> als gute Erziehung angesehen, und Amtspersonen hatten mit "Oberamtmann"<br />

angesprochen zu wer<strong>de</strong>n, auch wenn es sich um eine Frau han<strong>de</strong>ln sollte, was aber wie<strong>de</strong>rum sehr selten


<strong>de</strong>r Fall war. Selbst die Bun<strong>de</strong>spolitiker, die nicht mehr Respekt verdienten als die heutigen, rangierten im<br />

Bewußtsein <strong>de</strong>r meisten Deutschen als unnahbare Respektspersonen, göttergleich und klug.<br />

Gewiß, all das kommt in an<strong>de</strong>rer Form auch heute noch vor. Kin<strong>de</strong>smißhandlung, Sexismus und<br />

Frem<strong>de</strong>nfeindlichkeit sind ja beileibe nicht ausgestorben. Bis 1968 aber bestimmte all das <strong>de</strong>n<br />

Normalzustand <strong>de</strong>r Mainstream-Gesellschaft. Es wur<strong>de</strong> we<strong>de</strong>r hinterfragt noch kritisiert noch geän<strong>de</strong>rt.<br />

Nach 1968 aber hatte sich <strong>de</strong>r Blickwinkel verschoben. Auch bei <strong>de</strong>n Millionen Menschen, die von <strong>de</strong>r<br />

APO nichts hielten und sie belächelten o<strong>de</strong>r beschimpften. Autorität war plötzlich etwas Negatives<br />

gewor<strong>de</strong>n, zumin<strong>de</strong>st etwas Suspektes. Kritik war nicht nur erlaubt, sie wur<strong>de</strong> zur Normalität. Die<br />

folgen<strong>de</strong>n Jahrzehnte erleben <strong>de</strong>n Zweifel am Wirtschaftswun<strong>de</strong>r, an Amerika, am Krieg, an <strong>de</strong>r<br />

Überlegenheit <strong>de</strong>s Mannes, <strong>de</strong>r Unfehlbarkeit <strong>de</strong>r Politiker, <strong>de</strong>r Genialität <strong>de</strong>r Atomkraft und <strong>de</strong>r<br />

Unendlichkeit <strong>de</strong>s Wachstums. Fortschrittsglaube, Arbeiterklasse und kalter Krieg stehen zur Disposition,<br />

Prügelpädagogik, Ehesklaverei und Gottesfurcht kommen aus <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>. Menschen trauen sich nicht nur,<br />

Autoritäten zu wi<strong>de</strong>rsprechen, son<strong>de</strong>rn auch, gegen sie zu han<strong>de</strong>ln. Dritte Welt, Ökologie, Frie<strong>de</strong>n und<br />

Selbstverwirklichung wer<strong>de</strong>n zu Themen, die die breite Masse zu interessieren beginnen.<br />

All das ist nicht etwa das Produkt sozialliberaler Reformen unter <strong>de</strong>r Kanzlerschaft Willy Brandts, es sind<br />

die Spätfolgen jener Breitenwirkung, die die vielbelächelten Achtundsechziger erzielten. Das Kabinett<br />

Brandt konnte auf diesen neuen Zeitgeist nur reagieren.<br />

Politik, Aktion und Leben<br />

Das zu erreichen, war natürlich nicht Ziel <strong>de</strong>r APO. Die machte ›Politik‹, wollte ›die Revolution und hätte<br />

all das wahrscheinlich als ›reaktionär‹ verworfen. Fraglos waren diese Än<strong>de</strong>rungen we<strong>de</strong>r einschnei<strong>de</strong>nd<br />

noch führten sie zu einer libertären Umwälzung <strong>de</strong>r Gesellschaft. Sie läuteten eher eine Trendwen<strong>de</strong> ein,<br />

die zwanzig Jahre lang vorhielt. Erst<br />

345<br />

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in <strong>de</strong>n Neunzigern begann das gesellschaftliche Pen<strong>de</strong>l wie<strong>de</strong>r spürbar nach ›rechts‹ zurückzuschwingen.<br />

Kohls Konservativismus, geklont mit <strong>de</strong>r Yuppie- Attitü<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Haargelgeneration kennzeichnen dieses<br />

neue Ellenbogenzeitalter, passend ergänzt von <strong>de</strong>n durch nazistischen Urschlamm trampeln<strong>de</strong>n<br />

Springerstiefelträgern.<br />

Eine solche Vorausschau aber war <strong>de</strong>n Akteuren <strong>de</strong>r APO, die 1968 auf die Straße gingen, nicht vergönnt.<br />

Die antiautoritäre Revolte war auch in Deutschland in erster Linie eine Stu<strong>de</strong>ntenbewegung. Entsprechend<br />

kurzlebig war auch das konkrete Phänomen APO, <strong>de</strong>nn Stu<strong>de</strong>nt ist man nur für kurze Zeit. Sie hat im<br />

Ganzen kaum drei Jahre existiert, <strong>de</strong>r SDS büßte seine Motorfunktion schon viel früher ein. Der Ausstieg<br />

aus <strong>de</strong>r Aktion, <strong>de</strong>n man schon bald fand, entsprach dann auch <strong>de</strong>n Bedürfnissen angehen<strong>de</strong>r<br />

Führungskräfte: "Der lange Marsch durch die Institutionen" wur<strong>de</strong> proklamiert, was nichts an<strong>de</strong>rs<br />

be<strong>de</strong>utete, als daß möglichst viele Linke sich in Führungspositionen schmuggeln sollten, um dort<br />

revolutionär zu wirken. Er geriet - trotz klug formuliertem "theoretischen Überbau" - <strong>de</strong>n meisten eher zu<br />

einem raschen Galopp in Anpassung und Karriere.<br />

Zunächst aber war die APO im klassischen Sinne politisch. Universitätsreform und Protest gegen <strong>de</strong>n<br />

Imperialismus waren ihre Themen, Besetzungen und Demonstrationen ihre Formen. Schon bald aber<br />

sprengt die Bewegung diesen Rahmen. Veranstaltungen wie <strong>de</strong>r "Vietnam-Kongreß" geraten zu<br />

Massenhearings, auf <strong>de</strong>nen auch <strong>de</strong>r Umsturz in Deutschland zum Thema wird, ständig begleitet von <strong>de</strong>n<br />

Haßtira<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Zeitungen aus <strong>de</strong>m Hause Springer. Die Erschießung <strong>de</strong>s Demonstranten Benno Ohnesorg<br />

durch die Polizei zeigt, daß das "Establishment" ernst macht und <strong>de</strong>r Staat ein gewaltbereiter Gegner ist.<br />

Das Attentat auf Rudi Dutschke, Wortführer <strong>de</strong>s SDS und Lieblingsfeind <strong>de</strong>r Bildzeitung, führt zur <strong>de</strong>r<br />

Erkenntnis, daß das System komplex ist und viele Gesichter hat: Der Protest wird zur direkten Aktion, <strong>de</strong>r


Springer-Verlag zum verhaßten Ziel. Die ersten west<strong>de</strong>utschen Linken radikalisieren und bewaffnen sich.<br />

Es kommt zu Debatten, Richtungskämpfen, Fraktionierungen und immer neuen Theorien. Stu<strong>de</strong>nten<br />

grün<strong>de</strong>n Parteien, Sekten und Zirkel, die sich in <strong>de</strong>n siebziger Jahren zu einer kräftigen linken Scheinblüte<br />

entfalten, um sich dann in Nichts aufzulösen. Es war gewiß nicht dieser Heißluftballon, <strong>de</strong>r das soziokulturelle<br />

Leben unseres Lan<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r geschil<strong>de</strong>rten Weise verän<strong>de</strong>rte.<br />

Parallel zu Politik und Aktion war nämlich ein dritter Sektor entstan<strong>de</strong>n, zwar eng mit bei<strong>de</strong>m verknüpft<br />

und nicht genau zu trennen, aber doch mit einem klar an<strong>de</strong>ren Ansatz. Während die ›ernsthaften<br />

Revolutionäre‹ zuerst auf die Revolution warten wollten, die, je nach Fraktionszugehörigkeit, von <strong>de</strong>r<br />

Reife <strong>de</strong>r Arbeiterklasse o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Anzahl <strong>de</strong>r Gewehre abhängen sollte, fingen an<strong>de</strong>re einfach an, das<br />

Leben zu verän<strong>de</strong>rn. Menschen, die von <strong>de</strong>n paradiesischen Aussichten, die die Theoretiker versprachen,<br />

schon jetzt etwas haben wollten, die wohl auch jenen Theoretikern, die nicht einmal ihr eigenes Leben zu<br />

verän<strong>de</strong>rn begannen, mißtrauten: Empörte Frauen schubsen die Chefgockel <strong>de</strong>s SDS vom Rednerpult und<br />

organisieren sich in "Weiberräten" und Frauengruppen. In sogenannten "Kin<strong>de</strong>rlä<strong>de</strong>n" versuchen sich die<br />

APO-Eltern in <strong>de</strong>r antiautoritären Aufzucht ihres Nachwuchses. In<br />

346<br />

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Bürgerinitiativen, bei Streiks o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Ghettos <strong>de</strong>r Gastarbeiter kommt es zu spannen<strong>de</strong>n Begegnungen<br />

mit <strong>de</strong>r Alltagswelt <strong>de</strong>r "Normales", was in vielfältige praktische Projekte mün<strong>de</strong>t. Die ersten Leute<br />

grün<strong>de</strong>n "Kollektivbetriebe": Unternehmen ohne Chef, häufig auch ohne Geld und Fachwissen, aber mit<br />

umso mehr Elan. Kneipen und Buchlä<strong>de</strong>n zumeist, aber auch schon Handwerk und vereinzelt<br />

Landwirtschaft. Jugendzentren, Wohngemeinschaften und Freizeitgruppen run<strong>de</strong>n das Panorama ab.<br />

So entstehen schon in <strong>de</strong>n Sechzigern erste Aktionen und Projekte, aus <strong>de</strong>nen sich in <strong>de</strong>n Siebzigern die<br />

neuen sozialen Bewegungen und die sogenannte "Alternativszene" entwickeln wer<strong>de</strong>n. Diese bunte<br />

Alltagskultur wur<strong>de</strong> für die Wie<strong>de</strong>rgeburt <strong>de</strong>s Anarchismus in Deutschland zu einer Quelle, die wohl<br />

genauso wichtig war wie die Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckung anarchistischer Theorien, die im Gefolge <strong>de</strong>s<br />

antiautoritären Phänomens <strong>de</strong>r APO praktisch unvermeidlich war.<br />

Neuer Anfang<br />

Die wenigen alten Anarchisten, die 1968 in Deutschland noch das schwarze Banner hochhielten,<br />

bestaunten das Phänomen <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntenrevolte mit einer Mischung aus Freu<strong>de</strong> und Mißtrauen. Vielen<br />

waren die I<strong>de</strong>en nicht ein<strong>de</strong>utig genug anarchistisch und Stu<strong>de</strong>nten sowieso suspekt; an<strong>de</strong>re sahen voller<br />

Begeisterung riesenhafte Chancen. Der alte Anarchoprolet Willy Huppertz, <strong>de</strong>r dreißig Jahre lang in<br />

Mühlheim an <strong>de</strong>r Ruhr als einsamer Rufer das Agitationsblatt Befreiung herausgegeben hatte, blieb<br />

skeptisch, <strong>de</strong>r frankophile Physiker Rudolf Krell jedoch öffnete sein Herz für die jungen Langhaarigen<br />

und war geneigt, in Daniel Cohn-Bendit <strong>de</strong>n Bakunin <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts zu erblicken. Auf <strong>de</strong>m<br />

internationalen Anarchistenkongreß in Cararra mußte er 1968 aber erleben, wie die spanische<br />

Anarchoveteranin Fe<strong>de</strong>rica Montseny nur mit Mühe davon abgehalten wer<strong>de</strong>n konnte, <strong>de</strong>m roten Dany<br />

wegen flegelhaften Benehmens eine Ohrfeige zu verpassen.<br />

Die jungen <strong>de</strong>utschen Antiautoritären hatten inzwischen mit Erstaunen die Ent<strong>de</strong>ckung gemacht, daß es<br />

eine Philosophie und Bewegung mit <strong>de</strong>m Namen "Anarchismus" gab - entsprechend begeistert stürzten<br />

sie sich auf die "Altgenossen". Wenn auch die gegenseitige Euphorie hier und da bald erkaltete und sich<br />

Generationskonflikte auftaten, so kam es doch auch zu ergiebiger Zusammenarbeit. Die "Befreiung" etwa<br />

avancierte in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n junger Kölner Anarchos bald zum führen<strong>de</strong>n Blatt <strong>de</strong>r Szene, und in Frankfurt<br />

wur<strong>de</strong>n die siechen Reste <strong>de</strong>s Verlags <strong>de</strong>r "Freien Gesellschaft" mit frischen Kräften reanimiert. Die<br />

jungen <strong>de</strong>utschen Anarchos aber fühlten sich, als hätten sie eine neue Welt ent<strong>de</strong>ckt. Und diese<br />

Anarchowelt lag voll im Trend <strong>de</strong>r APO. So etwas wie ein "Kronstadt-Kongreß" wür<strong>de</strong> heute vielleicht<br />

ein knappes Dutzend Historiker auf ein Symposium locken - 1971 konnte das Audimax <strong>de</strong>r Freien<br />

Universität Berlin die Zuhörer kaum fassen. Selbst die tonangeben<strong>de</strong>n APO-Linken paßten ins Bild: Der<br />

aufrechte Marxist Dutschke etwa hatte die Lektüre anarchistischer Klassiker empfohlen, und von <strong>de</strong>n


großen Theoretikern <strong>de</strong>r APO - Adorno, Horkheimer, Habermas und Krahl - gehörte keiner zur Sorte <strong>de</strong>r<br />

tumben Marxologen. Eher schon stan<strong>de</strong>n sie, wie insbeson<strong>de</strong>re Herbert Marcuse, einer<br />

347<br />

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Synthese aus marxistischer Ökonomie und libertärer Ethik nahe. Eine staunen<strong>de</strong> Neugier war geweckt.<br />

Die ersten Jahre <strong>de</strong>s neuen Anarchismus stan<strong>de</strong>n - wann immer die pausenlosen Aktionen <strong>de</strong>r APO Zeit<br />

übrig ließen - unter <strong>de</strong>r Überschrift "Nachholbedarf". Überall rotierten die Walzen <strong>de</strong>r billigen<br />

Kleinoffsetmaschinen und spuckten schlecht lesbare Anarchozeitungen aus. Raubdrucke anarchistischer<br />

Klassiker gingen weg wie warme Semmeln, bis Rowohlt, Suhrkamp und Ullstein diesen lukrativen Markt<br />

besetzten.<br />

Mit <strong>de</strong>m Pariser Mai, <strong>de</strong>r eine ganz eigene Ästhetik von Graffitis, Plakaten und Spontangrafik<br />

hervorgebracht hatte, setzten sich auch zwei neue, aus <strong>de</strong>n USA eingesickerte Agit-Medien durch, die nun<br />

das Erscheinungsbild <strong>de</strong>r Straßen, Jacken und Autos eroberten: Aufkleber und Buttons*. Auf ihnen<br />

tauchte nun immer häufiger ein aus Italien stammen<strong>de</strong>s Symbol auf, das bald zum meistgedruckten und<br />

-gesprayten Politsymbol <strong>de</strong>r Welt wer<strong>de</strong>n sollte: das A im Kreis.<br />

Literatur: J. Sauvageot, A. Geismar, D. Cohn-Bendit: Aufstand in Paris Reinbek 1968, Rowohlt, 108 S. /<br />

N.M.: La Chienlit - Dokumente zur französischen Mai- Revolte Darmstadt 1969, Melzer, 470 S. / Henri<br />

Levfebvre: Aufstand in Frankreich Berlin 1969, Ed. Voltaire, 144 S. / Situationistische Internationale:<br />

Über das Elend im Stu<strong>de</strong>ntenmilieu Hamburg 1977, Nautilus, 66 S. / Gabriel und Daniel Cohn-Bendit:<br />

Linksradikalismus - Gewaltkur gegen die Alterskrankheit <strong>de</strong>s Kommunismus Reinbek 1968, Rowohlt,<br />

278 S. / Daniel Cohn-Bendit: Der große Basar München 1975, Trikont, 174 S. / Rudi Dutschke:<br />

Bibliographie <strong>de</strong>s revolutionären Sozialismus Hannover 1969, Druck- u. Verlagskooperative, 49 S. / Rolf<br />

R. Bigler: Enteignet Deutschland! Wien, München Zürich 1968, Mol<strong>de</strong>n, 227 S. / Günther Bansch:<br />

Anarchismus m Deutschland, Bd. II i96;-if7j 423 S., vgl. Kap. 36! / Wolfgang Dreßen: Antiautoritäres<br />

Lager und Anarchismus Berlin 1971, Wagenbach, 153 S. / Gert Holzapfel: Vom schönen Traum <strong>de</strong>r<br />

Anarchie - Zur Wie<strong>de</strong>raneignung und Neuformulierung <strong>de</strong>s Anarchismus in <strong>de</strong>r Neuen Linken Berlin<br />

1984, Argument, 389 S. / Heinrich Böll, Rudi Dutschke, Erich Fried u.a.: Die Ermordung <strong>de</strong>s Georg von<br />

Rauch Berlin 1976, Wagenbach, 152 S. / Rainer Langhans, Fritz tmtd: Klau mich München o.J., Trikont,<br />

212 S., ill. / ›Bommi‹ Baumann: Wie alles anfing München 1975, Trikont, 141 S.<br />

Kapitel 38<br />

Anarchismus heute: von <strong>de</strong>r Organisation zum Wurzelwerk<br />

Anarchie ist machbar, Herr Nachbar!<br />

- Slogan, anonym -<br />

ES GAB VIELE FEUCHTE AUGEN in jener kalten Dezemberwoche 1979, als sich in Madrid über 800<br />

Delegierte zum fünften Kongreß <strong>de</strong>r CNT einfan<strong>de</strong>n. Sie vertraten 267 Syndikate mit nahezu 500.000<br />

Mitglie<strong>de</strong>rn und hatten sich versammelt, um <strong>de</strong>n neuen Kurs <strong>de</strong>r Gewerkschaft festzulegen. Aber das war<br />

nicht <strong>de</strong>r Anlaß für die Tränen. Die flossen aus zweierlei Grün<strong>de</strong>n.<br />

Viele <strong>de</strong>r alten Kämpfer waren ganz einfach <strong>de</strong>n Emotionen nicht gewachsen. Nach vierzig Jahren Exil,<br />

Illegalität und Verfolgung traf man sich nun in <strong>de</strong>r Heimat wie<strong>de</strong>r.<br />

348


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Anarchisten, die als junge Menschen geflohen waren und nun als Greise erhobenen Hauptes<br />

zurückkehrten, fielen einan<strong>de</strong>r in die Arme. Ihre I<strong>de</strong>en, so schien es, waren lebendig wie eh und je. Kaum<br />

drei Jahre, daß <strong>de</strong>r Diktator gestorben war und nur einige Monate, seit die Gewerkschaften wie<strong>de</strong>r frei<br />

agieren konnten, und schon stand ihre gute alte CNT wie<strong>de</strong>r voll im Saft. War es nicht erhebend, wie die<br />

Arbeiter zu Zehntausen<strong>de</strong>n in die Syndikate strömten? Hatten nicht erst vor kurzem eine Viertelmillion<br />

Menschen auf einem Meeting im Stadtpark von Barcelona <strong>de</strong>r alten Fe<strong>de</strong>rica Montseny zugejubelt? War<br />

das nicht ein Beweis für die zeitlose Richtigkeit <strong>de</strong>r syndikalistischen Theorie? Als alle vereint unter <strong>de</strong>m<br />

schwarzroten Banner die alte Anarchohymne Hijos <strong>de</strong>l pueblo sangen, hatte es ganz <strong>de</strong>n Anschein. Dabei<br />

war es zweiundvierzig Jahre her, seit diese Theorie zuletzt aktualisiert wor<strong>de</strong>n war...<br />

In <strong>de</strong>n letzten Tagen <strong>de</strong>s Kongresses gab es wie<strong>de</strong>r Tränen. Sie stan<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Augen vieler Delegierter<br />

aus <strong>de</strong>n großen Industriebetrieben, und es waren Tränen <strong>de</strong>r Wut und Enttäuschung. Wut darüber, daß es<br />

auf diesem Kongreß nicht zu einer wirklich freien Debatte kam und so die Gelegenheit zu einer aktuellen<br />

Neufassung <strong>de</strong>s Anarchosyndikalismus verpaßt wur<strong>de</strong>. Enttäuschung darüber, daß damit die historische<br />

Chance verspielt schien, in <strong>de</strong>r selbstbewußten, jungen Arbeiterschaft Fuß zu fassen und eine Rolle im<br />

mo<strong>de</strong>rnen Spanien zu spielen. Statt<strong>de</strong>ssen geriet <strong>de</strong>r Kongreß zu einem Ort mißtrauischer<br />

Fraktionskämpfe und verbissener Abwehrschlachten zur Rettung <strong>de</strong>r traditionellen Doktrin. Er en<strong>de</strong>te in<br />

einem Fiasko und zog die Spaltung <strong>de</strong>r CNT nach sich. Die "Traditionalisten" behielten <strong>de</strong>n historischen<br />

Namen samt <strong>de</strong>r historischen Strategie, die "Erneuerer" suchen inzwischen unter <strong>de</strong>m Kürzel CGT nach<br />

pragmatischeren Wegen. Die einen beschimpfen die an<strong>de</strong>ren als Verräter an <strong>de</strong>n anarchistischen I<strong>de</strong>alen,<br />

die an<strong>de</strong>ren werfen jenen ihr antiquiertes Sektierertum vor. Mittlerweile sind bei<strong>de</strong> Organisationen wie<strong>de</strong>r<br />

in relative Be<strong>de</strong>utungslosigkeit zurückgefallen.<br />

Wenn <strong>de</strong>r Streit auch vor<strong>de</strong>rgründig an <strong>de</strong>r Frage entbrannte, ob sich Anarchosyndikalisten an<br />

Betriebsratswahlen beteiligen dürfen o<strong>de</strong>r nicht, stand doch dahinter <strong>de</strong>r Zusammenprall zweier<br />

Denkwelten, in die sich die anarchistische Bewegung inzwischen zerlegt hatte: Prinzipientreue o<strong>de</strong>r<br />

Experiment.<br />

Szenenwechsel: Venedig, Herbst 1984. Eine Mischung aus Volksfest und Versammlung liegt in <strong>de</strong>r Luft,<br />

offen und herzlich. Lachen<strong>de</strong>, re<strong>de</strong>n<strong>de</strong>, gestikulieren<strong>de</strong> Menschen, Neugier. Anarchisten von überallher<br />

sind in die Stadt gekommen. Aus allen Erdteilen reisten sie an, zwischen drei- und fünftausend schätzt die<br />

Presse, niemand hat sie gezählt. Die Stadtverwaltung überließ ihnen zwei Plätze und die halbe Universität<br />

für Spaß, Politik, und Kultur. Die mil<strong>de</strong> Sonne, italienisches Essen und guter Wein (eine<br />

Spezialabfüllung!) ließ eine täglich wachsen<strong>de</strong> Zahl von Touristen dazukommen, die nach kurzer Zeit<br />

ebenso neugierig wur<strong>de</strong>n, mit aßen, diskutierten und tanzten.<br />

Es ging um nichts weniger als die theoretische und praktische Standortbestimmung eines mo<strong>de</strong>rnen<br />

Anarchismus.<br />

349<br />

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Ein lange vernachlässigtes Thema, das mehr und mehr Anarchisten in aller Welt unter <strong>de</strong>n Nägeln<br />

brannte. Das Gefühl, ständig mit Konzepten von gestern die strategischen Sackgassen von morgen zu<br />

produzieren, hatte sich zu einem allgemein spürbaren Unwohlsein verdichtet. Daher hatten einige<br />

italienische Gruppen um die Zeitschrift Rivista A das "Convegno Anarchko" organisiert und dafür mit<br />

Bedacht das "Orwell-Jahr" 1984 ausgesucht.<br />

Diese Suche nach neuen Analysen <strong>de</strong>r Gesellschaft von heute und <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>s Anarchismus in ihr<br />

war bewußt nicht als Kongreß konzipiert. Niemand vertrat hier irgendwen, es waren keine<br />

Organisationen, son<strong>de</strong>rn Menschen die sprachen, und je<strong>de</strong>r sprach mit seiner Stimme. Es gab ein riesiges<br />

Programm: Ausstellungen, Vorträge, Theater, Diskussionsrun<strong>de</strong>n, Musik, Podien und Kreise, Filme,<br />

Happenings, Streitgespräche, Spiele. Es gab ein Forum, simultane Übersetzung und viel bedrucktes


Papier. Aber es gab keine Tagesordnung mit Arbeitszielen, kein Gerangel um Verfahrensfragen, keine<br />

Abstimmungen und Fraktionsintrigen. Je<strong>de</strong>r durfte kommen.<br />

In Venedig wur<strong>de</strong>n keine neuen Organisationen gegrün<strong>de</strong>t und keine alten bestätigt, und am En<strong>de</strong> stand<br />

keine neue "Prinzipienerklärung". Trotz<strong>de</strong>m wur<strong>de</strong> das Convegno zu einem <strong>de</strong>r erfolgreichsten<br />

anarchistischen Treffen <strong>de</strong>r Nachkriegszeit, <strong>de</strong>nn die vielen neuen I<strong>de</strong>en und Erfahrungen führten zu<br />

einem intensiven Austausch. Heraus kamen Kontakte zwischen Menschen und mehrere Bän<strong>de</strong> voll mit<br />

Anregungen. Genug Stoff für die nächsten Jahre - Impulse, aus <strong>de</strong>nen eine Menge entstand.<br />

Strukturwan<strong>de</strong>l<br />

Die bei<strong>de</strong>n beschriebenen Treffen können als Beispiele gelten für <strong>de</strong>n Strukturwan<strong>de</strong>l, <strong>de</strong>n die libertäre<br />

Bewegung seit ihrer achtundsechziger Renaissance durchlebt. Dieser Wan<strong>de</strong>l entspricht verschie<strong>de</strong>nen<br />

Trends und mün<strong>de</strong>t unterm Strich in <strong>de</strong>r Erkenntnis, daß <strong>de</strong>r Anarchismus von heute sich nicht mehr so<br />

sehr als Rammbock versteht, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n staatlichen Bunker zermalmen will, son<strong>de</strong>rn eher als ein<br />

Wurzelgeflecht, das in <strong>de</strong>n Beton eindringt, um ihn zu zerbröseln.<br />

Der alten Rammbockfunktion entsprach die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s direkten Frontalangriffs. In ihren besten Zeiten<br />

brachte die Bewegung hierfür große, spezifische Organisationen hervor. Ihre Kraft bezogen sie aus <strong>de</strong>r<br />

Arbeiterbewegung, ihren Schwung aus Klassenkämpfen. Die spanische CNT ist die letzte große<br />

Vertreterin dieser Generation; die CGT versucht heute eine Synthese aus solch klassischer Organisation<br />

und <strong>de</strong>m, was <strong>de</strong>n Wurzelwerk-Anarchismus statt<strong>de</strong>ssen auszeichnet: soziale Präsenz. Anwesend sein in<br />

sozialen Bewegungen und Kämpfen, katalysatorisch wirken, zur Selbstorganisation anregen,<br />

Gegenmo<strong>de</strong>lle schaffen. Unterwan<strong>de</strong>rung statt Frontalangriff- Landauer statt Bakunin. Dazu gehört <strong>de</strong>r<br />

Aufbau einer konkreten Gegengesellschaft durch konkrete Gegenprojekte und eine Rückeroberung <strong>de</strong>s<br />

Alltags. Dabei sind starre Mitgliedsorganisationen eher hin<strong>de</strong>rlich.<br />

Dieser Strukturwan<strong>de</strong>l hat nichts mit <strong>de</strong>r Frage zu tun, ob <strong>de</strong>r Anarchismus sich revolutionär o<strong>de</strong>r<br />

reformerisch gibt, militant o<strong>de</strong>r friedlich auftritt, klug o<strong>de</strong>r dumm agiert. Es geht im Grun<strong>de</strong> um <strong>de</strong>n<br />

Einsatz <strong>de</strong>r Kräfte, und wie diese am besten zur Wirkung<br />

350<br />

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gebracht wer<strong>de</strong>n können. Organisation be<strong>de</strong>utet ihre Bün<strong>de</strong>lung zur Konfrontation, Wurzelwerk ihre<br />

Diffusion* zur Infiltration.<br />

Die Entwicklung <strong>de</strong>r libertären Bewegung seit 1968 geht ein<strong>de</strong>utig in Richtung dieses subversiven<br />

Einsickerns: Libertäre Aktivisten organisieren sich nicht mehr nur unter ihresgleichen, son<strong>de</strong>rn verstehen<br />

sich zunehmend als wirken<strong>de</strong>r Teil einer sozialen Gruppe o<strong>de</strong>r Bewegung; sie diffundieren. Hinter diesem<br />

Trend steht allerdings noch immer eher die allgemeine Ratlosigkeit als ein schlüssiges Konzept. Zwar ist<br />

in <strong>de</strong>n letzten dreißig Jahren zweifellos ein Wurzelwerk entstan<strong>de</strong>n, aber die meisten Wurzeln wachsen<br />

richtungslos vor sich hin. Sie knacken mal hier ein Steinchen, treiben mal dort eine Blüte, am Fundament<br />

<strong>de</strong>s Bunkers sind sie jedoch noch nicht angelangt. So wird Diffusion leicht zur folgenlosen Beliebigkeit<br />

und <strong>de</strong>r Anarchismus zu einem willkommenen Korrektiv in einer Gesellschaft, die kritische Ansätze nur<br />

zu gerne vereinnahmt.<br />

In diesem Spannungsfeld zwischen Organisation und Wurzelwerk, zwischen traditioneller Lehre und<br />

innovativem* Experiment spielt sich die Entfaltung <strong>de</strong>s jüngeren Anarchismus ab. Diese Spannung ist<br />

Ausdruck eines tiefen Umbruchs, <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>r dreißiger Jahre und <strong>de</strong>m völligen<br />

Neubeginn <strong>de</strong>r sechziger nicht erstaunen kann. Nach drei Jahrzehnten Leerlauf kann man nicht einfach so<br />

weitermachen wie bisher. Eine Neuorientierung aber kann durchaus auch als Chance gesehen wer<strong>de</strong>n.<br />

Der neue Anarchismus ist reich an Initiativen, Kämpfen, Projekten, Experimenten und arm an großen


Ereignissen. Seit über fünfzig Jahren keine glorreichen Schlachten, gestürzte Regierungen befreite Län<strong>de</strong>r<br />

mehr, statt<strong>de</strong>ssen besetzte Häuser, selbstverwaltete Freiräume, renitente* Verweigerung. Ein<br />

Anarchismus <strong>de</strong>r kleinen Schritte. Nicht, weil die Libertären plötzlich <strong>de</strong>m Reformismus verfallen wären,<br />

son<strong>de</strong>rn weil ihnen die großen Konzepte fehlen, um diese kleinen Schritte zu einer subversiven Kraft zu<br />

bün<strong>de</strong>ln. Dennoch eine reiche Bewegung, die in vielen Län<strong>de</strong>rn ein brauchbares Fundament geschaffen<br />

hat, auf <strong>de</strong>m neue Konzepte reifen und greifen könnten.<br />

Trends<br />

Verläßliche Angaben über diese Bewegung zu machen, ist schwierig. Es liegt im Wesen von<br />

Wurzelgeflechten, daß es im Gegensatz zu Organisationen kaum Statistiken o<strong>de</strong>r gar Angaben zur<br />

Mitgliedsstärke gibt, weil die meisten Basisbewegungen einen Mitgliedsstatus nicht kennen. Dennoch ist<br />

allgemein ein stetiges Wachstum <strong>de</strong>r libertären Bewegung leicht nachzuweisen. Das bezieht sich auf die<br />

Anzahl <strong>de</strong>r in ihr agieren<strong>de</strong>n Menschen wie auf die Stärke <strong>de</strong>s Engagements. In manchen Län<strong>de</strong>rn kam es<br />

zu Einbußen, rückläufigen Ten<strong>de</strong>nzen o<strong>de</strong>r starken Schwankungen, <strong>de</strong>r allgemeine Trend jedoch zeigt seit<br />

zweieinhalb Jahrzehnten jenseits aller Mo<strong>de</strong>erscheinungen ein langsames, soli<strong>de</strong>s Wachstum an. Das sagt<br />

nichts über die Qualität aus und auch nichts über die Fluktuation, die in libertären Gruppen erschreckend<br />

hoch ist. Bezeichnen<strong>de</strong>rweise ist <strong>de</strong>r Anarchismus offenbar überwiegend für junge Menschen attraktiv.<br />

I<strong>de</strong>e und Aktion üben eine Zeit lang eine gewisse Faszination aus, aber das Fehlen einer umfassen<strong>de</strong>n<br />

libertären Alltagskultur jenseits <strong>de</strong>r<br />

351<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

politischen Aktion führt nach einigen Jahren oft zu einem Gefühl sozialer Heimatlosigkeit. Elternschaft,<br />

Berufstätigkeit o<strong>de</strong>r Studienabschluß sind klassische Bruchstellen. Die Menschen verlassen dann oftmals<br />

"die Bewegung", obwohl sie <strong>de</strong>ren I<strong>de</strong>en nach wie vor teilen. So stellen sich viele anarchistische<br />

Gruppierungen als wahre Durchgangsschleusen dar, die in eine Leere führen, wo eigentlich libertäres<br />

Leben blühen sollte. Daß <strong>de</strong>nnoch die Zahl <strong>de</strong>r Libertären zugenommen hat, zeigt nur, wie groß das<br />

Potential ist und wie schlecht es genutzt wird.<br />

Trotz solcher Schwächen ist <strong>de</strong>r Anarchismus heute, mit Ausnahme Chinas und Kubas, wie<strong>de</strong>r weltweit<br />

dort präsent, wo er auch in <strong>de</strong>r Vorkriegszeit vertreten war. Nach <strong>de</strong>m Zusammenbruch <strong>de</strong>s<br />

Sowjetimperiums schössen auch in Osteuropa zahlreiche anarchistische Gruppen aus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, die<br />

jedoch im Vergleich zur westlichen Bewegung überwiegend in sehr traditionellen<br />

Organisationsvorstellungen verfangen sind und einem recht starren, historischen Politikbegriff anhängen.<br />

Der Hang zum Historisieren ist aber keineswegs ein Privileg <strong>de</strong>s Ostens, <strong>de</strong>m immerhin eine<br />

jahrzehntelange Isolation in einer politisch eindimensionalen Welt zugutegehalten wer<strong>de</strong>n muß. Auch im<br />

Westen hat es nach 1968 zahlreiche Wie<strong>de</strong>rbelebungsversuche alter Organisationen gegeben, die auf <strong>de</strong>m<br />

Papier fast alle erfolgreich waren, in <strong>de</strong>r sozialen Realität jedoch kaum spürbar sind. Die<br />

Organisationsproblematik <strong>de</strong>s ›offiziellen‹ Anarchismus unserer Tage mit seinem Hang zur geistigen<br />

Starre und seiner Ten<strong>de</strong>nz zum Traditionsverein haben wir bereits kennengelernt. Seine meist plakative<br />

Propaganda stößt in <strong>de</strong>r Gesellschaft auf wenig Echo, und selbst bei politischen Kampagnen erreichen<br />

informelle libertäre Gruppen meist einen höheren Grad an Mobilisierung. All das dokumentiert nur <strong>de</strong>n<br />

schwierigen Prozeß einer Abnabelung vom Anarchismus vergangener Zeiten. Die interessanteren<br />

Erfahrungen wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>nn auch eher an<strong>de</strong>rswo gemacht.<br />

Frühe Beispiele<br />

Zu <strong>de</strong>n frühen Vertretern libertärer Diffusion gehört das britische Commitee of 100, das in <strong>de</strong>n sechziger<br />

Jahren die großen Ostermärsche <strong>de</strong>r Abrüstungs- und Frie<strong>de</strong>nsbewegung sehr erfolgreich ergänzte durch<br />

<strong>de</strong>zentrales Han<strong>de</strong>ln in kleinen, lokal verankerten Gruppen. Einzelne Anarchisten brachten hierbei bewußt<br />

die I<strong>de</strong>e gewaltfrei-libertären Alltagsverhaltens und beispielhafter direkter Aktionen in eine Bewegung<br />

ein, in <strong>de</strong>r sie selbst aktiv waren. Erst als sich die Formen bewährten, wur<strong>de</strong>n auch libertäre I<strong>de</strong>en


interessant und ihre Muster weitgehend angenommen. Unschwer erkennen wir hier einen Vorläufer für<br />

das Wirken heutiger Gruppen wie etwa die "Gewaltfreie Aktion" in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Frie<strong>de</strong>nsbewegung.<br />

Die libertäre Szene unserer Tage schöpft aber ebensosehr aus <strong>de</strong>m reichen Reservoir an Erfahrungen, das<br />

in <strong>de</strong>r nordamerikanischen Bürgerrechts-, Anti- Vietnam- und Kommunebewegung entstand. Ein sehr<br />

breites Spektrum, das von gospelsingen<strong>de</strong>n Evangelisten über Alternativlandwirte bis zu <strong>de</strong>n<br />

ultraschrillen Yippies reicht, einer radikalen Jugend-<br />

1) Vergleiche Kapitel 16!<br />

352<br />

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bewegung, die in <strong>de</strong>n Siebzigern mit militanter Provokation das saubere, weiße Amerika aufmischte. In<br />

all diesen Bereichen reagierten die Betroffen selbst, brachten sich unmittelbar ein und agierten direkt. Sie<br />

vermie<strong>de</strong>n Zentralisation, praktizierten eine direkte Basis<strong>de</strong>mokratie und packten die Ursachen meist sehr<br />

radikal bei <strong>de</strong>r Wurzel, wobei sie sich früher o<strong>de</strong>r später unausweichlich auch mit <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>s Staates<br />

auseinan<strong>de</strong>rsetzen mußten. Nicht selten entstan<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Protest selbstorganisierte Alternativen<br />

jenseits staatlicher Strukturen. Auch hier gab es direkte Verbindungen zu libertären Gruppen,<br />

Persönlichkeiten und Traditionen, die bis zur IWW <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit zurückreichten.<br />

Bei <strong>de</strong>n Kabouters im Amsterdam <strong>de</strong>r sechziger Jahre läßt sich <strong>de</strong>r Rückgriff auf <strong>de</strong>n Anarchismus -<br />

insbeson<strong>de</strong>re auf Kropotkin - ebenfalls leicht auf<strong>de</strong>cken. Diese frühe Stadtteil- und Ökobewegung, die mit<br />

ihren weißen Fahrrä<strong>de</strong>rn angetreten war, um die Innenstadt autofrei zu kriegen, besetzte die ersten Häuser,<br />

organisierte sozial Schwache und wur<strong>de</strong>, obwohl sie sich ständig mit <strong>de</strong>r Polizei Straßenschlachten<br />

lieferte, auf Anhieb in <strong>de</strong>n Stadtrat gewählt. An ihr inspirierten sich später die Hausbesetzer ebenso wie<br />

Bürgerinitiativen, grüne Kommunalpolitiker, Ökoaktivisten, Stadtindianer o<strong>de</strong>r Murray Bookchins<br />

libertarian municipalism.<br />

Diese drei frühen Beispiele, allesamt vor und unabhängig von <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntenrevolte entstan<strong>de</strong>n, mögen<br />

genügen, um die Ursprünge jenes Wurzelwerk- Trends zu illustrieren, <strong>de</strong>r für die neuere libertäre<br />

Bewegung typisch ist. Es han<strong>de</strong>lt sich dabei nicht um eine neue inhaltliche Richtung, son<strong>de</strong>rn um eine<br />

an<strong>de</strong>re Struktur. Deshalb gab und gibt es in dieser Bewegung auch durchaus Unterschie<strong>de</strong>, sich<br />

wi<strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong> Konzepte, verschie<strong>de</strong>ne Vorgehensweisen und Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen um richtige und<br />

falsche Wege. Militant, gewaltfrei, propagandistisch, projektorientiert. Wi<strong>de</strong>rstand leistend o<strong>de</strong>r<br />

aufbauend -- alles ist in <strong>de</strong>n Wurzelgeflechten libertärer Aktivisten zu fin<strong>de</strong>n. Allen gemeinsam ist <strong>de</strong>r<br />

Ansatz, beispielgebend zu wirken und eine Bewegung nicht durch ein politisches Etikett zu<br />

vereinnahmen.<br />

Eine Ökologiebewegung als organisatorisches Anhängsel einer anarchistischen Fö<strong>de</strong>ration wäre auch<br />

wohl eine etwas lächerliche Vorstellung.<br />

In <strong>de</strong>n siebziger Jahren kommt es zu einer solchen Vervielfachung von Initiativen, Bewegungen und<br />

Projekten, daß wir sie unmöglich abhan<strong>de</strong>ln können. Es sind nicht nur zu viele, je<strong>de</strong> einzelne stellt sich<br />

auch als ebenso interessant wie komplex dar. Und alles ist irgendwie an<strong>de</strong>rs als früher:<br />

Als in Besancon die Arbeiterschaft <strong>de</strong>r Uhrenfabrik LIP ihren Betrieb besetzt und in Selbstverwaltung<br />

weiterführt, tut sie das nicht namens einer Gewerkschaft o<strong>de</strong>r Organisation, son<strong>de</strong>rn aus eigener Initiative<br />

- ebenso wie ihre Kollegen in Norditalien, die während wil<strong>de</strong>r Streiks die Fließbän<strong>de</strong>r bei FIAT<br />

<strong>de</strong>molieren. In <strong>de</strong>n USA konstituieren sich die Yippies als ›Partei‹ und nehmen an <strong>de</strong>n Wahlen teil. Nach<br />

ihrer Nie<strong>de</strong>rlage töten sie ihren Präsi<strong>de</strong>ntschaftsbewerber und essen ihn auf: Sie hatten nämlich ein<br />

leben<strong>de</strong>s Schwein nominiert - mit <strong>de</strong>m Slogan "Wählt, was ihr wollt. Ihr wählt immer unseren<br />

Kandidaten".


353<br />

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Wur<strong>de</strong> früher die politische Botschaft auf proletarischen Massenversammlungen in kämpferischen Re<strong>de</strong>n<br />

verbreitet, so kommt die Message jetzt mit vielfach größerer Besucherzahl auf Open-Air-Konzerten rüber,<br />

wie etwa im legendären Woodstock-Festival. War es noch vor zwei Generationen eine anarchistische<br />

Todsün<strong>de</strong>, sich an Wahlen zu beteiligen o<strong>de</strong>r unternehmerisch tätig zu sein, so beteiligen sich die<br />

libertären Bookchin-Anhänger heute ganz bewußt an kommunalen Vertretungsmo<strong>de</strong>llen, und überall in<br />

<strong>de</strong>r Welt besetzen selbstverwaltete Betriebe ökonomische Nischen.<br />

Beschränken wir uns angesichts dieses verwirren<strong>de</strong>n Kaleidoskops auf das überschaubarere Beispiel<br />

Deutschland. Nicht nur, weil es uns bekannter sein dürfte - es ist auch von allem etwas dabei.<br />

Deutschland<br />

Nach<strong>de</strong>m die <strong>de</strong>monstrieren<strong>de</strong> stu<strong>de</strong>ntische Jugend wie<strong>de</strong>r zu einer studieren<strong>de</strong>n stu<strong>de</strong>ntischen Jugend<br />

gewor<strong>de</strong>n war, hatte sie eine Erbmasse hinterlassen, aus <strong>de</strong>r Mannigfaltiges entsproß. Das Gros <strong>de</strong>r<br />

stramm linken Stu<strong>de</strong>nten ent<strong>de</strong>ckte die ehernen Prinzipien proletarischer Organisation und folgte Marx',<br />

Lenins, Trotzkis, Stalins o<strong>de</strong>r Maos Anweisungen. Da alle darauf hinausliefen, die Partei <strong>de</strong>s Proletariats<br />

aufzubauen, grün<strong>de</strong>te je<strong>de</strong> Fraktion im Laufe <strong>de</strong>r Zeit ihre eigene ›Partei‹, zwar ohne Proletariat, dafür<br />

aber eine je<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>r anerkannt richtigen Linie. Diese sogenannten "K-Gruppen", die alle mit <strong>de</strong>m<br />

Adjektiv "kommunistisch" begannen, beherrschten eine Zeit lang das linke Spektrum und das<br />

Medieninteresse, bevor sie sich recht unspektakulär im San<strong>de</strong> verliefen. Interessant dabei war, daß sie<br />

zwar alle strikt die Konzepte straffer Massenorganisation vertraten, in Wirklichkeit jedoch versuchten, in<br />

<strong>de</strong>n aufkommen<strong>de</strong>n sozialen Bewegungen Fuß zu fassen. Im Gegensatz aber zu <strong>de</strong>n ›katalysieren<strong>de</strong>n‹<br />

Libertären, die als Teil jener Bewegungen mit <strong>de</strong>m Beispiel wirkten, versuchten die ›agitieren<strong>de</strong>n‹<br />

Kommunisten in <strong>de</strong>r Regel, die i<strong>de</strong>ologische Führung zu erobern. Aber wer läßt sich schon gern von<br />

kommunistischen Stu<strong>de</strong>nten belehren?<br />

Was das libertäre Spektrum angeht, so hat es diese Phase recht gut überstan<strong>de</strong>n. Zwar gab es unter <strong>de</strong>m<br />

Eindruck <strong>de</strong>s marxistischen Übergewichts für einige Jahre die Ten<strong>de</strong>nz, eine Synthese zwischen<br />

Anarchismus und Marxismus herbeizuführen, aber da es sich überwiegend um ein theoretisches Thema<br />

han<strong>de</strong>lte, blieb es praktisch ohne Auswirkung. Begonnen als Suche nach <strong>de</strong>n libertären Spuren bei Marx<br />

und im Marxismus, geriet es teilweise zum peinlichen Versuch mancher Libertärer, nachzuweisen, daß<br />

Anarchisten eigentlich die besseren Marxisten seien.<br />

Neben diesen "Anarchomarxisten", die Karl Korsch, die holländischen Rätekommunisten und Rosa<br />

Luxemburg schätzten, gab es auf <strong>de</strong>m "proletarischen Flügel" <strong>de</strong>r Libertären etliche Gruppen, die sich auf<br />

die "autonomen Klassenkämpfe" in Italien und Frankreich beriefen und Betriebs-, Stadtteil- und<br />

Emigrantenarbeit betrieben. Eine von ihnen hieß "Wir Wollen Alles!". Ihr Weg führte über die ersten<br />

"Häuserkämpfe" Deutschlands zu <strong>de</strong>n "Spontis", die mit ihren – wie schon <strong>de</strong>r Name sagt –<br />

"spontaneistischen" Aktionen und<br />

354<br />

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Lebenskulturen die späten siebziger Jahre prägten. Parallel dazu entwickelten sich die "subkulturellen"<br />

Anarchos. Bei ihnen stand <strong>de</strong>r Joint* höher im Kurs als alle Theorie, und ihre Devise lautete: "Leb' jetzt!"<br />

Mit dieser Lebenseinstellung infizierten sie auf Jahre hinaus die Jugendzentren zwischen Garmisch und<br />

Schleswig; man träumte meist von <strong>de</strong>r Kommune auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong>, von <strong>de</strong>nen damals eine Menge<br />

entstan<strong>de</strong>n.


Ganz an<strong>de</strong>rs drauf war die "Stadtguerillafraktion". Ihre Anhänger kamen meist aus <strong>de</strong>n Großstädten und<br />

hingen <strong>de</strong>n Befreiungsbewegungen <strong>de</strong>r Dritten Welt an, <strong>de</strong>ren Strategien darauf hinausliefen, <strong>de</strong>n "Krieg<br />

in die Metropolen zu tragen", um "die Bestie im Herzen zu treffen". Ab 1972 kam es zu ersten Aktionen.<br />

Die als Baa<strong>de</strong>r-Meinhof-Ban<strong>de</strong> titulierte "Rote Armee Fraktion" sorgte mit ihren Banküberfällen und<br />

Bombenanschlägen für Schlagzeilen. Zwar ging aus ihren in schau<strong>de</strong>rhaftem Linksjargon verfaßten<br />

Traktaten ein<strong>de</strong>utig hervor, daß sie <strong>de</strong>n Anarchismus verabscheuten und sich als "revolutionäre<br />

Marxisten-Leninisten" verstan<strong>de</strong>n, aber <strong>de</strong>nnoch waren sie für Medien und Staatsanwaltschaft fortan<br />

"Anarchistische Gewalttäter". Auf Jahre hinaus war die Gleichsetzung Anarchismus = RAF ein<br />

Totschlagargument, das <strong>de</strong>n Libertären das Leben sauer machte und viele von ihnen <strong>de</strong>r Verfolgung<br />

aussetzte. Die "Gewalt<strong>de</strong>batte" beherrschte nun die Linke und bald die ganze Gesellschaft. Auch unter<br />

<strong>de</strong>n Anarchos fand die Guerilla Befürworter. Die "Bewegung 2. Juni" etwa unternahm <strong>de</strong>n Versuch,<br />

militante Aktionen und Basisbewegung zu verbin<strong>de</strong>n, um so eine Stadtguerilla zu kreieren, die nicht so<br />

menschenverachtend und abgehoben sein sollte wie die RAF. Das durchaus komplexe Scheitern dieser<br />

Politik <strong>de</strong>r Gewalt brachte die gescheiteren Köpfe zurück zu <strong>de</strong>n Wurzeln. Sie trugen ihre Bereitschaft,<br />

sich zur Wehr zu setzen, lieber in die Wi<strong>de</strong>rstandsaktionen von Gorleben, Wackersdorf und <strong>de</strong>r<br />

Frankfurter Flughafenerweiterung. Statt Zeitbomben zu <strong>de</strong>ponieren, wur<strong>de</strong> jetzt an Strommasten gesägt.<br />

Die Parole jener Säger in jenen Tagen: "Legal? Illegal? Scheißegal!"<br />

Die meisten Anarchos <strong>de</strong>r Nach-APO-Zeit aber agierten in kleinen, meist informellen Gruppen und<br />

engagierten sich in allem, was ihnen über <strong>de</strong>n Weg lief. Anfang <strong>de</strong>r Siebziger schätzte man ein- bis<br />

zweitausend Libertäre, was etwa einem Hun<strong>de</strong>rtstel <strong>de</strong>r Stärke <strong>de</strong>r Vorkriegszeit entsprach, während die<br />

Aktionsfel<strong>de</strong>r, in <strong>de</strong>nen diese Handvoll Menschen drinsteckten, um ein Zehnfaches höher lag. 1971 betrug<br />

nach einer zwar nicht sehr zuverlässigen aber im Trend wohl richtigen Selbstauskunft das<br />

Durchschnittsalter 21 Jahre. 28 Prozent <strong>de</strong>r befragten Libertären waren Schüler, 24 % Stu<strong>de</strong>nten, 22 %<br />

Lehrlinge, 19 % Arbeiter und 7 % Angestellte, Freiberufler und Sonstiges. Bei aller Tagesaktivität leistete<br />

diese kleine Bewegung auch noch eine ungemein rege, wenngleich meist sehr seichte Propagandatätigkeit.<br />

Ab 1968 begann mit Hun<strong>de</strong>rten kleiner anarchistischer Zeitungen eine allgemeine Verbreitung libertärer<br />

I<strong>de</strong>en und Standpunkte, die im Laufe <strong>de</strong>r Jahre zu einem papiernen Wasserkopf zweifelhafter Qualität<br />

anwuchs. Die meist plakative Propaganda richtete sich überwiegend an die linke Jugend. Von 500<br />

untersuchten Anarchoblättern haben ganze drei jemals bewußt versucht, die "Normalbevölkerung"<br />

anzusprechen. Die einzelnen Gruppen gehörten keiner Organisation an und stan<strong>de</strong>n - wenn überhaupt -<br />

nur<br />

355<br />

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in einer lockeren Koordinierung zueinan<strong>de</strong>r. Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß diese überaus schwache und<br />

unglaublich vielseitige Bewegung ihre Wirkung nur entfalten konnte, in<strong>de</strong>m sie sich als Katalysator in die<br />

sozialen Bewegungen ihrer Zeit einbrachte.<br />

Anfang <strong>de</strong>r achtziger Jahre lagen die Schätzungen <strong>de</strong>r aktiven Libertären schon bei zehn- bis<br />

zwanzigtausend.<br />

Dennoch entsprach die politische Kultur <strong>de</strong>r linken Szene weitgehend <strong>de</strong>r eines politischen Ghettos, und<br />

die libertären Kreise bil<strong>de</strong>ten hierbei keine Ausnahme. Auftreten, Sprache, Habitus und Zielrichtung von<br />

Aktionen und Projekten waren meist auf geschlossene soziale Gruppen ausgerichtet. Sie signalisierten<br />

Abgrenzung. Provozieren<strong>de</strong> Attitü<strong>de</strong> stand höher im Kurs als gesellschaftliche Wirkung. Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r nicht<br />

dazugehörte, war Teil <strong>de</strong>r "bürgerlichen Schweinewelt". Eine hermetische Bewegung ohne Zugänge und<br />

bar je<strong>de</strong>r Attraktivität.<br />

Daran begann sich erst gegen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Siebziger etwas zu än<strong>de</strong>rn, als die Bun<strong>de</strong>srepublik von breiten<br />

politischen Diskussionen erfaßt wur<strong>de</strong>. Es begann mit <strong>de</strong>m Atomprogramm <strong>de</strong>r Regierung, das<br />

Deutschland in eine Art Nuklearpark verwan<strong>de</strong>ln sollte. Die ökologische, technologische und<br />

wirtschaftliche Blindheit, die hinter diesem Plan steckte, stieß in breiten Schichten <strong>de</strong>r Bevölkerung auf<br />

Angst und Ablehnung. Der Fortschrittsglaube <strong>de</strong>r fünfziger und sechziger Jahre war einer zunehmen<strong>de</strong>n


Kritikfähigkeit gewichen, und die Menschen verfügten seit <strong>de</strong>r achtundsechziger Wen<strong>de</strong> über<br />

Erfahrungen und Instrumentarien, diese Kritik auch umzusetzen. Die Aktionen gegen die verschie<strong>de</strong>nen<br />

Atomprojekte mobilisierten Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong> und wur<strong>de</strong>n von Millionen unterstützt. Wyhl, Brokdorf,<br />

Kalkar, Gorleben und Wackersdorf waren Stationen eines Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r mit sehr unterschiedlichen<br />

Mitteln geführt wur<strong>de</strong>. Gewaltfreier Wi<strong>de</strong>rstand, öffentlicher Druck, militante Demonstrationen, direkte<br />

Einzelaktionen und immer wie<strong>de</strong>r Platzbesetzungen. "Wi<strong>de</strong>rstandsdörfer" auf Bauplätzen wur<strong>de</strong>n zu einer<br />

neuen und sehr wirksamen Form <strong>de</strong>s Protests. Am Kaiserstuhl, im Wendland o<strong>de</strong>r in Oberfranken wur<strong>de</strong>n<br />

ganze Regionen rebellisch und brachten eine örtliche Wi<strong>de</strong>rstandskultur mit zahlreichen Projekten hervor.<br />

In Kalkar verhin<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>r Protest <strong>de</strong>n Einstieg in die Technologie <strong>de</strong>s "Schnellen Brüters", in Wackersdorf<br />

wur<strong>de</strong>n die Aufbereitungspläne durchkreuzt, Österreich mußte sogar ganz auf sein Atomprogramm<br />

verzichten. Von einem Sieg <strong>de</strong>r Bewegung konnte <strong>de</strong>nnoch nicht gesprochen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn die Atomkraft<br />

wur<strong>de</strong> nicht gestoppt, nur reduziert. Ein Um<strong>de</strong>nken war jedoch in Gang gekommen: Viele Menschen<br />

hatten ihre Erfahrungen mit <strong>de</strong>r staatlichen Gewalt gemacht und einiges über die Mechanismen <strong>de</strong>r Macht<br />

gelernt. Auch hatten sie die Kraft <strong>de</strong>s solidarischen Han<strong>de</strong>lns gespürt. Dieses Han<strong>de</strong>ln entsprang einer<br />

Basisbewegung, die in wesentlichen Punkten zunehmend libertären Handlungsmustern folgte. Solche<br />

Muster wur<strong>de</strong>n oft von kleinen, katalysatorisch wirken<strong>de</strong>n Gruppen eingebracht und vorgelebt. Vor allem<br />

aber begann in <strong>de</strong>n Menschen ein kritisches, ökologisches Bewußtsein zu dämmern, das zunehmend auch<br />

die globalen Wechselwirkungen erfaßte. Der Zusammenhang zwischen Umweltzerstörung, Wirtschaft<br />

und Staat wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik zum Thema.<br />

356<br />

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Das blieb nicht auf die Atomkraft beschränkt und hatte weitreichen<strong>de</strong> Folgen. Aus einer Protestbewegung<br />

von Bürgerinitiativen entstan<strong>de</strong>n die "neuen sozialen Bewegungen" mit einem breiten Themenspektrum,<br />

die aber untereinan<strong>de</strong>r eng verwoben waren. An ihrer Basis waren zum Beispiel Frie<strong>de</strong>nsbewegung,<br />

Antiatombewegung, Antimilitarismus, Frauenbewegung, Ostermärsche und Ökologiebewegung kaum zu<br />

trennen. In einzelnen Aktionen o<strong>de</strong>r Projekten wie <strong>de</strong>m Wi<strong>de</strong>rstand gegen die Frankfurter Startbahn West,<br />

<strong>de</strong>n Haus- und Instandbesetzungen, Frauenzentren, Infolä<strong>de</strong>n, Kulturinitiativen, Stadtteilprojekten und<br />

Wohngemeinschaften entstand eine neue Alltags-, Lebens- und Wi<strong>de</strong>rstandskultur - bis hin zum Biola<strong>de</strong>n<br />

um die Ecke. Sie ließ sich nicht mehr auf ein einzelnes Thema beschränken, son<strong>de</strong>rn stand für <strong>de</strong>n<br />

Wunsch nach umfassen<strong>de</strong>r gesellschaftlicher Verän<strong>de</strong>rung. Ihr Motto war, Rechte nicht nur zu for<strong>de</strong>rn,<br />

son<strong>de</strong>rn sie zu nehmen. Dies geschah freilich auf sehr verschie<strong>de</strong>ne Weise und erzeugte recht<br />

unterschiedliche Bewegungen, die sich zum Teil vehement zerstritten.<br />

Grüne, Autonome, Graswurzler<br />

Schon bald propagierten gemäßigte Kreise die I<strong>de</strong>e einer ökologischen Partei. Sie sollte angeblich ein<br />

getreues Abbild <strong>de</strong>r radikalen Basisbewegungen sein und nichts weiter, als <strong>de</strong>ren verlängerter Arm im<br />

Parlament. Nur dort könne wirklich etwas Dauerhaftes erreicht wer<strong>de</strong>n. Die Skepsis eben jener Basis aber<br />

war groß: Man fürchtete, daß eine Verlagerung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s ins Parlament <strong>de</strong>r Bewegung nicht nur<br />

ihre Schlagkraft nehmen wür<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn sich dort auch leicht vereinnahmen ließe. Aus <strong>de</strong>m direkten<br />

Wi<strong>de</strong>rstand wür<strong>de</strong> ein indirekter, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n bürokratischen Mühlen <strong>de</strong>s Parlamentarismus mit<br />

Leichtigkeit beschäftigt, neutralisiert und kaltgestellt wer<strong>de</strong>n könnte. Vor allem aber fürchtete man, daß<br />

von <strong>de</strong>n ökologischen Zielen im Gekungel von Regierungen und Koalitionen nichts weiter übrig bliebe<br />

als halbherzige Kosmetik, die an<strong>de</strong>re Parteien ebensogut fertigbrächten. Wenn aber das Leben auf<br />

unserem Planeten gerettet wer<strong>de</strong>n solle, könne man nicht "ein bißchen Ökologie" betreiben.<br />

Als sich schließlich mit großem Bauchweh 1980 die Partei <strong>de</strong>r Grünen grün<strong>de</strong>te und sich zunächst etwas<br />

oberhalb <strong>de</strong>r Fünfprozentmarke einpen<strong>de</strong>lte, bewahrheiteten sich diese Be<strong>de</strong>nken. Die einen feierten <strong>de</strong>n<br />

Einzug ins Parlament als großen Sieg, die an<strong>de</strong>ren stellten nach drei, vier Jahren fest, daß von <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e<br />

eines "verlängerten Armes im Parlament" nicht viel mehr übriggeblieben war als eine koalitionsfähige<br />

Parlamentspartei, die sich nebenbei ein Standbein auf <strong>de</strong>r Straße hielt. Bis hinunter in <strong>de</strong>n kleinsten<br />

Ortsverband waren nun die wenigen verbliebenen Aktiven mit <strong>de</strong>m Studium von Akten und<br />

Sitzungsprotokollen bestens ausgelastet. Die radikaleren Geister schlagen sich seither in endlosen


Fraktionskämpfen innerhalb und außerhalb <strong>de</strong>r Partei wacker um die Bewahrung eines libertär-radikalen<br />

Erbes <strong>de</strong>r Grünen, das längst verloren ist. Statt<strong>de</strong>ssen erweitert die Partei geschickt und zielstrebig ihren<br />

Marktwert als Koalitionspartner, <strong>de</strong>r inzwischen auf annähernd zehn Prozent geklettert ist. Eine<br />

beachtliche Leistung vom Standpunkt eines Parteistrategen, eine eher be<strong>de</strong>nkliche Entwicklung vom<br />

ökologischen Standpunkt aus gesehen - vom Anliegen einer libertären Umgestaltung einmal ganz<br />

abgesehen.<br />

357<br />

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Auf <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Extrem bil<strong>de</strong>te sich aus <strong>de</strong>n Bewegungen <strong>de</strong>r Siebziger ein merkwürdiges Phänomen,<br />

das unter <strong>de</strong>m etwas unpassen<strong>de</strong>n Namen Autonome auftritt. Deren Wurzeln sind vielfältig. Die bie<strong>de</strong>rtheoretische<br />

Zeitschrift Autonomie, die <strong>de</strong>r Bewegung ihren Namen gab, verschwand schon vor über<br />

einem Jahrzehnt und ist vergessen. Militante Anarchos aus <strong>de</strong>m "Schwarzen Block" <strong>de</strong>r Startbahn West<br />

verquirlten sich mit <strong>de</strong>n dogmatischen Resten <strong>de</strong>r maoistischen K-Gruppen <strong>de</strong>r Siebziger, <strong>de</strong>n<br />

Anarchopunks <strong>de</strong>r Hausbesetzerszene, radikalisierten Kämpfern <strong>de</strong>r Antiatombewegung und Anhängern<br />

<strong>de</strong>r RAF zu einem Phänomen, das beson<strong>de</strong>rs durch die Uniformität seiner Kleidung und ein<br />

provozieren<strong>de</strong>s Auftreten zu <strong>de</strong>n Lieblingen <strong>de</strong>r Medien wur<strong>de</strong>. Die punktuelle Gewaltbereitschaft <strong>de</strong>r<br />

Autonomen wirkte hierbei als leistungsfähiger Verstärker. Schwarzvermummte Stoßtrupps aus <strong>de</strong>r<br />

Hamburger Hafenstraße o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Autonomen-Hochburg Berlin Kreuzberg lieferten über Jahre hinweg die<br />

schaurig-schönen Bil<strong>de</strong>r, die <strong>de</strong>n Bürgern das Gruseln lehrten. Abgesehen von <strong>de</strong>r autonomen Folklore,<br />

die im Grun<strong>de</strong> nichts weiter ist als <strong>de</strong>r Ausdruck eines beson<strong>de</strong>rs extremen sozialen Ghettos, scheint <strong>de</strong>r<br />

Blick durch <strong>de</strong>n Sehschlitz <strong>de</strong>r "Haßmütze" auch <strong>de</strong>n politischen Horizont einzuengen. Inhaltlich vertritt<br />

die autonome Bewegung ein recht starres Gemisch aus altkommunistischem Avantgar<strong>de</strong>-Anspruch und<br />

einem anarcho-spontaneistischen Kult <strong>de</strong>r direkten Aktion. Angereichert wird das Ganze durch einen<br />

umgemo<strong>de</strong>lten Klassenstandpunkt, <strong>de</strong>r auf die Kraft eines neuen Subproletariats baut, das sich aus<br />

Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern rekrutiert. Von <strong>de</strong>r Stoßrichtung her han<strong>de</strong>lt es sich um eine<br />

Bewegung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s, von ihrer Struktur her um relativ hermetische Gruppen, in <strong>de</strong>nen es zwar<br />

keine institutionelle, aber eine sehr starke praktische Hierarchie gibt. Der Kult <strong>de</strong>r Militanz, <strong>de</strong>r bis zu<br />

bizarren Formen eines neuen, kämpferischen Hel<strong>de</strong>ntums führt, spielt hierbei eine große Rolle, ebenso<br />

wie das "korrekte" szenespezifische Verhalten. Für eine tatsächliche "Autonomie" <strong>de</strong>r Menschen bleibt da<br />

natürlich wenig Platz. Die Entwicklung <strong>de</strong>r Autonomen zeigt einen <strong>de</strong>utlichen Trend weg von <strong>de</strong>n<br />

Basisbewegungen, hin zu einer geschlossenen Elite kämpfen<strong>de</strong>r Ka<strong>de</strong>r. Insofern stehen sie für eine<br />

lupenreine ›Rammbock-Strategie‹. Ihre Aktivitäten konzentrieren sich <strong>de</strong>rzeit auf <strong>de</strong>n Kampf gegen <strong>de</strong>n<br />

Neofaschismus. "Faschos" und "Antifas" prallen hierbei auf <strong>de</strong>r Ebene einer Gewalt aufeinan<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>ren<br />

Unterschie<strong>de</strong> kaum mehr auszumachen sind. Was die Herausbildung einer eigenen, sozialen Kultur und<br />

die Fähigkeit zur konstruktiven Alternative <strong>de</strong>r Autonomen angeht, so ist ihre Geschichte - etwa im<br />

Bereich <strong>de</strong>r Hausbesetzerszene - eine Geschichte verpaßter Chancen.<br />

Die Gruppierung, die die Herausbildung eines Wurzelwerks am konsequentesten vorangetrieben hat und<br />

zugleich <strong>de</strong>r anarchistischen Ethik am nächsten kommt, ist die "Gewaltfreie Aktion". Nicht zufällig trägt<br />

ihre recht verbreitete Zeitung <strong>de</strong>n Namen Graswurzel-Revolution. Überhaupt tauchen im Anarchismus <strong>de</strong>r<br />

achtziger und neunziger Jahre vermehrt Namen wie Rhizom*, Wurzelwerk, Netzwerk o<strong>de</strong>r Grassroot*<br />

auf und dokumentieren dadurch indirekt <strong>de</strong>n Prozeß <strong>de</strong>s Um<strong>de</strong>nkens in Sachen Struktur und<br />

Organisationsform.<br />

Die "Graswurzler", die eine lose Fö<strong>de</strong>ration Gewaltfreier Aktionsgruppen bil<strong>de</strong>n, sind sämtlich mit <strong>de</strong>n<br />

Bewegungen, in <strong>de</strong>nen sie agieren, großgewor<strong>de</strong>n. Ihr Entstehen Anfang<br />

358<br />

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<strong>de</strong>r siebziger Jahre läßt sich ziemlich leicht auf die antimilitaristische Bewegung in England und <strong>de</strong>n USA


zurückverfolgen, wo Gandhis Instrumentarium im Kampf gegen die Atombombe o<strong>de</strong>r für die<br />

Bürgerrechte eine stetige Weiterentwicklung erfahren hatte. Die FÖGA stellt sich heute als ein breites<br />

Sammelbecken dar, in <strong>de</strong>m antimilitaristische, ökologische, anarchafeministische und projektorientierte<br />

Ansätze gleichwertig vertreten sind. Historisch bezieht sie sich auf eine eindrucksvolle Ahnengalerie, in<br />

<strong>de</strong>r so unterschiedliche Köpfe wie Mahatma Gandhi, Erich Mühsam, Emma Goldman, Martin Luther<br />

King, Ernst Frie<strong>de</strong>rich, Clara Wichmann, Rudolf Rocker, Leo Tolstoi o<strong>de</strong>r Louis Lecoin zu fin<strong>de</strong>n sind.<br />

Gemeinsamer Nenner dieser Vielfalt, in <strong>de</strong>r sich auch viele Nicht-Anarchisten wohl fühlen, ist das<br />

Bekenntnis zur Gewaltfreiheit. Das schließt empfindliche direkte Aktionsformen wie Besetzungen,<br />

Blocka<strong>de</strong>n, Hungerstreiks und Boykotts durchaus mit ein. Die spezifischen Aktionsfel<strong>de</strong>r reichen vom<br />

Kampf gegen Krieg, Waffenhan<strong>de</strong>l und Armee über Antiatombewegung bis hin zu alternativen Projekten<br />

und <strong>de</strong>r Totalverweigerung von Kriegsund Ersatzdienst, <strong>de</strong>r als Teil <strong>de</strong>r militärischen Gesamtstrategie<br />

verstan<strong>de</strong>n und abgelehnt wird. Dieser einzigen in Deutschland funktionieren<strong>de</strong>n libertären Fö<strong>de</strong>ration<br />

scheint eine gelungene Synthese aus spezifischer Organisation und langsamer Diffusion innerhalb sozialer<br />

Bewegungen gelungen zu sein. Libertäre Handlungsmuster wur<strong>de</strong>n so in weiten Bereichen <strong>de</strong>r<br />

Basisbewegungen zu einem selbstverständlichen Instrumentarium. Eine solche Struktur dürfte auch in <strong>de</strong>r<br />

konservativen Ära Kohl in <strong>de</strong>r Lage sein, <strong>de</strong>n allgemeinen Rückgang sozialen Engagements zu überleben.<br />

Anarchismus in <strong>de</strong>r Ära Kohl<br />

Der kalte neonationale Wind <strong>de</strong>r achtziger und neunziger Jahre brachte <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik ein<br />

verschärftes soziales Klima, in <strong>de</strong>m Massenarbeitslosigkeit, Neonazismus und patriotische<br />

Großmannssucht <strong>de</strong>r Regieren<strong>de</strong>n das Gespenst eines neuen Faschismus heraufbeschwören. Der<br />

bürgerliche Staat versucht, diesen Trend durch einen Rechtsruck aufzufangen, <strong>de</strong>r sich - quer durch alle<br />

Parteien - zu einem Rechtskurs stabilisiert hat. Das wirkt sich auf das gesamte Leben aus und damit auch<br />

auf die gesellschaftlichen Kämpfe. Die Menschen bangen um Wohlstand und Sicherheit, das Interesse an<br />

sozialen Themen erlahmt, die entsprechen<strong>de</strong>n Bewegungen schrumpfen auf Restgrößen zusammen, die<br />

sich nur noch gelegentlich aktivieren. In gewisser Weise ist es <strong>de</strong>m Staat gelungen, das politische<br />

Aufbruchklima, das die Achtundsechziger losgetreten hatten und das die Republik bis in die Mitte <strong>de</strong>r<br />

achtziger Jahre bewegte, zurückzurollen. Diese Zeit eines unwirtlichen politischen Winters blieb nicht<br />

ohne Auswirkungen auf die anarchistische Bewegung.<br />

Der Wust an Aktionsfel<strong>de</strong>rn, in die sich die Anarchisten <strong>de</strong>r Nach-APO-Zeit gestürzt hatten, ist zugunsten<br />

einer kontinuierlicheren Arbeit zusammengeschmolzen. Das begünstigte die Herausbildung einiger<br />

vergleichsweise stabiler Projekte, die sich innerhalb <strong>de</strong>r spezifisch anarchistischen Bewegung einrichten<br />

konnten. Das hektische Panorama <strong>de</strong>r libertären Presse hat sich auf ein halbes Dutzend stabiler<br />

Zeitschriften eingepen<strong>de</strong>lt, flankiert von einer Anzahl kleiner Blätter, die sich Lokalem, Aktuellem o<strong>de</strong>r<br />

beson<strong>de</strong>ren<br />

359<br />

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Themen widmen. Die in <strong>de</strong>n siebziger und achtziger Jahren epi<strong>de</strong>misch entstan<strong>de</strong>nen Lokal- und<br />

Stadtzeitungen mit ihrem Anspruch einer regionalen "Gegeninformation" konnten sich in <strong>de</strong>r Regel nicht<br />

halten. Sie sind zum Teil zu professionellen Stadtmagazinen mutiert, in <strong>de</strong>nen Gesellschaftskritik nur<br />

noch am Ran<strong>de</strong> vorkommt. Die so entstan<strong>de</strong>ne Lücke eines kritischen Lokaljournalismus wird<br />

ansatzweise von <strong>de</strong>n sogenannten "Fanzines" ausgefüllt, kleinen fotokopierten Info-Collagen, die die<br />

Aufgabe einer Gegeninformation aber nur sehr mangelhaft erfüllen können - schon <strong>de</strong>shalb, weil sie sich,<br />

wie schon ihr Name verrät, ausschließlich an ihre eigene Fan-Gemein<strong>de</strong> wen<strong>de</strong>n. Neben <strong>de</strong>r "Graswurzel-<br />

Revolution" konnten sich die eher theoretischen Magazine Schwarzer Fa<strong>de</strong>n und Trafik etablieren, die<br />

stark libertär gefärbte Zeitung Contraste widmet sich <strong>de</strong>m Thema Selbstverwaltung und die Direkte<br />

Aktion versteht sich als anarchosyndikalistisches Organ. Sie ist das Sprachrohr <strong>de</strong>r Freien Arbeiterinnen<br />

Union, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sektion <strong>de</strong>r syndikalistischen IAA. Die FAU ist in<strong>de</strong>s nicht, wie zu vermuten wäre,<br />

eine Gewerkschaft, son<strong>de</strong>rn muß sich mangels Basis in <strong>de</strong>n Betrieben mit <strong>de</strong>r Rolle eines<br />

Propagandaverban<strong>de</strong>s begnügen, <strong>de</strong>r die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Anarchosyndikalismus vertritt. Die FAU-Gruppen und<br />

ihre lebendig-kämpferische Zeitung ersetzen in gewisser Weise eine Anarchistische Fö<strong>de</strong>ration, die es in


Deutschland ebensowenig gibt wie eine anarchistische Publikumszeitschrift. Allen Libertären<br />

gleichermaßen zu Diensten ist das knappe Dutzend anarchistisch orientierter Verlage. Dem<br />

unermüdlichen Publikationseifer <strong>de</strong>r Altachtundsechziger Karin und Bernd Kramer kommt dabei wohl<br />

das größte Verdienst um die Verbreitung libertärer I<strong>de</strong>en zu. Abgerun<strong>de</strong>t wird dieses Panorama durch<br />

einige mehr o<strong>de</strong>r weniger kontinuierliche Projekte wie Mediengruppen, Archive, Taschenkalen<strong>de</strong>r,<br />

Arbeitskreise, Kongresse und <strong>de</strong>rgleichen.<br />

Kritik<br />

Diese spezifisch anarchistischen Strukturen sind nicht viel mehr als das Röntgenbild einer kleinen,<br />

weltanschaulich geprägten Gemein<strong>de</strong>. Ohne die geschil<strong>de</strong>rte Diffusion in soziale Bewegungen und ihre<br />

Wurzelwerk-Funktion könnte man das auch getrost als das Diagramm einer Sekte abtun. Aus dieser<br />

Perspektive stellt sich <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Mainstream-Anarchismus unserer Tage in <strong>de</strong>r Tat als eine etwas<br />

skurrile Glaubensgemeinschaft dar. Er ist in seinem eigenen sozialen Ghetto verfangen, an <strong>de</strong>ssen<br />

Grenzbefestigungen vielerorts munter weiter gemauert wird. Oft genügt sich dieser Insi<strong>de</strong>rkreis als eigene<br />

Zielgruppe und betreibt einen geistigen Inzest, für <strong>de</strong>n das Fehlen einer Publikumszeitschrift bei<br />

gleichzeitiger Existenz von mehreren Theorieblättern nur ein bezeichnen<strong>de</strong>s Indiz ist. Sprache, Habitus<br />

und szenespezifische Dauerthemen signalisieren eine Abgrenzung, die für je<strong>de</strong>n ›normalen‹ Menschen<br />

körperlich erlebbar ist, und das Überschreiten <strong>de</strong>r Schwelle eines autonomen Infola<strong>de</strong>ns erfolgreich<br />

verhin<strong>de</strong>rt. Das Eindringen etwa in die Kneipe eines besetzten Hauses wird selbst für einen Anarchisten<br />

im falschen outfit zu einem exotischen Abenteuer. Blicke, Körpersprache und Verhalten signalisieren<br />

<strong>de</strong>utlich: "Verpiß dich, das ist unser Ghetto!" Dieses Einigeln in hermetischen Nischen gilt für<br />

Anarchopunks gera<strong>de</strong>so wie für ›Müslis‹ o<strong>de</strong>r politische Theoriesilos. In manchen Kreisen herrscht<br />

unausgesprochen die<br />

360<br />

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Ansicht vor, daß alle Menschen außerhalb <strong>de</strong>r eigenen Szene Gegner seien, zumin<strong>de</strong>st aber dumme<br />

Spießer mit <strong>de</strong>m falschen Bewußtsein. Selbst wenn das zuträfe, könnte man <strong>de</strong>n einschlägigen Scenes <strong>de</strong>n<br />

Vorwurf nicht ersparen, daß sie es größtenteils aufgegeben haben, dieses Bewußtsein zu än<strong>de</strong>rn. Mit ihrer<br />

eigenen, wasserdicht abgeschotteten Anti-Kultur geben sie auch nicht gera<strong>de</strong> ein überzeugen<strong>de</strong>s<br />

Gegenbeispiel ab. So machen viele aus <strong>de</strong>r Not eine Tugend und ziehen sich trotzig in <strong>de</strong>n Schmollwinkel<br />

zurück, wo sie sich nicht selten bequem und auf Dauer einzurichten verstehen.<br />

Der harte Kern <strong>de</strong>r anarchistischen Großfamilie, ständig verwickelt in i<strong>de</strong>ologisch begrün<strong>de</strong>te<br />

Dauerstreits, gefällt sich vor allem in <strong>de</strong>r Rolle eines Suchers nach endgültigen Wahrheiten und richtiger<br />

Erkenntnis. Es wird gedacht und analysiert, in die Kreuz und in die Quer. Anarchisten haben stets die<br />

Antwort parat, die korrekte Analyse ausgearbeitet und sowieso schon immer alles vorher und besser<br />

gewußt. Das wi<strong>de</strong>rspruchsfreie, konsequente Verhalten eines je<strong>de</strong>n anarchistischen Menschen in je<strong>de</strong>r<br />

Frage und zu je<strong>de</strong>m Zeitpunkt steht höher im Kurs als die Suche nach Mo<strong>de</strong>llen zur Umsetzung libertärer<br />

Ziele in <strong>de</strong>r Gesellschaft. Natürlich kann über das richtige Verhalten niemals Einigkeit erzielt wer<strong>de</strong>n,<br />

ebensowenig wie irgendjemand in <strong>de</strong>r Lage wäre, wirklich konsequent zu leben. Ein einheitliches,<br />

allgemeinverbindliches und makelloses Verhalten - die sogenannte political correctness - entspräche im<br />

übrigen auch kaum <strong>de</strong>r Ethik eines libertären Gesellschaftsbil<strong>de</strong>s. Großangelegte<br />

Diskussionsveranstaltungen wie die Frankfurter Libertären Tage zeigen <strong>de</strong>utlich, wie sehr sich die<br />

meisten <strong>de</strong>utschen Anarchisten als Standpunktesucher verstehen. Hier fin<strong>de</strong>n Elfenbeinturm,<br />

Schmollwinkel, modische Attitü<strong>de</strong> und linke Scholastik zueinan<strong>de</strong>r. Eine politische Strömung aber, die<br />

ihre Energie auf eine ebenso endlose wie folgenlose Suche nach <strong>de</strong>m richtigen Standpunkt konzentriert,<br />

mag ja ein antiseptisches* Weltbild hervorbringen, bleibt aber folgerichtig auch gesellschaftlich steril.<br />

Dann wäre sie in <strong>de</strong>r Tat einer Sekte näher als einer Bewegung.<br />

Die Sterilität <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Anarchismus hat aber noch eine weitere Ursache, und die gilt zum größten<br />

Teil auch für diejenigen Bereiche, die sich erfolgreich mit sozialen Bewegungen verwoben haben. Die<br />

Re<strong>de</strong> ist vom Übergewicht <strong>de</strong>r Anti-Haltung. Wohlverstan<strong>de</strong>ner Anarchismus erschöpft sich nicht in <strong>de</strong>r


Denunziation <strong>de</strong>s Schlechten, son<strong>de</strong>rn steht für die Utopie <strong>de</strong>s Besseren. Der größte Teil aller sozialen<br />

Kämpfe und Bewegungen <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik aber bestand aus Wi<strong>de</strong>rstand. Das be<strong>de</strong>utet nichts an<strong>de</strong>res<br />

als re-agieren statt agieren. Das mag jenen paradox erscheinen, die glauben, je mehr "Äktschn", <strong>de</strong>sto<br />

revolutionärer, <strong>de</strong>sto schöpferischer. Eine ungeschönte Analyse aber wirkt ernüchternd: Kämpfe wer<strong>de</strong>n<br />

geführt, damit nicht noch mehr Atomkraftwerke gebaut, noch mehr Natur zerstört, noch mehr Freiheiten<br />

weggenommen wer<strong>de</strong>n: ein ständiges Hinterherlaufen hinter Ereignissen, <strong>de</strong>ren Inhalt, Rhythmus und<br />

Qualität stets <strong>de</strong>r Gegner diktiert. Es läuft immer auf dasselbe hinaus: Attacken wer<strong>de</strong>n pariert und<br />

schlimme Zustän<strong>de</strong> repariert. Das ist, bei aller zur Schau gestellten Militanz, keineswegs radikal. Alle<br />

diese Kämpfe, so unumgänglich sie auch sein mögen, bleiben in ihrer Struktur <strong>de</strong>fensiv und in ihrer<br />

Qualität beschränkt. Das politische Endziel ist allenfalls das fünfte Rad am Wagen. Für viele liegt<br />

361<br />

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bei Kämpfen, die ten<strong>de</strong>nziell nicht auf eine neue Gesellschaft zielen, son<strong>de</strong>rn darauf, daß die alte<br />

Gesellschaft nicht noch schlimmer wird. Diese Feststellung gilt für alle Anti-Bewegungen, gleichgültig,<br />

wie schrill o<strong>de</strong>r mit wieviel Militanz sie daherkommen: Letztendlich bringen sie nichts Neues hervor,<br />

son<strong>de</strong>rn verteidigen das bißchen Gute im Alten.<br />

Gewiß will auch ein Anti-Atom-Aktivist eine ökologische Gesellschaft und hat dazu vielleicht auch eine<br />

Vison parat, aber die bleibt in seinem Kopf, solange nur <strong>de</strong>r Bauzaun bestürmt und nicht konkret damit<br />

begonnen wird, jene Gesellschaft auch praktisch aufzubauen. Kein Zweifel: Auch <strong>de</strong>r militante<br />

Hausbesetzer träumt von einer an<strong>de</strong>ren Welt <strong>de</strong>s lustvollen Han<strong>de</strong>lns und solidarischen Lebens. Wenn<br />

aber <strong>de</strong>r Zauber <strong>de</strong>r Vision in <strong>de</strong>m Moment verfliegt, wo die Äktschn vorbei ist und sich die<br />

Reizgasschwa<strong>de</strong>n verflüchtigt haben, wenn die Utopie dann schlappmacht, wo es daran geht, neue<br />

Lebensformen zum Alltag und damit öffentlich erfahrbar zu machen, dann kommt bei all<strong>de</strong>m nichts<br />

weiter heraus als revolutionäres Straßentheater zur Erbauung <strong>de</strong>r Medien. Bestenfalls die Verhin<strong>de</strong>rung<br />

schlimmer Exzesse. Und das ist, mit Verlaub, Reformismus pur.<br />

So bewegt sich dieser Gegenwartsanarchismus seit über zwanzig Jahren im Wesentlichen zwischen<br />

Schreibtisch und Straßenschlacht. Diese Einsicht be<strong>de</strong>utet nach Meinung <strong>de</strong>r Kritiker nicht, daß<br />

Wi<strong>de</strong>rstand per se falsch, sinnlos o<strong>de</strong>r überflüssig wäre. Im Gegenteil: man müsse sich selbstverständlich<br />

wehren. Protest sei überlebenswichtig und genauso unentbehrlich wie die theoretische Standortsuche o<strong>de</strong>r<br />

die Verbreitung libertärer I<strong>de</strong>en. Aber eine banale Erkenntnis müsse man aus <strong>de</strong>r langen Geschichte <strong>de</strong>s<br />

Anarchismus und seines Scheiterns zwingend ziehen: daß diese Dinge allein nicht reichten. Anarchie<br />

könne nur dann ge<strong>de</strong>ihen, wenn sie auch konstruktiv begonnen, entwickelt und aufgebaut wer<strong>de</strong>.<br />

Anarchisten stimmen darin überein, daß positive Anarchie in <strong>de</strong>r gegenwärtigen Gesellschaft nicht<br />

erreicht wer<strong>de</strong>n kann. Als Pseudoradikalen Unsinn jedoch betrachten immer mehr Libertäre die These,<br />

daß <strong>de</strong>shalb auch nicht hier und heute damit begonnen wer<strong>de</strong>n dürfe. Und dieses Beginnen müsse<br />

entgegen landläufiger Anarchomeinung auch keineswegs angepaßt und reformistisch sein.<br />

Projektanarchismus, die Zweite<br />

Seit Anfang <strong>de</strong>r achtziger Jahre zeichnet sich weltweit eine Ten<strong>de</strong>nz im Anarchismus ab, <strong>de</strong>r wir mit<br />

Gustav Landauer schon im dreiunddreißigsten Kapitel begegnet sind: <strong>de</strong>r ›Projektanarchismus‹. Dieser<br />

Ansatz ist in <strong>de</strong>r Bewegung seit seinen Anfängen her mit einem eigenen Entwicklungsstrang vertreten, <strong>de</strong>r<br />

zeitweise als Bestandteil <strong>de</strong>s anarcho-syndikalistischen Konzepts auftrat. Seit <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntenrevolte erlebte<br />

er eine bemerkenswerte Renaissance mit einer Unzahl praktischer Experimente.<br />

Motivation und Zielrichtung waren fast immer gleich: <strong>de</strong>r Dauerfrust üblicher ›politischer‹ Aktivitäten,<br />

<strong>de</strong>ren notwendige Begrenztheit auf nur einen Sektor <strong>de</strong>s Lebens und ihre offensichtliche Fruchtlosigkeit.<br />

Alle schönen anarchistischen Weisheiten, all die Flug-


362<br />

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blätter, Plattformen, Kritiken, Analysen und Manifeste, so spürten die Anarchos <strong>de</strong>r neuen Generation,<br />

wür<strong>de</strong>n so lange Makulatur bleiben, wie es ihnen selbst nicht gelänge, ihre Utopien im realen Alltag<br />

vorzuleben und zugänglich zu machen. Dem sollte mit einem Konzept begegnet wer<strong>de</strong>n, das endlich<br />

wie<strong>de</strong>r die Chance zu einer breiten Gesellschaftsverän<strong>de</strong>rung enthielte. Ähnlich wie beim Syndikalismus<br />

<strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> war eine Lösung gefragt, die <strong>de</strong>n Alltag mit <strong>de</strong>r Utopie verbin<strong>de</strong>n und einen<br />

gangbaren Weg aus <strong>de</strong>r Isolation zeigen könnte. Es ist daher kein Zufall, daß <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne<br />

Projektanarchismus in seiner Struktur <strong>de</strong>m Syndikalismus gleicht. Er baut zwar nicht auf Gewerkschaften<br />

und Klassenkampf auf, aber er versucht, <strong>de</strong>n wirtschaftlichen Bereich mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Politik und <strong>de</strong>r<br />

alltäglichen Lebenskultur zu einem Instrument praktischer Umsetzung zu verbin<strong>de</strong>n, das auf Dauer<br />

subversiv wirken könnte - bis hin zu einer gesellschaftlichen Revolutionierung. Insofern entspricht die<br />

Theorie dieses neuen Trends einer Synthese aus <strong>de</strong>r syndikalistischen Denkstruktur und <strong>de</strong>r Aktionsform<br />

<strong>de</strong>s Wurzelwerks. Die Diffusion <strong>de</strong>r einzelnen Projekte ist allerdings nicht mehr nur auf eine einzelne<br />

soziale Bewegung zugeschnitten, son<strong>de</strong>rn direkt inmitten <strong>de</strong>s ganz normalen, alltäglichen<br />

gesellschaftlichen Lebens angesie<strong>de</strong>lt.<br />

Was das praktisch be<strong>de</strong>uten könnte, wird vielleicht am Beispiel eines <strong>de</strong>utschen Vertreters dieser<br />

Denkrichtung <strong>de</strong>utlich, <strong>de</strong>m Projekt A.<br />

Auch hier geht es um <strong>de</strong>n Aufbau funktionieren<strong>de</strong>r sozialer Gebil<strong>de</strong> im Alltag, die nach libertären<br />

Grundsätzen funktionieren sollen. Das können Lä<strong>de</strong>n, Kin<strong>de</strong>rgärten, Werkstätten, Wohngemeinschaften,<br />

Kulturprojekte, Kneipen, Bildungseinrichtungen, Manufakturen, Bibliotheken, Kommunen, Bauernhöfe,<br />

Verlage, Freizeitinitiativen, politische Gruppen, Dienstleistungsunternehmen, Aktionskomitees,<br />

Gesundheitseinrichtungen, Kooperativen, Freun<strong>de</strong>skreise, Altenprojekte, Nachbarschaftshilfen sein und<br />

vieles mehr. Ein je<strong>de</strong>s soll von einer gemeinschaftlich arbeiten<strong>de</strong>n Gruppe getragen wer<strong>de</strong>n, die sich<br />

selbstbestimmt in freier Vereinbarung organisiert und sich darum bemüht, hierarchische o<strong>de</strong>r entfrem<strong>de</strong>te<br />

Strukturen abzubauen. Getreu <strong>de</strong>m Credo <strong>de</strong>s Projekts A wursteln solche "selbstverwalteten Kollektive"<br />

nicht einzeln vor sich hin, son<strong>de</strong>rn vernetzen sich miteinan<strong>de</strong>r im Sinne gegenseitiger Hilfe. Diese<br />

Vernetzung geschähe an einem Ort o<strong>de</strong>r in einer überschaubar kleinen Region, wobei darauf geachtet<br />

wer<strong>de</strong>n müsse, daß die einzelnen Projekte über das gesamte Stadtgebiet o<strong>de</strong>r die Region verteilt sind.<br />

Zum Teil käme es dabei zu personellen Überschneidungen o<strong>de</strong>r zu Zusammenschlüssen in Doppel- und<br />

Mehrfachprojekten, bei <strong>de</strong>nen die wirtschaftlich stärkeren die schwächeren subventionierten. So könne<br />

etwa ein florieren<strong>de</strong>s La<strong>de</strong>ngeschäft zum Sponsor einer politischen Initiative wer<strong>de</strong>n, bei<strong>de</strong> getragen von<br />

<strong>de</strong>nselben Menschen. Die Gesamtheit solcher Kleinkollektive bil<strong>de</strong>ten eine Verflechtung, die nach innen<br />

als "Netz", nach außen als "Wurzelwerk" wirkten. Sie wären – neben <strong>de</strong>n zahllosen Kontakten <strong>de</strong>s<br />

sozialen Alltags – durch ein System von Versammlungen, Ausschüssen und Gremien in einer<br />

räteähnlichen Struktur miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n. Eine gemeinsame Kasse, die sich aus Überschüssen speist,<br />

soll neue Projekte<br />

363<br />

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för<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n bestehen<strong>de</strong>n in Krisenzeiten helfen. Ab einer gewissen Größe könnten alternative<br />

Wirtschaftsbeziehungen experimentiert wer<strong>de</strong>n, um Geldwirtschaft durch Tausch und später durch an<strong>de</strong>re<br />

Mo<strong>de</strong>lle zu verdrängen.<br />

In einem solchen Projekt, so die Initiatoren, müßten die drei Bereiche ›Ökonomie‹, ›Leben‹ und ›Politik‹<br />

nicht mehr, wie bisher, zeitlich, räumlich und personell voneinan<strong>de</strong>r getrennt sein. Sie wären als<br />

gleichberechtigt anerkannt und je<strong>de</strong> Motivation, sich einem solchen Projekt anzuschließen, sei <strong>de</strong>shalb<br />

gleich legitim: Ob nun jemand seinen persönlichen Schwerpunkt auf selbstbestimmtes Arbeiten lege, auf<br />

politische Außenwirkung o<strong>de</strong>r auf lustvolleres Leben sei relativ unwichtig, solange diese verschie<strong>de</strong>nen


Initiativen miteinan<strong>de</strong>r verquickt blieben und als Ganzes in <strong>de</strong>r Gesellschaft wirkten. Das be<strong>de</strong>utete zum<br />

einen, daß in einem solchen Verbund alles ›politisch‹ sei, o<strong>de</strong>r, was auf dasselbe herauskäme, daß<br />

explizite ›Politik‹ zunehmend überflüssig wür<strong>de</strong>. Zum an<strong>de</strong>ren befriedigte ein solches Projekt nicht nur<br />

irgendwelche Ambitionen, son<strong>de</strong>rn böte für alle Bedürfnisse <strong>de</strong>s Lebens eine Lösung an. Auf diese Art<br />

entstün<strong>de</strong> eine gemeinsame Wirklichkeit, in <strong>de</strong>r sich die künstlichen Trennungen zwischen ›Politik‹,<br />

›Geldverdienen‹ und ›Spaß‹ allmählich verwischten: Eine soziale Heimat zum Leben. Grundsätzliche<br />

Freiwilligkeit soll garantieren, daß diese Mini-Gesellschaft nicht in Zwangsbeglückung ausartet. Es bliebe<br />

immer bei Angeboten, und je<strong>de</strong>r Mensch könne selbst entschei<strong>de</strong>n, wie weit er sich einlassen will o<strong>de</strong>r ob<br />

er etwa wie<strong>de</strong>r aussteigen mag. Verbindliche Verpflichtungen sollen in <strong>de</strong>r Regel nur im Einzelkollektiv<br />

eingegangen wer<strong>de</strong>n, und je<strong>de</strong>s Einzelkollektiv bliebe in seinen eigenen Entscheidungen autonom. Die<br />

Regeln <strong>de</strong>s Zusammenwirkens wären <strong>de</strong>mnach nicht starr, unterlägen keinem Dogma und blieben so<br />

Gegenstand eines ständigen Lern- und Entwicklungsprozesses.<br />

Der Projekt-A-I<strong>de</strong>e zufolge sichert all dies eine Vielfalt an Lebens-, Arbeits- und Kommunikationsformen<br />

- unabdingbare Voraussetzung für eine libertäre Gesellschaft. Je<strong>de</strong>r Mensch lebte gemäß seinen<br />

Wünschen und seinem Geschmack und täte das, sofern er mag, auch mit an<strong>de</strong>ren gemeinsam. Demnach<br />

wäre ein solches soziales Gebil<strong>de</strong> das Abbild einer libertären Mini-Gesellschaft, ein ›soziales<br />

Laboratorium‹. Die anarchistischen Essentials wür<strong>de</strong>n dabei nicht blind übernommen, son<strong>de</strong>rn kritisch<br />

ausprobiert. Sie stün<strong>de</strong>n sozusagen je<strong>de</strong>n Tag auf <strong>de</strong>m Prüfstand. Haben sie im Leben keinen Bestand,<br />

können sie Än<strong>de</strong>rungen erfahren. In einem solchen Klima wür<strong>de</strong>n die ›libertären Grundtugen<strong>de</strong>n‹<br />

praktisch eingeübt und mit <strong>de</strong>r Zeit zu neuen sozialen Verhaltensnormen führen. Das sei umso wichtiger,<br />

da entgegen weitverbreiteter Meinung eine freiheitliche Ethik nicht einfach so vom revolutionären<br />

Himmel falle. Ihr Erlernen, so die Projektanhänger, sei ein langer Prozeß, <strong>de</strong>r schwierig und auch<br />

schmerzhaft sein könne. Lust und Frust lägen in solchen Projekten dicht beisammen - gera<strong>de</strong>so, wie im<br />

›richtigen Leben‹...<br />

Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß in einem solchen Projekt anarchistische Dogmatiker fehl am Platze sind.<br />

Ebenso wie Syndikalismus ist Projektanarchismus etwas für Praktiker und nichts für Puristen. Bei einem<br />

solchen Experiment dürfen politische Überzeugungen nicht zur Voraussetzung gemacht wer<strong>de</strong>n – sie<br />

können Ergebnis sein. Ein soziales Gebil<strong>de</strong> vom<br />

364<br />

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Projekt-A-Typ wäre <strong>de</strong>mnach auch keine anarchistische Gruppe, son<strong>de</strong>rn ein Zusammenhang von<br />

Menschen, die nach libertären Strukturen zu leben versuchten. Ihr Antrieb wäre nicht eine gemeinsame<br />

weltanschauliche Überzeugung, son<strong>de</strong>rn das freiheitliche Leben als Experiment. Das be<strong>de</strong>utet natürlich,<br />

daß nicht nach Glaubensbekenntnissen gefragt wird, son<strong>de</strong>rn danach, ob jemand so leben, arbeiten und<br />

agieren möchte. Ein Mo<strong>de</strong>ll also, das auch für ›unpolitische‹ Menschen offen wäre und durchaus attraktiv<br />

sein könnte.<br />

Was aber ist daran politisch o<strong>de</strong>r gar subversiv? Han<strong>de</strong>lt es sich nicht eher um einen Rückzug in die<br />

private Glückseligkeit?<br />

Die politische Brisanz solcher Projekte ist, wie bei allen sozialen Strategien, spekulativ. Ihre Stärke<br />

könnte aber gera<strong>de</strong> darin liegen, daß das ›private Glück‹ eben nicht mehr als etwas Verwerfliches<br />

angesehen wird. Nebenbei bemerkt und um Illusionen vorzubeugen: Der selbstverwaltet-libertäre Alltag<br />

in solchen Projekten ist we<strong>de</strong>r ein Paradies noch die zuckersüße Harmonie, son<strong>de</strong>rn allenfalls eine an<strong>de</strong>re,<br />

menschlichere Art mit Problemen umzugehen, als in hierarchischen Gesellschaften üblich. Trotz<strong>de</strong>m<br />

bleibt <strong>de</strong>r Anspruch bestehen, daß es legitim sei, hier und heute selbst schon etwas von <strong>de</strong>n schönen<br />

Utopien <strong>de</strong>s Übermorgen haben zu wollen. Alle Vertröstungsi<strong>de</strong>ologien, die <strong>de</strong>n selbstlosen, asketischen<br />

Revolutionär zum Vorbild haben, wer<strong>de</strong>n im Grun<strong>de</strong> als verlogen empfun<strong>de</strong>n. Das hat natürlich zur<br />

Folge, daß man nach außen offen, erlebbar, und attraktiv auftreten kann. Es bestün<strong>de</strong> <strong>de</strong>mnach die<br />

Chance, im sozialen Alltag Tausen<strong>de</strong> von ›normalen‹ Menschen zu erreichen und ihnen ganz simple<br />

Zugänge zum Verständnis an-archischen Lebens zu schaffen. Die Menschen am Ort könnten hautnah


erleben, daß eine Firma ohne Chef, ein Zusammenleben ohne Unterdrückung, eine Kultur ohne Staat<br />

möglich sind. Eine Überwindung <strong>de</strong>s ›Ghettos‹ ist bei solchen Projekten also schon gleich mit eingebaut,<br />

wobei ihre Betreiber natürlich auf <strong>de</strong>n Einsatz klassischer Informationsmedien keinesfalls verzichten<br />

müssen. Da Beispiele aber meist überzeugen<strong>de</strong>r sind als Papier, wür<strong>de</strong> das Leben hier zur <strong>de</strong>nkbar besten<br />

Form von ›Propaganda‹.<br />

Tatsächlich könnte ein solches Mo<strong>de</strong>ll in einer Zeit, in <strong>de</strong>r die staatliche Gesellschaft in je<strong>de</strong>r Hinsicht<br />

immer weniger zu bieten hat, durchaus sinngebend wirken, und zwar sozial, menschlich, wirtschaftlich,<br />

kreativ und emotional. Das dürfte sie für viele Menschen attraktiv machen - vorausgesetzt, sie<br />

funktioniert. Als mittelfristiges Ziel peilt die Projekt-A-Strategie eine Vernetzung vieler solcher Orte und<br />

Regionen an - über Län<strong>de</strong>rgrenzen hinaus zu einer immer stabiler wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n, virulenten<br />

Gegengesellschaft. Diese könnte zunehmend auch zu einem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen<br />

Faktor wer<strong>de</strong>n: zu einem langsam zusammenwachsen<strong>de</strong>n ›Archipel libertärer Inseln‹ in einer autoritären<br />

Welt, <strong>de</strong>r langsam aus seinen gesellschaftlichen Nischen ausbricht. Dort entstün<strong>de</strong>n zugleich die<br />

konkreten Urformen einer neuen Gesellschaft. Mit zunehmen<strong>de</strong>r Kraft könnte sich ein solches Projekt<br />

auch zunehmend aktiv und kämpferisch in die sozialen Konflikte <strong>de</strong>r ›alten‹ Gesellschaft einmischen.<br />

Solche Gedanken stehen ganz in <strong>de</strong>r Tradition von Landauers Revolutionskonzept.<br />

Gestan<strong>de</strong>ne Projekt-A-Strategen sehen am En<strong>de</strong> sogar ein Szenario für eine weltweite<br />

365<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

und ziemlich friedfertige Umwälzung: In <strong>de</strong>n Projekten wüchse eine neue Generation heran, die mit einer<br />

libertären Handlungsroutine groß wür<strong>de</strong>. Eine solche Generation ›selbstverständlicher Libertären könnte<br />

über entsprechen<strong>de</strong> Kenntnisse und das nötige Instrumentarium zur Transformation <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />

verfügen und sich diese Aufgabe auch zutrauen. Gleichzeitig wäre für die Menschen außerhalb <strong>de</strong>s<br />

›Archipels‹ die libertäre Alternative nichts Exotisches und Angsteinflößen<strong>de</strong>s mehr, son<strong>de</strong>rn ein ganz<br />

›normaler‹ Bereich ihres Erfahrungshorizonts. Eine Einstellung positiver Toleranz könne so entstehen, ein<br />

soziales Klima, das die Chance böte, in einer Krisensituation diesen Teil <strong>de</strong>r Bevölkerung für die breite<br />

Umsetzung einer libertären Alternative zu gewinnen.<br />

Für ein solches Konzept spricht die historische Erfahrung daß Revolutionen nicht von Revolutionären<br />

gewonnen wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn von erdrutschartigen Verschiebungen <strong>de</strong>r öffentlichen Meinung, ausgelöst<br />

durch die Masse sympathisieren<strong>de</strong>r Mitläufer. Eine solche Sympathisantenschicht hat <strong>de</strong>r Anarchismus<br />

seit 1936 nicht mehr gekannt.<br />

Allerdings ist <strong>de</strong>r Einwand nicht von <strong>de</strong>r Hand zu weisen, daß <strong>de</strong>r Staat diesem Treiben nicht tatenlos<br />

zusehen dürfte und das ganze Archipel unter Wasser setzen könnte. Diese Gefahr aber müssen<br />

ausnahmslos alle sozialen Strategien gewärtigen. Dabei ist <strong>de</strong>r Projektanarchismus noch vergleichsweise<br />

im Vorteil, da seine Struktur schwieriger zu kriminalisieren ist als eine politische Gruppe, Organisation<br />

o<strong>de</strong>r Gewerkschaft. Im Grun<strong>de</strong> han<strong>de</strong>lt es sich um ein Wettrennen, <strong>de</strong>nn nach <strong>de</strong>r inneren Logik solcher<br />

Projekte steht ihr Wachstum in direktem Verhältnis zur Schwächung <strong>de</strong>s Staates, da die Ausbreitung <strong>de</strong>s<br />

›Archipels‹ zugleich <strong>de</strong>n Staat im Bewußtsein <strong>de</strong>r Bevölkerung zersetze. Er verliere so an Be<strong>de</strong>utung,<br />

Prestige, Vertrauen, Glanz und Macht und schließlich auch die Fähigkeit, die Menschen in seinem Bann<br />

zu halten. Tatsächlich bestätigt auch Gandhis Beispiel, daß ab einem bestimmten Moment dieses<br />

Verhältnis kippt - und zwar lange vor einem tatsächlichen Gleichgewicht <strong>de</strong>r Kräfte. Genau dann, wenn<br />

die ›Mitläufer‹ Zünglein an <strong>de</strong>r Waage wer<strong>de</strong>n. Wenn aber administrative Schikanen und juristische<br />

Verfolgung nicht mehr verfangen, ist es meist auch für die brutale Tour zu spät. Die gigantischen Militärund<br />

Polizeiapparate <strong>de</strong>s Deutschen Kaisers, <strong>de</strong>s sowjetischen Imperiums o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r DDR fielen urplötzlich<br />

in sich zusammen, als das Prestige <strong>de</strong>r Machthaber auf Null stand, das Volk verzweifelt war und die<br />

Soldaten nicht mehr gehorchen wollten. Dabei hatte hinter keinem dieser Umstürze eine konstruktivsubversive<br />

Bewegung gestan<strong>de</strong>n, als <strong>de</strong>ren Katalysator sich <strong>de</strong>r Projektanarchismus heute versteht.<br />

Es leuchtet ein, daß eine Revolution solchen Typs wahrscheinlich diejenige wäre, die am wenigsten


Blutvergießen verursachen wür<strong>de</strong>. Gandhi könnte sein leises Lächeln aufsetzen, und selbst ein Durruti<br />

dürfte befriedigt grinsen.<br />

Wie gesagt, all das ist bisher nur eine I<strong>de</strong>e.<br />

Tatsache hingegen ist, daß projektanarchistische Ansätze seit <strong>de</strong>n achtziger Jahren zu <strong>de</strong>n innovativen<br />

Trendsettern <strong>de</strong>r anarchistischen Theorie und Praxis zählen. Die internationalen Treffen von Venedig,<br />

Melbourne, Chicago, Seoul o<strong>de</strong>r Barcelona zeigen dies ebenso wie Literatur und Presse o<strong>de</strong>r die<br />

hochkarätigen Seminare, die etwa in Mailand, Madrid<br />

366<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

o<strong>de</strong>r Lausanne veranstaltet wer<strong>de</strong>n. Vor allem aber spiegelt sich diese Entwicklung in realen Projekten,<br />

die recht unspektakulär begonnen haben und seit Jahren in vielen Län<strong>de</strong>rn ge<strong>de</strong>ihen. Sie alle eint noch<br />

keineswegs ein gemeinsamer Konsens, ja nicht einmal das Bewußtsein einer gemeinsamen Strategie –<br />

insofern han<strong>de</strong>lt es sich noch eher um eine Ten<strong>de</strong>nz als um eine Bewegung. Trotz<strong>de</strong>m wur<strong>de</strong> hier in <strong>de</strong>n<br />

letzten Jahrzehnten eine beachtliche Aufbauarbeit vollbracht, die eines Tages eine wertvolle Basis<br />

abgeben könnte.<br />

Selbst Deutschland kann hierbei auf eine kurze aber interessante Entwicklung zurückblicken. Noch<br />

während <strong>de</strong>r APO-Zeit entstan<strong>de</strong>n, zum Beispiel mit <strong>de</strong>n Kölner Heinzelmenschen, erste<br />

projektanarchistische Ansätze, die intuitiv die Richtung anpeilten, die heute in <strong>de</strong>r Diskussion ist. Die<br />

meisten von ihnen gingen in jener diffusen, undogmatischen linken Szene auf, die sich ab Mitte <strong>de</strong>r<br />

siebziger Jahre herausbil<strong>de</strong>te. Die war zwar in ihrem Alltag unentwirrbar mit allen aktuellen Politkämpfen<br />

verwoben, aber konkrete Projekte haben ihre eigene Dynamik, ganz beson<strong>de</strong>rs die wirtschaftlichen. So<br />

entstand in Deutschland relativ früh und relativ stark eine Selbstverwaltungsbewegung, die trotz aller<br />

Krisen und Rückschläge zu einer festen Größe gewor<strong>de</strong>n ist. Heute gibt es einige Zigtausend<br />

Arbeitsplätze in selbstverwalteten Initiativen und Betrieben mit unterschiedlichstem weltanschaulichen<br />

Hintergrund. Ein großer Teil steht in einer libertären Tradition, die wie<strong>de</strong>rum in <strong>de</strong>m verwurzelt ist, was<br />

vor fünfzehn Jahren etwas spöttisch als "die Alternativen" bezeichnet wur<strong>de</strong>. Das war jene Zeit, als<br />

unheimlich bewußte Frauen und Männer irgendwie unheimlich betroffen waren, sich mit Vorliebe in<br />

Latzhosen klei<strong>de</strong>ten und <strong>de</strong>n Friseur mie<strong>de</strong>n. Trotz aller Süffisanz, die diesen Leuten vor allem in <strong>de</strong>n<br />

Medien wi<strong>de</strong>rfuhr, war dieser Trend so lachhaft nicht, wie sein heutiges Image vermuten läßt. Es waren<br />

zehn bewegte Jahre intensiver Erfahrungen und schwierigen Lernens. Aus i<strong>de</strong>alistischen Schwärmern<br />

wur<strong>de</strong>n kritische Realisten, aus Dilettanten Profis, und vielen ging ihre Utopie dabei nicht verloren.<br />

Aus diesem Reservoir schöpfte die neue projektanarchistische Richtung, die seit Mitte <strong>de</strong>r achtziger Jahre<br />

von sich re<strong>de</strong>n macht, auf diesen Erfahrungen konnte sie aufbauen. Mittlerweile sind erste Projekte<br />

entstan<strong>de</strong>n und aus <strong>de</strong>m Mauerblümchendasein herausgetreten. Sie bringen, bildlich gesprochen, hier und<br />

da einen grünen Trieb hervor. Das "grün" darf dabei übrigens insofern wörtlich genommen wer<strong>de</strong>n, als in<br />

<strong>de</strong>n konkreten Projekten Ökologie ganz groß geschrieben wird. Ein selbstverwalteter Arbeitsplatz bietet ja<br />

nicht nur die Möglichkeit, Entfremdung und Hierarchie abzubauen, son<strong>de</strong>rn auch, Produkte und<br />

Arbeitsweisen selbst zu bestimmen. Deshalb sind gera<strong>de</strong> diese kleinen Betriebe heute oft die Pioniere<br />

ökologischer Innovation und umweltkritischen Bewußtseins.<br />

Der Alltag solcher Projekte sieht in<strong>de</strong>s weniger rosig aus, als die schöne I<strong>de</strong>e suggeriert. Bisher allerdings<br />

haben sich die meisten Projekte we<strong>de</strong>r durch wirtschaftliche Schwierigkeiten noch durch internen Streit<br />

von ihrem Ziel abbringen lassen - auch nicht von <strong>de</strong>r ungeheuren Menge Arbeit, die ein solches<br />

Unternehmen in <strong>de</strong>r Startphase seinen Mitmachern abverlangt. Eines von ihnen, das vor wenigen Jahren<br />

in einer <strong>de</strong>utschen Provinzstadt begann, hat <strong>de</strong>r Bevölkerung die Eckwerte seiner Alltagsphilosophie mit<br />

drei knappen Worten vorgestellt: "selbstverwaltet, ökologisch, libertär".<br />

367


--------------------------------------------------------------------------------<br />

Fazit<br />

Nüchtern betrachtet stellt sich <strong>de</strong>r weltanschauliche Anarchismus heute als ein Zwitter dar, <strong>de</strong>r sich<br />

zwischen Sekte und Bewegung nicht recht entschei<strong>de</strong>n kann. Als Sekte wäre er, individuell gesehen,<br />

vielleicht die kuschelige Heimat für einige radikale Nonkonformisten und sozial gesehen eine<br />

be<strong>de</strong>utungslose Randnotiz in <strong>de</strong>n Annalen einer Menschheit in Agonie. Als Bewegung hätte er –<br />

vielleicht – die Chance, die Agonie abzuwen<strong>de</strong>n. Aber das ist eine reine Vermutung.<br />

Tatsache ist hingegen, daß die anarchistische Bewegung von heute folgen<strong>de</strong> Funktionen erfüllt: Sie ist<br />

Bewahrerin einer libertären Tradition und I<strong>de</strong>engeschichte. Sie ist eine gescheite aber sterile Kritikerin <strong>de</strong>r<br />

Gesellschaft mit einem Hang zu rechthaberischem Schmollen. Sie propagiert ihre I<strong>de</strong>en mit großer<br />

Vitalität, entfaltet in begrenztem Rahmen eigene Initiativen und steht gelegentlich mit sozialen<br />

Bewegungen in wechselseitiger Beziehung. Sie ist nur in Ausnahmefällen sozial verankert, entwickelt<br />

jedoch pragmatische, Projekte, die konstruktiv und subversiv zugleich sind. Sie verfügt <strong>de</strong>rzeit über keine<br />

zeitgemäße, innovative Strategie, die allgemein akzeptiert wäre.<br />

Das ist wirklich nicht sehr viel. Das ist, etwas bissig ausgedrückt, die Feststellung, daß <strong>de</strong>r Anarchismus<br />

unserer Tage eine im Dissens gefestigte Glaubensgemeinschaft ist, die sich um ihren Bestand im<br />

Augenblick keine Sorgen zu machen braucht. Die eigentlich wichtige Frage aber ist, ob sich<br />

anarchistische Bewegung und libertäre Ten<strong>de</strong>nzen in <strong>de</strong>r Gesellschaft zueinan<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r auseinan<strong>de</strong>r<br />

entwickeln. Vielleicht ist ja eine weltanschauliche Bewegung wie <strong>de</strong>r "Anarchismus" gar nicht <strong>de</strong>r<br />

Weisheit letzter Schluß o<strong>de</strong>r schlicht unzeitgemäß gewor<strong>de</strong>n? An<strong>de</strong>rerseits wäre ihr reicher Fundus an<br />

Erfahrungen, wie wir ihn bis hier kennengelernt haben, zu scha<strong>de</strong> für <strong>de</strong>n Müllschlucker.<br />

Es hängt nicht zuletzt von Phantasie und Weisheit <strong>de</strong>r Anarchas und Anarchos ab, wie diese Frage<br />

beantwortet wird. Und die waren schon immer für Überraschungen gut.<br />

Wenn die Menschheit eine Zukunft hat, dann wohl nur in einer an<strong>de</strong>ren Art von Gesellschaft. Bei <strong>de</strong>r<br />

Suche nach dieser Gesellschaft darf man von <strong>de</strong>r anarchistischen I<strong>de</strong>e und ihren Strukturen einiges<br />

erwarten. Ob dazu die anarchistische Bewegung einen Beitrag leisten kann, ist fraglich. Falls sie sich<br />

darauf besinnt, in diesem Prozeß eine Rolle zu spielen, muß sie sich wan<strong>de</strong>ln und Mo<strong>de</strong>lle entwickeln, die<br />

im kommen<strong>de</strong>n Jahrtausend taugen. Dann bestün<strong>de</strong> eine reelle Chance, die anarchistischen Essentials in<br />

<strong>de</strong>r grundlegen<strong>de</strong>n Grammatik <strong>de</strong>s sozialen Lebens zu verankern. Das, und nichts an<strong>de</strong>res, müßte zum<br />

Ziel <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung wer<strong>de</strong>n, wenn sie nicht als Sekte verkümmern will.<br />

Literatur:<br />

/ Hans-Jürgen Degen (Hrsg.): Anarchismus heute – Positionen Berlin 1991, Schwarzer Nachtschatten,<br />

182 S.<br />

/ Hans-Jürgen Degen, Jochen Schmück u.a.: Denk' ich an Deutschland – Beitrage zu einer libertären<br />

Positionsbestimmung Berlin 1990, Guhl, 59 S.<br />

/ Ralf G. Landmesser: Wat Nu? Libertäre Perspektiven 2000 Berlin 1993, Schwarzrotbuch, 22 S.<br />

/ Holger Jenrich: Anarchistische Presse in Deutschland Grafenau 1988, 273 S., ill.<br />

/ Yerry Rubin: We are everywhere Wetzlar 1978, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 316 S., ill.<br />

/ N.N.: Der Blues – Gesammelte Texte <strong>de</strong>r Bewegung 2. Juni 2 B<strong>de</strong>., Berlin o.J., 926 S.<br />

/ <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: Das Projekt A Wetzlar 1985, An-Archia, 97 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Wege aus <strong>de</strong>m Ghetto Neustadt/W. 1990, An-Archia, 26 S.<br />

/ <strong>de</strong>rs.: Das Projekt A, vorwärts und rückwärts Neustadt/W. 1992, 16 S.<br />

368<br />

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Kapitel 39


Ist <strong>de</strong>r Anarchismus noch zu retten?<br />

Ihr Fickschweine !!!<br />

Leistet Wie<strong>de</strong>rstand !<br />

Deutschland verecke !<br />

Fachos an die Wand !<br />

– Anarchosprayereien, En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s XX. Jh. –<br />

UNSER LANGER MARSCH DURCH DIE NIEDERUNGEN anarchistischer Aktion und die Höhen<br />

libertären Sinnierens dürfte gewisse Leser zu Tränen gerührt haben. Ganz im Ernst: Gera<strong>de</strong> im Umfeld<br />

<strong>de</strong>r hartgesottensten Anarcho-Fans steht die romantische Geste <strong>de</strong>s heroischen Scheiterns ungebrochen in<br />

hohem Ansehen. Recht gehabt zu haben und auf verlorenem Posten unterzugehen, scheint für viele die<br />

typische anarchistische Tugend zu sein. Der standhafte, von romantischer Tragik umwehte ›lachen<strong>de</strong><br />

Verlierer‹ bietet Stoff für Legen<strong>de</strong>n und je<strong>de</strong> Menge schwarzroter Mythen. Das rührt <strong>de</strong>n stärksten<br />

Genossen an und sorgt für feuchte Augen. In diesem verklärten Winkel <strong>de</strong>r Nostalgie haben sich viele<br />

Anarchos unserer Tage gemütlich und auf Dauer eingerichtet.<br />

An<strong>de</strong>re Leser wer<strong>de</strong>n die Lektüre ganz an<strong>de</strong>res erlebt haben: "Seitenweise Klassenkampfgesülze und<br />

Verzweiflungstaten irgendwelcher Desperados! Ein paar Leute, die glaubten, das Ru<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Menschheit<br />

herumreißen zu können ... Zeitungen in Zehntausen<strong>de</strong>r-Auflage, angetreten gegen die Verführungen<br />

elektronischer Massenmedien?! Generalstreik, Alternativprojekte, Solidarität, Tyrannenmord und die<br />

Eroberung <strong>de</strong>s Brotes – das ist doch alles Schnee von gestern, kaum mehr als das Psychogramm einer<br />

romantischen Sekte."<br />

Abschied vom Schmollwinkel<br />

Nun, die Menschen, <strong>de</strong>nen wir auf unserer Vergangenheitsreise begegnet sind, hatten mit Romantik nichts<br />

am Hut. Keine Revolte <strong>de</strong>r Geschichte wur<strong>de</strong> je mit <strong>de</strong>r Absicht begonnen, auf <strong>de</strong>r Bühne sozialer<br />

Dramen tragisch zu scheitern. Nostalgische Verklärung stellt sich erst durch die zeitliche Distanz her, und<br />

so manche Anarchoaktion unserer Tage, die heute selbst ihren Urhebern trivial* erscheinen mag, dürfte<br />

schon übermorgen <strong>de</strong>n Stoff für neue Mythen liefern. Je älter eine Banalität ist, <strong>de</strong>sto leichter wird sie zur<br />

Legen<strong>de</strong>.<br />

Die han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Menschen jedoch waren sich <strong>de</strong>r Begrenztheit ihres Tuns meist sehr wohl bewußt.<br />

Dennoch haben sie gehan<strong>de</strong>lt, und oft haben sie – trotz ihres objektiven Scheiterns – etwas bewegt. Auch<br />

die Summe kleiner, unspektakulärer Schritte wirkt auf die Gesellschaft und ihren Zeitgeist. Angesichts<br />

<strong>de</strong>r eigenen Schwäche nicht zu resignieren und<br />

369<br />

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trotz<strong>de</strong>m gehan<strong>de</strong>lt zu haben - darin liegen Wirkung und Größe <strong>de</strong>r anarchistischen Aktion. Die<br />

Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n waren aufgestan<strong>de</strong>n, weil sie das Dasein unerträglich, ö<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r verlogen fan<strong>de</strong>n und so nicht<br />

weiterleben mochten. Ihr Ziel war dabei nicht die "schöne Geste", son<strong>de</strong>rn tatsächlich eine an<strong>de</strong>re<br />

Gesellschaft.<br />

Das alles aber heißt für eine politische Bewegung, die diesen Namen verdient und sich selbst ernst nimmt,<br />

nichts an<strong>de</strong>res als <strong>de</strong>n Abschied von rückwärtsgewandter Revolutionsromantik. Im Schmollwinkel liegt<br />

keine Zukunft. Wer eine an<strong>de</strong>re, eine freie und solidarische Gesellschaft wirklich erreichen will, darf sich<br />

nicht darauf beschränken, ein Leben lang Emma Goldman, Durruti o<strong>de</strong>r Gandhi zu verehren. Auch sie<br />

waren keine Götter, son<strong>de</strong>rn simple Menschen, die in ihrer Zeit ihr Möglichstes taten, in<strong>de</strong>m sie<br />

begannen. Sie waren ebensooft unsicher, einsam und verzweifelt wie je<strong>de</strong>r x-beliebige Anarchomensch


unserer Tage. Sie alle dürften das beklemmen<strong>de</strong> Gefühl gekannt haben, kein Land mehr zu sehen, und <strong>de</strong>n<br />

Zweifel, ob <strong>de</strong>r Kampf <strong>de</strong>r Schwachen gegen die mächtige Macht <strong>de</strong>r Starken überhaupt einen Sinn hätte.<br />

Irgendwelchen Vorbil<strong>de</strong>rn nachzueifern, macht nur dann einen Sinn, wenn die Strukturen ihres Han<strong>de</strong>lns<br />

verstan<strong>de</strong>n und auf unsere Zeit angewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. Die wirklich interessanten Beispiele <strong>de</strong>r<br />

anarchistischen Sozialgeschichte aber waren diejenigen, die <strong>de</strong>n Schritt ins Praktische wagten.<br />

Politische Verwirklichung beginnt dort, wo soziale I<strong>de</strong>en Millionen von Menschen bewegen, nicht ein<br />

paar Tausend. Die meisten libertären Experimente sind nichts weiter als – Experimente: Versuche im<br />

Kleinen, Lerngruppen, Revolutionsetü<strong>de</strong>n, bestenfalls kleine Inseln für die beteiligten Menschen. Das<br />

aber ist noch lange nicht die Verwirklichung einer libertären Gesellschaft. Zu gesellschaftlich relevanter<br />

Wirklichkeit wird ein Experiment erst, wenn es beginnt, die Vorstellungskraft <strong>de</strong>r Menschen außerhalb<br />

dieser Inseln zu beflügeln und sich zu Handlung verdichtet. Alle libertären Ansätze, die dieses Bin<strong>de</strong>glied<br />

zwischen <strong>de</strong>m kleinen Häuflein Aufrechter und <strong>de</strong>m Alltag <strong>de</strong>r Millionen nicht fin<strong>de</strong>n, sind dazu<br />

verurteilt, fruchtlose Sekte zu bleiben. Sie wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r langen Geschichte anarchistischen Scheiterns ein<br />

paar neue Anekdoten hinzufügen. Bewegungen ohne offene Zugänge zur Außenwelt können nur in ihrer<br />

Innenwelt verkümmern und verblö<strong>de</strong>n. Darum ist das nächtliche Sprayen trotziger Slogans eher ein<br />

Zeichen für die politische Schwäche einer Bewegung als für ihre Lebendigkeit.<br />

Die anarchistische Bewegung war in ihrer Geschichte selten auf <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>r Zeit. Zwei-, dreimal haben<br />

ihre I<strong>de</strong>en es vermocht, im Gleichtakt mit <strong>de</strong>m Puls <strong>de</strong>r Menschen zu schlagen und Millionen zu erfassen.<br />

Das waren die wenigen Momente, in <strong>de</strong>nen die Chance zur Verwirklichung <strong>de</strong>r libertären Utopie im<br />

realen Leben gegeben war. Ein einziges Mal ist diese Verwirklichung so weit gediehen, daß ihr<br />

dauerhafter Erfolg nur sehr knapp verfehlt wur<strong>de</strong>, und das ist über fünfzig Jahre her.<br />

Eine düstere Bilanz. Ist also <strong>de</strong>r Anarchismus noch zu retten?<br />

Wenn er das Ziel einer libertären Gesellschaft nicht aufgegeben hat, so muß er nach neuen<br />

370<br />

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Wege suchen, solche Chancen wie<strong>de</strong>r herzustellen. Dazu hat er aus seiner Geschichte ein paar nüchterne<br />

Lehren zu ziehen. Das geht nicht, ohne sich von einigen liebgewor<strong>de</strong>nen Anarchomythen zu<br />

verabschie<strong>de</strong>n.<br />

Der Traum vom perfekten Menschen<br />

Zu <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>rs hartnäckigen Mythen gehört die Vorstellung, die libertäre Gesellschaft müsse eine<br />

Gemeinschaft Gleichgesinnter sein, quasi ein Zusammenschluß von Überzeugungstätern. Nur wenn<br />

Menschen ein hohes Niveau gemeinsamer libertärer Standpunkte erreicht hätten, könnten sie auch mit<br />

libertären Strukturen zurechtkommen.<br />

Dieser Auffassung liegt eine sehr primitive Vision <strong>de</strong>s Anarchismus zugrun<strong>de</strong>, nämlich die, daß es nur<br />

eine große, umfassen<strong>de</strong> Gesellschaft gäbe, mit einer für alle gleichen Ethik und Struktur. Demnach<br />

müßten sich alle Menschen auf eine verbindliche Norm einigen und diesen Standard kollektiv erreichen.<br />

Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Sie müßten sich gleichmachen. Diese Ansicht unterschei<strong>de</strong>t sich strukturell in nichts<br />

von <strong>de</strong>r staatlichen Doktrin, die in einem geographischen Raum nur einen Gesellschaftstyp zuläßt. Sie


müßte enorme moralische Anfor<strong>de</strong>rungen an die Mitglie<strong>de</strong>r einer solchen Gesellschaft stellen, setzt sie<br />

doch faktisch einen neuen, einen ›besseren‹ Menschen voraus. Je<strong>de</strong>r Gesellschaftstyp aber, <strong>de</strong>r nicht für<br />

<strong>de</strong>n Menschen taugt, so wie er ist, und zu seinem Funktionieren erst eine Neuschöpfung <strong>de</strong>s Homo<br />

sapiens* braucht, bleibt ein reines Gedankenspiel und ist daher praktisch untauglich. Es sei <strong>de</strong>nn, <strong>de</strong>r<br />

Mensch wird zwangsweise umerzogen. Das haben die kommunistischen Systeme einige Generationen<br />

lang versucht und sind daran gescheitert - ein Scheitern, <strong>de</strong>ssen tiefere Lehren von vielen Anarchisten bis<br />

heute nicht verstan<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n sind.<br />

Selbstverständlich dürfen Menschen in einer an-archischen Gesellschaft aneinan<strong>de</strong>r hohe Ansprüche,<br />

Erwartungen und For<strong>de</strong>rungen stellen, sie sollen es sogar. Mo<strong>de</strong>rner anarchistischer Organisationstheorie<br />

zufolge aber ist das Erreichen solcher Ansprüche Lernziel und nicht Voraussetzung gesellschaftlichen<br />

Lebens. Sie beträfen zu<strong>de</strong>m nur die Mitglie<strong>de</strong>r eines jener kleinen sozial-vernetzten Gebil<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nen man<br />

sich anschließen kann o<strong>de</strong>r auch nicht. In verschie<strong>de</strong>nen sozialen Gebil<strong>de</strong>n können sie verschie<strong>de</strong>n<br />

aussehen. Wenn sie in irgen<strong>de</strong>iner sozialen Gruppe zur Voraussetzung gemacht wür<strong>de</strong>n, dann nur<br />

aufgrund <strong>de</strong>r freien Vereinbarung <strong>de</strong>r beteiligten Menschen und nur für diese gültig.<br />

Wer Anarchie daher als eine ethische Glaubensgemeinschaft versteht, verwechselt ganz einfach die<br />

Mosaiksteinchen, aus <strong>de</strong>nen sich eine an-archische Gesellschaft zusammensetzt, mit <strong>de</strong>m Gesamtmosaik.<br />

In je<strong>de</strong>m ›Steinchen‹ schließen sich Menschen nach ihren Neigungen und Bedürfnissen zusammen. Dabei<br />

dürfen sie so anspruchsvoll o<strong>de</strong>r anspruchslos sein, wie ihnen beliebt: die satt- und kraftlose Zweckgruppe<br />

o<strong>de</strong>r die hochmotivierte Glaubensgemeinschaft nichtrauchen<strong>de</strong>r, frie<strong>de</strong>nsbewegter, antipatriarchaler und<br />

sitzpinkeln<strong>de</strong>r VeganerInnen* – alles ist <strong>de</strong>nkbar. Die Interaktion* zwischen <strong>de</strong>n Mosaiksteinchen<br />

geschieht durch Beispiel, Erfahrung und Überzeugungskraft, nicht durch Zwang. Sobald aber rauchen<strong>de</strong><br />

und nichtrauchen<strong>de</strong>, stehpinkeln<strong>de</strong> und sitzpinkeln<strong>de</strong>, fleisch-<br />

371<br />

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essen<strong>de</strong> und pflanzenessen<strong>de</strong>, schrille und fa<strong>de</strong>, aggressive und pazifische, rationale und esoterische, laute<br />

und leise, epikuräische und asketische, individualistische und kollektivistische Menschen gegenseitig<br />

voneinan<strong>de</strong>r verlangen, so und nicht an<strong>de</strong>rs zu leben, weil es so und nicht an<strong>de</strong>rs ›richtig‹ sei, kann eine<br />

an-archische Gesellschaft nicht funktionieren. Solche Menschen haben das Wesen <strong>de</strong>r Anarchie nicht<br />

begriffen, und selbstverständlich brauchten sie überhaupt keine libertäre Struktur. Zur Durchsetzung einer<br />

kollektiven Ethik sind Philosophie und Struktur <strong>de</strong>s Staates viel besser geeignet.<br />

Anarchie als Gesellschaftsstruktur besteht im Grun<strong>de</strong> nur darin, <strong>de</strong>m Zusammenleben eine an<strong>de</strong>re<br />

Grammatik zu geben. Das setzt nicht voraus, daß die Menschen in ihr ›Anarchisten‹ sind! Das setzt nur<br />

voraus, daß die geän<strong>de</strong>rten Spielregeln allgemein akzeptiert wer<strong>de</strong>n. Der Grundkonsens einer libertären<br />

Gesellschaft besteht also nicht in Überzeugung, Anschauung, Lebensentwurf, persönlicher Konsequenz<br />

o<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ologie, son<strong>de</strong>rn in libertären Essentials. Und die sagen nichts weiter aus, als daß die Menschen<br />

selbst entschei<strong>de</strong>n, sich horizontal vernetzen und <strong>de</strong>zentral organisieren. Eine an-archische Gesellschaft<br />

existiert von <strong>de</strong>m Moment an, wo Menschen beginnen, das soziale Leben in großem Maßstab so zu<br />

organisieren.<br />

Es ist erschreckend, wie wenig verbreitet <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Anarchismusbegriff in <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />

anarchistischen Bewegung ist. Dort scheint noch immer die Meinung vorzuherrschen, Anarchie sei nur<br />

mit ›anarchistischen Menschen‹ und einer perfekten Weltanschauung machbar. Das ist ein Grund dafür,<br />

weshalb sich diese Bewegung so schwer tut, Aktionsmo<strong>de</strong>lle zu fin<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen auch <strong>de</strong>r unperfekte<br />

Menschentyp <strong>de</strong>s Mitläufers einen Platz fän<strong>de</strong>. Statt<strong>de</strong>ssen entwickelt sie eine beharrliche Ten<strong>de</strong>nz zum<br />

E<strong>de</strong>lghetto, in <strong>de</strong>m man auf <strong>de</strong>r Suche nach seiner eigenen Vere<strong>de</strong>lung leicht sein ganzes Leben<br />

verbringen kann. Der Mensch ist aber we<strong>de</strong>r e<strong>de</strong>l noch heilig, und wenn Anarchie ein Ding nach


menschlichem Maß sein soll, sollte sie die Vervollkommnung <strong>de</strong>s Menschen zwar för<strong>de</strong>rn, sich aber<br />

davor hüten, Vollkommenheit zur Voraussetzung zu machen.<br />

Worauf es bei <strong>de</strong>r praktischen Verwirklichung ankommt, ist letztlich die Frage, ob es sich in einer<br />

libertären Struktur gut leben läßt. Das ist aber keine Frage eines Glaubensbekenntnisses. Wir leben heute<br />

in <strong>de</strong>r Struktur <strong>de</strong>r parlamentarischen Demokratie. Milliar<strong>de</strong>n Menschen tun das, aber nur wenige<br />

verstehen sich als überzeugte Demokraten o<strong>de</strong>r engagieren sich gar in <strong>de</strong>mokratischen Strukturen.<br />

Zweifellos aber ist hier die Beteiligung <strong>de</strong>r Menschen größer als noch im Absolutismus, und es ist gut<br />

möglich, daß sie in <strong>de</strong>r Anarchie be<strong>de</strong>utend höher wäre als in <strong>de</strong>r Demokratie. Der springen<strong>de</strong> Punkt bei<br />

all<strong>de</strong>m ist jedoch, daß in <strong>de</strong>r Demokratie Menschen passabel leben können und dürfen, die keine<br />

Demokraten sind. Anarchisten sind überzeugt davon, daß ihre Struktur weit besser ist als die <strong>de</strong>r<br />

Demokratie. Das wird sich aber erst dann zeigen, wenn die Menschen auch in solchen Strukturen leben<br />

wollen, ohne daß sie <strong>de</strong>shalb zuvor zu überzeugten Anarchisten wer<strong>de</strong>n müßten.<br />

Soll das heißen, daß Anarchisten sich nicht um persönliche Konsequenz bemühen sollten? Immerhin<br />

wur<strong>de</strong> im dritten Kapitel das Gegenteil behauptet.<br />

372<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Konsequenz als Fetisch<br />

Selbstverständlich ist <strong>de</strong>r Versuch, das, was man vertritt, auch selbst umzusetzen, die einzig glaubwürdige<br />

Nagelprobe <strong>de</strong>r Ernsthaftigkeit. Wie weit die persönliche Konsequenz dabei geht, hängt vom Charakter<br />

<strong>de</strong>s einzelnen Menschen ebenso ab wie von <strong>de</strong>n äußeren Bedingungen und <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>ssen, worin man<br />

konsequent sein möchte. Es kann zum Beispiel sein, daß Konsequenz einen Menschen überfor<strong>de</strong>rt. Auch<br />

kann das Objekt <strong>de</strong>r Konsequenz zweifelhaft sein. Möglicherweise setzt konsequentes Han<strong>de</strong>ln auch zu<br />

früh ein. Herrschaftsfreies Verhalten beispielsweise setzt ein tiefgreifen<strong>de</strong>s Um<strong>de</strong>nken und lange Übung<br />

voraus. Wer sich vornimmt, das sofort ›zu können‹, ohne sich zunächst mit herrschaftsärmerem Verhalten<br />

zu begnügen, verzweifelt schnell. Die Meinungen über solch alltägliche menschliche Regungen wie etwa<br />

Wut o<strong>de</strong>r Eifersucht gehen – nicht nur bei Anarchisten – weit auseinan<strong>de</strong>r. Denkbar wäre, daß <strong>de</strong>r<br />

konsequente Versuch, immer freundlich zu sein o<strong>de</strong>r keine Eifersucht zuzulassen überhaupt nicht richtig<br />

ist und <strong>de</strong>shalb zu bloßer Gefühlsunterdrückung führt, die nieman<strong>de</strong>m nützt. Und wenn Anarchisten, die<br />

beispielsweise für die Abschaffung <strong>de</strong>r Geldwirtschaft eintreten, so konsequent sind, hier und heute ihr<br />

Geld auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen, wäre das sicher ein hübscher symbolischer Akt, aber eine<br />

unsinnige ›Konsequenz‹ zum falschen Zeitpunkt.<br />

Zwischen Ernsthaftigkeit, Konsequenz und Fanatismus bestehen fließen<strong>de</strong> Grenzen. Je<strong>de</strong>r Mensch, <strong>de</strong>r es<br />

mit <strong>de</strong>n libertären Essentials ernst nimmt, muß im eigenen Leben selbst seine Fähigkeiten ausloten und<br />

die Sinnhaftigkeit seines Han<strong>de</strong>lns testen. An<strong>de</strong>renfalls gerät ›Konsequenz‹ leicht zur lächerlichen<br />

Groteske.<br />

Eine Bewegung aber, die konsequentes Verhalten zur Voraussetzung ihrer sozialen Mo<strong>de</strong>lle macht, hat<br />

schon verloren. Bei <strong>de</strong>n allermeisten Menschen gehen Verän<strong>de</strong>rungen in kleinen Schritten vor sich, und<br />

nur wenigen erhabenen Charakteren ist die innere Stärke eigen, sich zwischen Hirn und Bauch so<br />

erfolgreich kurzzuschließen, daß sich ihr Han<strong>de</strong>ln makellos wi<strong>de</strong>rspruchsfrei an ihren Überzeugungen<br />

ausrichtet.<br />

Form und Inhalt


Unter Anarchisten gibt es auffallend viele Menschen, die meinen, nur das persönliche konsequente<br />

Verhalten führe zur angestrebten gesellschaftlichen Verän<strong>de</strong>rung. Diese Annahme stimmt in zweierlei<br />

Hinsicht nicht.<br />

Erstens reicht das persönliche Beispiel nicht aus. Eine rein persönliche Konsequenz stört nicht weiter und<br />

än<strong>de</strong>rt zunächst auch nichts an <strong>de</strong>n Ursachen. Ist das Niveau <strong>de</strong>r eigenen Konsequenz sehr hoch<br />

angesie<strong>de</strong>lt, kann es sogar zur Abschreckung führen. "So was könnt' ich nie!", <strong>de</strong>nkt <strong>de</strong>r Normalbürger<br />

und ist damit angenehmerweise von <strong>de</strong>r Versuchung entbun<strong>de</strong>n, seine eigenen Verhaltensweisen in etwas<br />

weniger spektakulärer Weise zu än<strong>de</strong>rn. Ein gutes Mo<strong>de</strong>ll muß auch inkonsequenten Menschen Zugänge<br />

schaffen und ihnen die Möglichkeit geben, sich in Verän<strong>de</strong>rungsprozesse einzubringen, die nicht nach <strong>de</strong>n<br />

Qualitäten von Heiligen verlangen.<br />

373<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Zweitens verän<strong>de</strong>rn auch inkonsequente Menschen die Gesellschaft. Ohne Frage hätte es größere soziale<br />

Auswirkungen, wenn 30 Millionen inkonsequente Kraftfahrzeugbesitzer täglich mit Bus und Bahn zur<br />

Arbeit führen, als wenn dreitausend konsequente Ökoaktivisten ihr Auto ganz abschafften. Und die<br />

Handlungen eines Landwirtes, <strong>de</strong>r sich auf einem Bio-Bauernhof etwa für biologischen Anbau,<br />

selbstverwaltetes Arbeiten und gesun<strong>de</strong> Ernährung einsetzt, behalten ihre Wirkung auf die Gesellschaft<br />

auch dann, wenn dieser Mensch etwa so inkonsequent ist, daß er lieber Bier mit Korn statt Kräutertee<br />

trinkt. Vielleicht wirkt er auf einige weniger glaubwürdig, auf viele aber mit Sicherheit sehr menschlich.<br />

Entsprechen<strong>de</strong>r Streit aber gehört in anarchistischen Zirkeln zum Alltag. Der Disput um das richtige,<br />

konsequente und ultimativ-korrekte Verhalten scheint manche Anarchas und Anarchos pausenlos zu<br />

beschäftigen; es beherrscht überregionale Treffen und füllt die Spalten vieler Szeneblätter. Das geht von<br />

Ernährungsgewohnheiten über Sexualpräferenzen, Kosmetika, Urinierverhalten und Klei<strong>de</strong>rordnung bis<br />

zur jeweils gängigen Szene-Sprache. Die völlig legitime Suche nach einer eigenen I<strong>de</strong>ntität gerät dabei<br />

nur allzuoft zu einem Spießertum mit umgekehrtem Vorzeichen, das von außen betrachtet befrem<strong>de</strong>nd<br />

wirkt, wenn nicht lächerlich. Auch in <strong>de</strong>r Anarchoszene gibt es ein ritualisiertes* "das tut man nicht" –<br />

nur wird es an<strong>de</strong>rs ausgedrückt...<br />

Dahinter steckt eine merkwürdige und sehr hartnäckige Gleichsetzung von Form und Inhalt. In <strong>de</strong>n<br />

meisten Fällen fügt dabei <strong>de</strong>r übersteigerte Formalismus <strong>de</strong>m inhaltlichen Anliegen schweren Scha<strong>de</strong>n zu.<br />

Nichts hat wohl <strong>de</strong>m Anliegen <strong>de</strong>r Arbeiterbewegung jemals mehr gescha<strong>de</strong>t, als <strong>de</strong>r idiotische<br />

"Proletkult", mit <strong>de</strong>m die kommunistische I<strong>de</strong>ologie <strong>de</strong>r Welt<br />

beweisen wollte, daß <strong>de</strong>r arbeiten<strong>de</strong> Mensch <strong>de</strong>r bessere Mensch sei. Arbeiterbewußtsein,<br />

Arbeitersprache, Arbeiterlie<strong>de</strong>r, Arbeiterkultur, Arbeiterwitze und Arbeiterkitsch wur<strong>de</strong>n als Errettung<br />

aus bürgerlicher Deka<strong>de</strong>nz hoch in <strong>de</strong>n blauen Himmel <strong>de</strong>r diversen Arbeiterparadiese gejubelt. Alles war<br />

per Definition gut und e<strong>de</strong>l, sofern es nur vom Proleten kam. Selbst als dieser Mythos im Ostblock längst<br />

eingeschlafen war, feierte er in <strong>de</strong>r ›Neuen Linken‹ als Szene- Mo<strong>de</strong> fröhliche Auferstehung. Nun waren<br />

es west<strong>de</strong>utsche Stu<strong>de</strong>nten, die <strong>de</strong>m Kult <strong>de</strong>r "werktätigen Massen" fröhnten, und in <strong>de</strong>ren Kampfblättern<br />

man lesen konnte, daß "über zweitausend Menschen und Werktätige" an einer Demonstration<br />

teilgenommen hatten.<br />

Heute wird hingegen zwischen Menschen und Frauen unterschie<strong>de</strong>n. Mit <strong>de</strong>r gleichen Akribie wie<br />

seinerzeit <strong>de</strong>r "Klassenstandpunkt", wird <strong>de</strong>rzeit <strong>de</strong>r "Frauenstandpunkt" durchgesetzt. Damals war die<br />

"Frauenfrage" ein "Nebenwi<strong>de</strong>rspruch <strong>de</strong>s Klassenkampfes", heute ist je<strong>de</strong>s Problem ein Ergebnis <strong>de</strong>s<br />

"Geschlechterkrieges". In <strong>de</strong>n einschlägigen Insi<strong>de</strong>rInnenblättern erfährt die erstaunte LeserInnenschaft


etwa, daß die Beteiligung <strong>de</strong>r AntifaschistInnen aus <strong>de</strong>m Spektrum <strong>de</strong>r HausbesetzerInnen bei <strong>de</strong>n<br />

Aktionen <strong>de</strong>r betroffenen Leute aus <strong>de</strong>n autonomen Frauen- und Lesben-Männer/Schwulen-<br />

Zusammenhängen<br />

374<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

zu inhaltlicher Kritik am sexistischen Sprachverhalten einiger Typen geführt hat, die die For<strong>de</strong>rung nach<br />

einer getrennten Frauen/Lesben-Küche lächerlich gemacht haben, weil man/frau die Vermittlung eines<br />

spezifisch femistischen Standpunkts in dieser Frage vernachlässigt hat, da niemensch mit solchem<br />

Chauviverhalten rechnen konnte.<br />

Je<strong>de</strong>R, <strong>de</strong>r/die sowas liest und nicht zur entsprechen<strong>de</strong>n Szene gehört, wird sich angesichts solch<br />

Orwell'schem Neusprech* die Frage stellen: "Haben die sonst keine Sorgen?". Vorausgesetzt, <strong>de</strong>r Inhalt<br />

dieses Satzes wur<strong>de</strong> überhaupt verstan<strong>de</strong>n.<br />

Das fragen sich auch jene selbstbewußten und durchaus emanzipierten Frauen, die eine solche sprachliche<br />

Liturgie* ablehnen und sich dagegen verwahren, daß das Anliegen <strong>de</strong>r Frauen auf diese Weise von einer<br />

skurrilen Szene zum formalen Mo<strong>de</strong>thema verwurstet wird. Es han<strong>de</strong>lt sich ja nicht, wie gern behauptet,<br />

um eine Reinigung <strong>de</strong>r Sprache von männerbestimmter I<strong>de</strong>ologie, son<strong>de</strong>rn um eine Befrachtung <strong>de</strong>r<br />

Sprache mit einem permanenten Bewußtseinsbekenntnis. Sie wird dadurch nicht nur auf schau<strong>de</strong>rhafte<br />

Weise un-sprechbar, un-lesbar und un-verständlich, son<strong>de</strong>rn wirkt auf neunundneunzig Prozent aller<br />

Menschen so grotesk wie alle I<strong>de</strong>ologie-Jargons. Die politischen Folgen sind verheerend. So wie ein<br />

frommer Katholik nicht "Maria" sagen kann, ohne "die Du bist gebene<strong>de</strong>it unter <strong>de</strong>n Weibern"<br />

anzuhängen, damit sprachlich dokumentiert bleibt, daß ihm die beson<strong>de</strong>re Rolle <strong>de</strong>r Heiligen Jungfrau<br />

stets und ständig bewußt ist, so dokumentiert auch <strong>de</strong>r trendbewußte Linksmensch in je<strong>de</strong>m Satz seine<br />

tiefe Betroffenheit: Er weiß, daß es eine Unterdrückung <strong>de</strong>r Frau und ein Patriarchat gibt und er zeigt, daß<br />

er dieses Problem allzeit ernst nimmt und nie vergißt. Der gläubige Mohammedaner muß in seinen<br />

Nebensätzen ständig betonen, daß Allah <strong>de</strong>r Einzige und Erhabene Gott ist und Mohammed Sein Prophet.<br />

Der gläubige Marxist flicht mit seinen proletarischen Sprachschlenkern in je<strong>de</strong>n Satz das Bekenntnis zum<br />

"Klassenstandpunkt" ein. Dem "Frauenstandpunkt" wi<strong>de</strong>rfährt lei<strong>de</strong>r kein besseres Schicksal.<br />

Es han<strong>de</strong>lt sich mithin um ein semantisches* Glaubensbekenntnis, das gleichzeitig als szene-typisches<br />

I<strong>de</strong>ntifizierungssignal funktioniert. Dieser Jargon wird in zwanzig Jahren auf diejenigen, die ihn heute<br />

anwen<strong>de</strong>n, nicht weniger peinlich wirken als heutigentags die Proletkult-überfrachtete Agitationssprache<br />

<strong>de</strong>s SDS auf die alten Achtundsechziger. Die Auswirkungen solcher Sprachghettos auf das eigentliche<br />

Thema sind immer negativ - gleichgültig, wie gut, berechtigt und wichtig das Anliegen auch sein mag. Je<br />

intensiver sprachliche Überzeugungs- und Unterwerfungsrituale gepflegt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>sto weniger wer<strong>de</strong>n<br />

sie geglaubt. Der formalistische Neofeminismus als <strong>de</strong>rzeitiges Mo<strong>de</strong>thema einiger linker "Scenes" wird<br />

<strong>de</strong>m Anliegen <strong>de</strong>r Frauen einen hohen Preis abverlangen.<br />

Dabei steht er hier nur als ein Beispiel für viele linke Zeitgeisterscheinungen, bei <strong>de</strong>ren kultischer<br />

Erhöhung stets Form und Inhalt verwechselt wer<strong>de</strong>n.<br />

Erinnern wir uns, wer in letzter Zeit neben Proletariern und Frauen nicht schon alles als Hoffnungsträger<br />

und Übermensch gehan<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>: <strong>de</strong>r Vietkong, <strong>de</strong>r Tatmensch Che Guevara o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Guerillero an und<br />

für sich, <strong>de</strong>ssen im Kampf gestählte Güte zum leuchten<strong>de</strong>n Menschheitsvorbild wur<strong>de</strong>. Der liebesvolle<br />

Hippie, <strong>de</strong>r durch halluzinogene Drogen in seinem Bewußtsein<br />

375


--------------------------------------------------------------------------------<br />

erweiterte Erkenntnismensch, <strong>de</strong>r Schamane. Ebenso <strong>de</strong>r entkolonialisierte Drittweltmensch, die Indianer<br />

schlechthin, aber auch <strong>de</strong>r zivilisationsfeindliche gute Wil<strong>de</strong>. Buddhistische Mönche, Gurus, Visionäre,<br />

Menschen mit <strong>de</strong>m Dritten Auge und esoterisch Erleuchtete aller Schattierungen bis hin zu Ätherleibern<br />

und außerirdischen Heerscharen, die mit ihren UFOs zur Rettung <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> angetreten sind. In größerer<br />

Heimatnähe dann noch <strong>de</strong>n allseitig betroffenen Öko- und Frie<strong>de</strong>nsaktivisten, <strong>de</strong>n sanften<br />

Naturmenschen, <strong>de</strong>n Bewußtseinskün<strong>de</strong>r. Nicht zu vergessen die sagenhaften Rückzugsgefil<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />

kleinen Hobbit.<br />

Hinter diesen Dingen stecken meist legitime, zumin<strong>de</strong>st interessante Bereiche. In<strong>de</strong>m ein je<strong>de</strong>s dieser<br />

Themen aber zu <strong>de</strong>m Thema schlechthin gemacht wird, verwan<strong>de</strong>lt sich <strong>de</strong>r Inhalt eines Anliegens in<br />

starre, äußerliche Form. In <strong>de</strong>r Regel wer<strong>de</strong>n alle Heilserwartungen auf <strong>de</strong>n neuen, perfekten Menschen<br />

projiziert, <strong>de</strong>r dort angeblich schlummere und nun ent<strong>de</strong>ckt wor<strong>de</strong>n sei. Diesem Hoffnungsträger wird mit<br />

<strong>de</strong>n neu entstan<strong>de</strong>nen Formalien gehuldigt. Solche Formalien tendieren zu Isolation und stoßen auf<br />

Unverständnis. Die ultrasofte Müsliszene wirkt mit ihren Ritualen auf Außenstehen<strong>de</strong> natürlich genauso<br />

grotesk wie die knallharten Autonomen o<strong>de</strong>r die antisexistisch festgebissenen "Frauen/Lesben-<br />

Zusammenhänge".<br />

Auf die gleiche Weise entstand aus <strong>de</strong>m Rebellenfreak Jesus eine katholische Kirche, aus <strong>de</strong>m Kampf <strong>de</strong>r<br />

unterdrückten Arbeiter ein Proletkult, aus <strong>de</strong>m Kampf <strong>de</strong>r unterdrückten Frauen ein neuer Frauenkult.<br />

Dem Menschen weiblichen Geschlechts wer<strong>de</strong>n heute sämtliche ersehnten Tugen<strong>de</strong>n aufgebuckelt. Aber<br />

auch die heftigsten Rituale wer<strong>de</strong>n all die Nicht-Gläubigen bei<strong>de</strong>rlei Geschlechts kaum von <strong>de</strong>r<br />

Überzeugung abbringen können, daß eine Frau auch bloß ein Mensch ist.<br />

Monokausale Fallgruben<br />

Das gemeinsame Muster dieser nicht nur bei Anarchisten weit verbreiteten Neigung ist immer die Suche<br />

nach einer Ursache, mit <strong>de</strong>r alles erklärbar ist und lösbar wäre. Diese Suche nach <strong>de</strong>m allumfassen<strong>de</strong>n<br />

Weltgesetz ist ein altes, tiefsitzen<strong>de</strong>s Erbe. Es spiegelt sich im göttlichen Weltbild <strong>de</strong>s Christentums<br />

ebenso wi<strong>de</strong>r wie in <strong>de</strong>r naturwissenschaftlich geprägten Tradition <strong>de</strong>r Aufklärung. In <strong>de</strong>r Philosophie<br />

wird diese Art zu <strong>de</strong>nken monokausal* genannt. Manche Feministinnen haben übrigens dieses<br />

Denkmuster mit guten Argumenten als ein eher männliches Schema beschrieben.<br />

Anhand <strong>de</strong>r Chaostheorie haben wir gesehen, daß monokausale Zusammenhänge zwischen Ursache und<br />

Wirkung fast nur im Labor, das heißt, in <strong>de</strong>r Theorie existieren. Leben aber ist praktisch. Hier haben wir<br />

es stets mit komplexen Zusammenhängen zu tun, bei <strong>de</strong>nen mannigfaltige Wechselwirkungen zwischen<br />

verschie<strong>de</strong>nen Ursachen zum Tragen kommen. Monokausales Denken ist verlockend einfach und <strong>de</strong>shalb<br />

auf <strong>de</strong>m Markt sozialer Theorien eine Ware, die immer wie<strong>de</strong>r gerne genommen wird. Das ist zwar<br />

verständlich, weil menschlich, aber nicht gera<strong>de</strong> hilfreich. Der frühe Rustikalanarchismus Bakuninscher<br />

Prägung etwa ist ein klassisches Beispiel monokausalen Denkens, <strong>de</strong>nn er<br />

376<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

sieht im Staat die Wurzel fast allen Übels und in seiner Beiseitigung <strong>de</strong>n Schlüssel zum Glück. Nicht<br />

ohne Grund wur<strong>de</strong> eingangs so viel Wert auf die Feststellung gelegt, daß ›<strong>de</strong>r Staat an sich‹ nicht ›das<br />

Grundübel‹ <strong>de</strong>r Menschheit sei und daß sich <strong>de</strong>r Anarchismus keineswegs in seiner Abschaffung<br />

erschöpfe.


Wer monokausal <strong>de</strong>nkt, neigt dazu, von mehreren Alternativen immer nur eine gelten zu lassen und alle<br />

an<strong>de</strong>ren völlig auszuschließen. Das führt auch bei Anarchisten zu verhängnisvollen Fallgruben <strong>de</strong>s<br />

Denkens, die immer wie<strong>de</strong>r in Dogmen en<strong>de</strong>n.<br />

Zum Beispiel das Dogma <strong>de</strong>s Kollektivismus. Der Glaube, kollektives Arbeiten, kollektive<br />

Entscheidungen und kollektives Leben seien in je<strong>de</strong>m Falle gut und stün<strong>de</strong>n für die libertäre<br />

Lebenseinstellung schlechthin, ist in <strong>de</strong>r heutigen Anarchobewegung hartnäckig verbreitet. All das ist<br />

natürlich höherer Blödsinn, <strong>de</strong>nn Kollektive können ebensogut schlechte Arbeit leisten, dumme<br />

Entscheidungen treffen o<strong>de</strong>r das Leben zur Hölle machen. Die Tatsache, daß in unseren Gesellschaften<br />

das soziale Zusammenwirken von Menschen mittels Hierarchie und Vereinzelung <strong>de</strong>nkbar schlecht<br />

organisiert ist, hat dazu gefühlt, daß <strong>de</strong>r Anarchismus kollektive Mo<strong>de</strong>lle entwickelte, die möglicherweise<br />

besser sind. Das be<strong>de</strong>utet aber nicht, daß auf einmal alles kollektiv zu geschehen habe. Praktische<br />

Kollektivmo<strong>de</strong>lle können hervorragen<strong>de</strong> Lösungen bieten, dogmatische Kollektivi<strong>de</strong>ologie aber ist das<br />

En<strong>de</strong> von Freiheit und Vielfalt. Formalisiertes Kollektivhan<strong>de</strong>ln führt leicht zum Tod individueller<br />

Kreativität und würgt je<strong>de</strong> Art persönlichen Genies ab. Heraus kommt das graue Einheits- Mittelmaß.<br />

Wer aber hat <strong>de</strong>nn gesagt, daß man sich entschei<strong>de</strong>n müsse zwischen entwe<strong>de</strong>r kollektiv o<strong>de</strong>r individuell?<br />

Das kann nur <strong>de</strong>r kleine monokausale Virus im Hinterkopf gewesen sein!<br />

Ähnliche Überlegungen gelten auch für die große Glaubensfrage, die die Linke hun<strong>de</strong>rtfünfzig Jahre lang<br />

in Atem hielt: ob <strong>de</strong>nn die Arbeiterbewegung auf einer materialistischen* o<strong>de</strong>r i<strong>de</strong>alistischen*<br />

Philosophie aufbaue. Bestimmt nun das Sein das Bewußtsein o<strong>de</strong>r umgekehrt das Bewußtsein das Sein? -<br />

ohne diese spannen<strong>de</strong> Frage konnte nach 1968 überhaupt kein ernsthaftes Gespräch unter politisch<br />

bewegten Menschen begonnen wer<strong>de</strong>n! Es han<strong>de</strong>lt sich hierbei zweifellos um ein sehr interessantes<br />

Thema, und das sei ohne Ironie gesagt. Aber für die Frage, ob ein Mensch willens und in <strong>de</strong>r Lage ist,<br />

ohne Hierarchie zu leben, ist es ohne Belang. Tatsächlich scheint bei<strong>de</strong>s zuzutreffen, und <strong>de</strong>r<br />

Anarchismus hat das praktisch auch nie an<strong>de</strong>rs gesehen. Es liegt ja auf <strong>de</strong>r Hand, daß <strong>de</strong>r Mensch durch<br />

seine soziale Umwelt geformt ist und so <strong>de</strong>nkt, wie er geprägt wur<strong>de</strong>. Genauso ein<strong>de</strong>utig aber ist die<br />

Beobachtung, daß <strong>de</strong>r Mensch auch kraft <strong>de</strong>s eigenen Willens diesen Zustand än<strong>de</strong>rn kann. Ein typisches<br />

Beispiel also für Wechselwirkung, und ein seltenes Beispiel für die Überwindung monokausalen<br />

Denkens, <strong>de</strong>nn diese Frage scheint heute nieman<strong>de</strong>n mehr son<strong>de</strong>rlich zu interessieren.<br />

Auch die überaus schwache Differenzierung, die in Anarchokreisen zwischen Begriffen wie "Autorität",<br />

"Herrschaft", "Unterdrückung" und "Hierarchie" gepflegt wird, ist Ausdruck monokausalen Denkens. Das<br />

führt dann dazu, daß man meint, Freiheit zu<br />

377<br />

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erreichen, in<strong>de</strong>m man je<strong>de</strong> Überlegenheit eines Menschen weghobelt. Egal, ob es sich nun um Wissen,<br />

Talent, beson<strong>de</strong>re Fähigkeiten o<strong>de</strong>r ausgefallene charakterliche Züge han<strong>de</strong>lt - alles steht im Verdacht,<br />

"autoritär" zu sein. Gleichheit soll erzielt wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m alle Menschen mit ihren vielfältigen<br />

Eigenschaften durch <strong>de</strong>n Wolf gedreht wer<strong>de</strong>n, bis sie sich auf einem gleichen Nenner wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r<br />

zumeist das niedrigste gemeinsame Niveau ist. In <strong>de</strong>r Tat gibt es dann keine "Hierarchie" mehr, aber eben<br />

auch nichts Besseres. Es gibt keinen entlarven<strong>de</strong>ren Ausdruck für diese schematische Manie, von allem<br />

was wir als schlecht empfin<strong>de</strong>n immer ganz genau gera<strong>de</strong> das Gegenteil anzustreben, als das<br />

problematische Wörtchen "antiautoritär". Dieses Verhalten, die sogenannte antithetische Bindung, hat<br />

immer wie<strong>de</strong>r zu groteskem Unsinn geführt und ist mit schuld daran, daß sich Anarchisten öfter durch die<br />

Hervorbringung irgendwelcher nervtöten<strong>de</strong>r Platitü<strong>de</strong>n* hervorgetan haben als durch die Entwicklung<br />

praktischer Mo<strong>de</strong>lle.<br />

Kirche o<strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>?


Genug geschimpft! Die Frage lautete, ob <strong>de</strong>r Anarchismus noch zu retten sei. Ob sich also die<br />

anarchistische Bewegung, so wie sie sich heute darstellt, totläuft, o<strong>de</strong>r einen hilfreichen Beitrag dazu<br />

leisten kann, daß sich die Menschheit an-archische Strukturen gibt. Hierzu war es lei<strong>de</strong>r nötig, Themen<br />

anzusprechen, die sich vielleicht nur politischen Insi<strong>de</strong>rn ganz erschließen. Deshalb möchte ich mit einer<br />

leicht nachvollziehbaren Analogie en<strong>de</strong>n, die auch Außenstehen<strong>de</strong>n klar machen dürfte, an welchem<br />

Punkt sich diese relativ junge Bewegung heute befin<strong>de</strong>t.<br />

Vergleichen wir sie einmal - ganz formal gesehen, versteht sich, und keineswegs inhaltlich - mit <strong>de</strong>m<br />

Christentum. Einer I<strong>de</strong>e also, die zu einer Bewegung wur<strong>de</strong>. Diese Bewegung stand irgendwann an einem<br />

wichtigen Schei<strong>de</strong>weg. Sie mußte sich <strong>de</strong>r Frage stellen: Puritanismus o<strong>de</strong>r Lebendigkeit? Hinter dieser<br />

Alternative stan<strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>ne Denkweisen: Hier <strong>de</strong>r Wunsch nach perfekter Vollendung, Hingabe,<br />

Konsequenz; dort <strong>de</strong>r Wunsch nach praktischer Umsetzung einer Lebenseinstellung im freien<br />

Experiment. Hier zählten feste Glaubensgrundsätze, ein<strong>de</strong>utige Strukturen, effektiver Apparat; dort<br />

zählten zwischenmenschlicher Austausch, Alltagsstrukturen und Spontaneität. Hier das Kloster mit seinen<br />

heiligen Mönchen, dort die Bewegung mit ihren suchen<strong>de</strong>n Menschen. All das läßt sich zusammenfassen<br />

in <strong>de</strong>r historischen Entscheidung, die das Christentum zwischen Kirche und Gemein<strong>de</strong> zu treffen hatte<br />

und bekanntlich zugunsten <strong>de</strong>r Kirche getroffen hat. Es war <strong>de</strong>r Triumph <strong>de</strong>s Puritanismus und <strong>de</strong>r Tod<br />

<strong>de</strong>r Lebendigkeit, die Geburt eines Apparates und das En<strong>de</strong> einer I<strong>de</strong>e.<br />

Meines Erachtens steht <strong>de</strong>r Anarchismus heute an einem vergleichbaren Punkt. Perfektioniert er die I<strong>de</strong>e<br />

<strong>de</strong>r Freiheit in immer sophistischeren* Theorien, in <strong>de</strong>r Weiterentwicklung symbolischer Riten und<br />

immer konsequenterer Verhaltensmuster? Schafft er eine anarchistische Elite, die sich in <strong>de</strong>r Auslegung<br />

<strong>de</strong>r Klassiker übt, über die Reinhaltung <strong>de</strong>r Lehre wacht und die Menschheit ermahnend zum Ziele führen<br />

will? Bringt er eine Avantgar<strong>de</strong> hervor, die für <strong>de</strong>n Triumph <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ale kämpft? Schafft er sich die dazu<br />

378<br />

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notwendigen Organisationen, eine eigene Sprache und die passen<strong>de</strong> Dienstkleidung? Und pflegt er all dies<br />

in <strong>de</strong>r sterilen Abgeschie<strong>de</strong>nheit geschlossener Kreise?<br />

Dann wäre dies das anarchistische Kloster, mit <strong>de</strong>n Autonomen als Jesuiten, <strong>de</strong>m Theoretiker als<br />

erleuchtetem Eremiten und einem je<strong>de</strong>n Anarchisten in seinem entsprechen<strong>de</strong>n Or<strong>de</strong>n mit eigener<br />

Liturgie. Meiner Meinung nach könnten aus dieser klösterlichen Anarchokultur durchaus köstliche<br />

Anregungen an <strong>de</strong>n menschlichen Geist entspringen, so wie dies bei <strong>de</strong>n christlichen Abteien ja auch <strong>de</strong>r<br />

Fall war. Zur Durchsetzung <strong>de</strong>s christlichen Geistes in <strong>de</strong>r Menschheit aber haben es alle Zisterzienser,<br />

Dominikaner, Karmeliter, Kapuziner und Jesuiten nicht gebracht. Die Durchsetzung <strong>de</strong>s libertären Geistes<br />

in <strong>de</strong>r Menschheit wird vermutlich auch all jenen geschlossenen Zirkeln nicht gelingen, die langsam aber<br />

stetig in eine libertär-klösterliche Kultur abdriften.<br />

Noch aber ist die Entscheidung nicht gefallen. Die Anarchisten stehen seit Jahren unverän<strong>de</strong>rt vor <strong>de</strong>m<br />

Schei<strong>de</strong>weg. Solange es Libertäre gibt, die statt <strong>de</strong>m Prinzip Kloster das Prinzip Gemein<strong>de</strong> vorantreiben,<br />

bleibt Hoffnung.<br />

Kapitel 40 Von <strong>de</strong>r Demokratie zur Akratie<br />

"Nichts ist wi<strong>de</strong>rwärtiger als die Majorität, <strong>de</strong>nn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus<br />

Schelmen, die sich akkomodieren, aus Schwachen, die<br />

sich assimilieren, und <strong>de</strong>r Masse, die nachtrollt, ohne nur im min<strong>de</strong>sten zu wissen, was sie will."


- Johann Wolfgang von Goethe -<br />

EINEN MENSCHEN, DER VOR DREIHUNDERT JAHREN behauptet hätte, daß <strong>de</strong>reinst ein Volk<br />

nicht mehr vom gottgewollten König regiert wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, hätte man glatt für verrückt erklärt. Die<br />

Vorstellung, alle paar Jahre ein paar hun<strong>de</strong>rt Leute auszuwählen, die sich zusammenhockten, diskutierten<br />

und statt <strong>de</strong>s Monarchen regierten, wäre absurd erschienen. Weil es gegen die Natur <strong>de</strong>s Menschen<br />

verstoße und gegen die bewährte Ordnung <strong>de</strong>r Dinge. Man hätte die Verkün<strong>de</strong>r solcher I<strong>de</strong>en als<br />

gefährliche Aufwiegler verfolgt o<strong>de</strong>r bestenfalls als Utopisten ausgelacht.<br />

Tatsächlich ist all das ja auch geschehen.<br />

Heute in<strong>de</strong>s leben wir nach genau diesem Muster, nennen es "Demokratie" und fin<strong>de</strong>n es völlig normal.<br />

Wer heute die Rückkehr zur Monarchie for<strong>de</strong>rt, gilt als Idiot.<br />

Wandlung ist möglich<br />

Politische Herrschaft ist nicht Ausdruck <strong>de</strong>s Bösen, son<strong>de</strong>rn eine Form von Verwaltung. Diese<br />

Verwaltung kann besser o<strong>de</strong>r schlechter organisiert sein. Was dabei ›gut‹ o<strong>de</strong>r<br />

379<br />

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›schlecht‹ ist, hängt von <strong>de</strong>r Perspektive ab, das heißt, von <strong>de</strong>r Frage: für wen gut o<strong>de</strong>r schlecht.<br />

Untersuchen wir die Frage vom Standpunkt <strong>de</strong>rer, die man allgemein ›das Volk‹ nennt, also unserem: Wie<br />

stark kommen wir in <strong>de</strong>r Verwaltung vor?<br />

Früher herrschte ein Einzelner im Namen einer I<strong>de</strong>e, die sich auf einen Einzelnen berief. Der "einzige<br />

Herrscher", <strong>de</strong>r Monarch, betrieb als Vasall, Herzog o<strong>de</strong>r König sein Verwaltungsgeschäft im Namen <strong>de</strong>s<br />

"einzigen Gottes". Die uneingeschränkte Herrschaft eines Einzelnen nennen wir Autokratie. Sie brachte<br />

Fremdverwaltung hervor.<br />

Heute herrschen viele im Namen einer I<strong>de</strong>e, die sich auf das ganze Volk beruft. Die "vielen Herrscher",<br />

Polyarchen, betreiben als Abgeordnete, Minister, Regierungschefs ihr Verwaltungsgeschäft im Namen <strong>de</strong>r<br />

Gesamtheit <strong>de</strong>r "mündigen Wahlbürger". Die eingeschränkte Herrschaft vieler im Namen aller nennen wir<br />

Demokratie. Sie bringt eine Stellvertreterverwaltung hervor.<br />

Gemäß <strong>de</strong>r anarchistischen I<strong>de</strong>e, die heute noch im Rang einer Utopie steht, herrscht morgen je<strong>de</strong>r über<br />

sich selbst o<strong>de</strong>r, was dasselbe ist, niemand mehr über an<strong>de</strong>re. Die Gesamtheit nicht-herrschen<strong>de</strong>r<br />

Menschen, Anarchen, betreiben als autonome Individuen ihre Verwaltungsgeschäfte in <strong>de</strong>zentralen<br />

Strukturen im Namen ihrer selbst. "Herrschaft" wird durch "Selbstorganisation" ersetzt, einen Zustand,<br />

<strong>de</strong>n wir Akratie nennen. Sie wür<strong>de</strong> Selbstverwaltung hervorbringen.<br />

Somit wäre ein gesellschaftlicher Zustand <strong>de</strong>r Akratie mit <strong>de</strong>r Organisationsstruktur Selbstverwaltung <strong>de</strong>r<br />

für das Interesse aller Menschen am weitesten fortgeschrittene Entwicklungszustand.<br />

Es ist verlockend, in solchen Entwicklungssträngen zu <strong>de</strong>nken. Demzufolge gäbe es eine stetige<br />

gesellschaftliche Verän<strong>de</strong>rung, die sich im theoretischen Denkbild von <strong>de</strong>r Autokratie über die<br />

Demokratie zur Akratie entwickelte. Das entspräche in <strong>de</strong>n politischen Formen einer Umwandlung von


<strong>de</strong>r Monarchie über die Polyarchie zur Anarchie. Die gesellschaftlichen Strukturen wechselten von <strong>de</strong>r<br />

Fremdverwaltung über Stellvertreterverwaltung zur Selbstverwaltung. Aber das sind nur Theorien -<br />

Mo<strong>de</strong>llvorstellungen, die zur Orientierung dienen können. Wir wissen, daß es kaum jemals eine ›reine‹<br />

Monarchie gab, und daß auch unsere ›Demokratie‹ ihrer eigenen I<strong>de</strong>e von ›Volksherrschaft‹ nicht gerecht<br />

wird.<br />

Solche Denkmo<strong>de</strong>lle können die Perspektive erweitern und unser Hirn auflockern. Deshalb sind sie aber<br />

noch lange nicht Realität, und sie entwickeln sich auch nicht in irgen<strong>de</strong>iner Weise ›automatisch‹. Kein<br />

okkultes* Weltgesetz - we<strong>de</strong>r ein göttliches, ein aufklärerisches, marxistisches o<strong>de</strong>r ein ökologisches -<br />

lenkt die Schritte <strong>de</strong>r Menschheit automatisch einem höheren Endziel zu - und natürlich auch kein<br />

anarchistisches. Der Entwicklungsstrang Autokratie- Demokratie-Akratie ist eine Möglichkeit, die sich<br />

aufzeigt. Damit Möglichkeiten zu Wirklichkeiten wer<strong>de</strong>n, braucht es ein Ziel, einen allgemeinen Wunsch,<br />

das Ziel zu erreichen und schließlich das Han<strong>de</strong>ln von Menschen, um sich diesem Ziel zu nähern.<br />

380<br />

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Alles, was wir aus <strong>de</strong>r Tatsache folgern dürfen, daß das Gros <strong>de</strong>r Menschheit sich von <strong>de</strong>r Autokratie zur<br />

Demokratie bewegt hat, ist, daß Wandlung möglich ist. Wie ›absurd‹ die Zielvorstellungen solch einer<br />

Wandlung von <strong>de</strong>n Zeitgenossen wahrgenommen wer<strong>de</strong>n, ist unerheblich, weil sich auch die politischen,<br />

moralischen und gesellschaftlichen Ansichten wan<strong>de</strong>ln können. Nichts ist unbeständiger als <strong>de</strong>r Zeitgeist.<br />

Für überzeugte Libertäre be<strong>de</strong>utet dies, sofern sie in solchen Prozessen überhaupt noch eine Rolle spielen<br />

wollen, zweierlei: Sie dürfen erstens nicht nur auf das Endziel starren, son<strong>de</strong>rn müssen die Krisen <strong>de</strong>r<br />

heutigen Herrschaftsform als Strukturprobleme einer verfehlten Verwaltungsphilosophie verstehen.<br />

Zweitens dürfen sie nicht auf die automatische Erfüllung solcher Entwicklungsstränge hoffen; sie müssen<br />

etwas dafür tun. Das heißt, nach Wegen, Ansätzen und Chancen zu suchen, sich mit besseren Strukturen<br />

dort einzubringen, wo die schlechteren Strukturen versagen. Ein Aufspüren von Krisen also, das jedoch<br />

nur dann Sinn macht, wenn die Libertären außer Kritik auch Alternativen im Gepäck haben.<br />

Mit einem Wort: Die Libertären müßten lernen, strategisch zu <strong>de</strong>nken.<br />

Mehrheit, Min<strong>de</strong>rheit, Freiheit<br />

Eines <strong>de</strong>r Strukturprobleme hat <strong>de</strong>r alte Goethe in seinem launischen Eingangszitat angesprochen: Den<br />

Fetisch <strong>de</strong>r "Mehrheit". In <strong>de</strong>r Organisationsform "Demokratie" führt er zu einer endlosen Kette von<br />

Funktionsstörungen, die auf <strong>de</strong>r falschen Verwaltungsphilosophie beruhen, Verwaltung mit Herrschaft<br />

gleichzusetzen. Diese Gleichsetzung ergibt sich aus <strong>de</strong>r Vorgabe, daß an einem Ort nur eine Gesellschaft<br />

bestehen dürfe, und daß diese Gesellschaft möglichst groß sein sollte. Eine solche Gesellschaft muß dann<br />

folgerichtig für Souveränität, Zentralisierung, Entscheidungshierarchie, Autorität und Nivellierung <strong>de</strong>s<br />

Großen Ganzen sorgen. Dieses "Große Ganze" nennen wir Staat. Und <strong>de</strong>r Staat kann gar nicht an<strong>de</strong>rs sein<br />

als er ist. Kleinheit und Vielfalt sind für je<strong>de</strong>n Staat eine Bedrohung. Am besten funktioniert er in Größe<br />

und Einfalt. Da er überall alles für alle gleich bestimmen soll, muß er ten<strong>de</strong>nziell alle Menschen<br />

gleichmachen.<br />

Gleichmacherei aber scheint irgendwie nicht <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>s Menschen zu entsprechen. Je<strong>de</strong>nfalls hat er<br />

sich immer dagegen aufgelehnt. Das hat Verän<strong>de</strong>rungen bewirkt. Diesen Verän<strong>de</strong>rungen trug die<br />

Verschiebung <strong>de</strong>r Macht vom König auf das Parlament Rechnung, betraf aber nur die formalen<br />

Rahmenbedingungen. Sie war sozusagen eine Lockerung <strong>de</strong>r Strukturen, hinter <strong>de</strong>r nach wie vor dieselbe


I<strong>de</strong>e stand: die I<strong>de</strong>e großer Einheiten.<br />

Wenn diese I<strong>de</strong>e Grundlage <strong>de</strong>r sozialen Organisation ist, dann ist es nur konsequent, sich die dazu<br />

passen<strong>de</strong>n Strukturen zu geben. Demokratie wäre dazu eher ungeeignet. Eine wohlwollen<strong>de</strong> Monarchie,<br />

eine Diktatur o<strong>de</strong>r Tyrannei mit ›guten Absichten wäre ihr dann eigentlich vorzuziehen. Gegen die aber<br />

haben sich die Menschen immer wie<strong>de</strong>r aufgelehnt. Offenbar wer<strong>de</strong>n Vereinheitlichung, Zentralismus,<br />

Kontrolle, Befehl und Unterdrückung als unangenehm empfun<strong>de</strong>n.<br />

Es stellt sich also die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Frage, ob die I<strong>de</strong>e großer Einheiten überhaupt eine<br />

381<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

<strong>de</strong>m Menschen angemessene I<strong>de</strong>e ist. Ist <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Nationalstaat nicht ein Anachronismus und die<br />

Herausbildung von Supermächten vielleicht seine schwachsinnigste Krönung?<br />

Im Grun<strong>de</strong> sind mo<strong>de</strong>rne Demokratien verkorkste Zwitter. In ihr stimmen I<strong>de</strong>e und Struktur nicht überein.<br />

Entwe<strong>de</strong>r ist die große Einheit das <strong>de</strong>m Menschen gemäße I<strong>de</strong>al, dann ist <strong>de</strong>r parlamentarische<br />

Pluralismus* nicht mehr die richtige Form, weil er zu frei ist. O<strong>de</strong>r aber die Vielfalt kleinerer Einheiten<br />

entspricht <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>s Menschen, dann ist die heutige Demokratie noch nicht die richtige Form,<br />

weil sie zu unfrei ist. Sie steht in ihrer Philosophie zwischen Bevormundung und Autonomie, in ihrer<br />

Struktur zwischen Zentralismus und Fö<strong>de</strong>ration, in ihrer Verwaltung zwischen Befehl und<br />

Selbstorganisation.<br />

Anarchisten gehen an<strong>de</strong>rs vor: Sie setzen Verwaltung nicht mit Herrschaft gleich und vermuten, daß eine<br />

Selbstverwaltung ohne Fremdbestimmung motivierend wirkt. Dem Problem <strong>de</strong>r Konsensfindung in <strong>de</strong>r<br />

Vielfalt begegnen sie mit einer Entflechtung <strong>de</strong>r Gesellschaft. Einen möglichen Effektivitätsverlust bei<br />

Wegfall von Hierarchie wollen sie durch eine leistungsfähige horizontale Vernetzung ausgleichen, die auf<br />

freiwilliger Autorität beruht. Die meisten sozialen Steuerungsprobleme halten sie für hausgemacht, weil<br />

staatliche Gesellschaften angesichts ihrer Größe und ihres Anspruches nicht auf die Mechanismen einer<br />

Selbststeuerung von Systemen vertrauen dürfen. Deshalb ist <strong>de</strong>r gesamte anarchistische<br />

Gesellschaftsentwurf darauf ausgerichtet, diese Selbststeuerung möglich zu machen, in<strong>de</strong>m sie Größe und<br />

Struktur <strong>de</strong>r Gesellschaft(en) verän<strong>de</strong>rt. Wie aber geht die staatliche Gesellschaft mit diesem Dilemma<br />

um? Mit <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>r Mehrheiten - einem <strong>de</strong>nkbar faulen Kompromiß, <strong>de</strong>r haargenau da steht, wo<br />

auch die mo<strong>de</strong>rne Demokratie steht: zwischen Bevormundung und Autonomie. Ganz ohne Zweifel ist<br />

Mehrheitsherrschaft keine saubere Lösung. Sie ist in <strong>de</strong>r Praxis gewiß weniger schlecht und weniger<br />

willkürlich als die Despotie eines Einzelnen - aber natürlich wird auch eine falsche Entscheidung nicht<br />

dadurch richtiger, daß viele Trottel sie durchgesetzt haben. Selbstverständlich gibt es in riesigen<br />

Gesellschaften auch immer riesige Min<strong>de</strong>rheiten, <strong>de</strong>ren Interessen unter <strong>de</strong>n Tisch fallen. Und wie Goethe<br />

so treffend beobachtet hat, führt das Regiment <strong>de</strong>r Majorität ja nicht etwa dazu, daß es keine einzelnen<br />

Herrscher mehr gäbe. Die gibt es nach wie vor, nur sind sie jetzt gezwungen, ihre persönlichen Interessen<br />

mit <strong>de</strong>r Hilfe von Mehrheiten durchsetzen. Daß sie diese Mehrheiten vor allem auch aus <strong>de</strong>r dumpfen,<br />

i<strong>de</strong>enlosen Masse rekrutieren, brauchen wir nicht erst beim <strong>de</strong>utschen Dichterfürsten nachzulesen, das<br />

kennen wir aus eigener Anschauung zur Genüge.<br />

Auf diese Schwächen <strong>de</strong>r Mehrheitsherrschaft gibt es grundsätzlich zwei Antworten. Die elitistische*<br />

Antwort verachtet die Mehrheit, pfeift auf die Masse und for<strong>de</strong>rt die Herrschaft <strong>de</strong>r Klugen, Starken,<br />

Guten, Erleuchteten o<strong>de</strong>r sittlich Reifen. Die anarchistische Antwort macht Mehrheiten überflüssig, pfeift<br />

auf die Herrschaft und for<strong>de</strong>rt die Chance von Klugheit, Stärke, Güte, Erkenntnis und sittlicher Reife für


alle. Demokraten haben keine Antwort, sie improvisieren.<br />

382<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Wie aber kann das Gewicht <strong>de</strong>r Mehrheit überflüssig wer<strong>de</strong>n?<br />

In<strong>de</strong>m die Strukturen abgelöst wer<strong>de</strong>n, die Mehrheitsentscheidungen erfor<strong>de</strong>rn. Wie das im Detail<br />

funktionieren soll, haben wir bereits erfahren. An dieser Stelle sollen uns nur folgen<strong>de</strong> Überlegungen<br />

interessieren:<br />

Was eine ›richtige‹ und eine ›falsche‹ Entscheidung ist, darüber gehen die Meinungen <strong>de</strong>r Menschen stets<br />

auseinan<strong>de</strong>r. Je größer eine Gesellschaft ist, <strong>de</strong>sto mehr Menschen, <strong>de</strong>sto mehr Meinungen, <strong>de</strong>sto<br />

schwieriger ein Konsens, <strong>de</strong>sto größer die unterdrückten Min<strong>de</strong>rheiten, <strong>de</strong>sto schwieriger das individuelle<br />

Ausweichen vor einer als ›falsch‹ empfun<strong>de</strong>nen Entscheidung. Je vielfältiger eine Gesellschaft ist, je<br />

kleiner und autonomer ihre Einheiten, <strong>de</strong>sto einfacher ein Konsens, <strong>de</strong>sto geringer die unterdrückten<br />

Min<strong>de</strong>rheiten, <strong>de</strong>sto leichter, sich zu entziehen und sich einer an<strong>de</strong>ren Gesellschaft anzuschließen, <strong>de</strong>ren<br />

Entscheidungen als ›richtig‹ empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Die allermeisten politischen Konflikte, mit <strong>de</strong>nen sich<br />

heute das parlamentarische Krisenmanagement herumschlagen muß, erwachsen überhaupt erst aus <strong>de</strong>m<br />

merkwürdigen Anspruch, daß wenige Menschen für alle Menschen entschei<strong>de</strong>n müssen. Dies ergibt sich<br />

direkt aus <strong>de</strong>m Absolutheitsanspruch je<strong>de</strong>r Staatsphilosophie. Die Folge ist Herrschaft, ihre notwendige<br />

Konsequenz Konzentration. Entflechtung hingegen baut die Notwendigkeit <strong>de</strong>r Herrschaft ab und löst<br />

neunzig Prozent aller Fragen <strong>de</strong>zentral, auf <strong>de</strong>r jeweils untersten Ebene. Es verbleibt eine Restgröße.<br />

Diese Restprobleme aber, für die überregionale und allgemeinverbindliche Entscheidungen nötig bleiben,<br />

sind weniger als man gemeinhin glaubt. Auch zu <strong>de</strong>ren Entscheidung haben wir hierarchieärmere Mo<strong>de</strong>lle<br />

kennengelernt, die eine befriedigen<strong>de</strong> Lösungsfindung versprechen. Auch in ihnen kann es in letzter<br />

Konsequenz durchaus einmal zu einem Mehrheitsentscheid kommen. Der bliebe jedoch die Ausnahme<br />

und wäre nicht mehr mit <strong>de</strong>r gleichmacherischen Abstimmungsroutine unserer heutigen<br />

Parlamentsmaschinerie zu vergleichen. Deren Mehrheiten sind von Parteitaktik bestimmt, während es sich<br />

hier um die direkte Entscheidung <strong>de</strong>r Menschen han<strong>de</strong>lte, die sich zuvor ausführlich mit einem Problem<br />

auseinan<strong>de</strong>rgesetzt hätten.<br />

Ein Blick auf die Gesetzesvorlagen in National- o<strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>rparlamenten zeigt, wie viele Dinge in <strong>de</strong>n<br />

Zentren <strong>de</strong>r Macht behan<strong>de</strong>lt und entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, die eigentlich nicht dort hingehören. Zu dieser<br />

Einsicht braucht man gar nicht erst in <strong>de</strong>n Dschungel <strong>de</strong>r Brüsseler Europabürokratie mit ihren<br />

kontinentalen Weichkäseverordnungen und Bananenmaßvorschriften vorzudringen: Überall führt <strong>de</strong>r<br />

Souveränitätsanspruch politischer Großgebil<strong>de</strong> dazu, sich <strong>de</strong>m Aufbau eines endlosen Regelwerks zu<br />

widmen, das bei autonomen Kleingebil<strong>de</strong>n gar nicht nötig wäre. In diesem Fall ist es in <strong>de</strong>r Politik wie in<br />

<strong>de</strong>r Natur: Je<strong>de</strong>s zentrale Eingreifen – sei es nun ›Regieren‹ o<strong>de</strong>r ›Umweltmanagement‹ – verhin<strong>de</strong>rt auf<br />

Dauer die Herausbildung <strong>de</strong>r Mechanismen einer Selbststeuerung, die in allen kleinen, organischen<br />

Einheiten angelegt sind.<br />

Wir Europäer sind <strong>de</strong>rzeit Zeugen für <strong>de</strong>n grandiosen Unfug, <strong>de</strong>r in dieser Hinsicht getrieben wird: Dem<br />

rückwärtsgewandten Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n Supermacht Europa. Nichts wur<strong>de</strong> offenbar aus <strong>de</strong>m<br />

Kollaps <strong>de</strong>r Supermacht Sowjetunion gelernt. Die Dauer-<br />

383


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krise <strong>de</strong>r Supermacht USA wird beharrlich ignoriert. Das regelmäßige Versagen von Steuermechanismen<br />

in zentralen Großgebil<strong>de</strong>n ist mittlerweile das beherrschen<strong>de</strong> Thema von Ökonomie, Physik, Philosophie,<br />

Ökologie und Gesellschaftswissenschaften. Nur bei <strong>de</strong>n Politikern hat sich das noch nicht<br />

herumgesprochen. Die versuchen nach wie vor, die Wohlstandsfestung Europa mit <strong>de</strong>m Instrumentarium<br />

von vorgestern gegen die Herausfor<strong>de</strong>rungen von morgen abzuschotten. Die Massen, die man für die<br />

entsprechen<strong>de</strong>n Mehrheitsentscheidungen braucht, lassen sich noch allemal leicht mit <strong>de</strong>m Hinweis<br />

darauf kö<strong>de</strong>rn, daß nun in Europa endlich die Grenzen fallen... Während allüberall das bürokratische<br />

Regelwerk wächst und rundherum ein Festungswall entsteht.<br />

Den Hebel ansetzen<br />

Soviel zum Knirschen im Getriebe <strong>de</strong>r heute üblichen Herrschaftsform. Es kommt also von <strong>de</strong>n<br />

Strukturproblemen, die eine falsche Verwaltungsphilosophie mit sich bringt? Na schön. Aber das<br />

Getriebe funktioniert trotz<strong>de</strong>m. Was ist also mit <strong>de</strong>n genannten Krisen? Könnten Menschen, die an<strong>de</strong>re<br />

Strukturen wollen, hier irgendwo <strong>de</strong>n Hebel ansetzen?<br />

Da wir schon von Hebeln re<strong>de</strong>n, bietet sich zu dieser Frage das anschauliche Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Pen<strong>de</strong>ls an: Die<br />

sozialen Wünsche, die die Verschiebung <strong>de</strong>r Gesellschaft von <strong>de</strong>r Autokratie zur Demokratie bewirkt<br />

haben, sind diffus, aber benennbar: Selbstwertgefühl, Freiheit, Wohlstand, Selbstbestimmung, soziale<br />

Gerechtigkeit, Eigenverantwortung, Individualität, Gemeinschaftsgefühl. Diese Kräfte sind offenbar in<br />

<strong>de</strong>r Menschheit stets vorhan<strong>de</strong>n. Sie lassen sich politisch, religiös o<strong>de</strong>r weltanschaulich nicht ein<strong>de</strong>utig<br />

zuordnen. Sie sind allesamt aber auch Bestandteile einer libertären Ethik, und nach wie vor sind sie<br />

wirksam. Ihnen gegenüber gibt es <strong>de</strong>n Wunsch nach Anpassung, Herrschaft, Privilegien, Hierarchie,<br />

Unterordnung, Befehl und Gehorsam. Auch diese Kräfte scheinen ständig präsent zu sein. Sie lassen sich<br />

politisch, religiös und weltanschaulich schon eher zuordnen und gehören selbstverständlich nicht zur<br />

libertären Philosophie. Ihr Wirken in <strong>de</strong>r Gesellschaft ist viel stärker an eine Interessenlage von<br />

Menschengruppen gebun<strong>de</strong>n, die Vorteile aus ihnen ziehen. Zeitweise gelingt es <strong>de</strong>n Herrschen<strong>de</strong>n, die<br />

Beherrschten glauben zu machen, solche Zustän<strong>de</strong> wären auch zu ihrem Besten.<br />

In <strong>de</strong>r Menschheit gibt es <strong>de</strong>mnach ein freiheitliches Potential, angetrieben von spezifischen<br />

Wunschkräften. Diese liegen im Wi<strong>de</strong>rstreit mit autoritären Wunschkräften. Zwischen diesen Kräftepolen<br />

bewegt sich die Gesellschaft mitsamt ihren sozialen Strukturen. Dabei sind Pen<strong>de</strong>lbewegungen zu<br />

beobachten, aber auch Verschiebungen. In Deutschland war die Entwicklung vom Kaiserreich zur<br />

Demokratie eine klare Verschiebung, <strong>de</strong>r Übergang von <strong>de</strong>r Ära A<strong>de</strong>nauer zur Ära Brandt und zurück zur<br />

Ära Kohl waren eher Pen<strong>de</strong>lschwingungen. Soziale Bewegungen versuchen dabei, <strong>de</strong>n Pen<strong>de</strong>lschwung in<br />

eine dauerhafte Verschiebung zu verwan<strong>de</strong>ln. Dabei können sie die Kraft <strong>de</strong>s Pen<strong>de</strong>ls ausnutzen, um das<br />

Feld ihrer Wunschkräfte zu verstärken.<br />

384<br />

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Solche ›Wunschkräfte‹ sind nicht angeboren und schneien nicht vom Himmel; sie haben überwiegend<br />

gesellschaftliche Ursachen. Das be<strong>de</strong>utet, sie sind verän<strong>de</strong>rbar beziehungsweise mobilisierbar.<br />

Freiheitliche Sozialbewegungen können also grundsätzlich Einfluß auf das freiheitliche Potential nehmen.<br />

Für solch eine Einflußnahme gibt es günstige und weniger günstige Phasen. Sie wer<strong>de</strong>n bestimmt vom<br />

Grad <strong>de</strong>r allgemeinen Verunsicherung, von <strong>de</strong>r Qualität <strong>de</strong>r Alternative und von <strong>de</strong>r momentanen


Schwäche <strong>de</strong>r Gegenkräfte. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Wenn die Menschen unzufrie<strong>de</strong>n sind, die freiheitlichen<br />

Gegenmo<strong>de</strong>lle weit entwickelt und <strong>de</strong>r Staat eine Machtkrise zeigt, ist die Situation günstig für eine<br />

soziale Verschiebung. Wir kennen das bereits - für <strong>de</strong>n Sommer 1936 hatten wir das "Revolution"<br />

genannt.<br />

Ein Szenario<br />

Man darf wohl sagen, daß in <strong>de</strong>r Ersten Welt* und ganz beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik die allermeisten<br />

Menschen gut versorgt sind. Sie sind satt und beklei<strong>de</strong>t, dürfen sich äußern, frei bewegen, können überall<br />

Ablenkung und Unterhaltung kaufen und auf Teufelkommraus konsumieren. Dennoch sind nur wenige<br />

Menschen zufrie<strong>de</strong>n. Wohl kaum, weil sie <strong>de</strong>n Drang verspüren, noch mehr zu konsumieren - oft sogar<br />

aus <strong>de</strong>m gegenteiligen Gefühl heraus: <strong>de</strong>m Überdruß am Überfluß. Es gibt einen Ekel an <strong>de</strong>r Gesellschaft,<br />

eine Abscheu vor <strong>de</strong>r inhaltsleeren Einö<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Alltags. Das Leben gleicht einer gigantischen<br />

Arbeitsmaschine, alles Wichtige ist bereits entschie<strong>de</strong>n, alles Wesentliche bereits geregelt. Und selbst die<br />

Ersatzfreu<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n immer kostspieliger und bieten immer weniger Befriedigung. Enttäuschen<strong>de</strong>r<br />

Schrott und vorfabrizierte Abenteuer stehen zum Verkauf, alle mit <strong>de</strong>m schalen Nachgeschmack <strong>de</strong>s<br />

Massenhaften, Künstlichen und Falschen.<br />

Ein solcher Hintergrund ist für die Schwankungen <strong>de</strong>s Gesellschaftspen<strong>de</strong>ls genauso brisant wie es<br />

Hunger und Elend <strong>de</strong>r Arbeiter im neunzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rt waren.<br />

Im Moment schlägt dieses Pen<strong>de</strong>l in die rechte Ecke aus: neokonservativ bis nationalchauvinistisch. Links<br />

ist lächerlich, Utopien sind obsolet, Alternativler, Ökos und Müslis absolut out. Das irritiert viele<br />

Libertäre und macht sie mutlos. Viele treibt es gar in zweifelhafte Nachhol-Karrieren, die <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>altypus<br />

<strong>de</strong>r jetzigen Mainstream-Gesellschaft besser entsprechen: <strong>de</strong>m erfolgreichen Yuppie. Aber auch <strong>de</strong>r<br />

entpuppt sich rasch als ein leerer Mo<strong>de</strong>trend.<br />

So entmutigend dies alles klingen mag: es gibt für die Libertären zur Resignation eigentlich keinen<br />

Grund. Gewiß, sie sind tatsächlich im Moment keine Trendsetter, sie sind sozusagen völlig ›unmo<strong>de</strong>rn‹.<br />

Aber was be<strong>de</strong>utet das? Sind sie die belächelten Fossilien von vorgestern o<strong>de</strong>r schon die Vorboten <strong>de</strong>s<br />

Trends von übermorgen?<br />

Denken wir zurück an <strong>de</strong>n Pariser Mai und betrachten ihn durch die Brille <strong>de</strong>r ›Pen<strong>de</strong>ltheorie‹: Die<br />

vierziger und fünfziger Jahre waren von ähnlichen I<strong>de</strong>alen geprägt wie die achtziger und die neunziger:<br />

Fleißig, karrierebewußt und angepaßt wur<strong>de</strong> damals <strong>de</strong>r ›Aufbau‹ betrieben. Heraus kamen<br />

gesellschaftliche Verödung, städtebauliche Kata-<br />

385<br />

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strophen, kulturelle Verarmung und ein allgemeines Unbehagen, gegen das auch <strong>de</strong>r gesteigerte Konsum<br />

nicht mehr lange half. Am En<strong>de</strong> stan<strong>de</strong>n relativ wohlhaben<strong>de</strong> Menschen, die an ihrer Gesellschaft zu<br />

zweifeln begannen - bis hin zum kulturellen Ekel. Das Pen<strong>de</strong>l schwang um. Die 60er und frühen<br />

70erJahre bescherten uns eine diffuse Suche nach Gruppe, Gemeinschaft, Geborgenheit, Solidarität –<br />

kurz: nach Alternativen. Die Hippie- und Stu<strong>de</strong>ntenbewegung waren Ausdruck dieser<br />

gesamtgesellschaftlichen Suche, die Millionen von Menschen erfaßte und nirgendwo eine Antwort fand.<br />

Nur Anhänger einer mechanistischen Geschichtsauffassung wer<strong>de</strong>n glauben, daß sich nun alles genauso<br />

wie<strong>de</strong>rholen wür<strong>de</strong>. Aber es spricht einiges dafür, daß die Schicht von Menschen, die <strong>de</strong>rzeit noch <strong>de</strong>m<br />

konservativen Zeitgeisti<strong>de</strong>al anhängt, auch nicht auf ewig von ihrer Illusion wird zehren können. Gera<strong>de</strong><br />

die Yuppie-Generation ist größtenteils hochqualifiziert und durchaus intelligent. Irgendwann wer<strong>de</strong>n<br />

immer mehr von ihnen feststellen, daß das Leben doch wohl noch mehr zu bieten haben müßte. Daß es<br />

keinen Sinn macht, sich jahrelang für ein schnelles Auto zu verschul<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>m man dann täglich im<br />

Stau steht... Daß das, was man für die Zahlen auf <strong>de</strong>m Kontoauszug kriegt, immer weniger wert ist... Daß


das Dasein im Urlaubssilo sich nur noch durchs Klima vom Dasein im Silo ›daheim‹ unterschei<strong>de</strong>t... Daß<br />

das durchorganisierte und vorstrukturierte Leben keine Abenteuer gleich welcher Art mehr bietet..., und<br />

so weiter. Kurz: daß alles doch recht eigentlich total ö<strong>de</strong> und hübsch sinnlos ist. Der Geruch von Karriere,<br />

Freiheit und coolness könnte sich am En<strong>de</strong> als eine Illusion herausstellen, die die Werbeindustrie<br />

erfolgreich und massenhaft zu verkaufen wußte: Krawattenna<strong>de</strong>l, Parfüm und Haargel. Solche Prozesse<br />

kollektiver Ernüchterung können generationsbedingt leicht mit <strong>de</strong>r individuellen Midlife-crisis eines<br />

je<strong>de</strong>n Einzelnen zusammenfallen, was die allgemeine Wirkung nur verstärken dürfte und ihr Auftreten in<br />

<strong>de</strong>n nächsten zehn, zwanzig Jahren wahrscheinlich macht.<br />

Nun braucht eine solche Sinnkrise nur noch mit massiven Erschütterungen in Weltpolitik und -ökonomie<br />

zusammentreffen - und schon wür<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m persönlichen Weltschmerz urplötzlich ein tiefer Zweifel am<br />

gesamten System. Ganze Bevölkerungsschichten dürften dann in bo<strong>de</strong>nlose Wertekrisen hineinpurzeln,<br />

ihre nutzlosen Kreditkarten in Hän<strong>de</strong>n halten und staunen. Niemand kann solche Ereignisse voraussagen,<br />

und wir haben im geschichtlichen Teil gesehen, daß Krisensituationen meistens kommen, ohne sich<br />

vorher anzumel<strong>de</strong>n. Aber solche Konstellationen sind passiert, passieren heute und wer<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r<br />

passieren. Spekulative Szenarien dieser Art gibt es viele: etwa ein internationaler "Dominoeffekt" unter<br />

Banken nach <strong>de</strong>m von Fachleuten erwarteten Bankrott <strong>de</strong>r US-Sparkassen o<strong>de</strong>r die Verschärfung <strong>de</strong>s<br />

Nord-Süd-Konflikts. Vielleicht die Zinsverweigerung eines quasi-bankrotten Drittweltlan<strong>de</strong>s, die forcierte<br />

Massenflucht <strong>de</strong>r Armen in die Metropolen <strong>de</strong>r Reichen o<strong>de</strong>r ein Scheitern <strong>de</strong>s kapitalistischen Umbaus<br />

<strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Ostens.<br />

Gewiß ist das alles Spekulation. Es han<strong>de</strong>lt sich bei diesem Szenario we<strong>de</strong>r um die Geburtsstun<strong>de</strong> einer<br />

Klassentheorie <strong>de</strong>r Yuppies, noch um eine jener zweischneidigen "Katastrophentheorien". Seine Aussage<br />

ist viel beschei<strong>de</strong>ner: Unsere Gesellschaft wird nicht so bleiben wie sie ist, sie wird Erschütterungen<br />

erleben. Unser ›Wohlstand‹ ist hohl,<br />

386<br />

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unsere ›Sicherheit‹ in je<strong>de</strong>r Hinsicht erlogen und unser Sozialsystem auf Schul<strong>de</strong>n gegrün<strong>de</strong>t. Das Pen<strong>de</strong>l<br />

wird zurückschwingen, und es gibt Dutzen<strong>de</strong> möglicher Konstellationen, die eintreten können, um einen<br />

solchen Prozeß auszulösen und zu beschleunigen.<br />

Was aber wür<strong>de</strong> dann passieren?<br />

Es ist bekannt, daß das System flexibel und klug auf Krisen zu reagieren versteht und ungeahnte<br />

Integrationskräfte freisetzen kann. Aber je tiefer die Krise, <strong>de</strong>sto schwieriger eine Gegensteuerung, <strong>de</strong>sto<br />

größer die Chance, Alternativen durchzusetzen. Viele Libertäre glauben jedoch, daß eine solche Krise<br />

quasi automatisch zu emanzipatorischen Mo<strong>de</strong>llen führen wür<strong>de</strong>. Das ist nicht anzunehmen. Ebensogut<br />

kann sie in Resignation o<strong>de</strong>r einen Krieg mün<strong>de</strong>n, zu einer neuen Religion wer<strong>de</strong>n, zu esoterischem<br />

Tralala, zu einer vermarktbaren Mo<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r zu einer zeitgemäßen Spielart <strong>de</strong>s Faschismus. Dafür, daß sie<br />

im libertären Sinne befreiend wür<strong>de</strong>, müßte vorher eine Menge passieren. Automatisch geschieht das<br />

nicht.<br />

In <strong>de</strong>m Moment, wo sich eine "schweigen<strong>de</strong> Mehrheit" verunsichert nach Alternativen umschaut, müßten<br />

auch welche da sein. Nicht in Köpfen o<strong>de</strong>r Büchern, son<strong>de</strong>rn im realen Leben. Alternativen, die nicht erst<br />

in diesem Moment aus <strong>de</strong>m Hut gezaubert wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn schon lange existieren und sich bewährt<br />

haben. Sie müßten <strong>de</strong>n Menschen geläufig sein und ein gewisses Vertrauen erwecken. Nur dann bestün<strong>de</strong><br />

die Chance, daß sich Millionen von Menschen - und nicht nur die Min<strong>de</strong>rheiten in <strong>de</strong>n Nischen - plötzlich<br />

solchen Alternativen zuwen<strong>de</strong>n und sich ihnen anschließen. Und sei es auch ohne glühen<strong>de</strong> Überzeugung,<br />

als Mitläufer o<strong>de</strong>r aus purer Verzweiflung.<br />

Das wäre die große Stun<strong>de</strong> von Strukturen, wie wir sie im mo<strong>de</strong>rnen Projektanarchismus kennengelernt<br />

haben - <strong>de</strong>r Augenblick, wo sich seine Wurzelwerke zu bewähren hätten und sich auch aktiv han<strong>de</strong>lnd als<br />

revolutionieren<strong>de</strong> Kraft einbringen könnten.


Es könnte also sein, daß die Libertären nicht die Fossilien von vorgestern sind, son<strong>de</strong>rn Vorreiter <strong>de</strong>s<br />

Trends von übermorgen. Aber Halt, das war ein Szenario, keine Realität! Stün<strong>de</strong>n die Libertären in ihrem<br />

heutigen Zustand einer solchen Gesellschaftskrise gegenüber, wären sie vermutlich genauso hilflos wie<br />

1989 beim Bankrott <strong>de</strong>r DDR. Der war eine jener unvorhergesehenen, plötzlichen und großen<br />

Möglichkeiten, zu <strong>de</strong>ren Nutzung aber we<strong>de</strong>r ein Konzept noch Strukturen noch irgendwelche<br />

nennenswerten Alternativen zur Hand waren. Alles, was die Libertären damals bieten konnten, waren ein<br />

paar launische Kommentare in ihrer Presse, die außer ihnen kaum jemand liest.<br />

Wie gesagt: Es gibt Gelegenheiten, <strong>de</strong>n Hebel anzusetzen. Man müßte nur einen Hebel haben!<br />

Im Grun<strong>de</strong> steht <strong>de</strong>r Anarchismus heute wie<strong>de</strong>r da, wo er zu Beginn <strong>de</strong>s zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rts schon<br />

einmal stand. Während sich das Gros <strong>de</strong>r Bewegung in perspektivlose Abwehrkämpfe verhed<strong>de</strong>rt,<br />

entwickelt sich zaghaft eine konstruktiv-subversive Alternative, die aber noch keineswegs akzeptiert,<br />

vermutlich noch nicht einmal gänzlich verstan<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>. Ohne solche Alternativmo<strong>de</strong>lle jedoch ist ein<br />

Übergang von <strong>de</strong>r Demokratie zur Akratie kaum vorstellbar.<br />

387<br />

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Kapitel 41 Ist die Zukunft an-archisch?<br />

Der eine fragt: Was kommt danach? Der andre fragt nur: Ist es recht?<br />

Und also unterschei<strong>de</strong>t sich Der Freie von <strong>de</strong>m Knecht.<br />

Theodor Storm<br />

NEHMEN SIE EINMAL IHREN GLOBUS ZUR HAND und legen Sie ein Blatt Papier darauf. Jetzt<br />

wissen Sie, wie dick die Luftschicht ist, in <strong>de</strong>r Menschen atmen können. Schauen Sie sich nun an, auf<br />

welchen Teilen <strong>de</strong>r Erdoberfläche menschliches Leben möglich ist. Wenn Sie alle Meere, Wüsten,<br />

Polarregionen, Karststeppen und Hochgebirgslandschaften schwarz einfärben wür<strong>de</strong>n, blieben nurmehr<br />

lächerlich schmale Randgebiete in grün und braun übrig. Stellen Sie sich als nächstes vor, daß sich auf<br />

diesem bißchen Platz ein Lebewesen namens Mensch <strong>de</strong>rart zügig vermehrt, daß es alle paar<br />

Generationen seinen Bestand verdoppelt. Es frißt <strong>de</strong>n Pflanzenbewuchs und <strong>de</strong>n Tierbestand, reißt <strong>de</strong>n<br />

Bo<strong>de</strong>n auf, verbrennt alles was brennbar ist und erzeugt dabei enorme Mengen giftiger Gase. Schon jetzt<br />

bekommt es Schwierigkeiten beim Luftholen. Dieses Lebewesen hat die Gabe zu <strong>de</strong>nken, aber es <strong>de</strong>nkt<br />

falsch. Seine wichtigste Philosophie scheint in einem Wort zu bestehen: Wachstum. Es ist dabei, sich auf<br />

dieselbe Art und Weise zu vernichten wie eine wildwuchern<strong>de</strong> Bakterienkultur in <strong>de</strong>r Nährlösung eines<br />

abgeschlossenen Glastiegels.<br />

Legen Sie nun einen Bleistift auf Ihren Globus. Wür<strong>de</strong> um diese Weltkugel ein Satellit kreisen, müßte er<br />

in <strong>de</strong>n Stift hineinrasen. Nun haben Sie einen Begriff von <strong>de</strong>n Dimensionen, die <strong>de</strong>r Mensch als "Vorstoß<br />

in <strong>de</strong>n Weltraum" bezeichnet. Vielleicht besitzen Sie einen Leuchtglobus? Betrachten Sie ihn einmal in<br />

<strong>de</strong>r Nacht aus so großer Entfernung, daß Sie ihn nur noch als kleinen, leuchten<strong>de</strong>n Punkt wahrnehmen.<br />

Nehmen Sie sich ruhig Zeit, und schauen Sie genau hin.<br />

Nach all diesen Übungen haben Sie vielleicht die richtige Perspektive, um über die wichtigen Dinge <strong>de</strong>s<br />

Lebens nachzu<strong>de</strong>nken.<br />

Eine Frage <strong>de</strong>r Perspektive<br />

Macht es aus dieser Perspektive eigentlich noch Sinn, sich mit <strong>de</strong>r Frage zu beschäftigen, wie diese sechs<br />

Milliar<strong>de</strong>n vermehrungssüchtiger Kreaturen ihr soziales Leben organisieren? Ob sie sich nun gegenseitig<br />

beherrschen o<strong>de</strong>r nicht - was macht das für einen Unterschied? Ob horizontal und <strong>de</strong>zentral vernetzt o<strong>de</strong>r<br />

hierarchisch-autoritär unterjocht - ist das nicht egal?


Die Antwort auf bei<strong>de</strong> Fragen lautet: Es macht Sinn, sich mit <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r sozialen Organisation zu<br />

beschäftigen, und es macht einen Unterschied, wie diese Organisation aussieht. Denn die Ursache <strong>de</strong>r<br />

katastrophalen Wirkungen jenes Lebewesens liegt in seinem Sozialverhalten. Und man weiß, daß es ist in<br />

<strong>de</strong>r Lage ist, sein Sozialverhalten zu verän<strong>de</strong>rn.<br />

388<br />

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All das ist eine Frage <strong>de</strong>r Perspektive.<br />

Wir betrachten schließlich keine Bakterienkultur im Glas, son<strong>de</strong>rn uns selbst auf <strong>de</strong>m real existieren<strong>de</strong>n<br />

Globus, <strong>de</strong>m einzigen, <strong>de</strong>n wir haben. Wir gehören zu dieser Spezies, und wir wür<strong>de</strong>n gerne weiterleben -<br />

als Individuum und als Gattung. Diese Perspektive <strong>de</strong>r unentrinnbar Betroffenen sollte Grund genug sein,<br />

<strong>de</strong>r Frage nachzugehen, ob ein an<strong>de</strong>res Sozialverhalten die Möglichkeit böte, <strong>de</strong>m kollektiven Selbstmord<br />

zu entgehen.<br />

Sanftes Chaos, brutales Chaos<br />

Das Überleben <strong>de</strong>r Menschheit hängt gewiß nicht davon ab, wie weit sie einer politischen Bewegung<br />

Gehör schenkt, die die soziale Tradition <strong>de</strong>s Anarchismus vertritt. Es geht um Wichtigeres, nämlich um<br />

die Grundregeln sozialen Verhaltens und die Steuermechanismen, nach <strong>de</strong>nen komplexe Zusammenhänge<br />

funktionieren. Deshalb lautete unsere Ausgangsfrage, ob die Zukunft an-archisch sei - nicht anarchistisch.<br />

Ohne in die Gefahr i<strong>de</strong>ologischer Argumentation zu geraten, darf wohl gesagt wer<strong>de</strong>n, daß in <strong>de</strong>r Natur<br />

überall Mechanismen <strong>de</strong>r Selbststeuerung am Werk sind. In ihr scheint sich alles, man möchte fast sagen,<br />

"von alleine" zu regeln. Diese etwas hilflose Art, uns auszudrücken, zeigt, daß wir nicht genau wissen,<br />

wie sich diese Natur selbst reguliert. Es fällt uns nicht ins Auge, weil wir keinen Blick dafür haben. Unser<br />

Blick ist geschärft fürs Große, Augenfällige; er erkennt simple Strukturen, die uns geläufig sind;<br />

auffällige Zentren etwa, ein<strong>de</strong>utig hierarchische Beziehungen wie Ursache und Wirkung, Befehl und<br />

Gehorsam. Natur aber scheint so simpel nicht aufgebaut zu sein.<br />

Wenn hier von "Natur" die Re<strong>de</strong> ist, dann gilt das für die Gesamtheit <strong>de</strong>s Planeten ebenso wie für die<br />

Interaktion zwischen verschie<strong>de</strong>nen Arten, innerhalb einer Art, zwischen einzelnen Populationen* und<br />

innerhalb einer je<strong>de</strong>n Population. Also auch für das soziale Zusammenleben in Gruppen. Seit <strong>de</strong>n<br />

aufsehenerregen<strong>de</strong>n Erkenntnissen <strong>de</strong>s Biosphärenforschers James Lovelock o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Mikrobiologin Lynn<br />

Margulis sind wir um die überaus interessante "Gaia-Hypothese" bereichert, die das Zusammenwirken<br />

"interaktiver Netzwerke" selbst zwischen organischer und anorganischer Natur erforscht. Das sind<br />

Zusammenhänge, die wir noch viel weniger verstehen.<br />

Was immer <strong>de</strong>r Mensch nicht recht versteht, nennt er Chaos.<br />

Relativ leicht zu verstehen aber ist diese simple Tatsache: Nirgendwo in <strong>de</strong>r Natur gibt es einen<br />

Zentralismus großer Einheiten. Kein Tier und keine Gattung wirkt über <strong>de</strong>n Kreis hinaus, in <strong>de</strong>m es lebt.<br />

Selbst die Hierarchien im Tierreich sind räumlich eng begrenzt und "erworben": durch tatsächlich<br />

anerkannte Autorität, das heißt, an<strong>de</strong>ren überlegene Fähigkeiten und Kräfte. Kein Tier "herrscht", weil es<br />

von edler Geburt ist, reich, o<strong>de</strong>r gestützt von Lobbies, Medien, Rhetorik o<strong>de</strong>r Polizei. Kein Tier besitzt<br />

Autorität außerhalb seiner eigenen überschaubaren sozialen Welt. We<strong>de</strong>r ein Tier noch eine Tiergruppe<br />

noch eine biologische Art ist "angetreten, um zu herrschen". Kein Tier greift steuernd in <strong>de</strong>n<br />

Gesamtmechanismus <strong>de</strong>r Natur ein, konzentriert Macht, zentralisiert Strukturen o<strong>de</strong>r strebt eine wie auch<br />

immer geartete Gesamtautorität über alles an<strong>de</strong>re an. Ausgenommen <strong>de</strong>r Mensch.


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Die Natur kennt all das: Kooperation und Konkurrenz, Tausch, Diebstahl und Geschenk,<br />

Verdrängungskampf und gegenseitige Hilfe, Hierarchie, Solidarität und Freiräume - und all das steht<br />

miteinan<strong>de</strong>r in irgendwelchen für uns schwer verständlichen Wechselbeziehungen. Natur ist dabei nicht<br />

zentralistisch, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>zentral. Natur ist nicht durch Hierarchien verbun<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn interaktiv vernetzt.<br />

Sie gehorcht keinem Weltgesetz, sie regelt sich selbst, und zwar mit großem Erfolg. Sie funktioniert trotz<br />

ihrer Größe, Vielfalt und organischer Abhängigkeit hervorragend.<br />

Eine "Unordnung", die so komplex ist, daß wir sie nicht verstehen, aber <strong>de</strong>nnoch gut funktioniert, hatten<br />

wir sanftes Chaos getauft.<br />

Die soziale Organisation, die sich <strong>de</strong>r Mensch gegeben hat, ist, wie wir wissen, an<strong>de</strong>rs strukturiert. In ihr<br />

sind zwar auch alle wi<strong>de</strong>rstreiten<strong>de</strong>n Kräfte von Hierarchie und Anarchie angelegt, aber bisher haben sich<br />

stets die ersteren durchgesetzt. Das Lebewesen Mensch ist gesellschaftlich völlig an<strong>de</strong>rs gestrickt als die<br />

Natur. Seine Strukturen streben nach Vereinheitlichung, Konzentration, Zentralisierung, Souveränität,<br />

Hierarchie und Macht. Alles wird ten<strong>de</strong>nziell einem Prinzip untergeordnet, o<strong>de</strong>r, biblischer ausgedrückt:<br />

Der Mensch macht sich die Er<strong>de</strong> untenan. Dabei macht er sie kaputt.<br />

Hierarchisch-zentralistische Organisationsstrukturen sind zerstörerisch. Ihr Interaktionsprinzip zwischen<br />

Individuen und Gruppen ist Kampf und Unterwerfung, im Extremfall Tötung; ihre I<strong>de</strong>ologie ist<br />

Expansion, ihr Ziel Gesamtherrschaft. Bitte, es geht hier nicht um <strong>de</strong>n Brunftkampf zweier Hirsche o<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>n Kampf um Nahrung zwischen zwei Ru<strong>de</strong>ln Wölfe. Das entspräche <strong>de</strong>m Degenduell zweier<br />

eifersüchtiger Männer o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Hungerrevolten andalusischer Tagelöhner von 1840. Es geht um das<br />

Prinzip, das <strong>de</strong>r menschlichen Organisation und seinem Sozialverhalten zugrun<strong>de</strong> liegt. Und hierbei hat<br />

sich unterm Strich beim Menschen recht ungebremst das Herrschaftsprinzip durchgesetzt.<br />

Dieses herrschaftsgeprägte, hierarchisch organisierte Sozialverhalten macht sich mit all seinen<br />

Auswirkungen massiv auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> bemerkbar. Es dringt in die Kreisläufe <strong>de</strong>r Natur ein, zerstört die<br />

unverstan<strong>de</strong>nen Mechanismen <strong>de</strong>r Selbstregulierung und versagt mit schrecklichen Folgen auch innerhalb<br />

<strong>de</strong>r eigenen Gattung. We<strong>de</strong>r ist <strong>de</strong>r Mensch unter seinesgleichen mit sich selbst zufrie<strong>de</strong>n, noch könnte<br />

die Natur, wäre sie ein <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>s Wesen, zufrie<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Menschen sein. Das System, nach <strong>de</strong>m die<br />

Menschheit lebt, funktioniert einfach nicht gut.<br />

Eine "Unordnung" die Fehlfunktionen und Katastrophen erzeugt, also schlecht funktioniert, hatten wir als<br />

brutales Chaos bezeichnet.<br />

Diese Überlegungen stützen die Annahme, daß die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Herrschaft über die Natur und die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r<br />

Herrschaft über <strong>de</strong>n Menschen gleiche Wurzeln<br />

haben. Irgendwo sind da die Weichen falsch gestellt wor<strong>de</strong>n. Aber vergleichen wir da nicht Birnen und<br />

Äpfel? "Natur" und "menschliche Gesellschaft" sind doch nicht dasselbe.<br />

Das stimmt. Deshalb wäre es erstens falsch zu sagen, Menschen müßten sich benehmen wie die Piranhas<br />

o<strong>de</strong>r organisieren wie die Ameisen. Schließlich kann <strong>de</strong>r Mensch <strong>de</strong>nken,


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reflektieren, han<strong>de</strong>ln und sich än<strong>de</strong>rn. Viel weniger als ein Tier ist er Sklave seiner Instinkte und Triebe -<br />

übrigens ist vielleicht gera<strong>de</strong> das sein Problem: daß er mit dieser Freiheit noch nicht umgehen kann.<br />

Deshalb kann zweitens Natur sehr wohl an-archisch sein, nicht aber anarchistisch, <strong>de</strong>nn das ist eine<br />

Lebensphilosophie aus <strong>de</strong>n Köpfen von Menschen. Dennoch haben menschliche Gesellschaft und Natur<br />

etwas miteinan<strong>de</strong>r zu tun: Gesellschaft fin<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r Natur statt, sie ist Teil von ihr, bei<strong>de</strong> bedingen sich<br />

gegenseitig.<br />

Wenn aber Natur gut funktioniert und menschliche Gesellschaft schlecht funktioniert, kann es nicht falsch<br />

sein, Vergleiche anzustellen und hieraus Schlüsse zu ziehen.<br />

Der naheliegendste Schluß wäre, daß <strong>de</strong>r Mensch sich endlich bemühte, die Funktionsweisen <strong>de</strong>s sanften<br />

Chaos zu verstehen und von diesen Strukturen soviel zu lernen, daß sie auf soziale Systeme anwendbar<br />

wür<strong>de</strong>n. Hierarchisch gesteuerte Systeme müßten durch an-archisch gesteuerte Systeme ersetzt wer<strong>de</strong>n -<br />

sonst steht zu vermuten, daß das Gesamtsystem zusammenbricht. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Der Mensch ist<br />

dazu verurteilt, im Einklang mit <strong>de</strong>r Natur leben zu lernen - an<strong>de</strong>rnfalls wird er nicht überleben. Das ist<br />

kein Umweltschutz, son<strong>de</strong>rn eine Revolution <strong>de</strong>s Denkens.<br />

Welche Auswirkungen hätte das auf das gesellschaftliche und politische Leben <strong>de</strong>s Menschen?<br />

Vom ›System Natur‹ zum ›System Gesellschaft‹<br />

Natur und Gesellschaft sind nicht gleichzusetzen. Der Mensch braucht "die Natur" auch nicht zu<br />

romantisieren o<strong>de</strong>r betend vor ihr nie<strong>de</strong>rzuknien. Es wäre schon genug, wenn er versuchte, ganz nüchtern<br />

und sachlich von <strong>de</strong>n Strukturen <strong>de</strong>r Natur zu profitieren.<br />

Was nun die gesellschaftspolitischen Systeme angeht, zu <strong>de</strong>nen ja auch <strong>de</strong>r Anarchismus zählt, so gibt es<br />

in diesem Zusammenhang eine erstaunliche Beobachtung zu machen. Freiheitliche Bewegungen sind ja<br />

nicht aus <strong>de</strong>m Konflikt Mensch/Natur entstan<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>m Konflikt Mensch/Mensch.<br />

Anarchismus kam nicht als Ökophilosophie auf die Welt, son<strong>de</strong>rn als Schrei nach sozialer Gerechtigkeit<br />

und Befreiung: Es ging um Brot, Arbeit und weniger Prügel. Am Anfang war <strong>de</strong>r Zorn - Ziel und<br />

Triebkraft aber wur<strong>de</strong> die Suche nach Freiheit. Sie, und nicht Natur, ist <strong>de</strong>r anarchistische Zentralbegriff.<br />

Auf <strong>de</strong>r Suche nach konkreten Formen <strong>de</strong>r Freiheit hat <strong>de</strong>r Anarchismus in hun<strong>de</strong>rt-fünfzig Jahren<br />

Mo<strong>de</strong>lle entwickelt, die diesem Ziel gerecht wer<strong>de</strong>n sollen. Gewisse Strukturen wur<strong>de</strong>n dabei als<br />

untauglich verworfen, an<strong>de</strong>re haben sich als tauglicher erwiesen. Wenn man sich nun diese<br />

›freiheitstauglichen‹ Strukturen genauer ansieht und benennt, ergibt sich eine frappieren<strong>de</strong><br />

Übereinstimmung mit jenen, die die mo<strong>de</strong>rne Wissenschaft und Philosophie heute als ›naturtauglich‹<br />

erkannt hat. Diese Analogie ist uns schon wie<strong>de</strong>rholt begegnet: Dezentralität, Vernetzung, Interaktion,<br />

Horizontalität, Selbstregulierung, kleine Einheiten, gegenseitige Hilfe, natürliche Autorität, Kollektivität -<br />

all das sind Strukturbegriffe und Organisationsformen, die sowohl auf die Natur als auch auf die von<br />

Anarchisten favorisierte soziale Organisation anwendbar sind.<br />

Das be<strong>de</strong>utet nicht, Anarchie und Natur seien i<strong>de</strong>ntisch. Man ist lediglich mit zwei


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verschie<strong>de</strong>nen Arbeitshypothesen* zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Wenn sich solche Strukturen<br />

aber auf dieser Er<strong>de</strong> im ›System Natur‹ bekanntermaßen als wirksam, leistungsfähig und anpassungsaktiv<br />

erwiesen haben, so dürfen diese Erwartungen auch an analoge* Strukturen im ›System Gesellschaft<br />

gestellt wer<strong>de</strong>n.<br />

Allein <strong>de</strong>swegen ist Anarchie aber noch nicht ›ökologisch‹. Ohne Frage könnte man auch in<br />

hierarchiefreier Selbstverwaltung die Natur zerstören. Erst, wenn diese Strukturen konkret umgesetzt<br />

wären, ergäbe sich eine Gesellschaftsform, die ökologischen Notwendigkeiten weit mehr entspräche als<br />

die gegenwärtigen. Zum Tragen kämen sie erst, wenn sie mit einer entsprechen<strong>de</strong>n Ethik ausgestattet<br />

global wirken könnten. Anarchie ist <strong>de</strong>mnach nicht Ökologie, son<strong>de</strong>rn schafft günstige Voraussetzungen<br />

zu <strong>de</strong>ren Anwendung.<br />

Anarchie: mehr als Überleben<br />

Der Zustand <strong>de</strong>r Menschheit auf diesem Planeten ist so bedrohlich gewor<strong>de</strong>n, daß je<strong>de</strong> Panikmache falsch<br />

wäre. Panik wird <strong>de</strong>m Ernst <strong>de</strong>r Situation nicht gerecht; besonnenes Han<strong>de</strong>ln schon eher.<br />

Für die Menschheit geht es ums Überleben. Dafür braucht sie ganz offensichtlich an<strong>de</strong>re Strukturen.<br />

We<strong>de</strong>r Umweltschutz, noch seine Extremform ›Ökodiktatur‹ sind auf Dauer mit <strong>de</strong>r Natur kompatibel,<br />

weil sie <strong>de</strong>ren Formen nicht begriffen haben und ihr nicht entsprechen.<br />

Der Anarchismus aber will mehr als das bloße Überleben. Er hat sich nie mit <strong>de</strong>r Sicherung <strong>de</strong>r<br />

physischen Existenz <strong>de</strong>s Menschen zufrie<strong>de</strong>ngegeben, <strong>de</strong>shalb ist er ja entstan<strong>de</strong>n. Er wollte stets ein<br />

besseres Leben: frei, erfüllt, autonom, selbstbestimmt, lustvoll und menschenwürdig.<br />

Diese bei<strong>de</strong>n Interessen könnten angesichts <strong>de</strong>r ökologischen und ökonomischen Sackgassen, in <strong>de</strong>nen<br />

wir uns befin<strong>de</strong>n, zusammenkommen. Die Menschheit braucht praktikable Überlebensstrategien: eine<br />

an<strong>de</strong>re Art <strong>de</strong>s Wirtschaftens, <strong>de</strong>r Arbeitsteilung und <strong>de</strong>r Arbeitsethik. Eine an<strong>de</strong>re gesellschaftliche<br />

Organisationsstruktur, ein an<strong>de</strong>res Sozialverhalten. Und vor allem eine an<strong>de</strong>re Ethik. Aber kaum jemand<br />

hat über radikal an<strong>de</strong>re Mo<strong>de</strong>lle nachgedacht. Zum Beispiel, wie in einer Vollbeschäftigungsgesellschaft<br />

weniger statt mehr gearbeitet wer<strong>de</strong>n könnte o<strong>de</strong>r wie eine Wirtschaft aussehen müßte, die Schrumpfen<br />

statt Wachstum anstrebt und die Natur am Leben läßt.<br />

Die anarchistische Gesellschaftstheorie wäre in <strong>de</strong>r Lage, hierfür Mo<strong>de</strong>lle anzubieten. Ihr überaus reicher<br />

Fundus an I<strong>de</strong>en, Experimenten und Erfahrungen ist eigentlich zu scha<strong>de</strong>, um fruchtlos zu verstauben.<br />

Eine Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckung dieses vielfältigen Wissens um die Formen <strong>de</strong>r Freiheit müßte in<strong>de</strong>s nicht aus<br />

purer Liebe zum Anarchismus geschehen. Sollte es eine anarchistische Renaissance geben, dann wohl<br />

kaum, weil diese I<strong>de</strong>en so perfekt, ihre Vertreter so toll und ihre Bewegung so faszinierend wären. Schon<br />

eher, weil seine Inhalte aus purer Not gebraucht wür<strong>de</strong>n. Zu ent<strong>de</strong>cken wäre ein wertvoller Beitrag, <strong>de</strong>r<br />

beim Überleben und beim Verbessern helfen könnte. Möglich, daß die Menschheit auch ohne ›<strong>de</strong>n<br />

Anarchismus‹ auf ähnliche Strukturen kommt. Aber je länger das dauert, <strong>de</strong>sto eher<br />

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wird es zu spät sein. Möglich auch, daß zwar die Strukturen ent<strong>de</strong>ckt wer<strong>de</strong>n, nicht aber die dazu<br />

passen<strong>de</strong> Ethik. Das ist sogar sehr wahrscheinlich. Freiheitstaugliche Strukturen ohne Freiheit sichern<br />

vielleicht das nackte Überleben, bringen jedoch keine bessere Lebensqualität. Wer wollte das schon?<br />

Anarchisten je<strong>de</strong>nfalls nicht.<br />

Ob nun die Zukunft an-archisch sein wird? Gewiß, <strong>de</strong>nn die Natur wird weiter bestehen. Die Frage ist, ob<br />

<strong>de</strong>r Mensch dann noch dabei ist. Falls ja, dann hat er die Chance, aus <strong>de</strong>r an-archischen Struktur eine<br />

anarchistische Gesellschaft zu machen. Das wäre ihm sehr zu wünschen, <strong>de</strong>nn er ist ein Lebewesen, das<br />

durchaus in <strong>de</strong>r Lage ist, Freiheit zu genießen.<br />

E n d e<br />

PS: Vergessen Sie nicht, das Licht in Ihrem Globus auszuknipsen!

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