Horst Stowasser - hewpa.de.vu
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<strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong><br />
FREIHEIT PUR<br />
Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Anarchie,<br />
Geschichte und Zukunft<br />
Paradoxerweise scheint <strong>de</strong>r Zusammenbruch <strong>de</strong>r kommunistischen Diktaturen das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r sozialen<br />
Utopien eingeläutet zu haben – obwohl <strong>de</strong>r Staatssozialismus zu keiner Zeit eine wirkliche Alternative<br />
war.<br />
Der kurzatmige Triumph <strong>de</strong>r westlichen Marktwirtschaft kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß<br />
gegenwärtig kein System in <strong>de</strong>r Lage ist, einen Ausweg aus <strong>de</strong>m ökologischen und ökonomischen<br />
Wahnsinn zu weisen, in <strong>de</strong>m wir leben. Deshalb dürften die nächsten Jahrzehnte eine Trendwen<strong>de</strong><br />
bringen, die uns alle zu einer ernsthaften Suche nach Mo<strong>de</strong>llen zwingen wird.<br />
Diese Entwicklung läßt das Interesse an sozialen Entwürfen wie<strong>de</strong>r wachsen, die bisher im Schatten<br />
stan<strong>de</strong>n. In seinem neuen Buch stellt <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong> die bestechendste jener »vergessenen Utopien« vor:<br />
<strong>de</strong>n Anarchismus.<br />
Anarchie – ein Wort, das von jeher Schrecken und Gruseln ausgelöst hat, entpuppt sich bei näherem<br />
Hinsehen als faszinieren<strong>de</strong> Wun<strong>de</strong>rtüte. Ihre im Grun<strong>de</strong> einfache Struktur beansprucht nicht weniger, als<br />
eine neue Grammatik menschlicher Struktur zu sein. Sie will das »brutale Chaos« unserer Gesellschaft<br />
durch das »sanfte Chaos« vernetzter horizontaler Gesellschaften ersetzen, in <strong>de</strong>r die Herrschaft <strong>de</strong>s<br />
Menschen über sich selbst und die Natur sinnlos wird.<br />
Packend erzählt, verständlich geschrieben und umfassend angelegt hat dieses Buch alle Aussichten, zum<br />
politischen Standardwerk zu wer<strong>de</strong>n. Neben einer kritischen Einführung in die freiheitliche I<strong>de</strong>enwelt und<br />
einer Reise durch die verblüffend reiche Geschichte anarchistischer Experimente widmet sich <strong>de</strong>r Autor<br />
auch Zukunftsszenarien, die in <strong>de</strong>r These gipfeln: »Die Gesellschaftsform <strong>de</strong>s kommen<strong>de</strong>n Jahrtausends<br />
wird eine an-archische sein.«<br />
<strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>, Jahrgang 1951, lebt als freier Autor in einem libertären Großprojekt in Süd<strong>de</strong>utschland.<br />
Abitur in Argentinien, Studium <strong>de</strong>r Landwirtschaft und Romanistik, Weltreisen. Autor zahlreicher Bücher<br />
und Aufsätze zu sozialen Themen. 1971 begrün<strong>de</strong>te er das anarchistische Dokumentationszentrum »Das<br />
AnArchiv«.<br />
Im Eichborn Verlag erschien 1986 <strong>de</strong>r Titel Leben ohne Chef und Staat – Träume und Wirklichkeit <strong>de</strong>r<br />
Anarchisten.<br />
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für Till<br />
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme: <strong>Stowasser</strong>, <strong>Horst</strong>: Freiheit pur: die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Anarchie,<br />
Geschichte und Zukunft/<strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>. - Frankfurt am Main : Eichborn, 1995 # ISBN 3-8218-0448-3<br />
©Vito von Eichborn GmbH & Co Verlag KG, Frankfurt am Main, Juli 1995<br />
Umschlaggestaltung: Rüdiger Morgenweck # Satz: Die Letter, Neustadt # Druck: Fuldaer Verlagsanstalt,<br />
Fulda<br />
Verlagsverzeichnis schickt gern: Eichborn Verlag, Kaiserstraße 66, D-60329 Frankfurt # eichborn.<strong>de</strong><br />
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I n h a l t
Eine Art Einleitung: Vom Zorn und von <strong>de</strong>r Freiheit ... 7<br />
Teil 1: Die I<strong>de</strong>e<br />
Kapitel 1 Einiges zur Verwirrung .................................................<br />
10<br />
Kapitel 2 Der Begriff »Anarchie« ................................................<br />
13<br />
Kapitel 3 Wer ist Anarchist? .......................................................<br />
16<br />
Kapitel 4 Was wollen die Anarchisten? .........................................<br />
20<br />
Kapitel 5 Was tun die Anarchisten? ..............................................<br />
25<br />
Kapitel 6 Kritik am Staat ............................................................<br />
28<br />
Kapitel 7 Kritik an <strong>de</strong>r Demokratie ..............................................<br />
32<br />
Kapitel 8 Kritik am Kommunismus ................................................<br />
37<br />
Kapitel 9 Kritik am Patriarchat ....................................................<br />
41<br />
Kapitel 10 Freie Liebe und an<strong>de</strong>re praktische Nutzanwendungen ........<br />
44<br />
Kapitel 11 Kunst, Kultur, Lebensart...............................................<br />
50<br />
Kapitel 12 Small is beautiful – die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Vernetzung ....................<br />
54<br />
Kapitel 13 Chaos, o<strong>de</strong>r was ...? ..............................................<br />
64<br />
Kapitel 14 Eine an<strong>de</strong>re Ökonomie ...............................................<br />
71<br />
Kapitel 15 Radikale Ökologie .....................................................<br />
98<br />
Kapitel 16 Anarchismus und Organisation ...................................<br />
111<br />
Kapitel 17 Parteien, Räte, Selbstverwaltung ................................<br />
116<br />
Kapitel 18 Avantgar<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Hefeteig? ........................................
124<br />
Kapitel 19 Die freie Gesellschaft – eine Utopie? ...........................<br />
130<br />
Teil 2: Die Vergangenheit<br />
Kapitel 20 Frühformen <strong>de</strong>r Anarchie ................................................................<br />
141<br />
Kapitel 21 Die Zeit wird reif ............................................................................<br />
161<br />
Kapitel 22 »Eigentum ist Diebstahl!« – Proudhon und die Anfänge <strong>de</strong>s Anarchismus ...<br />
177<br />
Kapitel 23 Das große Ich - Stirner und <strong>de</strong>r Individualanarchismus .......................<br />
186<br />
Kapitel 24 Empörung und Revolte – Bakunin und <strong>de</strong>r kollektivistische Anarchismus<br />
191<br />
Kapitel 25 Ein folgenschwerer Streit: die Spaltung <strong>de</strong>r Ersten Internationale ..........<br />
211<br />
Kapitel 26 »Vive la Commune!« ......................................................................<br />
217<br />
Kapitel 27 »Hoch das Dynamit!« Der Anarchismus und die Bombe ......................<br />
225<br />
Kapitel 28 Gegenseitige Hilfe – Kropotkin und <strong>de</strong>r kommunistische Anarchismus ...<br />
237<br />
Kapitel 29 Hoffnung und Resignation: Revolution in Rußland ..............................<br />
252<br />
Kapitel 30 Die Machnotschina: Bauernguerilla in <strong>de</strong>r Ukraine .............................<br />
259<br />
Kapitel 31 Die Kommune von Kronstadt ..........................................................<br />
269<br />
Kapitel 32 Anarchosyndikalismus – Geburtshelfer <strong>de</strong>r Revolution ........................<br />
274<br />
Kapitel 33 Zwischen <strong>de</strong>n Kriegen ....................................................................<br />
282<br />
Kapitel 34 Der kurze Sommer <strong>de</strong>r Anarchie – Revolution in Spanien ....................<br />
301<br />
Kapitel 35 Das hoffnungsvolle Stiefkind: Anarchismus in Deutschland ..................<br />
314
Kapitel 36 Neubeginn auf Trümmern ................................................................<br />
331<br />
Kapitel 37 Mai '68 ........................................................................................<br />
340<br />
Kapitel 38 Anarchismus heute: von <strong>de</strong>r Organisation zum Wurzelwerk .................<br />
348<br />
Teil 3: Die Zukunft<br />
Kapitel 39<br />
Ist <strong>de</strong>r Anarchismus noch zu retten? .......... 369<br />
Kapitel 40<br />
Von <strong>de</strong>r Demokratie zur Akratie ............... 379<br />
Kapitel 41<br />
Ist die Zukunft an-archisch? ..................... 388<br />
Anhang : Fremdwortverzeichnis<br />
Bitte beachten Sie die Hinweise auf <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Seite!<br />
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Hinweise zum Inhalt<br />
Die folgen<strong>de</strong>n Personen, Themen o<strong>de</strong>r Begriffe wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>m in Klammern genannten Kapitel<br />
behan<strong>de</strong>lt:<br />
+ Abolitionismus (Strafsystem/Kriminalität) (4, 19) + Alternativbewegung (38) + Anarchie in <strong>de</strong>r<br />
klassischen Antike (20) + APO (37) + Asien (Anarchismus) (33) + Australien (Anarchismus) (33) +<br />
Bewegung 2. Juni (38) + Buddhismus (20) + Chaostheorie (13) + Christentum und Anarchie (20) +<br />
Darwinismus (19, 28) + Deutsche Novemberrevolution (35) + »Committee of 100« (38) + »Commune<br />
von Dortmund« (35) + direkte Aktion (32) + Etymologie (d. Wortes Anarchie) (2, 21) + FAU (38) +<br />
FAUD (35) + freie Schule (10) + freie Vereinbarung (10) + Freigeld (14) + Frühlibertäre (21) +<br />
Frühsozialisten (21) + Gandhi, Mahatma (36) + Gewaltfrage (27) + gewaltfreier Anarchismus (27, 38) +<br />
Gesell, Silvio (14) + Godwin, William (21) + Goldman, Emma (10, 33) + Graswurzelbewegung (38) +<br />
Grüne (38) + Häretiker, Ketzer, Wie<strong>de</strong>rtäufer (20) + Henry, Emile (27) + italienische Fabrikräte (33) +<br />
Kabouters (38) + Kibuzzim (33) + Korea (Anarchismus) (33) + Landauer, Gustav (33, 35) +<br />
Lateinamerika (Anarchismus) (33) + Malatesta, Errico (33) + Michel, Louise (26) + Most, Johann (35) +<br />
Mühsam, Erich (35) + Münchner Räterepublik (35) + Nordamerika (Anarchismus) (33) +<br />
Projektanarchismus (33, 38) + RAF (38) + Ravachol, Clau<strong>de</strong> (27) + Sozialistischer Bund (33) + Spontis<br />
(37) + Taoismus (20) + Yippies (38).<br />
Begriffe, die sich aus <strong>de</strong>n Überschriften ergeben, sind in diesem Verzeichnis nicht genannt.<br />
Hinweise zum Buch<br />
Dieses Buch will seine Leser gleichzeitig informieren und unterhalten. Es soll ohne Vorkenntnisse<br />
allgemein verständlich und leicht lesbar sein. Deshalb habe ich auf langatmige Fußnoten und<br />
Quellenangaben verzichtet. Statt<strong>de</strong>ssen sind alle ungewöhnlichen Begriffe o<strong>de</strong>r Fremdworte bei ihrer<br />
ersten Nennung mit einem * gekennzeichnet, im Anhang alphabetisch aufgeführt und erklärt. Am En<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>r meisten Kapitel fin<strong>de</strong>n sich Literaturverweise, die zum weiterlesen anregen sollen. Außer<strong>de</strong>m enthält<br />
das Buch im Anhang einen Adreßteil. Auf diese Weise sollte <strong>de</strong>m praktischen Nutzwert <strong>de</strong>r Vorrang vor<br />
<strong>de</strong>r Wissenschaftlichkeit geben wer<strong>de</strong>n.
Der erste Teil geht <strong>de</strong>r Frage nach: Was ist eigentlich Anarchie? Der Zweite Teil erzählt in zeitlicher<br />
Folge die vielfältige Geschichte <strong>de</strong>r An-Archismen. Im Dritten Teil geht es um die Zukunftsperspektiven<br />
an-archischer Szenarien. Die einzelnen Teile und Kapitel sind so angelegt, daß sie in <strong>de</strong>r Regel in sich<br />
geschlossen und verständlich sind. Deshalb kann das Buch ebensogut als Ganzes wie auch stückweise,<br />
vorwärts, rückwärts o<strong>de</strong>r an-archisch gelesen wer<strong>de</strong>n.<br />
I<strong>de</strong>e und Grundstruktur <strong>de</strong>s Buches bauen auf meinem 1972 veröffentlichten Titel »Was ist eigentlich<br />
Anarchismus?« auf.<br />
H. St.<br />
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Eine Art Einleitung<br />
Vom Zorn und von <strong>de</strong>r Freiheit<br />
»Anarchie ist nicht eine Sache <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rungen, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Lebens.«<br />
– Gustav Landauer –<br />
AM ANFANG WAR DER ZORN. Der unsagbare, unzügelbare und unvorhersehbare Zorn, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
Sklaven bisweilen überkommt und ihn dazu bringt, seinem Herrn entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Schä<strong>de</strong>l einzuschlagen<br />
o<strong>de</strong>r sich davonzustehlen. Zorn darüber, daß ein Mensch <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren befehlen darf. Wut über<br />
Knechtschaft und Unterdrückung. Haß auf die Arroganz <strong>de</strong>r Macht, die Menschen über Menschen<br />
ausüben.<br />
Zorn, Rebellion, Flucht – eine uralte Triebkraft menschlicher Geschichte, ein Teufelskreis, <strong>de</strong>ssen<br />
Grenzen schon ein rebellieren<strong>de</strong>r Sklave vor fünftausend Jahren kennengelernt haben mag. In dieser<br />
Sackgasse ohne Ziel hat sich ein Spartakus* genauso bewegt wie Michael Kohlhaas o<strong>de</strong>r ›Che‹ Guevara*,<br />
<strong>de</strong>nn alle mußten sich früher o<strong>de</strong>r später die Frage nach eben diesem Ziel ihrer Rebellion stellen.<br />
Die Freiheit, natürlich! Aber was genau ist das? Wo gab es sie? Konnte man irgendwohin gehen und sie<br />
fin<strong>de</strong>n? Be<strong>de</strong>utete die Flucht vor <strong>de</strong>r Herrschaft, die simple Abwesenheit <strong>de</strong>s Unterdrückers automatisch<br />
die Anwesenheit <strong>de</strong>r Freiheit? Und zeigt nicht alle Erfahrung, daß ›Freiheit‹ eine trügerische Hoffnung<br />
ist? Wird nicht doch immer nur eine Form <strong>de</strong>r Herrschaft durch eine an<strong>de</strong>re ersetzt? Vor allem aber: Ist<br />
<strong>de</strong>r Mensch zur Freiheit überhaupt fähig?<br />
Empörung, Wut, Rebellion sind negative Werte. Sie sagen nur, wie es nicht sein soll, aber nichts darüber,<br />
wie es an<strong>de</strong>rs, wie es besser sein könnte. Haß ist nicht konstruktiv*, er ist <strong>de</strong>struktiv – wie könnte es auch<br />
an<strong>de</strong>rs sein. Natürlich wäre es vermessen, von <strong>de</strong>m Sklaven, <strong>de</strong>r in seiner höchsten Drangsal gegen seinen<br />
Herrn rebelliert, auch sogleich einen fertigen Plan für eine freie Gesellschaft zu erwarten. Befreiung war<br />
und ist immer in erster Linie eine Reaktion auf Unfreiheit. Wenn sie aber dort stehenbleibt, wird sie<br />
niemals konstruktiv. Das jedoch be<strong>de</strong>utet, daß ›Befreiung‹ letztendlich nicht zur Freiheit führt.<br />
In diesem Spannungsfeld zwischen Zorn und Freiheit hat die Menschheit eine I<strong>de</strong>e geboren, die ebenso alt<br />
ist wie die Geschichte <strong>de</strong>r Herrschaft: <strong>de</strong>n Traum von <strong>de</strong>r Anarchie o<strong>de</strong>r, auf gut Deutsch gesagt, <strong>de</strong>r<br />
Herrschaftsfreiheit. Im Mittelpunkt dieser I<strong>de</strong>e steht die Frage, wie Zorn sich selbst überwin<strong>de</strong>n und<br />
Freiheit hervorbringen kann. Zweifellos sind Haß und Wut schlechte Ratgeber. Und ebenso klar ist, daß<br />
Freiheit nicht Mitteln <strong>de</strong>r Unfreiheit geschaffen wer<strong>de</strong>n kann. Wahr ist aber auch, daß meistens <strong>de</strong>r Zorn<br />
die erste Triebfe<strong>de</strong>r dafür war, über eine ›Gesellschaft <strong>de</strong>r Freiheit‹ überhaupt nachzu<strong>de</strong>nken und, vor<br />
allem, sie in die Tat umzusetzen. Theoretiker <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus haben dies die »schöpferische<br />
Kraft <strong>de</strong>r Empörung« genannt, zugleich aber<br />
7
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unermüdlich darauf hingewiesen, daß man um <strong>de</strong>n Preis <strong>de</strong>s Scheiterns <strong>de</strong>r Freiheit niemals an diesem<br />
Punkt verharren darf.<br />
So ist <strong>de</strong>r Anarchismus – als befreien<strong>de</strong>r Kampf und Lehre von einer herrschaftsfreien Gesellschaft – von<br />
Anfang an in diesen Wi<strong>de</strong>rspruch hineingeboren und bis heute in ihn verstrickt: Wie läßt sich <strong>de</strong>struktiver<br />
Zorn in konstruktive Befreiung umwan<strong>de</strong>ln? Denn: was nützte je<strong>de</strong>s Aufbegehren gegen Unfreiheit, wenn<br />
an ihrem En<strong>de</strong> keine Freiheit stün<strong>de</strong>? Sie brächte nur neue Unterdrückung hervor, wenn – ja, wenn die<br />
Gedanken nicht über diese spontane Empörung, über Gefühle wie Rache und Wut hinausgingen.<br />
Empörung braucht also eine I<strong>de</strong>e, die in eine positive Utopie* mün<strong>de</strong>t; mit einem Wort: ein Ziel.<br />
Dieses Ziel macht das Wesen jener Bewegung aus, die unter <strong>de</strong>m Namen »Anarchismus« seit jeher<br />
Begeisterung und Schrecken gleichermaßen auslöste. Bunt, bizarr und wi<strong>de</strong>rsprüchlich wie Freiheit eben<br />
sein kann, verführerisch für die einen, Inbegriff <strong>de</strong>s Bösen für die an<strong>de</strong>ren, zieht sie sich seit<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rten wie ein bunter Fa<strong>de</strong>n durch die Geschichte <strong>de</strong>r Menschheit. Zwischen konsequentester<br />
Friedfertigkeit und verzweifelter Gewalt entfaltet sich diese I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Hoffnung, die die Menschen bis<br />
heute zu beflügeln vermag und ihre wahre Zukunft noch vor sich haben dürfte.<br />
Hiervon han<strong>de</strong>lt dieses Buch.<br />
Es geht <strong>de</strong>r Frage nach, ob Anarchie ein weltfrem<strong>de</strong>r Traum ist o<strong>de</strong>r ein noch zu realisieren<strong>de</strong>r Entwurf.<br />
Es versucht, das Knäuel <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>en, die diese radikale Philosophie von <strong>de</strong>r Freiheit bil<strong>de</strong>n, zu entwirren<br />
und einige seiner Fä<strong>de</strong>n zu verfolgen. Es berichtet von gescheiterten und erfolgreichen Versuchen, jenen<br />
Traum zu verwirklichen. Vor allem aber versucht es, einen Blick voraus zu tun – ein Szenario zu<br />
entwerfen und die These einiger zeitgenössischer Denker zu untersuchen, die behaupten, die<br />
Gesellschaftsform <strong>de</strong>s kommen<strong>de</strong>n Jahrtausends wer<strong>de</strong> eine an-archische* sein – o<strong>de</strong>r die Menschheit<br />
gehe unter.<br />
Die Wurzeln <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus sind sehr alt. Ihre Ursprünge verlieren sich im Dunkel <strong>de</strong>r<br />
Menschheitsgeschichte - schon <strong>de</strong>shalb, weil vor zwei-, dreitausend Jahren kaum ein Chronist* die<br />
›Geschichte <strong>de</strong>r Empörungen‹ für überliefernswert hielt. Erst etwa einhun<strong>de</strong>rtfünfzig Jahre jung ist<br />
hingegen das, was man <strong>de</strong>n ›mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus‹ nennen kann. Paradoxerweise ist er zwar<br />
ausgezeichnet dokumentiert, aber fast völlig unbekannt. Seine Suche nach einer künftigen Gesellschaft<br />
gebiert eine schier endlose Reihe von Revolten, I<strong>de</strong>en und konkreten Experimenten. Sie alle sind voller<br />
Spannung und Aktualität, und bei fast allen ging die Auflehnung <strong>de</strong>r Philosophie voraus.<br />
Auch was die persönliche Entwicklung betrifft, dürfte bei <strong>de</strong>n meisten Anarchisten irgendwann <strong>de</strong>r Zorn<br />
vor <strong>de</strong>r Utopie gestan<strong>de</strong>n haben. Die wenigsten Menschen sind aufgrund analytischer* Überlegung o<strong>de</strong>r<br />
durch philosophische Denkübungen zu <strong>de</strong>m Wunsch nach einer herrschaftsfreien Gesellschaft gelangt.<br />
Selbst Unterdrückung, Herrschaft und Ungerechtigkeit erlebt zu haben, war und ist noch immer die<br />
häufigste und kräftigste Triebfe<strong>de</strong>r, sich einer solchen I<strong>de</strong>e zu verschreiben.<br />
8<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
So gesehen ist das Potential möglicher Empörer unerschöpflich. Wohl je<strong>de</strong>r selbstbewußte Mensch kennt<br />
diesen Zorn. Vielleicht haben auch Sie sich schon einmal die Frage gestellt, wieso da eigentlich<br />
Menschen über Ihnen sind, die Ihnen Anweisungen geben und über Ihr Leben und Ihre Zukunft<br />
entschei<strong>de</strong>n dürfen: ein ganzes System <strong>de</strong>r Hierarchie*, von <strong>de</strong>m wir ja schließlich wissen, daß es alles<br />
an<strong>de</strong>re als gut funktioniert.
Das be<strong>de</strong>utet in<strong>de</strong>s nicht, daß alle Menschen, die unter Herrschaft lei<strong>de</strong>n, automatisch ›Anarchisten‹<br />
wären. Zum Anarchismus gehört immer auch die Suche nach Alternativen und Zukunftsmo<strong>de</strong>llen. Neue<br />
I<strong>de</strong>en für die Zukunft aber scheinen heute dringlicher <strong>de</strong>nn je. Die weltweiten Problemketten auf unserem<br />
Planeten verurteilen uns dazu, neue Lösungen zu fin<strong>de</strong>n. Lösungen, die in <strong>de</strong>r Lage wären, die überholten<br />
Vorstellungen von Zentralismus, Hierarchie, Konzentration und Wachstumswahn abzulösen. Bei dieser<br />
Suche kann uns <strong>de</strong>r reiche Fundus anarchistischer Erfahrung interessante Anregungen geben – gute wie<br />
schlechte. Nur zu einem taugt er nicht: zum blin<strong>de</strong>n Nacheifern.<br />
I<strong>de</strong>ologie*, Dogmatik* und Fanatismus* wi<strong>de</strong>rsprechen sozusagen <strong>de</strong>m Wesensgehalt <strong>de</strong>r Anarchie.<br />
Denn <strong>de</strong>r besteht, salopp ausgedrückt, aus ›Freiheit pur‹.<br />
9<br />
Teil 1 DIE IDEE<br />
Kapitel 1<br />
Einiges zur Verwirrung<br />
Das Wort ›Utopie‹ allein genügt zur Verurteilung einer I<strong>de</strong>e.<br />
Jack London<br />
WAS EIN ANARCHIST IST, weiß je<strong>de</strong>r: ein gewalttätiger Mensch, ein Terrorist zumeist, außer<strong>de</strong>m<br />
schmud<strong>de</strong>lig, die Unordnung liebend, Chaos verbreitend wo er geht und steht. Seine<br />
Lieblingsbeschäftigung besteht im Werfen von Bomben, die er üblicherweise unter einem wallen<strong>de</strong>n,<br />
schwarzen Umhang verbirgt, das Gesicht von einem aus <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong> gekommenen Schlapphut ver<strong>de</strong>ckt.<br />
Notfalls greift er auch zu Dolch o<strong>de</strong>r Revolver – Hauptsache, er kann seinen Blutdurst stillen.<br />
O<strong>de</strong>r aber er ist krank, erblich gar. Ein wissenschaftliches Standardwerk <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts <strong>de</strong>finiert<br />
Anarchisten schlicht als "Idioten o<strong>de</strong>r angeborene Verbrecher, die noch dazu allgemein humpeln,<br />
behin<strong>de</strong>rt sind und asymmetrische* Gesichtszüge tragen". Anarchie als Geisteskrankheit also - das erklärt<br />
und entschuldigt alles.<br />
Sodann die Variante <strong>de</strong>r Verblendung: Anarchisten seien "kleinbürgerliche Chaoten", die <strong>de</strong>n "objektiven<br />
Gang <strong>de</strong>r Geschichte" noch nicht erkannt hätten; lauter zwar in ihren Absichten, aber letztendlich doch<br />
"voluntaristische* Helfershelfer <strong>de</strong>r Konterrevolution". Deshalb gehörten sie als "Linksabweichler" auch<br />
am besten "liquidiert". Diese Tonart schlugen in <strong>de</strong>r Vergangenheit mit Vorliebe Marxisten aller<br />
Richtungen an, die inzwischen angesichts <strong>de</strong>s Scheiterns ihrer ›objektiven Geschichtswahrheiten‹ jedoch<br />
in Schweigen verfallen sind.<br />
Schließlich die mo<strong>de</strong>rne Definition — eine Mischung aus Psychoanalyse und Düsternis: Anarchisten<br />
wären <strong>de</strong>mnach frühkindlich geschädigte Psychoten*, die ihre privaten Probleme in abgrundtiefen Haß<br />
auf die Gesellschaft umwan<strong>de</strong>ln und sich zur Rechtfertigung eine ›Philosophie <strong>de</strong>s Nichts‹ schmie<strong>de</strong>ten.<br />
Sie seien ebensosehr zu bedauern wie zu bekämpfen.<br />
Tragisch, niemand scheint sie lieb zu haben, die Anarchisten.<br />
Sie ahnen schon, all dies ist Unsinn, und Sie ahnen richtig. Das macht die Sache allerdings nicht<br />
einfacher, <strong>de</strong>nn eine korrekte Definition ist schon <strong>de</strong>shalb schwierig, weil Anarchismus keine einheitliche<br />
Bewegung ist, son<strong>de</strong>rn eine vielfältige und damit auch wi<strong>de</strong>rsprüchliche. Das liegt in ihrem Wesen, <strong>de</strong>nn<br />
ihr Wesen ist Freiheit, und Freiheit ist nicht uniform.<br />
So gibt es unter Anarchisten <strong>de</strong>nn auch alle möglichen Überzeugungen und Strategien <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung.<br />
Von Ökologen* über Gewerkschafter, Pädagogen*, Siedler und Alternati<strong>vu</strong>nternehmer bis hin zu <strong>de</strong>n<br />
Befürwortern revolutionärer Gewalt und Anhängern strikter Gewaltfreiheit ist alles vertreten. Es fin<strong>de</strong>n<br />
sich unter ihnen Atheisten* und
10<br />
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Religiöse, Asketen* und Schlemmer, Materialisten* und Esoteriker*. Für die einen ist <strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Hebel zur Überwindung <strong>de</strong>r Herrschaft die Erziehung, für die an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>r zivile Ungehorsam o<strong>de</strong>r die<br />
direkte Aktion; diese wollen mit <strong>de</strong>m gleichen Ziel Gegenstrukturen aufbauen, jene die Arbeiterschaft<br />
gewinnen; Selbstverwaltung ist das Credo* von manchen, auch Unterwan<strong>de</strong>rung ist für viele angesagt und<br />
wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re schwören auf Propaganda, Aufklärung o<strong>de</strong>r das vorgelebte Beispiel. Schließlich gibt es<br />
auch Individualisten, <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Rest <strong>de</strong>r Menschheit ziemlich schnuppe ist und last but not least noch<br />
immer welche, die davon träumen, diesem Rest <strong>de</strong>r Menschheit ihre Vorstellungen lieber mit Gewalt<br />
aufzuzwingen – mehr o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r sanft. Die Spezies <strong>de</strong>r blutrünstigen Bombenwerfen allerdings, die das<br />
Anarchismusbild so nachhaltig geprägt hat und die Phantasie <strong>de</strong>r Bürger so angenehm-gruselig beflügelt,<br />
ist, wie wir noch sehen wer<strong>de</strong>n, seit langem ausgestorben.<br />
Nun betrachten Anarchisten diese Vielfalt keineswegs als Makel, im Gegenteil, sie sehen darin eine<br />
Chance und Bereicherung – die Vorwegnahme jener Vielfalt, die sie in einer künftigen Gesellschaft<br />
anstreben. In <strong>de</strong>r Tat nimmt <strong>de</strong>r Anarchismus für sich in Anspruch, die einzige Gesellschaftsstruktur zu<br />
sein, die <strong>de</strong>r Tatsache Rechnung trägt, daß Menschen eben sehr unterschiedlich sind.<br />
Was aber haben Anarchisten <strong>de</strong>nn dann eigentlich gemeinsam? Gibt es überhaupt eine Berechtigung, von<br />
›Anarchismus‹ und ›Anarchisten‹ zu sprechen, wenn alles so schön beliebig ist? Versuchen wir es <strong>de</strong>r<br />
Einfachheit halber mit einer vorläufigen Kurz<strong>de</strong>finition, die sich lediglich auf die Gemeinsamkeiten<br />
beschränkt:<br />
Anarchisten streben eine freie Gesellschaft <strong>de</strong>r Gleichberechtigung an, in <strong>de</strong>r es keine Herrschaft von<br />
Menschen über Menschen mehr gibt. Die Mitglie<strong>de</strong>r einer solchen Gesellschaft sollen befähigt und<br />
ermutigt wer<strong>de</strong>n, ihre privaten und gesellschaftlichen Bedürfnisse ohne Hierarchie und Bevormundung<br />
mit einem Minimum an Entfremdung* selbst in die Hand zu nehmen. So soll eine an<strong>de</strong>re Ordnung<br />
entstehen, in <strong>de</strong>r Prinzipien wie die ›freie Vereinbarung‹, ›gegenseitige Hilfe‹ und ›Solidarität‹ an die<br />
Stelle heutiger Realitäten wie Gesetze, Konkurrenz und Egoismus treten könnten. Autoritärer<br />
Zentralismus wür<strong>de</strong> durch Fö<strong>de</strong>ralismus ersetzt: die <strong>de</strong>zentrale Vernetzung kleiner und überschaubarer<br />
gesellschaftlicher Einheiten. Menschenverachten<strong>de</strong> und umweltzerstören<strong>de</strong> Gigantomanie* wären dann<br />
absurd; an ihre Stelle träten freie Zweckzusammenschlüsse, die die Menschen auf <strong>de</strong>r Basis gleicher<br />
Rechte und Pflichten direkt miteinan<strong>de</strong>r eingingen. Beson<strong>de</strong>rs originell an diesen Vorstellungen ist die<br />
I<strong>de</strong>e, daß es auf einem geografischen Gebiet nicht mehr nur eine Gesellschaft gibt, einen für alle<br />
gleichermaßen verbindlichen Staat, son<strong>de</strong>rn eine Vielfalt parallel* existieren<strong>de</strong>r gesellschaftlicher<br />
Gebil<strong>de</strong>. "Anarchie ist eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften", wie es <strong>de</strong>r<br />
anarchistische Philosoph Gustav Landauer einst formulierte. Kurzum, und etwas einfacher gesagt:<br />
Anarchie ist nicht Chaos*, son<strong>de</strong>rn Ordnung ohne Herrschaft.<br />
In <strong>de</strong>r praktischen Umsetzung dieser eher abstrakten I<strong>de</strong>en sind sich wohl die meisten Anarchisten darin<br />
einig, daß gewisse Institutionen einer solchen freiheitlichen Gesellschafts-<br />
11<br />
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form hin<strong>de</strong>rlich sind, um es einmal freundlich auszudrücken. Zunächst <strong>de</strong>r Staat als Institution und<br />
autoritäres Ordnungsprinzip, ebenso aber auch <strong>de</strong>r ›Staat im Kopfe‹: Herrschaftsi<strong>de</strong>ologie und<br />
Autoritätsgläubigkeit. Ferner die ihn tragen<strong>de</strong>n Säulen wie Kapital, Polizei, Kirche, Justiz, Patriarchat, die<br />
angepaßten Massenmedien, die herkömmliche Erziehung, die klassische Kleinfamilie und <strong>de</strong>rgleichen<br />
mehr, womit wir bei <strong>de</strong>n "Lieblingsgegnern" angelangt sind, mit <strong>de</strong>nen sich Anarchisten traditionsgemäß<br />
und vorzugsweise auseinan<strong>de</strong>rsetzen.
Das alles ginge aber noch nicht wesentlich über das symbolhafte Bild jenes rebellieren<strong>de</strong>n Sklaven<br />
hinaus, das wir eingangs bemüht haben. Anarchisten wür<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Tat verantwortungslos han<strong>de</strong>ln, wenn<br />
sie sich darauf beschränken wollten, Negatives zu zerschlagen, ohne etwas Positives an seine Stelle setzen<br />
zu können. So zeichnen sich wirkliche Anarchisten immer auch dadurch aus, daß sie an Mo<strong>de</strong>llen für eine<br />
neue, freiheitliche Gesellschaft arbeiten und diese in praktischen Experimenten beispielhaft zu<br />
verwirklichen versuchen - auch wenn das im Rahmen <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n autoritären Wirklichkeit nur<br />
unvollkommen gelingen will.<br />
"Nett, aber naiv", so könnte man <strong>de</strong>n Tenor aller wohlwollen<strong>de</strong>n Kritiker zusammenfassen. "Das ist<br />
vielleicht ein schöner Wunschtraum, aber nicht zu verwirklichen. Der Mensch ist dazu nicht geschaffen,<br />
er ist egoistisch, er braucht Autorität und die strenge Hand von Moral, Gesetz und Ordnung. Und selbst<br />
wenn er so leben könnte - die Herrschen<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n ein solches System niemals zulassen, und da diese<br />
nicht zu besiegen sind, wird es beim Traum bleiben."<br />
Anarchisten behaupten natürlich das Gegenteil: für sie ist eine solche Gesellschaft nicht nur<br />
erstrebenswert, son<strong>de</strong>rn auch möglich. Und sie erklären auch, warum: Gera<strong>de</strong> weil <strong>de</strong>r Mensch egoistisch<br />
sei, so lautet eine ihrer Thesen, sei Anarchie eine adäquate Lebensform. O<strong>de</strong>r, daß Herrschaft und<br />
Autorität nicht dasselbe wären und erstere die Herausbildung einer wohlverstan<strong>de</strong>nen und positiven,<br />
nämlich freiwilligen ›Autorität‹ überhaupt erst verhin<strong>de</strong>re. Und natürlich brauche <strong>de</strong>r Mensch so etwas<br />
wie ›Moral‹ und eine ›Ordnung‹, aber nicht unbedingt die, die wir heute haben. Unsere Gesetze seien das<br />
ziemliche Gegenteil von Moral - Anarchie hingegen die moralisch höchste Form <strong>de</strong>r Ordnung, weil sie<br />
sich ihre Regeln und Grenzen freiwillig setze. Vor allem aber müsse es nicht eine Art <strong>de</strong>r Ordnung und<br />
eine Ethik* geben – es könnten <strong>de</strong>rer ruhig mehrere neben- und miteinan<strong>de</strong>r bestehen.<br />
So etwas klingt in <strong>de</strong>n Ohren staatlich geprägter Menschen – und das sind wir alle – paradox*. Diese<br />
vermeintlichen Paradoxien sollen uns jetzt nur am Ran<strong>de</strong> interessieren, <strong>de</strong>nn sie sind theoretisch,<br />
bestenfalls plausibel, und haben letztlich keine Beweiskraft. Beweiskraft hat das Beispiel, das<br />
Experiment. Wußten Sie, daß es in diesem Jahrhun<strong>de</strong>rt bereits große, funktionieren<strong>de</strong> anarchistische<br />
Gemeinwesen gab, ganze Län<strong>de</strong>r umfassend, mit Großstädten, Dörfern und Industrie, in <strong>de</strong>nen von <strong>de</strong>r U-<br />
Bahn über die Milchwirtschaft bis hin zum Schulwesen eine mo<strong>de</strong>rne Massengesellschaft nach anarchischem<br />
Muster funktionierte? O<strong>de</strong>r war Ihnen bekannt, daß es narchistischen Guerillaarmeen in<br />
12<br />
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<strong>de</strong>n zwanziger Jahren gelang, riesige Landstriche zu befreien, um in ihnen <strong>de</strong>n Aufbau einer Gesellschaft<br />
in freier Selbstverwaltung zu versuchen? Kein Mensch ahnt heute, daß das Mittel <strong>de</strong>s ›zivilen<br />
Ungehorsams‹ das Kolonialmächte in die Knie zwang und Regierungen stürzte, voll und ganz in <strong>de</strong>r<br />
Tradition <strong>de</strong>s gewaltfreien Anarchismus steht. Und wer weiß schon, daß es Anarchisten waren, die vor<br />
über siebzig Jahren bereits einen Sechsstun<strong>de</strong>ntag in <strong>de</strong>r Schwerindustrie erkämpften? Auf unseren<br />
Streifzügen durch die verzweigten Pfa<strong>de</strong> anarchistischer Experimente wer<strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>rartigen Beispielen in<br />
solch unterschiedlichen Län<strong>de</strong>rn wie Argentinien und Indien, Deutschland, <strong>de</strong>r Ukraine, Spanien und <strong>de</strong>r<br />
Mandschurei begegnen.<br />
Freilich, nichts von alle<strong>de</strong>m existiert mehr, und viele dieser großen und kleinen Experimente blieben in<br />
<strong>de</strong>r Praxis weit hinter <strong>de</strong>n hohen I<strong>de</strong>alen <strong>de</strong>s Anarchismus zurück. Wahr ist aber auch, daß kein einziges<br />
von ihnen an seinen eigenen Wi<strong>de</strong>rsprüchen zugrun<strong>de</strong> ging – sie wur<strong>de</strong>n samt und son<strong>de</strong>rs militärisch<br />
zerschlagen. Wahrlich ein ›schlagen<strong>de</strong>r‹ Beweis; allerdings keiner, <strong>de</strong>r die Unmöglichkeit einer<br />
anarchistischen Gesellschaft beweisen könnte.<br />
Heute existiert Anarchismus nur als Konzept*, als soziale Bewegung, und in beschei<strong>de</strong>nen praktischen<br />
Ansätzen. Der endgültige Beweis, ob Anarchie eine funktionsfähige Struktur ist, steht mithin noch aus;<br />
ebenso, ob sie eine wünschenswerte Lebensform ist. Das könnten schließlich nur diejenigen Menschen<br />
beantworten, die in ihr leben.
Literatur:<br />
/ Autorenkollektiv: Was ist eigentlich Anarchie? Berlin 1986 (6. Aufl.), Karin Kramer, 162 S.<br />
/ <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: Leben ohne Chef und Staat Berlin 1993 (10. Aufl.), Karin Kramer, 194 S., ill.<br />
/ Nicolas Walter Betrifft: Anarchismus Berlin 1984, Libertad, 160 S.<br />
/ Daniel Guérin: Anarchismus. Begriff und Praxis Frankfurt 1969, Suhrkamp, 164 S.<br />
/ April Carter: Die politische Theorie <strong>de</strong>s Anarchismus Berlin 1988, Ah<strong>de</strong>, 305 S.<br />
/ Paul Eltzbacher: Der Anarchismus Berlin o.J. [1900], Libertad, 305 S.<br />
/ Justus F. Wittkop: Unter <strong>de</strong>r Schwarzen Fahne Frankfurt 1973, Fischer, 270 S., ill.<br />
Kapitel 2<br />
Der Begriff "Anarchie"<br />
Warum mir aber in neuester Welt Anarchie gar so gut gefällt?<br />
Ein je<strong>de</strong>r lebt nach seinem Sinn, das ist nun also auch mein Gewinn!<br />
Ich laß' einem je<strong>de</strong>n sein Bestreben, um auch nach meinem Sinn zu leben.<br />
Johann Wolfgang v. Goethe<br />
DAS WORT ANARCHIE ist so alt wie die abendländische Zivilisation. Seit es Herrschaft gibt, gibt es<br />
auch I<strong>de</strong>en herrschaftsfreien Lebens, und seit <strong>de</strong>n alten Griechen ist uns das Wort an archia [áy apxía]<br />
überliefert. Es be<strong>de</strong>utet "keine Herrschaft", also die Abwesenheit von Macht und Hierarchie. Ein<br />
provokantes Wort, das in <strong>de</strong>n Köpfen <strong>de</strong>r Menschen augenblicklich schlimme Visionen erzeugt: Chaos,<br />
Unordnung, Verwil<strong>de</strong>rung, Zerstörung. So ist die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Wortes heute weitgehend auf die Ängste<br />
reduziert, die <strong>de</strong>n Normalbürger bei dieser Vorstellung befallen; sein eigentlicher Wortsinn ging dabei<br />
komplett verloren. Was blieb, waren griffige ›Übersetzungen‹ wie "Gesetzlosigkeit",<br />
13<br />
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"Zügellosigkeit", "Chaos". Das ist etwa genauso korrekt, wie wenn man die Begriffe "Zahnarzt" mit<br />
"Folter", "Liebe" mit "Sün<strong>de</strong>" o<strong>de</strong>r "Ökologie" mit "Rückschrittlichkeit" übersetzen wür<strong>de</strong>.<br />
In <strong>de</strong>r Umgangssprache mag dies ja noch als spontaner Ausdruck eines Angstgefühls hingenommen<br />
wer<strong>de</strong>n. Es geht jedoch um mehr als nur um Unwissenheit o<strong>de</strong>r Ungenauigkeit. Seit Jahrhun<strong>de</strong>rten wird<br />
im offiziösen Sprachgebrauch dieser negative Begriff von Anarchie verwen<strong>de</strong>t; seit <strong>de</strong>m 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
in <strong>de</strong>r offensichtlichen Absicht, <strong>de</strong>n Anarchismus als Philosophie o<strong>de</strong>r politische Bewegung zu<br />
diskreditieren*. Aus diesem Grun<strong>de</strong> haben ganze Generationen von Politikern und Literaten,<br />
Kommunisten und Adligen, Pfarrern und Hausdamen diesen Begriff von Anarchie verbreitet. Für sie<br />
verbin<strong>de</strong>t sich das Wort mit einem kalten Schauer und <strong>de</strong>m Gedanken an Weltuntergang, und diese<br />
apokalyptische* Vision gaben sie millionenfach weiter.<br />
Selbst in seriösen Nachschlagewerken wie <strong>de</strong>m Du<strong>de</strong>n wird Anarchie vorzugsweise und durchaus falsch<br />
mit "Gesetzlosigkeit" o<strong>de</strong>r "Chaos im politischen Sinn" übersetzt. In <strong>de</strong>r Du<strong>de</strong>n-Redaktion aber sitzen<br />
gebil<strong>de</strong>te Leute, die auch Liebe nicht mit Sün<strong>de</strong> übersetzen. Es han<strong>de</strong>lt sich also nicht um irgendwelche<br />
unterschwelligen Ängste, son<strong>de</strong>rn darum, wie subtil* Sprache zur Meinungsmache benutzt wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Die Formel Anarchie = Gesetzlosigkeit ist ja nicht bloß sprachlich falsch und inhaltlich schief, sie soll<br />
beim Leser etwas bewirken. Die Vorstellung nämlich, daß bei einer Verwirklichung anarchistischer I<strong>de</strong>en<br />
die Gesellschaft zwangsweise ins Chaos stürzen müßte, und daß umgekehrt Herrschaft die einzig<br />
<strong>de</strong>nkbare Form <strong>de</strong>r Ordnung sei. Das aber ist Meinung, Spekulation*, vielleicht Manipulation* - mit einer<br />
korrekten Worterklärung hat es je<strong>de</strong>nfalls nichts zu tun.<br />
"Aber wollen <strong>de</strong>nn die Anarchisten nicht <strong>de</strong>n Staat abschaffen, sind sie nicht Gegner von Justiz, Polizei<br />
und Gesetzbuch, und ist es da nicht richtig, ihnen ›Gesetzlosigkeit‹ vorzuwerfen?" könnte man fragen.<br />
Ersteres stimmt, und <strong>de</strong>r Vorwurf wäre berechtigt, wenn <strong>de</strong>r Anarchismus an die Stelle dieser
Institutionen* keine an<strong>de</strong>ren Strukturen zu setzen wüßte. Die Ablehnung unseres heutigen Herrschafts-,<br />
Justiz- und Strafsystems heißt aber nicht, daß es keine Regeln, Vereinbarungen o<strong>de</strong>r ethische Grenzen im<br />
gesellschaftlichen Zusammenleben mehr gäbe. Es sind schließlich auch an<strong>de</strong>re Formen <strong>de</strong>nkbar. Daß die<br />
Inhaber <strong>de</strong>r Macht diese aus wohlverstan<strong>de</strong>nem Eigeninteresse bekämpfen, liegt auf <strong>de</strong>r Hand. Daß die<br />
Phantasie <strong>de</strong>r meisten Menschen nicht ausreicht, über das heute Bestehen<strong>de</strong> hinauszu<strong>de</strong>nken, ist<br />
wie<strong>de</strong>rum nicht Schuld <strong>de</strong>r Anarchisten. An<strong>de</strong>re Denker haben da mehr visionäres Vermögen bewiesen.<br />
Immanuel Kant <strong>de</strong>finiert Anarchie kurz und bündig als "Gesetz und Freiheit ohne Gewalt". Für ihn ist <strong>de</strong>r<br />
Begriff "Gesetz" eben nicht das Bürgerliche Gesetzbuch, son<strong>de</strong>rn die Gesamtheit sozialer Regeln.<br />
Ähnliches mußte Elisée Reclus im Sinn gehabt haben, als er postulierte*, "Anarchie ist die höchste Form<br />
<strong>de</strong>r Ordnung": Wenn Regeln unter Menschen freiwillig und ohne Gewaltanwendung eingehalten wer<strong>de</strong>n,<br />
so sei dies eine höhere Stufe gesellschaftlicher Entwicklung als die autoritäre, in <strong>de</strong>r soziales Verhalten<br />
durch <strong>de</strong>n Zwang <strong>de</strong>s Staates, die Drohungen <strong>de</strong>r Justiz und die Gewalt <strong>de</strong>r Polizei ständig erzwungen<br />
wer<strong>de</strong>n<br />
14<br />
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müßte. Pierre-Joseph Proudhon, einer <strong>de</strong>r Väter <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus, griff das Wort "Anarchie" in<br />
seiner ursprünglichen Be<strong>de</strong>utung wie<strong>de</strong>r auf und rührte es um 1840 mittels eines witzigen Dialogs mit<br />
einem Spießbürger in die Politik ein:<br />
"Sind Sie Republikaner?"<br />
"Republikaner, ja: aber dieses Wort ist mir zu ungenau. Res publica, das sind die öffentlichen Belange...<br />
die Könige sind auch Republikaner."<br />
"Nanu, Sie sind Demokrat?"<br />
"Nein."<br />
"Was, Sie wären Monarchist?"<br />
"Nein."<br />
"Konstitutionalist?"<br />
"Gott behüte!"<br />
"Dann sind Sie Aristokrat?"<br />
"Ganz und gar nicht."<br />
"Sie wollen eine gemischte Regierung?"<br />
"Viel weniger."<br />
"Was sind Sie also?"<br />
"Ich bin Anarchist".<br />
In <strong>de</strong>n Augen Proudhons waren Staat und Regierung die eigentlichen Unruhestifter, ständige Produzenten<br />
von Chaos, Ungerechtigkeit und Armut.<br />
Folgerichtig konnte nur eine von <strong>de</strong>r Regierungsgewalt befreite Gesellschaft in <strong>de</strong>r Lage sein, eine<br />
"natürliche Ordnung <strong>de</strong>r menschlichen Beziehungen", die "soziale Harmonie", wie<strong>de</strong>r herzustellen.<br />
Hierfür suchte er nach einem passen<strong>de</strong>n Begriff und verfiel auf <strong>de</strong>n alten griechischen Terminus an archia,<br />
<strong>de</strong>m er seinen genauen etymologischen* Sinn wie<strong>de</strong>rgab.<br />
Die Doppel<strong>de</strong>utigkeit <strong>de</strong>s Wortes Anarchie wur<strong>de</strong> dadurch jedoch nicht aus <strong>de</strong>r Welt geschafft. Bereits im<br />
alten Griechenland wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Begriff ambivalent* benutzt; seine negative Be<strong>de</strong>utung setzte sich vollends<br />
in <strong>de</strong>r Philosophensprache <strong>de</strong>s katholischen Mittelalters durch. Spätestens seit <strong>de</strong>r Aufklärung aber wird<br />
<strong>de</strong>r Begriff differenzierter* verwen<strong>de</strong>t. Wir wer<strong>de</strong>n diesen Wertewan<strong>de</strong>l gelegentlich wie<strong>de</strong>r aufgreifen.<br />
Allerdings ist es <strong>de</strong>r jeweils herrschen<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>ologie stets gelungen, <strong>de</strong>n Eingang solcher<br />
Unterscheidungen in die Umgangssprache zu verhin<strong>de</strong>rn. Heute ist <strong>de</strong>r Begriff Anarchie daher durchweg<br />
negativ besetzt. Entsprechend heftig war in Anarchistenkreisen die Diskussion um neue Namen, mit<br />
<strong>de</strong>nen man sich dieses Makels entledigen wollte. Einige nannten sich später "Fö<strong>de</strong>ralisten" (Anhänger<br />
eines nicht-zentralen Gemeinwesens auf <strong>de</strong>r Basis gleichberechtigter Kommunen), an<strong>de</strong>re "Mutualisten"<br />
(genossenschaftliche Ordnung auf <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>r gegenseitigen Hilfe und Solidarität), "Kollektivisten"
(Ordnung auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>r Gemeinschaftlichkeit) o<strong>de</strong>r "Syndikalisten" (libertäre Gesellschaft auf<br />
gewerkschaftlicher Basis). Alle diese Begriffe geben jedoch nur jeweils einen Teilaspekt anarchistischer<br />
Essentials* wie<strong>de</strong>r, und je<strong>de</strong>r von ihnen mußte im Laufe <strong>de</strong>r Zeit ähnliche Verdrehungen seiner<br />
Be<strong>de</strong>utung erfahren, wie das Wort Anarchie selbst. Auch das griechische Kunstwort Akratie, <strong>de</strong>ssen<br />
Be<strong>de</strong>utung<br />
15<br />
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mit <strong>de</strong>r von Anarchie fast i<strong>de</strong>ntisch ist, konnte sich nie auf Dauer durchsetzen. Die meisten Anarchisten<br />
sind schließlich zu <strong>de</strong>r Meinung gelangt, sie könnten sich nennen wie sie wollten, verleum<strong>de</strong>t wür<strong>de</strong>n sie<br />
immer – weshalb sie ebensogut bei <strong>de</strong>m problematischen Wort Anarchie bleiben und ihm einen positiven<br />
Inhalt geben könnten. Einzig <strong>de</strong>r um 1860 in Frankreich entstan<strong>de</strong>ne Ausdruck libertär (›freiheitlich‹ -<br />
nicht zu verwechseln mit liberal!) konnte sich weltweit durchsetzen und gilt heute als ein etwas weiter<br />
gefaßtes, im Grun<strong>de</strong> aber gleichwertiges Synonym* für anarchistisch.<br />
Kapitel 3<br />
Wer ist Anarchist?<br />
"Mir tut je<strong>de</strong>r leid,<br />
<strong>de</strong>r nicht mit zwanzig Anarchist war."<br />
- Clemenceau -<br />
MIT SICHERHEIT SIND MEHR MENSCHEN "ANARCHISTEN" als nur diejenigen, die sich so<br />
nennen. Viele wissen es nur nicht. Je<strong>de</strong>r kennt diese Art ›natürlicher Anarchisten‹: Menschen, die sich<br />
nicht gerne etwas vorschreiben lassen, die das, was man ihnen sagt, kritisch hinterfragen und die sich<br />
weigern, etwas bestimmtes zu glauben o<strong>de</strong>r zu tun, nur, weil es ihnen jemand, <strong>de</strong>r Macht hat, so sagt. Der<br />
Wi<strong>de</strong>rstand gegen Herrschaft zieht sich seit altersher als stetiger Strang durch die Geschichte von<br />
Individuen* und Gruppen: mal als listige Spaßvögel, mal als rebellieren<strong>de</strong> Aufrührer, mal als aufmüpfige<br />
Quer<strong>de</strong>nker. Ihre Taten und Figuren sind in Märchen, Lie<strong>de</strong>rn und Legen<strong>de</strong>n überliefen, und in aller Welt<br />
erfreuen sich diese Aktionen <strong>de</strong>r Kleinen gegen die Mächtigen <strong>de</strong>r ungeteilten Sympathie <strong>de</strong>s Publikums.<br />
Aktionen, <strong>de</strong>ren Zielscheibe die Autorität und <strong>de</strong>ren Wesen Freiheit und Gerechtigkeit sind.<br />
›Natürliche‹ und ›wirkliche‹ Anarchisten<br />
Das soll nicht heißen, daß <strong>de</strong>r Anarchismus etwa alle Quer<strong>de</strong>nker, kritischen Geister o<strong>de</strong>r Rebellen für<br />
sich vereinnahmen wollte. Das wäre eine für Anarchisten sehr untypische Einstellung, <strong>de</strong>nn es liegt ihnen<br />
fern, Menschen irgen<strong>de</strong>in Etikett aufzukleben. Sie sind an Inhalten interessiert, nicht an I<strong>de</strong>ologien.<br />
Historische Bewegungen in <strong>de</strong>n Sack ihrer Weltanschauung stecken zu wollen, wäre nicht nur unsinnig,<br />
es wür<strong>de</strong> auch <strong>de</strong>m anarchistischen Selbstverständnis wi<strong>de</strong>rsprechen.<br />
Dennoch muß man diese ›natürlichen Anarchisten‹ berücksichtigen, wenn man sich die Frage stellt, wer<br />
›Anarchist ist‹. Denn umgekehrt wäre es borniert*, nur diejenigen als Anarchisten zu bezeichnen, die sich<br />
offen und manchmal sehr lautstark so nennen und möglichst auffällig mit <strong>de</strong>r schwarzen Fahne we<strong>de</strong>ln.<br />
Es kostet schließlich nichts, sich ›Anarchist‹ zu nennen, und ob alle diejenigen, die dies tun, ihren eigenen<br />
I<strong>de</strong>alen gerecht wer<strong>de</strong>n, ist selbstverständlich eine offene Frage.<br />
16<br />
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Ähnliche Überlegungen gelten auch für frem<strong>de</strong> Kulturen o<strong>de</strong>r sogenannte ›primitive‹ Gesellschaften, von<br />
<strong>de</strong>nen einige ohne Regierung leben und in ihren Gemeinwesen die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re ›utopische‹ For<strong>de</strong>rung<br />
<strong>de</strong>s klassischen Anarchismus seit jeher verwirklicht haben: Nieman<strong>de</strong>m wäre damit gedient, diesem<br />
sozialen Alltag <strong>de</strong>n Stempel ›anarchistisch‹ aufzudrücken. Soziologen und Völkerkundler ziehen hier <strong>de</strong>n<br />
Begriff "regulierte Anarchie" vor. Die Schlüsse aber, die wir aus solchen Gesellschaften ziehen können,<br />
sind für Anarchisten wichtig und oft fruchtbarer und lehrreicher als so mancher gelehrte Disput*.<br />
So interessant die Folgerungen sein mögen, die wir aus <strong>de</strong>r millionenfachen Existenz von Menschen<br />
ziehen dürfen, die ›Anarchisten‹ sind, ohne es zu ahnen, wollen wir uns hier <strong>de</strong>njenigen zuwen<strong>de</strong>n, die<br />
sich selber Anarchisten nennen und als Teil einer anarchistischen Bewegung verstehen. Interessanterweise<br />
waren viele dieser ›wirklichen‹ Anarchisten zuvor ›natürliche‹ Anarchisten, die irgendwann einmal ganz<br />
erstaunt ent<strong>de</strong>ckten, daß das, was sie schon immer dachten, einen Namen hat und tatsächlich als<br />
Philosophie und Bewegung bereits existierte.<br />
Wer also ist ›wirklicher‹ Anarchist?<br />
Zunächst einmal je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r sich so nennt, <strong>de</strong>nn niemand könnte es ihm ›verbieten‹. Nun sind Anarchisten<br />
aber für ihre Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten berüchtigt. Glücklicherweise gibt es jedoch eine Reihe von<br />
Übereinstimmungen, die auf die meisten Überzeugungsanarchisten zutreffen. Was also ist <strong>de</strong>r<br />
›gemeinsame Nenner‹?<br />
Checkliste <strong>de</strong>r Gemeinsamkeiten<br />
Im Zentrum anarchistischen Han<strong>de</strong>lns steht ein globaler* Freiheitsbegriff. Freiheit soll Ziel sein und<br />
gleichzeitig Mittel zur Erreichung dieses Ziels. Was aber ist ›Freiheit‹? Für Anarchisten ist dieses Wort<br />
mehr als ein liberaler Wischiwaschi-Begriff; sie haben daher stets versucht, ihn mit konkreten Inhalten,<br />
For<strong>de</strong>rungen und Mo<strong>de</strong>llen zu füllen. Dem Anarchismus genügen dabei keine Teilfreiheiten wie etwa <strong>de</strong>n<br />
Liberalen die Freiheit <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ls, <strong>de</strong>n Nationalisten die Freiheit <strong>de</strong>s Vaterlan<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Aufklärern die<br />
Freiheit <strong>de</strong>s Geistes. Freiheit sollte allumfassend und unteilbar sein, ein Prinzip*, das das menschliche<br />
Leben von <strong>de</strong>n persönlichsten und alltäglichsten Aspekten bis hin zu weltweiten Organisationsstrukturen<br />
bestimmt. Freiheit sei aber ein leeres Wort und wertlos, wenn es nicht mit sozialer Gerechtigkeit<br />
gekoppelt wäre. Und soziale Gerechtigkeit sei ohne soziale Gleichheit nicht <strong>de</strong>nkbar. Anarchisten sehen<br />
das so: Auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> sind theoretisch alle Menschen gleich frei, Millionär zu wer<strong>de</strong>n, aber wir alle wissen,<br />
daß diese ›Freiheit‹ ein inhaltsleerer Unsinn ist: Schließlich können wir nicht alle auf Kosten an<strong>de</strong>rer<br />
reich wer<strong>de</strong>n. An<strong>de</strong>rerseits ist es in unseren Gesellschaften einem Millionär ebenso verboten, unter einer<br />
Brücke zu schlafen wie einem Stadtstreicher - auch hier herrscht Gleichheit, aber es ist offensichtlich, daß<br />
diese An von ›Gleichheit‹ ohne soziale Gerechtigkeit wertlos ist.<br />
Darum ist Anarchismus, vereinfacht gesagt, die Verbindung von Freiheit und Sozialismus; für Freun<strong>de</strong><br />
griffiger Formeln könnten wir die Gleichung A = F + S aufstellen. Dabei<br />
17<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
wer<strong>de</strong>n wir noch sehen, daß <strong>de</strong>r Anarchismus unter "S" etwas völlig an<strong>de</strong>res <strong>de</strong>finiert als das, was man<br />
gängigerweise unter "Sozialismus" versteht und bisher nur aus <strong>de</strong>n kläglichen Mo<strong>de</strong>llen <strong>de</strong>s Marxismus<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie kennenlernen konnte.<br />
Michail Bakunin, die charismatische* Urgestalt <strong>de</strong>s Anarchismus, hat dieses Spannungsfeld zwischen<br />
sozialem und freiheitlichem Ansatz auf <strong>de</strong>n Punkt gebracht: "Freiheit ohne Sozialismus ist Privilegientum<br />
und Ungerechtigkeit - und Sozialismus ohne Freiheit ist Sklaverei und Brutalität". Wenn man be<strong>de</strong>nkt,<br />
daß er diesen Satz um 1870 nie<strong>de</strong>rschrieb, könnte man seine Sicht für gera<strong>de</strong>zu prophetisch* halten - wer<br />
konnte damals schon voraussehen, welche Wege <strong>de</strong>r ›unfreie Sozialismus‹ etwa in Rußland, Rumänien,<br />
Kambodscha o<strong>de</strong>r Ost<strong>de</strong>utschland gehen wür<strong>de</strong>!
Wir können sagen, daß die meisten aktiven Anarchisten in freiheitlich-sozialen Bewegungen engagiert<br />
sind; man nennt dies <strong>de</strong>n ›sozialen Anarchismus‹. Hierbei gibt es die verschie<strong>de</strong>nsten Ansätze, Taktiken*<br />
und Vorgehensweisen, die in <strong>de</strong>r Regel eine konstruktive Zielrichtung haben. Die meisten wollen die<br />
bestehen<strong>de</strong> Gesellschaft im freiheitlich-sozialen Sinne verän<strong>de</strong>rn, die unfreien Institutionen nach Kräften<br />
zersetzen und gleichzeitig neue Mo<strong>de</strong>lle ausprobieren und heranwachsen lassen, die an die Stelle <strong>de</strong>r alten<br />
Strukturen treten sollen.<br />
Lei<strong>de</strong>r aber lassen es unsere Gesellschaften nur selten zu, daß <strong>de</strong>r Anarchismus konstruktiv tätig ist. Oft<br />
genug muß er sich auf reine Verteidigung beschränken. In <strong>de</strong>r Tat sind heute die meisten Anarchisten<br />
vollauf damit beschäftigt, auf die zunehmen<strong>de</strong> Einengung von Freiheit und Lebensgrundlagen zu<br />
reagieren. Solche ›reaktiven Kämpfe‹ — seien sie nun gegen Rüstung, Atomkraftwerke,<br />
Umweltzerstörung, Wohnungsnot, Armut, Behör<strong>de</strong>nsumpf, Polizeiwillkür, Justizarroganz, Entlassungen,<br />
soziale und geschlechtliche Diskriminierung*, tarifpolitische Erpressung o<strong>de</strong>r rechtsradikale Angriffe<br />
gerichtet — kennen wir alle aus Gegenwart und jüngster Vergangenheit. Gewiß sind sie notwendig und<br />
politisch wichtig, aber sie machen ›<strong>de</strong>n Anarchisten nicht aus: Nur allzuoft nämlich geht <strong>de</strong>n pausenlos<br />
Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n das Ziel verloren. Die Aktionen lösen sich meist, wenn <strong>de</strong>r Anlaß nicht mehr existiert, in<br />
Nichts auf. Sie bieten wenig Raum für konstruktive Ansätze, die auf eine neue Gesellschaft abzielen.<br />
Häufig benutzt sie das klug herrschen<strong>de</strong> System auch als ein Mittel, um die Kräfte ihrer Gegner in<br />
jahrelangen, aufreiben<strong>de</strong>n Kämpfen zu bin<strong>de</strong>n.<br />
Kein aufrechter Anarchist wür<strong>de</strong> sich solchen Kämpfen entziehen wollen und teilnahmslos<br />
Unterdrückung und Unrecht zusehen. Es kommt <strong>de</strong>m Anarchismus aber entschei<strong>de</strong>nd darauf an, die<br />
Verbindung zwischen bloßer Reaktion und <strong>de</strong>m konstruktiven libertären Element herzustellen. Mit<br />
an<strong>de</strong>ren Worten: Aus <strong>de</strong>m Kampf gegen Atomkraftwerke müßte ein Kampf für Ökologie wer<strong>de</strong>n und aus<br />
<strong>de</strong>m Kampf gegen Rüstung ein Kampf für eine friedliche Gesellschaft, aus gewerkschaftlicher Aktion<br />
müßten neue Wirtschafts- und Arbeitsmo<strong>de</strong>lle entstehen und so weiter. Denn all das ergäbe für<br />
Anarchisten nur dann wirklich einen Sinn, wenn sich schließlich alle diese Teilbereiche zum<br />
Gesamtkonzept einer an<strong>de</strong>ren Gesellschaft verbin<strong>de</strong>n. Kurz: <strong>de</strong>r Kampf gegen die alten Verhältnisse darf<br />
nicht zum Ritual* wer<strong>de</strong>n — er muß Ansätze für Neues hervorbringen: Wi<strong>de</strong>rstand gebiert Mo<strong>de</strong>lle.<br />
18<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Das ist leichter gesagt als getan. Die Inhaber <strong>de</strong>r Macht tun natürlich alles – bis hin zum Einsatz direkter<br />
Gewalt –, um eine freiheitliche Konkurrenz nie<strong>de</strong>rzudrücken, die ihnen diese Macht nehmen will.<br />
Deshalb hat es auch zu allen Zeiten Anarchisten gegeben, die das konstruktive Element <strong>de</strong>s Anarchismus<br />
irgendwann völlig aus <strong>de</strong>n Augen verloren. Voller Haß und Verzweiflung gingen sie dazu über, das<br />
System, wo immer sie konnten, direkt und frontal – also ›militärisch‹ – anzugreifen. Terror, bis dahin ein<br />
Monopol <strong>de</strong>s Staates und <strong>de</strong>r Kirche, wur<strong>de</strong> zeitweise das vorherrschen<strong>de</strong> Mittel einiger anarchistischer<br />
Strömungen. Der Höhepunkt dieser Gewaltphase <strong>de</strong>s Anarchismus lag zwischen 1891 und 1894; heute<br />
spielt Terror in <strong>de</strong>r libertären Bewegung keine Rolle mehr. Tatsächlich gibt es im mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus<br />
weit mehr Pazifisten als Befürworter irgendwelcher Formen von Gewalt. Dennoch hat jene kurze,<br />
historische Phase von Attentaten, Überfällen und Tyrannenmor<strong>de</strong>n bis heute das Bild vom Anarchisten<br />
nachhaltig beeinflußt: Ebensooft, wie Anarchismus mit ›Chaos‹ und ›Gesetzlosigkeit‹ gleichgesetzt wird,<br />
bringt man ihn auch mit ›Gewalt‹ und ›Terror‹ in Verbindung. Das ist allerdings Unfug, <strong>de</strong>nn die Frage<br />
<strong>de</strong>r Gewalt ist für <strong>de</strong>n Anarchismus we<strong>de</strong>r typisch noch prägend.<br />
Wie wir gesehen haben, ist das Aktionsfeld <strong>de</strong>s sozialen Anarchismus breit gefächert und entfaltet sich<br />
zwischen <strong>de</strong>n Polen Wi<strong>de</strong>rstand, Aktion, Konstruktivität, Aufklärung und experimentellen Mo<strong>de</strong>llen. Die<br />
allermeisten Anarchisten sind auf diesem breiten sozialen Terrain* irgendwo in irgen<strong>de</strong>iner Weise<br />
engagiert.<br />
Es gibt in<strong>de</strong>s auch Anarchisten, die <strong>de</strong>n Anarchismus mehr als private Lebensphilosophie verstehen und -<br />
aus welchen Grün<strong>de</strong>n auch immer - keinen Sinn darin sehen, unsere Welt tatsächlich verän<strong>de</strong>rn zu wollen.<br />
Diese ›philosophischen Anarchisten‹ pflegen entwe<strong>de</strong>r einen entsprechen<strong>de</strong>n Lebensstil - zum Beispiel
<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Bohemiens* o<strong>de</strong>r Nonkonformisten -, schreiben bisweilen kluge Bücher o<strong>de</strong>r sind <strong>de</strong>rart<br />
individualistisch, daß ihr ›Anarchismus‹ überhaupt keine praktischen Konsequenzen hat. Bis etwa 1840<br />
war <strong>de</strong>r ›philosophische Anarchismus‹ die am meisten verbreitete Strömung und brachte eine eher<br />
folgenlose Literatur hervor, in <strong>de</strong>r Überlegungen über die Anarchie und <strong>de</strong>n Gang <strong>de</strong>r Welt angestellt<br />
wur<strong>de</strong>n. Die meisten ›philosophischen Anarchisten‹ unserer Tage sind in keinerlei Bewegungen<br />
organisiert und wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>shalb auch nicht zum ›sozialen Anarchismus‹ gerechnet. Die sozial aktiven<br />
Anarchisten neigen dazu, ihre rein philosophischen Gesinnungsgenossen zu verachten. Das ist<br />
verständlich, wenn auch unklug, <strong>de</strong>nn immerhin trägt auch eine an-archische Attitü<strong>de</strong>* zur Schaffung<br />
eines gesellschaftlichen Klimas bei, das <strong>de</strong>m sozialen Anarchismus nur dienlich sein kann.<br />
Persönliche Konsequenzen<br />
Bisher haben wir uns nur mit <strong>de</strong>r ›Außenwirkung‹ <strong>de</strong>s anarchistischen Menschen befaßt. Wie aber steht es<br />
mit <strong>de</strong>n persönlichen Konsequenzen im eigenen Leben? Auch hier ist <strong>de</strong>r Anspruch in <strong>de</strong>r Regel groß:<br />
Anarchisten streben an, ihre I<strong>de</strong>ale nicht nur für eine ferne Zukunft zu konzipieren*. Sie möchten nach<br />
Möglichkeit schon hier und heute damit<br />
19<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
beginnen, sie zu verwirklichen und vorzuleben - und sei es auch nur in kleinen Ansätzen und so<br />
unzulänglich, wie dies inmitten einer autoritären Umgebung auch immer sein mag. Das be<strong>de</strong>utet<br />
natürlich, daß sie die Meßlatte anarchistischer Ansprüche auch an sich selbst legen müssen, was<br />
wie<strong>de</strong>rum zu Konsequenzen führt, die nicht immer leicht einzuhalten sind - beson<strong>de</strong>rs innerhalb einer<br />
Gesellschaft, die in fast allen Punkten das Gegenteil predigt und belohnt. Anarchistische Toleranz,<br />
Verzicht auf Herrschaft, an<strong>de</strong>re Umgangsformen zwischen Frauen und Männern, Kin<strong>de</strong>rn und<br />
Erwachsenen, Mehrheiten und Min<strong>de</strong>rheiten, eine souveräne* Einstellung zu Eigentum, Sexualität und<br />
Arbeit - all das und vieles mehr sind Dinge, an <strong>de</strong>nen eine anarchistische Ethik mit privaten<br />
Konsequenzen entwickelt und eingeübt wer<strong>de</strong>n will. Nach Tausen<strong>de</strong>n von Jahren staatlich-autoritärer<br />
Ethik ist dies kein leichtes Unterfangen, und etliche scheitern an ihren eigenen Ansprüchen. An<strong>de</strong>rerseits<br />
ist <strong>de</strong>r Anarchismus kein Mo<strong>de</strong>ll für Heilige, son<strong>de</strong>rn für Menschen. Das schließt das Recht mit ein,<br />
unvollkommen zu sein und Fehler machen zu dürfen. Vor allem aber - und das entpuppt sich oft als das<br />
Schwierigste - gibt es darüber, was ›richtig‹ und ›falsch‹ ist naturgemäß viele Meinungen. Der<br />
Anarchismus wür<strong>de</strong> sich in <strong>de</strong>m Moment selbst verraten, wo er diese Unterschie<strong>de</strong> zwangsweise<br />
weghobeln wollte. Die Tatsache aber, daß die meisten Anarchisten ihre Ansprüche zum Prüfstein ihres<br />
eigenen Lebens machen, zeigt, daß sie keine Doktrin* <strong>de</strong>r Zwangsbeglückung vertreten, in <strong>de</strong>r die<br />
Menschen irgendwelchen I<strong>de</strong>alen einer Avantgar<strong>de</strong> gehorchen sollen, die diese selbst nicht einzuhalten<br />
gewillt ist.<br />
Der Anarchismus ist ein großes Dach, ein Basar <strong>de</strong>r Vielfalt, ein Feld <strong>de</strong>s Experiments. Im Grun<strong>de</strong> kann<br />
sich je<strong>de</strong>r unter dieses Dach stellen und sagen "Ich<br />
bin Anarchist!". Darüber, ob das stimmt und was <strong>de</strong>r einzelne unter "Anarchismus" versteht, gibt es keine<br />
endgültige Antwort. Anarchismus ist Suche und Experiment unter <strong>de</strong>m Vorzeichen <strong>de</strong>r Vielfalt. Im<br />
Grun<strong>de</strong> ist je<strong>de</strong>r Anarchist, <strong>de</strong>r ernsthaft sucht.<br />
Literatur:<br />
/ Christian Sigrist: Regulierte Anarchie Frankfurt/M. 1979, Syndikat, 270 S.<br />
/ Harold Barclay: Völker ohne Regierung - eine Anthropologie <strong>de</strong>r Anarchie Berlin 1985, Libertad, 315<br />
S., ill.<br />
Kapitel 4<br />
Was wollen die Anarchisten?
Keine Macht für niemand!<br />
Ton-Steine-Scherben<br />
ES GIBT VIELE GUTE GRÜNDE, weshalb Anarchisten es immer vermie<strong>de</strong>n haben, verbindliche<br />
Programme für eine künftige Gesellschaft aufzustellen; <strong>de</strong>r Mangel an I<strong>de</strong>en gehört mit Sicherheit nicht<br />
dazu. Eher das Gegenteil: die Überzeugung, daß eine an-archische Gesellschaft sich aus vielen<br />
unterschiedlichen Gesellschaften, Formen und sozialen Organismen zusammensetzen wird, hat sie seit<br />
jeher davon abgehalten, schon jetzt die Utopie von morgen in das Korsett programmatischer Vorschriften<br />
zu zwängen.<br />
20<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Kein starres Programm<br />
Eine Gesellschaft nach <strong>de</strong>m Geschmack <strong>de</strong>r Anarchisten ist kein starres Gebil<strong>de</strong>, Anarchie wird nicht<br />
eines schönen Tages ›erreicht‹ sein. Niemand an<strong>de</strong>res als die an ihm beteiligten Menschen wer<strong>de</strong>n<br />
festlegen, wie sie leben und sich organisieren wollen, und <strong>de</strong>ren Vorstellungen wer<strong>de</strong>n vermutlich<br />
unterschiedlich sein. Deshalb müssen wir uns ›die Anarchie‹ als ein Gebil<strong>de</strong> vorstellen, das in einem<br />
bestimmten geografischen Raum nicht etwa nur eine Lebensform, eine Ethik, eine Art sozialer<br />
Organisation kennt, son<strong>de</strong>rn zur gleichen Zeit viele verschie<strong>de</strong>ne nebeneinan<strong>de</strong>r, die sich je nach<br />
Interessen, Neigung, Notwendigkeiten und Bedürfnissen frei verbin<strong>de</strong>n.<br />
Zugegebenermaßen eine schwierige Vorstellung für uns, die wir gewohnt sind, daß <strong>de</strong>r Staat auf seinem<br />
exakt <strong>de</strong>finierten Territorium eifersüchtig darüber wacht, daß alle seine Bürger einer Norm - <strong>de</strong>r<br />
staatlichen - gleichermaßen unterworfen sind. Wir kennen nichts an<strong>de</strong>res; entsprechend exotisch kommt<br />
uns die anarchistische Gesellschafts- und Organisationstheorie vor. Ihre Struktur wird oft als ein<br />
Netzwerk beschrieben, und aus <strong>de</strong>r Biologie wird das Bild <strong>de</strong>s Mycels bemüht - jener chaotischen<br />
Pilzgeflechte, die extrem vital und überlebensfähig sind. All das mag an dieser Stelle eher verwirrend als<br />
erklärend wirken - wir wer<strong>de</strong>n darauf noch eingehen.<br />
Im Augenblick soll uns genügen, daß auch bei <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>r anarchistischen Zielvorstellung <strong>de</strong>r<br />
Wunsch nach Vielfalt eine ein<strong>de</strong>utige o<strong>de</strong>r gar eine dogmatische Antwort verhin<strong>de</strong>rt.<br />
Ein weiterer Grund gegen eine anarchistische Programmatik sei noch genannt, auf <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>rs Bakunin<br />
hingewiesen hat. Für ihn kann eine völlig neue Gesellschaft nur aus <strong>de</strong>r völligen Überwindung <strong>de</strong>r alten<br />
Gesellschaft entstehen. Heutige Menschen, autoritär geprägt und staatlich geformt, seien kaum in <strong>de</strong>r<br />
Lage, wirklich neue I<strong>de</strong>en hervorzubringen; in all ihren Entwürfen schlummere <strong>de</strong>r Keim <strong>de</strong>s Alten, <strong>de</strong>r<br />
früher o<strong>de</strong>r später wie<strong>de</strong>r hervorbrechen müßte. Eine neue Gesellschaft, so Bakunin, könne nur aus<br />
Amorphismus entstehen, das heißt, aus <strong>de</strong>r Zerstörung <strong>de</strong>r alten. Der Vorwurf, Bakunin wolle erst alles<br />
›kaputtschlagen‹, um etwas Neues aufbauen zu können, tut ihm sicherlich unrecht. Mit <strong>de</strong>m Begriff<br />
›Zerstörung‹ verband er nicht, Städte o<strong>de</strong>r Fabriken in die Luft zu sprengen – ihm ging es um die<br />
Zerschlagung von Institutionen und Herrschaftsmechanismen. An<strong>de</strong>rerseits bleibt <strong>de</strong>r radikale Denker<br />
eine plausible Antwort darauf schuldig, wie er die Lücke zwischen Amorphie und neuer Gesellschaft zu<br />
schließen ge<strong>de</strong>nkt - wann und wo also neue ›Tugen<strong>de</strong>n‹ und Einrichtungen entstehen sollen. Spontaneität<br />
und Phantasie allein dürften dazu kaum ausreichen. Spätere anarchistische Denker haben diese Frage<br />
schlüssiger beantwortet; hier soll im Moment nur interessieren, daß <strong>de</strong>r von Bakunin eingebrachte<br />
Vorbehalt nichteinfach abgetan wer<strong>de</strong>n kann: daß nämlich Konzepte und Programme, die <strong>de</strong>r unfreien<br />
Atmosphäre einer autoritären Gesellschaft entstammen mit Sicherheit nicht so frei, kühn, souverän und<br />
visionär* sein können wie die I<strong>de</strong>en, die Menschen womöglich in einer befreiten Gesellschaft entwickeln<br />
könnten. Daher braucht <strong>de</strong>r Anarchismus weniger Programme und Regeln einer künftigen Gesellschaft,<br />
als vielmehr ein allgemeines Mo<strong>de</strong>ll wan<strong>de</strong>lbarer Strukturen.<br />
21
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I<strong>de</strong>en und Positionen<br />
"Ja, zum Kuckuck, wollen die Anarchisten <strong>de</strong>nn überhaupt irgen<strong>de</strong>twas Konkretes, o<strong>de</strong>r verstecken sie<br />
sich nur hinter Ausflüchten, warum sie dieses o<strong>de</strong>r jenes nicht wollen - -?"<br />
Doch, es gibt konkrete Vorstellungen; die Anarchisten haben nur kein starres Programm daraus gemacht.<br />
Das Ziel <strong>de</strong>s Anarchismus ist die Abschaffung <strong>de</strong>r Herrschaft von Menschen über Menschen; im Zentrum<br />
seiner politischen Aktivität steht ein sozial geprägter Freiheitsgedanke. Hieraus leitet er die<br />
Notwendigkeit ab, <strong>de</strong>n Staat abzuschaffen. Der Staat sei schließlich kein Phantom, son<strong>de</strong>rn ein Ausdruck<br />
ganz bestimmter – vor allem wirtschaftlich bedingter – Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Es geht also<br />
nicht um die Feindschaft zu dieser Regierung o<strong>de</strong>r jenem Tyrannen, son<strong>de</strong>rn darum, <strong>de</strong>n Staat an sich zu<br />
bekämpfen und zugleich Alternativen zur Staatlichkeit zu entwickeln.<br />
Aus diesem allgemeinen Ziel ergibt sich eine Reihe praktischer For<strong>de</strong>rungen, I<strong>de</strong>en und Ziele, die sich die<br />
anarchistische Bewegung im Laufe ihrer Geschichte zu eigen gemacht hat:<br />
Gleiche Freiheit für alle Menschen einer Gesellschaft. Niemand soll herrschen, das Leben soll<br />
gemeinschaftlich von <strong>de</strong>n betroffenen Menschen selbst organisiert wer<strong>de</strong>n. Daraus ergeben sich soziale<br />
Systeme, in <strong>de</strong>nen soviel Kollektivität* wie nötig und soviel Individualität* wie möglich nebeneinan<strong>de</strong>r<br />
bestehen. Den Grad von ›nötig‹ und ›möglich‹ entschei<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r einzelne Mensch nach seinen Bedürfnissen,<br />
insofern er sich ›seine‹ Gesellschaft aussuchen o<strong>de</strong>r schaffen kann. Keine Gleichmacherei, aber gleiche<br />
Chancen und Rechte.<br />
Diese For<strong>de</strong>rung scheitert in erster Linie an wirtschaftlicher Ungerechtigkeit. Deshalb treten die<br />
Anarchisten für die Abschaffung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise ein, die sie als<br />
menschenverachtend, umweltzerstörend und in ihrem Wachstumszwang als irrational* ansehen. An ihre<br />
Stelle wollen sie nicht etwa die sozialistische Planwirtschaft setzen, son<strong>de</strong>rn eine <strong>de</strong>zentrale und<br />
fö<strong>de</strong>rierte solidarische Bedarfswirtschaft, in <strong>de</strong>r die Ökologie über <strong>de</strong>r Ökonomie* und die Bedürfnisse<br />
<strong>de</strong>r Menschen über <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>s Profits stehen.<br />
Eng mit <strong>de</strong>r sozialen Gleichheit verknüpft ist die For<strong>de</strong>rung nach Überwindung von Klassen, Schichten<br />
und Machthierarchien. Menschen sind nach anarchistischer Auffassung durchaus unterschiedlich und<br />
sollen es auch bleiben, aber keine soziale Schicht soll kraft ihrer Geburt o<strong>de</strong>r aus wirtschaftlichen,<br />
religiösen, rassischen o<strong>de</strong>r geschlechtlichen Grün<strong>de</strong>n Privilegien* genießen. Hieraus ergibt sich ein<br />
ganzer Katalog einzelner For<strong>de</strong>rungen, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r ›direkten Demokratie‹ über die Kritik an Religion,<br />
Patriarchat* und Familie bis hin zum Besitz- und Erbrecht reicht.<br />
Mit <strong>de</strong>r Überwindung <strong>de</strong>s Staates wer<strong>de</strong>n auch sein Apparat und seine Institutionen in Frage gestellt:<br />
Regierung, Bürokratie, Armee, Grenzen, Justiz, Polizei, Medienhoheit, Erziehungsmonopol* und<br />
<strong>de</strong>rgleichen. Für diejenigen Funktionen <strong>de</strong>s Staates, die ihrem Wesen nach notwendig sind, bemüht sich<br />
<strong>de</strong>r Anarchismus um die Schaffung alternativer Mo<strong>de</strong>lle. Ihre Basis sind gemeinsame Bedürfnisse, ihre<br />
Elemente* Selbstorganisation, freie Vereinbarung, <strong>de</strong>zentrale Vernetzung und autonome Fö<strong>de</strong>ration. Aus<br />
<strong>de</strong>n als überflüssig<br />
22<br />
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verstan<strong>de</strong>nen Staatsfunktionen erwachsen typisch anarchistische Aktionsfel<strong>de</strong>r wie beispielsweise <strong>de</strong>r<br />
Antimilitarismus, die freie Erziehung o<strong>de</strong>r die bürokratiefeindliche Selbstverwaltung.
Direkt nach <strong>de</strong>m Staat rangiert die Kirche als klassische freiheitshemmen<strong>de</strong> Institution. Die meisten<br />
Anarchisten sind Atheisten und lehnen Religion ab. Sie unterwerfen sich nicht gerne höheren Wesen o<strong>de</strong>r<br />
Mächten; die Kirche betrachten sie als eine gigantische* Einrichtung <strong>de</strong>r Verdummung. Dabei wollen<br />
Anarchisten nieman<strong>de</strong>m das Recht auf Glauben absprechen, solange dieser an<strong>de</strong>ren Menschen nicht die<br />
Freiheit einschränkt. Tatsächlich gibt es zwischen <strong>de</strong>r Ethik einiger Religionen und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Anarchismus<br />
zahlreiche Übereinstimmungen. Der Anarchismus ist <strong>de</strong>shalb eher antiklerikal* als antireligiös.<br />
In freien Gesellschaften darf es kein Eigentum an Menschen mehr geben. Anarchisten wen<strong>de</strong>n sich<br />
<strong>de</strong>shalb gegen die alltäglichen Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnisse - speziell die von Frauen<br />
und Kin<strong>de</strong>rn. Die meisten Libertären lehnen daher auch die Institution <strong>de</strong>r Ehe und <strong>de</strong>r ›bürgerlichen<br />
Kleinfamilie‹ ab. In ihr sehen sie eine wichtige Stütze <strong>de</strong>s Staates. Sie ziehen freiwillige<br />
Zusammenschlüsse nach <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>r Wahlverwandtschaft vor, etwa in Großfamilien,<br />
Wohngemeinschaften o<strong>de</strong>r Kommunen, <strong>de</strong>ren Zusammensetzung wechseln kann. Das be<strong>de</strong>utet übrigens<br />
nicht, daß alle Menschen so leben mußten, o<strong>de</strong>r daß sich zwei Menschen nicht etwa lebenslang lieben und<br />
›treu‹ sein dürften - vorausgesetzt, sie tun dies freiwillig und ohne <strong>de</strong>n erpresserischen Zwang <strong>de</strong>s<br />
Eherechts. Vielmehr geht es darum, auch an<strong>de</strong>re Formen zuzulassen, und die in normalen Familien<br />
übliche Hierarchie zu überwin<strong>de</strong>n: Frauen und Kin<strong>de</strong>r sollen als gleichberechtigte Menschen akzeptiert<br />
sein, und die religiös gefärbte Sexualmoral soll einer lustvollen Gleichberechtigung weichen. Das<br />
Patriarchat als die bei uns gängige Form <strong>de</strong>r Herrschaft steht damit automatisch im Zielkreuz<br />
anarchistischer Kritik.<br />
Eine noch so schöne Utopie kann nicht in einer sterben<strong>de</strong>n Welt ge<strong>de</strong>ihen. Der Mensch kann nur im<br />
Einklang mit seiner Umwelt überleben. Anarchisten gehen davon aus, daß die dringend nötigen<br />
ökologischen Verän<strong>de</strong>rungen so radikal sein müssen, daß sie im Rahmen einer kapitalistischen<br />
Wachstumswirtschaft kaum möglich sind. Sie meinen,, daß eine <strong>de</strong>zentrale Organisation kleiner Einheiten<br />
mit einer ›Bedürfniswirtschaft nach menschlichem Maß‹ die einzig wirklich ökologische<br />
Gesellschaftsstruktur ist und <strong>de</strong>shalb das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Zukunft sein wird.<br />
Kein Paradies<br />
Anarchisten räumen ein, daß es auch in einer libertären Gesellschaft Ungerechtigkeit, Kriminalität und<br />
Aggression geben wird. Anarchistische Mo<strong>de</strong>lle versprechen kein Paradies, son<strong>de</strong>rn versuchen,<br />
Strukturen zu entwickeln, in <strong>de</strong>nen sich soziales Fehlverhalten soweit reduziert, daß man mit <strong>de</strong>m<br />
verbleiben<strong>de</strong>n Rest an<strong>de</strong>rs verfahren kann. Kriminelle etwa sollten nicht als Delinquenten* angesehen<br />
und bestraft wer<strong>de</strong>n, ihnen müsse Hilfe erwachsen. Psychisch kranke Menschen dürften nicht isoliert,<br />
son<strong>de</strong>rn sollten in die Gesellschaft aufgenommen wer<strong>de</strong>n. Gefängnisse, psychiatrische Anstalten,<br />
Erziehungsheime und<br />
23<br />
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Strafen seien Bankrotterklärungen eines hierarchischen Systems vor Problemen, die es überwiegend selbst<br />
hervorbringe.<br />
Für einen Anarchisten ist Freiheit ein unteilbares Gut. In unseren Gesellschaften sind wenige Menschen<br />
›frei‹ auf Kosten <strong>de</strong>r Unfreiheit vieler - das gilt ökonomisch, politisch und psychisch. Mit Leichtigkeit<br />
gelingt es <strong>de</strong>n Massenmedien, die ›Freiheit‹, die sich reiche Menschen dadurch erkaufen können, daß sie<br />
ärmere Menschen ausbeuten, als das I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s ›freien Westens‹ zu verkaufen. Diese Ungerechtigkeit<br />
existiert nicht nur in <strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>rn, in <strong>de</strong>nen wir leben, son<strong>de</strong>rn in großem Maßstab auch weltweit<br />
zwischen armen und reichen Nationen, in <strong>de</strong>m Verhältnis zwischen "Erster", "Zweiter" und "Dritter<br />
Welt". Anarchisten treten <strong>de</strong>shalb für weltweite Mo<strong>de</strong>lle <strong>de</strong>r Vernetzung ein, die die wirtschaftliche und<br />
kulturelle Verskla<strong>vu</strong>ng überwin<strong>de</strong>n und allen Menschen ein Leben in Wür<strong>de</strong> und ohne Mangel bieten<br />
können. Dann wür<strong>de</strong>n Massenfluchten aus Armut vom Sü<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Nor<strong>de</strong>n, vom Osten in <strong>de</strong>n Westen<br />
von selbst aufhören; eine Gesellschaft ohne Grenzen müßte nicht länger eine Utopie bleiben. Das ist einer<br />
<strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>, weshalb sich <strong>de</strong>r Anarchismus gegen Imperialismus*, Rassismus* und Kolonialismus* in all
seinen alten und neuen Formen wen<strong>de</strong>t.<br />
Die Liste solcher anarchistischen Essentials* könnte man noch lange fortsetzen und sich dabei in Details<br />
verlieren. Sie alle sind in<strong>de</strong>s nichts an<strong>de</strong>res, als die praktische Nutzanwendung <strong>de</strong>s umfassen<strong>de</strong>n<br />
anarchistischen Freiheitsprinzips auf die soziale Realität, die uns umgibt. Auf diese Weise ist nun doch so<br />
etwas wie ein programmatischer Katalog libertärer For<strong>de</strong>rungen entstan<strong>de</strong>n. Aber auch für diesen<br />
›Katalog‹ gilt: Anarchie ist ständig <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung unterworfen. Sobald sie erstarrt und Dogmen gebiert,<br />
ist sie nicht mehr Anarchie. Phrasenhafter Antiimperialismus, gebetsmühlenhafter Klassenkampf o<strong>de</strong>r<br />
blin<strong>de</strong>r Geschlechterkrieg wer<strong>de</strong>n nicht etwa dadurch gescheiter, daß sie sich mit anarchistischer<br />
Globalität garnieren. Lei<strong>de</strong>r sind auch Anarchisten nicht immer so undogmatisch wie sie behaupten und<br />
keineswegs gegen doktrinäres Schwarzweiß<strong>de</strong>nken immun.<br />
Für einen Anarchisten kann sich alles än<strong>de</strong>rn: die Wahrnehmung, die Erfahrungen, die Prioritäten*, die<br />
persönlichen Einsichten und die eigene Kraft - nur nicht das Ziel. Das Ziel ist eine wahrhaft freie<br />
Gesellschaft. Alles weitere sind Mittel, dieses Ziel zu erreichen, und die richten sich nach <strong>de</strong>n<br />
Bedürfnissen <strong>de</strong>r beteiligten Menschen.<br />
Literatur:<br />
/ Errico Malatesta: Ein anarchistisches Programm Karlsruhe o.J., ABF, 15 S.<br />
/ Alexan<strong>de</strong>r Berkman: ABC <strong>de</strong>s Anarchismus Meppen 1971, AVN, 23 S.<br />
/ Nestor Machno: Das ABC <strong>de</strong>s revolutionären Anarchisten Osnabrück o.J., Packpapier, 40 S.<br />
/ Herbert Read: Philosophie <strong>de</strong>s Anarchismus Berlin 1982, AHDE, 34 S.<br />
/ Paul Goodman: Anarchistisches Manifest Westbevern 1977, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 64 S.<br />
/ Gruppi Anarchie Fe<strong>de</strong>rati: Ein anarchistisches Programm Berlin 1984, Libertad, 55 S.<br />
24<br />
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Kapitel 5<br />
Was tun die Anarchisten?<br />
Anarchisten bekämpfen keine Menschen, son<strong>de</strong>rn Institutionen.<br />
Buenaventura Durruti<br />
IHREN KAMPF GEGEN staatliche Strukturen und für eine freie Gesellschaft führen Anarchisten mit <strong>de</strong>n<br />
unterschiedlichsten Mitteln: durch Aufklärung und Medien, <strong>de</strong>n Aufbau von Gegenkultur und<br />
Selbstverwaltungsmo<strong>de</strong>llen ebenso wie durch Provokation, direkte Aktion, Streiks und Demonstrationen.<br />
All das ebensogut als Einzelkämpfer wie in losen Gruppen, Gewerkschaften o<strong>de</strong>r spezifischen<br />
Organisationen. In ihrer Geschichte versuchten sie alle Arten von Protest und Wi<strong>de</strong>rstand bis hin zur<br />
Schaffung befreiter Gebiete, in <strong>de</strong>nen soziale Experimente ge<strong>de</strong>ihen konnten. Eine Eroberung <strong>de</strong>r Macht<br />
im Staate jedoch, schrittweise politische Reformen im Rahmen <strong>de</strong>s Systems, die Beteiligung an Wahlen,<br />
politischen Parteien und Regierungen lehnen sie in <strong>de</strong>r Regel ab. Sehr früh haben sie die Erfahrung<br />
gemacht, daß staatliche Systeme eine große Integrationskraft* besitzen, und Macht korrumpiert*.<br />
Natürlich bewegen auch Anarchisten sich meist in kleinen Schritten auf ihr großes Ziel zu. Sie machen<br />
sich dabei aber nicht zum Teil <strong>de</strong>s Staates und seines Systems; ihre Mo<strong>de</strong>lle sind vielmehr so angelegt,<br />
daß sie ten<strong>de</strong>nziell gegen staatliche Institutionen gerichtet sind und Herrschaftsstrukturen zersetzen, um<br />
so in ihrem Schöße die Keime einer neuen, herrschaftsfreien Gesellschaft entstehen zu lassen.<br />
Destruktiver und konstruktiver Anarchismus<br />
Im Grun<strong>de</strong> gibt es zwei verschie<strong>de</strong>ne Vorgehensweisen <strong>de</strong>r Anarchisten. Die eine sieht in erster Linie <strong>de</strong>n
Gegner und versucht, ihn anzugreifen und seine Macht zu zerstören. Hier reduziert sich Anarchismus<br />
zumeist auf bloße Staatsfeindlichkeit; die Frage nach <strong>de</strong>m Aufbau einer an<strong>de</strong>ren Gesellschaft ist<br />
zweitrangig. Gedacht wird überwiegend in militärischem Kategorien*: Verteidigung, Angriff,<br />
Vernichtung <strong>de</strong>s Gegners. Solches Verhalten erschöpft sich fast immer in einer Geste <strong>de</strong>r<br />
Herausfor<strong>de</strong>rung.<br />
Die an<strong>de</strong>re sieht das Ziel als vorrangig an. Für sie ist <strong>de</strong>r Staat ein Hin<strong>de</strong>rnis auf <strong>de</strong>m Weg zu diesem Ziel,<br />
aber nicht <strong>de</strong>r indirekte Daseinszweck <strong>de</strong>s Anarchismus. Sowenig sie darum herumkommt, gegen dieses<br />
Hin<strong>de</strong>rnis zu opponieren und es zu bekämpfen, sosehr steht für sie doch die Frage nach konkreten und<br />
gangbaren Mo<strong>de</strong>llen im Vor<strong>de</strong>rgrund – Wege, die zu einer an-archischen Gesellschaft führen können.<br />
Etwas überspitzt könnten wir die eine Richtung <strong>de</strong>n <strong>de</strong>struktiven Anarchismus nennen, die an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>n<br />
konstruktiven. Die eine geht <strong>de</strong>n Gegner direkt und frontal an, die an<strong>de</strong>re versucht, ihn zu zermürben und<br />
überflüssig zu machen. Kampf o<strong>de</strong>r List, offene Feldschlacht o<strong>de</strong>r Katalysator* – das sind die extremen<br />
Pole anarchistischer Aktivitäten.<br />
Natürlich ist das grob vereinfacht, aber bei<strong>de</strong> Formen lassen sich nachweisen: Zwischen<br />
25<br />
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<strong>de</strong>m bombenwerfen<strong>de</strong>n Schlapphut-Anarchisten und <strong>de</strong>m körneressen<strong>de</strong>n Einsiedler, <strong>de</strong>r Liebe und<br />
Gewaltfreiheit predigt, gab es in <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung so ziemlich je<strong>de</strong>n <strong>de</strong>nkbaren Typus. Eines<br />
allerdings läßt sich klar sagen: Der berühmte Typ <strong>de</strong>s Verschwöreranarchos, <strong>de</strong>r sich voll Haß aufmachte,<br />
einen König in die Luft zu sprengen und glaubte, <strong>de</strong>r Staat wür<strong>de</strong> dadurch zusammenbrechen und die<br />
Anarchie kraftvoll erblühen, starb praktisch schon im vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rt aus.<br />
Diese sogenannte Propaganda <strong>de</strong>r Tat war nur eine unter <strong>de</strong>n zahllosen Aktionsformen, die <strong>de</strong>r<br />
Anarchismus hervorgebracht hat - eine relativ kurzlebige obendrein. Zuvor haben Anarchisten an<br />
Volksaufstän<strong>de</strong>n teilgenommen und Geheimgesellschaften gegrün<strong>de</strong>t, Arbeitervereine aufgebaut,<br />
Bibliotheken und Schulen eingerichtet. Tauschbanken und Konsumgenossenschaften gehörten genauso zu<br />
ihrem Repertoire* wie Zeitschriften, Theater und Gesangvereine – ebenso Bankräuber, die sich stolz<br />
Expropriateure* nannten und brav je<strong>de</strong>n Pfennig bei ihren politischen Organisationen ablieferten o<strong>de</strong>r<br />
Volksaufklärer, die mit <strong>de</strong>m Esel von Dorf zu Dorf zogen, <strong>de</strong>n Menschen das Alphabet beibrachten und<br />
ihnen das Nahen <strong>de</strong>r Anarchie verkün<strong>de</strong>ten.<br />
In späteren Jahren kamen unter <strong>de</strong>m Namen Anarchosyndikalismus* verstärkt die Gewerkschaften ins<br />
Spiel, mit <strong>de</strong>ren Hilfe Anarchisten eine freie Gesellschaft mit libertärer Wirtschaft aufbauen wollten –<br />
was sie für kurze Zeit auch tatsächlich schafften. Aus Volksaufstän<strong>de</strong>n entstand in an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn die<br />
Taktik <strong>de</strong>r Guerilla, die auch von Anarchisten genutzt wur<strong>de</strong> und vorübergehend in <strong>de</strong>r Lage war, die<br />
Staatsgewalt zu besiegen und große Gebiete zu befreien. Erst Jahrzehnte später sollte die<br />
Guerillabewegung, unter kommunistischem Vorzeichen zur reinen Taktik <strong>de</strong>r Machteroberung <strong>de</strong>gradiert,<br />
als Mittel <strong>de</strong>r Befreiung grandios scheitern. Seit <strong>de</strong>n Tagen Tolstois und <strong>de</strong>n Taten Gandhis setzte sich in<br />
anarchistischen Kreisen vermehrt die Form <strong>de</strong>s zivilen Ungehorsams durch, die eine beson<strong>de</strong>rs scharfe<br />
Waffe im Fundus <strong>de</strong>s gewaltfreien Aktions-Anarchismus darstellt. Nach Stu<strong>de</strong>ntenrevolten, autonomen<br />
Arbeiterkämpfen und heftigem Wi<strong>de</strong>rstand gegen Atomstaat, Militarismus und Wohnungsspekulation<br />
beginnen Anarchisten in unseren Tagen verstärkt mit <strong>de</strong>m Aufbau praktischer und lebendiger "Projekte".<br />
Diese Mo<strong>de</strong>lle allgemeiner Selbstverwaltung sollen im sozialen Alltag <strong>de</strong>r Menschen verankert sein und<br />
sich vom herrschen<strong>de</strong>n System nicht vereinnahmen lassen. Solche ›vorweggenommenen Utopien‹<br />
versuchen, in<strong>de</strong>m sie sich gegen Staatsgesellschaft wen<strong>de</strong>n, zugleich Experimentierfeld für eine<br />
nichtstaatliche Gesellschaft zu sein.<br />
Grundzüge anarchistischer Aktion
Ein typisches Kennzeichen anarchistischen Vorgehens ist die direkte Aktion. Anarchisten lieben gera<strong>de</strong><br />
Wege und mißtrauen Winkelzügen. Die Betroffenen wen<strong>de</strong>n sich mit Vorliebe direkt gegen die<br />
Verursacher ihres Problems, meist mit sehr wirkungsvollen Aktionen. Wo die einen Unterschriften gegen<br />
Wohnungsnot sammeln, wür<strong>de</strong>n Anarchisten eher ein leerstehen<strong>de</strong>s Haus besetzen – <strong>de</strong>r Prototyp* einer<br />
direkten Aktion. Die Frage, ob ein solches Han<strong>de</strong>ln legal o<strong>de</strong>r illegal ist, pflegen Anarchisten mit<br />
unbekümmertem Lachen zu<br />
26<br />
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ignorieren: ihnen steht menschliche Ethik über formalem Recht. Wenn jemand nichts zu essen hat, muß er<br />
sich Brot nehmen, auch wenn das Gesetz das Eigentum vor <strong>de</strong>m Hunger schützt. Direkte Aktionen<br />
können gewaltfrei o<strong>de</strong>r militant sein, lustig, symbolisch o<strong>de</strong>r unerhört praktisch; sie können von einem<br />
Menschen durchgeführt wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r von hun<strong>de</strong>rttausend – immer haben sie zwei entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Vorteile:<br />
sie führen in <strong>de</strong>r Regel ohne Umschweife zum Ziel und wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n meisten Menschen sofort<br />
verstan<strong>de</strong>n, eben weil sie direkt sind.<br />
Spontaneität* ist ein weiteres Merkmal anarchistischer Aktion. Sie ergibt sich aus <strong>de</strong>r Direktheit <strong>de</strong>r<br />
Betroffenen, <strong>de</strong>r dynamischen* Kraft <strong>de</strong>r Empörung und <strong>de</strong>r Lust an ungewöhnlichen Formen fast von<br />
selbst. Das Fehlen von Institutionen, Apparat und Bürokratie erleichtert spontanes Han<strong>de</strong>ln. Langweilige<br />
Entscheidungsfindung durch viele Instanzen o<strong>de</strong>r bie<strong>de</strong>re Vereinsmeierei sind in anarchistischen Kreisen<br />
sehr ungewöhnlich. Viel lieber wird einer spontanen und originellen I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Vorzug vor verkrusteter<br />
Routine gegeben. Spontan sein kann man alleine ebensogut wie in <strong>de</strong>r Gruppe, und letztendlich ist je<strong>de</strong>r<br />
Mensch frei, so zu han<strong>de</strong>ln, wie er es gegenüber seinen Überzeugungen und seinen Mitmenschen<br />
vertreten kann.<br />
Das ist natürlich ein heikler Punkt. Was ist, wenn Schüler mal ›ganz spontan‹ ihre Schule anzün<strong>de</strong>n?<br />
Möglich, daß bei diesem Gedanken so manches Pennälerherz höher schlägt, aber das wäre we<strong>de</strong>r eine<br />
direkte noch eine spontane Aktion im anarchistischen Sinne – <strong>de</strong>m steht ein dritter libertärer Grundsatz<br />
entgegen: die Anwesenheit <strong>de</strong>s Ziels in <strong>de</strong>n Mitteln: Das, was man erreichen will, muß auch in <strong>de</strong>r Wahl<br />
<strong>de</strong>r Mittel zum Ausdruck kommen. Freiheit kann nicht mit unfreien Metho<strong>de</strong>n erreicht wer<strong>de</strong>n, Wahrheit<br />
nicht durch Folter, Glück nicht durch Zwang und Frie<strong>de</strong> nicht durch Krieg. Das ist ein hoher moralischer<br />
Anspruch, und Anarchisten haben in <strong>de</strong>r rauhen sozialen Wirklichkeit damit auch zu allen Zeiten ihre<br />
Schwierigkeiten gehabt.<br />
Kann man seinen Gegner besiegen, ohne ihm weh zu tun? Wie sollte ein anarchistischer Milizionär im<br />
spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten kämpfen, wenn nicht mit <strong>de</strong>m Gewehr? Mit schönen Worten<br />
und einem Blümchen in <strong>de</strong>r Hand? Wohl kaum - obwohl die I<strong>de</strong>e so absurd nicht ist, <strong>de</strong>nn daß mit<br />
gewaltfreien Mitteln Revolutionen gewonnen wur<strong>de</strong>n und Armeen besiegt, dafür gibt es in <strong>de</strong>r Geschichte<br />
ebensogut Beispiele wie für <strong>de</strong>n Sieg durch das Gewehr. Trotz<strong>de</strong>m haben die Anarchisten in <strong>de</strong>r<br />
Spanischen Revolution richtig gehan<strong>de</strong>lt, als sie kämpften. Das Problem liegt woan<strong>de</strong>rs. In <strong>de</strong>r Tragik<br />
nämlich, daß anarchistische Bewegungen sich meistens die Form ihrer Aktion nicht aussuchen können –<br />
sie wird ihnen aufgezwungen. In Spanien begann die Revolution mit einem Putsch <strong>de</strong>r Faschisten, und<br />
nicht <strong>de</strong>r Anarchisten ...<br />
Nichts ist unanarchistischer als eine Armee, Krieg und Töten. Aber meist ließ die Geschichte <strong>de</strong>n<br />
Anarchisten nicht die ›Wahl <strong>de</strong>r Waffen‹. Um so mehr Grund für sie, auf diesem schwierigen Prinzip <strong>de</strong>r<br />
Anwesenheit <strong>de</strong>s Ziels in <strong>de</strong>n Mitteln zu beharren und es immer dort, wo sie die Formen <strong>de</strong>r Aktion<br />
bestimmen können, zu beherzigen.<br />
Zwischen Empörung, direkter Aktion, Spontaneität und <strong>de</strong>r Vision einer freien, menschlichen und<br />
gewaltfreien Gesellschaft gibt es kein besseres Regulativ*.<br />
27
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Kapitel 6<br />
Kritik am Staat<br />
Der Staat ist eine Abstraktion, die das Leben <strong>de</strong>s Volkes verschlingt -<br />
ein unermeßlicher Friedhof, auf <strong>de</strong>m alle Lebenskräfte eines Lan<strong>de</strong>s<br />
großzügig und andächtig sich haben hinschlachten lassen.<br />
- Michail Bakunin -<br />
"WAS SOLL AM STAAT <strong>de</strong>nn schon so schlimm sein, daß die Anarchisten sich <strong>de</strong>rart in ihn verbeißen?<br />
Sicher, <strong>de</strong>r Staat engt mich irgendwie ein, Politiker lügen, korrupte Beamte gibt es auch; das Finanzamt<br />
ist ein Raubritternest und die Armeen verpulvern unsere Steuergel<strong>de</strong>r. Aber <strong>de</strong>r Staat baut auch Straßen,<br />
unterhält Schulen, und wenn ich alt bin, hält er für mich meine Rente bereit. Lei<strong>de</strong>n die Anarchisten<br />
vielleicht unter einer Staatspsychose*, daß sie ihn für die Ursache allen Übels halten?"<br />
Solche Argumente sind je<strong>de</strong>m Anarchisten geläufig. Kaum jemand liebt <strong>de</strong>n Staat, viele schimpfen über<br />
ihn, und leicht stimmt <strong>de</strong>r Normalbürger auch mal einem Anarcho zu, wenn er gegen diese o<strong>de</strong>r jene<br />
Schweinerei wettert. Doch dann kommt stets das große "Aber ..." und das be<strong>de</strong>utet meist nichts an<strong>de</strong>res<br />
als: "Es könnte ja alles noch viel schlimmer sein". Die glühen<strong>de</strong>n Patrioten sind ausgestorben; mo<strong>de</strong>rne<br />
Staatsbürger haben eine negative I<strong>de</strong>ntifikation* mit <strong>de</strong>m Staat, und diese Haßliebe ist zäh und schwerer<br />
zu erschüttern als <strong>de</strong>r hohle Nationalismus vergangener Epochen – ein Phänomen, das Anarchisten<br />
übrigens oft unterschätzen.<br />
Nun ist ja die unbestreitbare Tatsache, daß alles noch schlimmer sein könnte, kein Grund, nicht dafür<br />
einzutreten, daß alles noch besser wer<strong>de</strong>n sollte. Eben das versuchen Anarchisten, wobei sie ständig an<br />
Grenzen stoßen, die <strong>de</strong>r Staat setzt. Sie haben dabei oft festgestellt, daß es auch mit seinen positiven<br />
Seiten nicht immer weit her ist. In <strong>de</strong>r Tat gibt es keine einzige Dienstleistung <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Staates, die<br />
spezifisch* staatlich wäre. Angefangen von <strong>de</strong>r Post über die Eisenbahn, Krankenhäuser, Straßen- und<br />
Brückenbau, Universitäten und Schulen bis hin zu Rentenversorgung, Altersversicherung und<br />
Arbeitslosenunterstützung hat sich <strong>de</strong>r Staat im Laufe <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rte eine ganze Latte positiver<br />
gesellschaftlicher Errungenschaften schlicht unter <strong>de</strong>n Nagel gerissen. Alle diese Einrichtungen<br />
entstan<strong>de</strong>n unabhängig von Regierungen aus <strong>de</strong>r Gesellschaft, und Gesellschaft ist nicht gleich Staat. Ihre<br />
Ursprünge liegen in Dorfgemein<strong>de</strong>n, Klöstern, Handwerkergil<strong>de</strong>n, Privatfirmen, Einzelinitiativen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
kollektiven Selbsthilfe Betroffener. Erst nach langer Zeit, oft unter Druck von Sozialreformern und gegen<br />
<strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rstand von Regierungen, haben sich Staaten solche Einrichtungen angeeignet. Ob unsere<br />
mo<strong>de</strong>rnen ›Sozialstaaten‹ mit ihrem bürokratischen Apparat diese Aufgaben optimal, human, gerecht und<br />
effektiv erfüllen, ist eine Frage, die selbst Politiker zunehmend bezweifeln. Die Tatsache, daß immer<br />
mehr dieser Bereiche in die Privatwirtschaft zurückgegeben wer<strong>de</strong>n – was natürlich kaum eine bessere<br />
Alternative ist –, läßt eher auf das Gegenteil schließen.<br />
Soziale Aufgaben machen <strong>de</strong>n Staat nicht aus. Was <strong>de</strong>n Staat tatsächlich ausmacht – und<br />
28<br />
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was er auch nie privatisieren wür<strong>de</strong> –, sind seine spezifischen Institutionen wie Regierung, Parlament,<br />
Bürokratie, Staatsbeamtentum, Steuerhoheit, Geld- und Erziehungsmonopol, Justiz, Polizei, Armee,<br />
Geheimdienste, Zoll, Fernseh- und Rundfunkhoheit und nicht zuletzt das Recht, je<strong>de</strong>n zu bestrafen und<br />
notfalls zu töten, <strong>de</strong>r gegen eines dieser Dinge aufbegehrt. Dies sind die eigentlichen Funktionen von<br />
Herrschaft – sie sind genuin* staatlich. Alles an<strong>de</strong>re ist usurpiert*.
Der mo<strong>de</strong>rne ›<strong>de</strong>mokratische‹ Staat ist noch kaum hun<strong>de</strong>rt Jahre alt, aber schon tut er so, als läge<br />
ausgerechnet im Sozialen sein Wesen.<br />
Arroganz <strong>de</strong>r Macht<br />
Wie anmaßend all diese spezifisch staatlichen ›Rechte‹ sind, wird ohne weiteres klar, wenn Jemand<br />
an<strong>de</strong>res als <strong>de</strong>r Staat sie in Anspruch nehmen wollte. Versuchen Sie einmal, von Ihren Mitmenschen unter<br />
<strong>de</strong>r Androhung von Strafe und Verfolgung regelmäßig Gel<strong>de</strong>r einzutreiben. Was wäre, wenn Sie auf die<br />
I<strong>de</strong>e verfielen, einen Menschen, <strong>de</strong>r gegen Ihre Grundsätze verstößt, jahrelang in einen kleinen Käfig zu<br />
sperren o<strong>de</strong>r sich das Recht herausnähmen zu entschei<strong>de</strong>n, daß er nicht länger leben darf und ihn<br />
umbrächten? O<strong>de</strong>r bezahlen Sie ein paar Männer, geben ihnen Helm, Knüppel und Pistole und lassen sie<br />
auf all diejenigen los, die an<strong>de</strong>rer Meinung sind o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Interessen verfolgen! Und wenn Sie gar in<br />
<strong>de</strong>r Lage wären, technische Einrichtungen zu schaffen, mit <strong>de</strong>nen Sie auf einen Schlag Millionen von<br />
Menschen töten und ganze Städte vernichten könnten – wie wür<strong>de</strong> man das wohl fin<strong>de</strong>n?<br />
Kein normaler Mensch wür<strong>de</strong> von sich aus zu einem solchen Horrorszenario greifen und schon gar nicht<br />
versuchen, das auch noch ethisch zu rechtfertigen. Im Gegenteil: solche Dinge sind bei uns mit Fug und<br />
Recht geächtet und verboten. Es wäre schlicht ›räuberische Erpressung‹, ›Freiheitsberaubung‹,<br />
›Körperverletzung‹, ›Mord‹, ›Bildung einer kriminellen Vereinigung‹, ›Terrorismus‹ o<strong>de</strong>r ›Völkermord‹.<br />
Tut <strong>de</strong>r Staat jedoch die gleichen Dinge, bekommen sie die Aura* ethischer Notwendigkeit und<br />
wohlklingen<strong>de</strong>re Namen: ›Steuerrecht‹, ›Justiz‹, ›To<strong>de</strong>sstrafe‹, ›Polizei‹, ›Armee‹, ›Verteidigung‹ o<strong>de</strong>r<br />
›mo<strong>de</strong>rne Waffensysteme‹. Wir alle kennen diesen Wi<strong>de</strong>rspruch: Töte ich einen Menschen als Bürger, bin<br />
ich ein Mör<strong>de</strong>r – tue ich es für <strong>de</strong>n Staat als Soldat, bin ich ein Held.<br />
Natürlich gibt es unzählige Rechtfertigungen für staatliche Privilegien: "Ohne die harte Hand <strong>de</strong>s Staates<br />
wür<strong>de</strong>n die Menschen sich gegenseitig zerfleischen". "Die Alternative zu staatlicher Unterdrückung wäre<br />
Chaos". Und die dreisteste von allen: "Der Staat, das sind wir ja selber, und er tut das alles nur, weil wir<br />
es wollen – zu unserem Besten und mit beachtlichem Erfolg."<br />
Bilanz <strong>de</strong>s Versagens<br />
Daß wir <strong>de</strong>r Staat seien, ist ein frommes Märchen, an <strong>de</strong>m eigentlich nur erstaunt, daß so viele Menschen<br />
daran glauben — wir wer<strong>de</strong>n uns dieser Frage im nächsten Kapitel zuwen<strong>de</strong>n. Daß er uns zu unserem<br />
Besten unterdrücke, ist ein groteskes* Argument, das uns selbst<br />
29<br />
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jegliche Mündigkeit abspricht. Aber es soll ja auch Kin<strong>de</strong>r geben, die nach einer Tracht Prügel von Eltern<br />
o<strong>de</strong>r Lehrer noch obendrein ein schlechtes Gewissen haben, sich bedanken und meinen, es geschähe ihnen<br />
recht.<br />
Ist aber trotz allem das staatliche System nicht recht erfolgreich?<br />
Wenn wir unter ›Anarchie‹ einmal die landläufige negative Be<strong>de</strong>utung verstehen wollen, nämlich Chaos,<br />
so haben wir sie heute: weltweit und flächen<strong>de</strong>ckend. Ein System, in <strong>de</strong>m genug Nahrung produziert wird<br />
und wo <strong>de</strong>nnoch täglich Zigtausen<strong>de</strong> Menschen verhungern, ist ein Irrsinn. Ein System, das periodisch<br />
organisierte Massenmor<strong>de</strong> anordnet, ist unmenschlich. Ein System, das diesen Planeten zunehmend<br />
ausplün<strong>de</strong>rt und unbewohnbar macht, ist selbstmör<strong>de</strong>risch. Ein System, das zehn Prozent <strong>de</strong>r Menschheit<br />
Reichtum beschert und die große Mehrheit <strong>de</strong>r Ärmsten immer weiter ausplün<strong>de</strong>rt, ist nie<strong>de</strong>rträchtig. Ein<br />
System, das seine Bürger nur dadurch davon abhalten kann, sich gegenseitig umzubringen, in<strong>de</strong>m es sie<br />
wie<strong>de</strong>rum selbst mit <strong>de</strong>m Tod bedroht, ist eine moralische Bankrotterklärung.<br />
Wenn Anarchisten in einer Diskussion ein solches System ernsthaft vorschlügen, wür<strong>de</strong>n sie mit Recht
ausgelacht. Man müßte sie Zyniker* nennen. Aber dieses System haben wir heute überall, es herrscht auf<br />
je<strong>de</strong>m Stückchen Land dieser Er<strong>de</strong>, und wir leben mittendrin. Es ist das staatliche System, das unterm<br />
Strich völlig versagt und weltweit ein Chaos von unvorstellbarem Ausmaß hervorbringt. Wir nehmen es<br />
nur nicht wahr, <strong>de</strong>nn wir sind gewohnt, in zweierlei Maß zu <strong>de</strong>nken. Vergessen wir nicht: Staat existiert<br />
nicht nur in unseren liberalen, westlichen Demokratien, in <strong>de</strong>nen es sich zugegebenermaßen besser leben<br />
läßt – Staat, das ist auch Bangla<strong>de</strong>sch und Burkina Faso, Haiti und Laos, Ruanda und Kambodscha. Idi<br />
Amin und Helmut Kohl, Saddam Hussein und Boris Jelzin, Hitler und Kennedy sind letztlich Vertreter<br />
<strong>de</strong>rselben Struktur. Die Unterschie<strong>de</strong> zwischen verschie<strong>de</strong>nen Regimen sind keine prinzipiellen<br />
Unterschie<strong>de</strong>, sie sind an<strong>de</strong>re Erscheinungsformen ein und <strong>de</strong>rselben I<strong>de</strong>e: <strong>de</strong>r Staatlichkeit.<br />
Der Staat als Interessengeflecht<br />
Derartige Kritik am Staat und seinen Organen ist typisch für <strong>de</strong>n Anarchismus. Für ihn ist <strong>de</strong>r Staat nicht<br />
zufällig in die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Unzulänglichkeit unserer Gesellschaft verwickelt, son<strong>de</strong>rn von vornherein<br />
<strong>de</strong>r falsche Denkansatz, eine untaugliche Organisationsstruktur. Er ist gewiß nicht die ›Ursache allen<br />
Übels‹, aber er bün<strong>de</strong>lt viele Übel, repräsentiert und verstärkt sie, erzeugt viele <strong>de</strong>r Probleme erst, die er<br />
dann zu bekämpfen vorgibt. Vor allem aber stehen Staaten je<strong>de</strong>r tiefgreifen<strong>de</strong>n sozialen Än<strong>de</strong>rung als<br />
Hin<strong>de</strong>rnis entgegen, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Staat ist ein Selbstzweck. Er will um je<strong>de</strong>n Preis überleben und darin ist er<br />
zäh und anpassungsfähig. Das Beispiel zahlloser Revolutionen, die mit freiheitlichen Ansprüchen<br />
angetreten waren, eine bessere Gesellschaft aufzubauen und zu neuer Diktatur wur<strong>de</strong>n, zeigt, wie<br />
hartnäckig sich Staatlichkeit, Zentralismus, Hierarchie und Bürokratie einnisten. Sie kämpfen äußerst<br />
erfolgreich um ihr Überleben und überwuchern alles Positive, fressen und verdauen es. Gustav Landauer<br />
hat dieses Dilemma in <strong>de</strong>n drastischen Satz gebracht: "Wer vom Staat ißt, stirbt daran."<br />
30<br />
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Allerdings ist <strong>de</strong>r ›<strong>de</strong>r Staat‹ we<strong>de</strong>r ein Phantom* noch ein gefräßiges Fabeltier. Er ist ein ausgesprochen<br />
komplexes* Gebil<strong>de</strong> aus Interessen, von <strong>de</strong>nen die jeweilige Regierung eigentlich nur eine Riege relativ<br />
machtloser Repräsentanten ist. Wirtschaftliche Interessen und politische Macht sind ebenso Bestandteile<br />
<strong>de</strong>s ›Gebil<strong>de</strong>s Staat‹ wie psychologische, i<strong>de</strong>ologische, nationalistische, religiöse o<strong>de</strong>r militärische<br />
Komponenten. Alle sind miteinan<strong>de</strong>r verflochten und voneinan<strong>de</strong>r abhängig. Anarchisten haben <strong>de</strong>shalb<br />
nicht bestimmte Regierungen, Präsi<strong>de</strong>nten o<strong>de</strong>r Könige bekämpft; ihr Gegner war immer ›<strong>de</strong>r Staat an<br />
sich‹ in allen seinen Facetten*.<br />
Der Staat im Kopf<br />
Da viele Menschen <strong>de</strong>n Staat ebenfalls als alltäglichen Unterdrücker erleben, stellt sich die Frage, warum<br />
sie trotz<strong>de</strong>m so staatstreu bleiben. Zum einen gelingt es hervorragend, Zorn zu kanalisieren. Die Medien<br />
spielen hierbei eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle. Meinung wird bei uns täglich produziert, millionenfach und sehr<br />
erfolgreich. Schuld wird dabei im Detail gesucht, in Pannen, bei Min<strong>de</strong>rheiten o<strong>de</strong>r irgendwelchen<br />
›schlechten Menschen‹.<br />
Die >öffentliche Meinung< re<strong>de</strong>t uns ein, eine Nation sei eine ›Gemeinschaft‹, wir alle seien gleich, und<br />
<strong>de</strong>r Staat spiele lediglich <strong>de</strong>n unparteiischen Schiedsrichter. So wer<strong>de</strong>n die ungeheuren sozialen<br />
Unterschie<strong>de</strong> in einem je<strong>de</strong>n Staat vertuscht, und die Privilegien <strong>de</strong>r wirklich Mächtigen ver<strong>de</strong>ckt.<br />
An<strong>de</strong>rerseits tragen wir aber alle mehr o<strong>de</strong>r weniger auch einen ›Staat im Kopf‹ mit uns herum. Es ist, als<br />
hätten wir die Staatlichkeit mit Löffeln gefressen: <strong>de</strong>r Glaube an die Allmacht <strong>de</strong>r Obrigkeit steht im<br />
umgekehrten Verhältnis zum Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten. Der Staat hält uns in <strong>de</strong>m Glauben,<br />
daß er und nur er in <strong>de</strong>r Lage wäre, mit seinem Apparat, seinen Spezialisten und Fachleuten die<br />
komplexen Probleme <strong>de</strong>r Menschheit in <strong>de</strong>n Griff zu bekommen. Immer mehr Menschen erkennen zwar,<br />
daß das nicht stimmt, aber es fehlt die Alternative, und das macht mutlos. Und es mangelt an Freiräumen<br />
zum Experimentieren, an Mo<strong>de</strong>llen zum Anregen, Erfahrungen, die aus <strong>de</strong>m Experiment neue<br />
Gesellschaften entstehen lassen – Gesellschaften ohne Staat.
Anarchistische Staatskritik ist sehr alt und in vielem gera<strong>de</strong>zu prophetisch. Es ist, als hätten Anarchisten<br />
die staatlichen Abscheulichkeiten <strong>de</strong>s Zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rts von Auschwitz über Hiroshima bis<br />
Kambodscha vorausgesehen. In einer Zeit, als alle Welt glühen<strong>de</strong>n Patriotismus pflegte, und die Nation<br />
das Höchste war, schrieb Pierre-Joseph Proudhon die folgen<strong>de</strong>n bissigen Worte, die bis heute nichts an<br />
Aktualität verloren haben:<br />
"Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit<br />
Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert, eingeschätzt,<br />
abgeschätzt, zensiert, kommandiert zu wer<strong>de</strong>n durch Leute, die we<strong>de</strong>r das Recht noch das Wissen noch<br />
die Kraft dazu haben ... Regiert sein heißt, bei je<strong>de</strong>r Handlung, bei je<strong>de</strong>m Geschäft, bei je<strong>de</strong>r Bewegung<br />
notiert, registriert, erfaßt, taxiert, gestempelt, vermessen, bewertet, versteuert, patentiert, lizenziert,<br />
autorisiert, befürwortet, ermahnt, behin<strong>de</strong>rt, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu wer<strong>de</strong>n. Es heißt, unter<br />
<strong>de</strong>m<br />
31<br />
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Vorwand <strong>de</strong>r öffentlichen Nützlichkeit und im Namen <strong>de</strong>s Allgemeininteresses ausgenutzt, verwaltet,<br />
geprellt, ausgebeutet, monopolisiert, hintergangen, ausgepreßt, getäuscht, bestohlen zu wer<strong>de</strong>n;<br />
schließlich bei <strong>de</strong>m geringsten Wort <strong>de</strong>r Klage unterdrückt, bestraft, heruntergemacht, beleidigt, verfolgt,<br />
mißhan<strong>de</strong>lt, nie<strong>de</strong>rgeschlagen, entwaffnet, geknebelt, eingesperrt, füsiliert, beschossen, verurteilt,<br />
verdammt, <strong>de</strong>portiert, geopfert, verkauft, verraten und obendrein verhöhnt, verspottet, beschimpft und<br />
entehrt zu wer<strong>de</strong>n. Das ist die Regierung, das ist ihre Gerechtigkeit, das ist ihre Moral. [...] Die Regierung<br />
<strong>de</strong>s Menschen über <strong>de</strong>n Menschen ist die Sklaverei. Wer immer die Hand auf mich legt, um über mich zu<br />
herrschen, ist ein Usurpator und ein Tyrann. Ich erkläre ihn zu meinem Fein<strong>de</strong>."<br />
Proudhon war einer, <strong>de</strong>r wissen mußte wovon er sprach: Im Frankreich <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts war er<br />
sowohl Abgeordneter <strong>de</strong>r Nationalversammlung als auch Gefängnisinsasse ...<br />
Literatur:<br />
/ Pierre-Joseph Proudhon: Ausgewählte Werke (Hrsg. v. Thilo Ramm), Stuttgart 1963, K. F. Koehler, 363<br />
S.<br />
/ Michail Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie (u.a. Schriften) Frankfurt 1972, Ullstein, 884 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Gott und <strong>de</strong>r Staat Reinbek 1969, Rowohlt, 245 S.<br />
/ Peter Kropotkin: Der mo<strong>de</strong>rne Staat in: "Der Staat" (Aufsatzsammlung), Frankfurt/M. o.J., Freie<br />
Gesellschaft, 125 S.<br />
/ Gustav Landauer: Entstaatlichung Wetzlar 1976, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 58 S.<br />
/ Stefan Blankertz, Paul Goodman: Staatlichkeitswahn Wetzlar 1980, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 160 S.<br />
/ Franz Oppenheimer: Der Staat Berlin 1991, Libertad, 160 S.<br />
32<br />
Kapitel 7<br />
Kritik an <strong>de</strong>r Demokratie<br />
Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber.<br />
– Volksweisheit –<br />
EIGENTLICH IST SCHON DAS WORT DEMOKRATIE eine Zumutung. ›Demokratie‹ heißt<br />
›Volksherrschaft‹. Herrscht irgendwo ›das Volk‹? Natürlich nicht, bestenfalls darf das Volk Menschen<br />
wählen, von <strong>de</strong>nen es sich beherrschen läßt. Und selbst die bekommt es vorsortiert angeboten.
Eine wirkliche Demokratie wäre, wenn das ganze Volk über das ganze Volk herrschte, also je<strong>de</strong>r Mensch<br />
je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren genausoviel zu sagen hätte, wie er sich von an<strong>de</strong>ren zu sagen lassen hat. Das ist entwe<strong>de</strong>r<br />
Unsinn o<strong>de</strong>r das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Herrschaft von Menschen über Menschen. Denn wenn je<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>n ›beherrscht‹,<br />
ist das genau dasselbe, wie wenn niemand herrscht. Da Menschen aber unterschiedliche Meinungen<br />
haben, kann solch eine Demokratie in einem Staat nicht funktionieren, es sei <strong>de</strong>nn, eine Meinung setzte<br />
sich durch und unterdrückte viele an<strong>de</strong>re. Genau das aber ist in unseren ›Demokratien‹ <strong>de</strong>r Fall. Der<br />
Unterschied zwischen Diktaturen und Demokratien besteht genau besehen darin, daß in ersteren eine<br />
Min<strong>de</strong>rheit die Mehrheit und in letzteren eine Mehrheit zahlreiche Min<strong>de</strong>rheiten unterdrückt. Bei<strong>de</strong>s aber<br />
ist eine Herrschaft einiger über viele, also eine Oligarchie* und keine Demokratie – auch, wenn sich die<br />
Herrschen<strong>de</strong>n ihre Herrschaft von einer Mehrheit legitimieren* lassen.<br />
32<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Weil aber Menschen verschie<strong>de</strong>ne Meinungen haben, die sich eben nicht in einer Gesellschaft unter einen<br />
Hut bringen lassen, ist Demokratie – die Herrschaft aller über alle – entwe<strong>de</strong>r nur in kleineren Gruppen<br />
möglich o<strong>de</strong>r gar nicht. Ein Netz kleiner Gruppen, eine Fö<strong>de</strong>ration verschie<strong>de</strong>ner Gesellschaften aber ist<br />
nichts an<strong>de</strong>res als Anarchie. Wirkliche Demokratie ist also entwe<strong>de</strong>r an-archisch o<strong>de</strong>r unsinnig.<br />
Nun wissen wir ja alle, daß man bei uns unter ›Demokratie‹ etwas ganz an<strong>de</strong>res versteht, nämlich das<br />
parlamentarische System. Die meisten Menschen halten es für das beste aller Systeme. Zugegeben, es gibt<br />
schlechtere. Aber hier geht es nicht um die Frage, wie viele Menschen sich in <strong>de</strong>r ›parlamentarischen<br />
Demokratie‹ ziemlich wohl fühlen weil nichts besseres zur Hand ist, son<strong>de</strong>rn darum, ob <strong>de</strong>r<br />
Parlamentarismus überhaupt eine Demokratie ist.<br />
Natürlich gibt es auch hier einen Herrscher - statt <strong>de</strong>s Königs, Kaisers o<strong>de</strong>r Diktators eben einen<br />
Präsi<strong>de</strong>nten, Kanzler o<strong>de</strong>r Premierminister. Sie alle – die ›Diktatoren‹ wie die ›Demokraten‹ – sind<br />
Repräsentanten jener grundlegen<strong>de</strong>n staatlich wirtschaftlichen Interessen, die wir bereits betrachtet haben.<br />
Deshalb macht es für Anarchisten keinen Unterschied, ob sie diesen o<strong>de</strong>r jenen wählen o<strong>de</strong>r ob sie<br />
überhaupt wählen, <strong>de</strong>nn ihrer Meinung nach unterschei<strong>de</strong>n sie sich nur in ziemlich unwesentlichen<br />
Punkten. Im wesentlichen, in ihrer Einstellung zum Staat und <strong>de</strong>ssen Interessen, sind sie sich gleich. Der<br />
Anarchismus geht davon aus, daß Staatlichkeit im Grun<strong>de</strong> immer anti-freiheitlich eingestellt sein muß.<br />
Durch die Verlockungen <strong>de</strong>r ihr eigenen Hierarchie wird sie immer einen Repräsentanten* fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r ihre<br />
Interessen vertritt. Egal, ob ein bißchen linker o<strong>de</strong>r rechter, Hauptsache, es geht nicht ans Eingemachte -<br />
und dafür sorgen Grundgesetz und ›parlamentarische Spielregeln‹. Schlußendlich ist es auch egal, ob<br />
gewählt o<strong>de</strong>r nicht; aber gewählt ist im Zweifelsfalle besser, <strong>de</strong>nn je<strong>de</strong> Unterdrückung legitimiert sich am<br />
liebsten dadurch, daß die Unterdrückten sich ihre Unterdrücker selbst ausgesucht haben: die Regierung.<br />
Die wahren Mächtigen bleiben <strong>de</strong>zent im Hintergrund.<br />
Aber haben wir eigentlich eine Wahl?<br />
Wahlen ohne Alternative<br />
Eine Wahl ist eine Entscheidung zwischen zwei o<strong>de</strong>r mehreren Alternativen. Nehmen wir einmal an, Sie<br />
gingen in einen Supermarkt, in <strong>de</strong>r Absicht, Schokola<strong>de</strong> zu kaufen und dort fän<strong>de</strong>n Sie sich vor <strong>de</strong>r<br />
Möglichkeit, zwischen einundzwanzig verschie<strong>de</strong>nen Waschmitteln ›wählen‹ zu dürfen - und sonst<br />
nichts. Sie könnten sicher eine ›Wahl‹ treffen, aber nicht das wählen, was Sie wollen. Es wäre keine Wahl<br />
zwischen wirklichen Alternativen.<br />
Natürlich kann man sagen, die Partei X ist ein wenig liberaler, sozialer und freiheitlicher als die Partei Y.<br />
Wenn aber das Ziel Freiheit ist, und Freiheit nur ohne Staat und Regierung geht, alle Parteien aber Staat<br />
und Regierung sind, so kann ich eben nicht das wählen, was ich will. Ich muß es schon selber herstellen,<br />
erreichen, aufbauen. Wenn ich ein Leben ohne Regierung will, ist es absurd, mir die Leute auszuwählen,<br />
die mich regieren sollen.
33<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Anarchisten sehen dies alles aus einer sehr radikalen Perspektive: Wenn ich Gefängnisinsasse bin und<br />
freikommen möchte – so argumentieren sie –, wer<strong>de</strong> ich diese Freiheit nicht erreichen, in<strong>de</strong>m mir die<br />
Gefängnisverwaltung die Wahl <strong>de</strong>s Wachpersonals ermöglicht. Da mag es zwar Wärter geben, die nicht<br />
prügeln und mir <strong>de</strong>n Alltag erträglicher machen. Vielleicht ist es gut, wenn ich die wähle, dann geht es<br />
mir besser. Aber im Gefängnis sitze ich nach wie vor. Womöglich gewöhne ich mich sogar an <strong>de</strong>n Knast,<br />
ebenso wie meine Mitgefangenen: wir lassen uns in das System einspannen, genießen kleine<br />
Verbesserungen und vergessen das Ziel. Am En<strong>de</strong> beteiligen wir uns gar an einer<br />
Häftlingsselbstverwaltung und bewachen uns selbst.<br />
Ersetzt man die Begriffe ›Gefängnis‹ durch ›Kapitalismus‹ und ›Bewacher‹ durch ›Staat‹, so wird dieser<br />
Vergleich zum drastischen* Gleichnis <strong>de</strong>r jüngeren politischen Geschichte:<br />
Anarchisten haben seit jeher dafür plädiert, das Gefängnis nie<strong>de</strong>rzureißen und ein neues Leben zu<br />
beginnen. Kommunisten haben ein Loch in die Mauer gesprengt, sind ausgebrochen und haben an an<strong>de</strong>rer<br />
Stelle ein noch größeres Gefängnis gebaut. Sozial<strong>de</strong>mokraten haben gemeint, man könne <strong>de</strong>r<br />
Gefangenschaft auch entrinnen, in<strong>de</strong>m man zunächst die netteren Bewacher wählt und sich dann selber<br />
wählen läßt. Heute sind sie ab und zu Gefängnisdirektoren und mühen sich nach Kräften, daß es <strong>de</strong>n<br />
Insassen dann etwas besser geht.<br />
Betrachten wir statt <strong>de</strong>s Zielbegriffs ›Freiheit‹ einmal das reale Problem <strong>de</strong>r Umweltzerstörung, so wird<br />
die Absurdität parlamentarischer Wahlen noch augenfälliger: Stellen wir uns die Gesellschaft als einen<br />
Zug vor, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Abgrund einer ökologischen Katastrophe zufährt. Ein Gleis zweigt rechts ab und<br />
führt direkt ins Ver<strong>de</strong>rben, die mittlere Schiene ist etwas länger, und <strong>de</strong>r linke Abzweig fährt noch einen<br />
kleinen Umweg, lan<strong>de</strong>t am En<strong>de</strong> aber auch im selben Loch. Wahlen zwischen diesen drei<br />
Weichenstellungen sind keine Wahlen zwischen wirklichen Alternativen. Die wirkliche Alternative wäre,<br />
eine neue Gleisanlage zu bauen. Dafür sind die Anarchisten und dafür waren vor nicht allzulanger Zeit<br />
auch noch die Grünen. Inzwischen haben sie sich für das linke Gleis entschie<strong>de</strong>n, unter <strong>de</strong>r Bedingung,<br />
während <strong>de</strong>r Fahrt ein bißchen an <strong>de</strong>r Bremse ziehen zu dürfen.<br />
So stellt sich <strong>de</strong>n Libertären die Spielwiese <strong>de</strong>r parlamentarischen Demokratie dar: sie läßt <strong>de</strong>n Menschen<br />
die Illusion, etwas zu entschei<strong>de</strong>n, wo doch längst alles Wesentliche entschie<strong>de</strong>n ist und von uns gar nicht<br />
entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n darf.<br />
Genau das ist <strong>de</strong>r Grund, warum sich Anarchisten in <strong>de</strong>r Regel nicht an Wahlen beteiligen.<br />
Die meisten Menschen glauben an Wahlen o<strong>de</strong>r meinen zumin<strong>de</strong>st, die Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n<br />
einzelnen Parteien seien Grund genug, wenigstens das kleinere Übel zu wählen. Die Frage aber bleibt, ob<br />
sie dabei wirklich wählen. Zum Beispiel <strong>de</strong>n Bun<strong>de</strong>skanzler. Wählen wir ihn? Stellen wir die Kandidaten<br />
auf? Wir wählen allenfalls zwischen zwei längst gewählten Ähnlichkeiten. In Wahrheit hat kein einfacher<br />
Bürger einen tatsächlichen Einfluß auf das politische Geschehen seines Lan<strong>de</strong>s – das Vorrecht, das uns<br />
die parlamentarische Demokratie gewährt, ist, alle vier Jahre ein Kreuz auf einer Liste schon lange zuvor<br />
34<br />
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ausgewählter Menschen zu machen. Sind diese erst einmal gewählt, haben wir keinerlei Einfluß mehr auf<br />
ihr Han<strong>de</strong>ln. Im Prinzip können sie machen, was ihnen beliebt. Viele Politiker scheren sich schon am Tag<br />
nach <strong>de</strong>r Wahl nicht mehr um ihre Zusagen und <strong>de</strong>n Willen ihrer Wähler. Das steht, etwas feiner<br />
ausgedrückt, auch im Grundgesetz: Politiker sind nur ihrem Gewissen verantwortlich.
Hierarchie entfrem<strong>de</strong>t<br />
Das ist interessant. Eigentlich wird ein Mensch ja in ein Amt berufen, um dort <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>rer zu<br />
vertreten, die ihn gewählt haben und ihn für diese Arbeit bezahlen. Keiner Firma wür<strong>de</strong> es einfallen, einen<br />
Prokuristen einzustellen und ihm dann zu überlassen, was er auf diesem Posten tun will. In <strong>de</strong>r Politik<br />
aber verstößt die Bindung an ein Mandat gegen die Eigeninteressen <strong>de</strong>r Politiker. Sie dürfen das Prinzip<br />
<strong>de</strong>s Regierens niemals zugunsten einer direkten Demokratie o<strong>de</strong>r gar <strong>de</strong>r Selbstverwaltung in Frage<br />
stellen. Warum wohl wehren sich unsere Politiker so wortreich gegen die einfachsten Formen<br />
unmittelbarer Demokratie wie Volksbegehren o<strong>de</strong>r Volksentscheid? Vor allem, weil <strong>de</strong>r Staat ein<br />
Selbstzweck ist und seine Existenz gegen je<strong>de</strong> Konkurrenz verteidigen muß.<br />
Je höher die Ebene politischer Macht angesie<strong>de</strong>lt ist, <strong>de</strong>sto größer ist dieser Grad <strong>de</strong>r politischen<br />
Entfremdung zwischen Wähler und Gewähltem. Gibt es in <strong>de</strong>r Lokalpolitik bisweilen noch Möglichkeiten<br />
direkten Kontaktes, persönlicher Einflußnahme und unmittelbarer Kontrolle, so sind diese Möglichkeiten<br />
in <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>spolitik schon be<strong>de</strong>utend eingeengt. Wer aber jemals versucht hat, an ›seinen‹<br />
Bun<strong>de</strong>stagsabgeordneten ein Problem heranzutragen und sich davon eine Lösung erhoffte, weiß, wie<br />
aussichtslos solch ein Anliegen ist. Dies mag eine Erklärung dafür sein, daß manche Anarchisten an<br />
Kommunalwahlen teilnehmen, während sie die Landtags- o<strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>stagswahl boykottieren.<br />
Anarchie ist nicht wählbar<br />
Warum aber grün<strong>de</strong>n Anarchisten keine Partei? Sie könnten ihre Ziele doch in ein Programm schreiben,<br />
sich wählen lassen und, falls eine Mehrheit hinter ihnen steht, die Anarchie einführen.<br />
Die Grün<strong>de</strong>, das nicht zu tun, lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Anarchie läßt sich nicht<br />
›einführen‹. Man kann sie nicht einfach wählen - an einer solchen Gesellschaftsform muß man<br />
teilnehmen. Sie braucht Menschen, die selbst mit<strong>de</strong>nken und mithan<strong>de</strong>ln sowie eine Struktur, in <strong>de</strong>r<br />
Macht nicht mehr <strong>de</strong>legiert*, son<strong>de</strong>rn selbst ausgeübt wird. Selbstverständlich kennt auch das<br />
anarchistische System die Delegierung von Entscheidung, Ausführung und Funktion. Sie beruht jedoch<br />
auf Vertrauen – Macht verbleibt beim einzelnen Menschen, <strong>de</strong>r sich nach wie vor selbst ›regiert‹. Eine<br />
Regierung wählen, die mich nicht regiert, ist in<strong>de</strong>s ein Unding – und in Wahlen wer<strong>de</strong>n nun einmal<br />
Regierungen gewählt. Anarchie ist nicht Politik, son<strong>de</strong>rn das gesamte Leben. Und damit eine an-archische<br />
Gesellschaft funktioniert, müssen sich viele Dinge än<strong>de</strong>rn, und die än<strong>de</strong>rn sich nicht, in<strong>de</strong>m man eine<br />
politische Elite* wählt, son<strong>de</strong>rn in<strong>de</strong>m sich die Menschen mit ihrer Gesellschaft verän<strong>de</strong>rn.<br />
35<br />
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Je<strong>de</strong> Wahl aber trägt dazu bei, Illusionen zu festigen. Die Illusion etwa, wir wür<strong>de</strong>n tatsachlich über unser<br />
Leben bestimmen, unser Schicksal aktiv gestalten. Die Illusion, wir hätten unsere Herrschaft selbst<br />
legitimiert, und die Herrscher han<strong>de</strong>lten in unserem Sinne. Vor allem aber die Illusion, daß über <strong>de</strong>n Weg<br />
parlamentarischer Wahlen wirkliche, grundlegen<strong>de</strong> Än<strong>de</strong>rungen möglich seien. Das ist jedoch so gut wie<br />
unmöglich. Wir brauchen uns nur anzuschauen was passiert, wenn Menschen, die tiefgreifen<strong>de</strong><br />
Än<strong>de</strong>rungen durchsetzen wollen, durch Wahlen an die Macht kommen. In Chile siegte 1972 eine linke<br />
Volksfront. Ihr Präsi<strong>de</strong>nt Salvador Allen<strong>de</strong>, ein Marxist, wollte soziale Gleichheit durchsetzen, aber das<br />
ist verboten. Gesetze und Verfassungen geben nur einen sehr engen Rahmen vor, in <strong>de</strong>m Än<strong>de</strong>rungen<br />
erlaubt sind. Dieselben Gesetze schützen genau die Dinge, die zu verän<strong>de</strong>rn wären, allem voran die<br />
Fragen von Eigentum, Hierarchie, Ungleichheit und Macht. Das Tragische an <strong>de</strong>m chilenischen Beispiel<br />
war, daß <strong>de</strong>r bie<strong>de</strong>re Allen<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Mächtigen nach nur einem Jahr durch einen Militärputsch gestürzt<br />
und getötet wur<strong>de</strong>, obwohl er, einmal an <strong>de</strong>r Macht, gar keine radikalen Verän<strong>de</strong>rungen mehr versuchte,<br />
son<strong>de</strong>rn sich strikt an die Gesetze hielt. Die Lehre hieraus ist einfach: Selbst wenn eine Mehrheit <strong>de</strong>n<br />
radikalen Wan<strong>de</strong>l wählt, wer<strong>de</strong>n die wirklich Mächtigen keine Verän<strong>de</strong>rung tolerieren und notfalls ihre<br />
eigenen Gesetze mit Füßen treten. Radikaler Wan<strong>de</strong>l muß in <strong>de</strong>r Wirklichkeit wachsen. Je breiter, stabiler<br />
und vernetzter dies geschieht, <strong>de</strong>sto schwerer ist er aufzuhalten.
Im Bann <strong>de</strong>s Parlamentarismus<br />
Europa wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten Zeuge zahlreicher Regierungswechsel, die Sozialisten o<strong>de</strong>r<br />
Sozial<strong>de</strong>mokraten an die Macht brachten: In Griechenland und Frankreich, Deutschland, Großbritannien,<br />
Spanien, Italien, Portugal o<strong>de</strong>r Schwe<strong>de</strong>n gaben sie mehr o<strong>de</strong>r weniger lange ›Gastspiele‹. Schon kleinste<br />
soziale Eingriffe führten sofort zu Reaktionen: Börseneinbrüche, Kapitalflucht, Unternehmerstreiks und<br />
-boykotte*, Verweigerung und passiver Wi<strong>de</strong>rstand bis hin zu Verleumdungen und Verschwörungen. Am<br />
En<strong>de</strong> reduzierte sich <strong>de</strong>r Unterschied zwischen ›sozialistischer‹ und ›konservativer‹ Politik auf die Frage,<br />
ob die Mehrwertsteuer o<strong>de</strong>r die Sozialhilfe um ein Prozent verschoben wird o<strong>de</strong>r nicht. Setzen wir gegen<br />
alle Zweifel einmal voraus, daß diese Parteien tatsächlich eine sozialere und freiere Gesellschaft wollten,<br />
so muß man die Bilanz* all dieser Regierungen ganz nüchtern so interpretieren: Im Rahmen staatlicher<br />
Gesetze und kapitalistischer Normen ist selbst die zaghafteste Verän<strong>de</strong>rung, die die Privilegien von Staat<br />
und Kapital gefähr<strong>de</strong>t, nicht möglich. Entwe<strong>de</strong>r schickt man Panzer o<strong>de</strong>r entzieht das Geld. Mitterand als<br />
›Sozialist‹ mußte sich genauso an die Gesetze halten wie Kohl als Konservativer, und bei<strong>de</strong> taten es<br />
vermutlich mit <strong>de</strong>rselben inneren Überzeugung, weil Sozialisten heute zu ebenso zuverlässigen Säulen<br />
staatlich-kapitalistischer Ordnung gewor<strong>de</strong>n sind wie Konservative.<br />
Nach Meinung <strong>de</strong>r Anarchisten kommt das daher, daß sie sich vor mehr als hun<strong>de</strong>rt Jahren auf das Spiel<br />
<strong>de</strong>s Parlamentarismus eingelassen haben. Sie hatten geglaubt, sie könnten die Spielleitung austricksen,<br />
aber die Spielregeln sind klug ausgedacht. Sein<br />
36<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Rä<strong>de</strong>rwerk mahlt stetig, arbeitet zäh und hat eine ungeahnte Kraft, Menschen in seinen Bann zu ziehen,<br />
zu korrumpieren und zu integrieren. Auch die nobelste I<strong>de</strong>e, je<strong>de</strong> noch so integre* Persönlichkeit bleibt da<br />
am En<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>r Strecke.<br />
Literatur: Errico Malatesta: In Wahlzeiten Meppen 1988, Ems Kopp, 30 S. / Rudolf Rocker: Wozu noch<br />
in die Parlamente? Reutlingen 1987, Trotz<strong>de</strong>m, 82 S. / Roben P. Wolff: Eine Verteidigung <strong>de</strong>s<br />
Anarchismus Wetzlar 1979, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 88 S, / <strong>de</strong>rs.: Das Elend <strong>de</strong>s Liberalismus Frankfurt<br />
1969, Edition Suhrkamp, 261 S.<br />
Kapitel 8<br />
Kritik am Kommunismus<br />
Ich verabscheue <strong>de</strong>n Kommunismus, weil er die Negation <strong>de</strong>r Freiheit ist,<br />
und weil ich mir nichts Menschenwürdiges ohne Freiheit vorstellen kann<br />
– Michail Bakunin – (1814 - 1876)<br />
AUCH KOMMUNISTEN REDEN VOM ABSTERBEN DES STAATES. Karl Marx sah darin sogar das<br />
Endziel <strong>de</strong>s Kommunismus. Sind Anarchisten und Kommunisten also fast dasselbe? Bitten wir die<br />
rebellieren<strong>de</strong>n Sklaven aus <strong>de</strong>r Einleitung um eine Antwort: Stellen wir uns vor, zwei Leibeigene, die ein<br />
und <strong>de</strong>mselben Herrn gehören, sinnen auf Abhilfe, <strong>de</strong>nken an Befreiung und erträumen eine neue<br />
Gesellschaft. Der eine repräsentiert die kommunistische I<strong>de</strong>e, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re die anarchistische. Seien wir<br />
außer<strong>de</strong>m ruhig ein wenig witzig und nennen aus gutem Grund <strong>de</strong>n ersten Karl, <strong>de</strong>n zweiten Michail.<br />
Karl, <strong>de</strong>r Kommunist, träumt davon, daß alle Sklaven sich zusammenschließen und das Landgut seines<br />
Herrn gewaltsam übernehmen. Er ist ein grüblerischer Denker und entwickelt in seinen freien Stun<strong>de</strong>n<br />
komplizierte Begründungen dafür, warum die Sklaven und nur die Sklaven dazu ausersehen sind, die
führen<strong>de</strong> Schicht <strong>de</strong>r neuen Gesellschaft zu bil<strong>de</strong>n. Hierzu wäre es nötig, zunächst eine Diktatur <strong>de</strong>r<br />
Sklaven zu errichten, die alles bis ins Kleinste kontrolliert, plant und leitet. Alle Menschen müßten gleich<br />
sein, gleich leben und gleich <strong>de</strong>nken. Nur Sklaven und <strong>de</strong>ren Nachkommen hätten, so Karl, das richtige<br />
›sklavische Bewußtsein‹ und nur sie wären dazu befähigt, diszipliniert, fleißig und anspruchslos zu<br />
arbeiten, um diese neue Gesellschaft aufzubauen. Dummerweise wollen die Sklaven davon aber nicht viel<br />
wissen, so daß Karl und seine Anhänger sie nach weiterem Grübeln für ›noch nicht reif‹ erklären. Sie<br />
grün<strong>de</strong>n daraufhin eine ›Partei <strong>de</strong>r Sklaven‹ mit <strong>de</strong>m Ziel, <strong>de</strong>ren Avantgar<strong>de</strong> zu sein und ihnen so zu<br />
ihrem Glück zu verhelfen. Karl und seine Freun<strong>de</strong> gehören zwar zu jenen Leibeigenen, die im Herrenhaus<br />
bessere Arbeiten verrichten und nicht auf <strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>rn schwitzen müssen, sind aber <strong>de</strong>nnoch zutiefst<br />
davon überzeugt, daß nur sie wirklich wissen, was die Arbeitssklaven wollen und was ihnen gut tut.<br />
Ebensowenig zweifeln sie daran, daß sie viel besser als <strong>de</strong>r Herr <strong>de</strong>s Landgutes in <strong>de</strong>r Lage sein wer<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>n La<strong>de</strong>n zu schmeißen. "Wenn wir erst an <strong>de</strong>r Macht sind und somit <strong>de</strong>n Sklaven das Landgut ja<br />
gehört", wird Karl nicht mü<strong>de</strong> zu predigen, "dann wer<strong>de</strong>n die<br />
37<br />
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befreiten Sklaven freiwillig und begeistert arbeiten und die Partei wird die Wirtschaft nach <strong>de</strong>n<br />
Bedürfnissen <strong>de</strong>r Sklaven hervorragend managen, <strong>de</strong>nn die Partei kennt ja diese Bedürfnisse besser als<br />
irgendwer sonst..."<br />
Da kann Michail nur lachen. Er ist mehr als skeptisch. "Mein guter Karl ..." sagt er und klopft ihm<br />
kopfschüttelnd auf die Schulter, "was du da vorhast, funktioniert so nicht! Du gibst uns Sklaven keine<br />
Freiheit, son<strong>de</strong>rn einen neuen Herrn: <strong>de</strong>ine Partei. Und ob die <strong>de</strong>n La<strong>de</strong>n besser schmeißt als unser alter<br />
Herr, bezweifle ich. Ich fürchte eher, ihr wer<strong>de</strong>t die Sklaven genauso auspressen wie <strong>de</strong>r Alte, und<br />
obendrein versteht ihr noch weniger vom Geschäft." Und dann erklärt er ihm seine I<strong>de</strong>e:<br />
"Mir geht es nicht darum, diesen La<strong>de</strong>n zu übernehmen und ihn in Schwung zu bringen, damit er besser<br />
funktioniert. Ich will etwas ganz Neues schaffen, ein Leben, in <strong>de</strong>m die Freiheit obenan steht und nicht<br />
die Wirtschaft o<strong>de</strong>r die Arbeit an sich. Das Dasein soll auch Spaß machen. Alles, was auf <strong>de</strong>m Gut getan<br />
wer<strong>de</strong>n muß, sollen die Menschen - und zwar alle Menschen! - selbst organisieren. Das, was sie zum<br />
Leben brauchen, können sie sehr gut selbst entschei<strong>de</strong>n. Nicht <strong>de</strong>r Herr, nicht die Partei <strong>de</strong>r Sklaven, nicht<br />
die Wissenschaft o<strong>de</strong>r die Wirtschaft dürfen ihnen ihr Leben vorschreiben - sie selbst sollen es<br />
bestimmen."<br />
Wenn die Sklaven sich befreien wollen, so Michail, dürften sie nicht die alte Form <strong>de</strong>r Sklaverei durch<br />
eine neue ersetzen. Es bestehe auch keine Notwendigkeit, <strong>de</strong>n riesigen Betrieb unbedingt zentral zu<br />
managen. Warum sollten nicht verschie<strong>de</strong>ne kleine, gut funktionieren<strong>de</strong> Betriebe daraus entstehen? Dann<br />
könnten sich Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen und Neigungen mit Gleichgesinnten<br />
zusammenschließen.<br />
"Vor allem aber", sagt Michail und hebt beschwörend die Arme, "kannst Du die Menschen niemals zu<br />
ihrem Glück zwingen! Auch unser Herr behauptet ständig, er tue alles nur zu unserem Besten und<br />
eigentlich ginge es uns Sklaven ja gut. Als ob wir nicht selbst wüßten, was wir wünschen und wie unser<br />
Glück aussehen könnte! Was wir vor allem erstmal brauchen, ist Freiheit und Brot. In <strong>de</strong>inem System,<br />
lieber Karl, kriegen wir garantiert keine Freiheit, und ob wir dafür dann Brot haben wer<strong>de</strong>n, ist sehr<br />
fraglich. Laß uns lieber überlegen, wie wir unsere Herrschaften überlisten, und wie wir dann eine ganz<br />
an<strong>de</strong>re Gesellschaft nach unseren Bedürfnissen schaffen. Du weißt so gut wie ich, daß wir Sklaven hinter<br />
<strong>de</strong>m Rücken unseres Herrn ja schon ganz an<strong>de</strong>rs miteinan<strong>de</strong>r verkehren. Im Alltag hilft doch je<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>m,<br />
so gut er kann. Niemand will, daß sich einer zum neuen Chef aufspielt. Das sind die I<strong>de</strong>en, aus <strong>de</strong>nen eine<br />
neue Gesellschaft entstehen muß und nicht die Diktatur <strong>de</strong>iner merkwürdigen Partei, die doch nur <strong>de</strong>n<br />
Herren nachäfft. Ich meine, wir sollten die Herrschaft abschaffen, nicht austauschen ...!"<br />
"Ja, ja ... das will ich letztendlich ja irgendwie auch", wirft Karl nun ungeduldig ein. "Aber du bist und<br />
bleibst halt ein Spinner. Wir hingegen sind Wissenschaftler, und wir haben erkannt, daß <strong>de</strong>r Gang <strong>de</strong>r
Geschichte die Sklaven zur herrschen<strong>de</strong>n Klasse bestimmt hat. Erst muß diese Klasse einmal eine<br />
knallharte Diktatur errichten, um ihre Fein<strong>de</strong> zu zerstören. Später dann stirbt die Herrschaft ganz von<br />
alleine ab ..."<br />
"Und warum...?"<br />
38<br />
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"Ganz einfach: weil keine objektiven Grün<strong>de</strong> mehr für ihre Existenz da sein wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn wir sind ja alle<br />
gleich!"<br />
So ein Quatsch! Und die Bonzen <strong>de</strong>iner Partei, sind die auch so gleich wie die Sklaven? Wer<strong>de</strong>n sie dann<br />
einfach aufhören <strong>de</strong>n Chef zu spielen und wie<strong>de</strong>r arbeiten wie die an<strong>de</strong>ren? Das kannst du <strong>de</strong>iner<br />
Großmutter erzählen!"<br />
"Ich wußte ja, daß man mit dir nicht re<strong>de</strong>n kann. Euch Anarchisten sollte man in <strong>de</strong>r Diktatur <strong>de</strong>r Sklaven<br />
am besten gleich mit umbringen ..."<br />
Wie schon so oft zuvor stampft Karl zornig mit <strong>de</strong>m Fuß auf, Michail rauft sich die Haare, und bei<strong>de</strong><br />
gehen zornig auseinan<strong>de</strong>r...<br />
Eine alte Polemik<br />
Dieser fiktive* Dialog entspricht in groben Zügen <strong>de</strong>r alten Polemik* zwischen Anarchisten und<br />
Kommunisten; wir brauchen nur die Wörter ›Sklaven‹ durch ›Proletarier‹* zu ersetzen, ›Herr‹ durch<br />
›Kapitalist‹ und ›Landgut‹ durch ›Staat‹.<br />
Wir sehen: Anarchisten und Kommunisten sind nicht ›fast dasselbe‹. Bei<strong>de</strong> kommen zwar aus <strong>de</strong>rselben<br />
geschichtlichen Epoche, bei<strong>de</strong> begannen ihr Wirken im Schoß <strong>de</strong>r ›Arbeiterklasse‹, bei<strong>de</strong> wollten Unrecht<br />
und Ungleichheit bekämpfen und bei<strong>de</strong> waren gegen das ›kapitalistische System‹. Zwischen ihrem<br />
Menschenbild, ihrer Vision einer neuen Gesellschaft und <strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n, diese zu erreichen, lagen jedoch<br />
von Anfang an Welten.<br />
In <strong>de</strong>r Tat geht <strong>de</strong>r Marxismus* und später insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r Leninismus* davon aus, die Macht im Staate<br />
zu erobern, eine Diktatur <strong>de</strong>s Proletariats mittels <strong>de</strong>r Kommunistischen Partei zu errichten und diesen<br />
›proletarischen Staat‹ zu einem starken, zentralen, alles kontrollieren<strong>de</strong>n Gebil<strong>de</strong> zu machen, <strong>de</strong>r dann –<br />
wie durch ein Wun<strong>de</strong>r – irgendwann einmal ›absterben‹ soll. Dieser autoritäre Sozialismus konnte<br />
selbstverständlich die Konkurrenz einer antiautoritären Alternative niemals neben sich dul<strong>de</strong>n.<br />
In <strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rts, als die Arbeiterbewegung noch in <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rschuhen<br />
steckte und all das nichts weiter als vage I<strong>de</strong>en und graue Theorie war, waren Kommunisten und<br />
Anarchisten in einer gemeinsamen Organisation zusammengeschlossen, <strong>de</strong>r ›Ersten Internationale‹. Schon<br />
damals haben Anarchisten mit erstaunlicher Klarheit vorausgesehen, wohin die diktatorischen<br />
Vorstellungen <strong>de</strong>r Kommunisten führen wür<strong>de</strong>n, sollten sie je an die Macht gelangen. Unser erfun<strong>de</strong>ner<br />
Dialog zwischen ›Karl‹ und ›Michail‹ hat in jenen Jahren in zahllosen Varianten zwischen Marxisten und<br />
Anarchisten immer wie<strong>de</strong>r stattgefun<strong>de</strong>n. Wortführer dieses Streits waren Karl Marx und Michail<br />
Bakunin. Während Marx <strong>de</strong>n Anarchisten die ›Wissenschaftlichkeit‹ absprach und sie als ›Kleinbürger‹<br />
brandmarkte, warf Bakunin ihm vor, sich zum "Chefingenieur <strong>de</strong>r Weltrevolution" aufzuspielen. Diese<br />
Polemik führte letztlich nicht zu besserer Einsicht, son<strong>de</strong>rn zur Spaltung <strong>de</strong>r Internationale. Seit 1872<br />
gehen Kommunisten und Anarchisten getrennte Wege. Wohin <strong>de</strong>r erstere geführt hat, ist bekannt. Was die<br />
Anarchisten angeht, so haben sie mit ihrer Kritik recht behalten, ohne in<strong>de</strong>s ihre Alternative durchsetzen<br />
zu können.
Natürlich stecken auch im Marxismus freiheitliche Elemente, und man hat oft darauf<br />
39<br />
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hingewiesen, daß <strong>de</strong>r Leninismus eigentlich eine Vergewaltigung <strong>de</strong>s Marxismus sei und <strong>de</strong>r Stalinismus*<br />
seine endgültige Pervertierung*. Das stimmt. Genauso richtig ist es aber, daß schon bei Marx die<br />
freiheitlichen Elemente eher kümmerlich und beliebig eingestreut waren, während das Zentralistische,<br />
Diktatorische und Autoritäre seine Lehre schlüssig durchzog und prägte. Nicht umsonst hat Bakunin ihn<br />
als einen "Preußen" charakterisiert. Wenn <strong>de</strong>r Marxismus also von späteren Generationen pervertiert<br />
wur<strong>de</strong>, so konnte dies nur allzu leicht geschehen, <strong>de</strong>nn die ›Perversion‹ war von vornherein angelegt.<br />
Überhaupt ist es problematisch, ›Kommunismus‹ zu sagen, wenn eigentlich ›Marxismus‹ o<strong>de</strong>r<br />
›Leninismus‹ gemeint ist. ›Kommunismus‹ bezeichnet genau genommen eine Gesellschaft <strong>de</strong>r Gleichheit.<br />
Eben das ist auch gemeint, wenn wir später vom "anarchistischen Kommunismus" etwa bei Peter<br />
Kropotkin hören wer<strong>de</strong>n. Das alles hat nichts mit <strong>de</strong>r tausendfältigen Sektenbewegung ›kommunistischer‹<br />
Parteien zu tun, die dafür sorgten, daß dieser Begriff für die meisten Menschen zu einer ungenießbaren<br />
Abscheulichkeit wur<strong>de</strong>.<br />
Aber zurück zum Marxismus:<br />
Viele Anarchisten haben durchaus Marxens wirtschaftliche Analysen und seine Kritik am Kapitalismus<br />
begrüßt. Einige seiner Thesen wur<strong>de</strong>n vorbehaltlos geteilt, was nicht verwun<strong>de</strong>rt, wenn man weiß, daß<br />
Marx auf wichtigen Vorarbeiten aufbaute, die <strong>de</strong>r Anarchist Proudhon geliefert hatte. Bakunin übersetzte<br />
das "Kommunistische Manifest" und Teile von Marx' Hauptwerk "Das Kapital" ins Russische. Die bisher<br />
einzige für <strong>de</strong>n Normalmenschen verständliche Zusammenfassung dieses komplizierten Buches schrieb<br />
<strong>de</strong>r radikale Sozial<strong>de</strong>mokrat und spätere Anarchist Johann Most und machte es so <strong>de</strong>n Arbeitern erstmals<br />
verständlich, für die es eigentlich hätte geschrieben sein sollen. Was aber Marxens Schlußfolgerungen<br />
angeht, so fan<strong>de</strong>n er und seine Nachfolger in <strong>de</strong>n Libertären immer engagierte Kritiker. Vor allem<br />
konnten sie nicht begreifen, wie er sich die überdrehte Theorie <strong>de</strong>s historischen und dialektischen<br />
Materialismus* aus<strong>de</strong>nken konnte, die <strong>de</strong>n Gang <strong>de</strong>r Geschichte gewissen "objektiven Wahrheiten‹<br />
unterordnet und mit fast religiöser Überzeugung vorauszusagen wagt, was, wann, wie und warum<br />
passieren muß: Alles sei wissenschaftlich beweisbar vorbestimmt. Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Menschen passen nicht in<br />
dieses Konzept.<br />
Die Geschichte hat gezeigt, daß sich Marxisten immer wie<strong>de</strong>r und sehr gründlich geirrt haben, bis hin zu<br />
ihrem eigenen Scheitern. Wenngleich es auch in <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung zeitweise be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong><br />
Ten<strong>de</strong>nzen gab, die mit <strong>de</strong>m Marxismus sympathisierten – namentlich nach <strong>de</strong>r russischen<br />
Oktoberrevolution von 1917 und in <strong>de</strong>r westeuropäischen Stu<strong>de</strong>ntenrevolte nach 1968 –, so haben sie<br />
doch in einem Punkt <strong>de</strong>m Marxismus nie über <strong>de</strong>n Weg getraut: in <strong>de</strong>r Schizophrenie* nämlich, daß aus<br />
einer Diktatur irgendwann einmal Freiheit erwachsen könne.<br />
Ein gutes halbes Jahrhun<strong>de</strong>rt vor <strong>de</strong>n stalinistischen Greueln in <strong>de</strong>r Sowjetunion schrieb Michail Bakunin:<br />
"Vorzugeben, daß eine Gruppe von Individuen, seien es die intelligentesten und mit <strong>de</strong>n besten Absichten,<br />
in <strong>de</strong>r Lage sind, die Seele, <strong>de</strong>r leiten<strong>de</strong> und vereinigen<strong>de</strong> Wille <strong>de</strong>r revolutionären Bewegung und <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaftsorganisation <strong>de</strong>s Proletariats zu<br />
40<br />
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sein, ist eine solche Ketzerei gegen <strong>de</strong>n Gemeinsinn, daß man mit Erstaunen fragt, wie ein so intelligenter<br />
Mensch wie Herr Marx das hat <strong>de</strong>nken können. Die Einrichtung einer universellen Diktatur (...) wür<strong>de</strong>
genügen, die Revolution zu töten, alle Volksbewegungen zu lähmen und zu verfälschen (...). Man kann<br />
das Etikett wechseln, das unser Staat trägt, seine Form – aber im Grun<strong>de</strong> bleibt er immer <strong>de</strong>r gleiche.<br />
Entwe<strong>de</strong>r muß man diesen Staat zerstören, o<strong>de</strong>r sich mit <strong>de</strong>r schändlichsten und fürchterlichsten Lüge, die<br />
unser Zeitalter hervorgebracht hat, versöhnen: <strong>de</strong>r roten Bürokratie."<br />
Literatur: Michail Bakunin: Freiheit und Sozialismus Berlin o.J. (1980?), Libertad, 28 S. / Rudolf Rocker:<br />
Absolutistische Gedankengänge im Sozialismus Darmstadt o.J. (1951?), Die freie Gesellschaft, 47 S. /<br />
Luigi Fabbri, Ch. Cornelissen: Historische und sachliche Zusammenhänge zwischen Marxismus und<br />
Anarchismus Berlin o.J. (1971?), 75 S. / Johann Most: Marxereien, Eseleien und <strong>de</strong>r sanfte Heinrich<br />
Wetzlar 1985, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 192 S., ill. / F. Amilie, H.D.Bahr, A.Kresic, R.Rocker: Anarchismus<br />
und Marxismus Berlin 1973, Karin Kramer, 132 S. / Fritz Brupbacher: Marx und Bakunin Berlin 1976,<br />
Karin Kramer, 222 S. / Pierre Ramus: Die Irrlehre <strong>de</strong>s Marxismus Wien 1927, R. Löwit, 208 S. /<br />
Benjamin R. Tucker: Staatssozialismus und Anarchismus Berlin 1908, B. Zack, 14 S. / Maurice Cransion:<br />
Ein Dialog über Sozialismus und Anarchismus Berlin 1979, Libertad, 125 S. / Daniel Guerin:<br />
Anarchismus und Marxismus Frankfurt a.M. 1975, Freie Gesellschaft, 25 S. / Bernd E. Elsner: Was ich<br />
Dir noch sagen wollte, Kommunist Karlsruhe o.J. (1978?), Laubfrosch, 18 S. / Murray Bookchin: Hör zu,<br />
Marxist! Wilnsdorf o.J. (1978?), Winddruck, 64 S.<br />
Kapitel 9<br />
Kritik am Patriarchat<br />
Wir Frauen tragen schwer unter <strong>de</strong>r Last <strong>de</strong>r Macht, die die Männer seit vielen Generationen <strong>de</strong>r Barbarei<br />
auf uns gebracht haben. Der Feminismus ist darauf aus, sich von dieser Last zu befreien und nicht darauf,<br />
die Domänen <strong>de</strong>s ›starken Geschlechts‹ zu erobern. Wir wollen uns nicht vermännlichen.<br />
- Soledad Gustavo -<br />
ES GIBT EIN VERBINDENDES ELEMENT, das wie Kitt eine Einheit zwischen all <strong>de</strong>n bisher<br />
kritisierten Strukturen - Staat, ›Demokratie‹, ›Kommunismus‹ - herzustellen scheint, und das ist <strong>de</strong>r<br />
Mann. Besser gesagt: Das ›Prinzip <strong>de</strong>s Männlichen‹. Für viele Anarchisten bei<strong>de</strong>rlei Geschlechts ist es<br />
augenfällig und kaum ein Zufall, daß es Männer waren und sind, die autoritäre Strukturen erdachten,<br />
durchsetzten und beherrschten: Männer setzen Werte und schaffen entsprechen<strong>de</strong> Tatsachen.<br />
In <strong>de</strong>r Tat leben wir weltweit in einer Männerherrschaft, <strong>de</strong>m Patriarchat. Das Patriarchat hat eigene<br />
Strukturen, die alle Menschen prägen – Männer und Frauen. Diese Strukturen sind zäh, vereinnahmend<br />
und haben sich in <strong>de</strong>r Menschheitsgeschichte rücksichtslos durchgesetzt. Genau diese Qualitäten spielen<br />
in <strong>de</strong>r Patriarchatskritik eine zentrale Rolle: Die männliche Art zu <strong>de</strong>nken, zu han<strong>de</strong>ln und zu herrschen,<br />
die fast die Gesamtheit <strong>de</strong>s Lebens beansprucht und das Geschick <strong>de</strong>r Menschheit bestimmt – und damit<br />
unseres Planeten.<br />
Frauen wollen nicht die "besseren Männer" sein.<br />
An dieser Tatsache än<strong>de</strong>rt sich auch dann nichts, wenn Frauen sich mehr Rechte erkämpfen o<strong>de</strong>r ihnen<br />
diese ›zugestan<strong>de</strong>n‹ wer<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>r Rahmen bleibt <strong>de</strong>rselbe. Hat zu Beginn <strong>de</strong>r<br />
41<br />
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Frauenbewegung eine ›Befreiung <strong>de</strong>r Frau‹ im Vor<strong>de</strong>rgrund gestan<strong>de</strong>n, die darauf abzielte, Frauen gleiche<br />
Rechte wie <strong>de</strong>n Männern zu erstreiten, so ist dieser Ansatz mehr und mehr einer globalen, allumfassen<strong>de</strong>n<br />
Kritik an <strong>de</strong>n männlichen Werten an sich gewichen. Frauen wollten immer weniger so wer<strong>de</strong>n wie die<br />
privilegierten Männer, son<strong>de</strong>rn an<strong>de</strong>rs. Bei dieser Suche stießen sie folgerichtig auf weibliche Werte. Auf<br />
diese Weise hat die Diskussion um Freiheit und menschenwürdiges Leben neue Aspekte* und Inhalte
ekommen, die in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten zu einer Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Denkansatzes geführt haben –<br />
zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>n Kreisen, die sich überhaupt kritischen Gedanken aussetzen.<br />
Jahrzehntelang war die Ökonomie das zentrale Thema kritischer Menschen, <strong>de</strong>r Dreh- und Angelpunkt für<br />
die Frage nach sozialer Freiheit. ›Die Frau‹ war dabei ein sogenannter ›Nebenwi<strong>de</strong>rspruch‹; ihre<br />
Unterdrückung wür<strong>de</strong> sich mit gerechten wirtschaftlichen Verhältnissen in Nichts auflösen... Nun kamen<br />
plötzlich zornige Frauen daher und wiesen mit verblüffen<strong>de</strong>r Einfachheit darauf hin, daß die praktizierte<br />
Ökonomie ja wohl eine reine ›Männerwirtschaft‹ sei, und daß diese Art wirtschaftend zu unterdrücken<br />
männliche Qualität habe. Gleiches ließe sich unterm Strich über die Ursachen <strong>de</strong>r weltweiten<br />
ökologischen Katastrophe sagen, wie über die Art, mit <strong>de</strong>r die (Männer-) Gesellschaft glaubt, ihrer Herr<br />
zu wer<strong>de</strong>n. Hierarchie und Kirche, Medizin und Wissenschaft, Politik und Erziehung - all das wur<strong>de</strong> nun<br />
unter <strong>de</strong>m Aspekt <strong>de</strong>r Patriarchatskritik betrachtet und führte prompt zu <strong>de</strong>r Erkenntnis, daß es spezifisch<br />
männliche Formen und Strukturen seien, die sich durchgesetzt haben. Es han<strong>de</strong>lt sich dabei übrigens um<br />
dieselben Strukturen, die <strong>de</strong>r Anarchismus mit Vorliebe kritisiert.<br />
Auf <strong>de</strong>r Suche nach <strong>de</strong>n weiblichen Werten<br />
Der Kritik an typisch männlichen Werten folgte natürlich die spannen<strong>de</strong> Frage nach <strong>de</strong>r Qualität typisch<br />
weiblicher Werte, was wie<strong>de</strong>rum zahllose weitere Fragen aufwarf, die sich daraus ableiten. Etwa, ob<br />
solche Werte unabän<strong>de</strong>rlich und angeboren o<strong>de</strong>r gesellschaftlich bedingt und somit verän<strong>de</strong>rbar seien.<br />
Sind Frauen die besseren Menschen? Sollen Frauen gegen die Männer ihren eigenen Weg gehen und<br />
Männer ignorieren? Sollen sie statt <strong>de</strong>s Patriarchats ein Matriarchat durchsetzen, o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n Männern<br />
einen an<strong>de</strong>ren, neuen und gemeinsamen Weg suchen?<br />
Auch bei Frauen gibt es auf viele Fragen viele Antworten, und so gehen Meinungen und Überzeugungen<br />
in diesen Punkten auseinan<strong>de</strong>r. Und gewiß gibt es auch dogmatische Fraktionen in <strong>de</strong>r Frauenbewegung,<br />
ebenso wie es in ihr phantastische und erschrecken<strong>de</strong>, kluge und dumme Ansätze gibt, aufgesetzte<br />
Attitü<strong>de</strong>n und vergängliche Mo<strong>de</strong>n. Gera<strong>de</strong> Männer, die sich von selbstbewußten Frauen verunsichert<br />
fühlen, weisen gerne und mit Häme auf solche ›Schwachpunkte‹ hin, wobei sie natürlich verschweigen,<br />
daß dies ausnahmslos auf alle Bewegungen zutrifft, einschließlich <strong>de</strong>r anarchistischen. Worte wie dumm,<br />
erschreckend, aufgesetzt und modisch passen ebensogut auf vieles, was die Männergesellschaft an<br />
Typischem hervorgebracht hat...<br />
In Wirklichkeit sind die Frauen, die sich auf die Suche nach ihrer I<strong>de</strong>ntität begeben und<br />
42<br />
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diese mit <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r Menschheit verknüpft haben, erst am Beginn eines langen Weges. Das ist nicht<br />
erstaunlich:<br />
Zum ersten ist all das, was einst an weiblichen Traditionen existiert haben mag, heute verschüttet, um es<br />
gelin<strong>de</strong> auszudrücken. Auch Geschichtsschreibung, Philosophie und Kirche sind männliche Domänen,<br />
und Männer haben alles nur Er<strong>de</strong>nkliche getan, um jene Bereiche, in <strong>de</strong>nen Frauen die Gesellschaft<br />
prägten, zu verschleiern. Matriarchale Tradition und die mit ihr verbun<strong>de</strong>nen Erfahrungen müssen heute –<br />
unabhängig von <strong>de</strong>r Frage, ob das nun alles gut war o<strong>de</strong>r nicht – erst einmal mühsam rekonstruiert und<br />
erforscht wer<strong>de</strong>n: von <strong>de</strong>r mystischen* Kultur <strong>de</strong>r einstigen Weltengöttin Gaia bis hin zur ausgerotteten<br />
Welt <strong>de</strong>r letzten ›wissen<strong>de</strong>n Frauen‹, die man vor noch nicht allzulanger Zeit in einem perfekt<br />
organisierten Femizid* als ›Hexen‹ verbrannte. Dabei för<strong>de</strong>rt die unermüdliche Frauenforschung ständig<br />
neue Bruchstücke zu Tage. Mit Erstaunen ent<strong>de</strong>cken wir, daß es vor <strong>de</strong>m Patriarchat auch schon ein<br />
gesellschaftliches Leben gab. In ihm waren überwiegend Frauen tonangebend, und nach allem was wir<br />
wissen, scheint es da durchaus humaner und weniger hierarchisch zugegangen zu sein als bei allem, was<br />
folgte. Dieses Mosaik verschie<strong>de</strong>ner Gesellschaften wird heute unter <strong>de</strong>m Begriff Matriarchat<br />
zusammengefaßt.
Wohlverstan<strong>de</strong>ne Kritik am Patriarchat sollte übrigens keine ›Frauensache‹ sein, ist es aber ganz<br />
überwiegend. Das wird wohl auch so bleiben, solange Männer nicht begreifen, daß ›spezifisch weibliche‹<br />
Werte und Sichtweisen für sie nicht unbedingt eine Bedrohung sind, son<strong>de</strong>rn auch eine Bereicherung sein<br />
können.<br />
Nun will <strong>de</strong>r Anarchismus natürlich kein Matriarchat, son<strong>de</strong>rn ein Anarchat. Niemand soll herrschen,<br />
auch keine Frauen, selbst, wenn sie es ›besser‹ könnten. In diesem Sinne aber wird das antike Matriarchat<br />
von <strong>de</strong>n meisten Anarcha-Feministinnen auch nicht verstan<strong>de</strong>n - eher als eine Quelle <strong>de</strong>r Inspiration und<br />
Kritik, als Trümmerfeld verschütteter femininer* Tugen<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>nen wir einige heute vielleicht bitter<br />
nötig hätten.<br />
Die Kritik am Patriarchat ist <strong>de</strong>shalb mehr als nur ein ›interessanter Aspekt‹ o<strong>de</strong>r eine ›anregen<strong>de</strong><br />
Bereicherung‹ <strong>de</strong>s anarchistischen Standpunktes. Sie ist radikal und global; daß sie dabei zwangsläufig<br />
auch einseitig sein muß, ist klar – aber das muß eine psychologische o<strong>de</strong>r ökonomische Kritik <strong>de</strong>r<br />
bestehen<strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong> ebenso wie eine ökologische o<strong>de</strong>r ethische. ›Einseitig‹ ist schließlich auch <strong>de</strong>r<br />
Anarchismus selbst, aber bisweilen gibt es nichts, was Zusammenhänge klarer macht, als eine gewisse<br />
Einseitigkeit. So wie <strong>de</strong>r Blick durch eine Lupe o<strong>de</strong>r ein Mikroskop. Die Kritik am Patriarchat ist fraglos<br />
ein leistungsfähiges Mikroskop. Mit seinen Bil<strong>de</strong>rn können wir nicht alles, aber einiges interpretieren,<br />
was bisher mit Erfolg verdrängt wur<strong>de</strong>.<br />
Literatur: Eileen Power: Als Adam grub und Eva spann, wo war da <strong>de</strong>r E<strong>de</strong>lmann? - Das Leben <strong>de</strong>r Frau<br />
im Mittelalter Berlin 1984, Karin Kramer, 142 S. / Peggy Komegger, Carol Ehrlich: Anarcha-Feminismus<br />
Berlin 1979, Libenad, 120 S. / Emma Goldman: La Tragödie <strong>de</strong> l'Emancipation Feminine Orleans o.J.<br />
(1907?), 14 S. / Victor Yarros, Sarah E. Holmes: Die Frauenfrage Berlin o.J. (1908?), B. Zack, 22 S. /<br />
Berta Lask: Unsere Aufgabe an <strong>de</strong>r Menschheit Berlin 1923, Der Syndikalist, 60 S. / Cornelia Regln:<br />
Anarchismus und Frauenemanzipation in historischer Perspektive in: <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong> (Hrg): "Frauen <strong>de</strong>r<br />
Anarchie", Anarch. Wandkalen<strong>de</strong>r 1991, Neustadt/Wstr. 1990 / Marie-Theres Knapper: Feminismus,<br />
Autonomie, Subjektivität Bochum 1984, Germinal Verlag, 15 s S.<br />
43<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Kapitel 10<br />
Freie Liebe und an<strong>de</strong>re praktische Nutzanwendungen<br />
"Die Liebe ist eine Verächterin aller Gesetze, aller Vorschriften (...)<br />
Wenn die Welt jemals Gleichheit und Einigkeit hervorbringen wird,<br />
wird es nicht mehr die Ehe, son<strong>de</strong>rn nur noch Liebe geben!"<br />
- Emma Goldman -<br />
GENUG KRITISIERT! MECKERN IST KEINE ANTWORT und notorische Besserwisser sind nirgends<br />
beliebt. Anarchisten geht es ja nicht um Rechthaberei, son<strong>de</strong>rn um alternative Mo<strong>de</strong>lle - Lebensentwürfe,<br />
die sich von <strong>de</strong>n Standards* heutiger Gesellschaftsformen unterschei<strong>de</strong>n. Sie sollen alle Lebensbereiche<br />
umfassen, von größtmöglicher Freiheit geprägt sein und auf menschlicher Gegenseitigkeit beruhen. Je<strong>de</strong><br />
anarchistische Alternative ist daher im Grun<strong>de</strong> nichts weiter als die praktische Nutzanwendung dieses<br />
Prinzips auf eine konkrete Situation. Deshalb ist die Zahl <strong>de</strong>r Themen, zu <strong>de</strong>nen libertäre Alternativen<br />
entwickelt wur<strong>de</strong>n, unübersehbar groß. Betrachten wir daher zwei exemplarische* Beispiele.<br />
Beispiel "Freie Liebe"<br />
Die Freie Liebe ist ein von <strong>de</strong>r russisch-amerikanischen Anarchistin Emma Goldman popularisierter*<br />
Begriff - ein Schlagwort, das zu allen Zeiten die Phantasie <strong>de</strong>r Spießer zu beflügeln vermochte.
Verklemmte Zeitgenossen stellen sich darunter bis auf <strong>de</strong>n heutigen Tag nur allzugern eines vor:<br />
zügellosen Sex. Je<strong>de</strong> und je<strong>de</strong>r schläft mit je<strong>de</strong>m und je<strong>de</strong>r, es gibt we<strong>de</strong>r Bindungen noch<br />
Verantwortung, statt<strong>de</strong>ssen Gier, Wollust und Unmoral...<br />
In Wahrheit ist das anarchistische I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r Freien Liebe so ziemlich das Gegenteil all <strong>de</strong>ssen. Die<br />
wüten<strong>de</strong>n Reaktionen, die Emma Goldman erfahren mußte, spiegeln <strong>de</strong>nn auch mehr die voyeuristischen*<br />
Wunschphantasien <strong>de</strong>r meist männlichen Meinungsmacher wi<strong>de</strong>r, die angesichts einer ebenso brillant wie<br />
heftig vorgetragenen Kritik an <strong>de</strong>r Männergesellschaft reihenweise ausrasteten. Aber auch puritanische<br />
Vertreterinnen <strong>de</strong>r Frauenbewegung fan<strong>de</strong>n die political correctness* jener Tage verletzt und erklärten sie<br />
zu einer "Heidin", die "reif für <strong>de</strong>n Marterpfahl" sei.<br />
Was ist so schlimm an <strong>de</strong>r Freien Liebe?<br />
Nichts, außer daß sie die Erniedrigungen <strong>de</strong>r Ehe, die Fesseln <strong>de</strong>r Moral und die Unterdrückung in einer<br />
männerbestimmten Gesellschaft aufzeigt, um einen Weg aus dieser Abscheulichkeit zu weisen. Womit<br />
mehr als ein Tabu verletzt war. Für Emma Goldman kann eine menschliche Gesellschaft letztlich nur in<br />
einem verantwortungsvollen, gleichrangigen und stark gefühlsbetonten Miteinan<strong>de</strong>r von befreiten Frauen<br />
und Männern bestehen. Das heißt nicht, daß sie etwa Sympathien für das Patriarchat aufbrächte o<strong>de</strong>r gar<br />
die Fehlleistungen <strong>de</strong>r Männergesellschaft verniedlicht. Red Emma bleibt ihr Leben lang schonungslos<br />
offen – eine Streiterin gegen je<strong>de</strong> Art <strong>de</strong>r Verlogenheit. Gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb geißelt sie ebenso unnachsichtig<br />
das "Trauerspiel von <strong>de</strong>r Befreiung <strong>de</strong>r Frau", <strong>de</strong>nn sie ist radikaler und vorausschauen<strong>de</strong>r als viele ihrer<br />
Zeitgenossinnen. Für sie kann es keine Lösung sein,<br />
44<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
wenn sich die Frauenbewegung darin erschöpft, die Männergesellschaft einfach umzudrehen, in<strong>de</strong>m<br />
Frauen <strong>de</strong>n Beweis erbringen wollen, sozusagen die ›besseren Männer‹ zu sein. Bei <strong>de</strong>n damals<br />
tonangeben<strong>de</strong>n "Frauenrechtlerinnen", <strong>de</strong>ren "aseptischen* Puritanismus" sie als "Beschränktheit"<br />
anprangert, kommt sie mit solchen Attacken natürlich nicht gut an.<br />
Vehement* reklamiert* sie das Recht auf die eigenen Werte <strong>de</strong>r Frau, und die sind bei Emma Goldman<br />
immer stark gefühlsbetont, kämpferisch, selbstbewußt, spontan und auch erotisch. In fast romantischen<br />
Bil<strong>de</strong>rn beschwört sie die subversiven Kräfte, die in <strong>de</strong>r Befreiung von Frau und Mann liegen. Den<br />
"zwangsmäßigen, alten Jungfern" <strong>de</strong>r reinen Frauenlehre setzt sie ihre erfrischen<strong>de</strong>, lebensbejahen<strong>de</strong> und<br />
durchaus optimistisch angelegte These <strong>de</strong>r "freien Liebe" entgegen, in <strong>de</strong>r die Freiheit <strong>de</strong>r Sexualität eine<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielt. Und sie lebt sie auch vor, selbstbestimmt und provokant.<br />
Es geht ihr dabei nicht um ›Sex‹. Sexualität, Freiheit, Emotion, menschliche Wärme, Selbstbestimmung,<br />
bewußte Mutterschaft, Liebe, Revolution, Partnerschaft und Verantwortlichkeit sind bei ihr Begriffe, die<br />
alle etwas miteinan<strong>de</strong>r zu tun haben und untrennbar verbun<strong>de</strong>n bleiben müssen. Falls nicht, wür<strong>de</strong> sich<br />
auch nichts Wesentliches än<strong>de</strong>rn.<br />
Ihr Ansatzpunkt dabei ist die Ehe, die sie als sklavischen "Versicherungs- und Wirtschaftsvertrag"<br />
beschreibt, notwendig, um die Frauen in Abhängigkeit und <strong>de</strong>n Staat stabil zu erhalten. Ehe habe mit<br />
Liebe nichts zu tun und Liebe nichts mit Ehe: Wo keine Gefühle bestehen, könne die Ehe sie auch nicht<br />
herstellen, und wo sie existieren, brauche es die Ehe nicht. Folgerichtig wer<strong>de</strong> Sexualität - für Emma<br />
Goldman die "natürlichste und gesün<strong>de</strong>ste Sache" <strong>de</strong>r Welt – nach <strong>de</strong>r Hochzeit nur zu oft zur Prostitution<br />
um <strong>de</strong>n Preis <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Sicherheit. Die Alternative für die Frau bestün<strong>de</strong> höchstens in<br />
beruflicher Karriere. In dieser Gesellschaft jedoch, so zeigt sie auf, führe auch dies selten zur<br />
Unabhängigkeit <strong>de</strong>r Frau – geschweige <strong>de</strong>nn zu Freiheit o<strong>de</strong>r gar zu Glück.<br />
An die Stelle einer solchen Zwangsinstitution setzt Emma Goldman die freie Beziehung zwischen<br />
verantwortlichen Individuen. Die Sicherheit von Mutter und Kind soll – wenn eine Beziehung emotional
stirbt – nicht durch das künstliche Zwangskonstrukt einer Ehe garantiert wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn durch ein<br />
System gegenseitiger Hilfe in solidarischen Gemeinschaften, die allen Menschen Unabhängigkeit bieten –<br />
nicht nur wirtschaftliche. Gemeinschaften, in <strong>de</strong>nen Frauen in die Lage versetzt wären, auch ohne ›ihren<br />
Mann‹, mit o<strong>de</strong>r ohne Kind, <strong>de</strong>n eigenen Weg zu gehen. Das be<strong>de</strong>utete ihr zufolge das En<strong>de</strong> patriarchaler<br />
Erpreßbarkeit und <strong>de</strong>n Triumph ehrlicher Liebe in Selbstbestimmung. In letzter Konsequenz bedürfe es<br />
dazu einer neuen Gesellschaft. Genau <strong>de</strong>shalb war Emma Goldman Revolutionärin und nicht Reformistin.<br />
Gleichzeitig war sie insoweit konsequent und realistisch, die Umsetzung ihrer I<strong>de</strong>en nicht auf <strong>de</strong>n Sankt-<br />
Nimmerleinstag zu verschieben. Hier und heute müsse begonnen wer<strong>de</strong>n, solche Rechte einzufor<strong>de</strong>rn und<br />
entsprechen<strong>de</strong> Utopien in <strong>de</strong>n Kreisen emanzipierter Menschen vorzuleben.<br />
Natürlich beschränkt sich die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r freien Liebe nicht nur auf Frau und Mann, Mutter und Kind. Sie<br />
for<strong>de</strong>rt die freie Entscheidung <strong>de</strong>r Menschen für je<strong>de</strong> Art von Zuneigung und Sexualität. Das schließt<br />
homosexuelle* Liebe ebenso mit ein wie etwa Mehrfachbeziehungen<br />
45<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
o<strong>de</strong>r Selbstbefriedigung. Bis heute sind Lesben* und Schwule* Opfer von Verfolgung und Demütigung -<br />
umso lebhafter dürfen wir uns <strong>de</strong>n Skandal vorstellen, <strong>de</strong>n solche I<strong>de</strong>en um die Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong><br />
auslösten. Vom Untergang <strong>de</strong>r Zivilisation war die Re<strong>de</strong> und vom unnatürlichen Zwang zu Promiskuität*<br />
und sexueller Hochleistung. Das ist, wenn keine gewollte Verleumdung, zumin<strong>de</strong>st eine völlig falsche<br />
Auffassung von <strong>de</strong>r freien Liebe. Sie ist we<strong>de</strong>r ein Leistungssport noch eine Zwangsübung darin, mehrere<br />
Menschen lieben zu müssen und keine Eifersucht kennen zu dürfen. Sie schließt aber die Freiheit<br />
<strong>de</strong>rjenigen ein, die dies wollen o<strong>de</strong>r können, es auch zu tun.<br />
I<strong>de</strong>en dieser An waren zu jener Zeit zwar nicht mehr völlig neu - schon Bakunin und Kropotkin hatten<br />
sich für die Freiheit von Liebe und Sexualität ausgesprochen - aber noch allemal brisant*. Die<br />
Diskussionen in <strong>de</strong>r heutigen Frauenbewegung zeigen, wie aktuell sie nach wie vor sind. Generationen<br />
von Anarchistinnen und Anarchisten haben inzwischen versucht, die Visionen <strong>de</strong>r Emma Goldman zu<br />
leben - allen voran sie selbst. ›Freie Liebe‹ wur<strong>de</strong> ein fester Bestandteil anarchistischer Überzeugung, und<br />
viele machten ernst: Die Ehe als übliche Norm sozialer Organisation ist bei <strong>de</strong>n meisten Anarchisten -<br />
zumin<strong>de</strong>st theoretisch - verpönt; an ihre Stelle traten die verschie<strong>de</strong>nsten Formen offener Beziehungen.<br />
Von einzelnen Paaren über Gruppen, Gemeinschaften und Kommunen bis hin zu sozialen Großgebil<strong>de</strong>n<br />
wie <strong>de</strong>n libertären Kollektiven Spaniens o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Kibbuzim in Israel wur<strong>de</strong> und wird nach Alternativen<br />
zu <strong>de</strong>n sozialen Fesseln von Ehe und Abhängigkeit gesucht.<br />
Die Erfahrungen hierbei waren vielfältig und wi<strong>de</strong>rsprüchlich. Es gab ebensogut Tragödien wie Triumphe<br />
und niemand – am wenigsten Emma Goldman – hätte geglaubt, mit <strong>de</strong>m Konzept <strong>de</strong>r ›Freien Liebe‹ eine<br />
Zauberformel zur ungetrübten Glückseligkeit gefun<strong>de</strong>n zu haben. Neue soziale Umgangsformen fallen<br />
nicht vom Himmel, sie müssen erlernt wer<strong>de</strong>n. Eines aber scheinen all jene Versuche zu bestätigen: Eine<br />
ehrliche, offene und gleichberechtigte Beziehung zwischen <strong>de</strong>n Geschlechtern ist - auch wenn es ein<br />
schwieriges Lernen ist – möglich. Und sie ist gewiß menschlicher, freier und vielfältiger als die<br />
herkömmliche Institution <strong>de</strong>r Ehe.<br />
Die freie Schule<br />
Für Anarchisten ist auch das herkömmliche Erziehungssystem ein rotes Tuch. Ebenso wie in Ehe und<br />
Normfamilie, sehen sie im staatlichen Schulsystem eine tragen<strong>de</strong> Säule <strong>de</strong>r Macht - bei<strong>de</strong> trügen dazu bei,<br />
Hierarchie immer wie<strong>de</strong>r neu zu verinnerlichen:<br />
In <strong>de</strong>r Schule - gleichgültig ob staatlich o<strong>de</strong>r religiös geprägt - wür<strong>de</strong>n Untertanen hergestellt. Auch wenn<br />
als Erziehungsziel offiziell <strong>de</strong>r ›kritische und mündige Staatsbürger‹ gefor<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>, bleibe es immer<br />
noch beim Staatsbürger. Neben Lesen, Schreiben, Rechnen und viel ›Sachwissen‹ wer<strong>de</strong> vor allem eines<br />
gelehrt: Anpassung an die bestehen<strong>de</strong>n Gesellschaftsverhältnisse - zwar nicht als Lehrfach, aber überall<br />
versteckt. Und selbst das angeblich wertfreie ›Sachwissen‹ stecke bei näherem Hinsehen voller
Einseitigkeit, I<strong>de</strong>ologie und Phantasielosigkeit. Vielfalt, wirkliche Alternativen und vor allem Freiheit <strong>de</strong>s<br />
Lernens gebe es nicht.<br />
46<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Nach anarchistischer Auffassung ist Lernen in allen unseren Gesellschaften ein institutionalisierter*<br />
Zwangsprozeß, und <strong>de</strong>r Staat hält hierüber in <strong>de</strong>r Regel das Monopol. Er weiß auch, warum: Staatlich<br />
gesteuertes Lernen ist die beste Garantie dafür, daß alles beim alten bleibt. I<strong>de</strong>ologien mögen wechseln,<br />
Lehrpläne sich än<strong>de</strong>rn - die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n gesellschaftlichen Grundwerte, die vermittelt wer<strong>de</strong>n, tun es<br />
nicht. Egal, ob ich Mathe, Geschichte o<strong>de</strong>r Deutsch pauke, immer lerne ich auch mit, daß es oben und<br />
unten, Herrscher und Beherrschte, Staat und Autorität gibt. Dies in Frage zu stellen, wird an keiner Schule<br />
gelehrt.<br />
Eine freie Gesellschaft braucht freie Menschen. Wenn je<strong>de</strong> neue Generation von Kin<strong>de</strong>sbeinen an<br />
ten<strong>de</strong>nziell zur Unfreiheit erzogen wird, liegt es nahe, hier anzusetzen und für <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r Erziehung<br />
libertäre Alternativen zu entwickeln. Bei dieser praktischen Nutzanwendung <strong>de</strong>s Freiheitsprinzips geht es<br />
um dreierlei. Zum einen sollten <strong>de</strong>m Staat möglichst viele Kin<strong>de</strong>r entzogen wer<strong>de</strong>n. Das ist in erster Linie<br />
ein politisch-organisatorisches Problem. Zweitens sollten an<strong>de</strong>re Inhalte und Werte gelehrt wer<strong>de</strong>n. Das<br />
ist vor allem ein intellektuell*-theoretisches Problem. Nicht zuletzt sollten natürlich an<strong>de</strong>re Formen <strong>de</strong>s<br />
Lehrens und Lernens erprobt wer<strong>de</strong>n. Das ist ein überwiegend didaktisches* Problem. Viel Arbeit also<br />
und kein leichtes Unterfangen.<br />
Daß anarchistische Pädagogik nicht so aussehen konnte wie staatliche, war seit jenen Tagen klar, als<br />
Anarchisten begannen, "Freie Schulen" aufzubauen. Und das geschah schon im vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rt.<br />
Nicht auf das Drillen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r, ihre Ausrichtung auf eine I<strong>de</strong>ologie o<strong>de</strong>r die Aufnahme von möglichst<br />
viel Wissen kam es dabei an – und natürlich auch nicht darauf, aus <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Anarchisten von<br />
heute die Anarchisten von morgen zu züchten. Libertäre Eltern wünschten sich vielmehr Kin<strong>de</strong>r, die<br />
selbständig <strong>de</strong>nken, han<strong>de</strong>ln und entschei<strong>de</strong>n könnten, fähig zur Freiheit und ebenso tolerant wie<br />
selbstbewußt.<br />
Aber nicht nur die Kin<strong>de</strong>r, auch die Erwachsenen! Lernen und Lehren sollte nicht an ein Alter gebun<strong>de</strong>n<br />
sein, son<strong>de</strong>rn ein ständiger und gegenseitiger Prozeß - weitgehend selbstbestimmt und ›lebenslänglich‹,<br />
wenn es gewünscht wäre. Die Lerninhalte dürften nicht starr und für alle gleich sein, son<strong>de</strong>rn müßten sich<br />
nach <strong>de</strong>n individuellen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Talenten eines je<strong>de</strong>n Menschen richten. An erster<br />
Stelle stün<strong>de</strong>n nicht Leistungsdruck und Erfolg, die alle Menschen in die gleichen Formen pressen, die<br />
eine industrielle Leistungsgesellschaft so gut gebrauchen kann, son<strong>de</strong>rn die Talente und Vorlieben eines<br />
je<strong>de</strong>n – gleichgültig, ob intellektuell, handwerklich o<strong>de</strong>r musisch. Leistung, so die Anarchisten, erbringen<br />
Menschen viel lieber freiwillig und viel besser in <strong>de</strong>n Bereichen, für die sie begabt sind. Auch die<br />
Grenzen zwischen Lehren<strong>de</strong>n und Lernen<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n in Frage gestellt. Schüler sollten <strong>de</strong>n Unterricht<br />
genauso mitbestimmen und mitgestalten wie Lehrer.<br />
Das sind so weitreichen<strong>de</strong> und umwälzen<strong>de</strong> For<strong>de</strong>rungen, daß es angebracht erscheint, das Ganze gar<br />
nicht mehr ›Erziehung‹ o<strong>de</strong>r ›Pädagogik‹ zu nennen. Bildung, gegenseitiges Lernen o<strong>de</strong>r lernen<strong>de</strong>s Leben<br />
wären treffen<strong>de</strong>re Bezeichnungen. Das Ziel anarchistischer Bildung besteht schließlich darin, die<br />
künstliche Trennung zwischen Leben und Lernen aufzuheben; letztendlich soll dadurch einmal die<br />
›Institution Schule‹ – zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>r Form, wie wir sie kennen – überflüssig wer<strong>de</strong>n.<br />
47<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Zunächst einmal galt es aber, praktische Alternativen im Alltag aufzuzeigen. Und da gab es vor hun<strong>de</strong>rt
Jahren sehr handfeste Aufgaben. In einer Zeit, als Kin<strong>de</strong>r zu glühen<strong>de</strong>n Patrioten abgerichtet o<strong>de</strong>r zu<br />
gläubigen Katholiken geprügelt wur<strong>de</strong>n, war es schon ein enormer Fortschritt, wenn Unterricht<br />
rationalistisch*, frei von Religion, Rassismus, Nationalismus und Schlägen war. Wenn Kin<strong>de</strong>r ernst<br />
genommen wur<strong>de</strong>n und sich im Unterricht einbringen durften. Und wenn die Schule nicht nur <strong>de</strong>n<br />
Reichen offenstand.<br />
Leo Tolstoi, <strong>de</strong>r ›religiöse Anarchist‹, grün<strong>de</strong>t bereits 1859 die Schule von Jasnaja Poljana und gilt als<br />
Pionier <strong>de</strong>r libertären Pädagogik. Zum ersten Mal in großem Stil wer<strong>de</strong>n solche I<strong>de</strong>en jedoch in <strong>de</strong>r<br />
Bewegung <strong>de</strong>r ›freien Schulen‹ verwirklicht, die <strong>de</strong>r spanische Pädagoge Francisco Ferrer 1901 mit <strong>de</strong>r<br />
Gründung <strong>de</strong>r Escuela Mo<strong>de</strong>rna in Barcelona beginnt. Diese Art anarchistischer Schulen breiten sich in<br />
Spanien rasch aus und entstehen bald auch im Ausland. Zum ersten Male wer<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r systematisch <strong>de</strong>r<br />
Erziehung von Staat und Kirche entzogen. Die spanische Regierung muß Ferrers Schulwerk als ernste<br />
Bedrohung aufgefaßt haben, <strong>de</strong>nn 1909 wird <strong>de</strong>r fünfzigjährige Pädagoge aufgrund konstruierter<br />
Anschuldigungen vor Gericht gestellt. Man wirft ihm die ›geistige Urheberschaft‹ eines militanten<br />
Generalstreiks vor und verurteilt ihn in einem haarsträuben<strong>de</strong>n Prozeß zum To<strong>de</strong>. Die Vermutung, das<br />
Erziehungsmonopol sei ein wun<strong>de</strong>r Punkt <strong>de</strong>s Staates, hatte sich auf tragische Weise bestätigt ...<br />
Siebenundzwanzig Jahre nach Ferrers Hinrichtung sollte seine I<strong>de</strong>e einen späten Triumph feiern:<br />
Während <strong>de</strong>r spanischen Revolution gab es in manchen Provinzen <strong>de</strong>r Halbinsel mehr ›freie Schulen‹ als<br />
staatliche. Der neue Schultyp erwies sich hierbei als sehr attraktiv und erfolgreich.<br />
Die libertäre Pädagogik ist nicht bei Tolstoi und Ferrer stehengeblieben. Nicht nur die Zahl praktischer<br />
Versuche wuchs, auch die Inhalte und erzieherischen Konzepte wan<strong>de</strong>lten sich. Alice und Otto Rühle,<br />
Alexan<strong>de</strong>r S. Neill, Ivan Illich, João Freire o<strong>de</strong>r Joel Spring sind nur einige <strong>de</strong>r radikalen<br />
Erziehungskritiker und Schulpioniere, die auf <strong>de</strong>r libertären Tradition aufbauen konnten. Einiges von<br />
<strong>de</strong>m, was Ferrer - umwälzend für seine Zeit - for<strong>de</strong>rte, existiert heute sogar, zumin<strong>de</strong>st theoretisch, in<br />
vielen Schulen staatlicher Erziehungssysteme. Dabei sollte es ja nur ein Anfang sein. Wenngleich heute<br />
die Erfahrung größer, das Wissen über Lernpsychologie tiefer und die Experimente vielfältiger sind als<br />
vor hun<strong>de</strong>rt Jahren, ist doch das Ziel das gleiche geblieben: menschliche, freie Alternativen zum<br />
herkömmlichen Bildungssystem aufzubauen, in <strong>de</strong>nen selbstbestimmtes Lernen ohne Zwang und<br />
Hierarchie möglich wird. Längst ist diese Vorstellung von Erziehung keine anarchistische Domäne*<br />
mehr, was gewiß kein Scha<strong>de</strong>n ist. Vermutlich wissen die wenigsten Menschen, die heute freie Schulen<br />
aufbauen, um die libertären Wurzeln dieser Art von Pädagogik. Das Etikett tut auch wenig zur Sache,<br />
solange die Inhalte stimmen.<br />
Geblieben aber sind die Schwierigkeiten. Zwar wer<strong>de</strong>n Alternativpädagogen heute nicht mehr erschossen,<br />
aber nach wie vor reagiert <strong>de</strong>r Staat empfindlich, wenn Menschen versuchen, Kin<strong>de</strong>r seinem<br />
Erziehungsmonopol zu entziehen. Freie Schulformen wie etwa Summerhill in England o<strong>de</strong>r Tvind in<br />
Dänemark bleiben seltene und ständig bedrohte Ausnahmen, und überall in <strong>de</strong>r Welt wer<strong>de</strong>n weniger<br />
berühmte Schulen mißtrauisch<br />
48<br />
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beäugt, verfolgt o<strong>de</strong>r geschlossen. Beson<strong>de</strong>rs in Deutschland: Bei uns bewegt sich die Gründung einer<br />
freien Schule immer noch hart am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Kriminalität. Es liegt mit Sicherheit nicht an mangeln<strong>de</strong>m<br />
Interesse bei Eltern und Kin<strong>de</strong>rn, daß es hierzulan<strong>de</strong> gera<strong>de</strong> mal ein halbes Dutzend solcher Einrichtungen<br />
gibt.<br />
Die freie Vereinbarung<br />
Grundmuster <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n hier gezeigten Beispiele und vieler weiterer, die noch dargestellt wer<strong>de</strong>n könnten,<br />
ist die freie Vereinbarung. Was heißt das?<br />
Zunächst einmal, daß Menschen einan<strong>de</strong>r ernst nehmen. Sie erkennen an, daß je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re auch einen<br />
Willen hat, Interessen, Neigungen und Wünsche. Treten Menschen in Verbindung, müssen sich auch
diese Interessen verbin<strong>de</strong>n. Entwe<strong>de</strong>r, sie passen zusammen o<strong>de</strong>r nicht. Demzufolge gibt es dann eine<br />
Verbindung o<strong>de</strong>r eben keine. Manchmal passen sie auch nur ein wenig zusammen. Dann gibt es eine<br />
weniger intensive Verbindung – man nennt das auch Kompromiß –, o<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong> verzichten auf<br />
Gemeinsames. In<strong>de</strong>m aber Menschen zusammenkommen, gibt es Austausch. Erfahrungen wer<strong>de</strong>n<br />
gemacht, Lernprozesse fin<strong>de</strong>n statt, Meinungen können sich än<strong>de</strong>rn. Freiwillig, also selbstbestimmt und<br />
nicht – wie heute allgemein üblich – fremdbestimmt durch Vorschriften, Gesetze, Religion o<strong>de</strong>r<br />
moralischen Druck.<br />
Für Anarchisten gibt es keine gesun<strong>de</strong> Beziehung zwischen Menschen, wenn sie aus Zwang entsteht –<br />
we<strong>de</strong>r zwischen Frau und Mann, zwischen Schüler und Lehrer noch sonstwo. Der Mensch tue das am<br />
besten, wovon er überzeugt ist.<br />
So einfach ist die Grundi<strong>de</strong>e vom selbstbestimmten Han<strong>de</strong>ln und doch so an<strong>de</strong>rs als die Handlungsmuster<br />
<strong>de</strong>r gegenwärtigen Gesellschaften: Soziale Vereinbarungen, die unser heutiges Leben bestimmen, sind<br />
we<strong>de</strong>r frei noch recht eigentlich Vereinbarungen. Wir sind alle ungefragt <strong>de</strong>n selben Gesetzen<br />
unterworfen, die wir nicht gemacht haben. Hätten wir sie gemacht, wür<strong>de</strong>n wir sie wohl eher befolgen.<br />
Hätten wir uns an<strong>de</strong>re, bessere Regeln gegeben, die unseren Bedürfnissen mehr entsprechen, wären wir<br />
töricht, wenn wir überhaupt gegen sie verstießen.<br />
Dieses typisch anarchistische Credo vom selbstbestimmten Han<strong>de</strong>ln führt, wenn zwei o<strong>de</strong>r mehr<br />
Menschen an ihr beteiligt sind, zu einer freien Vereinbarung. Diese kann kurzfristig sein o<strong>de</strong>r ewig - und<br />
natürlich kann sie sich auch wan<strong>de</strong>ln. Sind viele Menschen an einer solchen Vereinbarung beteiligt,<br />
entsteht ein contrat social, ein "Gesellschaftsvertrag" auf Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit. So<br />
entwickeln sich an-archische Gesellschaften. Verschie<strong>de</strong>ne an-archische Gesellschaften können sich<br />
fö<strong>de</strong>rieren, und bil<strong>de</strong>n ein Netz1; verschie<strong>de</strong>ne Netze können nebeneinan<strong>de</strong>r bestehen.<br />
"Freie Liebe" und "freie Schule" sind nur zwei Beispiele freier Vereinbarung auf unterster Ebene. An<br />
ihnen sind wenig Menschen beteiligt - zwischen zwei und zweihun<strong>de</strong>rt. Das wäre noch keine an-archische<br />
Gesellschaft. Die müßte man sich als ein Puzzle aus vielen solcher Teilbereiche vorstellen, die in ihrer<br />
Gesamtheit die Vielfalt unseres Lebens ab<strong>de</strong>cken.<br />
1) Siehe Kapitel 12!<br />
49<br />
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Nach anarchistischer Auffassung bleibt dabei die selbstbestimmte freie Vereinbarung stets Grundmuster<br />
aller gesellschaftlichen Beziehungen: Egal, ob wir nun einen Handwerksbetrieb organisieren, weltweit<br />
gegen eine ökologische Katastrophe agieren, ob wir uns ineinan<strong>de</strong>r verlieben o<strong>de</strong>r einen<br />
Eisenbahnfahrplan aufstellen, ein Haus bauen, Kin<strong>de</strong>r aufziehen, ein Weizenfeld bestellen, Streit<br />
schlichten, in Urlaub fahren o<strong>de</strong>r eine Stadt sanieren – wenn dies nicht freiwillig und selbstbestimmt<br />
geschehe, wer<strong>de</strong> mit Sicherheit niemals das erreicht, was letztendlich Ziel je<strong>de</strong>r anarchistischen Utopie<br />
ist: frei zu leben.<br />
Literatur: Emma Goldman, Ma<strong>de</strong>leine Vernet u.a.: Die Freie Liebe Frankfurt a.M. o.J. (1974?), Freie<br />
Gesellschaft, 92 S. / Emma Goldman: Geleites Leben (Memoiren, 3 B<strong>de</strong>.) Berlin 1978 -1980, Karin<br />
Kramer, 1170 S,, ill. / Candace Falk: Liebe und Anarchie & Emma Goldman Berlin 1987, Karin Kramer,<br />
360 S. / Michail Bakunin: Die vollständige Ausbildung Köln 1976, Heinzelpress, 25 S. / Leo Tolstoi: Die<br />
Schule von Jasnaja Poljana Wetzlar 1980, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 155 S. / Ulrich Klemm (Hrsg.): Leo<br />
Tolstoi über Volksbildung Berlin 1985, Zehrling, 84 S. / Francisco Ferrer: Die freie Schule Berlin 1975,<br />
Karin Kramer, 187 S. / Pierre Ramus: Francisco Ferrer, sein Leben und sein Werk Paris 1910, Die Freie<br />
Generation, 112 S. / Ulrich Klemm (Hrsg.): Anarchismus und Pädagogik Frankfurt a.M. 1991, dipa, 251<br />
S. / <strong>de</strong>rs.: Anarchistische Pädagogik Siegen 1984, Winddruck, 111 S., ill. / Anarchismus und Schule<br />
(Werkstattbericht, 2 B<strong>de</strong>.) Grafenau 1985 /1988, Trotz<strong>de</strong>m, 165 /170 S. / Kerstin Steinicke: Erziehung<br />
und Bildung ohne Herrschaft Frankfurt a.M. 1995, F.A.U. Ffm., 87 S. / Otto Rühle: Erziehung zum
Sozialismus Berlin 1919, Gesellschaft und Erziehung, 64 S. /Alexan<strong>de</strong>r S. Neill: Theorie und Praxis <strong>de</strong>r<br />
antiautoritären Erziehung Reinbek 1969, Rowohlt, 338 S. / Rainer Nitsche, Ulli Rothaus: Offene Türen<br />
und an<strong>de</strong>re Hin<strong>de</strong>rnisse - Erfahrungen einer selbstverwalteten Schule Darmstadt 1981, Luchterhand / Paul<br />
Goodman: Das Verhängnis <strong>de</strong>r Schule Frankfurt a.M. 1975, Fischer, 128 S. / Peter Kropotkin: Die freie<br />
Vereinbarung Wetzlar 1972, An- Archia, 20 S./ Hans-Jürgen Degen (Hrsg.) Tu was Du willst Berlin<br />
1987, Schwarzer Nachtschatten, 270 S. / William O. Reichert: Anarchismus, Freiheit und Macht Siegen<br />
1983, Winddruck, 43 S.<br />
Kapitel 11<br />
Kunst, Kultur, Lebensart<br />
Unter allen schönen Künsten ist die Lebenskunst<br />
die schönste und schwierigste.<br />
- Jules Romains -<br />
LEBENDIGE ANARCHIE IST KEIN NEUES REGELWERK, son<strong>de</strong>rn eine I<strong>de</strong>e, das Leben freier zu<br />
gestalten. Leben aber ist nicht etwa nur essen, schlafen, wohnen, Arbeit o<strong>de</strong>r soziale Organisation. Leben<br />
ist allumfassend, bunt, vielfältig, kreativ*, chaotisch1. So sollte es nach anarchistischer Meinung<br />
je<strong>de</strong>nfalls sein. Wenn heutzutage das Leben <strong>de</strong>r meisten Menschen nicht allumfassend, bunt, vielfältig,<br />
kreativ und chaotisch ist, so ist das kaum ein Zufall, son<strong>de</strong>rn gewollt.<br />
Illusion als Ware<br />
Chaos, Vielfalt und Kreativität können für eine mo<strong>de</strong>rne Industriegesellschaft gefährlich sein. Darum<br />
wer<strong>de</strong>n Menschen in ihr nivelliert*. Ihre Kreativität wird ihnen abgekauft, auf <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r Produktion<br />
gelenkt und zum Beispiel <strong>de</strong>r Firma nutzbar gemacht. (Dabei spielt es keine Rolle, ob diese ›Firma‹ nun<br />
Aluminiumfelgen, Theaterinszenierungen, Babynahrung, Waffen o<strong>de</strong>r Kunstausstellungen ›produziert‹.)<br />
Was dann als Wunsch nach Bunt-<br />
1) Zur Verwendung <strong>de</strong>s Begriffes Chaos in diesem Buch vergleiche Kapitel 13!<br />
50<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
heit und Vielfalt noch übrig bleibt, wird über Mo<strong>de</strong>n, Trends o<strong>de</strong>r Zeitgeist-Epi<strong>de</strong>mien kanalisiert. Hierzu<br />
muß es konsumierbar gemacht und angeboten wer<strong>de</strong>n. Normalerweise reicht dazu <strong>de</strong>r Fernseher, in<br />
hartnäckigen Fällen muß schonmal ein Open-Air, ein Abenteuerurlaub o<strong>de</strong>r ein neues Cabriolet herhalten.<br />
All das kann man in Agenturen kaufen, buchen, or<strong>de</strong>rn, bestens geschmiert vom Gleitmittel ›Werbung‹.<br />
Ein kluges System, vor allem <strong>de</strong>shalb, weil die Nivellierten ihre Nivellierung kaum bemerken. Geschickt<br />
wird ihnen die Illusion belassen, sie seien tatsächlich kreativ, wo sie doch in Wirklichkeit vorgefertigte<br />
Ware konsumieren. Illusion, die man kaufen kann.<br />
Je<strong>de</strong>r Mensch ein Künstler?<br />
Der Wert, <strong>de</strong>n Kunst, Kultur und Lebensart in einer Gesellschaft anstelle von Konsum einnehmen, ist ein<br />
Gradmesser für Freiheit, <strong>de</strong>nn künstlerische Verwirklichung erfor<strong>de</strong>rt Kreativität, und Kreativität braucht<br />
<strong>de</strong>n Freiraum. Es verwun<strong>de</strong>rt daher nicht, daß im anarchistischen Denken – vor allem aber im<br />
anarchistischen Leben – Kunst, Kreativität und schöpferische Verwirklichung eine große Rolle spielen.<br />
Nicht in <strong>de</strong>m Sinne, daß es etwa eine anarchistische Kunsttheorie gäbe (es gibt, wen sollte es wun<strong>de</strong>rn,<br />
mehrere) o<strong>de</strong>r gar eine bestimmte anarchistische Kunstrichtung. Vielmehr ist die spontane
Verwirklichung schöpferischer I<strong>de</strong>en an sich ein logischer Bestandteil <strong>de</strong>r Anarchie. Und nichts an<strong>de</strong>res<br />
ist schließlich die Grundlage von ›Kunst‹. Da Anarchisten die spontane Selbstverwirklichung <strong>de</strong>s<br />
Menschen in allen Lebensbereichen for<strong>de</strong>rn, zielt ihr Lebensentwurf darauf ab, die Grenzen zwischen<br />
›Kunst‹ und ›Leben‹ aufzubrechen, ebenso wie die aka<strong>de</strong>mischen Grenzen zwischen verschie<strong>de</strong>nen<br />
›Kunstgattungen‹. Kreativität, so behaupten sie, sei zum Leben so wichtig wie Brot.<br />
Bei Anarchisten darf je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r mag, ›Künstler‹ sein, und allen an<strong>de</strong>ren ist es freigestellt, die<br />
künstlerischen Produkte zu mögen o<strong>de</strong>r nicht. Eine solche Auffassung zielt natürlich gegen einen elitären<br />
Kunstbegriff, <strong>de</strong>r von Kulturhistorikern, Galeristen, Profis und Kunstkritikern festgelegt wird. Uns<br />
interessiert hier aber nicht die Kunst als hochbezahltes Produkt <strong>de</strong>r Warengesellschaft, ebensowenig die<br />
gefällige Ästhetik <strong>de</strong>r happy few*, mit <strong>de</strong>nen sie die Welt in zwei Bereiche teilen: in das, was ›kulturell‹<br />
ist und was es nicht ist. O<strong>de</strong>r: in Unwürdige und Menschen, die ein Anrecht auf Kultur haben.<br />
Das be<strong>de</strong>utet keineswegs, daß Kunst ein Einheitsmatsch ohne Platz für geniale Begabungen o<strong>de</strong>r auch<br />
Berufskünstler wer<strong>de</strong>n soll – im Gegenteil: ein freier Rahmen ist nach anarchistischem Verständnis<br />
gera<strong>de</strong> die Voraussetzung für die ungebremste Entfaltung von Talenten. Heute hingegen diktiert <strong>de</strong>r<br />
Kunstmarkt, und was sich in ihm nicht durchsetzt, wird in aller Regel auch nicht anerkannt. Kunst und<br />
Kultur sind im Grun<strong>de</strong> Waren. Das führt fast immer zu einer Art Prostitution* <strong>de</strong>r Künstler an <strong>de</strong>n Markt<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Marktes an aktuelle Kunstmo<strong>de</strong>n. Einigen wenigen Künstlern beschert dieses System unerhörte<br />
Karrieren, <strong>de</strong>n großen Rest verurteilt es zur armseligen Ran<strong>de</strong>xistenz.<br />
In <strong>de</strong>r anarchistischen Vision wird Kunst im besten Sinne <strong>de</strong>s Wortes ›alltäglich‹. In <strong>de</strong>r libertären<br />
I<strong>de</strong>algesellschaft gibt je<strong>de</strong>r nach seinen Fähigkeiten und je<strong>de</strong>r nimmt nach seinen<br />
51<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Bedürfnissen. Der Mensch hätte also ein Anrecht auf Leben und wirtschaftliches Auskommen. Da<br />
Künstler ja auch (nur) Menschen sind, könnten sie frei und ohne wirtschaftliche Sorgen tätig sein. Es<br />
müßte we<strong>de</strong>r die Prostitution an <strong>de</strong>n Markt geben noch das systemkonforme* Auftragsschaffen, wie wir<br />
es aus <strong>de</strong>n untergegangenen ›realsozialistischen‹ Län<strong>de</strong>rn kannten - ein Phänomen, das uns in Literatur,<br />
bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Kunst, Musik und Drama <strong>de</strong>n unerträglichen Monumentalkitsch <strong>de</strong>s "sozialistischen Realismus"<br />
bescherte, an <strong>de</strong>m ›die Massen‹ wie an Ikonen* vorbei<strong>de</strong>filieren durften.<br />
Kunst und Anarchie<br />
Kein Wun<strong>de</strong>r, daß sich schon früh immer wie<strong>de</strong>r Künstler zum Anarchismus hingezogen fühlten. Sie<br />
haben ihn entschei<strong>de</strong>nd mitgeprägt. Dabei ist auch hier die Frage, ob diese sich nun als ›Anarchisten‹<br />
bezeichneten o<strong>de</strong>r bloß ›an-archisch‹ han<strong>de</strong>lten unerheblich. Das Spektrum* von Künstlern und Anarchie<br />
ist ein großes Durcheinan<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rsprüchlicher und gegensätzlicher Formen und steht für ein Verhältnis<br />
von Spannungen und gegenseitiger Inspiration, prall und verrückt wie das Leben. So unterschiedliche<br />
Namen wie Richard Wagner und John Cage, Heinrich Böll und Joseph Beuys, Oscar Wil<strong>de</strong>, George-<br />
Bernhard Shaw und Percy Shelley, Leo Tolstoi und Dario Fo, Rainer-Werner Fassbin<strong>de</strong>r und George<br />
Orwell, Walt Whitman und Ralph Waldo Emerson, Judith Malina und Traven, Franz Kafka, Jaroslav<br />
Hasek, Erich Mühsam und Georges Tabori, Konstantin Wecker und Jörge Luis Borges, Theodor Plivier,<br />
Peggy Parnass, Herbert Grönemeyer, Stephan Mallarme, Gustave Courbet, Rimbaud, Hans-Magnus<br />
Enzensberger, Ricarda Huch, Rio Reiser, Monika Maron, Leo Malet, Peter Härtling, Lina Wertmüller<br />
und... und... und... machen <strong>de</strong>utlich, daß es in diesem ›Spektrum‹ we<strong>de</strong>r um ein Glaubensbekenntnis noch<br />
um eine irgendwie geartete ›gemeinsame Linie‹ gehen kann und soll. Sie alle haben jedoch etwas mit<br />
Anarchie zu tun. Manche bezeichneten sich als Anarchisten, an<strong>de</strong>re verhielten sich so, wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re<br />
sympathisierten mit anarchistischen I<strong>de</strong>en und viele <strong>de</strong>r genannten setzten sich künstlerisch mit <strong>de</strong>r<br />
Anarchie auseinan<strong>de</strong>r.<br />
Obgleich Kunst und Anarchie so eng miteinan<strong>de</strong>r verquickt sind, hat es <strong>de</strong>nnoch keinen ›eigenen‹<br />
anarchistischen Kunststil gegeben. Das wäre auch paradox. Aber zahlreiche kulturelle Bewegungen, Stile
und Gruppierungen wur<strong>de</strong>n nachhaltig von Anarchisten o<strong>de</strong>r libertären I<strong>de</strong>en geprägt und fan<strong>de</strong>n zu<br />
durchaus eigenständigen, an-archischen Ausdrucksformen. Zu nennen wären hier französische<br />
Avantgardisten und Nachimpressionisten <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> wie Signac, Pissarro, Mirbeau, Tailha<strong>de</strong>,<br />
Seurat und Feneon o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kreis <strong>de</strong>r politisieren<strong>de</strong>n britischen Werkkunst-Designer um William Morris.<br />
Ebenso <strong>de</strong>r Dadaismus in <strong>de</strong>n zwanziger Jahren, <strong>de</strong>r Literatur, Theater und bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kunst umfaßte und<br />
aktionsorientierte Formen hervorbrachte, die wir heute ›Performance‹ nennen wür<strong>de</strong>n. Der bildnerische,<br />
filmische und literarische Expressionismus war traditionell eine anarchistische Domäne, ebenso wie in<br />
<strong>de</strong>r Gegenwartsmusik etwa <strong>de</strong>r Free-Jazz o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r politische Punk. Das beinhaltet keineswegs eine<br />
Geschmacksdiktatur – Anarchisten können sich genausogut für Klassik o<strong>de</strong>r Folklore begeistern und<br />
Punkmusik abscheulich fin<strong>de</strong>n –,<br />
52<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
son<strong>de</strong>rn eine große Offenheit gegenüber künstlerischen Ausdrucksformen. In <strong>de</strong>r bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Kunst weisen<br />
<strong>de</strong>r Surrealismus und <strong>de</strong>r art brut ebenso anarchistische Prägungen auf wie beispielsweise <strong>de</strong>r<br />
Konstruktivismus bei <strong>de</strong>n "Kölner Progressiven" in <strong>de</strong>r Weimarer Ära o<strong>de</strong>r stilistisch so unterschiedlich<br />
arbeiten<strong>de</strong> Künstler wie Enrico Baj, Flavio Constantini o<strong>de</strong>r Gerd Arntz. Sie alle eint nicht etwa ein<br />
gleicher Kunststil, son<strong>de</strong>rn ein ähnliches Kunstverständnis, <strong>de</strong>ssen Ausgangspunkte Freiheit, Experiment<br />
und Revolte sind. Die Werke von Gustave Courbet und Joseph Beuys sind kaum zu vergleichen, ihre<br />
Lebenseinstellungen sehr wohl. Gleiches gilt fürs Theater o<strong>de</strong>r Kino, wo die Arbeiten von Dario Fo,<br />
Franca Rame, Julian Beck und Georges Tabori äußerlich ebensowenig eine Einheit bil<strong>de</strong>n wie etwa die<br />
Filme von Rainer-Werner Fassbin<strong>de</strong>r, Lina Wertmüller o<strong>de</strong>r Jean Vigo. Formale Gemeinsamkeit braucht<br />
man da nicht zu suchen – sie läßt sich in <strong>de</strong>r Musik nicht zwischen John Cage und Konstantin Wecker<br />
fin<strong>de</strong>n, und in <strong>de</strong>r Literatur nicht zwischen Traven und Tolstoi.<br />
Der Anarchismus ›besitzt‹ also keine Kunstrichtung, er ist Kunst, in einer allumfassen<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utung.<br />
"Allumfassen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung" – das heißt auch, daß Kunst das Leben erfassen und durchziehen soll, damit<br />
so eine neue Kultur entsteht – eine Lebensart. Gemeint ist nicht snobistischer ›Lifestyle‹, <strong>de</strong>r an teure<br />
Accessoires gebun<strong>de</strong>n ist, die einen bestimmten Status* symbolisieren sollen, son<strong>de</strong>rn ein ›savoir vivre‹*<br />
unabhängig vom Geld. Das be<strong>de</strong>utet Abschied von reiner ›Erbauungskunst‹, ein Ausbrechen aus <strong>de</strong>n<br />
Ghettos von Museen, Galerien und Musentempeln. Das Leben selbst wür<strong>de</strong> zu einem ›Kunstwerk‹:<br />
Kunst, Alltag, Freu<strong>de</strong>, Protest, Genuß, Provokation, Spontaneität, Kreation und Kommunikation gingen<br />
eine kaum noch entwirrbare Verbindung ein, die in <strong>de</strong>r Lage wäre, Grenzen zu sprengen. Grenzen<br />
zwischen Menschen, Grenzen zwischen Lebensbereichen, Grenzen in Bewußtsein, Wahrnehmung und<br />
Ausdruckskraft.<br />
Im anarchistischen Milieu hat es immer wie<strong>de</strong>r Ansätze einer solchen libertären Kultur gegeben, die stets<br />
die Trennungen zwischen Kunst, Arbeit, Politik und Leben überschritten. Hier wäre die radikale Boheme<br />
Mitteleuropas mit ihrer typischen Szene von Kaffeehäusern, Ateliers und Kabaretts etwa in Paris, Berlin,<br />
Wien und Prag zu nennen, ebenso wie die proletarisch geprägte Bewegung <strong>de</strong>r ›Arbeiterkultur‹ im<br />
Umfeld kämpferischer Gewerkschaften mit seinen Theatern, seiner Literatur und Musik.<br />
Ein beson<strong>de</strong>rs bemerkenswertes Beispiel solch bunter Lebensart ist die als ›Künstlerkolonie‹ bekannt<br />
gewor<strong>de</strong>ne Siedlung Monte Verità, <strong>de</strong>ren Blütezeit vor <strong>de</strong>m ersten Weltkrieg lag. Auf diesem "Berg <strong>de</strong>r<br />
Wahrheit" in <strong>de</strong>r Südschweiz lebten Menschen, die gleichzeitig Handwerker und Künstler, Philosophen<br />
und Arbeiter, Revolutionäre und ›Unternehmer‹ waren. Anarchistische und kommunitäre I<strong>de</strong>en haben das<br />
Erscheinungsbild dieser Siedlung geprägt, <strong>de</strong>ren Wurzeln bis zu Bakunin reichen, <strong>de</strong>r sich in seinen<br />
letzten Lebensjahren im Tessin nie<strong>de</strong>rließ. Und natürlich gab sich alles, was damals in Revolutions- und<br />
Künstlerkreisen einen Namen hatte, hier ein Stelldichein, um sich von einer Lebensart<br />
53
--------------------------------------------------------------------------------<br />
inspirieren zu lassen, in <strong>de</strong>r sich Wi<strong>de</strong>rsprüchliches zu einer an-archischen Symbiose von Kunst, Kultur<br />
und Leben verdichtete. – Fast das verkleinerte Abbild einer libertären Gesellschaft, eine Mischung aus<br />
Ernst und Freu<strong>de</strong>, Genuß und Askese, Plan und Verrücktheit. Eben: Lebensart.<br />
Literatur: Anarchismus in Kunst und Politik (Anthologie) Ol<strong>de</strong>nburg 1985, Universität Olb., 200 S. /<br />
Peter Heintz: Anarchistische Kunst in: Anarchismus und Gegenwart Berlin 1975, Karin Kramer, 159 S. /<br />
Rainer Mansfeld: Kunstspektakel, Anarchismus und politische Kunst heute in: Unter <strong>de</strong>m Pflaster liegt<br />
<strong>de</strong>r Strand Bd. 3, Berlin 1980, Karin Kramer, 191 S. / Herbert Read: Formen <strong>de</strong>s Unbekannten Zürich<br />
1963, Rhein-Vlg., 335 S., ill. / <strong>de</strong>rs.: The Meaning of Art London 1951, Faber & Faber, 224 S., ill. / <strong>de</strong>rs.:<br />
Arte, Poesia, Anarquismo Buenos Aires 1962, Reconstruir, 95 S. / <strong>de</strong>rs.: Al diabolo con la culturat<br />
Buenos Aires 1974, Proyecciön, 196 S. / Andre Reszler: La estética anarquista Mexiko-Stadt 1974, Fondo<br />
Cultura Económica, 138 S. / <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: Von <strong>de</strong>r Subkultur zur Gegenkultur in: Viva l'Anarchia -<br />
Bil<strong>de</strong>r anarchistischer Lebenskultur Neustadt/Wstr. 1992, An-Archia / H. U, Dohmen: Das Gesetz <strong>de</strong>r<br />
Welt ist die Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Welt - die rheinische Gruppe progressiver Künstler (1918-1933) Berlin 1976,<br />
Karin Kramer, 270 S., ill. / Imke Buchholz, Judith Malina: Living Theater heißt Leben München 1978,<br />
Trikont, 170 S., ill. / Monte Verità - Berg <strong>de</strong>r Wahrheit (Katalog) Berlin 1978, Aka<strong>de</strong>mie <strong>de</strong>r Künste, 191<br />
S., ill.<br />
54<br />
Kapitel 12<br />
Small is beautiful – die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Vernetzung<br />
Zum an<strong>de</strong>ren zeigt sich ein weiteres Phänomen in <strong>de</strong>r Entstehung vielfältigster Organisationen,<br />
die <strong>de</strong>n Menschen helfen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen (...)<br />
Dieses Phänomen ist zwar gegenwärtig nur in beschei<strong>de</strong>nen Ansätzen sichtbar,<br />
wird aber auf Dauer die Staatsmacht untergraben.<br />
Ja, ich <strong>de</strong>nke, es gibt Grund zu hoffen!<br />
– Noam Chomsky –<br />
DIE MEISTEN MENSCHEN BEFÄLLT DIE KALTE ANGST, wenn sie versuchen, sich Anarchie<br />
praktisch vorzustellen. Selbst, wenn sie anarchistische I<strong>de</strong>en durchaus sympathisch fin<strong>de</strong>n, bleibt es<br />
schwer vorstellbar, wie an-archische Strukturen die vielfältigen Aufgaben einer Massengesellschaft<br />
bewältigen sollten. Die ängstliche Frage lautet meist: "Wie wür<strong>de</strong>n anarchistische Organisationsformen<br />
<strong>de</strong>nn aussehen und können sie überhaupt funktionieren? Müßten wir dann nicht verhungern? Wür<strong>de</strong> die<br />
Welt nicht im Chaos untergehen?"<br />
Legitime Fragen, und Anarchisten täten gut daran, sie ernst zu nehmen. Oft neigen sie dazu, sich über die<br />
verängstigten Fragesteller lustig zu machen. Das hilft aber nicht.<br />
Eine an<strong>de</strong>re Struktur<br />
Es wäre unfair, von heutigen Anarchisten genaue Pläne davon zu verlangen, wie alle Funktionen einer<br />
libertären Gesellschaft im Detail aussehen und funktionieren sollen. Ganz abgesehen davon, daß sie das<br />
aus guten Grün<strong>de</strong>n auch gar nicht wollen wür<strong>de</strong>n1, wäre dies ebenso grotesk, wie wenn man etwa von <strong>de</strong>n<br />
Vorkämpfern <strong>de</strong>r Französischen Revolution o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Schöpfern <strong>de</strong>r amerikanischen Verfassung im 18.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rt verlangt hätte<br />
1) Siehe Kapitel 4<br />
54
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vorauszusagen, wie in unseren republikanisch-<strong>de</strong>mokratischem Gesellschaften heute das Postwesen, die<br />
Arbeitslosenversicherung o<strong>de</strong>r die Güterproduktion funktionieren solle.<br />
Am Beginn einer je<strong>de</strong>n umwälzen<strong>de</strong>n gesellschaftlichen I<strong>de</strong>e steht eine neue Struktur, die sich erst in <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Realität mit Inhalten füllt. Das ist beim Anarchismus nicht an<strong>de</strong>rs. An<strong>de</strong>rs ist, daß sich<br />
libertäre Strukturen von <strong>de</strong>n herkömmlichen grundlegend unterschei<strong>de</strong>n, und daß sie in einen Prozeß<br />
mün<strong>de</strong>n sollen, <strong>de</strong>r niemals in einer neuen, starren Struktur sein En<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>n darf: Libertäre Gesellschaft<br />
ist wan<strong>de</strong>lbar und vielfältig, <strong>de</strong>r Weg ist gleichzeitig auch Ziel.<br />
Die grundlegen<strong>de</strong> Struktur <strong>de</strong>s anarchistischen Gesellschaftsmo<strong>de</strong>lls ist eine Vernetzung von kleinen<br />
Einheiten.<br />
Menschen i<strong>de</strong>ntifizieren sich mit Dingen, die sie überschauen und verstehen. Je größer und<br />
unüberschaubarer gesellschaftliche Zusammenhänge sind, <strong>de</strong>sto größer wird die Entfremdung zwischen<br />
Institution und Mensch. Unsere heutigen Systeme versuchen, solche Entfremdung zu neutralisieren,<br />
in<strong>de</strong>m sie Eliten schaffen, <strong>de</strong>ren Wirken in <strong>de</strong>n meisten Län<strong>de</strong>rn scheinbar legitimiert ist, weil die<br />
Delegation von Macht durch Wahlen erfolgt. Die Probleme, die aus <strong>de</strong>r Entfremdung erwachsen, kriegen<br />
sie damit allerdings nicht in <strong>de</strong>n Griff, sie verwalten sie nur.<br />
Eliten bin<strong>de</strong>n Macht, bil<strong>de</strong>n Hierarchien, genießen Privilegien und entschei<strong>de</strong>n letztlich über das<br />
Schicksal aller Menschen. Der Blick in eine beliebige Tageszeitung wird uns davon überzeugen, daß sie<br />
das nicht einmal sehr erfolgreich tun. Eine solche Gesellschaft wi<strong>de</strong>rspricht in wesentlichen Punkten <strong>de</strong>r<br />
anarchistischen Vorstellung von Freiheit. Es ist eine Gesellschaft, an <strong>de</strong>r die meisten Menschen nicht<br />
teilnehmen. Also muß eine anarchistische Gesellschaft Strukturen bieten, an <strong>de</strong>r möglichst viele<br />
Menschen teilnehmen. Dies wäre gegeben, wenn die Teilnahme einfach ist und letztlich sogar Freu<strong>de</strong><br />
bereitete, <strong>de</strong>nn aktives Mitmachen in gesellschaftlichen Gebil<strong>de</strong>n funktioniert, solange sie Befriedigung<br />
bringt. Befriedigung stellt sich ein, wenn das Engagement <strong>de</strong>r Beteiligten Resultate zeitigt, die diese<br />
sehen, verstehen und nachvollziehen können. In genau diesem Maße wächst o<strong>de</strong>r schwin<strong>de</strong>t auch die<br />
I<strong>de</strong>ntifizierung mit einem sozialen System. In unseren Systemen entwickelt sich diese I<strong>de</strong>ntifizierung<br />
<strong>de</strong>rzeit gegen Null.<br />
Daher haben alle anarchistischen Gesellschaftsentwürfe stets darauf abgezielt, auf überschaubaren,<br />
kleinen Einheiten aufzubauen - was nicht heißen soll, daß sie dabei stehenbleiben. Solche sozialen<br />
Gebil<strong>de</strong> stellen sozusagen die kleinsten Einheiten dar, aus <strong>de</strong>nen sich an-archische Gesellschaften<br />
zusammensetzen<br />
Ich habe schon darauf hingewiesen, daß diese ›kleinen Einheiten‹ sowohl aus geografischen, sachlichen,<br />
technischen, i<strong>de</strong>ellen, ethischen o<strong>de</strong>r ästhetischen Grün<strong>de</strong>n entstehen können, ebenso wie aus<br />
gegenseitiger Sympathie o<strong>de</strong>r reinen Grün<strong>de</strong>n praktischer Vernunft; auch können zu gleicher Zeit auf<br />
gleichem Raum verschie<strong>de</strong>ne Einheiten nebeneinan<strong>de</strong>r bzw. miteinan<strong>de</strong>r bestehen. Ich kann zum Beispiel<br />
gleichzeitig als Bewohner einem Rat meines Stadtviertels angehören, als Vater einer Gruppe, die eine<br />
freie Schule betreibt,<br />
55<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
als Genießer einer Vereinigung "Anarchie und Luxus", als Schriftsteller einem gewerkschaftsähnlichen<br />
Berufsgremium, als verantwortungsvoller Mitmensch einem ökologischen Ausschuß, als Ästhet einer<br />
künstlerischen Boheme, als Journalist einer Zeitschriftenredaktion, als Kosmopolit* einer weltweiten<br />
Vereinigung von Esperantisten*, als Vielreisen<strong>de</strong>r einer Fö<strong>de</strong>ration, die die Fahrpläne <strong>de</strong>r Eisenbahn<br />
ausarbeitet und so weiter ...
"Aber, aber..." wer<strong>de</strong>n die Kritiker einwen<strong>de</strong>n, "das können Sie doch hier und heute alles auch." Und: "Ist<br />
das nicht ein bißchen viel Arbeit und Verantwortung auf einmal?" O<strong>de</strong>r:<br />
"Wieviele Menschen, glauben Sie, wer<strong>de</strong>n wohl so engagiert sein, und freiwillig Interesse für<br />
gemeinnützige Arbeiten aufbringen?!"<br />
Versuchen wir, diese Einwän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Reihe nach zu beantworten.<br />
Wür<strong>de</strong>n die Menschen mitmachen?<br />
Gewiß kann ich mich zwar hier und heute durchaus auch in all diesen Bereichen engagieren<br />
(vorausgesetzt, ich lebe nicht in Staaten wie Birma, Kuba, China, Äquatorialguinea o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Sudan).<br />
Aber es gibt zwei entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Unterschie<strong>de</strong>: Ich kann (sofern ich nicht zur Elite gehöre) bei all meinem<br />
Engagement nichts entschei<strong>de</strong>n und mein Engagement wird in <strong>de</strong>r Regel auch nichts bewirken.<br />
Engagement ist bei uns ein Zeitvertreib, ein Ventil für Unmut, bestenfalls ein gedul<strong>de</strong>tes Korrektiv für<br />
Arbeit, die sonst niemand machen o<strong>de</strong>r bezahlen will. Die Entscheidungen aber fallen an<strong>de</strong>rswo: im<br />
Machtapparat. In einer an- archischen Gesellschaft hingegen wären eben diese ›kleinen Einheiten‹ Träger<br />
<strong>de</strong>r Meinungsbildung, <strong>de</strong>r Lösungssuche, <strong>de</strong>r Konsensfindung* und gleichzeitig <strong>de</strong>r Entscheidung,<br />
Durchführung und Korrektur von Beschlüssen. Die an-archische Gesellschaft ist das Zusammenspiel<br />
dieser ›kleinen Einheiten‹. Es gibt keinen Machtapparat, kein bürokratisches Eigenleben, keine Eliten<br />
über ihnen. Statt<strong>de</strong>ssen gäbe es ein System von Selbstbestimmung, Selbstorganisation und<br />
Selbstverwaltung, getragen von <strong>de</strong>r Verbindung, Zusammenarbeit und Konsensfähigkeit vieler solcher<br />
›kleinen Einheiten‹. Eine solche Verbindung nennen wir Netzwerk.<br />
Ob die Menschen in einem solchen System nicht unter <strong>de</strong>r Überlastung zusammenbrächen, o<strong>de</strong>r ob das<br />
System nicht durch das Desinteresse <strong>de</strong>r Menschen versagen müßte, ist eine interessante Frage.<br />
Zunächst einmal möchte ich <strong>de</strong>r beeindrucken<strong>de</strong>n Liste von vorhin, in <strong>de</strong>r ich einige Möglichkeiten<br />
meines Engagements in einer libertären Gesellschaft aufzählte, eine wichtige Variante hinzufügen:<br />
Selbstverständlich hätte ich als <strong>de</strong>sinteressierter o<strong>de</strong>r auch nur als fauler Mensch das Recht zu sagen: "Ich<br />
engagiere mich für gar nichts!" Anarchie beruht auf Freiwilligkeit; erzwungene Teilnahme wäre kein<br />
Engagement, son<strong>de</strong>rn Knechtschaft und selbstverständlich gibt es auch ein "Recht auf Faulheit".<br />
Die anarchistische Gesellschaftstheorie spekuliert nun aber darauf, daß, weil sich die Menschen in<br />
solchen kleinen Einheiten direkt einbringen können, die Entfremdung gering bleibt und die I<strong>de</strong>ntifikation<br />
wächst. Wenn sich aber viele Menschen an sozialen Prozessen beteiligen, sinkt in gleichem Maße die<br />
Belastung <strong>de</strong>s Einzelnen. Machen genügend Men-<br />
56<br />
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schen mit, wäre Selbstverwaltung keine zusätzliche Bür<strong>de</strong> mehr, son<strong>de</strong>rn eine Selbstverständlichkeit, die<br />
nicht irgendwann ›nach Feierabend‹ stattfän<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn ständig und automatisch in allen Bereichen <strong>de</strong>s<br />
Lebens. Sie wäre zu einem Bestandteil von Arbeit und Alltag gewor<strong>de</strong>n. So wie <strong>de</strong>r Mensch es heute<br />
gewohnt ist, Anordnungen zu bekommen, könnte er es lernen und sich daran gewöhnen, selbst<br />
mitzuentschei<strong>de</strong>n.<br />
Auf diese Weise bekäme die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben eine an<strong>de</strong>re Qualität: sie<br />
wür<strong>de</strong> nicht nur erträglich, son<strong>de</strong>rn fast schon zu einer Art Befriedigung. Das setzt natürlich voraus, daß<br />
auch die Themen, Formen und Rahmenbedingungen an<strong>de</strong>rs aussähen als bisher üblich. Ich kann mir kaum<br />
vorstellen, daß ich auf Dauer unter <strong>de</strong>n Bedingungen dieser Gesellschaft Lust hätte, mich etwa nach acht<br />
Stun<strong>de</strong>n ermü<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Arbeit in einem geisttöten<strong>de</strong>n Job während meiner Freizeit noch um die Belange<br />
meines Stadtteils zu kümmern. Da wäre ich wohl eher froh, wenn sich da ›ein Amt‹ drum kümmerte.<br />
Aber diese Rahmenbedingungen sollen ja in einer libertären Gesellschaft ebenfalls spürbar an<strong>de</strong>re sein1.
Wenn wir uns heute soziales Engagement vorstellen, <strong>de</strong>nken wir automatisch an Vereine, Parteien,<br />
Interessenverbän<strong>de</strong>, Bürgerinitiativen und ähnliches. Dort besteht das frustrieren<strong>de</strong> Tagesgeschäft in<br />
Bürokratie, Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit Behör<strong>de</strong>n, Vereinsklüngelei und eng gesteckten Grenzen von<br />
›Zuständigkeit‹. Unser gesamtes Leben ist säuberlich portioniert und in dutzen<strong>de</strong> ›Bereiche‹ zerlegt, und<br />
über je<strong>de</strong>n Bereich wacht zu guter Letzt irgen<strong>de</strong>in Amt. Der Anarchismus hingegen zielt auf eine globale<br />
Organisation <strong>de</strong>s Lebens, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Mensch und seine gesellschaftliche Wirklichkeit als etwas Ganzes<br />
gesehen wird. Leben, Arbeit, Spaß und Freizeit sollen nicht länger künstlich getrennt bleiben. Das hätte<br />
zur Folge, daß Menschen, die sich in einer dieser ›kleinen Einheiten‹ mit irgen<strong>de</strong>twas beschäftigten, sich<br />
nicht für ein abstraktes Ziel abrackerten, das mit ihnen direkt wenig zu tun hat. Sie kümmerten sich<br />
vielmehr um Dinge, die ihr eigenes Leben ganz direkt, ganz konkret und ganz im Sinne ihrer Wünsche<br />
und Vorstellungen beeinflußten. Sie täten das am Arbeitsplatz und zu Hause, in <strong>de</strong>r Nachbarschaft und in<br />
spezifischen Gruppen. In vielen Fällen brauchte es dazu nicht einmal eine feste Struktur o<strong>de</strong>r ein<br />
beson<strong>de</strong>res Treffen – es wür<strong>de</strong> zu einer Handlungsroutine im Alltag. Dem Menschen wäre <strong>de</strong>r direkte<br />
Zugriff auf alle Bereiche seines Lebens zurückgegeben. Die Bereiche, in <strong>de</strong>nen ich mich als "aktiver<br />
Menschheitsbürgen in einem solchen System engagieren könnte, beträfen <strong>de</strong>mnach meine Arbeitswelt<br />
ebenso wie mein Vergnügen, meine Wohnsituation wie meine Gefühle, meine Ernährung wie mein<br />
persönliches Glück o<strong>de</strong>r meine soziale Sicherheit. Das hätte etwas mit meiner Lebensqualität zu tun und<br />
mit <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rer Menschen.<br />
Triebkraft menschlichen Engagements in einer libertären Gesellschaft wäre also in gewissem Sinne ein<br />
sozialer Egoismus*. Diese Art von "Egoismus" jedoch scheint mir <strong>de</strong>r ehrlichste und gesün<strong>de</strong>ste Impuls,<br />
<strong>de</strong>n ich mir <strong>de</strong>nken kann.<br />
Natürlich glauben auch Anarchisten nicht, daß sich in ihrer Gesellschaft alle Menschen engagieren. Das<br />
wäre auch nicht nötig. Wichtig ist zweierlei: Daß alle Menschen sich<br />
1) Siehe Kapitel 14 !<br />
57<br />
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einbringen können, und daß genug sich einbringen wür<strong>de</strong>n. Man kann Desinteresse nicht ›verbieten‹,<br />
höchstens Interesse wecken! Diese Betrachtungsweise ist zwar pragmatisch, aber in <strong>de</strong>m Moment, wo <strong>de</strong>r<br />
Anarchismus <strong>de</strong>n Elfenbeinturm <strong>de</strong>r reinen Theorie verläßt, muß er selbstverständlich pragmatisch<br />
<strong>de</strong>nken, was ihm gewiß nicht scha<strong>de</strong>t. Daß alle Menschen gleichermaßen überzeugt, begeistert und<br />
engagiert sein müssen, damit eine libertäre Gesellschaft funktioniere, ist übrigens ein frommes<br />
anarchistisches Märchen; schlimmer noch: es ist unanarchistisch. Ganz einfach <strong>de</strong>shalb, weil eine solche<br />
Vorstellung <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s Menschen und seiner Verschie<strong>de</strong>nheit nicht Rechnung trüge, son<strong>de</strong>rn ihm<br />
eine I<strong>de</strong>ologie überstülpen wür<strong>de</strong>. Je<strong>de</strong>s System aber, das auf hochmotivierte ›Heilige‹ setzt und<br />
›Mitläufer‹ verachtet, muß scheitern. Im übrigen ist auch <strong>de</strong>r einzelne Mensch kein statisches* Wesen.<br />
Je<strong>de</strong>r durchlebt Phasen von Aktivität und Rückzug, Begeisterung und Resignation. Das wür<strong>de</strong> einem anarchischen<br />
System auch nicht scha<strong>de</strong>n, da es auf einen ständigen Wechsel von Menschen bestens<br />
eingestellt ist, <strong>de</strong>nn es brauchte immer weniger <strong>de</strong>n Typ <strong>de</strong>r lebenslänglichen Fachleuten Daß auf diese<br />
Weise immer mehr Menschen sich Fähigkeiten, Wissen und Praktiken in allen möglichen Bereichen<br />
aneignen wür<strong>de</strong>n, liegt in einer solchen Gesellschaft auf <strong>de</strong>r Hand. Und das ist nach Ansicht <strong>de</strong>r<br />
Anarchisten auf Dauer das wirksamste Gegengift gegen Eliten, Bürokratie und Herrschaft.<br />
Kann Vernetzung funktionieren?<br />
Niemand weiß, ob sich dieses soziale Engagement in hinreichen<strong>de</strong>m Maße einstellen wür<strong>de</strong>. Alle sozialen<br />
Utopien sind Spekulation. Der springen<strong>de</strong> Punkt dabei ist natürlich die Funktionsweise <strong>de</strong>r Vernetzung.<br />
Wie soll das auf große Entfernungen geschehen? Wie in Gebil<strong>de</strong>n, die eben nicht mehr klein und<br />
überschaubar sind, etwa <strong>de</strong>r Stadt New York? Und was ist, wenn sich Anschauungen so wi<strong>de</strong>rsprechen,<br />
daß kein Konsens möglich ist?
Dieser letzten Frage wer<strong>de</strong>n wir in <strong>de</strong>n Kapiteln 17 und 19 nachgehen – die Antworten auf die an<strong>de</strong>ren<br />
Fragen liegen zum Teil schon in <strong>de</strong>r Struktur <strong>de</strong>r Vernetzungssysteme selbst. In <strong>de</strong>r anarchistischen<br />
Theorie funktionieren sie nach <strong>de</strong>mselben Prinzip wie die "kleine Grun<strong>de</strong>inheit", nur, daß sie sich mit<br />
Fragen überregionaler Be<strong>de</strong>utung befassen: Sie verbin<strong>de</strong>n frem<strong>de</strong> Menschen miteinan<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r<br />
organisieren <strong>de</strong>n Austausch von Wissen, Waren und Werten, die zu einem menschenwürdigen Leben<br />
nötig sind. Aber auch in ihnen entschei<strong>de</strong>n keine Eliten, auch in ihnen gilt nicht das Prinzip <strong>de</strong>r<br />
Hierarchie, auch ihre Handlungen entstehen in einem horizontalen Prozeß. Dabei sollen – und müssen –<br />
sie durchaus effektiv arbeiten und zuverlässig funktionieren. Überregional wichtige Aufgaben wer<strong>de</strong>n<br />
dabei selbstverständlich zentral gesteuert, nicht jedoch zentralistisch entschie<strong>de</strong>n – keinem Anarchisten<br />
wür<strong>de</strong> es einfallen, etwa die Flugsicherung spontan und <strong>de</strong>zentral zu ›organisieren‹. Daß es dabei dann<br />
eine Delegierung geben kann – etwa auf die Ebene von Ausschüssen und Räten - und durchaus auch<br />
kompetente und verantwortliche Fachleute, ist nur scheinbar ein Wi<strong>de</strong>rspruch: Entscheidungsfreiheit ist in<br />
erster Linie eine Frage <strong>de</strong>r Inhalte, nicht <strong>de</strong>r Techniken. Ob diese Ebenen bei <strong>de</strong>r reinen<br />
Vernunftkompetenz bleiben o<strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>rum neue Herrschaft hervorbringen, hängt entschei<strong>de</strong>nd von drei<br />
Voraussetzun-<br />
58<br />
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gen ab: Erstens, daß in <strong>de</strong>r Praxis eine Transparenz* dieser vernetzten Struktur bewahrt wird: Sie muß<br />
durchschaubar bleiben, damit sie von allen Interessierten verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann. Zweitens, daß es<br />
Systeme gibt, die gewährleisten, daß sie je<strong>de</strong>rzeit kontrollierbar, kritisierbar und verän<strong>de</strong>rbar sind.<br />
Drittens, daß die Vernetzungsstrukturen so aufgebaut sind, daß sie nicht als Entscheidungsebene, son<strong>de</strong>rn<br />
als Koordinationsebene' funktionieren. Sie sollen letztlich die von <strong>de</strong>n Menschen an <strong>de</strong>r Basis gefun<strong>de</strong>ne<br />
Richtung lediglich abstimmen, umsetzen und ausführen - notfalls auch zurückverweisen, wenn sich<br />
Ausführung o<strong>de</strong>r Abstimmung als unmöglich erweisen. Auch diese Frage wer<strong>de</strong>n wir im 17. Kapitel noch<br />
einmal aufgreifen.<br />
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, könnte Anarchie überregional funktionieren - zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>r<br />
Theorie. Dabei böten dann Entfernungen keine größeren Hin<strong>de</strong>rnisse als heute auch. Anarchisten wollen<br />
ja nicht grundsätzlich auf mo<strong>de</strong>rne Kommunikationsmittel verzichten, und prinzipiell reisefeindlich sind<br />
sie auch nicht. Zwar gehen sie kritischer und bewußter an elektronische Kommunikation heran, und ein<br />
wuchern<strong>de</strong>s Reise- und Transportwesen wür<strong>de</strong> sich in ihrem Mo<strong>de</strong>ll schon aus <strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong> reduzieren,<br />
weil eine <strong>de</strong>zentrale, libertäre Wirtschaft viele Dinge, die heute unnütze Transportwege erfor<strong>de</strong>rn, in <strong>de</strong>r<br />
Region erledigen könnte. An<strong>de</strong>rerseits sehen viele Anarchisten in mo<strong>de</strong>rner Kommunikationstechnik<br />
durchaus auch interessante Möglichkeiten für eine ›direkte, kommunikative Demokratie‹ libertären<br />
Zuschnitts, in <strong>de</strong>r immer mehr Informationen zugänglich und immer weniger Zentren, Wissenshierarchien<br />
und Schaltzentralen nötig wären. Obwohl hierbei auch die Gefahr eines Informationsüberflusses gesehen<br />
wird, verkennt man nicht Möglichkeiten, die die Elektronik zur technischen Lösung von<br />
Kommunikationsproblemen <strong>de</strong>r libertären Utopie beitragen könnte, die noch vor wenigen Jahrzehnten<br />
schier unlösbar schienen.<br />
Auch die Größe eines sozialen Gebil<strong>de</strong>s scheint grundsätzlich kein Hin<strong>de</strong>rnis für das Funktionieren<br />
libertärer Vernetzungsstrukturen zu sein. Zwar ist das ganze Schema anarchistischer Organisation<br />
absichtlich dafür ausgelegt, die kleine Einheit zu för<strong>de</strong>rn und das Entstehen großer Einheiten zu<br />
erschweren, aber das heißt nicht, daß sie nicht auch mit großen Gebil<strong>de</strong>n zurechtkommen wür<strong>de</strong>.<br />
Schließlich lassen sich in manchen Fällen größere Zusammenhänge nicht vermei<strong>de</strong>n, und manchmal sind<br />
sie einfach schon da. Wie zum Beispiel die Stadt New York.<br />
Nun mag es ja verschie<strong>de</strong>ne Ansichten darüber geben, ob ein <strong>de</strong>rartig monströses Gebil<strong>de</strong> überhaupt<br />
wünschenswert wäre. In <strong>de</strong>r Tat gibt es die Meinung, Megastädte wie Sao Paulo, Kalkutta, Mexico-City<br />
o<strong>de</strong>r New York überstiegen je<strong>de</strong>s menschliche Maß und gehörten als in je<strong>de</strong>r Hinsicht inhuman eigentlich<br />
abgeschafft. Die Kritiker beziehen sich dabei wohlgemerkt nicht etwa auf das großstadttypische Flair*<br />
o<strong>de</strong>r die unnachahmliche metropolitane* Kultur, son<strong>de</strong>rn auf die Auswirkungen eines urbanen* Molochs,<br />
<strong>de</strong>r an seinen eigenen sozialen Wucherungen erstickt. Lassen wir diese Frage offen und überlassen wir
ihre ›Lösung‹ getrost <strong>de</strong>n Leuten, die in ihnen zu leben verstehen o<strong>de</strong>r ihnen <strong>de</strong>n Rücken kehren wer<strong>de</strong>n.<br />
59<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Die Antwort auf unsere erste Frage aber fin<strong>de</strong>n wir überraschen<strong>de</strong>rweise in solchen Megastädten selbst.<br />
Gera<strong>de</strong> hier hat sich die Überlebensfähigkeit und das Funktionieren von Strukturen erwiesen, die glatt als<br />
›anarchisch‹ bezeichnet wer<strong>de</strong>n könnten, auch wenn kaum jemand das tut. Kalkutta beispielsweise ist eine<br />
x-Millionen-Stadt, die vom System faktisch aufgegeben wur<strong>de</strong>. Sie gilt als nicht reformierbar,<br />
unregierbar, die Behör<strong>de</strong>n haben aufgehört irgen<strong>de</strong>twas Kohärentes zu tun. Das Stadtplanungsamt ist seit<br />
langem verwaist, die sozialen Einrichtungen haben praktisch kapituliert. Theoretisch müßte diese Stadt<br />
schon längst zusammengebrochen sein, aber die Menschen in ihr leben weiter. Es gibt soziale Gebil<strong>de</strong>,<br />
Nachbarschaften, gegenseitige Hilfe, soziale Initiativen. Sie stemmen sich gegen Chaos, Kriminalität,<br />
Willkür, Spekulanten, Elend, Schmutz, Hunger und Krankheit. Und das Leben geht weiter. Aber keine<br />
dieser sozialen Zusammenhänge hat <strong>de</strong>n Anspruch o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Ehrgeiz, die ganze Stadt zu vertreten, zu<br />
managen o<strong>de</strong>r gar zu regieren. Ähnliches gibt es aus Sao Paulo zu berichten und aus Mexiko City. Und<br />
daß es in <strong>de</strong>n Schwarzenghettos von Chicago o<strong>de</strong>r New York trotz Elend, Kriminalität und<br />
Hoffnungslosigkeit eine starke soziale Solidarität gibt, die besser funktioniert als das staatliche<br />
Sozialprogramm, ist allgemein bekannt. All diese Strukturen funktionieren genau darum, weil sich hier<br />
Menschen selbst und direkt um ihre Probleme kümmern, in kleinen, überschaubaren Gruppen, inspiriert<br />
von einem positiv verstan<strong>de</strong>nen ›sozialen Egoismus‹.<br />
Bitte, Anarchisten behaupten nicht etwa, daß Kalkutta, Chicago o<strong>de</strong>r New York ihren<br />
Wunschvorstellungen einer libertären Gesellschaft entsprächen! Das ziemliche Gegenteil dürfte <strong>de</strong>r Fall<br />
sein. Was diese Beispiele zeigen sollen, ist, daß es gera<strong>de</strong> ›an-archische Strukturen‹ sind, die <strong>de</strong>n<br />
betroffenen Menschen dabei helfen, in absurd großen Gebil<strong>de</strong>n tatsächlich zu überleben. Sie erweisen<br />
sich dabei <strong>de</strong>n staatlichen Strategien* überlegen, die - nicht nur in <strong>de</strong>n Großstädten - mehr und mehr<br />
versagen.<br />
Es gibt also eine generelle Metho<strong>de</strong>, wie mit Hilfe an-archischer Strukturen die Probleme großer Gebil<strong>de</strong><br />
angegangen wer<strong>de</strong>n können, und die lautet, einfach ausgedrückt: das große Ding muß wie<strong>de</strong>r in kleine<br />
Dinge ›zerlegt‹ wer<strong>de</strong>n, damit es übersichtlich wird, ein menschliches Maß bekommt, und die betroffenen<br />
Menschen wie<strong>de</strong>r damit umgehen können. Erst dann engagieren sie sich wie selbstverständlich in ihrem<br />
gesellschaftlichen Umfeld. Keiner black community* in <strong>de</strong>r Bronx aber wür<strong>de</strong> es einfallen, etwa für alle<br />
Schwarzen New Yorks ›zuständig‹ zu sein o<strong>de</strong>r für sie zu sprechen. Viele solcher communities können<br />
jedoch zusammenarbeiten und gemeinsam gesellschaftliche Tatsachen schaffen, die <strong>de</strong>r Situation aller<br />
Schwarzen New Yorks gerecht wür<strong>de</strong>n. Das ist nur ein Beispiel eines sozialen Bereiches einer einzelnen<br />
Stadt. Und die sterben<strong>de</strong>n Metropolen sind nur ein einziges Beispiel für viele an<strong>de</strong>re groteske<br />
Großgebil<strong>de</strong>, die Zentralismus, Konzentration, und Macht<strong>de</strong>nken hervorbringen. Mit Leichtigkeit ließen<br />
sich Analogien* etwa in <strong>de</strong>m zusammengebrochenen Kunstgebil<strong>de</strong> <strong>de</strong>r ›Supermacht Sowjetunion fin<strong>de</strong>n.<br />
O<strong>de</strong>r, uns besser vertraut, in <strong>de</strong>m Beispiel, wie siebzehn Millionen Deutsche in <strong>de</strong>r DDR vierzig Jahre<br />
zentralistischer Planwirtschaft überlebten: in<strong>de</strong>m sie nämlich völlig ungelekt, planlos und intuitiv* eine<br />
mächtige Nebenrealität mit eigener Gegenökonomie schufen. Diese ›Sub-<br />
60<br />
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kultur‹, von <strong>de</strong>r offiziellen Gesellschaft ignoriert, grün<strong>de</strong>te sich auf kleine Gruppen nachbarschaftlicher<br />
Zusammenhänge: Schwarzarbeit, Improvisation, gegenseitige Hilfe, Materialklau, Solidarität, Sabotage,<br />
Tauschwirtschaft, Schwänzen, Gegenkultur und <strong>de</strong>n <strong>de</strong>zentralen Aufbau von Wi<strong>de</strong>rstand und Opposition.<br />
All das half nicht nur beim Überleben in einem nicht-menschengerechten System, son<strong>de</strong>rn führte einen
<strong>de</strong>r bestorganisiertesten und - geschützten Zentralstaaten <strong>de</strong>r Welt sang- und klanglos in <strong>de</strong>n<br />
Zusammenbruch. Das macht Mut! Die Tatsache, daß diese ›Kultur an-archischer Sekundärtugen<strong>de</strong>n‹<br />
ihrerseits so sang- und klanglos von unserer westlichen Vi<strong>de</strong>oclip-Gesellschaft geschluckt wer<strong>de</strong>n konnte,<br />
sagt wenig über die Qualität jener alten DDR-Anti-Gesellschaft aus - dafür umso mehr über <strong>de</strong>n Mangel<br />
an Kraft und Alternativen, etwa seitens <strong>de</strong>r west<strong>de</strong>utschen Libertären.<br />
Wir erleben heute weltweit <strong>de</strong>n schleichen<strong>de</strong>n Bankrott aller Organisations- und Steuersysteme, die auf<br />
Zentralismus, Hierarchie, Machtkonzentration und Wachstum aufgebaut sind. Solche Strukturen stoßen<br />
überall an ihre Grenzen und scheitern immer häufiger. Die unerwartete Krise <strong>de</strong>s ›Mo<strong>de</strong>lls Supermacht‹<br />
in West und Ost ist hierfür ein Indiz, und die Tatsache, daß Europa in einer kleinkarierten<br />
Nachahmungstat versucht, sich an diesen Geisterzug anzuhängen, beweist lediglich einen Mangel an<br />
Weitblick und Weltblick.<br />
Ist Vernetzung leistungsfähig?<br />
Spätestens hier stellt sich aber die Frage nach <strong>de</strong>r Leistungsfähigkeit <strong>de</strong>r anarchistischen Alternative. Ich<br />
bin dieser Frage bisher aus <strong>de</strong>m Blickwinkel <strong>de</strong>r Anarchisten nachgegangen. Been<strong>de</strong>n möchte ich die<br />
Betrachtung dazu mit <strong>de</strong>r Perspektive von Leuten, die eher zu <strong>de</strong>n Gegnern <strong>de</strong>r Anarchie zu rechnen sind.<br />
Multinationale Konzerne wie etwa VW o<strong>de</strong>r die IBM sind seit geraumer Zeit damit beschäftigt, ihre<br />
großen sozialökonomischen Gebil<strong>de</strong> in kleine, überschaubare Bereiche zu zerglie<strong>de</strong>rn. Hierarchische<br />
Strukturen wer<strong>de</strong>n abgebaut, gleichberechtigte Gruppen von Menschen sollen im Konsens<br />
Problemlösungen fin<strong>de</strong>n und dürfen auch mit entschei<strong>de</strong>n. Von größerer Transparenz und direkter<br />
Beteiligung <strong>de</strong>r Mitarbeiter erhoffen sich die Unternehmen verstärkte I<strong>de</strong>ntifikation und erhöhtes<br />
Engagement. Kommt uns das nicht bekannt vor? IBM nennt das natürlich nicht Selbstverwaltung o<strong>de</strong>r<br />
Anarchie, son<strong>de</strong>rn verkauft das als Teil seiner neuen corporate i<strong>de</strong>ntity. Bei <strong>de</strong>r UNESCO laufen<br />
Forschungsvorhaben, bei <strong>de</strong>nen es um ›Mo<strong>de</strong>lle weltweiter Vernetzung kleiner, <strong>de</strong>zentraler Einheiten‹<br />
geht. Mit Ähnlichem beschäftigt sich <strong>de</strong>r Club of Rome. Evangelische Aka<strong>de</strong>mien und Managerschulen,<br />
quer<strong>de</strong>nken<strong>de</strong> Jesuiten und ein leibhaftiger Berliner Innensenator stoßen bei ihrer verzweifelten Suche<br />
nach leistungsfähigeren Strukturen immer häufiger auf Mo<strong>de</strong>lle, wie sie Anarchisten seit Generationen<br />
nicht mü<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n zu vertreten. Ja, sogar das Österreichische Bun<strong>de</strong>sheer <strong>de</strong>nkt laut darüber nach, wie es<br />
seine Effektivität mit einem Abbau von Hierarchie, Zentralismus und Autorität för<strong>de</strong>rn könnte.<br />
Das muß man sich auf <strong>de</strong>r Zunge zergehen lassen: libertäre Strukturen zur Leistungssteigerung einer<br />
Armee!<br />
61<br />
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Was will ich damit sagen? Nicht, daß all diese Herren mitsamt ihren Institutionen <strong>de</strong>n Weg zur Anarchie<br />
eingeschlagen hätten. In <strong>de</strong>n meisten Fällen haben sie gar keine Ahnung von <strong>de</strong>m an-archischen<br />
Hintergrund <strong>de</strong>ssen, was sie da zu ent<strong>de</strong>cken beginnen. Sie haben allenfalls die Hälfte <strong>de</strong>r Lösung<br />
gefun<strong>de</strong>n, und diese kaum richtig verstan<strong>de</strong>n. Ein leben<strong>de</strong>r Beweis hierfür ist zweifellos Hans A.<br />
Pestalozzi, ehemaliger Leiter <strong>de</strong>s Schweizer "Duttweiler-Instituts", einer renommierten europäischen<br />
›Denkfabrik für Führungskräfte‹: In <strong>de</strong>m Moment, als er bei seiner Suche nach Alternativen mit<br />
erkennbarer Freu<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>n Anarchismus stieß, wur<strong>de</strong> er gefeuert.<br />
Nein, meine Schlußfolgerung ist indirekt. Wir waren <strong>de</strong>r Frage nachgegangen, ob libertäre Strukturen als<br />
leistungsfähig einzuschätzen sind. Nun, hier haben wir prominenteste Vertreter <strong>de</strong>s kausalen* Denkens,<br />
Jünger <strong>de</strong>s technokratischen* Managements, Führungskräfte, die nur an greifbaren und handfesten<br />
Resultaten interessiert sind. Und ausgerechnet die kommen auf <strong>de</strong>r Suche nach Mo<strong>de</strong>llen, mit <strong>de</strong>nen sie<br />
glauben, Menschen zu motivieren, um das Funktionieren ihrer globalen Maschinerie zu retten, auf<br />
libertäre Strukturen. Wenn das kein Argument ist!
Ich teile von diesem Glauben übrigens nur <strong>de</strong>n ersten Teil: daß solche Strukturen die Menschen -<br />
zumin<strong>de</strong>st zeitweise - zu mehr Engagement bringen können. Aber mit Sicherheit wer<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>re<br />
Strukturen allein dieses System nicht retten können. Es ist nicht zu retten. Das war gemeint, als ich gera<strong>de</strong><br />
sagte: Sie haben nur die Hälfte verstan<strong>de</strong>n.<br />
Wenn ein Konzern wie IBM Autorität reduziert und Zentralismus abbaut, so tut er das mit einer ganz<br />
an<strong>de</strong>ren Absicht als Anarchisten, die gleiches for<strong>de</strong>rn. IBM will die Effektivität seines Konzerns steigern,<br />
seinen Profit maximieren. Der Rest <strong>de</strong>r Welt ist dabei ziemlich egal. Die zentralen Fragen von Herrschaft,<br />
Ausbeutung o<strong>de</strong>r etwa Ökologie stehen nicht zur Debatte. Anarchisten hingegen erhoffen sich von <strong>de</strong>n<br />
gleichen Strukturen ein Mittel zur Erreichung eines herrschaftsfreien Zustan<strong>de</strong>s, ein Instrumentarium für<br />
das Funktionieren <strong>de</strong>r Anarchie.<br />
Wir haben uns in diesem Kapitel mit Strukturen befaßt. Strukturen aber sind nur Formen. Es kommt<br />
jedoch ganz erheblich auf die Inhalte an, auf die Ethik, die mit <strong>de</strong>n Strukturen verbun<strong>de</strong>n wird. Gewisse<br />
Strukturen können für eine bestimmte Ethik beson<strong>de</strong>rs geeignet sein. Die Vernetzung <strong>de</strong>zentraler, kleiner<br />
Einheiten ist mit Sicherheit eine sehr geeignete Struktur für die anarchistische Ethik (und es ist sehr<br />
zweifelhaft, ob sie zur Rettung <strong>de</strong>r Profitwelt auch nur annähernd so gut taugt wie die erwähnten Herren<br />
sich das erhoffen) - aber von selbst und an sich besagt eine Struktur noch gar nichts über die Qualität<br />
<strong>de</strong>ssen, was dabei herauskommt. Zynischstes Beispiel dafür dürfte wohl die Tatsache sein, daß die Nazis<br />
es selbst in ihren Konzentrationslagern verstan<strong>de</strong>n, gewisse Formen <strong>de</strong>r ›Selbstverwaltung‹ von<br />
Gefangenen in <strong>de</strong>n Dienst ihrer Massenvernichtung zu stellen...<br />
Allerdings darf man nicht in <strong>de</strong>n Irrtum verfallen, eine gute Struktur schon <strong>de</strong>shalb als schlecht o<strong>de</strong>r<br />
verwerflich anzusehen, weil ein Gegner sie für die falschen Ziele einzusetzen versucht. Das ist genauso<br />
dumm wie <strong>de</strong>r Glaube daran, daß sich eine ›richtige Struktur‹ ohne die passen<strong>de</strong> Ethik in befreien<strong>de</strong><br />
Aktion und befreite Alternativen umwan<strong>de</strong>ln müsse.<br />
62<br />
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Eines jedoch läßt sich aus all diesen Überlegungen ableiten: Anarchisten haben keineswegs ein Monopol<br />
auf gute I<strong>de</strong>en, und wenn an<strong>de</strong>re Menschen zu ähnlichen Erkenntnissen kommen, zeigt es im Grun<strong>de</strong> nur,<br />
daß libertäre I<strong>de</strong>en so abwegig nicht sein können. Darüber sollten Anarchisten sich eigentlich freuen.<br />
Statt<strong>de</strong>ssen erregen sie sich oft und gerne in rechthaberischer Eifersüchtelei und mokieren sich mit<br />
Vorliebe über frem<strong>de</strong>n Stallgeruch: Kommen die I<strong>de</strong>en nicht aus <strong>de</strong>m eigenen politischen Lager, bleiben<br />
sie in aller Regel verdächtig. Ich <strong>de</strong>nke hierbei weniger an IBM, son<strong>de</strong>rn mehr an Menschen wie Leopold<br />
Kohr, <strong>de</strong>n österreichischen Publizisten, <strong>de</strong>r das modisch gewor<strong>de</strong>ne Schlagwort small is beautiful prägte.<br />
Er war beileibe kein Anarchist, hatte im Gegenteil eher einen konservativ-katholischen Hintergrund, was<br />
ihn aber offenbar nicht daran hin<strong>de</strong>rte, in Fragen <strong>de</strong>r Gesellschaftsstruktur einen scharfen, analytischen<br />
Blick zu beweisen. O<strong>de</strong>r an die Diskussion in <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Naturwissenschaft, die heute mit Hilfe <strong>de</strong>r<br />
›Chaos-Theorie‹ das Paradox erforscht, daß es offenbar keine praktischen Regeln o<strong>de</strong>r überall gleich<br />
anwendbaren Naturgesetze von Ursache und Wirkung gibt, mit <strong>de</strong>nen die natürlichen Phänomene<br />
berechnet wer<strong>de</strong>n könnten, obwohl doch ›die Natur‹ in diesem Chaos erstaunlich vital und erfolgreich ihr<br />
Leben organisiert. O<strong>de</strong>r an die Zigtausen<strong>de</strong> von Menschen, die seit über 20 Jahren <strong>de</strong>n<br />
Organisationsformen von Vereinen und Parteien <strong>de</strong>n Rücken kehren, um ihre Anliegen in<br />
Bürgerinitiativen und Basisinitiativen zu vertreten, sich munter miteinan<strong>de</strong>r vernetzen und auf diese<br />
Weise die politisch-soziale Wirklichkeit unseres Lan<strong>de</strong>s spürbar beeinflußt haben.<br />
Ein Blick in die Praxis<br />
Es hat <strong>de</strong>n Anschein, daß sich die meisten Anarchisten mit <strong>de</strong>r einfachen Erkenntnis schwer tun, daß anarchische<br />
Strukturen, Formen und I<strong>de</strong>en nicht an anarchistische Theorie und I<strong>de</strong>ologie gebun<strong>de</strong>n sind.<br />
Dabei ließen sich für diese Annahme noch viele weitere Beispiele fin<strong>de</strong>n, und im Grun<strong>de</strong> müßten sie<br />
je<strong>de</strong>n Anarchisten ermutigen, zeigen sie doch, daß ihre I<strong>de</strong>en im Grun<strong>de</strong> so naheliegend sind, daß sie<br />
quasi überall ›in <strong>de</strong>r Luft liegen‹. Aber Anarchisten pflegen ihre Berührungsängste mit großer Hingabe
und überwin<strong>de</strong>n sie meist nur dann, wenn prominente Denker wie Pestalozzi o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Linguist und<br />
Strukturalist Noam Chomsky von sich aus zum Anarchismus fin<strong>de</strong>n. Dabei wür<strong>de</strong> es ihren<br />
Überzeugungen keineswegs wi<strong>de</strong>rsprechen, ein wenig mutiger querbeet und interdisziplinär* zu <strong>de</strong>nken<br />
und zu han<strong>de</strong>ln. Denn bei<strong>de</strong>s: intuitiv-anarchisches Spontanhan<strong>de</strong>ln und bewußt anarchistisches Vorgehen<br />
könnten sich ohne Frage gegenseitig bereichern.<br />
Dabei gibt es sie eigentlich schon, diese gegenseitige Verbindung, und die Grenze zwischen bewußtem<br />
und intuitivem Han<strong>de</strong>ln ist in vielen Fällen fließend. In zahllosen Bereichen <strong>de</strong>r Gesellschaft beginnt das<br />
Denken in hierarchischen Strukturen zu bröckeln, um einem Denken in an-archischen Strukturen Platz zu<br />
machen. Es ist dabei nicht immer genau auszumachen, ob dieser Prozeß nun ein bewußter Rückgriff auf<br />
<strong>de</strong>n Anarchismus ist o<strong>de</strong>r eine ›Eigenent<strong>de</strong>ckung‹. Im Grun<strong>de</strong> ist das auch keine wichtige Frage. Wichtig<br />
ist, wie sich <strong>de</strong>r Anarchismus hierzu verhält.1<br />
1) Siehe Kapitel 38!<br />
63<br />
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Nach soviel Struktur, Theorie und Spekulation noch ein abschließen<strong>de</strong>r Blick in die Praxis. Alles, was in<br />
diesem Kapitel ausgebreitet wur<strong>de</strong>, ist vom Prinzip her nichts Neues im Anarchismus. Die Theorien von<br />
Dezentralität, kleinen Einheiten, Selbstorganisation und Vernetzung sind zwar in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten<br />
sehr viel klarer und schärfer entwickelt wor<strong>de</strong>n, im Grun<strong>de</strong> aber ein alter Hut. Früher nannte man<br />
Vernetzung eben Fö<strong>de</strong>ration – ein Wort, das im heutigen politischen Sprachgebrauch eine eher harmlose<br />
Be<strong>de</strong>utung bekommen hat, weshalb ich <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rneren Begriff vorgezogen habe.<br />
In <strong>de</strong>r Tat haben sich solche Strukturen bereits in etlichen anarchistischen o<strong>de</strong>r anarchoi<strong>de</strong>n* Beispielen<br />
praktisch bewährt. Alle kann ich hier nicht aufzählen, manche wer<strong>de</strong>n wir noch näher kennenlernen.<br />
Erinnern will ich nur daran, daß Anarchisten auf diese Weise zum Beispiel sehr effektiv die<br />
Millionenstadt Barcelona verwaltet haben1 und darüberhinaus das soziale Leben ganzer Provinzen. Die<br />
jüdischen Kibbuzim sind ein sehr lehrreiches Beispiel <strong>de</strong>zentraler Vernetzung, anarchistisch inspiriert und<br />
viel älter als <strong>de</strong>r Staat Israel2. Zur Blütezeit <strong>de</strong>s Anarchosyndikalismus haben sich Millionen von<br />
Mitglie<strong>de</strong>rn anarchistischer Gewerkschaften weltweit vernetzt und ohne Zentralismus und Hierarchie<br />
erfolgreich organisiert.3 Und die chaotisch-<strong>de</strong>zentrale Massenbewegung‹ eines Mahatma Gandhi zwang<br />
in Indien das britische Weltreich in die Knie - ohne Gewalt und ohne Machtapparat.4<br />
1-4) Siehe zu (1) Kapitel 44, zu (2) Kapitel 35, zu (3) Kapitel 32 und zu (4) Kapitel 36!<br />
Literatur:<br />
/ Colin Ward: Anarchismus als Organisationstheorie Siegen 1983, Winddruck, 43 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Harmonie durch Vielfalt in: Unter <strong>de</strong>m Pflaster liegt <strong>de</strong>r Strand Bd. 3, Berlin 1976, Karin Kramer,<br />
192 S.<br />
/ Paul Feyerabend: Experten in einer freien Gesellschaft ebda,<br />
/ George Woodcock: Das <strong>de</strong>zentrale Potential in: <strong>de</strong>rs.: Traditionen <strong>de</strong>r Freiheit Mülheim/ Ruhr 1988,<br />
Trafik, 144 S.<br />
/ Karl Hahn: Fö<strong>de</strong>ralismus, die <strong>de</strong>mokratische Alternative München 1975, E.A.Vögel, 357 S.<br />
/ N.N.: Die Organisation <strong>de</strong>r autonomen Zellen Osnabrück o.J. (1971?), 24 S.<br />
Kapitel 13<br />
Chaos, o<strong>de</strong>r was ...?<br />
"Was wissen wir, ob Weltenschöpfungen nicht die Folgen von stürzen<strong>de</strong>n Sandkörnchen sind?"<br />
- Victor Hugo -
GANZ GEWISS HABEN SIE SICH schon einmal über die Wettervorhersage geärgert. Ob sie stimmt<br />
o<strong>de</strong>r nicht, gleicht einem Lotteriespiel. Das reinste Chaos! Weshalb aber ist, bei all <strong>de</strong>n technischen<br />
Möglichkeiten, bei unzähligen Meßdaten und Computersimulation* keine genaue Prognose* möglich?<br />
Diese Frage stellte sich auch <strong>de</strong>r verzweifelte Meteorologe Edward Lorenz, <strong>de</strong>r eben dies 1963 im<br />
Massachusetts Institute of Technology versuchte. Bei nur minimalen Abweichungen seiner<br />
Ausgangsdaten kam es jedoch stets zu ungeheuer großen Abweichungen bei <strong>de</strong>n Resultaten. Lorenz stand<br />
vor <strong>de</strong>m Chaos, versuchte es zu ergrün<strong>de</strong>n und kam ihm auf die<br />
64<br />
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Spur. Als Zwischenergebnis wur<strong>de</strong> die inzwischen oft kolportierte* Erkenntnis formuliert, daß theoretisch<br />
<strong>de</strong>r Flügelschlag eines Schmetterlings in China genügt, um zwei Wochen später in Amerika einen<br />
Wirbelsturm auszulösen.<br />
Hinter diesem scheinbaren Unsinn verbirgt sich die einfache Erkenntnis, daß die Natur nicht berechenbar<br />
ist, <strong>de</strong>nn sie ist ein ›komplexes System‹, <strong>de</strong>ssen Eigenschaften ›nicht linear*‹ sind. Die klassische<br />
Wissenschaft hingegen war stets von linearen Bedingungen ausgegangen, auf <strong>de</strong>nen sie ihre Naturgesetze<br />
aufbaute. Diese Naturgesetze ›stimmen‹ zwar, aber eben nur unter künstlich vereinfachten Bedingungen.<br />
Die zahlreichen ›Wechselwirkungen‹ im wichtlinearen Systemen Natur‹ aber führen zu <strong>de</strong>m, was wir alle<br />
aus eigener Lebensanschauung kennen: daß nämlich die meisten Naturphänomene nicht durchschaubar,<br />
nicht vorhersehbar und nicht berechenbar sind - mit einem Wort: chaotisch. Wie in Wirklichkeit (und<br />
nicht im Labor unter linearen, also vereinfachten Bedingungen) ein Pen<strong>de</strong>l schlägt, wohin eine<br />
Roulettekugel rollt, welche Gestalt eine Wolke annimmt, wie die Milch im Kaffee stru<strong>de</strong>lt, wie ein<br />
Gletscher o<strong>de</strong>r ein Baum wächst o<strong>de</strong>r wie sich eben das ›komplexe Phänomen Wette‹ entwickelt, kann<br />
gera<strong>de</strong> nicht vorhergesagt und berechnet wer<strong>de</strong>n. Außerhalb <strong>de</strong>s Labors und <strong>de</strong>r theoretischen<br />
Versuchsanordnungen, die alles Stören<strong>de</strong> eliminieren*, bestimmt eben nicht die gedanklich-abstrakte<br />
Vereinfachung, son<strong>de</strong>rn die tatsächlich-natürliche Komplexität. Und dabei sind nichtlineare<br />
›Aufbaumechanismen‹ am Werk, die dazu führen, daß sich scheinbar belanglos-minimale Schwankungen<br />
<strong>de</strong>r Anfangsbedingungen eines Zustan<strong>de</strong>s durch ›Rückkopplungen‹ <strong>de</strong>rart aufschaukeln, daß ihr<br />
Endzustand nicht mehr berechenbar ist. Wie eben jene Sache mit <strong>de</strong>m Schmetterling und <strong>de</strong>m<br />
Wirbelsturm.<br />
Minimale Unterschie<strong>de</strong> wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r klassischen Wissenschaft bisher vernachlässigt. Da die<br />
Wirklichkeit ›Natur‹ dies aber nicht tut, und da diese Kleinigkeiten enorme Auswirkungen haben, erweist<br />
sich die Vereinfachung <strong>de</strong>r ›linearen Wissenschaft als untauglich, die Natur völlig zu verstehen,<br />
geschweige <strong>de</strong>nn, sie zu beherrschen, was ja seit jeher <strong>de</strong>r Traum aller angewandten Wissenschaft war.<br />
Chaos ist, weil unberechenbar, auch unbeherrschbar.<br />
Edward Lorenz war unversehens auf atemberaubend spannen<strong>de</strong> Zusammenhänge gestoßen, die ihn nicht<br />
mehr losließen. Es war klar, daß sich Klima nicht prognostizieren* läßt, und es ließ sich auch sagen,<br />
warum. Statt sich weiter <strong>de</strong>r Wettervorhersage zu widmen, ging er <strong>de</strong>n Fragen nach, die sich aus dieser<br />
Tatsache ergaben und wur<strong>de</strong> so zu einem <strong>de</strong>r Begrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ssen, was wir heute salopp* die Chaostheorie<br />
nennen, von Wissenschaftlern aber lieber als Nichtlinearität, Strukturwissenschaft o<strong>de</strong>r Theorie<br />
komplexer Systeme bezeichnet wird. Aber das war erst <strong>de</strong>r Anfang.<br />
Etwa zur gleichen Zeit plagte sich <strong>de</strong>r polnischstämmige Physiker Benoit Man<strong>de</strong>lbrot in einem<br />
Forschungszentrum <strong>de</strong>r IBM bei New York mit Fehlern herum, die bei <strong>de</strong>r Datenübertragung durch<br />
Telefonleitungen immer wie<strong>de</strong>r auftraten. Diese Fehler schienen völlig chaotisch, hatten aber die<br />
merkwürdige Eigenschaft, stets gehäuft aufzutreten, unterbrochen von längeren fehlerfreien Perio<strong>de</strong>n.<br />
Solche fehlerfreien Abschnitte wie<strong>de</strong>rholten sich jedoch auch in je<strong>de</strong>r Fehlerhäufung wie<strong>de</strong>rum in <strong>de</strong>r<br />
selben Struktur. Je weiter er ins<br />
65
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Detail ging, <strong>de</strong>sto kleiner erschien wie<strong>de</strong>r dasselbe Muster. Hinter dieser ›Selbstähnlichkeit‹ vermutete<br />
Man<strong>de</strong>lbrot mit Recht mehr als nur Zufall.<br />
Mit Hilfe <strong>de</strong>r experimentellen Mathematik versuchte er, das Chaos in Formeln zu fassen. Inzwischen<br />
stan<strong>de</strong>n leistungsfähige Computer zur Verfügung, die als fleißige Rechenknechte nicht nur unzählige<br />
Rechenvorgänge schnell erledigten, son<strong>de</strong>rn diese auch noch als Grafik auf <strong>de</strong>m Bildschirm abbil<strong>de</strong>n<br />
konnten. Man<strong>de</strong>lbrot unterzog Zahlen <strong>de</strong>r mathematischen Rückkopplung einer nichtlinearen Gleichung,<br />
aufgrund <strong>de</strong>ren Ergebnis entschie<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>, ob <strong>de</strong>r ›Punkt‹ abgebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n soll o<strong>de</strong>r nicht. Hinter <strong>de</strong>m<br />
Begriff ›Rückkopplung‹ verbirgt sich <strong>de</strong>r Trick, daß das Ergebnis wie<strong>de</strong>r in die Stanformel ›eingefüttert‹<br />
wird. Mit Hilfe einer relativ einfachen quadratischen Funktion wur<strong>de</strong> Man<strong>de</strong>lbrot 1980 zum Vater <strong>de</strong>s<br />
›Apfelmännchens‹, einer inzwischen berühmt gewor<strong>de</strong>nen Computerfigur, die ihren Spitznamen einer<br />
eigenartigen Symmetrie verdankt, die auf <strong>de</strong>n ersten Blick an mehrere aufeinan<strong>de</strong>rgesetzte Äpfel<br />
verschie<strong>de</strong>ner Größe erinnert. Sie ist nicht nur ästhetisch schön, son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>r Lage, optisch die<br />
›Selbstähnlichkeit‹ beeindruckend zu <strong>de</strong>monstrieren: In <strong>de</strong>n Konturen wie<strong>de</strong>rholen sich ständig und<br />
scheinbar wirr bizarre, verästelte Formen, die, je mehr man die Grafik rechnerisch vergrößert, immer<br />
wie<strong>de</strong>r in verwirren<strong>de</strong>r Vielfalt auftauchen. Sie sind sich alle irgendwie ähnlich aber nicht i<strong>de</strong>ntisch und<br />
erinnern verblüffend an Formen, wie wir sie auch aus <strong>de</strong>r Natur kennen.<br />
Solche Figuren zu ›berechnen‹ o<strong>de</strong>r zu ›vermessen‹, erwies sich als unmöglich. We<strong>de</strong>r ihrer Fläche noch<br />
ihrem Umfang war mit <strong>de</strong>n geometrischen Grun<strong>de</strong>lementen wie Linie, Fläche o<strong>de</strong>r Würfel beizukommen.<br />
I<strong>de</strong>alisiert-erdachte Objekte wie Pyrami<strong>de</strong>, Würfel o<strong>de</strong>r Kugel haben eine ganzzahlige Dimension, aber<br />
solche Körper gibt es in <strong>de</strong>r Natur nicht, wie je<strong>de</strong>s genaue Hinsehen beweist. Bei einem kugelförmigen<br />
Wollknäuel überzeugt <strong>de</strong>r bloße Anblick, beim Kopf <strong>de</strong>r Blick durch die Lupe und bei einer Kugel aus<br />
Elfenbein <strong>de</strong>r durch ein leistungsstarkes Mikroskop. Natürliche - also ›chaotische‹ - Objekte haben im<br />
Gegensatz dazu keine ganzzahlige Dimension, also nicht eins, zwei o<strong>de</strong>r drei, son<strong>de</strong>rn einen Wert<br />
dazwischen - im Fall <strong>de</strong>r Küstenlinie Englands etwa 1,5. Man<strong>de</strong>lbrot gab solchen Zwischendimensionen<br />
<strong>de</strong>n Namen ›Fraktale‹. Ihre Zahl ist ein brauchbares Maß dafür, wie ›zerklüftet‹ das fraktale Gebil<strong>de</strong> ist.<br />
Die Wissenschaft hatte also ent<strong>de</strong>ckt, daß sie etwa die Aufgabe "Berechnen Sie die Oberfläche einer<br />
Katze samt Haaren" nie wür<strong>de</strong> lösen können, und fahn<strong>de</strong>te erfolgreich nach <strong>de</strong>r Struktur dieses Problems.<br />
Fraktale sind <strong>de</strong>mnach nicht mehr recht Linie, aber auch noch nicht richtig Fläche; etwas, was es in <strong>de</strong>r<br />
Trigonometrie eigentlich nicht gibt. In <strong>de</strong>r Natur aber sehr wohl: Die meisten natürlichen Formen wie<br />
Pflanzen, Wolken o<strong>de</strong>r Gebirge haben ›fraktale Eigenschaften‹. Daher erstaunt es auch nicht, daß alle<br />
möglichen Computerbil<strong>de</strong>r, die aus verschie<strong>de</strong>nsten fraktalen Formeln entstehen, natürlichen Formen<br />
verblüffend ähneln. Ebenso sind viele natürliche Gebil<strong>de</strong> selbstähnlich. Wir kennen das vom Rand <strong>de</strong>s<br />
Farns ebenso wie von <strong>de</strong>n Verzweigungen und Verästelungen bei Baum und Blatt, bei Küstenlinien,<br />
Gebirgsformen, Gletscheroberflächen, Eiskristallen o<strong>de</strong>r Molekülstrukturen. Künstliche<br />
Selbstähnlichkeiten schafft <strong>de</strong>r Mensch als kreative Schöpfung etwa in Orna-<br />
66<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
mentmustern o<strong>de</strong>r Arabesken , die kleine Formen in großen wie<strong>de</strong>rholen und die wir vielleicht <strong>de</strong>shalb so<br />
reizvoll fin<strong>de</strong>n, weil sie uns - genau wie die fraktalen Computergrafiken - an Formen erinnern, die wir aus<br />
<strong>de</strong>r Natur kennen. Eben - chaotische Formen.<br />
Revolution <strong>de</strong>s Denkens<br />
Mit <strong>de</strong>n Begriffen ›nichtlinearer, komplexer Systeme‹ und <strong>de</strong>m Handwerkszeug <strong>de</strong>r ›fraktalen<br />
Dimension‹ war <strong>de</strong>r Startschuß zu <strong>de</strong>r wild wuchern<strong>de</strong>n, untereinan<strong>de</strong>r zerstrittenen und keineswegs<br />
abgeschlossenen neuen Denkrichtung Chaostheorie gefallen. Es gibt einen guten Grund, diese<br />
Entwicklung hier relativ ausführlich darzustellen: Die Chaostheorie steht für <strong>de</strong>n Beginn eines
wissenschaftlichen Paradigmenwechsels. Es geht also um eine Neufassung <strong>de</strong>r methodischen und<br />
philosophischen Herangehensweise <strong>de</strong>r Wissenschaft an Natur und Mensch, mithin um eine Revolution<br />
<strong>de</strong>s Denkens. Und Revolutionen <strong>de</strong>s Denkens ziehen auch Verän<strong>de</strong>rungen im sozialen Leben nach sich.<br />
Vor Newton galt die Bibel und nach Newton <strong>de</strong>r Determinismus*. Niemand wird behaupten, daß diese<br />
wissenschaftstheoretischen Hintergrün<strong>de</strong> nicht nachhaltig das reale Leben beeinflußt hätten. Nicht<br />
umsonst spricht man vom wissenschaftlichen ›Weltbild‹. Vor <strong>de</strong>r Aufklärung wur<strong>de</strong>n Menschen, die<br />
bestritten, daß die Sonne um die Er<strong>de</strong> kreiste o<strong>de</strong>r nicht an <strong>de</strong>n göttlichen Schöpfungsplan glaubten, als<br />
Ketzer verbrannt. Eine zwar weniger blutige aber trotz<strong>de</strong>m folgenschwere intellektuelle Tyrannei* lastet<br />
seit <strong>de</strong>r Aufklärung auf <strong>de</strong>njenigen, die <strong>de</strong>n Kern <strong>de</strong>s Determinismus anzweifeln, alles sei durch Ursache<br />
und Wirkung erklärbar, also vorhersehbar und berechenbar, wobei <strong>de</strong>r menschliche Wille keine<br />
Be<strong>de</strong>utung habe. Wie so oft bei <strong>de</strong>r Anwendung von Theorien nahm übrigens Newton selbst die<br />
Schlußfolgerungen aus seinen mechanischen Gesetzen bei weitem nicht so ernst wie seine späteren<br />
Anhänger.<br />
Seit Laplace unter Berufung auf Newton behauptete, die Welt sei im Grun<strong>de</strong> nichts als eine Summe von<br />
Maschinen und daher mit Hilfe <strong>de</strong>r Mechanik im Prinzip berechenbar, behauptete die Philosophie <strong>de</strong>r<br />
Aufklärung Ähnliches über das Wesen <strong>de</strong>s Menschen und die soziale Entwicklung. Der starre<br />
Determinismus von Marx' ›historischem Materialismus‹ ist davon nur ein legitimes Kind.<br />
Deshalb kann es uns nicht egal sein, wenn sich durch die Einsichten <strong>de</strong>r Chaostheorie plötzlich die<br />
Grenzen zwischen Physik und Ökologie, Chemie und Soziologie, Mathematik und Philosophie<br />
verwischen, und wenn die Wissenschaft beginnt, sich von theoretischen Mo<strong>de</strong>llen abstrakter<br />
Gleichmacherei abzuwen<strong>de</strong>n, um in die chaotischen Strukturen <strong>de</strong>r natürlichen Phänomene einzudringen.<br />
Uns interessiert hier nicht die höhere Mathematik, son<strong>de</strong>rn das neue Weltbild, das sich hinter <strong>de</strong>r<br />
Chaostheorie versteckt und hier und da zaghaft hervorschaut.<br />
Bruchstücke davon wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utlich, wenn etwa <strong>de</strong>r Physiker Bernd-Olaf Küppers vom Max-Planck-<br />
Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen davon spricht, daß "die kreative, bunte, vielgestaltige<br />
Welt nun wie<strong>de</strong>r ins Zentrum aka<strong>de</strong>mischer Neugier rückt". Nach seiner Interpretation <strong>de</strong>r Chaostheorie<br />
führen beispielsweise die erstmals untersuch-<br />
67<br />
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ten Rückkopplungs-Phänomene dazu, daß <strong>de</strong>r Endzustand eines Systems nicht ein für allemal fixiert ist,<br />
son<strong>de</strong>rn zum Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung wird. Sein Statement gipfelt in <strong>de</strong>r Aussage, daß<br />
sich die Welt selbst organisiert: "Treten natürliche Auslese- und Optimierungsprozesse hinzu, kann eine<br />
›Selbstorganisation‹ <strong>de</strong>r Materie in Gang kommen. (...) Dieselben Wechselwirkungen, die ein System<br />
nichtberechenbar machen, sind also letztendlich auch die Quelle für <strong>de</strong>ssen Komplexität." Küppers spricht<br />
hier nicht von Politik o<strong>de</strong>r sozialen Strukturen, son<strong>de</strong>rn von "Materie", fügt aber selbst hinzu: "Dies wird<br />
Rückwirkungen auf unser wissenschaftliches Weltbild haben und damit auch auf das Selbstverständnis<br />
<strong>de</strong>r Menschheit, <strong>de</strong>nn wissenschaftliche Erkenntnisse haben seit eh und je Weltanschauungen beeinflußt.<br />
(...) Sie [die Wissenschaft] macht auch das Unberechenbare wie<strong>de</strong>r ›berechenbar‹, in<strong>de</strong>m sie uns die<br />
Augen öffnet für Chaos und für Nichtlinearität als Quelle <strong>de</strong>r bunten Vielfalt unserer Welt."<br />
Nun gut, die Wissenschaft hat also die Komplexität <strong>de</strong>r realen Natur ent<strong>de</strong>ckt und beginnt, sie zu<br />
erforschen. Alles, was sie dabei nicht berechnen kann, nennt sie ›Chaos‹. Dabei ist ihr aufgegangen, daß<br />
ein Kopf keine Kugel ist, ein Penis kein Zylin<strong>de</strong>r und ein Busen kein Kegel, worüber sie sich sehr<br />
gewun<strong>de</strong>n hat — Sie und ich wissen das aber schon lange.<br />
Was hat das aber alles mit Anarchie zu tun?<br />
Direkt nichts, aber indirekt eine ganze Menge.
Das brutale und das sanfte Chaos<br />
Bisher wur<strong>de</strong> in diesem Buch das Wort ›Chaos‹ wi<strong>de</strong>rsprüchlich verwen<strong>de</strong>t. Einmal wur<strong>de</strong> behauptet,<br />
Anarchie sei kein Chaos, dann wie<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> Chaos im Leben gera<strong>de</strong>zu gefor<strong>de</strong>rt. Wie ist das zu erklären<br />
- sind Anarchos nun ›Chaoten‹ o<strong>de</strong>r nicht?<br />
Nun, ich habe das Wort ganz einfach im landläufigen Sinne benutzt, als Unordnung. Was aber heißt<br />
Unordnung eigentlich? Da gibt es zwei Sichtweisen:<br />
Zum einen, wenn etwas so chaotisch ist, daß nichts funktioniert. Dann bringt die Unordnung Katastrophen<br />
für das System hervor. Dies ist die negative Definition, und angewandt auf die menschliche Gesellschaft<br />
möchte ich sie das ›brutale Chaos‹ nennen. Diese Wortbe<strong>de</strong>utung von Chaos ist gemeint, wenn <strong>de</strong>r<br />
Anarchismus etwa die verheeren<strong>de</strong> Unordnung <strong>de</strong>s staatlichen Systems und seiner Wirtschaft kritisiert<br />
und von sich selbst behauptet, "Anarchie ist nicht Chaos, son<strong>de</strong>rn Ordnung ohne Herrschaft".<br />
Zum an<strong>de</strong>ren, wenn etwas so kompliziert ist, daß wir es nicht verstehen. Das be<strong>de</strong>utet keineswegs, daß<br />
dieses ›Chaos-System‹ etwa nicht funktionieren wür<strong>de</strong> - im Gegenteil! Etwas so komplex-chaotisches wie<br />
die Natur funktioniert hervorragend, nur, wir begreifen sie kaum, und <strong>de</strong>shalb nennen wir sie ›chaotisch‹.<br />
Diese positive Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Wortes ›Chaos‹ war angesprochen, wenn es beispielsweise im Kapitel über<br />
Lebensart hieß, das Leben solle "bunt, vielfältig, kreativ und chaotisch" sein. Im sozialen Bereich wür<strong>de</strong><br />
ich dies das ›sanfte Chaos‹ nennen.<br />
Was die wissenschaftliche Chaostheorie betrifft, so bezieht sie sich ganz ein<strong>de</strong>utig auf<br />
68<br />
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diese zweite Form. Sie beschreibt keine Systeme, die nicht funktionieren, son<strong>de</strong>rn Systeme, die<br />
funktionieren, ohne daß sie vorhersagbar wären. Küppers schreibt: "Chaos ist also hier im Grun<strong>de</strong><br />
genommen nur ein an<strong>de</strong>res Wort für das Unberechenbare".<br />
Im ›brutalen Chaos‹ gibt es kein System, es regiert <strong>de</strong>r zerstörerische Zufall. Im ›sanften Chaos‹ ist<br />
System, aber es ist schwer zu begreifen. Alles das, was die Chaostheorie beschreibt, ist Chaos mit System.<br />
Menschen und Moleküle sind nicht dasselbe<br />
Das scheint nun alles wun<strong>de</strong>rschön auf <strong>de</strong>n Anarchismus zu passen. Wir brauchen nur Molekülgitter mit<br />
Menschen gleichzusetzen, und schon erkennen wir, daß auch <strong>de</strong>r Anarchismus als soziale Theorie "bunt,<br />
vielfältig und komplex" ist, sich "selbstverwaltet" organisiert und ein System ist, <strong>de</strong>ssen "Endzustand<br />
Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung" ist. Auch <strong>de</strong>r Anarchismus schlägt eine Struktur vor, die uns<br />
›chaotisch‹ erscheint, weil wir sie nicht ohne weiteres verstehen, die aber - so behaupten wenigstens die<br />
Anarchisten - hervorragend funktioniert. Wun<strong>de</strong>rbar.<br />
Aber Vorsicht! Anarchismus ist nicht Natur und Natur ist nicht anarchistisch. Möglicherweise haben sie<br />
vergleichbare Strukturen, und Anarchisten vermuten, daß ihr horizontal-›chaotisches‹ Sozialsystem sich<br />
besser mit <strong>de</strong>r Natur verträgt, als das vertikal-hierarchische. Das mag stimmen, aber <strong>de</strong>nnoch ist es nicht<br />
dasselbe. Verfallen wir nicht in <strong>de</strong>n Fehler <strong>de</strong>r Aufklärung, die innere Logik von Newtons mechanischen<br />
Gesetzen einfach auf die Menschheit zu übertragen!<br />
Naturwissenschaften versuchen, die real existieren<strong>de</strong> Natur zu beschreiben, zu begreifen und zu<br />
interpretieren. Soziale Systeme aber kommen vom Menschen und sind für <strong>de</strong>n Menschen gedacht, sie sind<br />
subjektiv und in ihnen spiegeln sich neben Erkenntnissen auch Wünsche. Die Naturwissenschaft darf<br />
nicht sagen, wie sie's gerne hätte, son<strong>de</strong>rn, wie's ist. Der Mensch aber darf das wohl (und <strong>de</strong>r<br />
Anarchismus tut dies sehr heftig).
Nun scheinen zwar Chaosforscher wie <strong>de</strong>r Chemie-Nobelpreisträger Ilya Prigogine o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Stuttgarter<br />
Physikprofessor Hermann Haken auch die menschliche Gesellschaft als ein "nichtlineares, dynamisches<br />
System" zu betrachten, was man ja als sprachliche Analogie durchaus noch akzeptieren kann. Sobald aber<br />
die Naturwissenschaft beginnt, ihre Computersimulationen von Schneeflocken und Molekülketten auf die<br />
sozialen Zusammenhänge lebendiger Menschen zu projizieren, vergißt sie ganz einfach das, was <strong>de</strong>n<br />
Menschen ausmacht: <strong>de</strong>n subjektiven Faktor, o<strong>de</strong>r, an<strong>de</strong>rs ausgedrückt, <strong>de</strong>n Willen. Der Philosoph und<br />
Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend, <strong>de</strong>r durch seine "anarchistische Erkenntnistheorie" bekannt<br />
wur<strong>de</strong>, meint hierzu:<br />
"Was aber <strong>de</strong>n Prigogine selbst betrifft, so erfüllen mich seine I<strong>de</strong>en keineswegs mit Freu<strong>de</strong>. Was<br />
dahintersteckt, ist <strong>de</strong>r Versuch, eine anfassen<strong>de</strong> und einheitliche Theorie aller wichtigen Erscheinungen in<br />
<strong>de</strong>r Welt zu fin<strong>de</strong>n, das heißt, (...) eine neue intellektuelle Tyrannei, die selbst die Humanoria* auf die<br />
Monotonie* eines einzigen Schemas reduzieren will."<br />
Diese Befürchtung ist nicht so weit hergeholt. Heute wer<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Chaostheorie in<br />
69<br />
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einem Aufwasch die Bildung von Eiskristallen und die französischen Jugendrevolten, <strong>de</strong>r Umfang <strong>de</strong>s<br />
Apfelmännchens und die Geldzirkulation ›erklärt‹, und vermutlich wird es nicht mehr lange dauern, bis<br />
das Pentagon* an Microsoft <strong>de</strong>n Auftrag vergibt, die soziale Revolution zu simulieren und als fraktales<br />
Diagramm* auszudrucken.<br />
Im Moment ist die Chaostheorie eine Mo<strong>de</strong>erscheinung – ein Steinbruch, in <strong>de</strong>m sich je<strong>de</strong>r bedient.<br />
Während <strong>de</strong>r Göttinger Nobelpreisträger Manfred Eigen hier (durchaus seriös) die biochemischen<br />
Bausteine fin<strong>de</strong>t, um die Lücken <strong>de</strong>r Darwinschen Evolutionstheorie zu schließen, suchen sich zur<br />
gleichen Zeit (be<strong>de</strong>utend weniger seriös) sogenannte ›Kreationisten‹ die Brocken heraus, mit <strong>de</strong>nen sie<br />
glauben, die I<strong>de</strong>e eines ›göttlichen Schöpfungsplans‹ retten zu können, und es ist wohl nur noch eine<br />
Frage <strong>de</strong>r Zeit, bis die Chaostheorie auf <strong>de</strong>r Titelseite <strong>de</strong>s "Wachturm" zum Beweis von Jehovas Allmacht<br />
herangezogen wird. Das alles ist nicht die Schuld <strong>de</strong>r Chaosforschung, son<strong>de</strong>rn nur die übliche<br />
Begleiterscheinung eines je<strong>de</strong>n wissenschaftlichen Paradigmenwechsels, an die sich die Anarchisten (wie<br />
seriös auch immer) nicht anhängen müssen.<br />
Darum geht es auch gar nicht.<br />
Worauf es ankommt, ist meiner Meinung nach die Chance, die in einem neuen naturwissenschaftlichen<br />
Weltbild liegen kann:<br />
Wissenschaftliche Theorien sind Krücken, mit <strong>de</strong>ren Hilfe wir uns einen Weg durch die Realität bahnen.<br />
Sie sind nicht die Realität, son<strong>de</strong>rn Hilfsmittel zu ihrem Verständnis. Wenn heute gesagt wird, die<br />
Chaostheorie "löst die Newtonsche Physik ab", so ist das ausgemachter Unsinn. Nach wie vor ›stimmt‹<br />
je<strong>de</strong>r Versuch <strong>de</strong>r ›linearen‹ Mechanik im Labor, so wie er vorgestern gestimmt hat. Und offenkundig<br />
kommen wir im Maschinenbau mit <strong>de</strong>n mechanischen Gesetzen besser zurecht als mit <strong>de</strong>r Chaostheorie.<br />
Was neue Theorien verän<strong>de</strong>rn, ist das Weltbild, <strong>de</strong>nn sie verschieben <strong>de</strong>n Blickwinkel, unter <strong>de</strong>m<br />
Phänomene erforscht wer<strong>de</strong>n.<br />
Be<strong>de</strong>utung für <strong>de</strong>n Anarchismus<br />
Diese Verschiebung <strong>de</strong>s Blickwinkels ist für <strong>de</strong>n Anarchismus als soziale Theorie interessant.<br />
Bisher war die Wissenschaft auf Vereinfachung eingestellt, nun wen<strong>de</strong>t sie sich <strong>de</strong>r Komplexität zu. Die<br />
verhängnisvolle Einseitigkeit <strong>de</strong>s Determinismus kommt ein<strong>de</strong>utig aus <strong>de</strong>r Physik, jenem "terrible<br />
simplificateur"*, von <strong>de</strong>m kein geringerer als Albert Einstein sagte, daß seine "Klarheit und Einfachheit<br />
nur auf Kosten <strong>de</strong>r Vollständigkeit <strong>de</strong>r Erkenntnis" möglich ist. In <strong>de</strong>r realen Welt aber ist, wie <strong>de</strong>r
Wissenschaftsautor Rudolf von Wol<strong>de</strong>ck sagt, "Einfachheit eine sehr seltene Sache".<br />
Wenn aber die Wissenschaft – endlich! – Komplexität, Vielfalt, Gegensätzlichkeit, Buntheit und<br />
Steuerungssysteme <strong>de</strong>r Selbstorganisation in <strong>de</strong>n Phänomenen <strong>de</strong>r Natur ernst nimmt und erforscht, so<br />
kann das für die soziale Theorie <strong>de</strong>s Anarchismus indirekt einen positiven ›Klimawechsel‹ be<strong>de</strong>uten. Es<br />
wird die Bereitschaft erhöhen, auch im Politischen<br />
70<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
und Sozialen von solch schrecklich simplen Vereinfachungen Abstand zu nehmen wie <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s<br />
Staates, <strong>de</strong>r Hierarchie und <strong>de</strong>r sozialen Steuerung durch Befehl und Gehorsam. Und es könnte dazu<br />
beitragen, unkonventionelle Vorschläge zur sozialen Organisation nicht gleich <strong>de</strong>shalb als ›chaotisch‹<br />
abzulehnen, weil wir sie nicht ohne weiteres durchschauen und ihnen darum die Fähigkeit absprechen,<br />
daß sie tatsächlich funktionieren.<br />
Literatur:<br />
/ Bernd Olaf Küppers: Wenn das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile in: Chaos und Kreativität<br />
(Geo-Spezial) Hamburg 1990, Gruner+Jahr, 192 S., ill.<br />
/ Rudolf von Wol<strong>de</strong>ck: Formeln für das Tohuwabohu in: Das Chaos Berlin 1989, Kursbuch, 180 S., ill.<br />
/ Ilya Prigogine, Isabelle Stengers: Dialog mit <strong>de</strong>r Notar München 1981, Piper, 347 S.<br />
/ Friedrich Cramer: Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur <strong>de</strong>s Lebendigen Stuttgart 1989, DVA,<br />
320 S.<br />
71<br />
Kapitel 14<br />
Eine an<strong>de</strong>re Ökonomie<br />
Der persönliche Besitz ist die Bedingung <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Lebens.<br />
Fünftausend Jahre Eigentum beweisen: Das Eigentum ist <strong>de</strong>r Selbstmord <strong>de</strong>r Gesellschaft.<br />
Der Besitz ist rechtlich; das Eigentum ist wi<strong>de</strong>rrechtlich.<br />
Pierre-Joseph Proudhon<br />
Das Land <strong>de</strong>nen, die es bearbeiten!<br />
Losung in <strong>de</strong>r spanischen Revolution<br />
ICH FAHRE MIT MEINEM AUTO gegen einen Tanklastzug, <strong>de</strong>r Chemikalien gela<strong>de</strong>n hat, ins<br />
Schleu<strong>de</strong>rn gerät, umkippt und ausläuft. Mit Knochenbrüchen und Quetschungen befin<strong>de</strong> ich mich im<br />
Wrack meines Wagens, halb in eine Schil<strong>de</strong>rbrücke geschoben, die be<strong>de</strong>nklich ramponiert ist. Der<br />
Rettungshubschrauber bringt mich ins Krankenhaus, während die Feuerwehr <strong>de</strong>n Tanklastzug birgt. Nach<br />
zwei Wochen hat eine Spezialfirma das verseuchte Erdreich ausgehoben, die Autobahnmeisterei die<br />
Schil<strong>de</strong>rbrücke instandgesetzt und ein Versicherungsarzt mir lebenslange Berufsunfähigkeit attestiert.<br />
Nun bin ich Invali<strong>de</strong>.<br />
Man könnte meinen, ich hätte Pech gehabt.<br />
Nun ja, ich vielleicht, aber alles in allem war es ein Glücksfall. Ökonomisch gesehen. Die ganze<br />
Kalamität* hat nämlich das Bruttosozialprodukt um gut eine Million Mark gesteigert, und das ist in <strong>de</strong>r<br />
Volkswirtschaft unumstritten positiv. Denn unsere Wirtschaft fragt nicht nach einem vernünftigen Sinn,<br />
son<strong>de</strong>rn einzig nach <strong>de</strong>m monetären* Effekt. Nicht Vernunft ist ihr Motor, son<strong>de</strong>rn Wachstum.<br />
Mit einer Ökonomie, die eine Katastrophe als positiv verbucht, kann etwas nicht stimmen.<br />
Ein absur<strong>de</strong>s System und seine absur<strong>de</strong> Wissenschaft
Um sich die Verrücktheit unseres Wirtschaftssystems klarzumachen, ist es hilfreich, sich zunächst einmal<br />
ganz dumm zu stellen. Eine im positiven Sinne naive, das heißt unvoreingenommene, direkte und<br />
respektlose Herangehensweise an die so kompliziert erscheinen<strong>de</strong><br />
71<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Welt <strong>de</strong>r Ökonomie bewahrt uns vor <strong>de</strong>r Tragik <strong>de</strong>r Wirtschaftswissenschaftler: sie wissen ungeheuer viel<br />
und können ungeheuer wenig. Tatsächlich gleichen heutige Ökonomen hilflosen Theoriesilos, bis zum<br />
Rand mit Detailwissen vollgestopft, aber <strong>de</strong>nnoch ohne rechten Durchblick. Keiner von ihnen ist in <strong>de</strong>r<br />
Lage, mit <strong>de</strong>n zahllosen Instrumentarien <strong>de</strong>r Wirtschaftswissenschaften auch nur einen Aspekt heutiger<br />
Wirtschaftsprobleme zuverlässig zu steuern o<strong>de</strong>r gar zu lösen – seien es nun Inflation, Arbeitslosigkeit,<br />
Überproduktion o<strong>de</strong>r Hunger. In ihrer Hilflosigkeit gleichen sie Hautärzten, die, ebenfalls voll <strong>de</strong>r<br />
Theorie, angesichts eines rätselhaften Ekzems nichts an<strong>de</strong>res tun können, als zaghaft einmal diese<br />
Tinktur, einmal jene Salbe auszuprobieren in <strong>de</strong>r Hoffnung, mit viel Glück könnte ein passables Ergebnis<br />
herauskommen.<br />
Diese launige Einleitung hat ihren Grund. Sie soll uns <strong>de</strong>n Respekt vor einer ›Wissenschaft‹ nehmen, die<br />
sich selbst auf <strong>de</strong>n Sockel einer gewissen Heiligkeit gestellt hat, im Grun<strong>de</strong> aber ratlos vor einer wirren<br />
Realität steht: <strong>de</strong>m >Phänomen Wirtschaft< In über zweihun<strong>de</strong>rt Jahren Suche nach <strong>de</strong>n Grundprinzipien<br />
sogenannter >ökonomischer Gesetze< ist diese Ratlosigkeit kaum kleiner gewor<strong>de</strong>n. Es gab Zeiten, da<br />
vermuteten Ökonomen die Gesetze <strong>de</strong>r Wirtschaft in <strong>de</strong>n Teepreisen, in <strong>de</strong>r Goldmenge, in <strong>de</strong>r<br />
Sympathie, im lieben Gott o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Arbeit. Heute starren Legionen von Fachidioten auf Börsenin<strong>de</strong>xe,<br />
Bruttosozialprodukte, Inflationsraten, Zinssätze, Marktpreise und Diskonte. Und je<strong>de</strong> Schule bringt ihre<br />
eigene Wirtschaftstheorie hervor, verficht sie hartnäckig und experimentiert mit Millionen lebendiger<br />
Opfer. Funktionieren tut allerdings keine.<br />
Versuchen wir's mit <strong>de</strong>r ›Naivität‹ mal an einem beliebigen Beispiel: Wenn ich heute eine Deutsche Mark<br />
seriös und festverzinslich anlege – sagen wir, in Staatsanleihen zu 5 % Verzinsung –, dann können,<br />
abzüglich einer mit 5 % angenommenen jährlichen Inflation nach 800 Jahren 20 Milliar<strong>de</strong>n Menschen<br />
von <strong>de</strong>r Zinsrendite prima leben. Sie brächte nämlich etwa 500 Mark pro Kopf und Tag. Für viermal mehr<br />
Menschen, als heute auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> leben. Von nur einer Mark. Ohne einen Finger zu rühren. Ist das nicht<br />
toll?<br />
Das ist keine böswillig konstruierte Verdrehung, son<strong>de</strong>rn die Konsequenz einer ökonomischen<br />
Grundregel, die heute heilig ist und von nieman<strong>de</strong>m ernsthaft angezweifelt wird: <strong>de</strong>m Zins. Kluge<br />
Ökonomen wer<strong>de</strong>n entgegnen, daß dieser Fall unwahrscheinlich wäre, das hielte keine Bank und kein<br />
Staat 800 Jahre durch. Stimmt. Und genau darum geht es: Die Zinsi<strong>de</strong>e lebt vom exponentiellen*<br />
Wachstum. Sie kann auf Dauer nur funktionieren, wenn auch die Wirtschaft unendlich wächst.<br />
Exponentielles Wachstum aber ist nur theoretisch möglich. We<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Mensch noch die Umwelt kann sie<br />
verkraften. Es kommt in <strong>de</strong>r Natur nur als Abnormität vor, zum Beispiel als unkontrollierte Wucherungen<br />
von Körperzellen. Wir nennen das Krebs, und <strong>de</strong>r führt zum Tod <strong>de</strong>s betroffenen Körpers. Mit Recht<br />
betrachten wir dies als eine Krankheit. Das Absur<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Zinsi<strong>de</strong>e, im Frühstadium nicht augenfällig<br />
und schwer erkennbar, wird erst <strong>de</strong>utlich, wenn wir weit genug voraus<strong>de</strong>nken.<br />
Daher das Beispiel mit <strong>de</strong>n 800-jährigen Festgeld. Absurd ist nicht das Beispiel, son<strong>de</strong>rn die<br />
Wertvorstellung, auf <strong>de</strong>r es fußt.<br />
72<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Das führt dann etwa zu <strong>de</strong>m Zustand, daß je<strong>de</strong>s Baby in unserem Land schon mit <strong>de</strong>n annähernd 30.000
Mark Schul<strong>de</strong>n zur Welt kommt, die auch wir alle genauso auf <strong>de</strong>m Buckel haben, weil Staat, Län<strong>de</strong>r und<br />
Gemein<strong>de</strong>n je<strong>de</strong>s Jahr neue Schul<strong>de</strong>n machen, mit <strong>de</strong>nen sie die Zinsen <strong>de</strong>r Schul<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s vorherigen<br />
Jahres zahlen müssen, und so weiter ... Mittlerweile ist <strong>de</strong>r Zins- und Schul<strong>de</strong>ndienst im Bun<strong>de</strong>shaushalt<br />
fast doppelt so hoch wie <strong>de</strong>r riesige Verteidigungsetat! Die Bürger eines <strong>de</strong>r reichsten Län<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />
sind rechnerisch total verarmt. – Ist das nicht absurd?<br />
Ebenso absurd ist die I<strong>de</strong>ologie, die hinter diesen Beispielen steckt. Verzinsung, Wachstum,<br />
Spekulationskapital und arbeitsloses Einkommen sind die heiligen Eckpfeiler unserer<br />
›Wirtschaftsreligion‹. Im Grun<strong>de</strong> hängen alle Spekulanten und die meisten Ökonomen <strong>de</strong>r albernen I<strong>de</strong>e<br />
an, Reichtum (was sie mit Glück und Wohlstand gleichsetzen) könne letztlich aus sich heraus und von<br />
selbst entstehen. Angeblich arbeiten nicht Menschen, son<strong>de</strong>rn das Geld.<br />
Eine ganze Generation von Yuppies* fährt auf die Zeitgeist-Mo<strong>de</strong> dieses dümmlichen american dream ab,<br />
die besagt, wir alle könnten (auf Kosten an<strong>de</strong>rer) Millionär wer<strong>de</strong>n. Ich muß gar nicht son<strong>de</strong>rlich naiv<br />
sein, um einzusehen, daß das selbstverständlich nicht geht. Es können we<strong>de</strong>r 20 Milliar<strong>de</strong>n Menschen von<br />
<strong>de</strong>m theoretischen Zinsertrag einer Mark leben, noch alle Menschen von Börsenspekulation, weil es sich<br />
um Phantasiewerte han<strong>de</strong>lt. Hinter Spekulationsgewinnen steht nichts Reales; irgendjemand muß ja<br />
schließlich arbeiten, Waren, Werte und Dienstleistungen erzeugen. Absahnen können immer nur wenige<br />
und niemals alle — sonst funktioniert das System nicht. Aber trotz<strong>de</strong>m leben heute ganze Konzerne,<br />
Branchen und Klassen von nichts an<strong>de</strong>rem als von Spekulationsgewinn und Zinsertrag.<br />
Mit Geld zu han<strong>de</strong>ln, Werte hin- und herzuschieben ist das größte Geschäft aller Zeiten. Dabei geht es<br />
schon längst nicht mehr um Zinsen: Swaps, Derivate und Optionen heißen die neuesten Seifenblasen <strong>de</strong>r<br />
Spekulation – sogenannte "Buchgel<strong>de</strong>r" ohne realen Gegenwert, die in Deutschland noch vor Kurzem<br />
juristisch wie nicht einklagbare Wettschul<strong>de</strong>n behan<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>n. Seit sie jedoch an <strong>de</strong>n Börsen zugelassen<br />
wur<strong>de</strong>n, beherrschen sie <strong>de</strong>n Finanzmarkt und haben dazu beigetragen, daß auf <strong>de</strong>r Welt rechnerisch 30-<br />
50 mal mehr ›Geld‹ im Umlauf ist, als reale Werte existieren. Professionelle Finanzjongleure verdienen<br />
binnen Minuten schonmal ein paar Millionen Dollar; sie sind faktisch >mächtiger< als Regierungen und<br />
Notenbanken. Niemand hat sie jedoch gewählt, und niemand kann sie kontrollieren. Sie bewegen<br />
innerhalb weniger Stun<strong>de</strong>n Geldbeträge, für <strong>de</strong>ren Bewilligung ein Parlament eine halbe Legislaturperio<strong>de</strong><br />
brauchte.<br />
Natürlich bleiben da inflationshemmen<strong>de</strong> Steuerungskäufe <strong>de</strong>r Notenbanken wirkungslos. Und <strong>de</strong>r normal<br />
arbeiten<strong>de</strong> Mensch erwacht <strong>de</strong>s morgens, liest in <strong>de</strong>r Zeitung, daß ›seine Währung‹ über Nacht 10, 20<br />
Prozent an Wert verloren hat, und wun<strong>de</strong>rt sich — wo er doch immer so fleißig arbeitet... Aber auch die<br />
›ganz normalen‹ Finanzgeschäfte lohnen sich: Das Versicherungs- und Bankgewerbe weiß schon heute<br />
kaum mehr, wohin mit <strong>de</strong>m ganzen Geld; ihm gehört immer mehr Bo<strong>de</strong>n mit allem, was draufsteht. All<br />
das ist keine Fiktion*, das ist die traurige Realität: Wer arbeitend produziert, macht nicht das Geschäft,<br />
son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r unproduktiv spekuliert, kauft und verkauft.<br />
73<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
"Na bitte, es funktioniert also", sagen die Anhänger dieser I<strong>de</strong>e.<br />
Meine Naivität sagt mir in<strong>de</strong>s, daß diese Grundlage einer Wirtschaft keine Perspektive hat und nicht auf<br />
Dauer funktioniert. Sie ›funktioniert‹ nur für eine bestimmte Zeit und nur in begrenzten Gebieten. Sie<br />
›funktioniert‹ nur für wenige und immer auf Kosten an<strong>de</strong>rer Menschen, die die Zeche solcher künstlichen<br />
›Gewinne‹ bezahlen müssen – und auch das nur können, solange die Wirtschaft wächst. Deshalb ist<br />
Wachstum ein solch heiliger Bestandteil ökonomischen Glaubens.<br />
Ökonomen allerdings sind neunmalklug: Anhänger <strong>de</strong>s Wirtschaftswissenschaftlers Milton Friedman zum<br />
Beispiel, die sogenannten Chigaco Boys, propagieren allen Ernstes Südkorea als Mo<strong>de</strong>ll für an<strong>de</strong>re<br />
Entwicklungslän<strong>de</strong>r, mit <strong>de</strong>nen sich die Armut <strong>de</strong>r Dritten Welt beheben ließe. Korea hat tatsächlich <strong>de</strong>n<br />
Sprung von einem - finanziell gesehen - armen Agrarland zu einer <strong>de</strong>r reichsten Industrienationen in nur
zwanzig Jahren bewerkstelligt. Wie? In<strong>de</strong>m es, ähnlich wie Hong-Kong und Taiwan, die halbe Welt mit<br />
billigen Massenprodukten und industriellem Wegwerf-Tand überzieht — was nebenbei bemerkt nur mit<br />
<strong>de</strong>m Trick <strong>de</strong>r militärischen Kontrolle <strong>de</strong>r Arbeiterschaft und <strong>de</strong>ren Entrechtung möglich war.<br />
Ärmere Län<strong>de</strong>r müssen nun diese Waren zu überhöhten Preisen kaufen, während diese für ihre Rohstoffe<br />
und Agrarprodukte nur einen Spottpreis bekommen, <strong>de</strong>n die reichen Län<strong>de</strong>r noch dazu selbst festlegen<br />
dürfen. Das ist natürlich ein gutes Geschäft für Korea. Der Geniestreich <strong>de</strong>r Chicago Boys besteht nun in<br />
<strong>de</strong>r schier unglaublichen Aussage, das könnten doch alle an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>r auch so machen ...! Kann man<br />
sich etwas Dümmeres <strong>de</strong>nken? Muß ich naiv sein, um zu begreifen, daß nicht alle Menschen und alle<br />
Län<strong>de</strong>r reich wer<strong>de</strong>n können, in<strong>de</strong>m sie sich gegenseitig übervorteilen? Nun, Friedmans I<strong>de</strong>e war einen<br />
Nobelpreis wert; seine Crew hat das Rezept ausprobiert und damit ein halbes Dutzend Län<strong>de</strong>r wie Chile,<br />
Venezuela o<strong>de</strong>r Mexiko "saniert". Es erübrigt sich zu sagen, wer die Kosten dieser Scheinblüte am En<strong>de</strong><br />
›bezahlen‹ muß — was angesichts <strong>de</strong>r Zinsen nicht einmal mehr möglich scheint.<br />
So sehr die Absurdität auch auf <strong>de</strong>r Hand liegt, so sehr wird sie verdrängt. Schlimmer noch: Es wird nicht<br />
darüber nachgedacht. Ökonomen sind heute weiter <strong>de</strong>nn je davon entfernt, ethische Visionen einer<br />
menschenwürdigen Wirtschaftsgesellschaft zu entwickeln, ja - sie <strong>de</strong>nken nicht einmal im Rahmen <strong>de</strong>s<br />
heute Bestehen<strong>de</strong>n voraus. Sie sind zu Flickschustern eines unmöglichen Systems gewor<strong>de</strong>n.<br />
Trotz<strong>de</strong>m stehen Betriebswirte und Ökonomen gera<strong>de</strong> heute in <strong>de</strong>m Ruf, beson<strong>de</strong>rs smart und<br />
benei<strong>de</strong>nswert durchblickend zu sein; mo<strong>de</strong>rne Nationalökonomen wie Milton Friedman, Kenneth<br />
Galbraith o<strong>de</strong>r Paul A. Samuelson umgibt gar eine Aura gottgleicher Weisheit. Den Ausbund an Klugheit<br />
verkörpern angeblich die Notenbanker, die an <strong>de</strong>r Nahtstelle zwischen Theorie und Praxis stehen. Wie<br />
erbärmlich es jedoch um <strong>de</strong>ren Durchblick bestellt ist, mußte <strong>de</strong>r exponierte* <strong>de</strong>utsche Zinskritiker<br />
Helmut Creutz erfahren, <strong>de</strong>r einmal die seltene Gelegenheit bekam, <strong>de</strong>n damaligen<br />
Bun<strong>de</strong>sbankpräsi<strong>de</strong>nten Hans-Otto Pöhl auf diese Themen anzusprechen. Als er ihn fragte, was er von <strong>de</strong>r<br />
Zinsproblematik und <strong>de</strong>ren verheeren<strong>de</strong>n Auswirkungen auf Geldmenge, Schul<strong>de</strong>nentwick-<br />
74<br />
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lung und Umschichtung <strong>de</strong>r Einkommen halte, mußte dieser ziemlich unumwun<strong>de</strong>n zugeben, daß er sich<br />
darüber - noch keine Gedanken gemacht habe! Auch <strong>de</strong>r ebenfalls anwesen<strong>de</strong> Sparkassenpräsi<strong>de</strong>nt<br />
Helmut Geiger mußte passen... Solche hochbezahlten Koryphäen* <strong>de</strong>nken in ihrer professionell<br />
eingeschränkten Wahrnehmungsweise selten weiter als fünf Jahre voraus. Sie lenken aber nicht nur unsere<br />
Wirtschaft, sie entschei<strong>de</strong>n auf ›Weltwirtschaftsgipfeln‹ auch über Leben o<strong>de</strong>r Sterben <strong>de</strong>r Dritten Welt,<br />
und letztlich stellen sie in ihrer berufsbedingten Blindheit die Weichen für die Zukunft unseres Planeten.<br />
Soviel zum Thema Zins und Spekulationsgewinne, die hier nur als zwei Beispiele für die zahllosen<br />
Absurditäten unsere Ökonomie stehen. Tröstlich ist hierbei allenfalls <strong>de</strong>r Gedanke, daß dieser Unfug nicht<br />
nur mir, son<strong>de</strong>rn sicher auch Millionen an<strong>de</strong>ren Menschen täglich auffällt, sofern sie sich aus <strong>de</strong>n<br />
Nachrichten über die Triumphe <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Marketing informieren. Für wen mag es wohl einleuchtend<br />
sein, daß in Europa subventionierte* Nahrungsmittel vernichtet wer<strong>de</strong>n, während im Rest <strong>de</strong>r Welt<br />
minütlich 140 Menschen <strong>de</strong>n Hungertod sterben? Daß aber an<strong>de</strong>rerseits ein fadschmecken<strong>de</strong>r, wässriger<br />
Plantagenapfel aus Neuseeland, Südafrika o<strong>de</strong>r Chile um die ganze Welt ins Apfelland Deutschland<br />
transponiert wird, um hier verzehrt, verdaut und ausgeschissen zu wer<strong>de</strong>n, während bei uns<br />
wohlschmecken<strong>de</strong> Apfel am Baum verfaulen. O<strong>de</strong>r daß wir in Ostfriesland württembergische Butter<br />
kaufen, in Württemberg bayerische, in Bayern friesische und irische überall, während an<strong>de</strong>rnorts mit<br />
aufwendigen Verfahren überschüssige Milch verdampft, verpulvert, verfüttert wird. Ist es etwa vernünftig,<br />
daß sinnlose, überflüssige o<strong>de</strong>r bedrohliche Arbeit einzig aus <strong>de</strong>m Grund getan wird, weil sie<br />
Arbeitsplätze schafft (= ökonomisch sinnvoll), während dringend benötigte, gesellschaftlich sinnvolle<br />
Arbeit nicht verrichtet wird, weil sie nicht rentabel ist (= ökonomisch sinnlos). O<strong>de</strong>r daß ein Viertel <strong>de</strong>r<br />
Erwerbstätigen überhaupt keine Arbeit hat, während die restlichen drei Viertel immer noch volle acht<br />
Stun<strong>de</strong>n täglich in Streß und Hetze arbeiten müssen. Und so weiter...
Der Gipfel all dieser Absurditäten ist das ›Bruttosozialprodukt‹ die Summe aller Waren und<br />
Dienstleistungen eines Lan<strong>de</strong>s, sozusagen das gol<strong>de</strong>ne Kalb <strong>de</strong>r Ökonomen. Ist es hoch, wird eine<br />
Wirtschaft als gut funktionierend eingestuft, ist es niedrig, gilt eine Wirtschaft als krank. Macht man sich<br />
klar, daß je<strong>de</strong> Katastrophe, je<strong>de</strong>r Versicherungsfall, je<strong>de</strong>r Zinsgewinn, je<strong>de</strong>s Stück vernichtete Natur, je<strong>de</strong>r<br />
Unfall, je<strong>de</strong>r Krieg und je<strong>de</strong> Mark Sozialhilfe in dieses Bruttosozialprodukt eingehen, sollte eher das<br />
Gegenteil <strong>de</strong>r Fall sein. Wenn es etwas misst, dann <strong>de</strong>n Grad an Irrationalität einer Wirtschaft. Dabei ist<br />
es ebenso einleuchtend wie banal, daß in eine gescheite ökonomische Kosten-Nutzenrechnung die<br />
ökologischen Folgen ebenso hineingehören wie <strong>de</strong>r Verbrauch an Ressourcen. Keinem Fabrikanten wür<strong>de</strong><br />
es einfallen, bei <strong>de</strong>r Kalkulation Lagerbestän<strong>de</strong>, Reparaturen und Rohmaterial zu ›vergessen‹. In <strong>de</strong>r<br />
Volkswirtschaft jedoch geschieht dies ständig: Wirtschaftspolitische Entscheidungen schielen nur auf<br />
kurzfristige Rendite und die schnelle Steigerung <strong>de</strong>s Bruttoinlandprodukts. Ressourcenverbrauch und<br />
ökologische Kosten wer<strong>de</strong>n "<strong>de</strong>r Gesellschaft" hinterlassen. Mögen unsere Kin<strong>de</strong>r und Enkel sehen, wie<br />
sie damit klarkommen!<br />
75<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
All dies spüren die allermeisten Menschen und empfin<strong>de</strong>n es als verrückt. Um <strong>de</strong>n Preis <strong>de</strong>r<br />
Lächerlichkeit jedoch traut sich niemand, das zu sagen - die Ökonomen sind ja so klug, Ökonomie ist<br />
doch eine so komplizierte Wissenschaft, und da wir keine Fachleute sind, könnten wir uns am En<strong>de</strong><br />
blamieren... In Wahrheit blamiert sich die Wirtschaftswissenschaft. Darüber könnten wir eigentlich<br />
lächeln, wenn wir nicht gleichzeitig auch Opfer wären,<br />
Erst die ›naive Sicht‹, die respektlose Hinterfragung <strong>de</strong>ssen, was wir kennen und als gegeben hinnehmen,<br />
macht uns frei für einen Blick auf die Möglichkeiten, wie eine Ökonomie auch an<strong>de</strong>rs organisiert sein<br />
könnte. Und diese naive Sicht bekommen wir erst, wenn wir die hilflose Geschäftigkeit <strong>de</strong>r<br />
ökonomischen Halbgötter durchschaut haben. Eine gänzlich an<strong>de</strong>re Ökonomie aber ist nötig, <strong>de</strong>nn die alte<br />
hetzt sich in ihren immer enger wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Grenzen zu To<strong>de</strong> und nimmt uns mit auf diese Reise. Ohne<br />
eine an<strong>de</strong>re Ökonomie wird es auch keine freie Gesellschaft geben, ebenso, wie eine befreite Wirtschaft<br />
nicht in einer unfreien Gesellschaft funktionieren könnte. Denn ›Wirtschaft‹ ist nicht bloß irgen<strong>de</strong>in<br />
reformierbarer Teilbereich, son<strong>de</strong>rn eine prägen<strong>de</strong> Struktur <strong>de</strong>r ganzen Gesellschaft, die auf alle Bereiche<br />
<strong>de</strong>s Lebens wirkt. Eine libertäre Ökonomie ist somit zwar keine hinreichen<strong>de</strong>, aber eine notwendige<br />
Voraussetzung für eine libertäre Gesellschaft.<br />
Kritik <strong>de</strong>s Kapitalismus<br />
Die Erschütterung <strong>de</strong>s Vertrauens in die Klugheit <strong>de</strong>r herrschen<strong>de</strong>n Ökonomie allerdings ist noch keine<br />
ernstzunehmen<strong>de</strong> Kritik an ihr. Bevor wir uns also möglichen anarchistischen Wirtschaftssystemen<br />
zuwen<strong>de</strong>n, wollen wir die notwendige Polemik verlassen und die ebenso notwendige Skizze einer Kritik<br />
<strong>de</strong>r Ökonomie versuchen.<br />
Unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem wird Kapitalismus genannt, weil das Kapital in ihm maßgeblich<br />
bestimmt. Das Kapital sind die wirtschaftlichen Werte. Egal, ob es sich hierbei um Fabriken, Aktien,<br />
Gesellschaften, Banken, Bo<strong>de</strong>nschätze, Technologien, Immobilien o<strong>de</strong>r Grundbesitz han<strong>de</strong>lt, läßt sich ihr<br />
Wert immer in Geld ausdrücken. Kapital hat Eigentümer, und die können in <strong>de</strong>r Regel uneingeschränkt<br />
darüber verfügen. Diese Eigentümer wer<strong>de</strong>n als Kapitalisten bezeichnet. Da diese mit <strong>de</strong>m Kapital auch<br />
über die Produktionsmittel* verfügen, sind sie automatisch auch Eigentümer <strong>de</strong>r Arbeitsplätze.<br />
Unabhängig von je<strong>de</strong>r Art <strong>de</strong>r Regierung o<strong>de</strong>r Verfassung eines Lan<strong>de</strong>s sind Kapitalisten in <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Wirklichkeit die Inhaber <strong>de</strong>r tatsächlichen Macht. Praktisch ist die Politik von <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaft abhängig und nicht umgekehrt. Parlamente, Parteien, I<strong>de</strong>ologien und Regierungen sind oftmals<br />
nur ver<strong>de</strong>ckte Interessenvertreter <strong>de</strong>s Kapitals.
Diese Begriffe sind heute ziemlich aus <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong> gekommen, und niemand spricht mehr gerne in diesen<br />
Worten. Aber auch die netteren Re<strong>de</strong>wendungen aus <strong>de</strong>m Yuppie-Slang* än<strong>de</strong>rn nichts an diesen<br />
schlichten Tatsachen, die für je<strong>de</strong>n erkennbar auf <strong>de</strong>r Hand liegen. Allerdings müssen wir uns heute unter<br />
einem ›Kapitalisten‹ nicht mehr jenen häßlichen, dicken Mann mit Zylin<strong>de</strong>rhut und Zigarre vorstellen,<br />
<strong>de</strong>m das Geld aus <strong>de</strong>n Taschen kullert. Dieses Klischee hat nie gestimmt. Heute haben wir es tatsächlich<br />
meist mit Gesellschaften<br />
76<br />
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zu tun, Banken und multinationalen Firmennetzen. Deren Repräsentanten sind äußerlich recht<br />
unauffällige Herren, die in Aufsichtsräten, Direktionsteams und Finanztrusts wirken. Echte<br />
Privatunternehmer o<strong>de</strong>r Familienclans sind selten gewor<strong>de</strong>n. Das Gewebe kapitalistischer<br />
Besitzverhältnisse ist heute ungleich komplizierter und undurchschaubarer, und oft sind die Arbeitnehmer<br />
bis zu einem gewissen Gra<strong>de</strong> ihre eigenen Ausbeuter, in<strong>de</strong>m sie Kapitalanteile besitzen. An <strong>de</strong>n<br />
grundsätzlichen Strukturen <strong>de</strong>s Wirtschaftssystems und seinen Ungerechtigkeiten än<strong>de</strong>rt das allerdings<br />
nichts - im Gegenteil: die Kapitalinteressen sind dadurch eher noch besser organisiert und entsprechend<br />
mächtiger.<br />
Bis vor nicht allzulanger Zeit gab es zwei verschie<strong>de</strong>ne kapitalistische Systeme: <strong>de</strong>n Privatkapitalismus<br />
und <strong>de</strong>n Staatskapitalismus - das Wirtschaftssystem <strong>de</strong>r ›westlichen Welt‹ und das <strong>de</strong>s ehemaligen<br />
›Ostblocks‹. Bei<strong>de</strong> Formen haben entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Gemeinsamkeiten: Die Bedürfnisse <strong>de</strong>s Kapitals stehen<br />
über <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>r Menschen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Umwelt. In bei<strong>de</strong>n setzt eine wohlhaben<strong>de</strong> Min<strong>de</strong>rheit von<br />
Kapitaleignern ihre Interessen gegenüber <strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r arbeiten<strong>de</strong>n Menschen durch und bedient sich<br />
dabei <strong>de</strong>s Machtmittels ›Geld‹. Und bei<strong>de</strong> sind auf ständiges Wachstum angewiesen. Im Osten ist diese<br />
Wirtschaftsform inzwischen zusammengebrochen, bei uns existiert sie noch.<br />
Ihr Unterschied lag - abgesehen von <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ologie - wirtschaftlich hauptsächlich in <strong>de</strong>r Rolle, die <strong>de</strong>r<br />
Markt in ihnen spielte.<br />
Im Staatskapitalismus bestimmten Fachleute, Techniker und Politiker, was die Menschen brauchen und<br />
bekommen sollen, was wann, wo, wie und warum produziert und verteilt wer<strong>de</strong>n durfte und wem wieviel<br />
zugeteilt wur<strong>de</strong>. Ein solches System, in <strong>de</strong>m ein Bürokrat in Moskau entschied, wie ein Streichholz in<br />
Wladiwostok produziert und auf <strong>de</strong>r Krim verbrannt wird, nennen wir Planwirtschaft. Sie war aufwendig,<br />
brauchte einen riesigen, kostspieligen und korrupten* Beamtenapparat, plante an <strong>de</strong>n wirklichen<br />
Bedürfnissen <strong>de</strong>r Menschen vorbei, und ihr auffälligstes Merkmal war, daß sie nie funktionierte.<br />
Millionen Bürger <strong>de</strong>s ehemaligen Ostblocks können ein Lied davon singen, wie binnen drei Generationen<br />
ständiger Mangel und Bevormundung ihnen die anfängliche Begeisterung für ein System zerstörte, das<br />
einst mit <strong>de</strong>m Versprechen einer gerechten und menschlichen Welt angetreten war. Es erübrigt sich fast,<br />
darauf hinzuweisen, daß im Staatskapitalismus natürlich diejenigen, die das Kapital verwalteten, besser<br />
lebten als diejenigen, die dafür arbeiteten. Die neue Klasse aus Funktionären, Bürokraten, Technikern,<br />
Politikern und Militärs genoß zahllose Privilegien und strafte damit die I<strong>de</strong>ologie jenes ›Sozialismus‹<br />
Lügen, <strong>de</strong>r das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft von Gleichen vertrat. Und selbstverständlich wur<strong>de</strong><br />
auch im Staatskapitalismus <strong>de</strong>r größte Batzen für Unsinn ausgegeben, allem voran Militär, Rüstung und<br />
Raumfahrt. Der Kollaps <strong>de</strong>r sogenannten ›sozialistischen Län<strong>de</strong>n im Ostblock hing direkt mit <strong>de</strong>m<br />
Versagen ihrer Ökonomie zusammen.<br />
Übrig blieb <strong>de</strong>r Privatkapitalismus <strong>de</strong>r ›westlichen Welt‹. So, wie <strong>de</strong>r Staatskapitalismus sich in seiner<br />
eigenen Lebenslüge lieber ›Sozialismus‹ nannte, bedient sich auch <strong>de</strong>r Privatkapitalismus schicklicherer<br />
Namen: ›Soziale Marktwirtschaft o<strong>de</strong>r ›freier Markt‹. Lei<strong>de</strong>r ist dies ebensowenig wahr.<br />
77<br />
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Heute triumphiert <strong>de</strong>r Privatkapitalismus weltweit und feiert sich selbst als das beste aller Systeme, weil<br />
<strong>de</strong>r Staatskapitalismus gescheitert ist. Das ist ziemlich töricht. Vor lauter Überheblichkeit übersehen die<br />
Fans <strong>de</strong>r Marktwirtschaft, daß ihr System keineswegs das an<strong>de</strong>re ›besiegt‹ hat. Sie vermögen nicht zu<br />
erkennen, daß diese eine Form <strong>de</strong>s Kapitalismus zusammenbrach, weil sie versagte, und die Menschen sie<br />
nicht länger tragen wollten, und daß ein solcher Zusammenbruch <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Form - unserer - ebenso<br />
rasch blühen kann. Es han<strong>de</strong>lt sich hierbei um Arroganz und alberne Scha<strong>de</strong>nfreu<strong>de</strong>; eine irgendwie<br />
geartete Form grundsätzlicher Überlegenheit kann daraus aber nicht abgeleitet wer<strong>de</strong>n.<br />
Auch die privatkapitalistische Marktwirtschaft hat ihre Lebenslüge. Sie besteht in <strong>de</strong>r Annahme, daß alles<br />
das, was sich auf ›<strong>de</strong>m Markt‹ verkaufen läßt, auch gut, sinnvoll und vernünftig sei, und umgekehrt<br />
Dinge, die schlecht, sinnlos und unvernünftig sind, sich auf <strong>de</strong>m Markt auch nicht verkaufen ließen. Der<br />
Markt sei <strong>de</strong>r Spiegel <strong>de</strong>r Bedürfnisse und regele sich am allerbesten selbst. Diese Selbstregelung erzeugte<br />
im Wechselspiel von Angebot und Nachfrage einen gerechten Preis und sei daher zum Wohle aller<br />
Menschen. Diese wirtschaftliche Theorie nennen wir auch Liberalismus, und konsequenter Liberalismus<br />
gipfelt in <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s laissez faire* : Das freie Spiel <strong>de</strong>r Kräfte eines Marktes sollte tunlichst durch<br />
nichts gestört wer<strong>de</strong>n.<br />
Das klingt zu schön, um wahr zu sein.<br />
Nun läßt sich auch diese Theorie mit Hilfe unserer naiven Sichtweise leicht als das durchschauen, was sie<br />
ist: eine Hilfskonstruktion, mit die Kapitalisten ihre Interessen als die Interessen aller darstellen möchten.<br />
Das Bestreben aller Kapitaleigner ist es, ständig mehr Kapital zu erwirtschaften. Das müssen sich auch<br />
tun, <strong>de</strong>nn sonst wür<strong>de</strong> die Wirtschaftsordnung ›Kapitalismus‹ nicht funktionieren. Stimmte die These<br />
vom freien Markt wirklich, müßten aber irgendwann einmal Sättigungen eintreten und das Wachstum<br />
stehenbleiben o<strong>de</strong>r zurückgehen. Tut es aber nicht. Sobald es danach aussieht, ist Schluß mit <strong>de</strong>m ›freien<br />
Markts und Regierungen greifen hektisch ein mit Schutzzöllen, Kartellen*, Warenboykotten und notfalls<br />
auch mit Krieg.<br />
Wäre <strong>de</strong>r Liberalismus wahr, dürfte es keine überflüssigen, sinnlosen, schädlichen Produkte und<br />
Dienstleistungen geben. Wir alle wissen aber, daß es sie gibt. Nicht, weil die Konsumenten sie for<strong>de</strong>rten,<br />
son<strong>de</strong>rn weil Kapitaleigner daran verdienen können. Es gibt keinen ›Markt <strong>de</strong>r Konsumenten für<br />
Bun<strong>de</strong>swehr, Raumfahrt, Umweltgifte, Spekulationsgewinne o<strong>de</strong>r Kriege, trotz<strong>de</strong>m gehören sie zu <strong>de</strong>n<br />
wichtigsten Verdienstquellen <strong>de</strong>s Kapitals. Sobald das Interesse an einem Produkt (sprich: das Interesse<br />
<strong>de</strong>s Herstellers, dieses Produkt zu verkaufen) nicht über <strong>de</strong>n Markt entsteht, wird es künstlich hergestellt:<br />
durch Politik, Werbung, Suggestion*, aggressive Verkaufsstrategien o<strong>de</strong>r gesteuerte Mo<strong>de</strong>n. Bedürfnisse<br />
wer<strong>de</strong>n aufwendig und kunstvoll geweckt, nur damit die Wirtschaftsmaschine läuft. Ist das Wachstum<br />
gefähr<strong>de</strong>t und kein Krieg zur Hand, erfin<strong>de</strong>t man eben eine neue Generation noch höher auflösen<strong>de</strong>r, noch<br />
größerer und noch farbtreuerer Fernsehgeräte, die wir vorher we<strong>de</strong>r kannten noch vermißten, ohne die<br />
plötzlich aber niemand mehr leben kann. Energie, Rohstoffe, Kreativität, Arbeitskraft, Zeit und viel Geld<br />
wer<strong>de</strong>n für ein neues Massenprodukt verbraucht, und die vorherige Gene-<br />
78<br />
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ration von Fernsehern wan<strong>de</strong>rt auf <strong>de</strong>n Son<strong>de</strong>rmüll. Warum? Weil die Wirtschaft wachsen muß. Weil ein<br />
Markt geschaffen wer<strong>de</strong>n mußte für ein Produkt, das eigentlich nicht nötig ist, aber Profit abwirft. Hat<br />
man jemals gehört, daß ein Betrieb o<strong>de</strong>r ein Industriezweig befriedigt seine Tätigkeit einstellt, wenn eine<br />
Aufgabe vollbracht o<strong>de</strong>r ein Bedürfnis endlich befriedigt ist? Das wäre wirtschaftlich un<strong>de</strong>nkbar, obwohl<br />
es logisch gesehen doch so naheliegend ist. Ein Heimwerker ist froh, wenn er seine Gartenlaube<br />
fertiggestellt hat und beläßt es dabei; unsere Bauindustrie aber ist dazu verurteilt, bis in alle Ewigkeit<br />
weiterzubauen und wür<strong>de</strong> notfalls das ganze Land asphaltieren, nur weil unser rastloses<br />
Wirtschaftssystem keinen Stillstand kennt.<br />
Gäbe es ein ›freies Spiel <strong>de</strong>r Kräfte‹ auf <strong>de</strong>m Markt, dann könnte man in vielen Bereichen irgendwann<br />
auch einmal ›Feierabend machen‹ o<strong>de</strong>r die Produktion drosseln. Dann brauchte es auch keine Werbung
und keinen Zoll, we<strong>de</strong>r Subventionen noch Produktionsbeschränkungen, we<strong>de</strong>r Preispolitik noch<br />
Lebensmittelvernichtungen. Gibt es aber alles.<br />
Gäbe es einen ›freien Markt‹ hätten überflüssige Produkte keine Chance. Nichts wird aber so sehr<br />
verkauft, wie Dinge, auf die wir eigentlich recht gut verzichten könnten.<br />
Es gibt ihn eben nicht, jenen ›freien Markt‹ <strong>de</strong>r aus sich selbst heraus die wirtschaftlichen Belange einer<br />
Gesellschaft menschlich regelt. Das ist die Lebenslüge <strong>de</strong>r Marktwirtschaft - ebenso dick wie die <strong>de</strong>r<br />
staatskapitalistischen Planwirtschaft, sie sei vernünftig, zweckmäßig und sozial gewesen.<br />
Teil dieses ›freien Marktes‹ ist nach liberalistischer Überzeugung übrigens auch <strong>de</strong>r Mensch. Sein<br />
Geschick ›regele‹ sich ebenfalls im ›freien Spiel <strong>de</strong>r Kräfte‹. Ist beispielsweise ein Bedarf an Arbeitern<br />
vorhan<strong>de</strong>n, dürfen diese arbeiten, also Geld verdienen, also essen, also leben. Wenn nicht, haben sie eben<br />
Pech gehabt und müßten eigentlich sterben. Da so etwas die Theorie <strong>de</strong>r angeblich menschenfreundlichen<br />
Marktwirtschaft augenfällig wi<strong>de</strong>rlegen wür<strong>de</strong>, haben sich mo<strong>de</strong>rnere Staaten wie Deutschland dazu<br />
entschlossen, <strong>de</strong>r "Marktwirtschaft das Wörtchen ›sozial‹ voranzustellen. Es soll wenigstens niemand<br />
verhungern, auch wenn er auf <strong>de</strong>m Markt - in diesem Fall <strong>de</strong>m ›Arbeitsmarkt‹ - keinen Platz hat. Das ist<br />
zwar nett, aber letztendlich ein Almosen - ein Opfer, das zum Überleben <strong>de</strong>s Systems gebracht wer<strong>de</strong>n<br />
muß. Es macht die Absurdität <strong>de</strong>r herrschen<strong>de</strong>n Ökonomie aber um nichts besser, ebenso, wie es nichts an<br />
ihrer grundlegen<strong>de</strong>n Ungerechtigkeit än<strong>de</strong>rt.<br />
Was aber ist eigentlich das Ungerechte am Kapitalismus?<br />
Kurz gesagt: die ungleiche Verteilung <strong>de</strong>r Reichtümer im Rahmen eines Wirtschaftssystems, das sich<br />
sozial und ökologisch ausgesprochen verheerend auswirkt.<br />
Wir wissen, daß sich das Kapital akkumuliert - es häuft sich zunehmend in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n weniger<br />
Kapitaleigner an. Es gibt ganze Län<strong>de</strong>r, die praktisch einigen wenigen Familien ›gehören‹, und eine<br />
Handvoll multinationaler Konzerne teilt sich weltweit <strong>de</strong>n größten Brocken an Besitz. Dies führt zur<br />
Bildung von Monopolen* verschie<strong>de</strong>ner Art, die ganze Wirtschaftszweige kontrollieren. Monopole<br />
können die Preise ziemlich willkürlich diktieren; vom ›freien Markt‹ bleibt da nicht mehr viel übrig.<br />
Eines <strong>de</strong>r berüchtigsten Monopole<br />
79<br />
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bil<strong>de</strong>n die sogenannten Terms of Tra<strong>de</strong> an <strong>de</strong>n internationalen Börsen, mit <strong>de</strong>ren Hilfe die wohlhaben<strong>de</strong>n<br />
Industrienationen die Rohstoffpreise festsetzen. So nehmen die Reichen die Armen aus.<br />
Gleiches wie<strong>de</strong>rholt sich innerhalb eines Lan<strong>de</strong>s zwischen Reich und Arm o<strong>de</strong>r - an<strong>de</strong>rs ausgedrückt -<br />
zwischen ›Unternehmer‹ und ›Arbeitnehmer‹. Auch hier fin<strong>de</strong>t eine Ausbeutung statt. Ausbeutung ist das<br />
Grundprinzip <strong>de</strong>s Kapitalismus, und seine Anhänger sehen in ihm <strong>de</strong>n Motor für wirtschaftliche Aktivität.<br />
Die Ausbeutung beruht darauf, daß <strong>de</strong>r Unternehmer einen Mehrwert* erwirtschaftet - je größer, <strong>de</strong>sto<br />
besser. Aus <strong>de</strong>r Differenz von Lohn und Preis entsteht so <strong>de</strong>r Profit*, das eigentliche Ziel<br />
unternehmerischer Tätigkeit. Dieses Ziel ist also we<strong>de</strong>r sachlich, noch ethisch o<strong>de</strong>r inhaltlich, son<strong>de</strong>rn<br />
lediglich monetär <strong>de</strong>finiert: Der Profit muß aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r inneren Logik <strong>de</strong>s Kapitalismus immer<br />
möglichst groß sein und wachsen. Wir nennen das Profitmaximierung. So kommt es zu ungleichen Lohn-<br />
Preis-Spiralen, die die Preise schneller anwachsen lassen als die Löhne. Dies heizt wie<strong>de</strong>rum die<br />
Inflation* mit an und führt zu einer relativen Verelendung* <strong>de</strong>rjenigen, die keine Profite machen: <strong>de</strong>r<br />
Arbeiterschaft. Das be<strong>de</strong>utet günstigstenfalls eine Benachteiligung, oft aber sozialen Abstieg ausgerechnet<br />
für diejenigen, die durch ihre Arbeit die Werte herstellen, an <strong>de</strong>nen an<strong>de</strong>re verdienen.<br />
Hierin besteht die grundsätzliche Ungerechtigkeit <strong>de</strong>s Kapitalismus: <strong>de</strong>n Menschen, die die Werte<br />
schaffen, gehört nur ein kleiner Teil <strong>de</strong>r Früchte ihrer Arbeit; <strong>de</strong>n größeren Teil steckt <strong>de</strong>r Unternehmer
ein. Zwar tut er in <strong>de</strong>r Regel auch etwas dafür, aber sein Gewinn ist im Vergleich zu seiner geleisteten<br />
Arbeit riesengroß. Im Falle reiner Kapitaleigner fallen sogar immense Gewinne an, für die kein Finger<br />
krumm gemacht wer<strong>de</strong>n muß - wir sprechen dann von arbeitslosem Einkommen. Gerne rechtfertigen<br />
Unternehmer und Kapitaleigner ihre Gewinne mit <strong>de</strong>m Risiko, das sie angeblich trügen. Das aber ist eine<br />
rühren<strong>de</strong> Legen<strong>de</strong>: Im Falle unternehmerischer Mißerfolge zahlen Tausen<strong>de</strong> von Arbeitnehmern mit <strong>de</strong>m<br />
Verlust ihrer Ersparnisse o<strong>de</strong>r Arbeitsplätze; clevere Unternehmer fallen wie<strong>de</strong>r auf die Beine und<br />
grün<strong>de</strong>n eine neue Firma. Ähnliches gilt für das mehr o<strong>de</strong>r weniger regelmäßige Auftreten von<br />
verheeren<strong>de</strong>n Wirtschaftskrisen, die <strong>de</strong>n Kapitalismus heimgesucht haben und wie<strong>de</strong>r heimsuchen<br />
wer<strong>de</strong>n. Auch hier verelen<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r Regel nicht die Klasse <strong>de</strong>r Unternehmer, son<strong>de</strong>rn die Masse <strong>de</strong>r<br />
Menschen, die angeblich kein Risiko tragen.<br />
Eine an<strong>de</strong>re Erscheinungsform von Ungerechtigkeit in unserem Wirtschaftssystem ist, daß <strong>de</strong>r Mensch in<br />
ihm wenig be<strong>de</strong>utet. Er muß sich <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>s Produktionsprozesses anpassen, so sagt die<br />
ökonomische Logik. Daß sich die Form <strong>de</strong>r Arbeit nach <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>s Menschen richten könnte,<br />
ist natürlich eine ›naive‹ I<strong>de</strong>e... Um im Sinne <strong>de</strong>r Profitmaximierung Kosten zu sparen, müssen<br />
Arbeitnehmer oftmals stumpfsinnige, ermü<strong>de</strong>n<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r gefährliche Arbeit verrichten. Meist ist <strong>de</strong>r Mensch<br />
nur noch ein winziges Teil in einem Produktionsprozeß, von <strong>de</strong>m er keine Ahnung mehr hat; in <strong>de</strong>n<br />
seltensten Fällen hat er noch eine Beziehung zu <strong>de</strong>m, was er herstellt. Wir nennen das Entfremdung.<br />
Entfrem<strong>de</strong>te Arbeit macht we<strong>de</strong>r Spaß noch ist sie körperlich und geistig <strong>de</strong>m Menschen angemessen. Die<br />
Beziehung zwischen Mensch und Arbeit, die durchaus kreativ und befrie-<br />
80<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
digend sein könnte, wird in unserer Wirtschaftsform letztlich auch auf ein ›Geschäft‹ auf einem ›Markt‹<br />
reduziert: Der Unternehmer kauft vom Arbeitnehmer die Arbeitskraft. Arbeitskraft wird so zu einer<br />
›Ware‹ und Arbeit zu einer scheußlichen Sache, die niemand gerne o<strong>de</strong>r gar freiwillig tut.<br />
Manche Leser wer<strong>de</strong>n mir vorhalten, das alles sei maßlos übertrieben und im Grun<strong>de</strong> platter Marxismus.<br />
Geht es <strong>de</strong>n Arbeitern heute nicht be<strong>de</strong>utend besser als früher? Und <strong>de</strong>r Marxismus ist doch wohl nicht<br />
ohne Grund gescheitert!<br />
Bei<strong>de</strong>s stimmt, hat aber nichts mit <strong>de</strong>r vorgebrachten Kritik zu tun.<br />
Zweifellos geht es bei uns <strong>de</strong>njenigen, die für an<strong>de</strong>re Menschen arbeiten, heute besser als früher. Das<br />
än<strong>de</strong>rt allerdings nichts an <strong>de</strong>r Ungerechtigkeit bei <strong>de</strong>r Verteilung <strong>de</strong>s Profits und auch nichts an <strong>de</strong>r<br />
Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Bei<strong>de</strong>s wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n arbeiten<strong>de</strong>n Menschen<br />
erwirtschaftet, gehört ihnen aber nicht. Relativ gesehen wachsen die Gewinne <strong>de</strong>r Unternehmer nach wie<br />
vor schneller als die Einkommen <strong>de</strong>r Arbeitnehmer. Vor allem aber darf nicht vergessen wer<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r<br />
Wohlstand <strong>de</strong>r ›westlichen Welt‹ zu einem großen Teil auf <strong>de</strong>r hemmungslosen Ausbeutung <strong>de</strong>r<br />
Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika beruht. Der Schwerpunkt <strong>de</strong>r Ausbeutung hat sich heute<br />
global verschoben: von <strong>de</strong>n Klassen eines Lan<strong>de</strong>s zum Nord-Süd-Gegensatz. Deutsche sind nicht <strong>de</strong>shalb<br />
so wohlhabend, weil sie etwa so viel fleißiger, pünktlicher und disziplinierter wären als eine Bäuerin auf<br />
Sumatra, ein Minenarbeiter in Transvaal o<strong>de</strong>r ein Gaucho in <strong>de</strong>r Pampa. Eine Sekretärin in Sao Paulo<br />
muß genauso klotzen wie ihre Kollegin in München und ein Industriearbeiter auf <strong>de</strong>n Philippinen macht<br />
sich auf <strong>de</strong>r Arbeit keineswegs einen faulen Lenz. Trotz<strong>de</strong>m bleiben sie im Vergleich zu uns bettelarm,<br />
und viele ihrer Landsleute, die weniger ›Glück‹ haben, müssen hungern. Solche Ungerechtigkeit liegt im<br />
weltweiten Wirtschaftssystem begrün<strong>de</strong>t, das diese Län<strong>de</strong>r fest im Würgegriff ihrer Preis- und Zinspolitik<br />
hält. Wir alle - ob wir wollen o<strong>de</strong>r nicht - profitieren davon. Um es einmal krass zu sagen: Wir können<br />
uns eine Dose Ananas nur <strong>de</strong>shalb für 99 Pfennige kaufen, weil irgendwo in Angola Menschen<br />
verhungern.<br />
Was <strong>de</strong>n Vorwurf <strong>de</strong>s Marxismus angeht, so bleibt zu sagen, daß Marx ja beileibe kein Dummkopf war.<br />
Die Kritik, die er an <strong>de</strong>n kapitalistischen Zustän<strong>de</strong>n geübt hat, wird auch von Anarchisten überwiegend<br />
geteilt. Und er war nicht <strong>de</strong>r einzige, <strong>de</strong>r unsere Wirtschaftsform durchschaute. Proudhon, Bakunin,<br />
Kropotkin, Malatesta, Most, Rocker und viele an<strong>de</strong>re stimmten mit Marx in <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>r
kapitalistischen Plage in wesentlichen Punkten überein. Etwas ganz an<strong>de</strong>res sind die Schlußfolgerungen,<br />
die Marx daraus zieht. Sein autoritäres Gesellschaftssystem bleibt auf wirtschaftlichem Gebiet nichts<br />
weiter als ein negativer Abklatsch <strong>de</strong>ssen, was er kritisiert. Die leninistischen Vollstrecker seiner I<strong>de</strong>en<br />
schufen hieraus mit Hilfe <strong>de</strong>r allmächtigen Partei schließlich einen staatskapitalistischen Horrorstaat.<br />
Genau diese Kombination von Planwirtschaft und Parteidiktatur ist im ›Ostblock‹ gescheitert. Das<br />
be<strong>de</strong>utet aber keineswegs - auch wenn die Verfechter unserer Ökonomie<br />
81<br />
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das gerne so hätten - daß <strong>de</strong>shalb die Kritik, die Marxisten, Christen, Anarchisten, Moralisten,<br />
Philosophen, Ökologen, Politiker, Journalisten, Ökonomen und viele an<strong>de</strong>re Menschen an <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Wirtschaftsordnung üben, ebenfalls überholt und vom Tisch wäre.<br />
So erkennen wir am Beispiel Marx, daß die richtige Kritik kein Garant dafür ist, auch die richtige<br />
Alternative zu fin<strong>de</strong>n. Für eine an<strong>de</strong>re Gesellschaft jedoch brauchen wir eine an<strong>de</strong>re Ökonomie.<br />
Wie sieht die in <strong>de</strong>r Vorstellung von Anarchisten aus?<br />
Eine anarchistische Ökonomie<br />
Anarchistische Wirtschaft beruht auf einer <strong>de</strong>zentralen Bedürfnisproduktion. Was heißt das?<br />
Zunächst mal, daß Produzenten und Konsumenten selbst bestimmen, was sie produzieren, wie sie<br />
produzieren und wie sie die Produkte verteilen. In staatlich-kapitalistischen Strukturen wäre das kaum<br />
durchführbar - in <strong>de</strong>zentral-anarchischen Strukturen hingegen bietet es sich gera<strong>de</strong>zu an. Dort wäre ja die<br />
Gesellschaft ohnehin <strong>de</strong>zentral und selbstverwaltet organisiert, dort wären Produzenten und Konsumenten<br />
größtenteils i<strong>de</strong>ntisch und dort bestün<strong>de</strong>n günstige Voraussetzungen für einen verantwortungsvollen<br />
Umgang mit Ressourcen*, Arbeitsprozessen und <strong>de</strong>r Auswahl <strong>de</strong>ssen, was wirklich gebraucht wird. Da in<br />
einer an-archischen Gesellschaft die Arbeiter gleichzeitig auch Besitzer ihrer Produktionsmittel wären,<br />
könnte zum Beispiel die Belegschaft eines Konzerns wie Daimler-Benz darangehen, die Produktionskraft<br />
dieses Giganten ›umzubauen‹. Etwa für ökologisch verträgliche Verkehrssysteme, alternative Energien,<br />
sanfte Technologie.<br />
Dort, wo benzinfressen<strong>de</strong> Nobelkarossen, Panzermotoren, Raumfahrttechnik o<strong>de</strong>r Kampfflugzeuge<br />
gebaut wer<strong>de</strong>n, kann man ja auch an<strong>de</strong>re Dinge herstellen. Es war niemals die Belegschaft, die<br />
entschie<strong>de</strong>n hat, was bei <strong>de</strong>r Daimler-Benz AG hergestellt wird, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Konzern. Und <strong>de</strong>r richtete<br />
sich hierbei nach <strong>de</strong>m Profit, und Automobil- und Rüstungstechnologie versprachen nunmal hohe Profite.<br />
Der einzelne Arbeiter dort baut Autos o<strong>de</strong>r Panzer nicht unbedingt aus innerer Überzeugung, son<strong>de</strong>rn weil<br />
er einen Arbeitsplatz braucht, um Geld zu verdienen. Was er produziert, bekommt er gesagt. In einer<br />
Gesellschaft, die in allen Bereichen auf freier, bewußter Entscheidung aufbaut, dürften nach Meinung <strong>de</strong>r<br />
Anarchisten gute Chancen bestehen, daß auch im wirtschaftlichen Bereich die Produzenten an<strong>de</strong>re<br />
Entscheidungen treffen als heute die Konzerne. Das gleiche gälte natürlich für Landwirtschaft,<br />
Konsumgüter und Dienstleistungen. Genau betrachtet wäre erst in dieser Bedürfnisproduktion das<br />
verwirklicht, was <strong>de</strong>r Liberalismus fälschlich für sich in Anspruch nimmt – daß sich nämlich ›<strong>de</strong>r Markt‹<br />
frei entfaltet und gemäß <strong>de</strong>n tatsächlichen Bedürfnissen <strong>de</strong>r Verbraucher produziert.<br />
Durch die <strong>de</strong>zentrale Vernetzung einer solchen Gesellschaft wür<strong>de</strong>n viele Waren, Produkte und<br />
Lebensmittel in <strong>de</strong>r näheren Umgebung erzeugt und verbraucht. Das könnte ganz beträchtliche<br />
Transport-, Lager- und Logistikkosten einsparen. Es reduzierte <strong>de</strong>n ökologischen Wahnsinn, daß viele<br />
Produkte aus reinen Grün<strong>de</strong>n eines Han<strong>de</strong>lsgewinns um<br />
82
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die ganze Er<strong>de</strong> hin- und her transportiert wer<strong>de</strong>n. Gleiches ließe sich für die Weiterverarbeitung von<br />
Rohstoffen erreichen, die sich heute – ebenfalls aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Profits – überwiegend die reichen<br />
Industrielän<strong>de</strong>r gesichert haben. Eine Vere<strong>de</strong>lung könnte ebensogut <strong>de</strong>zentral an <strong>de</strong>n Orten erfolgen, wo<br />
die Rohstoffe vorkommen. Import und Export wären dann nur noch für Produkte nötig, die etwa nur in<br />
bestimmten Klimazonen ge<strong>de</strong>ihen o<strong>de</strong>r an bestimmten Plätzen hergestellt wer<strong>de</strong>n können. Daher<br />
<strong>de</strong>zentrale Bedürfnisproduktion.<br />
Anarchistische Wirtschaftstheoretiker gehen davon aus, daß in einer solchen Wirtschaft am En<strong>de</strong> nur<br />
noch das hergestellt wür<strong>de</strong>, was alle Menschen <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> zum Leben, zum Vergnügen und zur<br />
Bequemlichkeit brauchen. Nicht mehr und nicht weniger.<br />
Einigen mag das jetzt be<strong>de</strong>nklich nach ›DDR-Wirtschaft‹ klingen: grau, phantasielos, knapp und<br />
einheitlich. In <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Libertären ist das allerdings barer Unsinn: Gera<strong>de</strong> in einer an-archischen<br />
Gesellschaft wer<strong>de</strong> es viel Raum für Individualität, Vielfalt und Phantasie geben, und auch ›Luxus‹ sei<br />
kein Tabu — sofern es sich dabei nicht um Protzerei auf Kosten an<strong>de</strong>rer han<strong>de</strong>lt, son<strong>de</strong>rn um Freu<strong>de</strong> am<br />
Genuß. In <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nartigsten Mikro-Gesellschaften könnten sich verschie<strong>de</strong>ne Menschengruppen<br />
auch nach verschie<strong>de</strong>nen Konsumbedürfnissen und Lebensgewohnheiten zusammenschließen: von<br />
bedürfnislos-grau bis genußvoll-schrill. Wer mehr konsumieren wolle, habe durchaus das Recht, sich<br />
diesen Mehrkonsum zu erarbeiten. Was jedoch nach anarchistischer Meinung verschwin<strong>de</strong>n soll, ist die<br />
Ausbeutung an<strong>de</strong>rer Menschen, <strong>de</strong>nn libertäre Wirtschaft müsse eine Solidarwirtschaft sein, die nicht auf<br />
parasitärer* Lebensweise aufbauen dürfe.<br />
Eine Ökonomie <strong>de</strong>s Verzichts?<br />
Das be<strong>de</strong>utet aber auch, daß wir nicht nur an ›uns‹ <strong>de</strong>nken können, son<strong>de</strong>rn auch an <strong>de</strong>n ›Rest <strong>de</strong>r<br />
Menschheit‹. Eine solche Solidarwirtschaft müßte weltweit wirken, o<strong>de</strong>r sie hätte ethisch versagt. Heute<br />
lebt <strong>de</strong>r kleinste Teil <strong>de</strong>r Menschen im Überfluß, während <strong>de</strong>r größte Teil nicht einmal genug zu essen<br />
hat.<br />
Heißt das, daß wir Verzicht üben müssen und verdammt wären, zu verarmen?<br />
Ja und nein. Verzicht üben müssen wir ganz sicherlich, aber nicht etwa <strong>de</strong>shalb, weil es nicht möglich<br />
wäre, allen Menschen ein lebenswertes Leben zu bieten, und wir darum ›unseren‹ Reichtum zu<br />
verschenken hätten. Wir wer<strong>de</strong>n so o<strong>de</strong>r so gezwungen sein, unseren manischen* Konsumgalopp zu<br />
bremsen, weil uns die Verschwendungsorgie, in <strong>de</strong>r wir leben, gera<strong>de</strong>wegs in katastrophale Sackgassen<br />
führt. Das hat wirtschaftliche und ökologische Grün<strong>de</strong>, und mit Anarchie nichts zu tun. In bei<strong>de</strong>n Fällen<br />
konsumieren wir mit unge<strong>de</strong>cktem Kredit, sowohl <strong>de</strong>m Geld gegenüber als auch <strong>de</strong>r Natur. Diese Grün<strong>de</strong><br />
wer<strong>de</strong>n immer augenfälliger, und sie bestehen mit o<strong>de</strong>r ohne Solidarwirtschaft. Auf <strong>de</strong>n hemmungslosen<br />
Verbrauch von Energien und Ressourcen, auf Prestige-Luxus und Konsumrausch als Ersatzbefriedigung<br />
für wirkliches Leben wird die Menschheit auf je<strong>de</strong>n Fall verzichten müssen, weil die Reserven, aus <strong>de</strong>nen<br />
wir uns bedienen, früher o<strong>de</strong>r später erschöpft sein wer<strong>de</strong>n.<br />
83<br />
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Ob das aber eine Verarmung be<strong>de</strong>utet, ist zu bezweifeln. Man könnte auch das Gegenteil vermuten. Mir<br />
scheinen eher diejenigen, die für ihr persönliches Glück computergesteuerte Tischfeuerzeuge,<br />
elektronische Zahnbürsten o<strong>de</strong>r Luxuslimousinen brauchen, verarmte Persönlichkeiten zu sein. Befriedigt<br />
er uns wirklich, <strong>de</strong>r Kauf neuer Möbel im Fünfjahresrhythmus, <strong>de</strong>n uns die hingepfuschten<br />
Spanplattenteile vorgeben, weil sie dann nämlich anfangen aus <strong>de</strong>m Leim zu gehen? Auch Manni Schmilz<br />
macht nicht gera<strong>de</strong> einen glücklichen Eindruck, wenn er seinen ratenfinanzierten, rallyegetunten,
tiefergelegten Turbola<strong>de</strong>rmanta schampooniert, mit <strong>de</strong>m er anschließend bei Wuppertal-Elberfeld im Stau<br />
stehen wird... Dabei habe ich gar nichts gegen die schöne Dinge im Leben und verachte nieman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r<br />
sich etwa für Motorsport begeistert – es geht um An<strong>de</strong>res: die Verödung unseres Lebens. Die Sinnleere<br />
<strong>de</strong>s Alltags, <strong>de</strong>r Trend zu Vereinzelung, Entfremdung und Vermassung treibt immer mehr Menschen<br />
dazu, eine Art Ersatzbefriedigung im Konsum zu suchen. Dabei wird die Qualität <strong>de</strong>s Konsums immer<br />
zweifelhafter, und die erwartete Befriedigung hält fast nie, was man sich von ihr verspricht.<br />
Die Frage, vor <strong>de</strong>r wir heute stehen, ist also nicht, ob wir so weiterleben können wie bisher, <strong>de</strong>nn das<br />
können wir ganz ein<strong>de</strong>utig nicht. Die Alternative lautet, ob wir mit unserer Luxusyacht stilvoll in <strong>de</strong>n<br />
Fluten eines bescheuerten Systems untergehen, o<strong>de</strong>r ob wir unser Schiff umtakeln und einen neuen Kurs<br />
einschlagen. Dieser neue Kurs be<strong>de</strong>utet zwar einen Verzicht auf einige Dinge und Gewohnheiten, aber<br />
nicht eine Verarmung unseres Lebens. Wir könnten statt<strong>de</strong>ssen eine völlig neue Lebensqualität gewinnen,<br />
die man nirgends für Geld kaufen kann, und vermutlich wären bei entsprechen<strong>de</strong>r Organisation nicht<br />
einmal Abstriche beim Lebensstandard hinzunehmen.<br />
Wie das?<br />
Durch Einsparung und Umverteilung. Folgen wir <strong>de</strong>r anarchistischen Wirtschaftsvision, so dürfen wir<br />
annehmen, daß in einer Gesellschaft <strong>de</strong>r konsequenten Bedürfnisproduktion die Menschen solche Dinge<br />
herstellen wer<strong>de</strong>n, die sie tatsächlich brauchen und haben wollen. Diese Gesellschaft brauchte keine<br />
Rüstung mehr, keine Raumfahrttechnologie, keine Werbung, keine künstlichen Mo<strong>de</strong>trends, keine<br />
gewollt konstruierten Verschleißprodukte, keine Prestigeausgaben, keine staatliche Repräsentation, keine<br />
Kriege, keinen Superluxus für die Superreichen, keinen unnützen Transport, keine Spekulationsgeschäfte<br />
und so weiter. Sie stün<strong>de</strong>, wie wir noch sehen wer<strong>de</strong>n, auch nicht unter <strong>de</strong>m Zwang, um je<strong>de</strong>n Preis<br />
Arbeitsplätze zu schaffen. Ebenso käme sie ohne Bürokratenheere aus, weil sie sich selbst verwalten<br />
könnte, ohne Sozialhilfe und Arbeitslosengel<strong>de</strong>r, weil sie ein Solidarsystem kleiner Gruppen wäre, und<br />
auch - wie noch zu zeigen ist - ohne <strong>de</strong>n teuren Repressionsapparat* von Justiz, Polizei, Strafvollzug.<br />
Auch im aufgeblähten Medienbereich wür<strong>de</strong>n die Menschen vermutlich auf einiges verzichten wollen.<br />
All das aber bin<strong>de</strong>t heute unglaubliche Mengen an Arbeitskraft, Kreativität, I<strong>de</strong>en, Ressourcen, Werten<br />
und Geld. Für die Herstellung und Verteilung von Waren, Lebensmitteln und Dienstleistungen wird schon<br />
heute <strong>de</strong>r geringere Teil menschlicher Arbeit auf-<br />
84<br />
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gewen<strong>de</strong>t - <strong>de</strong>r größere Teil wird verschwen<strong>de</strong>t und verpufft in ›Leistungen‹, die entwe<strong>de</strong>r niemand<br />
wirklich braucht, o<strong>de</strong>r die auf an<strong>de</strong>re Weise besser organisiert wer<strong>de</strong>n könnten. Alle Jahre wie<strong>de</strong>r gibt es<br />
Studien amerikanischer und europäischer Universitäten, die ausrechnen, wieviel Arbeitsstun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Mensch bei einer konsequenten Bedürfnisproduktion noch leisten müßte, um <strong>de</strong>n Bedarf aller Menschen<br />
<strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> zu befriedigen. Zur Zeit liegen diese Zahlen zwischen drei und fünf Stun<strong>de</strong>n täglich, manche<br />
Anarchisten kommen mit ihren Rechenkunststücken sogar auf die phantastische Vision einer Fünf-<br />
Stun<strong>de</strong>n-Woche... Wie <strong>de</strong>m auch sei, die Welternährungsexperten <strong>de</strong>r Vereinten Nationen sind sich darin<br />
einig, daß allein <strong>de</strong>r weltweite Wegfall <strong>de</strong>r Rüstung genügend Kräfte und Mittel freisetzen wür<strong>de</strong>, um mit<br />
<strong>de</strong>m Hunger in <strong>de</strong>r Welt sofort Schluß zu machen.<br />
Geld<br />
Warum aber tut man es dann nicht? Die Antwort ist einfach: Wegen <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s. Es lohnt sich nicht, <strong>de</strong>n<br />
Hunger zu besiegen, und ist <strong>de</strong>shalb unvernünftig. Die hungern<strong>de</strong>n Menschen stellen keinen ›Markt‹ dar:<br />
sie sind zu arm, um zu bezahlen. Rüstung hingegen ist ein vernünftiges Geschäft, und <strong>de</strong>r Supercoup, von<br />
<strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r Rüstungsmanager träumt, ist <strong>de</strong>r Krieg, weil sich dabei nämlich die teuren Waffensysteme<br />
selbst vernichten, so daß sie anschließend wie<strong>de</strong>r neu gekauft wer<strong>de</strong>n müssen.
Geld ist die ›flüssige‹ Form <strong>de</strong>s Kapitals und mithin das charakteristische Merkmal kapitalistischer<br />
Ökonomie. Es ist die genialste Erfindung zur Aufrechterhaltung von Reichtum und Armut, von Hoffnung<br />
und Ungerechtigkeit. In einer anarchistischen Gesellschaft soll es – zumin<strong>de</strong>st in seiner jetzigen Form –<br />
verschwin<strong>de</strong>n.<br />
Warum eigentlich?<br />
Viele Menschen meinen, Geld sei eine sehr praktische Einrichtung, verhin<strong>de</strong>rt es doch erfolgreich, daß<br />
wir mit einer Gans unterm Arm herumlaufen müssen, um sie etwa gegen fünfeinhalb Brote und ein paar<br />
neue Sandalen einzutauschen. Geld sei ein Tauschäquivalent*, das <strong>de</strong>n Gegenwert von Arbeit, Leistung<br />
o<strong>de</strong>r Waren repräsentiere. "Geld ist geronnene Arbeit" behaupten einige Ökonomen. Schön, wenn es so<br />
wäre. Dann wäre in einer Gesellschaft, die nach wie vor auf <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>s Tausches basiert, ein solches<br />
Geld durchaus vernünftig. Lei<strong>de</strong>r aber ist Geld eben mehr als nur ein Warenersatz. Es hat in <strong>de</strong>n<br />
fünftausend Jahren, seit es von <strong>de</strong>n Sumerern erfun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>, unerhörte Eigenschaften entwickelt, die<br />
absolut nichts mit Tausch zu tun haben. So kann sich Geld wun<strong>de</strong>rsamerweise ohne eigenes Zutun<br />
vermehren, und je mehr Geld jemand hat, <strong>de</strong>sto leichter bekommt er noch mehr, ohne dafür arbeiten zu<br />
müssen. Geld kann man im Gegensatz zu Waren unbegrenzt aufbewahren und horten; man kann damit<br />
erpressen, spekulieren, es knapp halten o<strong>de</strong>r massenhaft in Umlauf bringen und damit gesellschaftliche,<br />
wirtschaftliche und politische Reaktionen hervorrufen, die nicht das Geringste mit <strong>de</strong>m Austausch von<br />
Leistungen o<strong>de</strong>r Waren zu tun haben. Mit ihm kann man Menschen und Meinungen kaufen, Krisen und<br />
Kriege provozieren. Es ist ein abstrakter* Wert, <strong>de</strong>r weit mehr kann, als alle Gänse, Brote und Sandalen<br />
<strong>de</strong>r Welt zusammen. Mit einem Wort: Geld kann sich in<br />
85<br />
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einer kapitalistischen Wirtschaft verselbständigen. Genau das ist seine Funktion in <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />
Wirtschaft.<br />
Kein Wun<strong>de</strong>r, daß Anarchisten das Geld abschaffen wollen.<br />
Wäre es aber nicht ganz praktisch, irgen<strong>de</strong>in an<strong>de</strong>res Tauschäquivalent zu haben, das nicht die negativen<br />
Eigenschaften <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s besäße? Die Antwort hängt davon ab, ob in <strong>de</strong>r angestrebten Gesellschaft nach<br />
wie vor getauscht wer<strong>de</strong>n soll, o<strong>de</strong>r ob alles allen frei zur Verfügung steht. Was die Anarchisten angeht,<br />
so gingen die Meinungen hierüber schon sehr früh auseinan<strong>de</strong>r.<br />
Bakunin hielt einen ziemlich direkten Tausch für nötig, da nicht unbegrenzt Waren zur Verfügung<br />
stün<strong>de</strong>n, und erst geleistete Arbeit das Recht auf Konsum begrün<strong>de</strong>. In seinem System <strong>de</strong>s<br />
"kollektivistischen Anarchismus" aus <strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rts ging er davon aus, daß<br />
je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Gesellschaft nehmen will, <strong>de</strong>r Gesellschaft auch geben müsse – sonst wür<strong>de</strong> am En<strong>de</strong><br />
niemand mehr arbeiten. Er for<strong>de</strong>rt, vereinfacht gesagt: "Je<strong>de</strong>m nach seiner Leistung". In diesem System<br />
wäre kein Platz für Leute, die auf Kosten an<strong>de</strong>rer leben, ausgenommen Kin<strong>de</strong>r, Alte, Kranke und<br />
Schwache.<br />
Kropotkin entwickelte schon wenige Jahrzehnte später eine weit kühnere und mo<strong>de</strong>rnere Vision <strong>de</strong>r<br />
libertären Gesellschaft, <strong>de</strong>n "kommunistischen Anarchismus". Er geht davon aus, daß je<strong>de</strong>r Mensch ein<br />
Recht auf Leben hat, und daß die Gesellschaft auch <strong>de</strong>n ernähren muß, <strong>de</strong>r nicht arbeitet. Seine Devise<br />
lautet, ebenfalls vereinfacht: "Je<strong>de</strong>r nach seinen Fähigkeiten, je<strong>de</strong>m nach seinen Bedürfnissen".<br />
Angesichts <strong>de</strong>s technischen Fortschritts und <strong>de</strong>r Chance, körperlich schwere Arbeit zunehmend von<br />
Maschinen verrichten zu lassen, schätzte Kropotkin die Möglichkeit <strong>de</strong>r Warenproduktion einer vom<br />
Kapitalismus befreiten Gesellschaft sehr hoch ein.<br />
Die Frage, ob Bakunin nicht eher <strong>de</strong>r Realist und Kropotkin ein zu großer Optimist gewesen sei, hat<br />
seither immer wie<strong>de</strong>r die Gemüter erhitzt. Tatsächlich haben Anarchisten aber unabhängig von dieser
theoretischen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung immer wie<strong>de</strong>r auch praktische Ansätze und Mo<strong>de</strong>lle entwickelt, in<br />
<strong>de</strong>nen bei<strong>de</strong> Varianten auftauchten. Wir können sie hier nicht im Einzelnen vorstellen, aber es gab sowohl<br />
völlig geldlose Experimente von Solidargemeinschaften, als auch Theorien und Experimente für eine<br />
an<strong>de</strong>re Art von Geld. Man probierte es mit Arbeitsgutscheinen, Tauschbons o<strong>de</strong>r Warencoupons, die mit<br />
Erfolg in Kooperativen, Kommunen o<strong>de</strong>r Gewerkschaften eingesetzt wur<strong>de</strong>n. Sie alle waren nur als<br />
Tauschäquivalente zu gebrauchen; es machte keinen Sinn, sie zu horten, man konnte mit ihnen nicht<br />
spekulieren, und Zinsen brachten sie auch keine. Natürlich waren sie außerhalb <strong>de</strong>r engen Grenzen<br />
solcher sozialen Experimente nichts wert - da gab es nach wie vor die staatliche Währung, und viele<br />
Bedürfnisse mußten dort befriedigt wer<strong>de</strong>n. Aber auch für solche Mischformen wur<strong>de</strong>n Lösungen<br />
entwickelt, die beim Übergang von einer kapitalistischen in eine anarchistische Wirtschaft helfen sollten.<br />
Der große Pionier libertärer Ökonomie war – lange vor Bakunin und Kropotkin – Pierre-Joseph<br />
Proudhon. Ihm verdanken wir neben umfangreichen Schriften zur anarchistischen Wirtschaftstheorie auch<br />
ein sehr frühes Experiment, das als Übergangsform innerhalb<br />
86<br />
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<strong>de</strong>s Kapitalismus gestartet wur<strong>de</strong>. Seine 1848 initiierte* Tauschbank sollte insbeson<strong>de</strong>re Arbeitern und<br />
Genossenschaften die Möglichkeit geben, gegen bei einer Tauschbörse einzubringen<strong>de</strong> Sachwerte<br />
zinslose ›Umlaufmittel‹ in Form von ›Tauschnoten‹ zu erhalten, die von allen Mitglie<strong>de</strong>rn anstelle von<br />
Geld akzeptiert wer<strong>de</strong>n mußten. Auch Kredite waren vorgesehen, und das Experiment zielte darauf ab,<br />
Projekte <strong>de</strong>r Arbeiter unabhängig vom Kapitalmarkt zu finanzieren. Wie so viele libertäre Versuche,<br />
wur<strong>de</strong> die Tauschbank kriminalisiert: Das Experiment en<strong>de</strong>te damit, daß Proudhon ins Gefängnis<br />
wan<strong>de</strong>rte...<br />
Eine an<strong>de</strong>re I<strong>de</strong>e, die bei Anarchisten sehr populär war, ist die sogenannte 'Freigeldtheorie' <strong>de</strong>s Deutsch-<br />
Argentiniers Silvio Gesell, in <strong>de</strong>m viele <strong>de</strong>n Erben <strong>de</strong>r Lehren Proudhons sehen. Sie entstand um die<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> und fand auch in bürgerlichen Kreisen großen Anklang, die darin ein Mittel zur<br />
Sanierung <strong>de</strong>r Wirtschaft erblickten. Der Clou an dieser I<strong>de</strong>e war, daß durch einen ›negativen Zins‹ <strong>de</strong>r<br />
Währung jeglicher Anreiz zu spekulativem Horten genommen wer<strong>de</strong>n sollte. Wenn jemand Geldmengen<br />
ansammelte, sollten diese anstatt monatlich Zinsen zu bringen, einen gewissen Prozentsatz an Wen<br />
verlieren. Spötter nannten diese Währung <strong>de</strong>shalb auch abschätzig "Schwundgeld". Sicher aber wäre so<br />
je<strong>de</strong>r bestrebt, Geld möglichst rasch wie<strong>de</strong>r auszugeben, und solange Geld zirkuliere, sei es sozial<br />
nützlich, da es zu gesellschaftlich nötiger Arbeit anrege. Ein solches System hätte <strong>de</strong>n Vorteil, daß es<br />
schon in einer Zeit angewandt wer<strong>de</strong>n könnte, in <strong>de</strong>r eine Gesellschaft noch nach <strong>de</strong>n Prinzipien <strong>de</strong>s<br />
Geldverkehrs funktioniert. Es wäre aber imstan<strong>de</strong>, <strong>de</strong>m Geld sofort einige seiner schlimmsten<br />
›Nebenwirkungen‹ zu nehmen und könnte schließlich in <strong>de</strong>m Maße, wie sich ein System <strong>de</strong>r<br />
Solidarwirtschaft durchsetzt, abgeschafft wer<strong>de</strong>n.<br />
Wie die meisten libertären Experimente fand auch die praktische Erprobung <strong>de</strong>s Freigel<strong>de</strong>s unter<br />
ungünstigen Vorzeichen statt. Auf Anregung Gustav Landauers, <strong>de</strong>r enge Verbindung zu Gesell hatte,<br />
wur<strong>de</strong> er als Finanzminister in die Münchner Räterepublik berufen, aber bevor das bereits gedruckte<br />
Schwundgeld in Umlauf gebracht wer<strong>de</strong>n konnte, wur<strong>de</strong> die Revolution bereits militärisch<br />
nie<strong>de</strong>rgeschlagen und Landauer ermor<strong>de</strong>t. Später erlebte Gesells I<strong>de</strong>e noch zweimal die praktisch<br />
Erprobung: 1932/35 im österreichischen Wörgl, wo es mit großem Erfolg offizielle Währung wur<strong>de</strong> und<br />
1961/62 im brasilianischen Porto Alegre, wo es in Zusammenarbeit mit Genossenschaften, Banken und<br />
Supermärkten als Parallelwährung zirkulierte. Bei<strong>de</strong> Versuche wur<strong>de</strong>n nach kurzer Zeit vom Staat, <strong>de</strong>r<br />
auf sein Geldmonopol pochte, verboten - in Österreich bezeichnen<strong>de</strong>rweise, nach<strong>de</strong>m immer mehr Städte<br />
und zuletzt die Gemein<strong>de</strong> Wien das Freigeld einführen wollten.<br />
Während Gesells "Schwundgeld" noch umständlich auf Papiercoupons gedruckt wur<strong>de</strong>, von <strong>de</strong>m<br />
monatlich ein Stück abgeschnitten wer<strong>de</strong>n mußte, eröffnen die Möglichkeiten mo<strong>de</strong>rner<br />
Computervernetzung viel weitreichen<strong>de</strong>re Perspektiven beim Übergang von <strong>de</strong>r Tausch- zur<br />
Solidarwirtschaft. Manche Anarchisten sehen beispielsweise in <strong>de</strong>n sogenannten Barter-Clubs* ein
mo<strong>de</strong>rnes Mo<strong>de</strong>ll, in <strong>de</strong>m die I<strong>de</strong>en Proudhons, Kropotkins o<strong>de</strong>r Gesells ungeahnte<br />
Anwendungsmöglichkeiten fin<strong>de</strong>n könnten. Diese Vereinigungen, die sich vor allem in <strong>de</strong>n USA großer<br />
Beliebtheit als Mittel eleganter Steuerhinterziehung erfreuen, bieten in einem Computernetz Waren und<br />
Dienstleistungen an, die je<strong>de</strong>r Teil-<br />
87<br />
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nehmer in Anspruch nehmen darf. Sie können aber nicht gekauft wer<strong>de</strong>n. Je nach <strong>de</strong>r Absicht <strong>de</strong>r<br />
Betreiber könnte es ein reines Tauschsystem sein, man könnte sich eine imaginäre ›Verrechnungseinheit‹<br />
als Alternativwährung schaffen, Kredite einräumen o<strong>de</strong>r auch ein freies Solidarsystem installieren, in <strong>de</strong>m<br />
je<strong>de</strong>r gibt, was er kann und nimmt, was er will. Je<strong>de</strong>r Teilnehmer kann je<strong>de</strong>rzeit seinen ›Kontostand‹ von<br />
Geben und Nehmen abrufen, und alle an<strong>de</strong>ren können wie<strong>de</strong>rum kontrollieren, ob jemand etwa zuviel<br />
entnimmt und damit das System gefähr<strong>de</strong>t. Alle Möglichkeiten anarchistischer Wirtschaftsethik sind in<br />
einem solchen System technisch angelegt, und es wür<strong>de</strong> sich durchaus als Instrument eignen, um <strong>de</strong>n<br />
heiklen Übergang von einer Tauschwirtschaft zu einer Solidarwirtschaft zu begleiten. Denn schließlich<br />
müßten Menschen auch erst einmal die tugendhafte Zurückhaltung, die Kropotkin ihnen netterweise<br />
zugesteht, in <strong>de</strong>r alltäglichen Praxis trainieren...<br />
Belassen wir es bei diesen drei Beispielen in <strong>de</strong>r Hoffnung, daß sie die Phantasie anzuregen vermochten<br />
und zeigen konnten, daß es neben <strong>de</strong>r uns geläufigen Geldwirtschaft mehr als nur eine Alternative gibt.<br />
Wen<strong>de</strong>n wir uns also zum Schluß noch einmal <strong>de</strong>r Zukunft zu: <strong>de</strong>r Frage, ob und wie eine i<strong>de</strong>ale<br />
anarchistische Ökonomie funktionieren könnte.<br />
Tauschen o<strong>de</strong>r geben ?<br />
Stehengeblieben waren wir bei <strong>de</strong>m Gegensatz zwischen Bakunin und Kropotkin, zu <strong>de</strong>m<br />
erfreulicherweise anzumerken ist, daß er sich in <strong>de</strong>r Praxis bisher wohl eher als ein Streit um die Bärte<br />
dieser bei<strong>de</strong>n ›Propheten‹ entpuppte: In <strong>de</strong>n wenigen großen anarchistischen Experimenten, die ganze<br />
Gesellschaften umfaßten, hat sich nämlich gezeigt, daß sie sich in Wirklichkeit weniger wi<strong>de</strong>rsprachen,<br />
als anzunehmen war. Das reale Leben brachte meist Mischformen hervor, bei <strong>de</strong>nen sich grob gesagt<br />
herausstellte, daß im internationalen Wirtschaftsverkehr und in Großstädten Geld vorerst notwendig blieb,<br />
im Tauschverkehr zwischen Industriezweigen o<strong>de</strong>r Gewerkschaftssektionen eine simple<br />
Verrechnungseinheit genügte, und in kleineren Zusammenhängen wie Dörfern, Belegschaften o<strong>de</strong>r<br />
Stadtteilen auch reine Solidarwirtschaft funktionierte. Heute neigen wohl die meisten Anarchisten zu <strong>de</strong>r<br />
Ansicht, daß Bakunins Mo<strong>de</strong>ll am Beginn einer anarchistischen Umwälzung die nahliegen<strong>de</strong>re Lösung<br />
ist, Kropotkins Vision hingegen das ethische und praktische Ziel anarchistischer Wirtschaft sein sollte.<br />
Gera<strong>de</strong> darum sind Mo<strong>de</strong>lle und Experimente, die Antworten auf die Frage nach <strong>de</strong>n Übergängen geben,<br />
so wichtig. Übergänge von "Kapitalismus" zu "Bakunin" und von "Bakunin" zu "Kropotkin", o<strong>de</strong>r, an<strong>de</strong>rs<br />
ausgedrückt, von Geld zu Tausch und von Tausch zu Solidarität.<br />
Nun erscheint uns, als Kin<strong>de</strong>rn dieser Gesellschaft und von ihr geprägt, die I<strong>de</strong>e eines Tausches sicherlich<br />
plausibler* als die I<strong>de</strong>e einer Solidarwirtschaft. Kropotkin kommt uns gegenüber Bakunin eher wie ein<br />
etwas weltfrem<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>alist vor.<br />
Ist das anarchistische Endziel, wo je<strong>de</strong>r gibt was er kann und nimmt was er braucht, vielleicht nur<br />
Spinnerei?<br />
Zunächst einmal muß gesagt wer<strong>de</strong>n, daß ja auch das Kropotkinsche I<strong>de</strong>al ein Tausch ist.<br />
88<br />
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Nur wird in einer geldfreien Wirtschaft nicht aufgerechnet, nicht unmittelbar und direkt getauscht und<br />
nicht systematisch kontrolliert. Statt<strong>de</strong>ssen wird alles ›in einen großen Topf geworfen‹, aus <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r<br />
nimmt, solange da ist, und in <strong>de</strong>n je<strong>de</strong>r aus wohlverstan<strong>de</strong>nem Eigeninteresse hineingibt, damit er nicht<br />
leer wird. Hierzu ein Beispiel:<br />
Ein Bäcker produziert Brötchen und ein Elektrotechniker baut Lichtanlagen. Der Techniker wird sich<br />
je<strong>de</strong>n Morgen beim Bäcker soviel Brötchen holen, wie er braucht. Sobald er beginnt, einen ganzen Sack<br />
abzuschleppen, wird <strong>de</strong>r Bäcker protestieren. Einen ganzen Sack abzuschleppen wäre aber sinnlos, <strong>de</strong>nn<br />
Brötchen schimmeln, und zum Tauschen gegen an<strong>de</strong>re Dinge taugen sie nicht, weil je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Mensch<br />
ebenfalls Brötchen nehmen kann, und <strong>de</strong>r Elektrotechniker je<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Gegenstand, sofern vorhan<strong>de</strong>n,<br />
ebenfalls gratis mitnehmen könnte. Mehr zu nehmen als man braucht, wür<strong>de</strong> einfach absurd, und das<br />
Horten von Gegenstän<strong>de</strong>n eine sinnlose Plage. Auch <strong>de</strong>r Warenbesitz als Ausdruck einer<br />
Klassenzugehörigkeit, Luxus als Symbol für Status und Macht, wür<strong>de</strong> in einer klassenlosen Gesellschaft<br />
seinen Sinn verlieren und zunehmend lächerlich wirken.<br />
Nun muß <strong>de</strong>r Elektrotechniker aber keinesfalls je<strong>de</strong>n Morgen beim Brötchenholen eine Lichtanlage o<strong>de</strong>r<br />
ein Stück davon o<strong>de</strong>r einen Trafo dalassen. Es wird nicht direkt getauscht. Hingegen kann sich <strong>de</strong>r<br />
Bäcker, wenn seine Installation nicht mehr taugt, sich eine neue einbauen lassen, ohne dafür etwa mit<br />
einem Lastwagen voll Brötchen zu ›bezahlen‹. Es kann auch sein, daß <strong>de</strong>r Bäcker niemals eine<br />
Lichtanlage braucht, aber trotz<strong>de</strong>m stehen Bäcker und Elektrotechniker in einem Tauschverhältnis<br />
miteinan<strong>de</strong>r, und zwar in einem indirekten: Der Bäcker beliefert das Reisebüro, wo <strong>de</strong>r Techniker seinen<br />
Urlaub bucht, das wie<strong>de</strong>rum von <strong>de</strong>r Druckerei beliefert wird, in die <strong>de</strong>r Techniker die gesamte Elektrik<br />
installiert hat... und tausend Verflechtungen mehr. Das ist nicht an<strong>de</strong>rs als heute auch und wäre auch für<br />
die Wirtschaftsbeziehungen von Großfirmen und ganzen Branchen <strong>de</strong>nkbar – nur mit <strong>de</strong>m Unterschied,<br />
daß in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>zentralen Bedürfniswirtschaft sich im Vergleich zur kapitalistischen Geldwirtschaft die<br />
Ungerechtigkeiten <strong>de</strong>s Reichtums und die ökologisch-sozialen Schä<strong>de</strong>n minimierten.<br />
Es han<strong>de</strong>lt sich also auch bei Kropotkin um einen Tausch - Tausch auf Kredit im positiven Sinne dieses<br />
Wortes, das vom lateinischen cre<strong>de</strong>re kommt, was soviel wie vertrauen o<strong>de</strong>r glauben heißt. Dieser<br />
›Kredit‹ gilt zwischen allen Teilnehmern einer solchen Gemeinschaft gegenseitig. Je<strong>de</strong>r von ihnen hat ein<br />
Interesse daran, diesen Kredit nicht zu mißbrauchen, damit seine Gemeinschaft und somit seine<br />
wirtschaftliche Existenz nicht gefähr<strong>de</strong>t wird.<br />
Die geldlose Solidar- und Bedürfniswirtschaft könnte die Menschen auch von einer Geißel <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />
Volkswirtschaft befreien, <strong>de</strong>m Arbeitsplatzargument. Der größte Unsinn und die schlimmste moralische<br />
Verwerflichkeit wer<strong>de</strong>n heute mit <strong>de</strong>m Vorhalt gerechtfertigt: "Aber das schafft doch Arbeitsplätze!" In<br />
Debatten über Wirtschaft ist es das mit Abstand beliebteste ›Totschlagargument‹, mit <strong>de</strong>m sich alles<br />
rechtfertigen läßt. Konsequente Ökonomisten müßten mit ihm eigentlich die Schließung <strong>de</strong>r<br />
Konzentrationslager 1945 bedauern – schließlich wur<strong>de</strong>n dort Arbeitsplätze vernichtet ...!<br />
Das Arbeitsplatzargument verliert in einer Solidarwirtschaft aber je<strong>de</strong>n Sinn. Ein ›Arbeits-<br />
89<br />
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platz‹ an sich ist ja ein inhaltsleerer Blödsinn. Er ist nur <strong>de</strong>shalb so wichtig, weil damit das Recht auf<br />
Verdienst = Leben gekoppelt ist. Eigentlich be<strong>de</strong>utsam ist ja nicht <strong>de</strong>r Arbeitsplatz, son<strong>de</strong>rn die Arbeit,<br />
das Produkt. Diese können sinnvoll o<strong>de</strong>r sinnlos sein. In <strong>de</strong>r Solidarwirtschaft aber müßte nichts mehr um<br />
seiner selbst o<strong>de</strong>r um <strong>de</strong>s Profits wegen hergestellt wer<strong>de</strong>n. Es ist nicht einzusehen, warum beispielsweise<br />
Militärs, die eine gesellschaftlich sinnlose Tätigkeit verrichten, nicht sinnvolle Arbeiten übernehmen<br />
könnten. In einer Übergangsphase könnte man sie dafür ja durchaus genauso entlohnen wie zuvor, aber<br />
immerhin fielen die Kosten für die Waffensysteme sofort weg; das ist lediglich eine Frage <strong>de</strong>r richtigen<br />
Umbaumo<strong>de</strong>lle. Irgen<strong>de</strong>ine Arbeit aber, die niemand braucht, nur <strong>de</strong>shalb zu verrichten, weil ich zum<br />
Leben einen Arbeitsplatz brauche - das ist schon eine ziemlich merkwürdige I<strong>de</strong>e, wenn man mal drüber<br />
nach<strong>de</strong>nkt. Und da es am En<strong>de</strong> für <strong>de</strong>rart viele Menschen gar nicht mehr genug sinnvolles zu tun gäbe,
dürfte <strong>de</strong>r Mensch getrost etwas langsamer treten und weniger arbeiten – ohne <strong>de</strong>shalb wirtschaftliche<br />
Nachteile befürchten zu müssen.<br />
Faule Menschen und eklige Arbeit<br />
Bleiben wir noch einen Augenblick bei <strong>de</strong>r Theorie einer anarchistischen I<strong>de</strong>algesellschaft: Dort sollen<br />
nach Kropotkin diejenigen, die sich an diesem ›indirekten Tausch‹ nicht beteiligen, nicht <strong>de</strong>m Hungertod<br />
überlassen wer<strong>de</strong>n. Auch Menschen, die <strong>de</strong>n Kredit mißachten in<strong>de</strong>m sie beispielsweise nicht arbeiten,<br />
sollen das Recht haben, zu nehmen. Das kommt vielen von uns absurd vor, dabei ist es gar nicht so<br />
ungewöhnlich. Das kann sich sogar unser Wirtschaftssystem leisten, obwohl es soviel Kraft verschwen<strong>de</strong>t<br />
und soviel Überflüssiges produziert. Schließlich zahlt es Sozialhilfe, ohne daran zu zerbrechen. Mehr<br />
noch: Wir ernähren heute - was gerne vergessen wird - zigtausen<strong>de</strong> von Parasiten mit, die nicht nur nichts<br />
herstellen, son<strong>de</strong>rn überdies auch noch superreich sind: die Kapitaleigner mit ihrem arbeitslosen<br />
Einkommen. Trotz<strong>de</strong>m geht unser System daran nicht zugrun<strong>de</strong>...<br />
Ob sie tatsächlich funktionieren wür<strong>de</strong>, hängt von zwei Fragen ab: Wieviele Menschen wer<strong>de</strong>n sich<br />
tatsächlich weigern zu arbeiten und etwas ›in <strong>de</strong>n Topf‹ zu geben? Und: Kann eine gut organisierte<br />
Wirtschaft in einer freiheitlichen Gesellschaft genügend Leistung erbringen, um alle Menschen – auch die<br />
›Faulenzer‹ – zu versorgen?<br />
Gewiß können wir über bei<strong>de</strong> nur spekulieren, aber Spekulation kann durchaus fundiert* sein. Was die<br />
zweite Frage angeht, so haben wir schon gesehen, daß mo<strong>de</strong>rne Wirtschaftsstudien genau in diese<br />
Richtung weisen: Es scheint heute unter seriösen Soziologen, Politologen und sogar voraus<strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n<br />
Ökonomen keine Frage zu sein, daß eine Bedarfsproduktion allen Menschen Nahrung und Wohlstand<br />
bieten könnte. Allerdings halten sie ihre Verwirklichung angesichts <strong>de</strong>r tatsächlichen Machtstrukturen und<br />
Kapitalinteressen für eine Utopie und machen zu Recht <strong>de</strong>n Vorbehalt geltend, daß das ungebremste<br />
Bevölkerungswachstum solche Hoffnungen je<strong>de</strong>rzeit durchkreuzen könnte. Manche Anarchisten sind da<br />
optimistischer: Der bekannte amerikanische Ökologe Murray Bookchin<br />
90<br />
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geht in seinen Schriften von einem ›Anarchismus <strong>de</strong>r Nach-Mangelgesellschaft‹ aus. Mangel wie wir ihn<br />
heute kennen sei ein künstlicher Zustand, <strong>de</strong>r in unserem Wirtschaftssystem begrün<strong>de</strong>t liege. Bookchin<br />
zweifelt nicht daran, daß – auch in ökologisch verträglicher Form – mehr erzeugt und besser verteilt<br />
wer<strong>de</strong>n könnte als dies heute <strong>de</strong>r Fall ist.<br />
Auch <strong>de</strong>r Rückblick auf historische Erfahrungen kann bei <strong>de</strong>r Beantwortung dieser Frage helfen. Wie<br />
produktiv war beispielsweise die libertäre Mischwirtschaft während <strong>de</strong>r spanischen Revolution? Zum<br />
großen Erstaunen beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r Wirtschaftstheoretiker geschah 1936 in <strong>de</strong>n befreiten Gebieten etwas,<br />
was es nach allen Gesetzen <strong>de</strong>r Ökonomie gar nicht hätte geben dürfen: Bei gleichzeitiger Lohnerhöhung,<br />
Reduzierung <strong>de</strong>r Arbeitszeit und Verbesserung sozialer Leistungen wur<strong>de</strong> die Produktion gesteigert. Und<br />
das, obwohl ›nebenbei‹ noch ein Krieg geführt wer<strong>de</strong>n mußte, also <strong>de</strong>nkbar ungünstige Bedingungen<br />
herrschten. Kein verantwortungsvoller Mensch wird allein aus einem so kurzen Experiment Rückschlüsse<br />
für eine künftige Gesellschaft ziehen wollen. Ohne Frage spielte die große Anfangseuphorie* eine Rolle,<br />
und wir wissen nicht, wie sich diese Wirtschaft in zehn o<strong>de</strong>r zwanzig Jahren entwickelt hätte. Tatsache ist<br />
aber, daß nicht die Wirtschaft scheiterte, son<strong>de</strong>rn die Politik: Das Experiment wur<strong>de</strong> zunächst durch<br />
zahllose Schikanen <strong>de</strong>r republikanischen Regierungen torpediert und schließlich vom siegreichen<br />
Faschismus zerschlagen.<br />
Die Grün<strong>de</strong>, die in Spanien ein solches ›anarchistisches Wirtschaftswun<strong>de</strong>r‹ ermöglichten, führen uns zu<br />
<strong>de</strong>r Beantwortung jener an<strong>de</strong>ren Frage: Wieviele Menschen wür<strong>de</strong>n sich für die Gesellschaft engagieren<br />
und wieviele wür<strong>de</strong>n sich ihr verweigern?
Offenbar spielt die Motivation <strong>de</strong>r Menschen hierbei eine wichtige Rolle. Engagement hängt entschei<strong>de</strong>nd<br />
von <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation ab, die je<strong>de</strong>r Mensch mit seiner Gesellschaft und daher mit seiner Arbeit hat. Der<br />
Begriff <strong>de</strong>r Motivation spielt heute in <strong>de</strong>n meisten ökonomischen Theorien von Markt und Arbeit eine<br />
untergeordnete Rolle. Kluge Ausbeuter wie IBM haben das erkannt, Betonköpfe wie die DDR-Ökonomen<br />
haben das ignoriert, bis ihr System zusammenbrach. In <strong>de</strong>r spanischen Revolution war das Gros <strong>de</strong>r<br />
Industrie- und Landarbeiter hochmotiviert. Sie wußten, daß sie etwas für sich taten, und daß ihr Versuch<br />
nur in einer solidarischen Gemeinschaft funktionieren konnte.<br />
Trotz<strong>de</strong>m gibt es faule Menschen und unangenehme Arbeit, die niemand tun will. Was ist damit?<br />
Die optimistische Annahme <strong>de</strong>r Anarchisten, daß sich in einer libertären Gesellschaft relativ wenig<br />
Menschen jeglicher Arbeit verweigern, fußt auf mehreren Überlegungen. Zuallererst glauben sie nicht,<br />
daß konsequentes Nichtstun angenehm ist. Der Mensch ist in <strong>de</strong>r Regel ein aktives Geschöpf, das sich<br />
betätigen will. Wirklich nichts im Leben zu schaffen ist für die meisten Menschen kein I<strong>de</strong>al - im<br />
Gegenteil: es wäre eine solch gräßliche Langeweile und nervtöten<strong>de</strong> Ö<strong>de</strong>, daß diese Vorstellung eher<br />
erschreckend als verlockend wirkt. Rentner, die von einem Tag auf <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren zur Untätigkeit verdammt<br />
wer<strong>de</strong>n, erleben diesen Zustand ebenso bedrückend wie Häftlinge, <strong>de</strong>nen die Arbeit in <strong>de</strong>r<br />
Gefängniswerkstatt verweigert wird. Selbst junge Menschen, die plötzlich ihren Arbeitsplatz<br />
91<br />
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verlieren, lei<strong>de</strong>n darunter, obwohl sie durch Arbeitslosengeld finanziell leidlich versorgt bleiben. Und das<br />
alles, obwohl Arbeit heutzutage alles an<strong>de</strong>re als angenehm und menschlich organisiert ist!<br />
Es ist eben eine ganz an<strong>de</strong>re Frage, ob die Arbeit, die wir heute zu verrichten gezwungen sind, gerne<br />
getan wird. Vor allem an<strong>de</strong>ren müssen wir arbeiten, um Geld zu verdienen und also leben zu dürfen. In<br />
<strong>de</strong>n wenigsten Fällen ist unsere Arbeit angenehm, daher wird sie in <strong>de</strong>n meisten Fällen ungern getan. Wir<br />
haben bereits gesehen, daß Anarchisten die kapitalistische Arbeit zu<strong>de</strong>m für entfrem<strong>de</strong>t halten. Der Grad<br />
<strong>de</strong>r Entfremdung soll in einer libertären Wirtschaft durch vielfältige Än<strong>de</strong>rungen im Arbeitsablauf<br />
entschei<strong>de</strong>nd reduziert wer<strong>de</strong>n. Alle Überlegungen hierzu laufen auf eine Verringerung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung<br />
hinaus und auf eine engere Verbindung zwischen <strong>de</strong>m Menschen und seinem Produkt, Es wur<strong>de</strong> ebenfalls<br />
schon erwähnt, daß die Arbeitszeit in einer <strong>de</strong>zentralen Bedürfnisproduktion auf Dauer drastisch gekürzt<br />
wer<strong>de</strong>n könnte. Es macht für viele Menschen einen großen Unterschied, ob sie vier o<strong>de</strong>r acht Stun<strong>de</strong>n<br />
arbeiten müssen - nicht ohne Grund ist Teilzeitarbeit so beliebt. Schließlich darf nicht vergessen wer<strong>de</strong>n,<br />
daß die lebendige und bunte soziale Umwelt, die eine anarchistische Umwälzung vermutlich mit sich<br />
brächte, natürlich beson<strong>de</strong>rs geeignet wäre, die so entstehen<strong>de</strong> Freizeit zu füllen. Wür<strong>de</strong>n wir hier und<br />
heute die Arbeitszeit auf vier Stun<strong>de</strong>n reduzieren, brächte das für viele Menschen sicherlich erhebliche<br />
›Freizeitprobleme‹ mit sich, die eher zu einem Anwachsen von sozialem Fehlverhalten, dumpfem<br />
Konsum, Alkoholverbrauch o<strong>de</strong>r Fernsehmanie führen wür<strong>de</strong>.<br />
Darüberhinaus braucht <strong>de</strong>r Mensch, um freiwillig und mit Überzeugung zu arbeiten, vor allem eine<br />
gewisse Sicherheit. Das bringt uns zu <strong>de</strong>r Frage nach Besitz und Eigentum.<br />
Eigentum und Besitz<br />
Hier müssen wir wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n guten, alten Proudhon zurückkommen, <strong>de</strong>r sich als einer <strong>de</strong>r ersten<br />
Anarchisten mit dieser Frage beschäftigte. 1840 brillierte* er mit seiner Denkschrift "Was ist Eigentum?",<br />
die in <strong>de</strong>m berühmt gewor<strong>de</strong>nen Satz gipfelte "Eigentum ist Diebstahl!" Das klingt schön schockierend,<br />
aber was be<strong>de</strong>utet es? Darf nieman<strong>de</strong>m mehr etwas ›gehören‹?<br />
Natürlich darf und muß es in einer anarchistischen Gesellschaft ›Besitz‹ geben. Anarchisten planen auch<br />
keinesfalls die Kollektivierung <strong>de</strong>r Zahnbürsten. Aber Besitz ist nicht dasselbe wie ›Eigentum‹, Proudhon<br />
unterschei<strong>de</strong>t hier sehr genau: Besitz setzt eine Nutzung voraus, einen Gebrauch von Werten. Ein Besitzer
kann durchaus über solche Werte verfügen, vorausgesetzt, er tut was damit. Arbeitet er mit diesen<br />
Werten, setzt er sie ein, um etwas Sinnvolles damit zu produzieren, profitiert auch die Gesellschaft.<br />
Eigentum hingegen ist das abstrakte Recht, mit Dingen nach Belieben zu verfahren; es entsteht zumeist<br />
als Profit infolge Ausbeutung. Daher das Urteil, Eigentum sei ›Diebstahl‹. Bei all<strong>de</strong>m geht es eben nicht<br />
um die ›Zahnbürsten‹, das heißt, um private Dinge, son<strong>de</strong>rn um das Eigentum an Produktionsmitteln :<br />
Fabriken, Län<strong>de</strong>reien, Unternehmen, Maschinen, Betriebe und so weiter. Selbstverständlich hätte in einer<br />
anarchistischen Gesellschaft je<strong>de</strong>s<br />
92<br />
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Mitglied ein Anrecht auf eine geschützte Privatsphäre und somit auch auf das Eigentum an persönlichen<br />
Dingen. Eigentum an Produktionsmitteln hingegen ist in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Anarchisten unsozial. Wieso, so<br />
fragen sie, darf ein junger Schnösel, <strong>de</strong>r vom Vater ein großes Landgut geerbt hat, die Äcker brach liegen<br />
lassen o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n spekulieren, während die Landarbeiter arbeitslos sind und hungern? Weil er<br />
Eigentümer ist. Wieso kann die Konzernleitung, die sich eine Aktienmehrheit verschafft hat, nach<br />
Gutdünken die Fabrik schließen o<strong>de</strong>r statt Fotoapparaten plötzlich Zielfernrohre bauen lassen? Weil sie<br />
Eigentümerin ist – ebenso wie die Immobilienholding, die Wohnhäuser verfallen läßt o<strong>de</strong>r die<br />
Holzgesellschaft, die be<strong>de</strong>nkenlos die letzten Urwäl<strong>de</strong>r abmäht.<br />
Eigentümer entschei<strong>de</strong>n eben nicht nur über das Schicksal <strong>de</strong>r Produktionsmittel, son<strong>de</strong>rn auch über das<br />
Schicksal <strong>de</strong>r Menschen. Nach anarchistischer Vorstellung aber darf nicht ein einzelner Mensch<br />
entschei<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r nach irgen<strong>de</strong>inem Gesetz zufällig <strong>de</strong>r Eigentümer ist, son<strong>de</strong>rn alle diejenigen, die damit<br />
arbeiten, darin, davon o<strong>de</strong>r damit leben o<strong>de</strong>r sonstwie direkt damit zu tun haben. Diejenigen also, die<br />
besitzen. Wir sprechen in diesem Falle von Kollektivbesitz, und in aller Regel sind solche Kollektive<br />
autonom. Sie bestimmen also selbst Art, Weise und Inhalt ihrer Arbeit, wobei sie - wie etwa im Falle <strong>de</strong>s<br />
Wal<strong>de</strong>s - natürlich auf Interessen Dritter und die sozialen Regeln Rücksicht nehmen müssen, die sich die<br />
Gesamtgesellschaft gegeben hat. Besitzer bleiben sie genau so lange, wie sie etwas damit tun. Wenn eine<br />
Belegschaft ›ihre‹ Fabrik schließt o<strong>de</strong>r eine landwirtschaftliche Genossenschaft ›ihren‹ Acker nicht mehr<br />
bestellt, ›gehören‹ sie ihnen auch nicht mehr und können von an<strong>de</strong>ren übernommen wer<strong>de</strong>n. Das ist <strong>de</strong>r<br />
Unterschied zwischen Eigentum und Besitz: Eigentum muß sich nach <strong>de</strong>n Gesetzen <strong>de</strong>s kapitalistischen<br />
Marktes richten, Besitz nach <strong>de</strong>n sozialen Ansprüchen <strong>de</strong>r Gesellschaft. Das gilt nicht nur für Kollektive,<br />
son<strong>de</strong>rn auch für Individuen: Selbstverständlich kann auch ein einzelner Handwerker o<strong>de</strong>r ein Bauer o<strong>de</strong>r<br />
ein Freiberufler ›seinen‹ Betrieb ›besitzen‹, ohne daß an<strong>de</strong>re ihn wegnehmen o<strong>de</strong>r ihm dreinre<strong>de</strong>n können.<br />
Dieses Prinzip wur<strong>de</strong> selten so kurz und schön auf <strong>de</strong>n Punkt gebracht wie in <strong>de</strong>r simplen Losung <strong>de</strong>r<br />
Bauern in <strong>de</strong>r spanischen Revolution: "Das Land <strong>de</strong>nen, die es bearbeiten!"<br />
Das alles hat sehr viel mit Motivation zu tun. Klare Besitzverhältnisse schaffen die nötige Sicherheit und<br />
tragen zur I<strong>de</strong>ntifikation <strong>de</strong>r arbeiten<strong>de</strong>n Menschen mit ihrem Betrieb bei, ohne die unsozialen<br />
Auswirkungen <strong>de</strong>s Eigentums in Kauf nehmen zu müssen.<br />
Nach anarchistischer Überzeugung führt die Summe all <strong>de</strong>r genannten Faktoren zu einer hohen<br />
Bereitschaft, in einer geldlosen Solidarwirtschaft zu arbeiten. Unter diesen Voraussetzungen sei eigentlich<br />
nicht einzusehen, warum sich die Menschen plötzlich massenhaft auf die faule Haut legen sollten.<br />
Außer<strong>de</strong>m, so die Argumentation <strong>de</strong>r Libertären, müßte <strong>de</strong>n Leuten klar sein, daß, sobald sie nichts mehr<br />
›in <strong>de</strong>n Topf‹ geben, solch hübsche Zustän<strong>de</strong> sehr bald ihr En<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n.<br />
Bleibt die Frage, ob Menschen ohne finanziellen Anreiz dann auch noch schmutzige, unangenehme und<br />
gefährliche Tätigkeiten verrichten wür<strong>de</strong>n. Auch diese Antwort steht und fällt mit <strong>de</strong>m Grad <strong>de</strong>r<br />
I<strong>de</strong>ntifizierung in <strong>de</strong>r Gemeinschaft. Gewiß kann noch viel mehr ›Dreckarbeit‹ automatisiert und durch<br />
Maschinen ersetzt wer<strong>de</strong>n - Kropotkin geriet<br />
93
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angesichts dieser Perspektive regelmäßig ins Schwärmen -, aber eben nicht alle. Niemand macht gerne<br />
<strong>de</strong>n Dreck <strong>de</strong>s Nachbarn weg o<strong>de</strong>r holt für an<strong>de</strong>re die Kastanien aus <strong>de</strong>m Feuer. Wenn Menschen es doch<br />
immer wie<strong>de</strong>r tun, dann gera<strong>de</strong> nicht unbedingt wegen <strong>de</strong>m beson<strong>de</strong>rs hohen finanziellen Anreiz - sonst<br />
müßten die Toilettenfrau o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Müllmann zu <strong>de</strong>n Höchstverdienern zählen. Freun<strong>de</strong> pflegen einen<br />
kranken Freund, Eltern wischen ihren Babys <strong>de</strong>n Hintern, und immer wie<strong>de</strong>r setzen auch wildfrem<strong>de</strong><br />
Menschen ihr Leben ein, um an<strong>de</strong>re wildfrem<strong>de</strong> Menschen aus Gefahr zu retten. In Revolutionen opfern<br />
sogar Tausen<strong>de</strong> ihr Leben, ohne einen Pfennig dafür zu bekommen. Warum?<br />
Neben genetisch* bedingtem sozialen Triebverhalten vor allem aus Überzeugung: aus Einsicht in die<br />
Notwendigkeit und aus einer Ethik heraus, die auch Unangenehmes o<strong>de</strong>r Gefährliches zu positiven<br />
Werten macht. Eine anarchistische Gesellschaft wür<strong>de</strong> die nötige Überzeugung zweifellos för<strong>de</strong>rn. Sie<br />
wäre außer<strong>de</strong>m darauf ausgelegt, Einsichten in Notwendigkeiten zu vermitteln. Und gewiß wür<strong>de</strong> sie<br />
versuchen, eine neue soziale Ethik zu entwickeln. So etwas geht nicht von heute auf morgen, aber es<br />
geschieht nie, wenn nicht die Weichen entsprechend gestellt wer<strong>de</strong>n. Bis es soweit ist, wäre es auch kein<br />
Unglück, wenn die betroffenen Menschen hin und wie<strong>de</strong>r durch <strong>de</strong>n Zwang <strong>de</strong>r Dinge zu Einsichten<br />
gelangten, die ihnen ihre Ethik noch nicht vermittelt. Beispielsweise, wenn in einem Stadtteil die<br />
Kanalisation verstopft ist. Spätestens dann wird einsichtig, daß Kanalreinigung eine höchst soziale<br />
Tätigkeit ist! Trotz<strong>de</strong>m ist es bei uns eine schlecht bezahlte Arbeit mit einem miserablen Ruf. Gera<strong>de</strong> die<br />
Struktur einer anarchistischen Gesellschaft böte aber hier die Möglichkeit, daß niemand lebenslang<br />
Kanalarbeiter zu sein brauchte. Warum nicht für ein Jahr nach <strong>de</strong>m Rotationsprinzip? Ich kann mir<br />
vorstellen, daß dies eine sehr wichtige Lebenserfahrung für Menschen sein könnte, die nur <strong>de</strong>shalb einen<br />
dünkelhaften Stolz pflegen, weil sie sich noch nie im Leben die Finger schmutzig gemacht haben...<br />
Aber bitte: Die Re<strong>de</strong> ist hier nicht von einem Zwangsarbeitsdienst. Bei Anarchisten ist Engagement<br />
immer insofern freiwillig, als niemand zu etwas gezwungen wird – es sei <strong>de</strong>nn, durch einen stinken<strong>de</strong>n<br />
Gully.<br />
Mehr noch: die anarchistische Utopie for<strong>de</strong>rt sogar ein ›Recht auf Faulheit‹. Paul Lafargue schrieb 1883<br />
eine sehr geistreiche Broschüre gleichen Namens, die bei seinem Schwiegervater Karl Marx alles an<strong>de</strong>re<br />
als Begeisterung auslöste. Sie war als Polemik gegen das seit 1848 in Frankreich verankerte "Recht auf<br />
Arbeit" gedacht und liefert eine gründliche Abrechnung mit <strong>de</strong>r scheinheiligen Lehre, die behauptet, daß<br />
ausgerechnet Arbeit <strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>s Lebens ausmache. Eine moralinsaure These, die <strong>de</strong>r Bourgeois*<br />
ebensogerne vertritt wie <strong>de</strong>r Kleriker und <strong>de</strong>r Marxist. Wenngleich Lafargues Argumentation in erster<br />
Linie auf die Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen abzielt, so bricht er doch auch ganz entschie<strong>de</strong>n<br />
und grundsätzlich eine Lanze für die Muße. Sie trage zur Sinnfindung <strong>de</strong>s Lebens ebenso bei wie kreative<br />
Arbeit, sie könne angenehm sein, lustvoll, geistreich und schöpferisch. Es leuchtet ein, daß sich<br />
Anarchisten einer solchen I<strong>de</strong>e nur anschließen konnten und diese For<strong>de</strong>rung gut lesbar auf ihre Fahnen<br />
schrieben...<br />
Tun wir aber nicht so, als wäre das so außergewöhnlich! Wer glaubt <strong>de</strong>nn bei uns auf-<br />
94<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
richtig, daß Arbeit <strong>de</strong>r Sinn <strong>de</strong>s Lebens sei? Sind wir nicht auch eine Freizeitgesellschaft? Und gibt es<br />
nicht auch bei uns viele Menschen, die möglichst viel faulenzen und sich, wo immer es nur geht, vor<br />
Arbeit drücken, ohne daß die Gesellschaft <strong>de</strong>swegen unterginge? Nur muß man es heutzutage heimlich,<br />
trickreich und verschämt tun, <strong>de</strong>nn die <strong>de</strong>rzeitige Moral stimmt nicht mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>rzeitigen Wirklichkeit<br />
überein.<br />
Die allermeisten Menschen aber halten eine ständige Muße nicht aus. Deshalb ist nicht anzunehmen, daß<br />
die Arbeit ausstürbe, wenn es ein Recht auf Faulheit gäbe. Es kommt ja auch niemand auf die I<strong>de</strong>e, daß
Menschen sich totfräßen, wenn es ein Recht auf Essen gäbe. Überdies gibt es im Leben eines je<strong>de</strong>n<br />
Menschen Phasen, in <strong>de</strong>nen plötzlich <strong>de</strong>r Drang zu ungeheurem Fleiß aufbricht, und dann wie<strong>de</strong>r Zeiten,<br />
in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Sinn nach Muße steht. Unser Wirtschaftssystem ist nicht in <strong>de</strong>r Lage, darauf Rücksicht zu<br />
nehmen. Arbeit ist in <strong>de</strong>r Regel zwischen 20 und 65 angesagt. Ununterbrochen und für alle. Erholung<br />
gibt's portioniert und massenmäßig vorbereitet in vier Wochen jährlichem Urlaub, und Muße wird ab 65<br />
diktiert, was viele Menschen dann einfach nicht mehr aushallen. Daß diese Regelungen nicht <strong>de</strong>r<br />
menschlichen Seele und Konstitution entsprechen, davon können Krankenkassen, Psychologen und<br />
Sozialarbeiter ein Lied singen... Anarchisten halten dagegen, daß in einer Gesellschaft nach ihrem<br />
Zuschnitt je<strong>de</strong>r Mensch soviel und solange arbeiten könnte, wie er mag. Er könnte sich schrittweise aus<br />
<strong>de</strong>m Produktionsprozeß zurückziehen und noch mit 80 gelegentlich an <strong>de</strong>r Werkbank stehen, sofern er<br />
Lust dazu hat. Im Laufe seines Lebens könnte er Phasen sozialer Arbeit mit Phasen <strong>de</strong>r Warenproduktion,<br />
<strong>de</strong>r schöpferischen Tätigkeit und <strong>de</strong>r Muße abwechseln lassen, solange die Gesellschaft in <strong>de</strong>r er lebt, ihm<br />
und allen an<strong>de</strong>ren genug zum Leben bietet. Und ob sie das kann, hängt eben genau davon ab, wieweit sich<br />
je<strong>de</strong>r Einzelne engagiert.<br />
Solange das gewährleistet ist, kann sich diese Gesellschaft auch <strong>de</strong>n Luxus leisten, Menschen<br />
mitzuernähren, die überhaupt nichts tun.<br />
Einen solchen Menschen wür<strong>de</strong> ich übrigens gerne einmal kennenlernen.<br />
Nun war es natürlich falsch, ständig von <strong>de</strong>r anarchistischen Gesellschaft zu sprechen. Wir wissen ja<br />
bereits, daß es nach anarchistischer Lesart nicht eine, son<strong>de</strong>rn viele geben soll. Ob nun je<strong>de</strong> einzelne<br />
dieser Gesellschaften genauso mit <strong>de</strong>r Faulheit und <strong>de</strong>r Motivierung verfahren wür<strong>de</strong>, bleibt ihr<br />
überlassen. Ich könnte mir vorstellen, daß es Gemeinschaften gäbe, die ›Faulenzer‹ ohne viel Aufhebens<br />
rausschmeißen wür<strong>de</strong>n. Das wäre ihr gutes Recht, ebenso wie es das Recht an<strong>de</strong>rer Gemeinschaften wäre,<br />
Faulheit zu tolerieren o<strong>de</strong>r zu kultivieren. Auch in vielen an<strong>de</strong>ren Punkten mußte meine Darstellung eine<br />
Vereinfachung bleiben – beispielsweise bei <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r Produktion und Verteilung von Gütern. Hier<br />
dürften Strukturen greifen – Räte, Komitees, Koordinationsgremien und Ausschüsse –, wie wir sie im<br />
vorigen Kapitel kennengelernt haben und wie wir sie im Folgen<strong>de</strong>n noch an anschaulichen Beispielen aus<br />
<strong>de</strong>r Praxis erleben wer<strong>de</strong>n. Wichtig war mir nicht das Detail, das ohnehin niemand voraussagen kann,<br />
son<strong>de</strong>rn die Beschreibung <strong>de</strong>r anarchistischen Vision.<br />
95<br />
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Schwieriges Um<strong>de</strong>nken<br />
Für die meisten Menschen ist <strong>de</strong>r wirtschaftliche Wohlstand das wichtigste im Leben - weit wichtiger oft<br />
als Gesundheit, Liebe, Lebensqualität o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Zustand unserer Umwelt. Man mag das bedauern, muß es<br />
aber akzeptieren. Unsere Welt ist arm an Visionen, und die Mächtigen fürchten sie mit Recht wie <strong>de</strong>r<br />
Teufel das Weihwasser, <strong>de</strong>nn meistens war die gesellschaftliche Vision <strong>de</strong>r Wegbereiter eines neuen<br />
gesellschaftlichen Systems.<br />
Dabei ist es gar keine Frage, daß unsere Gesellschaft neue Systeme braucht, unabhängig von politischen<br />
Etiketten und unabhängig von <strong>de</strong>n Wünschen <strong>de</strong>r Anarchisten: Ist es nicht eigentlich klar, daß eine<br />
Gesellschaft, in <strong>de</strong>r Arbeit zunehmend knapp wird, nicht <strong>de</strong>njenigen verachten darf, <strong>de</strong>r weniger arbeitet?<br />
Muß nicht die gesamte Arbeitsethik mitsamt ihrem wirtschaftlichen System radikal umgedacht wer<strong>de</strong>n,<br />
wenn sie heute noch immer genau das belohnt, was die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten zerstört?<br />
Radikale Denkansätze sind zwar rar, aber sie mehren sich - auch außerhalb anarchistischer Kreise. So ist<br />
es heute kein Einzelfall mehr, wenn etwa <strong>de</strong>r Historiker und Soziologe Christian Schütze, Publizist bei<br />
<strong>de</strong>r Süd<strong>de</strong>utschen Zeitung, in einem GEO-Essay mit <strong>de</strong>m Titel "Frie<strong>de</strong>n durch Faulheit" zu <strong>de</strong>m Schluß<br />
kommt: "Nicht <strong>de</strong>r Achtstun<strong>de</strong>ntag, son<strong>de</strong>rn die Nicht-Arbeit ist <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Menschen angemessene<br />
Zustand." Schütze tut das mit einem klar erkennbaren christlichen Hintergrund, aber in einer radikalen<br />
Klarheit, die ebensogut anarchistischer Denktradition Ehre machen wür<strong>de</strong>. Was wie<strong>de</strong>r einmal zeigt, daß
Anarchisten <strong>de</strong>n Durchblick nicht gepachtet haben.<br />
Mich diesem Thema so ausführlich zu widmen, hat mich die Erfahrung aus zwanzig Jahren Diskussion<br />
mit Menschen gelehrt, die mit Anarchismus nichts am Hut haben und aus gutem Grund skeptisch sind.<br />
Zum Beispiel jene alte Dame, die mich nach einem Vortrag fragte, ob sie ›in <strong>de</strong>r Anarchie‹ ihre<br />
Waschmaschine behalten dürfe.<br />
Ich habe ihr wahrheitsgemäß geantwortet, daß ich das nicht wissen könne, da sie ja solche<br />
Entscheidungen zusammen mit <strong>de</strong>n Menschen in ihrer sozialen Gemeinschaft zu treffen hätte. Für <strong>de</strong>n<br />
Fall, daß sie glaubte, in einer libertären Gesellschaft wür<strong>de</strong>n Waschmaschinen abgeschafft o<strong>de</strong>r<br />
beschlagnahmt, gelang es mir, sie zu beruhigen. Zusätzlich aber konnte ich ihre Phantasie durch eine<br />
positive Vision bereichern. Ich könnte mir gut <strong>de</strong>nken, so entgegnete ich ihr, daß sie ›in <strong>de</strong>r Anarchie‹ ein<br />
sehr enges Verhältnis mit <strong>de</strong>n Menschen <strong>de</strong>r Nachbarschaft haben könnte. Daß sich die Leute vielleicht<br />
nicht mehr wie heute hinter ihrer Wohnungstür verkriechen und sich kaum je gegenseitig helfen.<br />
Vielleicht wür<strong>de</strong> sie mit <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn spielen, o<strong>de</strong>r mit an<strong>de</strong>ren eine Gemeinschaftsküche betreiben,<br />
töpfern, gärtnern o<strong>de</strong>r irgendwelche verrückten Sachen auf <strong>de</strong>m Computer machen... Das schien ihr, die<br />
damals als alleinstehen<strong>de</strong> Rentnerin recht vereinsamt in einer Zweizimmerwohnung lebte, zu gefallen.<br />
Als ich sie dann fragte, ob sie mit diesen Leuten nicht vielleicht auch sämtliche Waschmaschinen, Autos<br />
o<strong>de</strong>r Gartengeräte zusammenlegen und gemeinsam nutzen könnte, weil es ja nicht gera<strong>de</strong> vernünftig wäre,<br />
wenn je<strong>de</strong>r alles mehrfach anschaffte und weil sechs Rasenmäher im Haus genau fünf zuviel wären, da<br />
sagte sie spontan: "Ja, sicher!".<br />
96<br />
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Und nach einer nach<strong>de</strong>nklichen Pause fügte sie hinzu: "Aber nur, wenn man mir die Klei<strong>de</strong>r und<br />
Küchensachen nicht wegnimmt ... und meine Bücher ..." Es kostete mich nochmal einige Argumente, ihr<br />
zu erklären, daß man ihr in einer freien Gesellschaft nichts ›wegnehmen‹ wür<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn daß Sie ohnehin<br />
nur freiwillig geben könnte. Das beruhigte sie schließlich, und nach einer weiteren Pause ergriff sie erneut<br />
das Wort, wobei ich mir einbil<strong>de</strong>te, ihre Augen hätten ein wenig geleuchtet. Sie sagte dann, ohne jemals<br />
etwas von Proudhon, Bakunin o<strong>de</strong>r Kropotkin gehört zu haben, in etwa folgen<strong>de</strong>s:<br />
"Wissen Sie, das kann ja auch ganz schön sein, wenn die Kin<strong>de</strong>r zu einem kommen, und auch das mit <strong>de</strong>n<br />
Nachbarn, <strong>de</strong>m Garten und solche Dinge. Früher hatten wir Frauen immer zusammen Waschtag. Das war<br />
lustig, da gab's immer ein Schwätzchen. Und wenn mal einer etwas fehlte, hat immer eine an<strong>de</strong>re<br />
irgendwie ausgeholfen. Da kam keiner zu kurz! Aber heute gibt's ja keine Nachbarschaft mehr. Je<strong>de</strong>r<br />
kümmert sich nur um sich selbst. Und das mit <strong>de</strong>m Geld, da haben Sie recht. Das Geld hat das alles<br />
kaputtgemacht. Das war nämlich vor <strong>de</strong>r Währungsreform, und als es dann wie<strong>de</strong>r richtiges Geld gab, da<br />
hat je<strong>de</strong>r nur noch an sich selbst gedacht ..."<br />
Literatur:<br />
/ Pierre-Joseph Proudhon: Was ist das Eigentum? # Graz 1971 [Berlin 1896], Verlag für Sammler, 233 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Die Volksbank Wien 1985, Monte Verità, 53 S.<br />
/ Peter Kropotkin: Landwirtschaft, Industrie und Handwerk # Berlin 1976, Karin Kramer, 292 S.<br />
/ Adolf Damaschke: Die Anarchisten # in: <strong>de</strong>rs.: Geschichte <strong>de</strong>r Nationalökonomie Bd. 2, Jena 1920, G.<br />
Fischer, 415 S.<br />
/ Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit u.a. ausgewählte Texte Wien o.J. (1988?), Monte Verità, 188 S.<br />
/ Materialien zu einer Theorie <strong>de</strong>s Müßiggangs (Anthologie) o.O. 1981, Seminar sozialwissenschaftl.<br />
Studien, 113 S.<br />
/ Paul Robien: Das wirtschaftliche Chaos Berlin o.J. (1925?), Der freie Arbeiter, 14 S.<br />
/ Diego Abad <strong>de</strong> Santillin, Jùan Peiró: Ökonomie und Revolution Berlin 1975, Karin Kramer, 186 S.<br />
/ Erich Gerlach, Augustin Souchy: Die soziale Revolution in Spanien Berlin 1974, Karin Kramer, 236 S.<br />
/ N.N.: Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung Berlin 1970 [1930], ITPR, 176 S.<br />
/ Silvio Gesell: Die natürliche Wirtschaftsordnung (Kurzausgabe) Lü<strong>de</strong>nscheid 1950, Logos, 158 S.<br />
/ Klaus Schmitt (Hrg.): Silvio Gesell - 'Marx' <strong>de</strong>r Anarchisten? # Berlin 1989, Karin Kramer, 303 S., ill.
Helmut Creutz, Dieter Suhr, Werner Onken: Wachstum bis zur Krise? # Berlin 1986, Basis, 87 S.<br />
/ Dante Darwin: 5 Stun<strong>de</strong>n sind genug # Frankfurt/M. 1993, Manneck Mainhatten Verlag 234 S.<br />
/ Hans A. Pestalozzi: Nach uns die Zukunft # München 1985, Goldmann, 158 S.<br />
97<br />
Kapitel 15<br />
Radikale Ökologie<br />
Mit allem, was wir angefangen haben, sind wir in die Absurdität <strong>de</strong>s Gegenteils geraten: Mit <strong>de</strong>m<br />
Versuch, die Äcker fruchtbar zu machen, haben wir sie fast zu To<strong>de</strong> gefoltert. Mit <strong>de</strong>m Versuch, uns vor<br />
Fein<strong>de</strong>n zu schützen, sind wir so nah wie möglich an <strong>de</strong>n großen Weltbrand gekommen. In <strong>de</strong>m<br />
Bemühen, uns fortzubewegen, haben wir die Lebenswelt zerfetzt, in <strong>de</strong>r sich fortzubewegen lohnend<br />
wäre. Das Bestreben, auch die Kommunikation zu beschleunigen, hat das sprachlose Geschwätz und die<br />
Blindheit vor <strong>de</strong>n Bil<strong>de</strong>rn hervorgebracht. Der Versuch zu heilen und zu helfen gerät auf die<br />
unterschiedlichste Weise an die Grenzen <strong>de</strong>r Unmenschlichkeit.<br />
– Jürgen Dahl –<br />
WAS WÄRE, WENN DER MENSCH AUSSTIRBT? — Nichts weiter. ›Die Natur‹ — was immer das ist<br />
— wür<strong>de</strong> uns überleben, irgendwie. Schwer angeschlagen, verän<strong>de</strong>rt vielleicht, aber vital, dynamisch und<br />
chaotisch-anpassungsfähig. Das Leben ginge auch ohne uns weiter. Wenn wir uns die Natur als ein<br />
<strong>de</strong>nken<strong>de</strong>s Geschöpf vorstellen, müßte sie sogar überaus erleichtert sein, wenn die Gattung Mensch<br />
endlich verschwän<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn es gibt kein zweites biologisches Wesen, das im ›Gesamtsystem Natur‹ <strong>de</strong>rart<br />
verheerend wirkt.<br />
Die Menschheit hat in <strong>de</strong>r verhältnismäßig kurzen Zeit seit <strong>de</strong>m Auftreten ihrer Zivilisation eine<br />
grauenhafte Bilanz hinterlassen. Gefräßig, sich hemmungslos vervielfältigend, rücksichtslos und planlos<br />
ist sie dabei, alles nie<strong>de</strong>rzumachen, was ihr im Weg steht. Tierarten wer<strong>de</strong>n unwie<strong>de</strong>rbringlich<br />
ausgerottet, Waldregionen verschwin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n wird durchwühlt, geplün<strong>de</strong>rt und zerstört, Wüsten<br />
breiten sich aus, das Wasser wird knapp, die Luft wird vergiftet und die Atmosphäre fängt an, sich in ihre<br />
Bestandteile aufzulösen. Dafür breitet sich die Gattung Mensch rasend aus und nimmt je<strong>de</strong>n<br />
Quadratmeter bewohnbarer Oberfläche in Anspruch, um ihn mit System in unbewohnbare Oberfläche zu<br />
verwan<strong>de</strong>ln. Alles auf <strong>de</strong>r Welt teilt er in nützlich und schädlich auf, in konsumierbar und<br />
unkonsumierbar, in ökonomisch verwertbar und ökonomisch wertlos. Ein Schweizer Autoaufkleber bringt<br />
es auf <strong>de</strong>n Punkt: "Mein Auto fährt auch ohne Wald!"<br />
Konsequent hat <strong>de</strong>r Mensch diesen Weg verfolgt. Der Motor dieser Konsequenz ist die Wirtschaft, die für<br />
<strong>de</strong>n ›zivilisierten Menschen‹ über allem steht. Etwa ein Dutzend Tiere sind ›nützlich‹, sie wer<strong>de</strong>n<br />
industriell produziert, gequält, gemolken, geschlachtet, genetisch manipuliert und so effektiv wie möglich<br />
ausgebeutet. Der Rest ist ›unnütz‹ und wird Stück um Stück ausgerottet. Ein paar Exemplare überleben in<br />
Zoos, und bald genügt vielleicht ein Magnetband plus Genco<strong>de</strong>*, um sie hinreichend zu archivieren. Bei<br />
<strong>de</strong>n Pflanzen unterschei<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Mensch zwischen ›Nutzpflanzen‹ und ›Unkraut‹, und so verfährt er auch:<br />
Der Traum industrieller ›Pflanzenproduktion‹ (ich war versucht zu schreiben: "landwirtschaftlichen<br />
Anbaus", aber das stimmt schon nicht mehr) ist die im Labor genetisch optimierte Frucht, die in Hallen<br />
auf Styroporplatten mit Nährlösungen besprüht wird, we<strong>de</strong>r mit Er<strong>de</strong> noch Sonne in Berührung kommt<br />
und, nebenbei bemerkt, nahezu geschmacklos ist.<br />
98<br />
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Fortschritt
Noch vor 20 Jahren hatte das Wort "Fortschritt" einen positiven Klang. Es ging voran, und daß alles<br />
immer besser wür<strong>de</strong>, daran bestand kein Zweifel. Fortschritt stand als Synonym für Vernunft, für das<br />
Richtige, das Bessere. Gera<strong>de</strong> auch die Linke bewertete alles nach <strong>de</strong>r Frage, ob etwas ›fortschrittlich‹ sei<br />
o<strong>de</strong>r nicht. Der Mensch, so glaubte man allgemein, könne mit Hilfe von Technik und Wissenschaft<br />
schließlich alle Probleme in <strong>de</strong>n Griff bekommen und - endlich - "die Naturgewalten besiegen". Als<br />
kleiner Bub fand ich das ganz ›natürlich‹.<br />
›Natürlich‹ aber kann für <strong>de</strong>n Menschen nur sein, in <strong>de</strong>r Natur und mit <strong>de</strong>r Natur zu leben. Die Natur<br />
könnte ohne <strong>de</strong>n Menschen ganz gut auskommen, <strong>de</strong>r Mensch ohne die Natur aber nicht. Sie ist <strong>de</strong>shalb<br />
jedoch nicht <strong>de</strong>r Feind <strong>de</strong>s Menschen, <strong>de</strong>n es zu besiegen gälte. Die Menschheit muß, um <strong>de</strong>n Preis <strong>de</strong>s<br />
Untergangs, lernen, sich ihrerseits nicht länger als Feind <strong>de</strong>r Natur zu verstehen.<br />
Die Lehre von <strong>de</strong>n Zusammenhängen <strong>de</strong>r Natur, ihrem Gleichgewicht und ihren vielfaltigen<br />
Wechselwirkungen samt <strong>de</strong>r Rolle, die <strong>de</strong>r Mensch darin spielt, nennen wir Ökologie.<br />
Seit etwa hun<strong>de</strong>rtfünfzig Jahren lebt die Menschheit im Vollrausch <strong>de</strong>s Glaubens an ihren technischen<br />
Fortschritt. Großspurig hat sie diesen Zustand das >industrielle Zeitalter< genannt, allerdings ist jetzt<br />
schon abzusehen, daß es kein ›Zeitalter‹ sein wird, son<strong>de</strong>rn eher eine katastrophale Episo<strong>de</strong>, die so o<strong>de</strong>r<br />
so rasch zu En<strong>de</strong> gehen wird. So o<strong>de</strong>r so – das heißt: mit o<strong>de</strong>r ohne Mensch.<br />
›Fortschritt‹ müßte also neu <strong>de</strong>finiert wer<strong>de</strong>n. Er kann nicht länger be<strong>de</strong>uten, die Natur zu unterwerfen.<br />
›Fortschritt‹, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Natur in Einklang kommen will, sollte eigentlich einen an<strong>de</strong>ren Namen<br />
bekommen, <strong>de</strong>nn das, was wir gemeinhin darunter verstehen, ist die Rücksichtslosigkeit eines technischen<br />
Fortschritts, <strong>de</strong>r im Dienste einer ebenso rücksichtslosen Ökonomie angetreten ist, die Natur genauso zu<br />
verknechten wie sie es mit <strong>de</strong>n an dieser Ökonomie beteiligten Menschen tut. Die I<strong>de</strong>e von <strong>de</strong>r<br />
›Herrschaft über die Natur‹ und <strong>de</strong>r ›Herrschaft über Menschen‹ ist halt eine Weltanschauung aus einem<br />
Guß.<br />
Ist es nicht vielleicht übertrieben, alles so schwarz zu sehen? Offenbar geht es uns doch ganz gut. Und die<br />
paar Folgeerscheinungen – sollten wir die nicht in <strong>de</strong>n Griff kriegen?<br />
Umweltschutz<br />
Vor hun<strong>de</strong>rtsechzig Jahren lebte eine Milliar<strong>de</strong> Menschen. Heute sind es knapp sechs. Um von einer<br />
Million auf die erste Milliar<strong>de</strong> zu kommen, mußten gut zehntausend Jahre vergehen, von <strong>de</strong>r zweiten auf<br />
die dritte Milliar<strong>de</strong> braucht es nur noch dreißig Jahre. Seit vor hun<strong>de</strong>rtfünfzig Jahren das Industriezeitalter<br />
begann, wur<strong>de</strong>n mehr Rohstoffe verbraucht als in <strong>de</strong>n dreitausend vorangehen<strong>de</strong>n Jahren zusammen. Das<br />
was <strong>de</strong>r Mensch ›Bo<strong>de</strong>nschätze‹ nennt, wird schwin<strong>de</strong>lerregend schnell verbraucht - und in absehbarer<br />
Zeit alle sein. Was man aus ihnen herstellt, wird rasch unbrauchbar und bleibt als Abfall, Müll, Schrott,<br />
Gift zurück. Was damit geschehen soll, weiß niemand. Bei <strong>de</strong>m, was <strong>de</strong>r Mensch<br />
99<br />
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›Vere<strong>de</strong>lung‹ nennt, entstehen neue Stoffe, die es vorher nicht gab, die nicht verrotten, nicht in <strong>de</strong>n<br />
natürlichen Kreislauf zurückkehren, und über <strong>de</strong>ren Wirkung man nichts weiß. In <strong>de</strong>r Natur geschehen<br />
alle Abläufe als Wechselwirkungen, die sehr komplex ablaufen. Wie sich die von uns erzeugten<br />
Abfallstoffe wechselwirkend auf die Natur – und damit auch auf uns – auswirken, läßt sich nicht<br />
vorhersagen, son<strong>de</strong>rn nur erfahren. Und die Erfahrungen zeigen, daß solche Stoffe die Grundlagen <strong>de</strong>r<br />
Natur zerstören. Dagegen kann man nichts wesentliches tun, außer, sie zu verpacken, verstecken,<br />
anzuhäufen o<strong>de</strong>r umzulagern. Das einzig Vernünftige wäre, aufzuhören, solche Stoffe zu produzieren.<br />
Aber das wür<strong>de</strong> eine an<strong>de</strong>re Ökonomie, eine an<strong>de</strong>re Lebensauffassung, ja, eine an<strong>de</strong>re Gesellschaft<br />
voraussetzen.
Statt<strong>de</strong>ssen wird versucht, die Folgen <strong>de</strong>r Technologie durch noch mehr Technologie ›in <strong>de</strong>n Griff‹ zu<br />
kriegen. Wir nennen das ›technischen Umweltschutz‹, und <strong>de</strong>r ist zur Zeit ganz groß in Mo<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn er ist<br />
ein expandieren<strong>de</strong>r* Wirtschaftszweig, <strong>de</strong>r Arbeitsplätze schafft. Und er tröstet die Menschen, in<strong>de</strong>m er<br />
Ängste beruhigt und schlechte Gewissen verdrängt.<br />
Ein Beispiel: Seit<strong>de</strong>m die Automobilindustrie <strong>de</strong>n Katalysator vermarktet, glaubt je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r ihn benutzt, er<br />
täte etwas für die Umwelt. Das ist falsch. Der Katalysator entlastet weniger die Natur als vielmehr das<br />
Gewissen seiner Käufer. Ich meine dabei gar nicht so sehr <strong>de</strong>n ›Nebeneffekt‹, daß die Kat- Technologie<br />
zusätzlich Distickstoffoxid in die Luft bläst, son<strong>de</strong>rn die simple Tatsache, daß seit <strong>de</strong>r ›Katalysatorära‹<br />
mehr Autos verkauft wur<strong>de</strong>n als je zuvor. Das heißt: <strong>de</strong>r Gesamtausstoß an Autoabgasen ist weiter<br />
gestiegen, erneut sind riesige Landschaftsflächen mit Asphalt überzogen wor<strong>de</strong>n, weiter sind<br />
Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong> Menschen im Verkehr gestorben, und ungebrochen sind die Berge von Automobilschrott<br />
angewachsen. Ohne <strong>de</strong>n Katalysator wäre zwar all das zweifellos noch schlimmer ausgefallen, aber solche<br />
Rechnerei ist für die Natur ohne Belang. Der Katalysatormensch tut also genau genommen nicht etwas für<br />
<strong>de</strong>n Umweltschutz, er tut nur etwas weniger gegen die Umwelt. Sich dabei als Umweltschützer zu fühlen<br />
ist etwa so falsch, wie wenn ein Ehemann, <strong>de</strong>r ›seine‹ Frau früher täglich schlug und jetzt ›nur noch‹<br />
dreimal wöchentlich, sich als Feminist fühlte.<br />
Umweltschutz ist nicht gleich Ökologie, und Technologie ist nicht gleich Umweltschutz. Natürlich ist<br />
gegen einen wirklichen Schutz <strong>de</strong>r Umwelt nichts zu sagen, <strong>de</strong>nn er schafft Erleichterung: eine<br />
Atempause, eine augenblickliche Verbesserung. Einen Katalysator einzubauen ist nicht schlecht, aber<br />
unsere heutige Automobilphilosophie ist falsch. Solange aber die Ursachen sich nicht än<strong>de</strong>rn, wer<strong>de</strong>n die<br />
Probleme immer wie<strong>de</strong>rkommen, größer als zuvor. Ernsthaft verstan<strong>de</strong>ne Ökologie kommt <strong>de</strong>shalb gar<br />
nicht drum herum, das Übel an <strong>de</strong>r Wurzel zu packen, und genau das heißt "radikal*". Ökologie, die nicht<br />
radikal ist, ist nicht wirklich ökologisch, son<strong>de</strong>rn schlichter ›Umweltschutz‹. Und Umweltschutz geht<br />
nach wie vor von <strong>de</strong>m Irrtum aus, daß wir uns netterweise um die arme, bedrohte Natur kümmern und ihr<br />
helfen müßten. Dabei bil<strong>de</strong>n wir uns ein, die Krone <strong>de</strong>r Schöpfung zu sein. Möglich. Der Nabel <strong>de</strong>r<br />
lebendigen Welt aber sind wir ganz gewiß nicht.<br />
Der Schutz <strong>de</strong>r Umwelt ist wichtig, dringend nötig und sollte, wo immer wir können, geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n:<br />
Als notwendige Voraussetzung für ein wirklich ökologisches Leben. Vieles von <strong>de</strong>m aber, was uns heute<br />
als ›Umweltschutz‹ verkauft wird, schützt die Umwelt<br />
100<br />
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gar nicht wirklich. Das gilt beson<strong>de</strong>rs für <strong>de</strong>n Trend, die Technologiefolgen mit immer noch<br />
aufwendigeren neuen Technologien zu ›bekämpfen‹. Je<strong>de</strong> Technologie bringt jedoch neue Probleme mit<br />
sich, neue Abfallstoffe, neue Ungleichgewichte in <strong>de</strong>r Natur, die wie<strong>de</strong>rum zu Wechselwirkungen führen,<br />
die dann mit neuen Technologien und so weiter...<br />
Seit man begonnen hat, unsere Kraftwerke zu entschwefeln, fällt in <strong>de</strong>n Filteranlagen<br />
schwermetallhaltiger Gips an. Der Fortschritt besteht darin, daß wir jetzt anstelle von zwei Millionen<br />
Tonnen Schwefeldioxid vier Millionen Tonnen giftigen Gips für alle Ewigkeit auf Deponien sicher<br />
verwahren müssen. Die allerneusten Waschmittelgrundstoffe, mit <strong>de</strong>nen die schädlichen Phosphate ersetzt<br />
wur<strong>de</strong>n, enthalten neue Stoffe, von <strong>de</strong>nen niemand weiß, wie sie in <strong>de</strong>r Natur wirken und wechselwirken.<br />
Sie gesellen sich zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren künstlichen Stoffen, von <strong>de</strong>nen wie<strong>de</strong>rum niemand weiß, ob es 50.000,<br />
60.000 o<strong>de</strong>r 70.000 sind, und von <strong>de</strong>nen wie<strong>de</strong>rum nicht bekannt ist, wie sie wirken und wechselwirken,<br />
wenn zwei o<strong>de</strong>r drei von ihnen aufeinan<strong>de</strong>rtreffen. Man wird es halt ausprobieren.<br />
Die Atomkraft, angepriesen als umweltschonen<strong>de</strong> Alternative zu <strong>de</strong>n knappen Rohölreserven, erzeugt<br />
heute neben elektrischer Energie vor allem unlösbare Entsorgungsprobleme. "Nichts macht die Absurdität<br />
unseres technischen Fortschritts <strong>de</strong>utlicher", schreibt <strong>de</strong>r Umweltkritiker Jürgen Dahl, "als die Tatsache,<br />
daß im zweiten Jahrtausend zur Erzeugung von Wasserdampf eine Asche produziert wird, die so giftig ist,<br />
daß sie noch im zweihun<strong>de</strong>rtsten Jahrtausend sorgfältig bewacht wer<strong>de</strong>n muß." Solche
Folgeerscheinungen von Folgeerscheinungen von Technologien lassen sich auch mit weiteren<br />
Technologien und Folgetechnologien nicht in <strong>de</strong>n Griff kriegen, son<strong>de</strong>rn nur dadurch, daß solche Asche<br />
gar nicht mehr entsteht.<br />
Zusammenhänge<br />
Umweltschützer ist heute je<strong>de</strong>r. Sogar die multinationalen Konzerne kokettieren erfolgreich mit diesem<br />
publikumswirksamen Begriff. Während sie ihre Werbeagenturen anweisen, nur noch "Anzeigen mit<br />
Umweltaussage" zu schalten, kleben sie grüne Punkte auf die falschen Packungen fragwürdiger<br />
Erzeugnisse. Zur gleichen Zeit sind ihre Produkt<strong>de</strong>signer schon dabei, die nächste ökologische<br />
Schweinerei auszuhecken und festzuklopfen. Auch Ökologen nennen sich heutzutage viele, meinen damit<br />
aber meistens konsequenten Umweltschutz. Es sind jedoch nur wenige, die die Zusammenhänge<br />
durchschauen. Dabei liegen sie offen zutage.<br />
Da gibt es erstens <strong>de</strong>n Zusammenhang zwischen Ökologie und Ökonomie. Wenn wir ein jährliches<br />
Wirtschaftswachstum von 4% annehmen, wie es unsere Regierung anstrebt, erschreckt das nichtmal die<br />
Umweltschützer. Das erscheint harmlos. Die meisten Menschen freuen sich sogar, <strong>de</strong>nn Wachstum ist ja<br />
gut. Machen wir uns aber klar, was das be<strong>de</strong>utet, so sind das im Laufe von fünfzig Jahren 100 %! Doppelt<br />
soviel Straßen, Häuser, Fabriken, Autos, Kampfflugzeuge. Doppelter Zuwachs an Krankheitskosten,<br />
Unfallopfern, Son<strong>de</strong>rmüll, Pestizi<strong>de</strong>n, Ölverbrauch. Doppelte Vernichtung von Wiesen, Wäl<strong>de</strong>rn,<br />
Fischbestän<strong>de</strong>n, Grundwasser, Atemluft. Gewiß, es be<strong>de</strong>utet auch doppelten ›Wohlstand‹ - erkauft<br />
101<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
jedoch mit doppelt soviel Versicherungen, Steuern, Ärger, Kleinkrediten, Streß, Krankheit, Frust und<br />
doppelt soviel Hungertoten weit, weit weg. Sind wir am En<strong>de</strong> doppelt so glücklich? Bringt uns das eine<br />
verdoppelte Lebensqualität? Eher wohl eine halbierte.<br />
Innerhalb einer Generation läuft es auf doppelten Konsum hinaus, bezahlt mit <strong>de</strong>r Verdoppelung all <strong>de</strong>r<br />
Scheiße, die mit dran hängt. Das ist nicht nur teuer bezahlt, das ist unbezahlbar. Denn die Natur<br />
interessiert sich we<strong>de</strong>r für unseren Wohlstand noch für unsere Kontoauszüge. Ökonomie ist ihr egal, und<br />
sie kippt einfach um.<br />
Natürlich sind das nur theoretische Zahlen. Nicht alles verdoppelt o<strong>de</strong>r halbiert sich. Wenn ich mir aber<br />
meinen Straßenatlas hernehme und ihn mit <strong>de</strong>m aus meiner Jugend vergleiche, die gera<strong>de</strong> mal 25 Jahre<br />
zurückliegt, weiß ich, wohin die Reise geht.<br />
Wie sehr unsere falsche Ökonomie auf die Ökologie wirkt, zeigt sich auch daran, daß je<strong>de</strong> Maßnahme <strong>de</strong>s<br />
Umweltschutzes einzig und allein über die Argumentation mit Geld verwirklichbar scheint. Nur dann<br />
wird etwas unternommen, wenn es ›sich rechnet‹. Steuervorteile, Subventionen, Abschreibungen,<br />
finanzielle Anreize, Arbeitsplätze – das sind die Bonbons, die ausgelegt wer<strong>de</strong>n müssen, damit einiges<br />
wenigstens weniger schädlich gemacht wird. Daß sich Staaten unter Strafandrohung in Sexualpraktiken,<br />
die Ordnung auf Friedhöfen o<strong>de</strong>r Bekleidungsvorschriften einmischen, erscheint uns normal. Das ist<br />
wirtschaftlich ja auch neutrales Terrain. Daß er aber unter Strafandrohung verbin<strong>de</strong>n, daß wir unsere<br />
Atmosphäre in ihre Bestandteile zerlegen, ist offenbar un<strong>de</strong>nkbar. Das könnte ja wirtschaftliche Verluste<br />
be<strong>de</strong>uten.<br />
Wenn eine beson<strong>de</strong>rs gekonnte Währungsspekulation über Nacht <strong>de</strong>n Dollarkurs um ein, zwei<br />
Prozentpunkte verän<strong>de</strong>rt o<strong>de</strong>r die Weltbank ihre Leitzinsen anhebt, wachsen über Nacht auch die<br />
Schul<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Entwicklungslän<strong>de</strong>r um etliche Milliar<strong>de</strong>n. Kann man es <strong>de</strong>n Regierungen von Län<strong>de</strong>rn wie<br />
Indonesien, Zaire, Brasilien o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Philippinen ver<strong>de</strong>nken, wenn sie daraufhin ihre letzten Wäl<strong>de</strong>r<br />
opfern, um das Holz zu verkaufen? Wir bezichtigen sie <strong>de</strong>s ökologischen Raubbaus. Dabei folgen sie<br />
hierin nur <strong>de</strong>n Regeln unserer Ökonomie, auf <strong>de</strong>ren korrekter Einhaltung wir an<strong>de</strong>rerseits so viel Wert
legen. Angesichts solcher Szenarien wird <strong>de</strong>r anarchistische Slogan plausibel, <strong>de</strong>r behauptet, in allen<br />
politischen Systemen sei die Unterjochung <strong>de</strong>s Menschen die Ursache für die Zerstörung <strong>de</strong>r Natur.<br />
"... weil die amerikanische Wirtschaft zur Zeit eine Rezession durchlebt" – so lautete die Begründung<br />
eines amerikanischen Präsi<strong>de</strong>nten, <strong>de</strong>r seine Unterschrift unter ein Abkommen verweigerte, das die<br />
Ausrottung weiterer Tierarten verhin<strong>de</strong>rn sollte. Wenn wir uns die Be<strong>de</strong>utung dieser Aussage klar<br />
machen, wird augenfällig, wie sehr wir alle – einschließlich <strong>de</strong>r Mächtigen! – Gefangene ökonomischer<br />
Zwänge sind.<br />
Wür<strong>de</strong> eine ökologische Gesellschaft <strong>de</strong>shalb einen ›Rückfall in die Steinzeit‹ be<strong>de</strong>uten, wie viele<br />
Menschen befürchten? Das ist Unfug, wenn nicht gezielte Stimmungsmache aus <strong>de</strong>n PR-Agenturen <strong>de</strong>r<br />
Atomindustrie. Weniger Konsum be<strong>de</strong>utet nicht automatisch weniger Lebensqualität und Wohlstand.<br />
Elektrischer Strom und Reiseverkehr, Konsumgüter und Unterhaltung, Transport, Genuß und<br />
Kommunikation – all das läßt sich natürlich auch<br />
102<br />
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ökologisch verträglich herstellen. Die Lichter wür<strong>de</strong>n mit Sicherheit nicht ausgehen, die hirnlose<br />
Verschwendung allerdings hätte ein En<strong>de</strong>. Aber – und das ist bitte nur ein Gedankenspiel! – selbst wenn<br />
wir keinen Strom mehr hätten, sollten wir nicht annehmen, daß das Leben verlöschen wür<strong>de</strong>... In<br />
Deutschland wur<strong>de</strong>n die letzten Gemein<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n dreißiger Jahren elektrifiziert, die ersten Städte achtzig<br />
Jahre zuvor. An all diesen Orten haben vorher tatsächlich Menschen ohne Strom gelebt! War <strong>de</strong>ren Leben<br />
nicht lebenswert, waren sie unglücklicher als wir? Viele Errungenschaften <strong>de</strong>r Technik, ohne die wir uns<br />
heute "ein Leben nicht mehr vorstellen können", gibt es auf <strong>de</strong>r meterlangen Meßlatte menschlicher<br />
Zivilisation erst auf <strong>de</strong>n letzten Millimetern. Die Behauptung, ohne sie könnten wir nicht mehr leben, ist<br />
einfach lächerlich. Sollten wir nicht fähig sein, auf einiges zu verzichten, wenn <strong>de</strong>r Preis dafür kollektiver<br />
Selbstmord wäre? Wie gesagt: Elektrizität bliebe uns durchaus erhalten. Auch ich will nicht auf einen<br />
Kühlschrank verzichten o<strong>de</strong>r im Winter frieren! Ein Weniger an Konsum aber kann für unser Leben<br />
durchaus ein Mehr an Qualität be<strong>de</strong>uten. Einschränkung jedoch ist unumgänglich.<br />
Es ist augenfällig, daß die logischen Folgen unseres Wirtschaftssystems an die Grenzen <strong>de</strong>r Natur stoßen.<br />
Kapitalorientierte Wirtschaft muß wachsen, sonst funktioniert sie nicht. Natur aber kann nicht ›wachsen‹,<br />
sie befin<strong>de</strong>t sich in einem Gleichgewicht: nichts ist unendlich, nichts unbegrenzt vorhan<strong>de</strong>n. Eine Weile<br />
hält die Natur unser Wachstum aus, und das tut sie schon ziemlich lange. Aber das Wachstum hat<br />
Grenzen.<br />
Wenn das so ist, können wir daraus nur <strong>de</strong>n Schluß ziehen, daß Ökonomie, so wie sie ist, mit Ökologie<br />
nicht zusammenpaßt.<br />
Zweitens gibt es <strong>de</strong>n Zusammenhang zwischen Herrschaft und Ökologie. In <strong>de</strong>n Büchern <strong>de</strong>r Genesis<br />
spricht Gott zu <strong>de</strong>n Menschen und gibt ihnen <strong>de</strong>n Auftrag, recht fruchtbar zu sein, sich zu vermehren, die<br />
Er<strong>de</strong> zu füllen, zu unterwerfen und zu beherrschen samt aller Natur - einschließlich <strong>de</strong>r "Fischbrut <strong>de</strong>r<br />
Meere und <strong>de</strong>n gefie<strong>de</strong>rten Tieren <strong>de</strong>s Himmels". Die Menschen <strong>de</strong>s christlichen Abendlan<strong>de</strong>s haben dies<br />
in aller Regel als Blankovollmacht zu rücksichtsloser Ausbeutung und Unterdrückung verstan<strong>de</strong>n. Von<br />
dieser autoritär-patriarchalen Lesart zehrt unsere Staatlichkeit bis auf <strong>de</strong>n heutigen Tag. Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r<br />
Herrschaft über die Natur aber scheint zur Lebenslüge und Sterbensphilosophie unserer Zivilisation zu<br />
wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Natur gibt es ein solches Prinzip nicht, o<strong>de</strong>r, falls wir <strong>de</strong>n Menschen mit seiner Zivilisation<br />
dazurechnen wollen: es ist ein beispielloser Vorgang. Kein an<strong>de</strong>res Lebewesen hat bisher die Ten<strong>de</strong>nz<br />
gezeigt, flächen<strong>de</strong>ckend alle an<strong>de</strong>ren Lebewesen zu beherrschen und zu unterdrücken. Daß <strong>de</strong>r Löwe<br />
"König <strong>de</strong>r Tiere" genannt wird, ist eine alberne menschliche Projektion. Eine systematische und<br />
allumfassen<strong>de</strong> Unterwerfung kennt nur <strong>de</strong>r Mensch. Gewiß gibt es in <strong>de</strong>r Natur Hierarchien, aber die<br />
Natur funktioniert nicht nach <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>r Unterwerfung aller an<strong>de</strong>rer Strukturen unter eine einzelne<br />
Struktur. Natur ist vielfältig und parallel organisiert. Nur so fin<strong>de</strong>t sie zu ihrem chaotischen, aber stabilen<br />
Gleichgewicht. Je<strong>de</strong> Hegemonie* einer Struktur, ihre Herrschaft über alles an<strong>de</strong>re, wür<strong>de</strong> dieses
Gleichgewicht zerstören.<br />
103<br />
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Drittens <strong>de</strong>n Zusammenhang zwischen Zentralismus und Ökologie. Natürliche Kreisläufe sind sehr<br />
effektiv, manchmal weltumspannend o<strong>de</strong>r auch winzig klein. Sie neigen aber nicht zur Zentralisierung, sie<br />
sind <strong>de</strong>zentral. Je<strong>de</strong>r funktioniert für sich in einem geschlossenen System, verschie<strong>de</strong>ne Systeme aber sind<br />
untereinan<strong>de</strong>r vielfältig vernetzt und letztlich hängen alle auf irgen<strong>de</strong>ine Art zusammen. Die<br />
Knotenpunkte solcher Netze sind zwar zentrale Schaltstellen, aber sie funktionieren nicht hierarchisch,<br />
son<strong>de</strong>rn wirken stets in alle Richtungen. Interaktion* bestimmt die ›Grammatik‹, die zwischen<br />
Lebewesen, Mineralien, Biotopen* und Biosphäre* besteht.<br />
Solche Zusammenhänge gehen weit über <strong>de</strong>n grünen Punkt, die Abgasson<strong>de</strong>runtersuchung und die Wahl<br />
<strong>de</strong>s richtigen Spülmittels hinaus. In unserem von Umweltproblemen bedrängten Alltag scheinen sie sehr<br />
weit hergeholt, zum Verständnis von Ökologie sind sie jedoch wichtig - vor allem zur Findung einer<br />
ökologischen Alternative.<br />
Ich habe die Behauptung aufgestellt, die Natur wür<strong>de</strong> im Zweifelsfalle <strong>de</strong>n Menschen eher überleben als<br />
daß <strong>de</strong>r Mensch ohne Natur auskäme. Ich kann das nicht beweisen und hoffe inständig, daß es nie<br />
bewiesen wer<strong>de</strong>n möge! Aber es ist wahrscheinlich, und alle Erfahrung spricht dafür, daß auch, wenn <strong>de</strong>r<br />
Mensch seine Lebensgrundlagen zerstört und ausstirbt, irgen<strong>de</strong>ine Art von Leben weiterbestehen, sich<br />
entwickeln und wie<strong>de</strong>r ein Gleichgewicht fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>.<br />
Aber warum?<br />
Weil die Natur an<strong>de</strong>rs organisiert ist als die menschliche Zivilisation und sich dadurch besser anpassen<br />
kann. Die heutige Gesellschaft ist zentralistisch, hierarchisch, uniform, expansiv, zerstörerisch und<br />
dominant. Natur ist das genaue Gegenteil: <strong>de</strong>zentral, vernetzt, chaotisch, lokal, schöpferisch und<br />
interaktiv.<br />
Kommt uns das nicht bekannt vor?<br />
Ohne Frage ist Natur ihrer Struktur nach an-archisch. Aber Vorsicht! Natur ist nicht anarchistisch und<br />
Anarchismus ist nicht natürlich. Platte Gleichsetzungen helfen hier nicht weiter, und die krampfhaften<br />
Versuche mancher Anarchisten, mit brachialen* Verbiegungen eine soziale I<strong>de</strong>e mit Naturphänomenen in<br />
Deckung zu bringen, sind nachgera<strong>de</strong> peinlich. Anarchismus ist ein gesellschaftliches Phänomen, das auf<br />
eine an<strong>de</strong>re Organisation <strong>de</strong>r menschlichen Zivilisation abzielt. Nicht mehr. Soziale Phänomene mit<br />
›Natur‹ gleichzusetzen ist Unsinn. Anarchie will nicht die Natur kopieren, son<strong>de</strong>rn das Leben <strong>de</strong>r<br />
Menschen an<strong>de</strong>rs organisieren. Es geht um etwas ganz an<strong>de</strong>res; Man darf vermuten, daß die Struktur <strong>de</strong>r<br />
Anarchie <strong>de</strong>r Struktur <strong>de</strong>r Natur angemessener wäre. Bei<strong>de</strong> könnten wahrscheinlich besser miteinan<strong>de</strong>r<br />
auskommen als dies mit unserer jetzigen Zivilisation <strong>de</strong>r Fall ist. Das ist alles, aber genau besehen nicht<br />
gera<strong>de</strong> wenig.<br />
Geschichte<br />
Diese augenfällige Affinität* zwischen Anarchismus und Ökologie gab es natürlich schon lange bevor <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utsche Naturwissenschaftler Ernst Haeckel <strong>de</strong>n Begriff "Ökologie"<br />
104<br />
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einführte - ein Wort, das sich übrigens erst in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten endgültig durchgesetzt hat. Im<br />
Anarchismus war das Verhältnis zwischen sozialer Utopie und Natur, die Wechselwirkung zwischen<br />
Mensch und Umwelt, von Anfang an ein großes Thema, das immer wie<strong>de</strong>r in I<strong>de</strong>en und Taten einfloß.<br />
Der französische Anarchist Elisée Reclus (1830-1905) war einer <strong>de</strong>r ersten Geographen, <strong>de</strong>r die<br />
Oberfläche <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> nicht als Landkarte betrachtete, die von Staatsgrenzen, Bo<strong>de</strong>nschätzen und<br />
topographischen* Daten bestimmt war. Für ihn waren Natur, Mensch und soziale Organisation untrennbar<br />
miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n. Neben einer sehr populären neunzehnbändigen Geographie hinterließ er mit<br />
seinen Hauptwerken "Evolution und Revolution" und "Der Mensch und die Er<strong>de</strong>" erste geschlossene<br />
Gedankengebäu<strong>de</strong>, die wir heute als ökologisch bezeichnen wür<strong>de</strong>n.<br />
Reclus war eng mit Peter Kropotkin (1842-1921) befreun<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r als Geologe weltweite Anerkennung<br />
genoß, als Naturwissenschaftler und Anarchist aber rasch die engen Grenzen seiner Disziplin sprengte.<br />
Genaue Naturbeobachtungen auf ausge<strong>de</strong>hnten Reisen verband er – für damalige Zeiten unerhört – mit<br />
historischer Forschung und sozialphilosophischen Gedanken. So entstand ein Buch, das wir heute sehr<br />
wahrscheinlich <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>r ›Verhaltensforschung‹ zuordnen wür<strong>de</strong>n, und das 1902 unter <strong>de</strong>m Titel<br />
"Gegenseitige Hilfe in <strong>de</strong>r Tier- und Menschenwelt" erschien.<br />
Kropotkin zeigt auf, daß in <strong>de</strong>r Tierwelt neben Konkurrenzkampf und Hierarchie in ebenso großem Maße<br />
auch die gegenseitige Hilfe als natürliches Prinzip vorkommt und beim Überleben <strong>de</strong>r Art eine<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielt. Solidarität sei also we<strong>de</strong>r eine Erfindung <strong>de</strong>s Menschen, noch gar<br />
›unnatürlich‹. Er ergänzt diese Überlegung durch Beispiele aus <strong>de</strong>r menschlichen Sozialgeschichte: Auch<br />
hier habe stets Hierarchie parallel zur Solidarität existiert; Unterdrückung und gegenseitige Hilfe lägen<br />
dabei in einem ständigen Kampf miteinan<strong>de</strong>r. Aber auch Kropotkin setzt Natur nicht mit Anarchismus<br />
gleich, er zieht lediglich Analogieschlüsse: Ihm zufolge sind Herrschaft und gegenseitige Hilfe<br />
antagonistische* Verhaltensmuster, die in allen Lebewesen angelegt seien. Der Mensch sei ein soziales<br />
Wesen, das sich in Zivilisationen organisiert. Wenn in <strong>de</strong>r menschlichen Zivilisation seit vielen tausend<br />
Jahren Konkurrenz als höchster ethischer Wert geför<strong>de</strong>rt, belohnt und gepriesen wur<strong>de</strong> und eine Kultur<br />
<strong>de</strong>r Herrschaft hervorbrachte, so müßte sich in einer Gesellschaft, <strong>de</strong>ren höchster ethischer Wert<br />
gegenseitige Hilfe ist, mit <strong>de</strong>r Zeit Herrschaftslosigkeit durchsetzen können. Auch an<strong>de</strong>re Überlegungen<br />
Kropotkins, etwa die <strong>de</strong>zentralen Fö<strong>de</strong>rationen von Dorf-, Industrie- und Handwerksverbän<strong>de</strong>n, zeigen<br />
eine überraschen<strong>de</strong> Ähnlichkeit mit ökologischen Projekten und Vorstellungen unserer Tage.<br />
Auch das Problem <strong>de</strong>s Bevölkerungswachstums wur<strong>de</strong> in anarchistischen Kreisen sehr früh in seiner<br />
sozialen und ökologischen Be<strong>de</strong>utung erkannt. Im Gegensatz zu völkisch-rassistischen Gruppen, die das<br />
Thema im Sinne einer Unterwerfung und Dezimierung min<strong>de</strong>rwertiger Rassen‹ durch sogenannte<br />
›Herrenrassen‹ ausschlachteten, wiesen Anarchisten darauf hin, daß eine Überbevölkerung sowohl das<br />
Funktionieren einer libertären Utopie<br />
105<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
als auch die Harmonie dieser Gesellschaft mit <strong>de</strong>r Natur gefähr<strong>de</strong>n könnte. Eine Reduzierung <strong>de</strong>r<br />
Menschheit aber dürfe nur durch Geburtenbeschränkung erreicht wer<strong>de</strong>n, und die müßte freiwillig sein.<br />
Antworten suchten sie vor allem in <strong>de</strong>r Praxis. Die Bewegung <strong>de</strong>r Neo-Malthusianer war vor <strong>de</strong>m Ersten<br />
Weltkrieg in anarchistischen Kreisen sehr populär und wur<strong>de</strong> entschei<strong>de</strong>nd von ihnen mitgetragen. Der<br />
britische Nationalökonom Robert Malthus (1766- 1834) hatte als Erster auf die Gefahren eines<br />
exponentiellen Wachstums <strong>de</strong>r Bevölkerung hingewiesen und Elend und Hungerkatastrophen<br />
vorausgesagt. Seither war viel Zeit vergangen, und man hatte erkannt, daß sich Malthus' Voraussagen eher<br />
in Armutsais in Wohlstandsgesellschaften erfüllten — eine Beobachtung, die sich seither übrigens<br />
bestätigt hat.<br />
Der praktische Ansatz <strong>de</strong>r Neo-Malthusianer war die freiwillige Geburtenkontrolle durch Verhütung —<br />
ein Unterfangen, das bei Staat und Kirche auf heftigen Wi<strong>de</strong>rstand stieß. Der anarchistische Arzt Eugene<br />
Humbert etwa entwickelte die Vasektomie, eine reversible* Sterilisation <strong>de</strong>s Mannes. Sie sollte <strong>de</strong>n
Frauen die Bür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Empfängnisverhütung nehmen und <strong>de</strong>n Mann in die Verantwortung mit<br />
einbeziehen. Diese I<strong>de</strong>e, sofort verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>n Vorstellungen von freier Liebe und Sexualität, wur<strong>de</strong><br />
in anarchistischen Kreisen begeistert aufgenommen, kräftig propagiert und praktisch angewandt. Die<br />
Bewegung wur<strong>de</strong> jedoch rasch kriminalisiert, und viele Neo-Malthusianer wan<strong>de</strong>rten in die Gefängnisse.<br />
Dort fand auch Eugene Humbert <strong>de</strong>n Tod. Die Vasektomie jedoch hat alle Verfolgungen überdauert und<br />
erfreut sich heute auch in Deutschland und <strong>de</strong>n USA wie<strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>r Beliebtheit.<br />
Nun war all das aber noch kaum ›Ökologie‹ im heutigen Sinne. Das Ausmaß <strong>de</strong>r Naturzerstörung durch<br />
die industrielle Gesellschaft, die Verknappung <strong>de</strong>r Ressourcen und die Empfindlichkeit <strong>de</strong>s<br />
Naturgleichgewichts zeichneten sich noch nicht so stark ab und stan<strong>de</strong>n <strong>de</strong>shalb nicht im Mittelpunkt <strong>de</strong>s<br />
Interesses. Wer aber meint, Ökologie sei ein Thema, das die Menschen erst seit zwanzig Jahren<br />
beschäftigt, muß sich eines Besseren belehren lassen:<br />
Einen Wen<strong>de</strong>punkt im Verhältnis Mensch-Natur stellt <strong>de</strong>r Erste Weltkrieg dar. Nach 1918 können wir in<br />
vielen Län<strong>de</strong>rn, beson<strong>de</strong>rs in Deutschland, ein wachsen<strong>de</strong>s Naturbewußtsein feststellen, in <strong>de</strong>m nun auch<br />
zunehmend globale Zusammenhänge erkennbar wer<strong>de</strong>n. In einer bunten Bewegung, an <strong>de</strong>r Pazifisten und<br />
Bohemiens, Gewerkschafter und Naturromantiker, Vegetarier, Genossenschafter, Vagabun<strong>de</strong>n, Siedler,<br />
Handwerker, Künstler, Landwirte und zivilisationsmü<strong>de</strong> Propheten aller Couleur teilnehmen, erschüttert<br />
die technische Fortschrittsgläubigkeit <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> und rückt die Natur wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n<br />
Mittelpunkt <strong>de</strong>s Interesses. In dieser Bewegung spielen anarchistische I<strong>de</strong>en eine be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Rolle. Neu<br />
war auch, daß vermehrt das praktische Experiment in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund rückte. Über Mensch und Natur<br />
wur<strong>de</strong> nicht mehr nur philosophiert, es wur<strong>de</strong>n konkrete ›Mo<strong>de</strong>lle <strong>de</strong>r Tat‹ ausgedacht, gelebt und<br />
angeboten. Diese Ansätze sollten aufzeigen, daß ein an<strong>de</strong>res Leben möglich sei, und daß es hier und heute<br />
begonnen wer<strong>de</strong>n könne. Vielfach blieb es jedoch eher bei Symbolen, als daß konkrete Strategien für<br />
Umsturz<br />
106<br />
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und Umbau <strong>de</strong>r Industriegesellschaft entwickelt wur<strong>de</strong>n. Da gab es Siedlungsbewegungen, die sich auf<br />
Gustav Landauers Sozialistischen Bund beriefen, Landbesetzungen proletarischer Jugendlicher,<br />
Wan<strong>de</strong>rgruppen und Ferienkolonien, gewaltfreie Revolutionäre, die sich auf Gandhi bezogen und sogar<br />
eine Art früher ›Stadtindianer‹. In vielen dieser paradigmatischen Lebensexperimente läßt sich eine<br />
überraschend klare ökologische Analyse nachweisen. Der Ökoanarchist Paul Robien, <strong>de</strong>r bei Stettin eine<br />
"Naturwarte" betrieb, sprach bereits 1929 von Ölpest, vergifteten Wäl<strong>de</strong>rn und Atomkrieg, wofür er<br />
damals allerdings ungläubigen Spott erntete. Der schillern<strong>de</strong> Wan<strong>de</strong>rprediger und Egomane* Ludwig-<br />
Christian Haeusser griff sehr erfolgreich das Thema Zins und Inflation auf, und for<strong>de</strong>rte eine<br />
Bo<strong>de</strong>nreform, was ihm eine große Anhängerschaft und <strong>de</strong>n Beinamen "Inflationsheiliger" einbrachte.<br />
›Vagabun<strong>de</strong>n‹ wie Willy Ackermann mobilisierten über zwei Millionen zivilisationskritische Aussteiger,<br />
die über die Landstraßen wan<strong>de</strong>rten. Naturreligiöse Vegetarier vom Schlage eines Gusto Gräser übten<br />
einen nachhaltigen Einfluß auf Künstler wie Hermann Hesse o<strong>de</strong>r die Maler <strong>de</strong>r Worpswe<strong>de</strong>r<br />
Künstlerkolonie aus.<br />
Zum ersten Mal setzte sich nun auch in <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung in großem Maßstab <strong>de</strong>r Zweifel am<br />
industriellen Fortschritt fest, um <strong>de</strong>n Gedanken an ökologischen Naturschutz in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund treten<br />
zu lassen. Die Arbeiterbewegung tat sich hiermit naturgemäß schwer und hing in <strong>de</strong>r Regel weiter <strong>de</strong>m<br />
proletarischen Fortschrittsoptimismus an. Lei<strong>de</strong>r erkannten bei<strong>de</strong> Strömungen nicht die Chancen zu einem<br />
gemeinsamen Vorgehen. Diese ›sanfte Revolution war natürlich noch weniger in <strong>de</strong>r Lage, <strong>de</strong>m<br />
erstarken<strong>de</strong>n Faschismus Einhalt zu gebieten als die straff organisierte Arbeiterschaft. Hitler, <strong>de</strong>r sich<br />
seinerseits erfolgreich eines verkitschten Naturmythos bediente, setzte all <strong>de</strong>m ein En<strong>de</strong>. Nach 1945 brach<br />
in Sachen Ökologie zunächst eine lange Zeit <strong>de</strong>r Leere an, die erst nach <strong>de</strong>r antiautoritären<br />
Stu<strong>de</strong>ntenrevolte von 1968 wie<strong>de</strong>r mit neuem Leben gefüllt wur<strong>de</strong>.<br />
Im Gefolge <strong>de</strong>r '68er Revolten, die wie ein weltumspannen<strong>de</strong>s Lauffeuer die starren Formen <strong>de</strong>r<br />
Nachkriegsgesellschaft knackten, entstan<strong>de</strong>n schon in <strong>de</strong>n frühen 70er Jahren Bewegungen, die – teils
eformistisch, teils revolutionär – die Frage <strong>de</strong>r Ökologie in <strong>de</strong>n Mittelpunkt <strong>de</strong>s Bewußtseins <strong>de</strong>r<br />
Menschen rückten. Auslöser waren einerseits alarmieren<strong>de</strong> Studien wie die vom Club of Rome<br />
vorgestellten "Grenzen <strong>de</strong>s Wachstums", an<strong>de</strong>rerseits <strong>de</strong>r konkrete Wi<strong>de</strong>rstand gegen ökologisch<br />
bedrohliche Vorhaben wie Atomenergie, Wohnraumzerstörung, das Waldsterben, Müll<strong>de</strong>ponien, <strong>de</strong>n Bau<br />
von Großprojekten o<strong>de</strong>r die Bedrohung bestimmter Landschaften und Tierarten. Hieraus entstan<strong>de</strong>n in<br />
vielen Län<strong>de</strong>rn zeitweilig wahre Massenbewegungen, in Deutschland insbeson<strong>de</strong>re da, wo sich in <strong>de</strong>n<br />
80er Jahren Aktionsfel<strong>de</strong>r wie Antimilitarismus und Antiatomkampf zu einer ökologisch motivierten<br />
Frie<strong>de</strong>nsbewegung gegen die Rüstung verban<strong>de</strong>n.<br />
Die gera<strong>de</strong> erst wie<strong>de</strong>rerwachte und vergleichsweise schwache anarchistische Strömung in Deutschland<br />
konnte natürlich nicht verhin<strong>de</strong>rn, daß die Ausrichtung dieser Ansätze im Wesentlichen reformerisch<br />
blieb und letztendlich im umweltschützlerischen Parlamentarismus <strong>de</strong>r Grünen versan<strong>de</strong>te. An<strong>de</strong>rerseits<br />
ist die Rolle, die Anarchisten und libertäre I<strong>de</strong>en in dieser Bewegung spielten und spielen, nicht zu<br />
unterschätzen, auch wenn sie nicht immer<br />
107<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
erkennbar unter diesem Etikett auftrat. Sie folgte hauptsächlich zwei Strängen: Zum einen die radikale<br />
und militante Protestbewegung, die an punktuellen Kämpfen ansetzte und sich vor allem auf die Form <strong>de</strong>s<br />
direkten Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s konzentrierte. Ihre Aktionen trugen zwar dazu bei, gewisse Großprojekte eine<br />
Zeitlang zu behin<strong>de</strong>rn und die Probleme in die Medien zu bringen; ihr ständiger Aktionismus jedoch<br />
führte zu rascher sozialer Isolierung und einer atemlosen Kampfmentalität, die sich schließlich im Ghetto<br />
<strong>de</strong>r Scene einigelte. Der an<strong>de</strong>re Strang war von vornherein breiter angelegt und zielte darauf ab,<br />
konstruktive Elemente und anarchistische Essentials einzubringen. Auf i<strong>de</strong>ologische Reinheit und<br />
entsprechen<strong>de</strong> Rituale wur<strong>de</strong> dabei wenig Wert gelegt, und im allgemeinen agierte man hier gewaltfrei.<br />
Als beson<strong>de</strong>rs stabil und nachhaltig prägend erwies sich dabei die nach ihrer Zeitschrift benannte<br />
"Graswurzel"-Bewegung, die heute in ganz Deutschland mit einer "Fö<strong>de</strong>ration gewaltfreier<br />
Aktionsgruppen" vertreten ist.<br />
Anfänglich waren diese bei<strong>de</strong>n Stränge noch miteinan<strong>de</strong>r verwoben und nicht klar voneinan<strong>de</strong>r zu<br />
unterschei<strong>de</strong>n. Über solch hoffnungsträchtigen Bewegungen wie etwa <strong>de</strong>r Bauplatzbesetzung in Wyhl, <strong>de</strong>r<br />
"Freien Republik Wendland" o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Hüttendorf an <strong>de</strong>r Frankfurter Startbahn West bis hin zu <strong>de</strong>n<br />
großen Protesten gegen das Atomlager in Wackersdorf in <strong>de</strong>n achtziger Jahren, wehten die schwarzen,<br />
schwarzroten, grünen und bunten Fahnen noch einträchtig nebeneinan<strong>de</strong>r. Auf Dauer aber behauptete sich<br />
die breiter angelegte Strömung, während die reinen Militanzbewegungen je<strong>de</strong>smal in sich<br />
zusammenfielen, sobald <strong>de</strong>r konkrete Anlaß nicht mehr bestand. Sie bereitete auch <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>m<br />
heute neue, vorausschauen<strong>de</strong> libertär-ökologische Strategien aufzubauen versuchen.<br />
Natürlich waren und sind all das keine rein <strong>de</strong>utschen Phänomene; es wür<strong>de</strong> jedoch zu weit führen, an<br />
dieser Stelle auch auf an<strong>de</strong>re europäische Län<strong>de</strong>r einzugehen o<strong>de</strong>r die Analogien in Amerika, Australien<br />
und Asien vorzustellen.<br />
Aus <strong>de</strong>n USA kamen in<strong>de</strong>s praktisch wie theoretisch immer wie<strong>de</strong>r wichtige Impulse für ökologische<br />
Protestbewegungen, zivilen Ungehorsam und militanten Pazifismus. Nordamerikaner ist auch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>rzeit<br />
namhafteste Theoretiker <strong>de</strong>s Ökoanarchismus, Murray Bookchin. Er sieht praktische Schritte zur<br />
Erreichung eines ökologischen "Anarchismus <strong>de</strong>r Nach-Mangelgesellschaft" am ehesten im Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s<br />
libertarian municipalism*. Hinter diesem schwierigen Wort verbirgt sich eine Vernetzungsi<strong>de</strong>e von<br />
Menschen, Initiativen und Projekten, die über ein Engagement in <strong>de</strong>n Strukturen lokaler<br />
Verwaltungsgremien einen Prozeß <strong>de</strong>r Gesellschaftsverän<strong>de</strong>rung in Gang setzen soll. Dieses streng auf<br />
regionale Bereiche begrenzte Mo<strong>de</strong>ll zielt auf einen ökologischen Umbau ab und fußt auf<br />
basis<strong>de</strong>mokratischen Versammlungen. Entsprechen<strong>de</strong> Ansätze in <strong>de</strong>r kommunalen Politik sollen gestärkt<br />
und verankert wer<strong>de</strong>n, wobei man sich von <strong>de</strong>r Erfahrung aus konkreten Schritten und realen<br />
Experimenten gleichzeitig eine Bewußtseinsän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Menschen verspricht.
Versuch einer praktischen Synthese<br />
Solche Ten<strong>de</strong>nzen sind im Anarchismus seit <strong>de</strong>n 80er Jahren weltweit spürbar und haben ›frischen Wind‹<br />
in die von verstaubten Dogmen und ghettohafter Abkapselung heim-<br />
108<br />
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gesuchte libertäre Bewegung gebracht. Was <strong>de</strong>n ökologischen Aspekt angeht, so versucht beson<strong>de</strong>rs eine<br />
Strömung, die uns unter <strong>de</strong>m Namen "Projektanarchismus" noch öfter begegnen wird1, eine Art Synthese<br />
von ökologischem Umbau, libertärer Ethik und alternativer Ökonomie.<br />
In solchen Projekten könnte das ökologische Moment vielleicht die bloße radikale Kritik überwin<strong>de</strong>n und<br />
in <strong>de</strong>r Praxis greifen, ohne notwendigerweise in umweltschützen<strong>de</strong>n Reformismus zu verfallen. Nach<br />
Meinung seiner Anhänger sollten solche praktischen Ansätze zunehmend die reinen<br />
›Betroffenheitsgesten‹ ablösen, die in <strong>de</strong>r ›Öko-Szene‹ so weit verbreitet sind. Darum wer<strong>de</strong>n hier zum<br />
Beispiel ökologische und technologische Alternativen entwickelt, gebaut, benutzt, vorgeführt und auch<br />
vermarktet. Die Tatsache, daß solche Projekte eine wirtschaftliche Basis in Form von selbstverwalteten<br />
Betrieben haben, die ihrerseits politische und kulturelle Initiativen mitfinanziert, dürfte <strong>de</strong>r Ten<strong>de</strong>nz<br />
entgegenwirken, lediglich ökologischen Mo<strong>de</strong>n zu folgen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Markt zu bedienen.<br />
All dies zusammen för<strong>de</strong>rt gewiß die Überwindung <strong>de</strong>r Ghettosituation, in <strong>de</strong>r ökologisch bewegte<br />
Menschen von Außenstehen<strong>de</strong>n nur allzuoft als ›spinnerte Heilige‹ wahrgenommen wer<strong>de</strong>n. Die<br />
Menschen in solchen Projekten setzen auf die zahllosen sozialen Kontakte, bei <strong>de</strong>nen sie ihre an<strong>de</strong>re,<br />
komplexere Wirklichkeit zu vermitteln hoffen: Tag für Tag wür<strong>de</strong>n dabei Menschen angesprochen, <strong>de</strong>nen<br />
ein solches Leben sonst verrückt und utopisch vorkäme. Nur im vorgelebten Beispiel könne klargemacht<br />
wer<strong>de</strong>n, daß Ökonomie, Ökologie und soziale Organisation miteinan<strong>de</strong>r zu tun haben: Kun<strong>de</strong>n und<br />
Freun<strong>de</strong>, Nachbarn und Neugierige erlebten praktisch, daß in diesen Projekten ohne Chefs durchaus<br />
effektiv gearbeitet wer<strong>de</strong>. Man könne sehen, wie Menschen sich gegenseitig helfen, und das Leben<br />
dadurch eine an<strong>de</strong>re Qualität bekäme — jene bunte Vielfalt und Lebendigkeit, die in unseren Städten<br />
zunehmend verloren geht. Schließlich wür<strong>de</strong>n auch die Unterschie<strong>de</strong> zwischen Geldverdienen, Politik und<br />
Spaß mehr und mehr verwischen. Das alles, so die These, sei ein durch und durch ökologischer Ansatz<br />
und könne auf Dauer zweifellos subversiv sein.<br />
Konsequent kann ein ökologisches Projekt aber nur sein, wenn es auch etwas gegen die Wurzeln<br />
ökologischen Übels tut. ›Umweltschutz‹ ist nicht das Aufsammeln leerer Colabüchsen, son<strong>de</strong>rn etwas<br />
dafür zu tun, daß es keine Colabüchsen mehr zu geben braucht. Darum versuchen diese Pioniere libertärer<br />
Projekte, an<strong>de</strong>re Wirtschaftsformen zu praktizieren. So machen sie sich nicht vom Staat und seinen<br />
Gel<strong>de</strong>rn abhängig und vertrauen lieber auf ihre eigene Kraft, wobei sie - im doppelten Sinne <strong>de</strong>s Wortes -<br />
"alternative Energien" entwickeln. In ihren Betrieben vergeu<strong>de</strong>n sie kein Material, arbeiten<br />
umweltverträglich, und wenn sie bauen, dann selbstverständlich sparsam, biologisch und mit natürlichen<br />
Materialien. Mit all<strong>de</strong>m zeigen sie, daß ein ökologisch orientiertes Leben nicht nur möglich, son<strong>de</strong>rn auch<br />
lebenswert ist. Untereinan<strong>de</strong>r kann damit begonnen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Geldverkehr zu reduzieren und<br />
Leistungen auszutauschen. Das Leben einschließlich <strong>de</strong>r Betriebe ist dabei selbstorganisiert, man hilft<br />
sich gegenseitig und für verschie<strong>de</strong>ne Arbeiten wer<strong>de</strong>n gleiche Löhne ausgezahlt, die in je<strong>de</strong>m Betrieb die<br />
Belegschaft selbst festlegt.<br />
1) Siehe Kapitel 33 und 38!<br />
109<br />
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Schließlich praktizieren solche Projekte damit indirekt auch eine an<strong>de</strong>re Politik, und zwar in ihrem Alltag:<br />
in<strong>de</strong>m sie Chefs we<strong>de</strong>r brauchen noch haben und ihre Probleme <strong>de</strong>mokratisch besprechen, anpacken und<br />
lösen. Sie suchen dabei keine Mehrheitsentscheidungen, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Konsens und mischen sich direkt in<br />
ihre soziale Umgebung ein. Kurz: Sie trachten danach, Selbstorganisation, gegenseitige Hilfe und<br />
menschliche Umgangsformen in allen Lebensbereichen zu verwirklichen.<br />
All diese vielfältig verwobenen Verhaltensweisen, die solche Projekte auszeichnen, vermei<strong>de</strong>n<br />
Zentralismus, Hierarchie, Konzentration, Ressourcenverbrauch, Gigantomanie und Herrschaft von<br />
Menschen über Menschen. Dies hat mit Ökologie min<strong>de</strong>stens ebensoviel zu tun wie die Verwendung<br />
biologisch einwandfreier Wandfarbe.<br />
Fazit<br />
Jürgen Dahl schreibt, angesichts <strong>de</strong>s sozialen und ökologischen Wahnsinns, gleichnishaft über unsere<br />
Gesellschaft: "Es geht nicht mehr um die Reparatur <strong>de</strong>r Maschinen, son<strong>de</strong>rn um die Schließung <strong>de</strong>r<br />
Fabrik." Und er fährt fort: "Wenn es für die Wissenschaftler noch etwas zu tun gibt, dann eben dies: daß<br />
sie anfangen, darüber nachzu<strong>de</strong>nken, wie man aufhören könnte."<br />
Aber wer <strong>de</strong>nkt schon ans Aufhören? Nicht einmal die, die <strong>de</strong>n ökologischen Durchblick von Hause aus<br />
haben sollten, die Grünen. Sie scheinen zunehmend dabei mitwirken zu wollen, wie es trotz allem<br />
weitergehen kann. In libertären Projekten versucht man immerhin, mit <strong>de</strong>m Aufhören ernst zu machen<br />
und begibt sich auf die Suche nach praktischen Wegen, wie es danach weitergehen könnte. In einem<br />
radikal an<strong>de</strong>ren Ansatz, aber machbar.<br />
Ein solcher Weg kann nur an <strong>de</strong>n Wurzeln ansetzen.<br />
Alle Wurzeln <strong>de</strong>r ökologischen Krise aber liegen in unserem Wirtschafts- und Politiksystem. Unser aller<br />
Einstellung zu Natur, Umwelt, Konsum und Ausbeutung sind hiervon nur die folgerichtigen Ergebnisse.<br />
Darum versteht sich <strong>de</strong>r Anarchismus nicht als auch ökologisch, son<strong>de</strong>rn als notwendigerweise<br />
ökologisch - gera<strong>de</strong>so wie er sich als ökonomisch, politisch, sozial und kulturell verstehen muß.<br />
Literatur:<br />
/ Gerald O. Barney (Hrsg.) i. Auftr. d. US-State-Department/US-Council of Environmental Quality:<br />
Global 2000. Der Bericht an <strong>de</strong>n Präsi<strong>de</strong>nten Frankfurt/M. 1981 (28. Aufl.), Zweitausen<strong>de</strong>ins, 1508 S. +<br />
Anhang, ill.<br />
/ Jürgen Dahl: Die Verwegenheit <strong>de</strong>r Ahnungslosen Stuttgart 1992, Klett-Cotta, 155 S.<br />
/ Reiner Klingholz: Wahnsinn Wachstum Hamburg 1994, Gruner+Jahr, 271 S., ill.<br />
/ Ernest Callenbach: Ökotopia Berlin 1978, Rotbuch, 122 S.<br />
/ Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in <strong>de</strong>r Tier- und Menschenwelt Frankfurt/M. 1976, Ullstein, 555 S.<br />
/ Elisee Reclus: Evolution und Revolution Berlin 1977, Libertad, 50 S.<br />
/ Ulrich Linse: Ökopax und Anarchie – Eine Geschichte <strong>de</strong>r ökologischen Bewegungen in Deutschland<br />
München 1986, dtv, 192 S., ill.<br />
/ Rolf Cantzen: Freiheit unter saurem Regen – Überlegungen zu einem libertär-ökologischen<br />
Gesellschaftskonzept Berlin 1984, Clemens Zehrling, 78 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Weniger Staat – mehr Gesellschaft – Freiheit, Ökologie, Anarchismus Frankfurt 1987, Fischer,<br />
264 S.<br />
/ Murray Bookchin: Die Formen <strong>de</strong>r Freiheit – Aufsätze über Ökologie und Anarchismus Wetzlar 1977,<br />
Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 142 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Natur und Bewußtsein Wilnsdorf 1982, Winddruck, 80 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Die Ökologie <strong>de</strong>r Freiheit – Wir brauchen keine Hierarchien Weinheim 1985, Beltz, 451 S.<br />
/ Cornelia Wicht: Der ökologische Anarchismus Murray Bookchins Frankfurt/M. 1980, Freie<br />
Gesellschaft, 73 S.<br />
/ Gunnar Seitz: Kriegsdienst und ökologische Verweigerung Kassel 1987, Weber Zucht & Co, 96 S.<br />
/ Peter Zitzmann: Die ökologische Bedingung <strong>de</strong>r Entwicklung junger Menschen Grafenau 1989,<br />
Trotz<strong>de</strong>m, 250 S., ill.<br />
/ Ulrich Beck; Der anthropologische Schock – Tschernobyl und die Konturen <strong>de</strong>r Risikogesellschaft Bern<br />
1988, Ed. Anares, 54 S,
110<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Kapitel 16<br />
Anarchismus und Organisation<br />
"Der Grundirrtum <strong>de</strong>r Anarchisten, die Gegner aller Organisation sind,<br />
ist die Annahme, Organisation sei ohne Autorität nicht möglich."<br />
Errico Malatesta<br />
ES WIRD ANARCHISTEN GEBEN, die alles, was ich bisher gesagt habe, rundheraus als baren Unsinn<br />
ablehnen und etwas an<strong>de</strong>res vertreten. Das sollte uns an dieser Stelle nicht mehr verwun<strong>de</strong>rn.<br />
Anarchismus muß in seiner Vielfältigkeit auch mit Dissens leben können.<br />
Ein gera<strong>de</strong>zu klassischer Dissens in <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung ist die Frage <strong>de</strong>r Organisation. Ich<br />
habe dieses Thema bisher elegant vermie<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m ich <strong>de</strong>n allgemeinen Begriff Strukturen verwen<strong>de</strong>t<br />
habe. Wie aber halten es Anarchisten mit <strong>de</strong>r Organisation?<br />
Die meisten von ihnen sehen Strukturen als die logische Konsequenz von Ordnung an, die dann zu einer<br />
An von Organisation führen. In seiner Geschichte hat <strong>de</strong>r Anarchismus daher neben einer ganz heftigen<br />
und nie en<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Organisations<strong>de</strong>batte auch eine ganze Reihe mehr o<strong>de</strong>r weniger typischer<br />
Organisationsformen hervorgebracht. Die meisten von ihnen waren nach <strong>de</strong>m gleichen Prinzip aufgebaut:<br />
Erstens sollten sie in ihren Formen weitgehend das Ziel wi<strong>de</strong>rspiegeln, sie durften also beispielsweise<br />
nicht hierarchisch, bürokratisch, autoritär o<strong>de</strong>r zentralistisch sein. Zweitens sollten sie in <strong>de</strong>r Lage sein,<br />
sich von einer vor-revolutionären in eine nach-revolutionäre Organisationsform zu verwan<strong>de</strong>ln, sei es im<br />
Verlauf eines raschen Umsturzes o<strong>de</strong>r auch einer längeren Transformation*. Drittens sollten sie in <strong>de</strong>r<br />
Lage sein, sich verän<strong>de</strong>rten Gegebenheiten anzupassen. Hierzu müßten sie transparent und zugänglich<br />
sein, ohne jedoch starr und dogmatisch zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Gegner <strong>de</strong>r Organisation<br />
Diese Ansichten wer<strong>de</strong>n nicht von allen Anarchisten geteilt. Unter <strong>de</strong>n Gegnern lassen sich zwei Gruppen<br />
unterschei<strong>de</strong>n.<br />
Die einen lehnen je<strong>de</strong> Art von Organisation strikt ab. Für sie besteht <strong>de</strong>r Anarchismus gera<strong>de</strong>zu darin, sich<br />
nicht zu organisieren. Sie fassen Anarchie zumeist als einen individuellen Lebensentwurf auf, <strong>de</strong>r sich im<br />
persönlichen Verhalten ausdrückt. Manchen genügt es, wenn sie durch das gelebte Beispiel auf ihre<br />
Mitmenschen wirken, an<strong>de</strong>ren ist auch dies gleichgültig, weil sie mit ihrer anarchistischen<br />
Lebensauffassung keinen Plan zur Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Gesellschaft verbin<strong>de</strong>n. Solche Standpunkte<br />
wi<strong>de</strong>rsprechen nicht <strong>de</strong>m libertären I<strong>de</strong>al und sind durchaus legitim. Inwieweit sie uns einer<br />
anarchistischen Gesellschaft näherbringen, ist eine an<strong>de</strong>re Frage, die solche Anarchisten aber kaum<br />
interessiert. Derartige Auffassungen fin<strong>de</strong>n sich häufig bei Anhängern <strong>de</strong>s individualistischen<br />
Anarchismus.<br />
Den an<strong>de</strong>ren Pol bil<strong>de</strong>n diejenigen Anarchisten, die auf die Anwesenheit <strong>de</strong>s Ziels in <strong>de</strong>n Mittel pfeifen,<br />
und ihre Organisationsformen nur auf <strong>de</strong>n jeweiligen Zweck ausrichten. Der Zweck heiligt dann die<br />
Mittel.<br />
111<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Für das "Pfeifen" hat es sicherlich auch gute Grün<strong>de</strong> gegeben. Es ist ohne weiteres einsichtig, daß eine
Anarchistengruppe zur Zarenzeit, bei <strong>de</strong>n Nazis, in Korea o<strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>r Francodiktatur we<strong>de</strong>r transparent<br />
noch zugänglich sein konnte. Daß Anarchisten sich da in kleinen, straff organisierten und konspirativ<br />
arbeiten<strong>de</strong>n Zellen organisierten, ist naheliegend. Solange das nur eine notwendige, zeitlich begrenzte und<br />
pragmatische Anpassung an eine Situation <strong>de</strong>r Unterdrückung war, war das auch nicht be<strong>de</strong>nklich. Das<br />
Beispiel <strong>de</strong>r spanischen CNT, die zwischen 1939 und 1976 fast vierzig Jahre im spanischen Untergrund<br />
aktiv war, zeigt, daß eine Organisation auch dann nicht militaristisch o<strong>de</strong>r autoritär wer<strong>de</strong>n muß: trotz<br />
strikter Konspiration blieb innerhalb <strong>de</strong>r einzelnen Gruppen und in <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>s französischen Exils die<br />
antiautoritär-anarchistische Struktur intakt.<br />
Be<strong>de</strong>nklich wird es jedoch, wenn aus <strong>de</strong>r Not geborene Organisationsformen zur Tugend wer<strong>de</strong>n. Im 19.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rt, als vereinzelte und schwache anarchistische Gruppen sich überwiegend damit beschäftigten,<br />
›die I<strong>de</strong>en‹ zu verbreiten und sich gegen die Angriffe <strong>de</strong>s Staates zur Wehr setzten, entstan<strong>de</strong>n neben<br />
offen agieren<strong>de</strong>n Organisationen wie etwa <strong>de</strong>n Anarchistischen Fö<strong>de</strong>rationen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Internationalen<br />
Arbeiter-Assoziation auch eine Reihe verschwörerischer Zirkel: Geheimbün<strong>de</strong>, internationale<br />
›Brü<strong>de</strong>rschaften‹ und abgekapselte revolutionäre Gruppen, die teils parallel zu <strong>de</strong>n ›offenen‹ Strukturen<br />
arbeiteten, teils auf eigene Faust agierten. Bakunin beispielsweise spielte in bei<strong>de</strong>n eine Rolle: Er war eine<br />
treiben<strong>de</strong> Kraft in <strong>de</strong>r ›Internationale‹ und gleichzeitig eifriger Grün<strong>de</strong>r und Teilnehmer an geheimen<br />
Gesellschaften, vor allem mit Blick auf Rußland und die slawischen Län<strong>de</strong>r. Das ist bei einem Mann wie<br />
Bakunin, <strong>de</strong>r verfolgt, zum To<strong>de</strong> verurteilt, in Ketten gelegt und nach Sibirien verbannt wor<strong>de</strong>n war,<br />
gewiß verständlich. Das heißt jedoch nicht, daß dies eine im Sinne <strong>de</strong>s Anarchismus richtige<br />
Organisationsform sein muß. Geheimbün<strong>de</strong>lei unkontrollierter Gruppen neigt zu Despotismus*,<br />
Selbstgerechtigkeit und einer fatalen* Glorifizierung von Kampf und Hel<strong>de</strong>ntum. Außer<strong>de</strong>m sind sie<br />
leichte Beute von Spitzeln und Provokateuren, sobald diese Zugang in ihre Reihen gefun<strong>de</strong>n haben.<br />
Bakunin selbst wur<strong>de</strong> Opfer dieser Ten<strong>de</strong>nz.<br />
Geheimbün<strong>de</strong>, verschwörerische Zirkel und illegale Zellen können manchmal eine Notwendigkeit sein,<br />
eine i<strong>de</strong>ale anarchistische Organisationsform sind sie mit Sicherheit nicht. Die Geheimbün<strong>de</strong>lei <strong>de</strong>r<br />
siebziger Jahre <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts bereitete <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n für zwei Entwicklungen, die um die<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> unheilvolle Früchte tragen sollten: Einerseits die Phase terroristischer Attentäter, die<br />
die Anarchie "mit Bombe, Dolch und Dynamit" erzwingen zu können glaubten, und an<strong>de</strong>rerseits die<br />
Entstehung einer streng hierarchischen, in Zellen geglie<strong>de</strong>rten Partei von Berufsrevolutionären wie Lenin<br />
sie entwickelte, und die uns mit <strong>de</strong>n Bolschewiki eines <strong>de</strong>r politischen Monster dieses Jahrhun<strong>de</strong>rts<br />
bescherte.<br />
Da <strong>de</strong>n verschwörerischen Berufsrevolutionär die dunkel-romantische Aura <strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>nhaften umgibt, hat<br />
es immer wie<strong>de</strong>r Menschen gegeben, die sich von solchen Mythen angezogen fühlten und zu<br />
entsprechen<strong>de</strong>n Organisations- und Aktionsformen neigten. Zuletzt erlebte die <strong>de</strong>utsche Öffentlichkeit ein<br />
solches Drama Netschajewscher* Prägung,<br />
112<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
als die von anarchistischen I<strong>de</strong>en inspirierte ›Bewegung 2. ]uni‹ 1974 <strong>de</strong>n "Verräter" Ulrich Schmücker<br />
zum To<strong>de</strong> verurteilte und im Berliner Grunewald "hinrichtete". Schmücker hatte sich vom<br />
Verfassungsschutz benutzen lassen, war aber in erster Linie ein i<strong>de</strong>alistischer und unbedarft labiler<br />
Mensch, <strong>de</strong>r glaubte, seinen Genossen treu bleiben und <strong>de</strong>n Geheimdienst austricksen zu können. Ein<br />
typisches ›armes Würstchen‹, wie geschaffen, um als Täter und Opfer in die Organisationsform einer<br />
Guerillatruppe zu passen, die sich Menschlichkeit auf ihre Fahnen schrieb, <strong>de</strong>ren Han<strong>de</strong>ln jedoch<br />
menschenverachtend und <strong>de</strong>ren Struktur <strong>de</strong>spotisch war. Wenn man sich klarmacht, daß Menschen, die<br />
die Brutalität <strong>de</strong>s Staates überwin<strong>de</strong>n wollen, einen an<strong>de</strong>ren Menschen "zum To<strong>de</strong> verurteilen" und<br />
"hinrichten", wird <strong>de</strong>utlich, was passiert, wenn die Anwesenheit <strong>de</strong>s Ziels in <strong>de</strong>n Mitteln fehlt.<br />
Von <strong>de</strong>r Gruppe zur Fö<strong>de</strong>ration<br />
Der organisationsfeindliche Individualismus und die straff-<strong>de</strong>spotische Organisation von
Verschwörerzirkeln sind hier als Ausnahmen vorgestellt, sie bil<strong>de</strong>n im Anarchismus nur<br />
Ran<strong>de</strong>rscheinungen. Wie aber organisierten sich die anarchistischen Hauptströmungen?<br />
In <strong>de</strong>n Anfängen <strong>de</strong>r Bewegung waren es einfach Gruppen Gleichgesinnter, die Bücher lasen,<br />
diskutierten, und versuchten, das, was sie ent<strong>de</strong>ckt und erdacht hatten, unter die Leute zu bringen. Daran<br />
hat sich bis heute nicht viel geän<strong>de</strong>rt. Die ›Anarchogruppe‹ ist nach wie vor <strong>de</strong>r beliebteste Baustein <strong>de</strong>r<br />
anarchistischen Bewegung. Propaganda war seit jeher das, was in <strong>de</strong>n meisten von ihnen betrieben wur<strong>de</strong><br />
und noch immer wird. Deshalb gibt es auch so viele Gruppierungen, die sich um Zeitungen einer<br />
bestimmten Richtung scharen. Im anarchistischen Jargon* wer<strong>de</strong>n Gruppen, die eine bestimmte Richtung<br />
vertreten, Affinitätsgruppen genannt; frei übersetzt be<strong>de</strong>utet dies Gesinnungsgemeinschaft.<br />
Aus einzelnen Gruppen entstan<strong>de</strong>n Strukturen, die sich entwe<strong>de</strong>r einer bestimmten Aufgabe verschrieben<br />
o<strong>de</strong>r bestimmte Richtungen <strong>de</strong>s Anarchismus verfochten, oftmals auch bei<strong>de</strong>s zugleich. Da gab es<br />
Arbeiterassoziationen, Bildungsvereine o<strong>de</strong>r ›politische Clubs‹ sowie Gruppen, die auf Aufklärung,<br />
Gewerkschaftsstrategien, Pazifismus, Militanz o<strong>de</strong>r libertäre Projekte setzten.<br />
Sobald sich <strong>de</strong>r Anarchismus von <strong>de</strong>r Theorie in die Praxis begab, stand <strong>de</strong>r Anlaß im Vor<strong>de</strong>rgrund, die<br />
konkrete Aufgabe, die es zu bewältigen galt. Da kam es dann nicht mehr so sehr auf die<br />
Übereinstimmungen in <strong>de</strong>r Weltanschauung an, son<strong>de</strong>rn darauf. Mitakteure für das Ziel zu fin<strong>de</strong>n, die<br />
zwar im anarchistischen Sinne mitwirken sollten, ohne jedoch unbedingt Anarchisten sein zu müssen.<br />
Solche Gruppen wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Sprache anarchistischer Organisation Konsensgruppen genannt. Wir<br />
können das als Interessengemeinschaft übersetzen. Libertäre Gewerkschaften, freie Schulen,<br />
Genossenschaften o<strong>de</strong>r auch die "neuen sozialen Bewegungen", die in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik seit <strong>de</strong>n<br />
siebziger Jahren entstan<strong>de</strong>n, sind typische Konsensgruppen, in <strong>de</strong>nen Anarchisten aktiv waren o<strong>de</strong>r sind.<br />
Die spezifische Organisationsform, die sich aus bei<strong>de</strong>n Typen entwickelte, ist die Fö<strong>de</strong>ration, das heißt,<br />
ein freiwilliger, mehr o<strong>de</strong>r weniger fester, <strong>de</strong>zentraler Zusammenschluß verschie<strong>de</strong>ner Gruppen, die ein<br />
gemeinsames Interesse verbin<strong>de</strong>t. Eine Fö<strong>de</strong>ration weit-<br />
113<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
gehend autonomer Gruppen erfüllt im wesentlichen die For<strong>de</strong>rungen an anarchistische<br />
Organisationsformen, die wir kennengelernt haben. Da <strong>de</strong>r Anarchismus in <strong>de</strong>n ersten hun<strong>de</strong>rt Jahren<br />
überwiegend eine Arbeiterbewegung war, spielte <strong>de</strong>r Anarchosyndikalismus, mit <strong>de</strong>m wir uns noch<br />
ausführlich befassen wer<strong>de</strong>n, natürlich auch als Organisationsform eine beson<strong>de</strong>re Rolle. Aber auch solch<br />
ein anarchistischer Gewerkschaftsverband war seiner Struktur nach nichts an<strong>de</strong>res als eine Fö<strong>de</strong>ration,<br />
allerdings sehr spezialisiert und hochgradig organisiert. Die libertären Syndikate* lösten dabei souverän<br />
die For<strong>de</strong>rungen ein, die Anarchisten an ein Transformationsmo<strong>de</strong>ll stellen, in<strong>de</strong>m sie vor, während und<br />
nach <strong>de</strong>r Revolution eine passen<strong>de</strong> Organisationsstruktur bieten konnten. Dabei wur<strong>de</strong> bewiesen, daß<br />
auch diese aus großen ›Industriefö<strong>de</strong>rationen‹ bestehen<strong>de</strong>n libertären Organisationen keinen<br />
bürokratischen Apparat hervorbringen müssen. Die spanische CNT kam 1936 bei knapp zwei Millionen<br />
Mitglie<strong>de</strong>rn mit einem einzigen bezahlten Sekretär aus, und <strong>de</strong>r begnügte sich mit einem<br />
Facharbeitergehalt...<br />
Bewegung in Ratlosigkeit<br />
Wenn wir einmal vereinfacht alle die Menschen, die sich als Anarchisten verstehen und die Gruppen, die<br />
in diesem Sinne wirken, als eine anarchistische Bewegung betrachten, so gibt es eine solche Bewegung<br />
heute in etwa vierzig Län<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> mit beträchtlichen Unterschie<strong>de</strong>n in Stärke und Qualität. In<br />
manchen existieren noch die klassischen anarchistischen Organisationsformen, die gelegentlich auch<br />
ironisch die "offiziellen" genannt wer<strong>de</strong>n. Das sind lan<strong>de</strong>sweite Fö<strong>de</strong>rationen einerseits von<br />
anarchistischen Gruppen, an<strong>de</strong>rerseits von Syndikalisten* beziehungsweise Gewerkschaften. Bei<strong>de</strong> haben<br />
wie<strong>de</strong>rum ihre internationale Dachfö<strong>de</strong>ration, <strong>de</strong>r jeweils die meisten nationalen Fö<strong>de</strong>rationen<br />
angeschlossen sind. Für die Syndikalisten ist dies die AIT (Association Internationale <strong>de</strong>s Travailleurs –
<strong>de</strong>utsch: Internationale Arbeiter Assoziation, IAA), für die anarchistischen Fö<strong>de</strong>rationen die IFA<br />
(Internationale <strong>de</strong>s Fe<strong>de</strong>rations Anarchistes - <strong>de</strong>utsch: Internationale Anarchistischer Fö<strong>de</strong>rationen, IAF).<br />
Es han<strong>de</strong>lt sich dabei um verkable Organisationen mit allem was dazugehört: Statuten, Stempeln,<br />
Weltkongressen, Presseorganen, nationalen und internationalen Treffen, Kampagnen, Theoriediskussion<br />
und Koordination. Das hört sich beeindruckend an, sollte aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen,<br />
daß diese Fö<strong>de</strong>rationen durchweg sehr schwach sind, und nur ein Bruchteil <strong>de</strong>r Anarchisten in ihnen<br />
organisiert ist. In <strong>de</strong>r Praxis kommt solchen Weltfö<strong>de</strong>rationen heute nur noch geringe Be<strong>de</strong>utung zu. Ihre<br />
Funktion als Motor und kreative Stimulanz* in Praxis und Theorie <strong>de</strong>r Bewegung haben die "offiziellen<br />
Organisationen" weitgehend eingebüßt.<br />
Das hat damit zu tun, daß <strong>de</strong>r Anarchismus nach 1968 einen völligen Neubeginn durchmachen mußte und<br />
seither auf <strong>de</strong>r Suche nach neuen Formen ist. Die überkommenen Organisationen waren für viele kaum<br />
noch attraktiv o<strong>de</strong>r paßten nicht mehr zu <strong>de</strong>n neuen Aktionsfel<strong>de</strong>rn. Selbst in einem Land wie Frankreich,<br />
das eine sehr aktive anarchistische Fö<strong>de</strong>ration hat, fin<strong>de</strong>t ein großer Teil libertärer Aktivitäten außerhalb<br />
von ihr statt. Parallel zur Fö<strong>de</strong>ration Anarchiste existiert eine ganze Reihe weiterer Verbän<strong>de</strong>,<br />
Fö<strong>de</strong>rationen und<br />
114<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
lan<strong>de</strong>sweiter Zusammenschlüsse, teils mit Konsens-, teils mit Affinitätscharakter. Trotz<strong>de</strong>m sind viele<br />
aktive Anarchisten überhaupt nicht organisiert. Überall dort, wo, wie in Frankreich, die "offizielle"<br />
Organisation dynamisch und aktiv ist, kommt es in <strong>de</strong>r Regel auch zu einer guten Zusammenarbeit<br />
querbeet durch dieses Wirrwarr von Strukturen. In Deutschland gibt es keine klassische anarchistische<br />
Fö<strong>de</strong>ration, dafür aber eine recht rege libertäre Bewegung von auffälliger Vielfalt. Aus ihr sind mehrere<br />
lan<strong>de</strong>sweite Zusammenhänge hervorgegangen, von <strong>de</strong>nen sich nur eine in die Tradition einer klassischen,<br />
offiziellen Organisationsform gestellt hat.<br />
Der Anarchismus befin<strong>de</strong>t sich in einer Situation <strong>de</strong>s Umbruchs1, und mit ihm seine<br />
Organisationsformen. Alte Aktionsfel<strong>de</strong>r und Inhalte haben sich überlebt und sind mitsamt ihren<br />
hergebrachten Strukturen in tiefe Sinnkrisen gestürzt. Früher stand beispielsweise <strong>de</strong>r<br />
Anarchosyndikalismus für real existente kämpferische Gewerkschaften, also für ein starkes Konsens-<br />
Mo<strong>de</strong>ll. Heute gibt es nur noch in ganz wenigen Län<strong>de</strong>rn tatsächliche anarchistische Gewerkschaften o<strong>de</strong>r<br />
entsprechen<strong>de</strong> Ansätze. Die anarchosyndikalistischen Organisationen sind daher in <strong>de</strong>n meisten Fällen zu<br />
kleinen Propagandagruppen gewor<strong>de</strong>n, die die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Anarchosyndikalismus verbreiten und sich<br />
ansonsten an irgendwelchen aktuellen Bewegungen beteiligen. So ist die AIT heute genau genommen die<br />
Dachorganisation eines historischen Konsens-Mo<strong>de</strong>lls, die fast lauter Affinitätsgruppen vertritt – ein<br />
Paradox, in <strong>de</strong>m sich die Krise <strong>de</strong>r klassischen anarchistischen Organisationen wi<strong>de</strong>rspiegelt.<br />
Der neue Anarchismus hingegen hat noch überhaupt kein Organisationsmo<strong>de</strong>ll gefun<strong>de</strong>n. Zwar gibt es<br />
auch hier national und international mannigfachen Austausch: Treffen, Camps, Kongresse, Seminare,<br />
Feste, Netzwerke und Kampagnen - aber all das ist meist zufällig und selten dauerhaft. Manche<br />
Anarchisten meinen, genau das sei die angemessene Struktur <strong>de</strong>r neuen Bewegung: Nichts weiter als eine<br />
locker-leichte Vernetzung je nach Bedarf. Selbst wenn das richtig wäre – woran Zweifel erlaubt sind –,<br />
hat die Erfahrung <strong>de</strong>r letzten zwanzig Jahre gezeigt, daß solche unverbindlichen Kontakte je<strong>de</strong>nfalls nicht<br />
ausreichen. An<strong>de</strong>re sind <strong>de</strong>r Meinung, es genüge, die alten Fö<strong>de</strong>rationen mit neuem Leben und neuen<br />
Inhalten zu füllen. Wie <strong>de</strong>m auch sei: die neue libertäre Bewegung hat oft genug Reaktionsarmut,<br />
Initiativschwäche und einen erschrecken<strong>de</strong>n Mangel an Kraft und Aufmerksamkeit bewiesen, um zu<br />
zeigen, daß sie dringend neuer Organisationsformen bedarf.<br />
Organisation wäre vermutlich kein Heilmittel, aber gewiß ein notwendiger Schritt zur Überwindung<br />
dieser Schwäche einer Bewegung, die im realen Leben längst nicht die Rolle einnimmt, die sie aufgrund<br />
ihrer Stärke spielen könnte.
1) Vergleiche Kapitel 38 !<br />
Literatur:<br />
/ Errico Malatesta: Ein anarchistisches Programm vgl. Kap. 4!<br />
/ Rudolf Rocker: Anarchismus und Organisation Berlin 1978, Libertad, 47 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Über das Wesen <strong>de</strong>s Fö<strong>de</strong>ralismus im Gegensatz zum Zentralismus Frankfurt/M. 1979, Freie<br />
Gesellschaft, 318.<br />
/ Berthold Cohn: Sollen sich Anarchisten organisieren? Berlin o.J. (1928?), Der Freie Arbeiter, 8 S,<br />
/ Günter Bartsch: Der Internationale Anarchismus Hannover 1972, Nie<strong>de</strong>rs. Lan<strong>de</strong>szentrale f. pol.<br />
Bildung, 67 S.<br />
/ <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: Organisationspapier – Eine Denkschrift Wetzlar 1976, An-Archia, 12 S.<br />
/ Gruppi Anarchici Fe<strong>de</strong>rati: Ein anarchistisches Programm vgl. Kap. 4!<br />
/ N.N. International Blacklist San Francisco 1983, 140 S., ill.<br />
/ Peter Stipkovics (Hrsg.): Internationales Anarchistisches Adressbuch Wien 1982, Monte Verità, 18; S.,<br />
ill.<br />
115<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Kapitel 17<br />
Parteien, Räte, Selbstverwaltung<br />
"Parteien sind zum Schlafen da –<br />
und zum schrecklichen Erwachen"<br />
Zeitung ›883‹, 1971<br />
"Verteilt die Macht, damit sie keinen mächtig macht!"<br />
Losung in Paris, Mai 1968<br />
IMMER WIEDER HAT DIE SPONTANE AKTION bedrängter Menschen die Theoretiker im Tiefschlaf<br />
überrascht. Bedrängte Menschen tun meist das Naheliegen<strong>de</strong>. Naheliegen<strong>de</strong>s geschieht spontan.<br />
Was ist in einer außergewöhnlichen Situation naheliegen<strong>de</strong>r, als sich zusammenzuhocken und zu<br />
beratschlagen? Das anstehen<strong>de</strong> Problem wird benannt, besprochen, man einigt sich auf eine<br />
Vorgehensweise, und wenn die Gruppe sehr groß ist, bestimmt man ein paar Personen <strong>de</strong>s Vertrauens mit<br />
<strong>de</strong>r Ausführung <strong>de</strong>ssen, was beschlossen wur<strong>de</strong>. Und die Gruppe paßt auf, daß alles auch so gemacht<br />
wird, bis zum nächsten Treffen. So einfach ist das.<br />
Räte<br />
So einfach ist auch die Grundi<strong>de</strong>e eines Rates. Räte bil<strong>de</strong>n das Organisationsmuster, auf <strong>de</strong>m die<br />
Selbstverwaltung aufbaut. Von allen bisher bekannten gesellschaftlichen Organisationsformen sind sie die<br />
<strong>de</strong>mokratischsten. Sie wur<strong>de</strong>n von keinem Theoretiker ersonnen, an keinem Schreibtisch erfun<strong>de</strong>n. Viele<br />
hun<strong>de</strong>rt Mal an <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten Stellen <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> sind sie immer wie<strong>de</strong>r aufgetaucht. Erfin<strong>de</strong>r solcher<br />
"Organe" waren stets Menschen, die sich gegen irgen<strong>de</strong>twas wehrten und begannen, ihre Angelegenheiten<br />
in die eigenen Hän<strong>de</strong> zu nehmen. Räte entstan<strong>de</strong>n unabhängig voneinan<strong>de</strong>r und unter verschie<strong>de</strong>nsten<br />
Namen immer wie<strong>de</strong>r in einem Akt <strong>de</strong>r Neuschöpfung. Sie waren überall etwas an<strong>de</strong>rs, paßten sich <strong>de</strong>n<br />
unterschiedlichen Gegebenheiten an, funktionierten aber stets nach <strong>de</strong>m gleichen einfachen Prinzip.<br />
Die ersten historisch belegten Räte fin<strong>de</strong>n wir im Umfeld <strong>de</strong>r Revolutionsarmee Oliver Cromwells, die im<br />
17. Jahrhun<strong>de</strong>rt in England König Karl I. besiegte. In <strong>de</strong>r Französischen Revolution von 1789 tauchen sie
wie<strong>de</strong>r auf, ebenso in <strong>de</strong>r Pariser Commune von 1871. In <strong>de</strong>n Russischen Revolutionen von 1905 und<br />
1917 sind sie zu einem festen Bestandteil <strong>de</strong>s revolutionären Prozesses gewor<strong>de</strong>n. 1918 bewähren sie sich<br />
in <strong>de</strong>r Novemberrevolution in Deutschland, 1920 in <strong>de</strong>r ukrainischen Guerilla und <strong>de</strong>n italienischen<br />
Fabrikbesetzungen, 1921 in <strong>de</strong>r ›Kommune von Kronstadt‹ 1922 fin<strong>de</strong>n wir sie im fernen Patagonien,<br />
1936 in <strong>de</strong>r Spanischen Revolution. 1956 entstehen in Ungarn Räte beim Aufstand gegen die<br />
stalinistische Diktatur, ab 1968 erneut in <strong>de</strong>r französischen und italienischen Industrie, 1971 in Polen,<br />
1980 im Iran und so weiter ... Es gibt unzählige Beispiele mehr.<br />
Immer waren sie zunächst eine spontan entstan<strong>de</strong>ne Ausdrucksform <strong>de</strong>r Unterdrückten. Überall da, wo<br />
eine Revolution sich wirklich durchsetzen konnte, wur<strong>de</strong>n sie dann zu<br />
116<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Organen einer neuen Ordnung. Typisches Merkmal einer solchen neuen Ordnung ist die<br />
Selbstverwaltung, die sich zu einem allgemeinen gesellschaftlichen Normalzustand entwickeln soll. Räte<br />
entfalten dabei eine sehr große Beweglichkeit und können sich neuen Situationen viel schneller anpassen<br />
als die in festen Formen erstarrten Parteien.<br />
Räte kommen, sowohl als geschichtliche Erfahrung wie als praktische Erscheinungsform, <strong>de</strong>r<br />
anarchistischen Vorstellung von einer horizontalen Glie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Gesellschaft sehr nahe. Sie sind jedoch<br />
nicht per se anarchistisch, und Anarchie ist nicht mit Räte<strong>de</strong>mokratie gleichzusetzen. Räte sind eine<br />
Ordnungsstruktur, die in einem anarchistischen Umgestaltungsprozeß brauchbar wäre.<br />
Daß sie nicht anarchistisch sein müssen, beweist die Pervertierung, die sie beispielsweise in Rußland<br />
erfuhren1, wo sich <strong>de</strong>r Staat schon bald nach <strong>de</strong>r Revolution <strong>de</strong>n Namen Sowjetunion gab. "Sowjet" heißt<br />
Rat. Hier kam es zu einer verhängnisvollen Verquickung von Basis<strong>de</strong>mokratie, die sich in <strong>de</strong>n<br />
entstan<strong>de</strong>nen und gut funktionieren<strong>de</strong>n Räten wi<strong>de</strong>rspiegelte, und <strong>de</strong>m Herrschaftsanspruch einer Partei,<br />
die die Sowjets Stück für Stück entmachtete und als rein formale Struktur ihrer Diktatur unterordnete.<br />
Je<strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Räte hiergegen wur<strong>de</strong> – wie etwa im Kronstädter Aufstand von 1921 – blutig<br />
nie<strong>de</strong>rgeschlagen. Heraus kam ein Superstaat, in <strong>de</strong>m die Räte nur noch als Garnierung dienten. Solche<br />
›Räte‹ üben keine reale Entscheidungsfunktion mehr aus. Sie haben ihre Macht an übergeordnete<br />
Interessen abgegeben, <strong>de</strong>nen sie dienen und unterworfen sind. In <strong>de</strong>r Regel sind das Parteiinteressen.<br />
Partei und Räte aber sind Prinzipien, die sich ausschließen. Sobald <strong>de</strong>r Rat sein wichtigstes Merkmal<br />
aufgibt, die Autonomie, hört er auf, befreien<strong>de</strong>s Instrument <strong>de</strong>r allgemeinen Selbstverwaltung zu sein. In<br />
Län<strong>de</strong>rn wie Kuba, Algerien o<strong>de</strong>r Jugoslawien wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n sechziger und siebziger Jahren versucht,<br />
staatliche Selbstverwaltung in Teilbereichen <strong>de</strong>r Gesellschaft zur Unterstützung <strong>de</strong>s jeweiligen Systems<br />
zu installieren. Selbst in Jugoslawien, wo man sich ausdrücklich auf anarchistische Wurzeln bezog,<br />
scheiterten diese Ansätze im Sumpf <strong>de</strong>r Bürokratie, obwohl die I<strong>de</strong>e bei Belegschaften und<br />
Stadtteilkomitees anfangs begeistert aufgriffen wur<strong>de</strong>.2 Räte und Selbstverwaltung genügen sich selbst.<br />
Als nackte Struktur zur Stärkung eines ihr wi<strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong>n staatlichen Gesamtkonzepts taugen sie nicht.<br />
Vom anarchistischen Standpunkt aus wäre es die richtige Struktur mit falscher Ethik.<br />
In Kapitel 12 haben wir solche Strukturen "Vernetzung kleiner Einheiten" genannt, eine Umschreibung,<br />
die mir für eine anarchistische Gesellschaft passen<strong>de</strong>r scheint, weil ›Räte‹ nur eine <strong>de</strong>nkbare Möglichkeit<br />
einer solchen Vernetzung sind, und die Zukunft möglicherweise an<strong>de</strong>re, bessere hervorbringt. Aber sie<br />
haben konkret existiert und sind schon <strong>de</strong>shalb von Interesse.<br />
Wie wir gesehen haben, wären Räte sowohl geografische als auch sachliche<br />
Organisationszusammenhänge, <strong>de</strong>ren Wirkungsbereiche sich überschnei<strong>de</strong>n können. Es gibt zum Beispiel<br />
<strong>de</strong>n Rat eine Dorfes, einer Stadt, eines Stadtteils o<strong>de</strong>r eines Landstriches. In diesen<br />
1) Vergleiche Kapitel 29 - 31 !
2) Vergleiche Kapitel 36 !<br />
117<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Gebieten wie<strong>de</strong>rum organisieren sich Räte nach sachlichen Interessen: am Arbeitsplatz, in <strong>de</strong>n Industrien,<br />
in <strong>de</strong>r Landwirtschaft, im Transportwesen, an Universitäten, Schulen, ja sogar in Nachbarschaften und<br />
Wohngemeinschaften. Auch an<strong>de</strong>re sachliche Zusammenhänge wie Frauen, Männer, Kin<strong>de</strong>r, Alte,<br />
Behin<strong>de</strong>rte, Verbraucher usw. sind <strong>de</strong>nkbar.<br />
Je<strong>de</strong>r Rat ist im Grun<strong>de</strong> nichts weiter als die Versammlung <strong>de</strong>r Menschen, die unter <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n<br />
Bereich fallen und an ihm teilnehmen möchten. Teilnahme und Mitarbeit sind freiwillig, <strong>de</strong>mzufolge auch<br />
die Unterwerfung unter die Beschlüsse <strong>de</strong>s Rates. Natürlich kann <strong>de</strong>r Rat umgekehrt beschließen, daß nur<br />
die Teilnehmer in <strong>de</strong>n Genuß <strong>de</strong>r Früchte seiner Arbeit kommen.<br />
Die Räte versammeln sich in bestimmten Abstän<strong>de</strong>n und vor allem immer dann, wenn wichtige Probleme<br />
zur Lösung anstehen. Damit sie arbeitsfähig bleiben, sollten die Räte klein gehalten wer<strong>de</strong>n. Es wäre zum<br />
Beispiel unsinnig, einen Rat von Hamburg o<strong>de</strong>r Deutschland zu bil<strong>de</strong>n.<br />
Je<strong>de</strong>r Rat ist grundsätzlich autonom. Bei größeren geografischen Zusammenhängen sowie zur<br />
Bewältigung von Problemen, die mehr Menschen angehen o<strong>de</strong>r überregional organisiert wer<strong>de</strong>n müssen,<br />
wählt <strong>de</strong>r Rat Delegierte, die sich wie<strong>de</strong>rum zu Delegiertenräten zusammenschließen. Dies kann<br />
mehrmals wie<strong>de</strong>rholt wer<strong>de</strong>n, so daß sich am En<strong>de</strong> mehrere Ebenen von Räten bil<strong>de</strong>n, die je<strong>de</strong>r für sich<br />
die erfor<strong>de</strong>rliche Größe haben, um handlungsfähig zu bleiben. Um zu praktikablen Entscheidungen in<br />
Bereichen zu kommen, an <strong>de</strong>nen sehr viele Menschen beteiligt sind, können von Zeit zu Zeit auch große,<br />
kongreßartige und meinungsbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Meetings einberufen wer<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>nen etwa alle Betroffenen o<strong>de</strong>r<br />
die Abgesandten aller Basisräte die allgemeinen Richtlinien für die Arbeit <strong>de</strong>r spezialisierten<br />
Delegiertenräte festlegen.<br />
Grundsätzlich hat je<strong>de</strong>s Mitglied eines Rates aktives und passives Wahlrecht, das heißt, es kann wählen<br />
o<strong>de</strong>r gewählt wer<strong>de</strong>n. Es han<strong>de</strong>lt sich dabei aber im Gegensatz zu Parteikandidaten um ›Menschen zum<br />
Anfassen‹: Nachbarn, Kollegen, Freun<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Bekannte aus überschaubaren Lebenszusammenhängen, die<br />
einan<strong>de</strong>r kennen. Zwischen diesen Menschen gibt es ungleich weniger Entfremdung als in unserem<br />
heutigen politischen Delegations- und Wahlsystem. So bleibt in aller Regel gewährleistet, daß diejenigen<br />
gewählt wer<strong>de</strong>n, die das meiste Vertrauen <strong>de</strong>r Menschen genießen und sich mit <strong>de</strong>m jeweiligen Problem<br />
am besten auskennen. Dies ist eine klare Organisationsform von ›unten‹ nach ›oben‹. Am En<strong>de</strong> geschieht<br />
das, was auf <strong>de</strong>r ›untersten‹ Ebene beschlossen wur<strong>de</strong>. Die ›oberen‹ Ebenen sind Koordinations- und<br />
Ausführungsorgane. Delegiert wird also nicht Macht, son<strong>de</strong>rn Ausführung. Der Vorgang <strong>de</strong>r Wahl führt<br />
auf diese Weise immer weniger zum Verlust eigener Macht, und nimmt statt<strong>de</strong>ssen zunehmend <strong>de</strong>n<br />
Charakter einer technischen Angelegenheit an.<br />
Damit dies aber auch eine rein technische Angelegenheit bleibt, und auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Delegierten nicht<br />
eine neue Hierarchie entsteht, sind im Rätesystem einige ›Tricks‹ eingebaut. Zunächst einmal wer<strong>de</strong>n<br />
Delegierte meist nur auf begrenzte Dauer gewählt; in <strong>de</strong>r Regel ist das die Zeit, die die Erledigung <strong>de</strong>r<br />
ihnen übertragenen Vorhaben braucht. Weiterhin sind mit <strong>de</strong>r Delegierung keine Privilegien verbun<strong>de</strong>n,<br />
ebensowenig Befugnisse,<br />
118<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
die über die Aufgabe hinausgehen. Delegierte dürfen auch nicht nach Gutdünken han<strong>de</strong>ln und wichtige<br />
Entscheidungen ohne Rücksprache mit <strong>de</strong>r Basis treffen. Sie erhalten ein sogenanntes imperatives
Mandat, das heißt, sie bleiben <strong>de</strong>m Beschluß ihres jeweiligen Rates verpflichtet und wer<strong>de</strong>n von ihm auch<br />
kontrolliert.<br />
Bei all <strong>de</strong>m könnten aber durchaus informelle Eliten von Menschen entstehen, die, aus welchen Grün<strong>de</strong>n<br />
auch immer, stets aufs Neue zu Delegierten gewählt wer<strong>de</strong>n. Dann könnte sich trotz aller ›Tricks‹ im<br />
Laufe <strong>de</strong>r Zeit eine Struktur von Beherrschten und Herrschen<strong>de</strong>n herausbil<strong>de</strong>n. Zu diesem Zweck gibt es<br />
ein sogenanntes Rotationsprinzip. Das be<strong>de</strong>utet, daß Funktionsträger meist in regelmäßigen Abstän<strong>de</strong>n<br />
ausgewechselt wer<strong>de</strong>n. Nicht etwa, um beson<strong>de</strong>rs fähige und talentierte Menschen unterzubuttern,<br />
son<strong>de</strong>rn um möglichst vielen Menschen die Chance zu geben, ebenfalls Talente zu entwickeln,<br />
Kenntnisse zu erlangen, Sachverhalte zu beurteilen und Probleme zu lösen. Diese Auswechslung erfolgt<br />
nicht chaotisch o<strong>de</strong>r abrupt und auch nicht unbedingt nach <strong>de</strong>m Kalen<strong>de</strong>r. Die Nachfolger wer<strong>de</strong>n jeweils<br />
von <strong>de</strong>n Vorgängern eingearbeitet, und die Aufgaben wer<strong>de</strong>n im gleiten<strong>de</strong>n Wechsel übergeben.<br />
Wie wir sehen, ist das nicht unbedingt ein i<strong>de</strong>ales anarchistisches System. Es gibt nach wie vor ein ›oben‹<br />
und ›unten‹, sei es auch nicht im Sinne einer Hierarchie, son<strong>de</strong>rn von gleichberechtigten Ebenen, die nötig<br />
scheinen, um ein solches System in einer Massengesellschaft funktionsfähig zu halten. Nach wie vor gibt<br />
es eine ›Delegierung‹, wenn auch nicht von ›Macht‹, so doch von Ausführung. Auch an<strong>de</strong>re<br />
Schwachpunkte liegen auf <strong>de</strong>r Hand: Wieso sollte jemand sich <strong>de</strong>legieren lassen, wenn er davon keine<br />
Vorteile hat? Führt die Rotation nicht zu einem Schlamassel von inkompetenten Leuten und gehen<br />
Können und Kompetenz dabei nicht unter? Führt das imperative Mandat nicht gar zu kleinlicher<br />
Bespitzelung, die für je<strong>de</strong>n selbstbewußten Menschen ein Greuel sein muß? Wird unter diesen<br />
Bedingungen überhaupt jemand an Räten teilnehmen?<br />
Natürlich kann all das geschehen. Über die Wahrscheinlichkeit, ob so etwas funktioniert, haben wir schon<br />
ausführlich spekuliert. Vergessen wir aber zwei wichtige Tatsachen nicht:<br />
Erstens sind Räte nichts weiter als eine Struktur <strong>de</strong>r Verwaltung, sie ersetzen keine Gesellschaft. Gera<strong>de</strong><br />
diese an<strong>de</strong>re gesellschaftliche Realität aber, ohne die ein Rätesystem sinnlos wäre, könnte die sozialen,<br />
politischen und ethischen Voraussetzungen schaffen, in <strong>de</strong>nen diese Strukturen funktionieren und sich<br />
weiterentwickeln können. Am Beispiel <strong>de</strong>s Anreizes, ein Mandat zu übernehmen, wird dies klar: In einer<br />
libertären Solidargesellschaft mit Bedürfnisproduktion wie Anarchisten sie anstreben, wäre niemand mehr<br />
auf materielle Privilegien angewiesen. Etwas für die Allgemeinheit zu tun, wür<strong>de</strong> nach anarchistischer<br />
Auffassung ein allgemein übliches ›Prestige‹, das anstelle unserer heutigen Karriere- und Statussymbole<br />
treten könnte; diese wie<strong>de</strong>rum wür<strong>de</strong>n zunehmend absurd. Auch kleinliches Mißtrauen, karrierebedingte<br />
Fraktionsbildung o<strong>de</strong>r wirtschaftlicher Neid müßten in einer Solidargesellschaft mit hoher I<strong>de</strong>ntifikation<br />
immer mehr an Be<strong>de</strong>utung verlieren und so das Funktionieren einer Rä<strong>de</strong><strong>de</strong>mokratie för<strong>de</strong>rn. Wie sehr<br />
das Vorhan<strong>de</strong>nsein an<strong>de</strong>rer gesellschaftlicher Umstän<strong>de</strong> eine Voraussetzung für das Funktionieren<br />
basis<strong>de</strong>mokratischer Prin-<br />
119<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
zipien ist, zeigt übrigens die Erfahrung <strong>de</strong>r Grünen, die in <strong>de</strong>n Parlamenten damit gründlich auf <strong>de</strong>n<br />
Bauch gefallen sind. Die von ihnen beschlossenen Elemente wie Rotation und imperatives Mandat<br />
mußten ausgerechnet in einer Partei, die inmitten eines autoritären Parlamentsapparates konkurrieren<br />
wollte, scheitern. Allein die formale Struktur än<strong>de</strong>rte nichts an <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Realität von<br />
Konkurrenzdruck, Fraktionierung, Mißgunst, Karrierelust, Erfolgszwang und mangeln<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation.<br />
Zweitens betrachten wir Mo<strong>de</strong>lle. Mo<strong>de</strong>lle sind leicht zu kritisieren, solange sie nicht die Chance haben,<br />
sich zu bewähren und zu verän<strong>de</strong>rn. Kein Mo<strong>de</strong>ll ist frei von Schwachstellen und keines ist i<strong>de</strong>al. Nach<br />
meinem Dafürhalten ist auch Anarchie nur ein I<strong>de</strong>al, <strong>de</strong>m man sich vielleicht annähern kann, das aber<br />
wohl nie perfekt funktionieren wird. Deshalb sollten wir eine Rätestruktur nicht danach bewerten, ob sie<br />
Schwachstellen hat, son<strong>de</strong>rn danach, wo ihre Vorteile im Vergleich zu <strong>de</strong>m System liegen, in <strong>de</strong>m wir<br />
leben. Und dieses System hat nach Meinung <strong>de</strong>r Anarchisten nicht nur ›Schwachstellen‹, son<strong>de</strong>rn ist eine<br />
einzige Aneinan<strong>de</strong>rreihung von Wi<strong>de</strong>rsprüchen, die das Leben zerstört - sinnbildlich wie tatsächlich.
Das ist eine pragmatische Sichtweise und <strong>de</strong>shalb <strong>de</strong>m Gegenstand angemessen, <strong>de</strong>nn Räte sind eine<br />
pragmatische Erfindung <strong>de</strong>s Augenblicks. Durch eine Rätestruktur verschwin<strong>de</strong>t die Macht nicht, aber sie<br />
wird neutralisiert. Frei nach <strong>de</strong>m Motto "Verteilt die Macht, damit sie keinen mächtig macht!".<br />
Konsens<br />
Nun wer<strong>de</strong>n räte<strong>de</strong>mokratische Grundsätze ja nicht nur in großen Revolutionen gelebt o<strong>de</strong>r in eine<br />
kommen<strong>de</strong> Gesellschaft projiziert. Überall auf <strong>de</strong>r Welt, in Tausen<strong>de</strong>n von Projekten, Gruppen und<br />
Gemeinschaften, wird damit ständig experimentiert. Alle diese Experimente fin<strong>de</strong>n in einem feindlichen<br />
Umfeld statt, das nicht die Voraussetzungen einer solidarischen Gesellschaft erfüllt. Trotz<strong>de</strong>m<br />
funktionieren sie in zwischenmenschlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bereichen. Mit<br />
ihnen wer<strong>de</strong>n Firmen gemanagt und Wohngemeinschaften strukturiert, Kulturvereine bedienen sich ihrer<br />
ebenso wie Kommunen, politische Zirkel, soziale Bewegungen, Bürgerinitiativen, Gewerkschaften o<strong>de</strong>r<br />
Stadtteilgruppen. Sie funktionieren mehr o<strong>de</strong>r weniger gut, mit mehr o<strong>de</strong>r weniger Erfolg, aber gewiß<br />
nicht schlechter als die herkömmlichen hierarchischen Strukturen von Firmen, Parteien o<strong>de</strong>r Vereinen.<br />
Hierbei wer<strong>de</strong>n Erfahrungen gemacht, die Antworten auf weitere kritische Fragen geben können, die sich<br />
aus <strong>de</strong>r Rätei<strong>de</strong>e ergeben. Zum Beispiel die Frage, wie <strong>de</strong>nn die Entscheidungen in einem Rat überhaupt<br />
zustan<strong>de</strong> kommen.<br />
Ein Rat wür<strong>de</strong> sich kaum von einem Parlament unterschei<strong>de</strong>n, wenn in ihm ein Problem vorgestellt und<br />
andiskutiert wür<strong>de</strong>, um dann ruckzuck darüber abzustimmen. Mehrheitsentscheidungen sind zwar<br />
zeitsparend, neigen aber dazu, daß die Wi<strong>de</strong>rsprüche nicht wirklich auf <strong>de</strong>n Tisch kommen. Meist<br />
beharren die beteiligten Fraktionen auf ihrer vorgefaßten Meinung und suchen lieber hinter <strong>de</strong>n Kulissen<br />
nach Mehrheiten. Bei solch einer Konstellation wer<strong>de</strong>n Alternativen kaum noch zur Kenntnis gebracht,<br />
und es gibt auch keine<br />
120<br />
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Gelegenheit, darüber wirklich nachzu<strong>de</strong>nken. Je<strong>de</strong>r Parteitag, je<strong>de</strong>r Gewerkschaftstag und allem voran <strong>de</strong>r<br />
Bun<strong>de</strong>stag kennt mehr und mehr solch reine Abstimmungsorgien, in <strong>de</strong>nen in Rekordzeit mit großer<br />
Teilnahmslosigkeit Unmengen wichtiger Beschlüsse durchgepeitscht wer<strong>de</strong>n. Die Meinung von<br />
Min<strong>de</strong>rheiten fällt dabei unter <strong>de</strong>n Tisch.<br />
Daher neigen die meisten räteähnlichen Strukturen heute zum Konsensprinzip. Das be<strong>de</strong>utet, daß nach<br />
Möglichkeit ein gemeinsamer Standpunkt gefun<strong>de</strong>n wird, <strong>de</strong>r von allen getragen wer<strong>de</strong>n kann, selbst<br />
wenn nicht alle restlos davon überzeugt sind. Das dauert natürlich länger, führt jedoch dazu, daß die<br />
Probleme wirklich ausführlich dargestellt wer<strong>de</strong>n und Für und Wi<strong>de</strong>r zur Sprache kommen. Das bewirkt<br />
in <strong>de</strong>r Praxis überraschend oft, daß Menschen ihre vorgefaßte Meinung än<strong>de</strong>rn, weil sie zuhören und<br />
nach<strong>de</strong>nken. Zuhören und Nach<strong>de</strong>nken sind Tugen<strong>de</strong>n, die von <strong>de</strong>r Abstimmungsroutine fester Fraktionen<br />
normalerweise erstickt wer<strong>de</strong>n. Ist ein Konsens gefun<strong>de</strong>n, stellt sich oft ein Gefühl <strong>de</strong>r Befriedigung bei<br />
allen Beteiligten ein, was die I<strong>de</strong>ntifikation mit <strong>de</strong>m Ergebnis erhöht. In vielen Rätegremien gibt es<br />
überdies die Regelung, daß bei bestimmten Fragen von großer Tragweite je<strong>de</strong>s Mitglied ein Vetorecht hat,<br />
das heißt, es kann Einspruch erheben, so daß grundsätzlich keine Min<strong>de</strong>rheit unterdrückt wer<strong>de</strong>n kann. In<br />
diesem Falle müßte weiter nach einem an<strong>de</strong>ren Konsens gesucht wer<strong>de</strong>n.<br />
Soweit die Vorteile. Zu <strong>de</strong>n Nachteilen gehört sicherlich, daß die Konsenssuche langwierig sein kann und<br />
manchmal <strong>de</strong>n Apparat unbeweglich wer<strong>de</strong>n läßt. Und wenn überhaupt kein Kompromiß gefun<strong>de</strong>n wird,<br />
ist alles blockiert. Dann gibt es nur drei Möglichkeiten: das Problem bleibt ungelöst, die Gruppe teilt sich,<br />
o<strong>de</strong>r es wird am En<strong>de</strong> doch abgestimmt. Keines <strong>de</strong>r drei Ergebnisse wäre eine Katastrophe und keines<br />
wür<strong>de</strong> ein Scheitern <strong>de</strong>s Räteprinzips be<strong>de</strong>uten, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Konsens ist ja kein Dogma. Es kommt drauf an,<br />
welche Regeln sich <strong>de</strong>r Rat zuvor gegeben hat.
Im ersten Fall bliebe <strong>de</strong>r Druck, das Problem später doch zu lösen, für alle Betroffenen bestehen. Die<br />
Erfahrung zeigt, daß die Konsensfähigkeit sich nach einer Denk- und Erfahrungspause oft einstellt. Im<br />
zweiten Fall hätte sich eben herausgestellt, daß die Einheit dieser Gruppe künstlich war, so daß sich zwei<br />
Gruppen auf zwei verschie<strong>de</strong>nen Grundlagen neu formieren könnten. Im Sinne einer an-archischen<br />
Gesellschaft von kleinen Einheiten gemeinsamer Interessen wäre das durchaus legitim. Im dritten Falle<br />
wür<strong>de</strong> eine Abstimmung immerhin zu einer Entscheidung mit klaren Fronten führen, wobei alle wüßten,<br />
woran sie sind. Darum ist bei vielen Gruppen <strong>de</strong>r Konsens kein Muß, son<strong>de</strong>rn ein Soll, damit <strong>de</strong>r Rat sich<br />
nicht selbst schachmatt setzt. Es gibt Situationen, in <strong>de</strong>nen am En<strong>de</strong> eine Abstimmung eine passable<br />
Lösung ist. Sie ist aber selbst dann eine ›bessere‹ Abstimmung, weil zuvor wirklich je<strong>de</strong> Meinung gehört<br />
und erwogen wur<strong>de</strong>. Die Min<strong>de</strong>rheit müßte dann für sich entschei<strong>de</strong>n, ob ihr das Thema wichtig genug<br />
erscheint, die Gruppe zu verlassen, o<strong>de</strong>r ob sie das Ergebnis toleriert.<br />
Natürlich neigen Konsensentscheidungen ten<strong>de</strong>nziell immer auch zu einer Nivellierung. So mancher<br />
Konsens wur<strong>de</strong> schon aus Frustration o<strong>de</strong>r einfach aus Ermüdung gefun<strong>de</strong>n... Kritiker behaupten, <strong>de</strong>r<br />
Konsens führe zum grauen Mittelmaß, brillante I<strong>de</strong>en hätten es<br />
121<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
schwer, und unterm Strich bliebe die ganze Gruppe <strong>de</strong>shalb konservativ. Das ist nicht von <strong>de</strong>r Hand zu<br />
weisen, gilt aber für Mehrheitsentscheidungen genauso. Das ist kein Problem <strong>de</strong>r Rätestruktur, son<strong>de</strong>rn<br />
ein allgemeines Problem, wenn mehr als zwei Menschen etwas gemeinsam unternehmen wollen.<br />
Hiermit sind wir wie<strong>de</strong>r am Anfang angelangt: Die Antwort liegt letztendlich nicht in <strong>de</strong>r Struktur,<br />
son<strong>de</strong>rn im Menschen. Aber bessere Strukturen können ein Problem ganz wesentlich entschärfen. Etwa<br />
durch die Ten<strong>de</strong>nz, daß sich in kleinen Gruppen vieles schon in <strong>de</strong>n alltäglichen Beziehungen erledigte,<br />
ohne jemals eine Angelegenheit <strong>de</strong>s Rates zu wer<strong>de</strong>n. O<strong>de</strong>r durch die Tatsache, daß je<strong>de</strong> Wohnung, je<strong>de</strong>s<br />
Büro, je<strong>de</strong> Werkstatt, je<strong>de</strong>s Atelier ja autonom wären, und das allermeiste dort schon frei zwischen ganz<br />
wenigen Menschen entschie<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, die gleichfalls respektvoll und offen miteinan<strong>de</strong>r umgingen. Und<br />
natürlich durch die Übereinkunft, daß niemand sich in Dinge einzumischen hat, die ihn nichts angehen,<br />
was einen großen individuellen Freiraum schaffen wür<strong>de</strong>. Letztendlich aber spielen, wenn all das<br />
gesellschaftlich funktionieren soll, subjektive Dinge wie Vertrauen, Toleranz, I<strong>de</strong>ntifizierung und<br />
Souveränität eine viel größere Rolle als noch so klug ausgetüftelte Strukturen. Die Frage, ob man ein<br />
Problem zu einer Grundsatzfrage macht und damit seinen sozialen Zusammenhalt gefähr<strong>de</strong>t o<strong>de</strong>r<br />
statt<strong>de</strong>ssen souverän auch Entscheidungen tolerieren kann, die man selbst so nicht getroffen hätte, hängt<br />
sehr stark davon ab, wie wohl man sich ansonsten fühlt und wie sehr man mit <strong>de</strong>r ganzen Gruppe<br />
verbun<strong>de</strong>n ist.<br />
Vielleicht sind <strong>de</strong>shalb Abstimmungen in räte<strong>de</strong>mokratischen Projekten so rar und ein Veto eine ganz<br />
seltene Erscheinung. Ich selbst verbringe mein Leben seit vielen Jahren mehr o<strong>de</strong>r weniger intensiv in<br />
menschlichen und sachlichen Zusammenhängen, die nach solchen Überlegungen funktionieren. Mir<br />
persönlich liegt eine <strong>de</strong>rartige Erfahrung näher als alles, was ich in Büchern über die Pariser Commune<br />
o<strong>de</strong>r die Spanische Revolution lesen könnte. Meine Erfahrung lehrte mich zweierlei; Dieses System<br />
funktioniert in <strong>de</strong>n wesentlichen Punkten besser und angenehmer als alles, was ich bisher in autoritären<br />
Strukturen erlebt habe. Und: ich habe mich fast immer als freier und schöpferischer Mensch, für <strong>de</strong>n ich<br />
mich halte, verwirklichen können. Hingegen habe ich viele Menschen erlebt, die in dieser Umgebung<br />
überhaupt erst gelernt haben, selbstbewußt und souverän zu <strong>de</strong>nken und zu han<strong>de</strong>ln.<br />
Historische Beispiele<br />
Das Wort Räte wird heute nicht mehr gern verwen<strong>de</strong>t. Das liegt überwiegend an geschichtlichen<br />
Vorbil<strong>de</strong>rn, die zum Teil keine positiven Erinnerungen wecken. An die Sowjets habe ich schon erinnert.<br />
Auch viele an<strong>de</strong>re Rätebeispiele aus <strong>de</strong>r Geschichte sind mit revolutionären o<strong>de</strong>r kriegerischen<br />
Ereignissen verbun<strong>de</strong>n und waren <strong>de</strong>mzufolge fast immer blutig und selten ›lupenrein‹. Längere Phasen<br />
friedlicher Entwicklungen waren solchen revolutionären Räten fast nie vergönnt. Deshalb fin<strong>de</strong>n wir in
<strong>de</strong>n Alltagserfahrungen <strong>de</strong>r letzten zwanzig Jahre, wo unter friedlichen Bedingungen räteähnliche<br />
Mo<strong>de</strong>lle entstan<strong>de</strong>n, die diese I<strong>de</strong>e weiterentwickelten, auch an<strong>de</strong>re Namen. Statt Räte<strong>de</strong>mokratie<br />
sprechen wir von Basis<strong>de</strong>mokratie, die in libertären Kreisen ebenso praktiziert wird wie etwa bei <strong>de</strong>n<br />
122<br />
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kirchlichen Basisgemein<strong>de</strong>n Lateinamerikas. Statt Rat hat sich in Deutschland das kaum schönere Wort<br />
Plenum durchgesetzt, und statt Rätesystem benutzt man lieber treffen<strong>de</strong>re und weitergehen<strong>de</strong> Begriffe wie<br />
Selbstverwaltung o<strong>de</strong>r Basis<strong>de</strong>mokratie. In <strong>de</strong>n 70erJahren kreierten Robert Jungk und Norbert R. Müllert<br />
im Rahmen <strong>de</strong>r Bürgerinitiativen eine sehr erfolgreiche Weiterentwicklung basis<strong>de</strong>mokratischen<br />
Zuschnitts, die sogenannten "Zukunftswerkstätten". Sie ergänzten das klassische "Räte"-Muster durch ein<br />
Instrument, das bei <strong>de</strong>r Erschließung <strong>de</strong>s kreativen Potentials helfen sollte. Tatsächlich machen sie bis<br />
heute vielen Menschen Mut, sich phantasievoll in die Gesellschaft einzumischen - Menschen, die sich<br />
sonst kaum getraut hätten, auch nur <strong>de</strong>n Mund aufzumachen.<br />
Die großen historischen Erfahrungen eignen sich trotz ihrer spektakulären Auftritte kaum zu<br />
Rückschlüssen auf die Tauglichkeit <strong>de</strong>s Rätesystems in langen Zeiten <strong>de</strong>r Normalität. Die Experimente<br />
dauerten von einer Woche bis zu wenigen Jahren, und in diesem Rahmen haben sie sich durchaus<br />
bewährt. Aber dieser Rahmen war das Unnormale. In vielen Fällen repräsentierten die Räte nur bestimmte<br />
Bereiche <strong>de</strong>r Bevölkerung. So dominierten in <strong>de</strong>r Deutschen Revolution die Arbeiter- und Soldatenräte;<br />
Bauern und Frauen etwa kamen nur am Ran<strong>de</strong> vor. In Rußland, Italien und Frankreich waren es<br />
überwiegend Fabrikräte, von <strong>de</strong>nen Initiativen ausgingen. Und vor allem gab es nur ganz selten reine<br />
Räteexperimente. Zumeist existierte neben <strong>de</strong>n Räten noch eine an<strong>de</strong>re Realität, auch dann, wenn sie (wie<br />
in <strong>de</strong>r Münchner Räterepublik) formal abgegrenzt war o<strong>de</strong>r sich (wie in Rußland) eigentlich <strong>de</strong>n Räten<br />
unterordnete: die "bürgerliche Welt", Parteien, Interessengruppen, zum Teil sogar Regierungen o<strong>de</strong>r<br />
feindliche Armeen im Kriegszustand. Entsprechend hektisch kam es zu Allianzen und faulen<br />
Kompromissen, die in <strong>de</strong>r Hoffnung eingegangen wur<strong>de</strong>n, mit diesen Gegnern fertig zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Fast alle frühen Räteexperimente beschränkten sich nur auf die Grundgedanken dieser I<strong>de</strong>e:<br />
Versammlung, Debatte, Delegation, imperatives Mandat. Entscheidungen fielen durchweg in<br />
mehrheitlicher Abstimmung. Für solch feinsinnige Betrachtungen wie Konsens, I<strong>de</strong>ntifikation o<strong>de</strong>r<br />
Min<strong>de</strong>rheitenschutz hatte man entwe<strong>de</strong>r keinen Sinn, keine Zeit o<strong>de</strong>r keine Gelegenheit - vor allem aber<br />
fehlte es noch an einer umfassen<strong>de</strong>n Ratetheorie. Die wur<strong>de</strong> erst in <strong>de</strong>n zwanziger und dreißiger Jahren<br />
entwickelt, als die meisten praktischen Ansätze schon besiegt waren. Hier sind in Deutschland vor allem<br />
Namen wie Karl Korsch, Otto Rühle und Paul Mattick zu nennen, und in <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>n Henriette<br />
Roland-Holst, Anton Pannekoek und Herman Gorter, die das Konzept <strong>de</strong>s sogenannten<br />
Rätekommunismus entwickelten. Auf sie konnte wenig später direkt o<strong>de</strong>r indirekt die Spanische<br />
Revolution zurückgreifen, ebenso wie in <strong>de</strong>n siebziger Jahren die Selbstverwaltungsbewegung <strong>de</strong>r<br />
italienischen und französischen Fabrikarbeiter. Schwachpunkt dieses ›Rätekommunismus‹ blieb jedoch,<br />
daß sich seine Theoretiker stark auf die Arbeitswelt bezogen und sich nie ganz von <strong>de</strong>r Vorstellung einer<br />
Partei freimachen konnten, die in ihrer Vision von Räte<strong>de</strong>mokratie nach wie vor eine prägen<strong>de</strong> Rolle<br />
spielen sollte. Das ist erstaunlich, <strong>de</strong>nn nach <strong>de</strong>r inneren Logik <strong>de</strong>r Rätei<strong>de</strong>e steht sie <strong>de</strong>m Parteiprinzip<br />
ganz und gar entgegen. Räte sind flexibel, Parteien starr. Räte garantieren die größtmögliche Nähe<br />
123<br />
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zur Basis, Parteien vertrauen ihrem Apparat. Räte minimieren Hierarchie, Parteien sind auf Hierarchie<br />
ausgelegt. Räte <strong>de</strong>legieren Funktionen, Parteien <strong>de</strong>legieren Macht. Räte leben von <strong>de</strong>r Diskussion,<br />
Parteien von <strong>de</strong>r Anordnung. Räte vernetzen sich <strong>de</strong>zentral, Parteien sind Zentralen.<br />
Den Anarchismus kann man heute mit Fug und Recht als <strong>de</strong>n Erben <strong>de</strong>s Rätegedankens ansehen. Nicht in
<strong>de</strong>m Sinne, daß sich Anarchie in <strong>de</strong>r Räte<strong>de</strong>mokratie erschöpft, son<strong>de</strong>rn daß seine historischen<br />
Erfahrungen und theoretischen Impulse aufgegriffen und kritisch weiterentwickelt wur<strong>de</strong>n. Sie fließen so<br />
in weitaus vielschichtigere Mo<strong>de</strong>lle <strong>de</strong>r Vernetzung ein, in <strong>de</strong>nen es längst nicht mehr nur darum geht,<br />
wie Arbeiter eine Fabrik besetzen und verwalten könnten.<br />
Literatur:<br />
# Günter Hillmann (Hrsg.): Die Rätebewegung (2 Bd.) Reinbek 1972, Rowohlt, 250 u. 220 S.<br />
# Gottfried Mergner (Hrsg.): Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands Reinbek 1971, Rowohlt, 220<br />
S.<br />
# Otto Rühle: Perspektiven einer Revolution in hochindustrialisierten Län<strong>de</strong>rn u.a. Schriften Reinbek<br />
1971, Rowohlt, 220 S.<br />
# Karl Korsch: Schriften zur Sozialisierung Frankfurt/M. 1969, Europäische Verlagsanstalt, 126 S,<br />
# Henriette Roland-Holst: Die revolutionäre Partei Berlin 1972, Kollektiv, 66 S.<br />
# Peter-Paul Zahl (Hrsg.): Räte (Textsammlung) Berlin o.J. (1972?), pp-Verlag, 76 S.<br />
# F. Baruch, E. Gerlach, A Lehning, R. Rocker, H. Rüdiger: Arbeiterselbstverwaltung, Räte,<br />
Syndikalismus Berlin 1973, Karin Kramer, 96 S.<br />
# Paul Cardan: Arbeiterräte und selbstverwaltete Gesellschaft Hamburg o.J, (1975?), MaD, 143 S.<br />
# M. Bookchin, E. Colombo, L. Lanza u.a.: Selbstverwaltung - die Basis einer befreiten Gesellschaft<br />
Reutlingen 1981, Trotz<strong>de</strong>m, 188 S.<br />
# Robert Jungk, Norbert R. Müllert: Zukunftswerkstätten München 1990, Heyne, 160 S.<br />
Kapitel 18<br />
Avantgar<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Hefeteig ?<br />
"Revolutionäre haben die Pflicht, an<strong>de</strong>ren dabei zu helfen, ebenfalls Revolutionäre zu wer<strong>de</strong>n,<br />
aber nicht die Pflicht, ›Revolution zu machen‹. Und das ist nur dann möglich,<br />
wenn <strong>de</strong>r Revolutionär o<strong>de</strong>r die Revolutionärin zuerst<br />
bei sich selbst mit <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung anfängt."<br />
- Murray Bookchin -<br />
SOBALD ANARCHISTEN DAMIT ANFANGEN, in diesem ganzen Szenario ihre eigene Rolle zu<br />
bestimmen, geraten sie in ein fürchterliches Dilemma*. Wir haben gesehen, wie zornig Anarchisten<br />
kritisieren können. Wir wur<strong>de</strong>n Zeugen ihrer schönen Visionen. Wir hörten auch, was sie so treiben. Was<br />
wir aber noch nicht wissen, ist, wie sie sich selbst in jenem Prozeß <strong>de</strong>r Umwälzung sehen, als <strong>de</strong>r<br />
Anarchie letztlich verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n muß.<br />
Sie könnten es sich ganz einfach machen: "Erstens, wir sind Anarchisten. Zweitens, wir haben <strong>de</strong>n<br />
Durchblick. Drittens, die meisten Menschen haben keinen Durchblick. Viertens, Unterdrücker haben auch<br />
<strong>de</strong>n Durchblick, wollen aber Unterdrücker bleiben und sind <strong>de</strong>shalb unsere Fein<strong>de</strong>. Fünftens, wir kämpfen<br />
die Fein<strong>de</strong> nie<strong>de</strong>r. Sechstens, damit das geht, bil<strong>de</strong>n wir Durchblicker eine verschworene Gemeinschaft.<br />
Siebtens, die zeigt <strong>de</strong>n Menschen ohne Durchblick, wo's lang geht. Achtens, wenn die nicht wollen,<br />
helfen wir ihnen auf die<br />
124<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Sprünge. Neuntens, nach <strong>de</strong>r Revolution schaffen wir dann alles Schlechte ab. Zehntens, wer das Gute<br />
nicht will, ist unser Feind." (Und so weiter, ab Punkt fünf...)<br />
"Alles wird gut, wir wissen <strong>de</strong>n Weg, folgt uns!" - kann das das Strickmuster anarchistischen Wirkens<br />
sein?
Ich hoffe, meine Leser haben die Ironie bemerkt und wissend geschmunzelt. Es wäre nicht nur zu einfach,<br />
son<strong>de</strong>rn vor allem: nicht die Spur anarchistisch. Bei diesen ›zehn Geboten‹ fehlte nur noch das "Amen!".<br />
Warum aber dann dieses Denkmuster? Weil es Menschen gab und gibt, die allen Ernstes so <strong>de</strong>nken und<br />
han<strong>de</strong>ln, wenngleich sie das natürlich an<strong>de</strong>rs ausdrücken. Bei Jesuiten, US-Präsi<strong>de</strong>nten,<br />
Fundamentalisten, Marxisten-Leninisten o<strong>de</strong>r Faschisten kann uns so eine Auffassung nicht verwun<strong>de</strong>rn,<br />
aber es gab und gibt tatsächlich auch Anarchisten, die ähnliche Vorstellungen im Kopf haben.<br />
"Am Anfang war <strong>de</strong>r Zorn" – so lautete nicht zufällig <strong>de</strong>r erste Satz dieses Buches. Zorn – Auflehnung –<br />
Umsturz, das mag zwar verständlich sein, aber zu kurz gedacht. In dieser gedanklichen Verkürzung lauern<br />
Gefahren, die das Ziel gefähr<strong>de</strong>n. Ein umstürzlerischer, von Zorn getriebener Empörer neigt dazu, seine<br />
eigene Rolle zu überhöhen. In<strong>de</strong>m er reagiert, nimmt er die Realität nur eingeschränkt wahr. Es ist, als ob<br />
jemand Scheuklappen trüge, unter geistiger Kurzatmigkeit litte und dabei einen sozialen Marathonlauf<br />
absolvieren müßte. Ist die Optik verzerrt und die Perspektive beengt, sieht man sich selbst groß, wichtig<br />
und verklärt: Ich bin Revolutionär. Ich mache die Revolution. Revolution ist, was ich vorgebe.<br />
Zwangsbeglückung<br />
Eine solche Vorstellung geht davon aus, daß eine kleine Gruppe von Durchblickern die moralische und<br />
politische Pflicht hat, <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>r Menschheit zu führen und ihn - notfalls mit Zwang - zu beglücken. Die<br />
Rolle, die Revolutionäre hierbei spielen, nennen wir Avantgar<strong>de</strong>. Das ist ein militärischer Ausdruck, und<br />
er be<strong>de</strong>utet "Vorhut".<br />
Absolute Avantgar<strong>de</strong>-Gläubige waren die Marxisten-Leninisten, die in ihrem Parteikonzept diese<br />
Vorstellung bis zum Exzess vorangetrieben haben. Die Rolle <strong>de</strong>s Revolutionärs als Führer ist in ihrer<br />
Theorie unumstritten. In ihrer Praxis wird dies an Extrembeispielen wie <strong>de</strong>n Massakern <strong>de</strong>r "Roten<br />
Khmer" in Kambodscha o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Anspruch <strong>de</strong>r "Roten Armee Fraktion" in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik <strong>de</strong>utlich,<br />
fin<strong>de</strong>t sich aber ebenso in <strong>de</strong>r oberlehrerhaften Nettigkeit <strong>de</strong>r mausgrauen Führungsopas <strong>de</strong>r Ex-DDR<br />
wie<strong>de</strong>r, wie in <strong>de</strong>m unduldsamen Herrschaftsanspruch <strong>de</strong>s charismatischen Kuba-Diktators Fi<strong>de</strong>l Castro,<br />
<strong>de</strong>r sich selbst maximo li<strong>de</strong>r nennen ließ: oberster Führer.<br />
Dabei darf man ruhig unterstellen, daß die Avantgardisten reinsten Gewissens von sich glauben, sie täten<br />
etwas Gutes. Unrechtsbewußtsein fin<strong>de</strong>t man <strong>de</strong>shalb auch bei <strong>de</strong>njenigen ›Revolutionären‹ nicht, die die<br />
unaussprechlichsten Scheußlichkeiten auf <strong>de</strong>m Gewissen haben. Schließlich tun sie das Richtige für ein<br />
gutes Ziel, und wenn diejenigen, für die sie dieses Opfer bringen, ihre Segnungen nicht erkannt haben, so<br />
ist das <strong>de</strong>ren Pech.<br />
125<br />
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Das Konzept einer Avantgar<strong>de</strong> bedingt notwendigerweise <strong>de</strong>n Führungsanspruch einer Elite. Das führt in<br />
<strong>de</strong>r Praxis zu einer neuen Herrschaft. Diese Herrschaft ist mit Privilegien verbun<strong>de</strong>n. Nach diesem Muster<br />
hätten wir, selbst wenn <strong>de</strong>r Umsturz glückt, nach kurzer Zeit wie<strong>de</strong>r die alten Verhältnisse, nur mit neuen<br />
Gesichtern. Das wäre natürlich keine Revolution.<br />
Es wäre selbst dann keine Revolution, wenn unter <strong>de</strong>m neuen Regime etwa soziale Verbesserungen<br />
einträten, <strong>de</strong>r Reichtum gerechter verteilt, <strong>de</strong>r Hunger besiegt o<strong>de</strong>r das Analphabetentum bekämpft wür<strong>de</strong>.<br />
Nicht, daß dies geringzuachten wäre. Nur ein Zyniker* wird ›übersehen‹, daß China heute seine<br />
Bevölkerung ernährt und die Menschen in Kuba lesen und schreiben können. Aber bitte: das alleine ist<br />
keine Revolution. Das bringt <strong>de</strong>r Privatkapitalismus hier und da auch fertig. Solange es nach wie vor<br />
Ausbeutung, Herrschaft, Unterdrückung, Willkür, Privilegierte und Ungerechtigkeit gibt, sind die<br />
Verhältnisse eben nicht ›grundlegend umgewälzt‹ wor<strong>de</strong>n – und genau das heißt ›Revolution‹.<br />
Überdies stellt sich die Frage, ob man überhaupt jeman<strong>de</strong>n gegen seinen Willen beglücken kann. Wird die<br />
›Revolution‹ von einer Avantgar<strong>de</strong> ›durchgesetzt‹, ist sie wie ein übergestülpter Hut. Sie ist nicht in <strong>de</strong>n
Menschen, sie kommt nicht aus ihnen heraus, fußt nicht auf ihren Erfahrungen, Erwartungen und<br />
Überzeugungen. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: sie ist schwach, und daran än<strong>de</strong>rt auch die Begeisterung nichts, mit<br />
<strong>de</strong>r die Menschen nach Umstürzen auf <strong>de</strong>n Straßen tanzen und die mutigen Revolutionäre auf ihren<br />
Schultern zu tragen pflegen. Diese strukturelle Schwäche einer Revolution mißt sich daran, was nach vier,<br />
fünf Jahren von dieser Begeisterung noch übriggeblieben ist! Schwäche wird dann meist durch<br />
›Sicherheitsorgane‹ kompensiert*. Es ist kein Zufall, daß, je kleiner die Elite <strong>de</strong>r Avantgar<strong>de</strong> ist, <strong>de</strong>sto<br />
größer <strong>de</strong>r Apparat von Einrichtungen zum ›Schutze <strong>de</strong>r Revolution ausfällt. Ob das nun Dscherschinskis<br />
Tscheka*, Mielkes Stasi, Ceaucescus Securitate o<strong>de</strong>r Castros Volkstribunale waren – niemand nimmt<br />
ihnen ab, sie seien nur dazu da gewesen, feindliche Agenten, Spione und Saboteure zu verfolgen.<br />
Es gibt also zwei gute Grün<strong>de</strong>, warum das Konzept <strong>de</strong>r Avantgar<strong>de</strong> für eine anarchistische Revolution<br />
nicht taugt: Erstens ist es unfrei, und zweitens führt es nicht zu einer Revolution.<br />
Warum aber haben dann Anarchisten ein Dilemma?<br />
In <strong>de</strong>r Zwickmühle<br />
Sie tun sich schwer, ein an<strong>de</strong>res Konzept für ihre Rolle in <strong>de</strong>r Menschheit zu fin<strong>de</strong>n, und das ist<br />
zugegebenermaßen ja auch nicht leicht. Objektiv betrachtet erfüllen Anarchisten )a tatsächlich einige <strong>de</strong>r<br />
Voraussetzungen, Avantgar<strong>de</strong> zu sein: Sie haben ein Konzept einer an<strong>de</strong>ren, möglicherweise besseren<br />
Gesellschaft und stehen mit dieser I<strong>de</strong>e ziemlich alleine - wer wollte das bestreiten? Sie versuchen, diese<br />
Gesellschaft zu erreichen und heben sich dadurch von <strong>de</strong>n meisten an<strong>de</strong>ren Menschen ab. Sie treiben<br />
diese Entwicklung voran und wer<strong>de</strong>n dadurch zu einer Gruppe, die an<strong>de</strong>rs ist. Sie versuchen, an<strong>de</strong>re<br />
Menschen zu überzeugen und zum Mitmachen zu bewegen, entwickeln Mo<strong>de</strong>lle, Strategien und Aktionen<br />
und wer<strong>de</strong>n damit zum Vorboten <strong>de</strong>ssen, was sie als Zukunft ansehen.<br />
126<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Vom Vorboten zur Avantgar<strong>de</strong> aber ist es nur noch ein kleiner Schritt. Auf diesen kleinen Unterschied<br />
kommt es jedoch an. Es ist <strong>de</strong>r Unterschied in <strong>de</strong>r eigenen Einschätzung. Er fußt auf <strong>de</strong>r Vorstellung von<br />
<strong>de</strong>m, was eine ›Revolution‹ ist und folglich <strong>de</strong>r Rolle, die ein ›Revolutionär‹ hierbei zu spielen hat. Die<br />
Frage also nach <strong>de</strong>m Selbstverständnis <strong>de</strong>r Anarchisten.<br />
Heute sehen die meisten Anarchisten die Revolution als einen Prozeß, <strong>de</strong>r sich in stetigen Entwicklungen<br />
und plötzlichen Explosionen vollzieht. In <strong>de</strong>r Vergangenheit war das Augenmerk fast gänzlich auf diese<br />
›Explosionen‹ gerichtet, die man mit Revolution gleichzusetzen pflegte. Dabei han<strong>de</strong>lt es sich jedoch<br />
lediglich um Revolten, Umstürze, die manchmal unumgänglich wer<strong>de</strong>n, damit die Umwälzung einen<br />
Wi<strong>de</strong>rstand durchbricht, um ihren Weg fortzusetzen. Revolution aber ist nicht, wenn's knallt, son<strong>de</strong>rn,<br />
wenn's sich wen<strong>de</strong>t. Starrt man nur auf <strong>de</strong>n Knall, dann mag die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Avantgar<strong>de</strong> ganz tauglich sein,<br />
<strong>de</strong>nn für <strong>de</strong>n Knalleffekt ist sie allemal gut.<br />
Früher hingen fast alle revolutionären Bewegungen <strong>de</strong>m ›Knalleffekt‹ an, auch die große Mehrheit <strong>de</strong>r<br />
Anarchisten. Zwar kann man einem Bakunin nicht gera<strong>de</strong> vorwerfen, er hätte sich nicht ausgiebig<br />
Gedanken über die künftige Gesellschaft gemacht, aber entstehen sollte sie bei ihm doch überwiegend aus<br />
<strong>de</strong>r Revolte heraus. Folglich sieht er anarchistische Revolutionäre durchaus in einer gewissen<br />
Avantgar<strong>de</strong>funktion. Immerhin tut er das kritisch und betrachtet dies als eine Art notwendiges Übel, <strong>de</strong>m<br />
Zügel anzulegen seien, wenn er schreibt: "Sie läßt <strong>de</strong>r revolutionären Bewegung <strong>de</strong>r Massen ihre volle<br />
Entwicklung und ihren Aufbau von unten nach oben durch freiwillige Fö<strong>de</strong>rationen und die unbedingte<br />
Freiheit, aber sie wacht stets darüber, daß hierbei nie Autoritäten, Regierungen und Staaten wie<strong>de</strong>r<br />
gebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n können." Dagegen wäre nicht viel einzuwen<strong>de</strong>n, außer <strong>de</strong>r kritischen Frage, was <strong>de</strong>nn die<br />
"revolutionäre Bewegung <strong>de</strong>r Massen" sei und warum die Anarchisten nicht dazugehörten, son<strong>de</strong>rn<br />
offenbar irgendwo daneben o<strong>de</strong>r darüber stün<strong>de</strong>n?
Eine an<strong>de</strong>re Vorstellung von Revolution<br />
Woher aber sollte ein solch gewaltiger Stimmungsumschwung "<strong>de</strong>r Massen" kommen? Not und<br />
revolutionäre Drohgebär<strong>de</strong> alleine genügten dazu offenbar nicht. Und auch <strong>de</strong>r ›Knall‹ bringt nicht<br />
unbedingt ›Wen<strong>de</strong>‹.<br />
Während Marx und seine Nachfolger emsig an einer Steigerung ihres Avantgar<strong>de</strong>-Mo<strong>de</strong>lls arbeiteten,<br />
befielen die Anarchisten schon bald Zweifel an ihren bisherigen Konzepten. Bereits bei Kropotkin,<br />
Malatesta, Nettlau und <strong>de</strong>m spanischen Anarchisten Tarrida <strong>de</strong>l Mármol fin<strong>de</strong>n wir differenziertere<br />
Vorstellungen von Revolution. Um die Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> schließlich fand <strong>de</strong>r Anarchismus in Gustav<br />
Landauer einen <strong>de</strong>r tiefsten Denker, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Vielschichtigkeit revolutionärer Prozesse auch praktische<br />
Konsequenzen zog.<br />
Nach seiner Meinung ist je<strong>de</strong>r Umsturz zum Scheitern verurteilt, <strong>de</strong>r nicht auf <strong>de</strong>r breiten Überzeugung<br />
<strong>de</strong>rjenigen beruht, für die er gedacht sein soll. Folglich müßten die Bedingungen für eine Revolution<br />
vorher bereits geschaffen wer<strong>de</strong>n. Es gälte, die nötigen Tugen<strong>de</strong>n praktisch zu erlernen, Erfahrungen zu<br />
sammeln. Gegenmo<strong>de</strong>lle vorzubereiten<br />
127<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
und Vertrauen in die eigene Kraft zu gewinnen. Nicht bei einer Avantgar<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn in Form einer<br />
breiten, sozialen Bewegung. Diese wäre dann sowohl in <strong>de</strong>r Lage, <strong>de</strong>n ›Knall‹ wie die ›Wen<strong>de</strong>‹<br />
herbeizuführen und <strong>de</strong>r Clou an <strong>de</strong>r Sache sei, daß, je tiefer diese Bewegung reiche, <strong>de</strong>sto kleiner und<br />
unblutiger am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Knall ausfallen müsse. Wobei Landauer übrigens Wert darauf legt, die Tiefe <strong>de</strong>r<br />
Bewegung nicht nur an ihrer Größe, son<strong>de</strong>rn vor allem an ihren Qualitäten zu bemessen.<br />
Das ist, vereinfacht gesagt, das ›Strickmuster‹ mo<strong>de</strong>rner anarchistischer Revolutionstheorie, auf das<br />
Landauer natürlich nicht als einziger gekommen ist. Interessanterweise entwickelten die<br />
klassenkämpferischen Anarchisten zur gleichen Zeit mit <strong>de</strong>m Anarchosyndikalismus ein<br />
Gewerkschaftsmo<strong>de</strong>ll, das <strong>de</strong>r gleichen Grundi<strong>de</strong>e folgt; soziale Bewegung, Knall und Wen<strong>de</strong>, und: je<br />
tiefer die Bewegung, <strong>de</strong>sto gebremster <strong>de</strong>r Knall.<br />
Eine solche Bewegung kann, je nach Situation, in Opposition und Kampf gegen die bestehen<strong>de</strong><br />
Gesellschaft entstehen — wie <strong>de</strong>r Syndikalismus —, o<strong>de</strong>r sich parallel zu ihr entwickeln und weitgehend<br />
abkoppeln. Diese I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s teilweisen Ausstiegs, in <strong>de</strong>m Freiräume für soziale Experimente als Urzellen<br />
einer künftigen Gesellschaft entstehen können, ist das Originelle an Landauers praktischen<br />
Konsequenzen, die er aus seiner Revolutionstheorie ableitete. Insofern ist er ebenso ein Inspirator <strong>de</strong>r<br />
Kibuzzim in Palästina wie <strong>de</strong>r colectivida<strong>de</strong>s libertarias in Spanien und sogar ein Urahn <strong>de</strong>s heutigen<br />
›Projektanarchismus‹, <strong>de</strong>r sich vermehrt seit <strong>de</strong>n achtziger Jahren ausbreitet.<br />
Menschen mit so unterschiedlichen praktischen Ansätzen zur Befreiung wie Martin Buber, Max Nettlau,<br />
Rudolf Rocker, Augustin Souchy o<strong>de</strong>r Erich Mühsam stehen in <strong>de</strong>r Tradition <strong>de</strong>r Landauerschen<br />
Revolutionsvorstellung. Diese ›Grammatik <strong>de</strong>r Revolution‹ läßt sich bei Gandhis lautlosem Aufstand<br />
ebenso wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>cken wie in <strong>de</strong>r Spanischen Revolution, bei <strong>de</strong>r anarchopazifistischen Grassroot-<br />
Bewegung wie in Murray Bookchins Öko-Anarchismus o<strong>de</strong>r bestimmten Bereichen <strong>de</strong>r neuen sozialen<br />
Bewegungen bis hin zu bolo'bolo*. Erich Mühsam, <strong>de</strong>r Dichter, faßte sie in <strong>de</strong>n schönen Aphorismus<br />
"Wirklichkeit wächst aus Verwirklichung".<br />
Abschied vom einsamen Hel<strong>de</strong>n<br />
Ein solches Revolutionskonzept bietet auch <strong>de</strong>njenigen, die sich für Revolutionäre halten, die Chance zu<br />
einem an<strong>de</strong>ren Selbstverständnis. Sie wären damit von <strong>de</strong>r Schizophrenie entbun<strong>de</strong>n, letztendlich<br />
"diktatorische Befreier" zu sein:
Nicht Revolutionäre ›machen‹ die Revolution, son<strong>de</strong>rn die Menschen, die ihr Leben än<strong>de</strong>rn wollen. Wenn<br />
die nicht mitmachen, wäre es keine Revolution, son<strong>de</strong>rn ein Putsch, bestenfalls eine Revolte.<br />
Revolutionäre bewegen sich inmitten dieser Menschen und helfen dabei, Ansätze zu fin<strong>de</strong>n, aufzubauen<br />
und voranzutreiben. Diese Ansätze können die unterschiedlichsten Formen haben: von geistigem Wirken<br />
über Gegenmo<strong>de</strong>lle, soziale Bewegungen, Wi<strong>de</strong>rstand, bis hin zur Organisation <strong>de</strong>r Revolte, wenn sie<br />
notwendig wird. Wichtig ist, daß sich diese Ansätze nicht isolieren, daß sie an <strong>de</strong>n realen Problemen und<br />
Bedürfnissen <strong>de</strong>r Menschen ansetzen und Zugänge schaffen, damit sie wachsen.<br />
128<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Hier wäre <strong>de</strong>r Platz <strong>de</strong>s Revolutionärs, hier könnte er wirken. Je mehr er inmitten solcher Menschen<br />
wirkte, <strong>de</strong>sto weniger höbe er sich von ihnen ab. Er wäre Teil ihrer Bewegung, nicht ihr Lenker. In einem<br />
solchen Prozeß lernten die Menschen ebenso von ihm wie er von <strong>de</strong>n Menschen lernen könnte – er<br />
verän<strong>de</strong>rte sich.<br />
Es klingt lächerlich, aber manchen E<strong>de</strong>lrevoluzzern muß es einfach mal gesagt wer<strong>de</strong>n: Revolutionäre<br />
sind auch bloß Menschen! Vor allem sind sie nichts Besseres, und ob das, was sie glauben zu wissen, so<br />
richtig und gut ist, muß sich erst noch herausstellen. Ihre Aufgabe ist es je<strong>de</strong>nfalls nicht, <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>r<br />
Menschheit zu ›beglücken‹, son<strong>de</strong>rn sich mit ihnen gemeinsam etwas zu erkämpfen, was man bei einem<br />
verzeihlichen Hang zur Romantik meinethalben ›Glück‹ nennen kann.<br />
Dieses ›Glück‹ muß aber auch das Leben <strong>de</strong>s Revolutionärs betreffen. Er tut das, was er tut, nicht in erster<br />
Linie für an<strong>de</strong>re, son<strong>de</strong>rn für sich. Selbstlose Hel<strong>de</strong>n sind unglaubwürdig, und wenn <strong>de</strong>r Held selbst nichts<br />
mit <strong>de</strong>n Zielen, für die er kämpft, anzufangen weiß, ist er auf <strong>de</strong>m Holzweg. Sein letztes Ziel muß es<br />
bleiben, sich als ›Revolutionär‹ selbst entbehrlich zu machen. Sobald eine Revolution wirklich<br />
stattgefun<strong>de</strong>n hat, müssen ›Revolutionäre‹ verschwin<strong>de</strong>n, weil sie überflüssig gewor<strong>de</strong>n sind. Geschieht<br />
das nicht, ist irgendwas faul. In <strong>de</strong>m Augenblick aber, wo Revolutionäre vorgeben, nichts für sich und<br />
alles nur ›für das Volk‹ zu tun, wer<strong>de</strong>n sie zu einer Avantgar<strong>de</strong>. Die Revolution wird unglaubwürdig und<br />
fängt an zu stinken.<br />
Pilze in Sauerteig<br />
Anarchisten verstehen heute ihre Rolle im revolutionären Prozeß daher kaum noch als Avantgar<strong>de</strong>.<br />
Diejenigen, die es immer noch tun, sind entwe<strong>de</strong>r bei einem halbverstan<strong>de</strong>nen Bakunin stehengeblieben<br />
o<strong>de</strong>r begeistern sich an roten Mythen aus <strong>de</strong>r Mottenkiste <strong>de</strong>s Leninismus, die mit Anarchie nichts zu tun<br />
haben. Vielleicht nehmen sie sich auch nur ein bißchen zu wichtig.<br />
Wenn Anarchisten heute ihr Wirken in mo<strong>de</strong>rnen Revolutionsszenarien mit Worten beschreiben sollen,<br />
greifen sie interessanterweise nicht mehr auf Metaphern aus <strong>de</strong>m Militärwesen zurück, son<strong>de</strong>rn eher auf<br />
Analogien aus <strong>de</strong>r Natur. So vergleichen sie sich heute gerne mit <strong>de</strong>r Hefe in einem Teig, die sich mit<br />
<strong>de</strong>m Mehl vermischt, gärt, Anstoß gibt, ein Wachstum bewirkt und schließlich eine neue Qualität<br />
hervorbringt: aus <strong>de</strong>m Teig ist Brot gewor<strong>de</strong>n.<br />
Die Freun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s wissenschaftlichen Vergleichs umschreiben das Wirken <strong>de</strong>s Revolutionärs in <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft lieber mit <strong>de</strong>r Funktionsweise eines Katalysators – das ist ein Beschleuniger chemischer<br />
Prozesse, <strong>de</strong>r durch seine Anwesenheit <strong>de</strong>n Anstoß zu einer chemischen Reaktion gibt, zu einer<br />
Verän<strong>de</strong>rung also. Wobei die Symbolik noch weiter geht: nicht <strong>de</strong>r Katalysator ›macht‹ die Verän<strong>de</strong>rung,<br />
son<strong>de</strong>rn lediglich die beteiligten Substanzen sind am Prozeß beteiligt. Und das passen<strong>de</strong> Bild zu einer<br />
revolutionären Organisation ist nicht länger <strong>de</strong>r Verschwörerzirkel, son<strong>de</strong>rn wahlweise das Mycel o<strong>de</strong>r<br />
das Rhizom. Sowohl das "Pilzgeflecht" als auch das "Wurzelwerk" durchdringen das Erdreich, lockern es<br />
auf, sind extrem wi<strong>de</strong>rstandsfähig und schwer zu bekämpfen.<br />
129
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Um bei <strong>de</strong>r Metapher mit <strong>de</strong>m Hefeteig zu bleiben: Anarchisten sind dazu übergegangen, lieber viele<br />
›kleine Brötchen zu backen‹, anstatt theatralisch mit <strong>de</strong>r Faust auf einen Sack Mehl zu hauen.<br />
Literatur:<br />
/ Gustav Landauer: Revolution Berlin 1977, Karin Kramer, 160 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Erkenntnis und Befreiung Frankfurt/M. 1976, Suhrkamp, 106 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Zwang und Befreiung Köln 1968, Hegner, 274 S.<br />
/ Siegbert Wolf: Gustav Landauer zur Einführung Hamburg 1988, Junius, 137 S.<br />
/ Max Nettlau: Die Eugenik <strong>de</strong>r Anarchie Wetzlar 1985, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 207 S.<br />
/ Rudolf Rocker: Gefahren <strong>de</strong>r Revolution Hamburg 1980, Die Freie Gesellschaft, 34 S.<br />
/ Helmut Rüdiger: Der Sozialismus wird frei sein Berlin 1991, Oppo, 93 S.<br />
/ Harry Pross: Zwänge Berlin 1981, Karin Kramer, 184 S.<br />
130<br />
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Kapitel 19<br />
Die freie Gesellschaft – eine Utopie?<br />
Es gibt ein an<strong>de</strong>res Leben.<br />
Wir können aus <strong>de</strong>r Wirtschaftsmaschine aussteigen,<br />
ohne umzukommen.<br />
– P.M. –<br />
IN EINER ZEIT, in <strong>de</strong>r die große Illusion unseres Jahrhun<strong>de</strong>rts, <strong>de</strong>r Marxismus, weltweit seinen eigenen<br />
Bankrott vorgeführt hat, ist es obsolet* gewor<strong>de</strong>n, das Wort ›Utopie‹ auch nur in <strong>de</strong>n Mund zu nehmen.<br />
Tragisch daran ist, daß das, was unter ›Kommunismus‹ firmierte, nie eine wirkliche Alternative zur<br />
staatlich-kapitalistischen Megamaschine war. Und beson<strong>de</strong>rs grotesk ist, daß das Scheitern einer solchen<br />
falschen Alternative <strong>de</strong>n Menschen die Fähigkeit nimmt, über wirkliche Alternativen nachzu<strong>de</strong>nken –<br />
zumin<strong>de</strong>st für etliche Zeit.<br />
Das Gegenteil sollte <strong>de</strong>r Fall sein: Gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r so unerwartete Zusammenbruch jenes festgefügten Super-<br />
Imperiums namens "real existieren<strong>de</strong>r Sozialismus" müßte uns daran erinnern, auf welch schwachen<br />
Füßen Gesellschaften stehen, die allgemein als stabil angesehen wer<strong>de</strong>n und für die Ewigkeit gemacht<br />
scheinen. Es ist mehr eine peinliche Pflicht als Rechthaberei darauf hinzuweisen, daß Anarchisten seit <strong>de</strong>n<br />
Tagen, als es <strong>de</strong>n ›Kommunismus‹ erst als I<strong>de</strong>enskizze gab, sein Scheitern vorausgesagt haben und die<br />
Grün<strong>de</strong> für dieses Scheitern benannten.<br />
Seit sich vor über hun<strong>de</strong>rtzwanzig Jahren die bei<strong>de</strong>n ›spinnerten Utopisten‹ Marx und Bakunin so<br />
wortgewaltig fetzten, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Anarchismus nicht mü<strong>de</strong>, jenem falschen Ansatzes <strong>de</strong>n Diagnostiker* zu<br />
spielen. Er hat seinen Krankheitsverlauf richtig vorausgesagt und seine Fieberkurve gewissenhaft<br />
kommentiert. Darin recht behalten zu haben, ist jedoch kein Grund zu hämischer Freu<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r<br />
Kommunismus hat millionenfach Begeisterung geweckt, Kräfte mobilisiert und Hoffnungen genährt – sie<br />
alle wur<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>m Altar <strong>de</strong>r Autorität <strong>de</strong>n Göttern Zentralismus und Bürokratie geopfert. Im Denken<br />
vieler Menschen wird diese gescheiterte Illusion eine lang anhalten<strong>de</strong> Wun<strong>de</strong> hinterlassen – eine Scheu,<br />
über Alternativen zum <strong>de</strong>m was besteht auch nur nachzu<strong>de</strong>nken.<br />
Schlechte Zeiten also für Träume.<br />
130
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Daran zu erinnern, sagte ich, sei Anarchisten eine peinliche Pflicht. Peinlich, weil es für sie beschämend<br />
wäre, in <strong>de</strong>n Verdacht billiger Effekthascherei zu geraten. Sie möchten sich ungern in <strong>de</strong>n Chor <strong>de</strong>r<br />
überheblichen Leichenfled<strong>de</strong>rer einreihen, die selbst keinerlei Lösungen anzubieten haben und <strong>de</strong>shalb<br />
besser daran täten zu schweigen. Pflicht, weil gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Zusammenbruch <strong>de</strong>s Kommunismus die<br />
Aufmerksamkeit auf unsere Gesellschaft lenken muß, die ebenso unerwartet zusammenbrechen könnte:<br />
Auch die westliche Mainstream-Gesellschaft, nennen wir sie nun "Demokratie", "Kapitalismus",<br />
"westliches Mo<strong>de</strong>ll", "freie Marktwirtschaft" o<strong>de</strong>r "Megamaschine", erscheint uns heute unangefochten,<br />
stabil, funktionstüchtig, ohne Alternative und einsam konkurrenzlos. Die meisten Menschen können sich<br />
schlicht nichts an<strong>de</strong>res vorstellen. Es gibt ja auch nichts neben ihr.<br />
An<strong>de</strong>rerseits wissen wir um die Krämpfe und Krisen dieser Gesellschaft, die Hohlheit ihrer Werte und die<br />
Schwächen ihrer tragen<strong>de</strong>n Säulen. Vom maro<strong>de</strong>n Geldsystem über die Ungerechtigkeit <strong>de</strong>r Verteilung<br />
bis hin zur grundsätzlichen Unfreiheit aller Menschen in ihr liefert das staatliche System, das lückenlos<br />
überall auf dieser Er<strong>de</strong> existiert, Tag für Tag schlagen<strong>de</strong> Beweise seines Versagens. Für seine Befürworter<br />
sind all das kleinere Betriebspannen. Für an<strong>de</strong>re jedoch strukturelle Schwächen, die mit <strong>de</strong>m<br />
Zusammenbruch auch dieses Systems en<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r mit einer Katastrophe für uns alle. Zu diesen<br />
"an<strong>de</strong>ren" gehören seit jeher die Anarchisten.<br />
Utopie<br />
Wie wir gesehen haben, schlagen Anarchisten eine völlig an<strong>de</strong>rsartige Gesellschaft vor; eine Gesellschaft,<br />
in <strong>de</strong>r Freiheit das leiten<strong>de</strong> Prinzip bil<strong>de</strong>n soll. Ist aber eine solche Gesellschaft nicht utopisch?<br />
Ja und nein: Je nach<strong>de</strong>m, was wir unter ›Utopie‹ verstehen, ist Anarchie utopisch o<strong>de</strong>r fast<br />
unausweichlich folgerichtig.<br />
Das Wort utopia kommt aus <strong>de</strong>m Griechischen und be<strong>de</strong>utet "Nicht-Land" o<strong>de</strong>r "an einem an<strong>de</strong>ren Ort".<br />
Zur Zeit <strong>de</strong>s Absolutismus*, als je<strong>de</strong> Kritik an <strong>de</strong>n herrschen<strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Kritiker leicht <strong>de</strong>n Kopf<br />
hätte kosten können, pflegten Menschen, die sich Gedanken über eine vollkommenere Gesellschaft<br />
machten, diese in ferne Erdteile zu verlegen o<strong>de</strong>r auf erfun<strong>de</strong>nen Inseln anzusie<strong>de</strong>ln. Obwohl je<strong>de</strong>r wußte,<br />
was in Wirklichkeit gemeint war, konnte so <strong>de</strong>r Zensor nicht eingreifen. Thomas Morus nannte seine<br />
I<strong>de</strong>alinsel im Jahre 1514 als erster Utopia, und dieser Name bürgerte sich ein. Im Sinne <strong>de</strong>r klassischen<br />
›Utopisten‹ ist eine Utopie kein schöner Wunschtraum, <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>r nicht möglich ist, son<strong>de</strong>rn ein möglicher<br />
Traum, <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>r noch nicht verwirklicht ist. Utopien sind also Skizzen von Gesellschaften, wie sie sein<br />
könnten und sollten, durchzogen von radikaler Kritik an <strong>de</strong>n herrschen<strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong>n. In diesem Sinne ist<br />
Anarchie eine Utopie – noch.<br />
Die Umgangssprache in<strong>de</strong>s hat sich die Sichtweise <strong>de</strong>s absolutistischen Zensors zu eigen gemacht. Für<br />
<strong>de</strong>n Durchschnittsbürger ist Utopie schlicht ein Hirngespinst, ein bloßer Wunschtraum, unrealistisch und<br />
dumm. Der Du<strong>de</strong>n sekundiert* in <strong>de</strong>r bereits bekannten<br />
131<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Weise, in<strong>de</strong>m er unter Utopie einen "als undurchführbar gelten<strong>de</strong>n Plan", eine "nicht realisierbare I<strong>de</strong>e"<br />
versteht. In diesem Sinne ist Anarchie nicht utopisch.<br />
Wie das? Ist es etwa keine absur<strong>de</strong> I<strong>de</strong>e, anzunehmen, eine Gesellschaft könne funktionieren, in <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r<br />
tun und lassen kann, was er will? Brauchte es für die Anarchie nicht einen ganz neuen Menschen, <strong>de</strong>r gut,<br />
e<strong>de</strong>l und lammfromm ist? Ist aber <strong>de</strong>r Mensch etwa nicht egoistisch und unfriedlich? Und ist vor allem
die Grundannahme einer Gesellschaft ohne Hierarchie nicht schon <strong>de</strong>shalb töricht, weil <strong>de</strong>r Mensch<br />
hierarchisch programmiert ist und Hierarchie braucht?<br />
In <strong>de</strong>n vorangegangenen Kapiteln haben wir diese Fragen erörtert und gesehen, daß in <strong>de</strong>r Anarchie eben<br />
nicht je<strong>de</strong>r alles tun kann, was er will, aber eben sehr viel mehr als ihm heute erlaubt ist. Auch ein ›neuer<br />
Mensch‹ wird nach Meinung <strong>de</strong>r Anarchisten nicht vom Himmel fallen, ebensowenig wie eine neue<br />
Gesellschaft. Tatsache ist aber, daß <strong>de</strong>r heutige Mensch sich in <strong>de</strong>r ›Utopie von gestern‹, <strong>de</strong>r Demokratie,<br />
inzwischen ganz gut zurechtfin<strong>de</strong>t. Das zeigt, daß auch er im Laufe <strong>de</strong>r Zeit von seiner sozialen<br />
Wirklichkeit geprägt und verän<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n ist, gera<strong>de</strong> so, wie <strong>de</strong>r künftige Mensch es in <strong>de</strong>r ›Utopie von<br />
morgen‹ <strong>de</strong>r Anarchie, sein könnte. Wir haben ferner gehört, daß <strong>de</strong>r Anarchismus <strong>de</strong>n Anspruch erhebt,<br />
in seiner Vielfalt <strong>de</strong>m sozialen Egoismus <strong>de</strong>s Menschen eher gerecht zu wer<strong>de</strong>n als die Nivellierung in<br />
unseren heutigen Systemen. Und wir haben uns mit <strong>de</strong>m frommen Märchen auseinan<strong>de</strong>rgesetzt, daß<br />
Unterdrückung ein Lebenselixier sei und Hierarchie eine biologische Komponente, die, weil sie<br />
unbestreitbar existieren, auch Prinzipien unseres Lebens sein müßten.<br />
All diese Gegenargumente <strong>de</strong>r Libertären sind plausible Spekulationen und beantworten nicht die Frage,<br />
wie realistisch eine anarchische Gesellschaft sein kann. Wen<strong>de</strong>n wir uns also zum Abschluß <strong>de</strong>n<br />
verbleiben<strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rsprüchen zu – jenen praktischen Fragen, die <strong>de</strong>n meisten Menschen eine freie<br />
Gesellschaft unrealistisch erscheinen lassen.<br />
I<strong>de</strong>al und Wirklichkeit<br />
Aus <strong>de</strong>r Kritik an schlechten Zustän<strong>de</strong>n erwachsen schöne Bil<strong>de</strong>r, I<strong>de</strong>ale. Das gilt für je<strong>de</strong> soziale,<br />
politische o<strong>de</strong>r religiöse Bewegung. Daß sich das reale<br />
Leben nicht i<strong>de</strong>al vollzieht, ist eine Binsenweisheit. Und: I<strong>de</strong>ale aufzustellen kostet nichts. Es trotz<strong>de</strong>m zu<br />
tun ist in<strong>de</strong>s nicht nur legitim, es wäre unverzeihlich, es zu unterlassen. Ob die Realität jemals das I<strong>de</strong>al<br />
erreicht, ist nicht die Frage, auf die es letztendlich ankommt, son<strong>de</strong>rn welchem I<strong>de</strong>al die Realität zustrebt.<br />
"Diejenigen, die immer nur das Mögliche for<strong>de</strong>rn, erreichen gar nichts", schrieb schon <strong>de</strong>r um griffige<br />
Formeln nie verlegene Bakunin, "diejenigen, die aber das Unmögliche for<strong>de</strong>rn, erreichen wenigstens das<br />
Mögliche."<br />
Das klingt nun ein bißchen wie taktischer Rückzug aus <strong>de</strong>r Utopie, nach <strong>de</strong>m Motto: "So ernst war das ja<br />
alles nicht gemeint!" Dieser Eindruck aber wäre falsch. Im Gegenteil zeigt dieses Zitat, daß <strong>de</strong>r<br />
anarchistische Gesellschaftsentwurf in einer sehr radikalen Weise pragmatisch ist. Er stellt in <strong>de</strong>r Tat die<br />
konkrete Umsetzung seiner wesentlichen For<strong>de</strong>rungen weit vor die Bindung an ein lupenreines I<strong>de</strong>al. Er<br />
ist keine Religion, son<strong>de</strong>rn Bewegung,<br />
132<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
keine Denkschule, son<strong>de</strong>rn kreative Tat. I<strong>de</strong>ale sind hierbei Pole, die dieser Bewegung ihre Richtung<br />
geben und sie an <strong>de</strong>r Erstarrung hin<strong>de</strong>rn, aber keine kirchlichen Dogmen. Im Gegensatz etwa zur<br />
Sozial<strong>de</strong>mokratie, die ihre I<strong>de</strong>ale aus lauter ›Realismus‹ schon erwürgt, bevor sie sie ausspricht (und<br />
folgerichtig längst verloren hat), ergibt sich <strong>de</strong>r Realismus bei Anarchisten quasi automatisch bei <strong>de</strong>r<br />
undogmatischen Umsetzung von I<strong>de</strong>alen im wirklichen Leben. Die Ziele jedoch – I<strong>de</strong>ale, die aus <strong>de</strong>r<br />
radikalen Kritik an <strong>de</strong>r Gegenwart entstan<strong>de</strong>n -, wer<strong>de</strong>n nicht zurückgenommen. Genau hier verläuft die<br />
Trennungslinie zwischen Kompromißlertum und Pragmatismus.<br />
Anarchismus mag sich als die Lehre einer i<strong>de</strong>alen Gesellschaft verstehen, aber Anarchie wird mit<br />
Sicherheit keine i<strong>de</strong>ale Gesellschaft sein. Natürlich wür<strong>de</strong> es ›in <strong>de</strong>r Anarchie‹ Menschen geben, die mit<br />
ihrer Freiheit nicht zurechtkommen. Es gäbe mit Sicherheit auch Aggression und Haß, Eifersucht und<br />
Ungerechtigkeit, Neid und Unterdrückung, Kriminalität und bewaffnete Konflikte. Das ist aber nicht <strong>de</strong>r<br />
springen<strong>de</strong> Punkt. Denn die pragmatische Seele <strong>de</strong>s Anarchismus stellt hierzu eine verblüffend naive<br />
Frage: Wieviel dieser negativen Dinge wird es in einer an-archischen Gesellschaft noch geben, und wie<br />
gehen wir mit <strong>de</strong>m Rest um?
Beispiel Kriminalität<br />
Nehmen wir das große Angstthema Kriminalität. Der Anarchismus behauptet, daß soziale Ungleichheit<br />
die häufigste Ursache von Verbrechen ist, und nur ein<br />
geringerer Teil <strong>de</strong>r ›Kriminellen‹ sich aus psychischen o<strong>de</strong>r somalischen* Grün<strong>de</strong>n abnorm verhält. Sein<br />
I<strong>de</strong>al besagt, daß ›in <strong>de</strong>r Anarchie‹ Kriminalität faktisch ausstirbt, und daß Menschen, die sich trotz<strong>de</strong>m<br />
gegen die Gesellschaft vergehen, Hilfe statt Strafe zuteil wird. Projiziert man dieses I<strong>de</strong>al nun auf die<br />
pragmatische Vorstellung einer an-archischen Gesellschaft, so darf man in <strong>de</strong>r Tat davon ausgehen, daß<br />
vieles von <strong>de</strong>m, was heute als ›kriminell‹ eingestuft wird und strafbar ist, völlig absurd wer<strong>de</strong>n dürfte. Der<br />
überwiegen<strong>de</strong> Teil aller Straftaten sind Eigentums<strong>de</strong>likte; Eigentum ist ein Grundprinzip <strong>de</strong>s Römischen<br />
Rechts und somit unserer Justiz. In einer an-archischen Gesellschaft kämen jedoch an<strong>de</strong>re Grundwerte<br />
zum Tragen. Sofern sie nach <strong>de</strong>n Prinzipien einer libertären Bedarfswirtschaft organisiert wäre, in <strong>de</strong>r<br />
ohnehin das meiste kostenlos zur Verfügung steht, wür<strong>de</strong>n Diebstahl, Raub o<strong>de</strong>r Betrug zu<br />
Sinnlosigkeiten, in einer geldfreien Solidarwirtschaft gar zu einer ziemlichen Unmöglichkeit. Zu Zeiten,<br />
als die gesellschaftliche Wirklichkeit aus Hunger und A<strong>de</strong>lsprivilegien bestand, war beispielsweise<br />
Wil<strong>de</strong>rei ein häufiges Eigentums<strong>de</strong>likt, das mit <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> bestraft wur<strong>de</strong>. Mit <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft verlor dieses Verbrechen seine Be<strong>de</strong>utung. Die wenigen verbliebenen Wilddiebe gefähr<strong>de</strong>n<br />
heute keineswegs <strong>de</strong>n Bestand unserer Republik. Das jedoch, was nach <strong>de</strong>n anarchistischen Grundwerten<br />
wirtschaftlich ›kriminell‹ ist (und bei uns eine Tugend), nämlich Kapitalakkumulation, Zinsknechtschaft,<br />
Ausbeutung o<strong>de</strong>r Spekulation, wäre innerhalb <strong>de</strong>r Strukturen einer an-archischen Gesellschaft im großen<br />
Stil unmöglich, im kleinen Stil ungemein erschwert. Überdies wür<strong>de</strong> es in einer Gesellschaft, in <strong>de</strong>r<br />
Sozialprestige kaum noch mit Besitz o<strong>de</strong>r Geld erkauft wer<strong>de</strong>n<br />
133<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
kann, für <strong>de</strong>n Einzelnen wenig verlockend. Das heißt aber nicht, daß sich nicht immer noch Menschen -<br />
aus welchen Grün<strong>de</strong>n auch immer - an individuellem Besitz an<strong>de</strong>rer Menschen vergehen könnten. Nur: es<br />
macht einen enormen sozialen Unterschied, ob eine Gesellschaft auf Eigentum gegrün<strong>de</strong>t ist, o<strong>de</strong>r ob <strong>de</strong>r<br />
Besitz privater Güter eine eher unwichtige Nebensächlichkeit darstellt. Ebenso, wie es einen praktischen<br />
Unterschied macht, ob eine Gesellschaft jährlich mit drei Millionen o<strong>de</strong>r mit zehntausend<br />
Eigentums<strong>de</strong>likten zurechtkommen muß.<br />
Ähnliche Überlegungen lassen sich zu Gewaltverbrechen anstellen. Soziale Unterdrückung,<br />
Marginalisierung*, Armut, sexuelle Repression, gesellschaftliche Frustrationen* können zu Verbrechen<br />
wie Mord, Amoklauf, Raubüberfall, Vergewaltigung, Freiheitsberaubung o<strong>de</strong>r Geiselnahme führen. Es ist<br />
nicht abwegig, anzunehmen, daß in einer Gesellschaft, die repressionsärmer, <strong>de</strong>zentraler, sozial<br />
integrativer, wirtschaftlich gerechter, sexuell emanzipierter und gesellschaftlich vielfältiger ist als unsere,<br />
diese spezifischen Ursachen von Gewaltkriminalität ganz erheblich abnehmen dürften. Das Töten im<br />
Duell etwa war in einer feudalen A<strong>de</strong>lsgesellschaft ein häufiges aber völlig legales Gewaltverbrechen,<br />
weil in ihrem ethischen Mittelpunkt ein strikter Ehrbegriff stand. Zusammen mit seinen gesellschaftlichen<br />
Ursachen ist es schließlich völlig verschwun<strong>de</strong>n. Aber selbst wenn alle Ursachen für Kriminalität<br />
minimiert wer<strong>de</strong>n könnten, wür<strong>de</strong> es ohne Zweifel auch in einer an-archischen Gesellschaft noch immer<br />
Menschen geben, die scheinbar ›grundlos‹ an<strong>de</strong>re Menschen töten, verletzen, vergewaltigen o<strong>de</strong>r<br />
bedrängen.<br />
Als letztes Beispiel zur ›Kriminalität‹ sei jene große Gruppe von Delikten genannt, die auf <strong>de</strong>n<br />
Gleichmachungszwang unserer starren Gesellschaftsstrukturen zurückzuführen ist. Unsere Gesetze sind<br />
von einer oft unsinnigen normativen Kraft bestimmt, die die Unterschiedlichkeit <strong>de</strong>r Menschen verleugnet<br />
und ihnen folgerichtig einen Großteil ihrer Individualität und Entfaltungsfreiheit nimmt. Ein<br />
beträchtlicher Teil <strong>de</strong>r strafbaren Regelverstöße ist willkürlich festgelegt o<strong>de</strong>r reine Geschmacksache.<br />
Was ein Verbrechen ist, än<strong>de</strong>rt sich mit je<strong>de</strong>r Zeitgeist-Welle, sieht in je<strong>de</strong>m Land an<strong>de</strong>rs aus und hat oft<br />
nichts mit einer wirklichen Bedrohung <strong>de</strong>r Mitmenschen zu tun. In Karachi kann einen Moslem beim<br />
Anblick einer Flasche Bier das kalte Entsetzen packen, während in einem bayerischen Biergarten leicht<br />
jemand verhaftet wer<strong>de</strong>n wird, <strong>de</strong>r genüßlich sein Marihuana raucht.
O<strong>de</strong>r <strong>de</strong>nken wir an die Strafwürdigkeit von Häresie*, Homosexualität, Gotteslästerung o<strong>de</strong>r<br />
"Rassenschan<strong>de</strong>", die allesamt einmal to<strong>de</strong>swürdig waren. Bei uns wird die Ahndung sozialer<br />
Regelverstöße in Gesetzen vorweggenommen und <strong>de</strong>r Polizei überlassen. Das ist in einer uniformen<br />
Gesellschaft mit einer zwangsweisen Einheitsethik auch kaum an<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>nkbar. In einer polyformen<br />
Gesellschaft hingegen, die aus beliebig vielen kleinen, autonomen und frei wählbaren Gesellschaften<br />
unterschiedlicher Ethiken besteht, dürfte auch von solcher ›Kriminalität‹ wenig übrig bleiben. Trotz<strong>de</strong>m:<br />
Es wird immer Menschen geben, die nirgends klarkommen, keine soziale Heimat fin<strong>de</strong>n und auch in <strong>de</strong>r<br />
freiheitlichsten aller Gesellschaften noch gegen gesellschaftliche Regeln verstoßen.<br />
Die pragmatische Spekulation <strong>de</strong>s Anarchismus geht nun dahin, daß auf diese Reste<br />
134<br />
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sozialen Fehlverhaltens, die wir getrost ›Kriminalität‹ nennen dürfen, an<strong>de</strong>rs reagiert wer<strong>de</strong>n kann als mit<br />
einem riesigen Unterdrückungsapparat von Regierung, Justiz, Polizei, Gefängnissen o<strong>de</strong>r To<strong>de</strong>sstrafe -<br />
einem Apparat, <strong>de</strong>r überdies noch miserabel funktioniert. Alle Welt weiß, daß unser Strafsystem<br />
keineswegs dazu geeignet ist, Kriminalität zu verhin<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r gar auszurotten - es bringt sie eher noch<br />
hervor. Ebenso einsichtig ist, daß das Strafprinzip innerhalb <strong>de</strong>r Vorgaben seiner eigenen Logik<br />
unmoralisch ist, <strong>de</strong>nn es straft mit <strong>de</strong>n selben Taten, die es an<strong>de</strong>rerseits unter Strafe stellt: Geldstrafe als<br />
Form <strong>de</strong>s Diebstahls, Freiheitsstrafe als Form <strong>de</strong>r Freiheitsberaubung, To<strong>de</strong>sstrafe als Form staatlich<br />
sanktionierten Mor<strong>de</strong>s. Sollte es nicht möglich sein, in einer an<strong>de</strong>rs strukturierten Gesellschaft mit <strong>de</strong>n<br />
verbleiben<strong>de</strong>n nicht-angepaßten Menschen menschlicher zu verfahren?<br />
An dieser Stelle fin<strong>de</strong>n anarchistisches I<strong>de</strong>al und anarchistische Pragmatik wie<strong>de</strong>r zueinan<strong>de</strong>r: Wenn vor<br />
hun<strong>de</strong>rt Jahren ein Kropotkin, Proudhon, Reclus o<strong>de</strong>r Bakunin davon sprach, daß <strong>de</strong>r Kriminelle als<br />
"Kranker" Heilung statt Strafe erwarten müßte o<strong>de</strong>r als Fehlgeleiteter Verständnis und Integration statt<br />
Verfolgung und Ausgrenzung, so ist dies das I<strong>de</strong>al. Die pragmatische Realität versuchte <strong>de</strong>m zu<br />
entsprechen, als etwa 1936 in <strong>de</strong>r Spanischen Revolution die Anarchosyndikalisten inmitten eines<br />
unsäglichen Bürgerkrieges begannen, Justiz- und Strafvollzug radikal zu humanisieren und sich um<br />
Alternativen zum ›Ordnungsfaktor Polizei‹ bemühten. Eine ihrer ersten Maßnahmen in Barcelona bestand<br />
im Abriß <strong>de</strong>s berüchtigten Frauengefängnisses ...<br />
In <strong>de</strong>r Phantasie <strong>de</strong>s Bürgers allerdings bleibt von solchen Überlegungen zumeist nur <strong>de</strong>r plakative<br />
Slogan* hängen, die Anarchisten wollten die Gefängnisse abreißen, und alle Kriminellen dürften frei<br />
herumlaufen. Zu ihrer Beruhigung mag die Tatsache dienen, daß mittlerweile ein durch und durch seriöser<br />
Wissenschaftszweig namens Abolitionismus* sich ohne je<strong>de</strong>n staatsfeindlichen Hintergedanken dieses<br />
Themas angenommen hat und zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangte. Lei<strong>de</strong>r nur in <strong>de</strong>r Theorie.<br />
Soweit das Problem <strong>de</strong>r Kriminalität, das hier etwas breiter erörtert wur<strong>de</strong>, weil es die Phantasie so vieler<br />
Menschen so überdurchschnittlich beunruhigt. In <strong>de</strong>r anarchistischen Gesellschaftsutopie stecken eine<br />
ganze Menge solcher ›Beunruhigungsthemen‹, zu <strong>de</strong>nen sich ganz ähnliche Überlegungen anstellen<br />
lassen. Zum Beispiel zu Aggression*, Konflikt und Krieg.<br />
Gibt es eine aggressionsfreie Gesellschaft?<br />
Aggression ist zweifellos ein Bestandteil menschlichen Lebens, ebenso wie Liebe, Trauer o<strong>de</strong>r Solidarität.<br />
In gewissem Sinne ist sie auch für die Entwicklung<br />
<strong>de</strong>s Individuums wichtig und sollte entsprechend ausgelebt wer<strong>de</strong>n. Die utopische Gesellschaft, die<br />
Anarchisten anstreben, wird daher Aggression, insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>ren individuelle Form, we<strong>de</strong>r "abschaffen"<br />
können noch wollen. Wo es aber Aggression gibt, gibt es auch Konflikt und umgekehrt. Erst wenn sie<br />
nicht innerhalb gewisser ethischer Tabus gehalten wer<strong>de</strong>n kann, o<strong>de</strong>r wenn kulturelle Rituale zu ihrer<br />
Bewältigung fehlen, nimmt sie gesellschaftsbedroh-
135<br />
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liehe Maße an und mün<strong>de</strong>t in kollektive Konflikte. Es ist aber auch hier nicht von <strong>de</strong>r Hand zu weisen,<br />
daß in einer Gesellschaft, die in ihrer Grundstruktur gewaltfrei, kooperativ und solidarisch angelegt ist,<br />
Aggression vermutlich kein alltägliches Ritual und schon gar keine institutionalisierte Größe mehr wäre.<br />
Auch sexuelle Unterdrückung als Ursache von Haß und Selbsthaß dürfte in einer ›Gesellschaft <strong>de</strong>r freien<br />
Liebe‹ wohl spürbar abnehmen. Das gilt erst recht, wenn solche libertären Tugen<strong>de</strong>n über Generationen<br />
hinweg zu üblichen sozialen Umgangsformen <strong>de</strong>s Alltags gewor<strong>de</strong>n sind.<br />
Die höchste institutionalisierte Form aggressiver Konfliktaustragung ist <strong>de</strong>r Krieg. Er entspringt in <strong>de</strong>n<br />
seltensten Fällen einem spontanen Aggressionsgefühl, er muß vielmehr künstlich und mühsam erzeugt<br />
wer<strong>de</strong>n. Zu seiner Organisation unterhalten mo<strong>de</strong>rne Staaten gut bezahlte Eliten berufsmäßig trainierter<br />
Gewalttäter. In einer an-archischen Gesellschaft allerdings dürfte Krieg überaus schwierig zu organisieren<br />
sein, da seine wichtigsten Grundvoraussetzungen entfielen. Die Wirtschaftsstruktur böte nicht die<br />
Möglichkeit industrieller Waffenproduktion und kaum materielle Anreize für Söldner; von <strong>de</strong>r politischen<br />
Struktur her entfiele die Existenz einer stehen<strong>de</strong>n Armee ebenso wie die <strong>de</strong>r Wehrpflicht, und was die<br />
I<strong>de</strong>ologie betrifft, so gäbe es we<strong>de</strong>r eine nationale Souveränität zu verteidigen, noch kaum die<br />
massenhafte Bereitschaft überwiegend gewaltfrei <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>r Menschen, für irgendwen o<strong>de</strong>r irgendwas in<br />
<strong>de</strong>n Krieg zu ziehen und sein Leben zu riskieren. Welch subversiv-friedfertige Kraft also von einem<br />
wohlverstan<strong>de</strong>nen ›Egoismus‹ ausgehen kann, wird hier erneut <strong>de</strong>utlich. Allerdings mögen sich auch im<br />
Lan<strong>de</strong> Utopia Menschen zusammenrotten, um kollektiv Aggressionen zu verüben, die durchaus <strong>de</strong>n<br />
Namen ›Krieg‹ verdienen könnten. Ähnliches ist bei ethnischen o<strong>de</strong>r religiösen Konflikten <strong>de</strong>nkbar, o<strong>de</strong>r<br />
wenn in schwerwiegen<strong>de</strong>n Fragen kein Konsens erreicht wer<strong>de</strong>n kann und gravieren<strong>de</strong> Differenzen eine<br />
Tolerierung auszuschließen scheinen. Ein solcher ›Krieg‹ entspräche sicher nicht <strong>de</strong>m anarchistischen<br />
I<strong>de</strong>al; im Sinne anarchistischer Pragmatik wäre es aber entschie<strong>de</strong>n vorzuziehen, in einer Gesellschaft zu<br />
leben, in <strong>de</strong>r ein ›Krieg‹ sich im großen und ganzen darauf beschränken müßte, daß sich ein begrenzter<br />
Haufen zorniger Menschen mit Knüppeln, Mistgabeln und Flinten bekriegt. Es wären in diesem Fall<br />
vermutlich genau die Menschen, die tatsächlich Zorn aufeinan<strong>de</strong>r haben, was allemal besser ist, als die<br />
anonymen Stellvertreterkriege ganzer Völker unter <strong>de</strong>m absur<strong>de</strong>n Joch einer ›Wehrpflicht‹. Der dritte,<br />
unbestreitbare Vorteil wäre, daß mangels Armee, Nachschub, Logistik, Geld, Waffen und Motivation die<br />
meisten solcher ›Kriege‹ nach biologischen Grenzen ihr En<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n: Entwe<strong>de</strong>r, wenn <strong>de</strong>r Zorn<br />
verflogen ist, aus Angst, o<strong>de</strong>r durch Tod. Vielleicht auch schon dann, wenn die Krieger erschöpft sind und<br />
sich mü<strong>de</strong> schlafen legen müssen, um am Morgen darauf hungrig und frustriert zu erwachen.<br />
Möglicherweise wur<strong>de</strong> ja auch die Ursache <strong>de</strong>s Konflikts auf diese unschöne Weise ›beseitigt‹. In seinem<br />
Buch bolo'bolo geht <strong>de</strong>r Schweizer Autor P. M. sehr anschaulich weiteren Formen nach, wie in einer<br />
utopischen Gesellschaft mit Dissens umgegangen wird, wenn <strong>de</strong>r Konsens versagt.<br />
All das ist we<strong>de</strong>r i<strong>de</strong>al noch lupenrein noch wi<strong>de</strong>rspruchsfrei, aber im Vergleich zu unserer heutigen<br />
Realität eine gera<strong>de</strong>zu verlocken<strong>de</strong> Vorstellung.<br />
136<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Ich will darauf verzichten, weitere <strong>de</strong>r bereits betrachteten Problemkreise auf diese Weise pragmatisch<br />
durchzuspielen, etwa die Frage <strong>de</strong>r Wirtschaft, <strong>de</strong>r Ökologie, <strong>de</strong>r freien Liebe, <strong>de</strong>r Herrschaft, <strong>de</strong>r<br />
Ordnung und ähnliches.<br />
Wir waren ja von <strong>de</strong>r Frage ausgegangen, ob die Ziele einer libertären Gesellschaft im populären Sinne<br />
<strong>de</strong>s Wortes ›utopisch‹, also unrealistisch sind. Da letztlich alles auf die Frage an<strong>de</strong>rer Grundwerte<br />
hinausläuft, muß man sich fragen, ob nicht genau dieser Ethikwan<strong>de</strong>l utopisch ist?
Wenn wir ›anarchistisch‹ als ›freiheitlich‹ <strong>de</strong>finieren, und diesen unscharfen Begriff mit Inhalten wie<br />
<strong>de</strong>zentral, nicht hierarchisch, gewaltfrei, solidarisch, fö<strong>de</strong>ralistisch, selbstverwaltet und vielfältig füllen,<br />
mit Techniken wie Konsens, Bedürfnisprinzip, freier Vereinbarung und beliebiger Assoziation o<strong>de</strong>r mit<br />
Tugen<strong>de</strong>n wie gegenseitiger Hilfe und Gewaltverzicht, so nimmt die praktische Nutzanwendung solcher<br />
Grundwerte auf konkrete Gesellschaften durchaus realistische Züge an, die bei <strong>de</strong>r bloßen anarchistischen<br />
I<strong>de</strong>alutopie ›Herrschaftsfreiheit‹ nicht ohne weiteres einleuchten. Anarchie könnte also eine realisierbare<br />
Utopie sein - unter zwei Voraussetzungen. Erstens, daß diese Utopie mit pragmatischen Maßstäben<br />
angegangen wird; eine rein i<strong>de</strong>altypische Anarchie wür<strong>de</strong> Religion bleiben und mithin unrealistische<br />
Utopie im Sinne <strong>de</strong>s Du<strong>de</strong>n. Zweitens, daß es nicht die, nicht eine Anarchie geben darf, son<strong>de</strong>rn<br />
notwendigerweise viele. Genau dann brauchte es nämlich diesen allgemeinen Ethikwan<strong>de</strong>l nicht - eine<br />
generell akzeptierte Ethikvielfalt wür<strong>de</strong> genügen, die auf ganz wenigen Grundregeln aufbauen könnte.<br />
Niemals wür<strong>de</strong>n alle Menschen freiwillig ein- und dieselben Grundwerte akzeptieren.<br />
Die an-archische Gesellschaft müßte daher eine vernetzte Fö<strong>de</strong>ration vieler kleiner, überschaubarer Mini-<br />
Gesellschaften sein. Und das ist für uns als Zeitgenossen uniformer Systeme allemal am schwierigsten<br />
vorstellbar.<br />
Anarchisten als Unterdrücker<br />
Kritiker halten Anarchisten in diesem Zusammenhang gerne vor, daß auch sie unterdrücken müßten, und<br />
zwar diejenigen Menschen, die ihrerseits gerne unterdrücken. Was geschähe in einer an-archischen<br />
Gesellschaft mit Leuten, die gerne reich sind und an<strong>de</strong>re ausbeuten möchten? Mit Menschen, die gerne<br />
General wären und Krieg führen wür<strong>de</strong>n? Mit Faschisten? Mit Menschen, die nicht frie<strong>de</strong>nsfähig sind?<br />
Ja, die hätten tatsächlich Pech gehabt, zumin<strong>de</strong>st wür<strong>de</strong>n sie es sehr schwer haben. Im Prinzip hätten auch<br />
sie das Recht, sich frei mit Gleichgesinnten zu assoziieren. Ein ›harmloses‹ Beispiel: Nehmen wir an,<br />
jemand liebt es, an<strong>de</strong>re Menschen auszupeitschen, zu quälen und zu <strong>de</strong>mütigen. Diesem steht es je<strong>de</strong>rzeit<br />
frei, sich mit an<strong>de</strong>ren, die sich gerne auspeitschen lassen, zu assoziieren und etwa eine Gesellschaft von<br />
Flagellanten* zu grün<strong>de</strong>n – solange dies freiwillig geschieht, und niemand zur Mitgliedschaft in jener<br />
bizarren Gesellschaft gezwungen wird. Theoretisch könnte auch jemand mit <strong>de</strong>n Ambitionen eines<br />
Bankdirektors, Spekulanten o<strong>de</strong>r Konzernchefs versuchen, Menschen zu fin<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>nen<br />
137<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
er wie<strong>de</strong>r ein System <strong>de</strong>r Ausbeutung und Geldwirtschaft einführen möchte. Denkbar, daß er<br />
Gleichgesinnte fän<strong>de</strong>, die ebenfalls gerne an <strong>de</strong>r Spitze dieser Hierarchie stün<strong>de</strong>n. Da das von ihm aber<br />
gar nicht gewollt sein kann, er vielmehr Massen von Menschen benötigte, die wirtschaftlich unter ihm<br />
stün<strong>de</strong>n, wäre es sehr fraglich, ob sich in einer freien Gesellschaft genug <strong>de</strong>vote* Geister fän<strong>de</strong>n, ihm zu<br />
Diensten zu sein. Die Gefahr einer hierarchischen Restauration* bestün<strong>de</strong> realistischerweise nur dann,<br />
wenn die an-archische Mainstream-Gesellschaft – etwa wirtschaftlich – <strong>de</strong>rart schlecht funktionierte, daß<br />
sich genügend Menschen nach <strong>de</strong>m alten System zurücksehnen wür<strong>de</strong>n. In diesem Falle wäre die<br />
Rückkehr zur alten Gesellschaft angesichts <strong>de</strong>s Versagens <strong>de</strong>r neuen nur legitim. Sie wäre auch kaum zu<br />
verhin<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>nn es gäbe beispielsweise keine anarchistische Armee, die dies unterbin<strong>de</strong>n könnte. Wenn<br />
Anarchie freie Selbstbestimmung <strong>de</strong>r Menschen ist, läge dieser Fall - trotz <strong>de</strong>s Scheiterns <strong>de</strong>r<br />
anarchistischen Utopie - sogar voll und ganz im Rahmen anarchistischer Ethik. Es ist allerdings wenig<br />
wahrscheinlich, daß eine Bedarfswirtschaft nach menschlichem Maß die traurigen Rekor<strong>de</strong> an Mangel<br />
und Hungertoten unseres jetzigen Systems noch überbieten könnte.<br />
Mit ähnlichen Schwierigkeiten wie unser Möchtegern-Direktor hätten auch <strong>de</strong>r Militarist und <strong>de</strong>r Faschist<br />
zu kämpfen, und wenn man so will, wür<strong>de</strong>n diese Spezies in einer an-archischen Gesellschaft<br />
›unterdrückt‹. Obgleich es sich hierbei zweifellos um eine sanfte, indirekte Unterdrückung han<strong>de</strong>lt,<br />
wi<strong>de</strong>rspräche auch diese Tatsache <strong>de</strong>m lupenreinen anarchistischen I<strong>de</strong>al. Sie macht zugleich mit großer<br />
Schärfe das beschriebene Dilemma zwischen I<strong>de</strong>al und Pragmatik <strong>de</strong>utlich: I<strong>de</strong>alerweise wi<strong>de</strong>rspricht sich<br />
<strong>de</strong>r Anarchismus hier selbst, <strong>de</strong>nn eine unterdrückungsfreie Gesellschaft ohne die Unterdrückung <strong>de</strong>r
Unterdrücker geht irgendwie nicht. Die pragmatische Seite <strong>de</strong>s Anarchismus ist eher geneigt, hierin ein<br />
theoretisches Problem zu sehen. Zugegebenermaßen waren die genannten Beispiele theoretisch<br />
konstruiert und entsprechend albern; in <strong>de</strong>r Realität setzen sich Anarchisten <strong>de</strong>shalb auch eher mit<br />
an<strong>de</strong>ren Fragen auseinan<strong>de</strong>r. Wie zum Beispiel mit <strong>de</strong>n Mitteln <strong>de</strong>s zivilen Ungehorsams o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />
passiven Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s Systeme überwun<strong>de</strong>n und aggressive Macht gebrochen wer<strong>de</strong>n können. Wie man<br />
durch ein offenes Betreuungssystem Psychiatrische Anstalten überflüssig machen könnte. Wie <strong>de</strong>m<br />
Faschismus <strong>de</strong>r geistige Nährbo<strong>de</strong>n zu entziehen wäre. O<strong>de</strong>r wie notorisch* Kriminelle in die<br />
Gesellschaft zurückkehren können, statt sie lebenslang einzusperren.<br />
Wie gesagt: eine Frage an<strong>de</strong>rer Grundwerte, und diese ›Basisethik‹ beträfe alle Menschen einer<br />
Gesellschaft. Anarchie kann so vielfältig sein wie die I<strong>de</strong>en in <strong>de</strong>n Köpfen <strong>de</strong>r Menschen, aber sie wird<br />
nur dann an-archisch funktionieren, wenn diese wenigen, freiheitlichen Prinzipien, die Essentials, als<br />
Grundwerte Konsens sind. Sicher, auch das wäre ein Rahmen, eine Grenze <strong>de</strong>r Freiheit, aber mit<br />
Sicherheit ein freierer Rahmen als alles, was die Menschheit bisher kennengelernt hat. Schließlich haben<br />
Anarchisten nie grenzenlose Freiheit versprochen. Und so lan<strong>de</strong>n wir am En<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r beim<br />
›kategorischen Imperativs <strong>de</strong>mzufolge und frei nach Immanuel Kant, je<strong>de</strong>r Mensch sich je<strong>de</strong> Freiheit<br />
nehmen können sollte, solange er die eines an<strong>de</strong>ren damit nicht beschnei<strong>de</strong>t.<br />
138<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Wi<strong>de</strong>rspricht Anarchie <strong>de</strong>n menschlichen Trieben ?<br />
Bleibt noch eine letzte Frage, die entschei<strong>de</strong>nd ist. "Zugegeben", räumen Kritiker ein, "dieser Rahmen<br />
mag humaner sein, friedfertiger und freiheitlicher – aber entspricht er auch <strong>de</strong>m menschlichen Wesen?<br />
Sind Menschen in <strong>de</strong>r Lage, ohne Hierarchie und in Freiheit zu existieren? O<strong>de</strong>r sind Aggression und<br />
Unterdrückung nicht vielmehr biologische Determinanten*, angeborene Triebe gar?"<br />
Diese Frage ist ebenso müßig wie wichtig.<br />
Anarchistische Klassiker - etwa die Naturwissenschaftler Kropotkin und Reclus - vertraten die<br />
Auffassung, das Streben nach Hierarchie, Herrschaft und Unterdrückung seien soziale Determinanten, die<br />
seit Jahrtausen<strong>de</strong>n in unseren Gesellschaften zur Tugend erklärt, geför<strong>de</strong>rt und belohnt wür<strong>de</strong>n. In seiner<br />
"Gegenseitige Hilfe" liefert Kropotkin plausible Belege dafür, daß trotz dieser negativen Prägung auch<br />
soziale, an-archische Tugen<strong>de</strong>n seit jeher parallel zu <strong>de</strong>n hierarchischen existiert haben. Er bestreitet<br />
nicht, daß es Konkurrenz und die Unterdrückung <strong>de</strong>s Schwächeren durch <strong>de</strong>n Stärkeren gäbe – er wen<strong>de</strong>t<br />
sich jedoch gegen die Annahme, daß dies naturgegeben, angeboren und notwendig die einzig vernünftige<br />
Form sozialer Organisation sein müsse. Spätere Arbeiten, etwa von Bertrand Russell, Wilhelm Reich,<br />
Herbert Marcuse, Alexan<strong>de</strong>r Mitscherlich, Joseph Rattner und Arno Plack weisen in eine ähnliche<br />
Richtung.<br />
An<strong>de</strong>re Wissenschaftler wie Konrad Lorenz, Friedrich Hacker, Irenäus Eibl-Eibesfeld, Adolf Portmann<br />
und in gewissem Sinne auch Sigmund Freud behaupten vehement das Gegenteil, und bis heute ist die<br />
Gelehrsamkeit in dieser Frage tief gespalten. Eben darum ist es eine müßige Frage, <strong>de</strong>r auch das Etikett<br />
›wissenschaftlich‹ keinen größeren Tiefgang verleiht. Im Gegenteil. Wo immer dieses Adjektiv benutzt<br />
wird, ist beson<strong>de</strong>re Skepsis angesagt, <strong>de</strong>nn es dient nur zu oft institutionalisierter Hochstapelei: Entwe<strong>de</strong>r<br />
ist etwas beweisbar und plausibel, dann braucht es dieses Etikett nicht, o<strong>de</strong>r aber, es ist umstritten, dann<br />
han<strong>de</strong>lt es sich garantiert um <strong>de</strong>n Versuch, durch die Autorität <strong>de</strong>s Wörtchens "wissenschaftlich" eine<br />
Sicherheit zu suggerieren, die es nicht gibt.<br />
Mit <strong>de</strong>r Wissenschaft kann man alles und nichts beweisen, notfalls auch zwei sich wi<strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong><br />
Dinge. Hat nicht im Mittelalter die Wissenschaft feierlichst behauptet, die Er<strong>de</strong> sei eine Scheibe, um die<br />
sich die Sonne drehe, und je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r etwas an<strong>de</strong>res behauptet, stehe mit <strong>de</strong>m Teufel im Bun<strong>de</strong>? Wur<strong>de</strong>n<br />
nicht in <strong>de</strong>r Sowjetunion Biologen, die eine an<strong>de</strong>re Vererbungslehre vertraten als die offiziell genehmigte<br />
nach Sibirien verbannt, und hatten nicht die Nazis ihre ›völkische‹ Physik und Rassenkun<strong>de</strong>? Bezieht
nicht gera<strong>de</strong> die Psychologie und Verhaltensforschung ihr gesamtes "empirisches* Material" aus<br />
Menschen, die in diesem System erzogen und sozialisiert wur<strong>de</strong>n, um aus diesen Erfahrungen dann<br />
allgemeingültige und angeblich wertfreie Schlüsse zu ziehen? So wird schon im Ansatz nur in bestimmte<br />
Richtungen geforscht, so nehmen diese vorgegebenen Richtungen schon fast zwangsläufig die Antworten<br />
vorweg, so schreiben die Auftraggeber diese Richtungen vor und so wird das Vorgefun<strong>de</strong>ne endlich zum<br />
unumstößlichen Naturgesetz erklärt. Auftrag-<br />
139<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
geber <strong>de</strong>r Wissenschaft ist in <strong>de</strong>r Regel <strong>de</strong>r Staat o<strong>de</strong>r die mit ihm verkoppelte Wirtschaft; die<br />
Unabhängigkeit <strong>de</strong>r Wissenschaft ist eine niedliche Fiktion. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen,<br />
daß es auf <strong>de</strong>r Welt einige tausend Lehrstühle für Staatswissenschaft gibt, aber keinen einzigen für die<br />
Wissenschaft einer Gesellschaft ohne Staat, um sich <strong>de</strong>r Einseitigkeit wissenschaftlichen<br />
Forschungsdrangs bewußt zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Von <strong>de</strong>r Wissenschaft dürfen wir also ernsthaft keine Antwort auf unsere Frage erwarten. Bleiben die<br />
Beispiele. Naturvölker, die frecherweise in manchen Bereichen ungefragt das vorleben, was manche<br />
Wissenschaftler für unmöglich halten. O<strong>de</strong>r soziale Experimente, aus <strong>de</strong>ren fragmentarischen*<br />
Erfahrungen wir Schlüsse ziehen können. O<strong>de</strong>r die alltägliche Erfahrung, daß wir selbst in unseren<br />
Konkurrenzgesellschaften immer wie<strong>de</strong>r Beispielen völlig ›grundlosen‹ solidarischen Verhaltens<br />
begegnen. Bleibt auch die Plausibilität: daß es doch verwun<strong>de</strong>rlich ist, wie sich <strong>de</strong>r Kampf um Freiheit,<br />
die Sehnsucht nach Autonomie durch die gesamte Geschichte <strong>de</strong>r Menschheit ziehen, wenn es gar so<br />
unnatürlich wäre. Und warum dann <strong>de</strong>r Mensch mit Gesetzen, Polizei, Armee, Religion und Moral an<br />
<strong>de</strong>m gehin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n soll, was angeblich sowieso niemand will? Die ›anarchistischen Essentials‹ sind<br />
schließlich nicht in einer Studierstube entstan<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn entspringen <strong>de</strong>m realen Leben - und das seit<br />
Tausen<strong>de</strong>n von Jahren.<br />
Vor allem aber bleibt das Experiment. Vermutlich wer<strong>de</strong>n wir erst dann wissen, ob <strong>de</strong>r Mensch in Freiheit<br />
leben will und kann, wenn man ihn läßt.<br />
Literatur:<br />
/ Robert Nozick: Anarchie, Staat, Utopia # München o.J., Mo<strong>de</strong>rne Verlags Ges., 324 S.<br />
/ Martin Buber: Pfa<strong>de</strong> in Utopia # Hei<strong>de</strong>lberg 1950, Lambert Schnei<strong>de</strong>r, 248 S.<br />
/ Rolf Schwendter: Utopie # Berlin 1993, Edition ID-Archiv, 150 S.<br />
/ P.M.: bolo'bolo # Zürich 1986, Paranoia City, 201 S.<br />
/ Jessica Mitford: Für die Abschaffung <strong>de</strong>r Gefängnisse # Telgte 1977, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 40 S.<br />
/ Thomas Matthiesen: Überwin<strong>de</strong>t die Mauern! # Darmstadt 1979, Luchterhand, 206 S.<br />
/ Helmut Ortner (Hrsg.): Freiheit statt Strafe # Frankfurt/M. 1981, Fischer, 174 S.<br />
/ Wilhelm Reich: Die sexuelle Revolution # Frankfurt/M. 1966, Europäische Verlagsanstalt, 297 S.<br />
/ Arno Plack: Die Gesellschaft und das Böse # München 1967, List, 430 S.<br />
/ Josef Rattner: Aggression und menschliche Natur # Frankfurt/M. 1972, Fischer, 224 S.<br />
140<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Teil 2 DIE VERGANGENHEIT<br />
Kapitel 20<br />
Frühformen <strong>de</strong>r Anarchie
Je mehr Gesetze und Beschränkungen, <strong>de</strong>sto ärmer die Menschen.<br />
Je schärfer die Waffen, <strong>de</strong>sto mehr Streit im Lan<strong>de</strong>.<br />
Je schlauer und gerissener die Menschen, <strong>de</strong>sto mehr merkwürdige Dinge, die geschehen.<br />
Je mehr Regeln und Gesetze, <strong>de</strong>sto mehr Diebe und Räuber.<br />
- Lao Tzu - (5. Jh. v. Chr.)<br />
Dem Volk, das unter einem König ist,<br />
fehlt überhaupt vieles und vor allem die Freiheit,<br />
die nicht darin besteht, daß wir einen gerechten Herrn,<br />
son<strong>de</strong>rn daß wir gar keinen Herrn besitzen.<br />
- Cicero -<br />
VON ANARCHISMUS IM ALTERTUM ZU REDEN, ist ein wenig so, als sprächen wir von<br />
›vorchristlichem Christentum‹. Ein bißchen paradox also. "Anarchismus" als einigermaßen stimmiges<br />
Gedankengebäu<strong>de</strong>, als soziale Bewegung gar, gibt es erst seit Mitte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts. Ist es von daher<br />
überhaupt legitim, in <strong>de</strong>r Antike, im Mittelalter und in <strong>de</strong>r Frühen Neuzeit nach Spuren von<br />
›Anarchismus‹ zu suchen?<br />
Wir tun gut daran, ›Anarchismus‹ nicht als eine I<strong>de</strong>ologie zu verstehen. Was uns interessiert, ist eine<br />
Ten<strong>de</strong>nz, die sich durch ganz bestimmte Eckwerte auszeichnet: Freiheitlichkeit, Herrschaftsfeindlichkeit,<br />
Solidarität, gegenseitige Hilfe, Autonomie <strong>de</strong>s Individuums, Vernetzung kleiner Einheiten,<br />
Selbstbestimmung und Rebellion gegen Fremdbestimmung. Die historischen Ausprägungsformen einer<br />
solchen Ten<strong>de</strong>nz, die wir auf <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Seiten kennenlernen wer<strong>de</strong>n, sind Produkte ihrer Zeit, ihrer<br />
jeweiligen Kultur und <strong>de</strong>ren sozialen Problemen. Der mo<strong>de</strong>rne Anarchismus als Bewegung entstand in<br />
Europa und ist entsprechend geprägt: er ist ganz Kind seiner Epoche und reagierte auf die sozialen<br />
Probleme <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts: die Industrialisierung, <strong>de</strong>n Patriotismus, <strong>de</strong>n Militarismus, die Kirche, das<br />
Bürgertum und <strong>de</strong>n Gegensatz zwischen Arm und Reich.<br />
Insofern kann es sich bei unserer Betrachtung grundsätzlich nie um <strong>de</strong>n Anarchismus schlechthin han<strong>de</strong>ln,<br />
son<strong>de</strong>rn immer nur um eine ›Momentaufnahme‹. Es wäre ein törichter Fehler, wenn wir alles, was uns auf<br />
unserer Spurensuche begegnet, an unserer heutigen Ausprägungsform von ›Anarchismus‹ messen,<br />
bewerten und ausblen<strong>de</strong>n wollten. Eine solche Unterlassung wür<strong>de</strong> das Bild zugunsten einer<br />
dogmatischen und formalen Sichtweise<br />
141<br />
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verzerren, <strong>de</strong>ren sich gerne die unkritische I<strong>de</strong>ologiegeschichte verschreibt. Das ist in diesem Buch aber<br />
nicht beabsichtigt, und <strong>de</strong>shalb ist die Suche nach ›Anarchismen vor <strong>de</strong>m Anarchismus‹ legitim und<br />
notwendig.<br />
Wie ein ›schwarzer Fa<strong>de</strong>n‹ durchzieht die Sehnsucht nach freiheitlichen Formen <strong>de</strong>s sozialen Lebens die<br />
Geschichte <strong>de</strong>r Menschheit. Dieser Fa<strong>de</strong>n ist nicht immer und überall gleich dick, <strong>de</strong>nn Aufmüpfigkeit<br />
fand selten Eingang in offiziöse Geschichtsschreibung. Aber er war immer da. In <strong>de</strong>n einzelnen Fasern<br />
dieses Fa<strong>de</strong>ns erkennen wir die anarchistischen Primärtugen<strong>de</strong>n als Inhalte wie<strong>de</strong>r, nicht als Etiketten, oft<br />
hinter bizarren Masken und meist in Zusammenhängen, in <strong>de</strong>nen das Wort ›Anarchie‹ nicht vorkommt.<br />
Auch die globale Vision einer libertären Welt ist noch selten erkennbar. Spurensuche also — nicht im<br />
Sinne einer formalen und <strong>de</strong>shalb albernen Vereinnahmung, son<strong>de</strong>rn um zu zeigen, daß <strong>de</strong>r Drang nach<br />
Freiheit eine uralte Komponente <strong>de</strong>r Menschheit ist, und <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Anarchismus keineswegs eine<br />
unerwartete Spontangeburt war.<br />
Vor Französischer Revolution und Aufklärung gibt es keinen ›Anarchismus‹, aber es gibt ›An-archismen‹.<br />
Wenn wir diese Unterscheidung beherzigen, können wir uns unbefangen auf die Reise begeben...
Tao<br />
Im sechsten vorchristlichen Jahrhun<strong>de</strong>rt fin<strong>de</strong>n wir in <strong>de</strong>m uns völlig frem<strong>de</strong>n Kulturkreis <strong>de</strong>s feudalen<br />
China erste Zeugen an-archischen Denkens, <strong>de</strong>ren Spuren bis in unsere Zeit reichen: <strong>de</strong>n Taoismus, eine<br />
bis heute in <strong>de</strong>r chinesischen Gesellschaft präsente und wirken<strong>de</strong> Richtung - eine Mischung aus<br />
Philosophie, sozialer Bewegung, Lebensweisheit, praktischer Wissenschaft und kirchenloser<br />
Volksreligion. Er wird vielfach als eine Art ur-anarchische Weisheit angesehen. Der Historiker Peter<br />
Marshall bezeichnet ihn als <strong>de</strong>n "ersten klaren Ausdruck anarchistischer Sensibilität" und sein Hauptwerk<br />
Tao te ching als "einen <strong>de</strong>r größten anarchistischen Klassiker".<br />
Fast wie in einem künstlichen Mo<strong>de</strong>ll stan<strong>de</strong>n sich in <strong>de</strong>r frühen chinesischen Hochkultur zwei<br />
›philosophische Schulen‹ gegenüber, <strong>de</strong>r Konfuzianismus und <strong>de</strong>r Taoismus. Ersterer vertrat eine starrhierarchische<br />
Ordnung mit Tugen<strong>de</strong>n wie Pflichterfüllung, Disziplin und Gehorsam in einer Gesellschaft,<br />
in <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>s Individuum an seinen unverrückbaren Platz gestellt war. Es ist nicht schwer zu verstehen, daß<br />
<strong>de</strong>r Konfuzianismus im Reich <strong>de</strong>r Mitte, <strong>de</strong>ssen Staatswesen im sechsten vorchristlichen Jahrhun<strong>de</strong>n<br />
zunehmend an Be<strong>de</strong>utung gewann, rasch zur offiziellen Staatsphilosophie wur<strong>de</strong>; Zentralismus und<br />
Bürokratie waren die Folge. Die Taoisten hingegen lehnten Regierungen ab und glaubten an ein Leben in<br />
natürlicher und spontaner Harmonie, wobei <strong>de</strong>r Einklang <strong>de</strong>s Menschen mit <strong>de</strong>r Natur eine be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong><br />
Rolle in ihrem Denken spielte. Im taoistischen Weltbild befin<strong>de</strong>t sich alles im Fluß, nichts ist endgültig<br />
und konstant. Nicht zufällig be<strong>de</strong>utet Tao "<strong>de</strong>r Weg". Für <strong>de</strong>n Taoisten entsteht ›Realität‹ immer aus <strong>de</strong>m<br />
Wechselspiel gegensätzlicher Kräfte, die sich aber auch brauchen und bedingen und zur Harmonie fähig<br />
sind: yin und yang. Ganz wie<br />
142<br />
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die mo<strong>de</strong>rne soziale Ökologie strebt <strong>de</strong>r Taoismus Gleichgewicht innerhalb einer bunten Vielfalt an.<br />
Niemals jedoch verkommt <strong>de</strong>r Taoismus zu einer bloßen Religion. Er zwingt seine Sichtweise keinem<br />
auf, entwickelt we<strong>de</strong>r Kulte, Kirchen noch Klerus*. Statt<strong>de</strong>ssen geht die Entwicklung in Richtung klarer<br />
Aussagen zu Gesellschaft und Politik: In seiner langen Entwicklung bringt <strong>de</strong>r Taoismus ein regelrechtes<br />
System politischer Ethik hervor, <strong>de</strong>ssen Parallelen zu heutigen sozialen Bewegungen offensichtlich sind.<br />
Das taoistische Prinzip <strong>de</strong>s wu-wei, fälschlich oft als "Nicht-Eingreifen" verstan<strong>de</strong>n, ist eine Synthese aus<br />
<strong>de</strong>m, was wir heute "zivilen Ungehorsam", "anti-autoritär" o<strong>de</strong>r "sanfte Technologie" nennen wür<strong>de</strong>n:<br />
Wu-wei be<strong>de</strong>utet die Abwesenheit von wei. Unter wei ist auf gezwungenes, künstliches, hektisches,<br />
autoritäres Han<strong>de</strong>ln zu verstehen, das einer natürlichen und harmonischen Entwicklung entgegensteht.<br />
Politisch gesehen entspricht wei <strong>de</strong>m Prinzip Autorität. Salopp ausgedrückt sind Taoisten <strong>de</strong>r Meinung: je<br />
mehr <strong>de</strong>r Mensch sich einmischt, je komplizierter er steuern will, <strong>de</strong>sto schlimmer wird alles — was sich<br />
wie<strong>de</strong>rum verblüffend mit <strong>de</strong>n Erkenntnissen mo<strong>de</strong>rner Ökologie <strong>de</strong>ckt. Folgerichtig postuliert die<br />
taoistische Schule, daß die beste Regierung diejenige sei, die am wenigsten regiere — ein Standpunkt, wie<br />
wir ihn beispielsweise bei ›Frühlibertären‹ wie Wilhelm von Humboldt, John Stuart Mill o<strong>de</strong>r Henry<br />
David Thoreau fin<strong>de</strong>n. Und wenn gar <strong>de</strong>r Taoist Lao Tzu über das bürokratische, kriegerische und<br />
kommerzielle Wesen seiner Zeit herzieht und Eigentum als eine Art von Diebstahl darstellt, so meint<br />
man, <strong>de</strong>n alten Proudhon schimpfen zu hören — allerdings in <strong>de</strong>r sanften Form kunstvollmetaphorischer*<br />
Gedichte, in <strong>de</strong>r die taoistische Weisheit zumeist auf uns gekommen ist.<br />
Noch klarer kommen an-archische Ten<strong>de</strong>nzen in <strong>de</strong>n Schriften <strong>de</strong>s Philosophen Chuang Tzu (369-286 v.<br />
Chr.) zum Tragen, <strong>de</strong>r je<strong>de</strong> Form <strong>de</strong>r Regierung ablehnt, um ihr die freie Existenz selbstbestimmter<br />
Individuen entgegenzusetzen. Grundgedanke einer solchen taoistischen I<strong>de</strong>algesellschaft wäre es, die<br />
Menschen selbstregulierend sich selbst zu überlassen. Dieser frühe chinesische Vorläufer eines laisserfaire*<br />
setzt ein großes Maß an Vertrauen in die sozialen Fähigkeiten <strong>de</strong>s Menschen voraus — eine<br />
Problematik, mit <strong>de</strong>r sich auch <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Anarchismus kontrovers auseinan<strong>de</strong>rsetzt. In <strong>de</strong>r Schrift Huai<br />
Nan Tzu wird diese Frage auf eine, man möchte fast sagen, ›Kropotkinsche‹ Weise gelöst: das<br />
persönliche Wohlergehen eines je<strong>de</strong>n Einzelnen wachse in <strong>de</strong>m Maße, wie es <strong>de</strong>r Allgemeinheit wohl<br />
ergehe. Menschen seien sowohl Individuen als auch soziale Wesen. Wer etwas für die Allgemeinheit tue,
tue also auch etwas für sich. Das erinnen sehr an jenen ›sozialen Egoismus‹ <strong>de</strong>r Anarchisten, <strong>de</strong>n wir<br />
bereits kennengelernt haben. Der Bogen <strong>de</strong>r Parallelen schließt sich vollends, wenn darauf verwiesen<br />
wird, daß eine solche Gesellschaft keineswegs konfliktfrei wäre, aber alle Chancen böte, in einer Art<br />
freiem Spiel gegensätzlicher Kräfte und Interessen zu neuen Gleichgewichten zu fin<strong>de</strong>n, sprich: zu neuen<br />
Zusammenschlüssen aufgrund gemeinsamer Interessen. Das klingt fast wie bolo'bolo à la yin und yang...<br />
Taoistische Ten<strong>de</strong>nzen machten im Laufe <strong>de</strong>r Geschichte verschie<strong>de</strong>ne Entwicklungen durch und wirken<br />
ungebrochen bis heute fön; es ist dabei kaum möglich, klare Grenzen<br />
143<br />
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zwischen Weisheit und Rebellion, zwischen Mystizismus und klarer Sachlichkeit, zwischen Religion und<br />
sozialer Ten<strong>de</strong>nz zu ziehen. Vermutlich muß das so sein, <strong>de</strong>nn es entspricht vollkommen <strong>de</strong>m taoistischen<br />
Wesen. Praktische Auswirkungen dieser Philosophie gehen weit über das Soziale hinaus und sind<br />
entsprechend mannigfaltig: von geistiger Sammlung über Ernährung, Körpertraining, psychische<br />
Techniken, Sexualität, Gesprächstherapie bis hin zur Heilkun<strong>de</strong> gibt <strong>de</strong>r Taoismus für vieles praktische<br />
Nutzanwendungen. Also eher eine abgeklärte Lebensweisheit für <strong>de</strong>n Einzelnen ohne gesellschaftliche<br />
Mobilisierung?<br />
Fest steht, daß <strong>de</strong>r Taoismus, <strong>de</strong>r mit entwaffnen<strong>de</strong>r Güte auf die Harmoniefähigkeit <strong>de</strong>s Menschen setzt,<br />
in <strong>de</strong>n vergangenen 2500 Jahren nie eine ›soziale Bewegung‹ in unserem Sinne hervorgebracht hat. Vom<br />
klassischen Anarchismus unterschei<strong>de</strong>t er sich daher nicht so sehr in <strong>de</strong>r Radikalität <strong>de</strong>s Denkens, als im<br />
Stellenwert <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns. Dem Primat <strong>de</strong>r direkten Aktion setzt Tao eher eine aufgeklärte Passivität<br />
entgegen. So wird <strong>de</strong>r Taoismus wohl das bleiben, was er seit jeher war: eine Quelle praktischer Weisheit<br />
für Menschen, die die volle Harmonie ihres Seins erreichen möchten.<br />
Buddhismus<br />
Weniger augenfällig ist <strong>de</strong>r libertäre Geist, <strong>de</strong>n Kenner im Buddhismus ausfindig machen, was nicht<br />
erstaunt, wenn man sich klar macht, daß er im Gegensatz zum Taoismus sehr wohl eine Kirche und einen<br />
staatstragen<strong>de</strong>n Klerus hervorgebracht hat.<br />
Der Buddhismus ist ursprünglich eine indische Religion, im 5. vorchristlichen Jahrhun<strong>de</strong>rt von Siddharta<br />
Gautama gegrün<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r sich Buddha nannte, "<strong>de</strong>r Erleuchtete". Seine recht komplizierte Lehre einer<br />
menschlichen Vervollkommnung lebt vom Wi<strong>de</strong>rspruch zwischen materiellem Besitz, <strong>de</strong>r als negative<br />
Fessel ge<strong>de</strong>utet wird, und Selbstfindung, die in <strong>de</strong>r höchsten Stufe <strong>de</strong>r Erleuchtung en<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>m Nirvana.<br />
Nirvana ist das "Nichts" o<strong>de</strong>r die "völlige Befreiung". Anfänglich war <strong>de</strong>r Buddhismus eine rein<br />
ethischmeditative Bewegung, die in Indien rasch zurückgedrängt wur<strong>de</strong>, sich in Sri Lanka, Thailand und<br />
Tibet hingegen etablieren konnte. Früh kam es zu einer Aufspaltung in einen machtpolitisch interessierten<br />
und institutionalisierten Zweig, die Theravada, und die Richtung <strong>de</strong>r Mahayama, die weiterhin und<br />
ausschließlich die Selbstbefreiung <strong>de</strong>s Individuums durch das Streben nach Vollkommenheit verfolgte.<br />
Ab <strong>de</strong>m 6. Jahrhun<strong>de</strong>rt beginnt unter <strong>de</strong>m Namen Ch'an in China eine Entwicklung, die Buddha an<strong>de</strong>rs<br />
interpretiert: als <strong>de</strong>n ersten Rebellen, <strong>de</strong>n "Sprenger <strong>de</strong>r Ketten", die <strong>de</strong>n Menschen an Unwissenheit und<br />
Unfreiheit fesseln. Wir haben es hier mit einer regelrechten Häresie* zu tun, wie wir sie ähnlich aus <strong>de</strong>r<br />
Kirchengeschichte <strong>de</strong>s europäischen Mittelalters kennen. Ch'an erreicht Japan im 12. Jahrhun<strong>de</strong>rt, wo es<br />
sich unter <strong>de</strong>m Namen Zen zu einer eigenständigen Richtung entwickelt.<br />
Zen ist we<strong>de</strong>r Kirche noch staatstragen<strong>de</strong> Religion. An<strong>de</strong>rs als unsere mächtigen mittelalterlichen Abteien<br />
ist ein Zen-Kloster kein Hort von Macht, Besitz und Wissen, son<strong>de</strong>rn ein Ort <strong>de</strong>r Gleichheit und Armut.<br />
Ein Zen-Mönch versteht sich nicht als Mittler zwischen ›Gott‹ und <strong>de</strong>n Menschen, son<strong>de</strong>rn als eine Art<br />
Lehrer, ein Vorbild, das auf <strong>de</strong>m Weg zur
144<br />
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Selbsterkenntnis helfen kann. Zen erkennt keine höhere Autorität <strong>de</strong>r Wahrheit an als die Intuition* <strong>de</strong>s<br />
Individuums, über <strong>de</strong>m nicht einmal Buddha steht. Mehr als eine Sekte ist es ein Experiment durch<br />
Erfahrung, und dabei ausgesprochen egalitär*: Zen kennt keine Eliten, verlacht Autoritätspersonen und<br />
propagiert ein autonomes, selbstbestimmtes Leben. Sein Ziel ist die Befreiung <strong>de</strong>s Individuums von<br />
vorgegebener Moral, Gesetzlichkeit und Autorität in Harmonie mit <strong>de</strong>r Umwelt. In <strong>de</strong>r natürlichen<br />
Ordnung vermag Zen keinen Grund für Herrschaft und Hierarchie zu ent<strong>de</strong>cken.<br />
Von daher kann man <strong>de</strong>m Zen-Buddhismus einen gewissen libertären Geist ebensowenig absprechen wie<br />
<strong>de</strong>m Taoismus. Bei<strong>de</strong> lehnen Hierarchie und Herrschaft ab, bei<strong>de</strong> suchen individuelle Befreiung durch<br />
Selbsterkenntnis in voller Harmonie mit sich selbst. Bei<strong>de</strong> aber bleiben die Antwort auf die Frage<br />
schuldig, ob das in <strong>de</strong>n Gesellschaften <strong>de</strong>s Zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rts außerhalb <strong>de</strong>r eigenen Hirnschale<br />
möglich ist. Wie eine Gesellschaft entstehen könnte, die von solchen I<strong>de</strong>alen geprägt ist, ist nicht ihr<br />
Thema. Genau hier liegt ein gravieren<strong>de</strong>r Unterschied zum klassischen Anarchismus, für <strong>de</strong>n Freiheit<br />
nicht nur ein individuelles, son<strong>de</strong>rn auch ein soziales Phänomen ist.<br />
Zweifellos wäre die Ethik <strong>de</strong>s Tao o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Zen ein fruchtbarerer Bo<strong>de</strong>n für eine an-archische<br />
Gesellschaft als etwa Katholizismus o<strong>de</strong>r Islam. Ebenso fraglos aber stecken in einer Religionsauffassung<br />
wie <strong>de</strong>m Buddhismus, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Glauben an eine Seelenwan<strong>de</strong>rung beruht, und in <strong>de</strong>m das<br />
schicksalhafte Karma wie eine Hypothek <strong>de</strong>r Vergangenheit auf <strong>de</strong>r Gegenwart lastet, neue Fesseln.<br />
Soziale und geistige Freiheit fin<strong>de</strong>n hier ebenfalls ihre Grenzen. Entwe<strong>de</strong>r ist die Welt und mit ihr <strong>de</strong>r<br />
Mensch <strong>de</strong>terminiert*, dann aber gibt es keine wahre Freiheit. O<strong>de</strong>r aber, sie ist es nicht. Dann jedoch gibt<br />
es auch kein buddhistisches Karma.<br />
Die alten Griechen<br />
Das antike Griechenland, seit jeher Lieblingstopos* gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Bildungsbürgers, gilt uns<br />
zuallererst als die "Wiege <strong>de</strong>r Demokratie". Es stimmt ja auch: Da gab es im Stadtstaat Athen gut 500<br />
Jahre vor <strong>de</strong>r Zeitenwen<strong>de</strong> 30.000 Bürger, von <strong>de</strong>nen bis zu 6.000 an <strong>de</strong>n regelmäßigen Versammlungen<br />
<strong>de</strong>s Parlamentes teilnahmen. Von solcher Dichte politischer Partizipation können heutige Demokraten nur<br />
träumen. Verwaltungs- und Regierungsaufgaben lagen in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s "Rates <strong>de</strong>r 500", <strong>de</strong>ren<br />
Mitgliedschaft <strong>de</strong>m Rotationsprinzip unterlag. Richter wur<strong>de</strong>n gewählt, Streitfälle öffentlich verhan<strong>de</strong>lt,<br />
und eine Bürokratie gab es nur in Ansätzen, die uns heute als niedlich erscheinen müssen. Rundherum<br />
also Elemente einer direkten Demokratie in kleinen, überschaubaren Einheiten. Politische Strukturen,<br />
<strong>de</strong>ren tragen<strong>de</strong> Elemente Autarkie und Autonomie waren, und in <strong>de</strong>nen das Recht auf freie Meinung,<br />
freies Wort und freies Han<strong>de</strong>ln Begriffe darstellten, mit <strong>de</strong>nen die Menschen umgingen, theoretisch wie<br />
praktisch. All das zu einer Zeit, als man in unseren Breiten noch kaum etwas an<strong>de</strong>res kannte als <strong>de</strong>n<br />
ungebremsten Despotismus <strong>de</strong>s Mächtigen, und als einzelner Mensch genau genommen nicht einmal ein<br />
Recht aufs eigene Leben hatte - geschweige <strong>de</strong>nn auf eine eigene Meinung. Gut zweitausend<br />
145<br />
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Jahre bevor bei uns so etwas wie die Magna Charta, die Habeascorpusakte, Menschenrechte o<strong>de</strong>r gar<br />
allgemeine Wahlen auf die Tagesordnung kamen.<br />
OD: Habeas-Corpus-Akte, engl. Gesetz von 1679, nach <strong>de</strong>m kein Gefangener ohne richterl. Untersuchung<br />
länger in Haft bleiben kann.<br />
Eine Insel humanitärer Hoffnung also, inmitten einer finsteren, barbarischen Welt? Man ist leicht
versucht, <strong>de</strong>r antiken griechischen Demokratie ein libertäres Etikett anzuhängen, aber die soziale<br />
Wirklichkeit sah an<strong>de</strong>rs aus.<br />
Zunächst mal gab es im alten Griechenland nicht nur <strong>de</strong>mokratische Stadtrepubliken wie Athen, son<strong>de</strong>rn<br />
auch je<strong>de</strong> Menge Minidiktaturen und Klein<strong>de</strong>spotien; es gab die Spartaner mit ihrer sprichwörtlichen<br />
militärischen Härte ebenso wie <strong>de</strong>n Makedonier Alexan<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r aufbrach, sich ein Weltreich zu<br />
unterwerfen und mit Demokratie nichts am Helm hatte. Aber selbst an Orten, wo die klassische<br />
Demokratie à la Athen wirkte, entsprach sie alles an<strong>de</strong>re als libertären I<strong>de</strong>alen. Sie galt nur für Männer,<br />
Frauen hatten keine Rechte. Sklaven natürlich auch nicht. Ebensowenig die Masse zugewan<strong>de</strong>rter<br />
Bewohner, die in <strong>de</strong>r Polis* wohnten, ohne jedoch Bürger <strong>de</strong>r Stadt zu sein. Allesamt machten sie<br />
natürlich die große Mehrheit aus, hatten aber nichts zu sagen. Und auch mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mokratischen<br />
Partizipation war es nicht allzuweit her: Die Versammlungen glichen oftmals eher einer Show als einem<br />
Ort ernsthafter politischer Entscheidung. Schöne Rhetorik an sich war ein ästhetischer Wert, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
Parlamentsbesuch zu einem Genuß machte in einer Zeit, die noch vergleichsweise wenig<br />
Massenunterhaltung zu bieten hatte. Die realen Entscheidungen aber fielen zumeist innerhalb politischer<br />
Eliten, die die Massen gut an <strong>de</strong>r langen Leine hielten. Nicht zufällig war das <strong>de</strong>mokratische Athen nie<br />
frei von Expansions- und Machtgelüsten und stürzte sich, etwa unter <strong>de</strong>m geschickt agieren<strong>de</strong>n Perikles,<br />
in immer neue kriegerische Abenteuer.<br />
Das alles kommt uns heute nicht unbekannt vor: Diskriminierung, Manipulation, Showeinlagen im<br />
Parlament und die Illusion <strong>de</strong>r eigenen Entscheidung beim Wahlvolk entsprechen durchaus <strong>de</strong>m<br />
Erscheinungsbild unserer ›mo<strong>de</strong>rnen Demokratien in <strong>de</strong>n letzten 150 Jahren: Daß Auslän<strong>de</strong>r bei uns nicht<br />
wählen dürfen, gilt ebenso selbstverständlich, wie dies noch zu Beginn <strong>de</strong>s Jahrhun<strong>de</strong>rts für Frauen galt.<br />
Für wie <strong>de</strong>mokratisch wir das alte Athen auch immer halten mögen - all das hat mit ›Anarchie‹ wenig zu<br />
tun. So liegt <strong>de</strong>nn auch <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r griechischen Antike für <strong>de</strong>n Anarchismus weniger in ihrer sozialen<br />
Realität, als in ihrer philosophischen Be<strong>de</strong>utung. Zweifellos gaben die relativ großen Freiheiten, die eine<br />
<strong>de</strong>mokratische Polis bot, einen guten Rahmen für die Entwicklung freien Denkens und ungewöhnlicher<br />
Utopien ab, die mit Fug und Recht als Vorläufer <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus angesehen wer<strong>de</strong>n können.<br />
Die grandiosen Denkentwürfe mancher griechischer Philosophen waren zwar in eine weniger grandiose<br />
soziale Wirklichkeit eingebettet, sollten aber während <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n langen, düsteren Perio<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Ignoranz und <strong>de</strong>s Despotismus immer wie<strong>de</strong>r als Quelle <strong>de</strong>r Inspiration dienen. Aus ihnen schöpfen bis in<br />
unsere Tage Denker und Philosophen, Revolutionäre und Erneuerer. Max Nettlau, <strong>de</strong>r große und<br />
unermüdliche Historiker <strong>de</strong>r Anarchie, vergleicht sie etwas pathetisch* aber treffend mit <strong>de</strong>n "A<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r<br />
Freiheit", durch die <strong>de</strong>r oft schwache Puls an- archischen Denkens auch die schlimmsten Jahrhun<strong>de</strong>rte<br />
überdauerte.<br />
146<br />
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Nicht, daß <strong>de</strong>r Begriff Anarchie bei <strong>de</strong>n alten Griechen etwa einen guten Klang gehabt hätte. Homer und<br />
Herodot (ca. 490 - 430 v. Chr.) bezeichnen damit <strong>de</strong>n für sie bedauerlichen Zustand <strong>de</strong>r Abwesenheit<br />
eines An- o<strong>de</strong>r Heerführers. Für Aischylos (ca. 525 - 465 v.Chr.) führt Anarchie stets zur Zersetzung <strong>de</strong>s<br />
Gemeinwesens. Sokrates (470 - 399 v.Chr.), <strong>de</strong>r mit seiner For<strong>de</strong>rung, selbst zu <strong>de</strong>nken und Autorität<br />
stets zu hinterfragen, einen so sympathisch- antiautoritären Eindruck hinterläßt, bleibt bei all<strong>de</strong>m doch<br />
Elitist*. Ein Gemeinwesen ohne Herrschaft kann er sich einfach nicht vorstellen. Immerhin ebnet er <strong>de</strong>n<br />
Weg für die Einsicht, daß es keine absoluten Wahrheiten gibt und die relative Wahrheit am besten aus<br />
kontroverser Diskussion zu gewinnen sei. Zweifellos ein Fortschritt. Auch für Heraklit (ca. 55o -<br />
48ov.Chr.) ist, ähnlich wie für die Taoisten, die Wirklichkeit ständiger Verän<strong>de</strong>rung unterworfen, die aus<br />
Antagonismen* entsteht. Alles freilich innerhalb einer "natürlichen Ordnung", in <strong>de</strong>r für Anarchie kein<br />
Platz ist. Ebensowenig ist Heraklit ein Demokrat: Am besten wäre es, die Menschen zu ihrem Glück zu<br />
zwingen.<br />
Richtig bunt wird's erst nach Sokrates' Tod im Jahre 399 vor Christus, als seine zahlreichen Schüler das<br />
philosophische Denken tüchtig aufzumischen beginnen.
Auf <strong>de</strong>r einen Seite Platon, brillanter Kopf, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r antiautoritären Essenz seines Meisters jedoch<br />
nichts mitbekommen zu haben scheint. Mit seinem Bestseller "Der Staat" wird er für alle Zeiten quasi<br />
zum Designer <strong>de</strong>s autoritären, zentralistischen, alles beherrschen<strong>de</strong>n Staates. Als einer <strong>de</strong>r ersten gibt er<br />
<strong>de</strong>m Begriff ›Anarchie‹ eine politische Definition und stellt ihn gleichberechtigt neben ›Demokratie‹,<br />
Freilich ist für Plato bei<strong>de</strong>s gleich verwerflich. Anarchie beschreibt er als bunt, ungebun<strong>de</strong>n und zuchtlos<br />
- also schädlich. Platons berühmter Schüler Aristoteles sie<strong>de</strong>lt Anarchisten als außerhalb <strong>de</strong>s Staates<br />
stehend an und verdammt sie konsequenterweise als gesetzlose, gefährliche Bestien. Solche Definitionen<br />
sollten Schule machen und lange Zeit gültig bleiben.<br />
Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite aber bil<strong>de</strong>n sich im Humus von Sokrates' geistigem Erbe verschie<strong>de</strong>ne<br />
philosophische Schulen heraus, die in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahrhun<strong>de</strong>rten zu <strong>de</strong>n wichtigsten Strömungen <strong>de</strong>s<br />
Quer<strong>de</strong>nkertums wer<strong>de</strong>n sollen: Die Epikuräer, die Kyniker und die Stoiker. Sie alle sind auf die eine o<strong>de</strong>r<br />
an<strong>de</strong>re Weise individualistisch, ohne jedoch in platten Egoismus abzugleiten. Und sie alle pfeifen mehr<br />
o<strong>de</strong>r weniger auf Staat, Obrigkeit und Gesetze. Das autonome Individuum rückt in <strong>de</strong>n Mittelpunkt <strong>de</strong>s<br />
Denkens.<br />
Die von Aristippos im dritten vorchristlichen Jahrhun<strong>de</strong>rt begrün<strong>de</strong>te Schule <strong>de</strong>s Hedonismus, die später<br />
nach <strong>de</strong>m Philosophen Epikur das Adjektiv epikuräisch verpaßt bekommt, stellt zum ersten Mal die<br />
Legitimität <strong>de</strong>s Genusses ins Blickfeld <strong>de</strong>r Philosophie und lockert die sklavische Abhängigkeit <strong>de</strong>s<br />
Individuums vom Terror <strong>de</strong>r Götter. Epikur, <strong>de</strong>r in seinem "Garten", in <strong>de</strong>m er lehrte, kostenlos Frauen<br />
und Männer aller sozialer Schichten empfing, machte sich ebenso schnell unbeliebt, wie seine<br />
Anhängerschaft im ganzen Mittelmeerraum wuchs. Sein Credo besagt, daß Gesellschaften, die auf<br />
Zuneigung und Freundschaft gegrün<strong>de</strong>t sind, menschlicher seien als solche, die auf theoretischer<br />
Gleichheit und Gerechtigkeit fußen. Die Epikuräer, weit von <strong>de</strong>m ihnen anhängen<strong>de</strong>n Vorurteil blin<strong>de</strong>r<br />
Genußsucht und Wollust entfernt, entsprechen am ehesten <strong>de</strong>m Teil <strong>de</strong>s<br />
147<br />
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mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus, <strong>de</strong>r zwischen bewußtem Leben, <strong>de</strong>m Recht auf eigenen Lebensstil, <strong>de</strong>r<br />
Legitimität <strong>de</strong>s irdischen Genusses und einem kämpferischen Individualismus angesie<strong>de</strong>lt ist. Ihrem<br />
Vorläufer Aristippos, <strong>de</strong>r im Gegensatz zum ›asketischen Genießen Epikur ein regelrechter Snob gewesen<br />
sein muß, wird <strong>de</strong>r Ausspruch zugeschrieben, <strong>de</strong>r Weise solle seine Freiheit nicht <strong>de</strong>m Staate opfern.<br />
Auch die Kyniker waren nicht unbedingt das, was wir heute einen Zyniker nennen - jemand, <strong>de</strong>r mit<br />
klugem aber ätzen<strong>de</strong>m Spott die Gefühle an<strong>de</strong>rer Menschen verhöhnt. Scharfzüngig zwar, und berüchtigt<br />
für ihre entlarven<strong>de</strong>n Paradoxa*, können wir diese philosophische Schule am ehesten als die Speerspitze<br />
einer anarchoi<strong>de</strong>n Spaßguerilla <strong>de</strong>r Antike ansehen, die keine etablierten Autoritäten anerkannte. Einer<br />
ihrer prominentesten Schüler, Diogenes von Sinope, war <strong>de</strong>r exzentrische Zivilisationsspötter par<br />
excellence. Er geiselte die Sklaverei, proklamierte seine Brü<strong>de</strong>rschaft mit allen Lebewesen und sich selbst<br />
zum ersten ›Weltbürger‹ <strong>de</strong>r Geschichte. Er wollte nicht besser leben als ein Hund. Seine hündische -<br />
griechisch kynische - Lebensweise bescherte ihm als Behausung ein ›Faß‹, vor <strong>de</strong>m eines Tages <strong>de</strong>r<br />
mächtige Feldherr Alexan<strong>de</strong>r auftauchte, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m berühmten Philosophen anbot, sich zu wünschen, was<br />
immer er wolle. Diogenes' Wunsch, Alexan<strong>de</strong>r möge ihm bitte aus <strong>de</strong>m Licht gehen, war <strong>de</strong>r<br />
autoritätsverachten<strong>de</strong>n Philosophie eines Kynikers würdig und wur<strong>de</strong> entsprechend berühmt.<br />
Die I<strong>de</strong>enwelt <strong>de</strong>r Kyniker konzentriert sich auf die Begriffe physis (Natur) und nomos (Konvention), die<br />
die Philosophie bisher in Einklang zu bringen versuchte. Die kynische Schule hingegen lehnte die<br />
menschlichen Konventionen ab, die sie als künstlich, zufällig und aufgesetzt empfand. Statt<strong>de</strong>ssen machte<br />
sie sich auf die Suche nach ›Naturgesetzen‹ - Physis triumphiert über Nomos. So predigte beispielsweise<br />
<strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>rvater Antisthenes, <strong>de</strong>r seiner aristokratischen Klasse <strong>de</strong>n Rücken gekehrt hatte, auf<br />
Massenmeetings unter freiem Himmel <strong>de</strong>r arbeiten<strong>de</strong>n Bevölkerung einen Weg ›zurück zur Natur‹, in <strong>de</strong>r<br />
Regierung, Privateigentum, etablierte Religion o<strong>de</strong>r Ehe keinen Platz mehr hätten, <strong>de</strong>nn in einer<br />
natürlichen Ordnung‹ wür<strong>de</strong>n sie überflüssig sein.
Für einen Kyniker sind konventionelle Regeln ebenso ›un-natürlich‹ wie lästig. Gesetz, Hierarchie und<br />
Gebräuche seien bei verschie<strong>de</strong>nen Völkern und zu verschie<strong>de</strong>n Zeiten unterschiedlich, sie hätten also<br />
keine Universalität und daher auch keine moralische Autorität. Beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>r Person <strong>de</strong>s Diogenes, <strong>de</strong>r<br />
das Geld verachtete, passiven Wi<strong>de</strong>rstand leistete und einen subversiven Alltag vorlebte, zeigt sich das<br />
an-archische Element <strong>de</strong>r kynischen Schule.<br />
Noch näher am Anarchismus wer<strong>de</strong>n die Stoiker angesie<strong>de</strong>lt. Für Kropotkin war Zeno von Citium (3. und<br />
2. vorchristliches Jahrhun<strong>de</strong>rt) "<strong>de</strong>r beste Exponent anarchistischer Philosophie im alten Griechenland".<br />
Kein Wun<strong>de</strong>r, setzt er doch gegen Platons Staatskommunismus das I<strong>de</strong>al einer freien Kommune ohne<br />
Regierung. Zeno erkennt - ganz wie sein russischer Bewun<strong>de</strong>rer - in <strong>de</strong>r Menschheit sowohl <strong>de</strong>n Instinkt<br />
<strong>de</strong>r Selbsterhaltung, <strong>de</strong>r sich in Egoismus äußere, als auch <strong>de</strong>n sozialen Instinkt, <strong>de</strong>r zu Kooperation<br />
führe. Bei<strong>de</strong> Ten<strong>de</strong>nzen befän<strong>de</strong>n sich im freien Spiel <strong>de</strong>r Kräfte, wobei die <strong>de</strong>r sozialen Koope-<br />
148<br />
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ration in <strong>de</strong>m Maße wachse, wie sich <strong>de</strong>r Mensch an seinen "natürlichen Bedürfnissen" orientiere.<br />
Zwangsinstitutionen wür<strong>de</strong>n dann überflüssig.<br />
Die Stoiker knüpfen also am Begriff <strong>de</strong>s ›Naturrechts‹ <strong>de</strong>r Kyniker an, lehnen aber im Gegensatz zu ihnen<br />
die Vorteile <strong>de</strong>r Zivilisation nicht ab. Sie sind eher Realisten als Provokateure, und von <strong>de</strong>n Epikuräern<br />
bringen sie die Fähigkeit zum Genuß mit ein. Eine hübsche Mischung, die starke Elemente <strong>de</strong>ssen in sich<br />
trägt, was wir heute Individualismus, Rationalismus, Gleichheit und Weltoffenheit nennen wür<strong>de</strong>n.<br />
Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s ›Naturrechts‹ setzt ›Gott‹ mit ›Natur‹ gleich und ›Natur‹ mit ›Vernunft‹. Ein philosophischer<br />
Trick mit tiefreichen<strong>de</strong>n Folgen für lange Zeit:<br />
Göttliches Recht entspräche <strong>de</strong>mnach natürlichem Recht, die Grenzen <strong>de</strong>s Menschen gegenüber <strong>de</strong>n<br />
Göttern wären genau die, die auch die Natur setzt. Sich gegen die Natur (= Gott) aufzulehnen, ist<br />
unvernünftig. Also ist es vernünftig, das Naturrecht (= göttliche Ordnung) zu respektieren.<br />
Naturwissenschaft wäre folglich die Erforschung dieser Ordnung. Es leuchtet ein, daß ein solches<br />
Gottesbild sich immer mehr von mystischer Religion entfernt. Rationalität bekommt einen göttlichen<br />
Charakter, das religiöse Element verkümmert. In all <strong>de</strong>m ähnelt die Stoa stark <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>alen <strong>de</strong>r<br />
Aufklärung, ebenso, wie in <strong>de</strong>m schier grenzenlosen Glauben an die Güte <strong>de</strong>s Menschen, sofern er sich<br />
nur ›natürlich‹ entwickeln kann - ein Glaube übrigens, <strong>de</strong>r seit Rousseau viel an Überzeugungskraft<br />
verloren hat und im Anarchismus heute eher kritisch gesehen wird. Vor 2200 Jahren jedoch war eine<br />
solche Denkweise bahnbrechend, <strong>de</strong>nn sie setzte erstmals ein Gegengewicht gegen das lokale, autoritäre,<br />
gotthörige Macht<strong>de</strong>nken in <strong>de</strong>r griechischen Mainstream-Philosophie mit ihren personifiziertem<br />
Gottheiten. So konnte ein geschlossenes politisches Weltbild entstehen:<br />
Ein weiser Mensch, so die Stoiker, beteilige sich am politischen Leben, wenn er nicht daran gehin<strong>de</strong>rt<br />
wird, <strong>de</strong>r Staat aber verhin<strong>de</strong>re solches Engagement von Natur aus. Alle Staaten seien daher in gleicher<br />
Weise von Übel. Stoiker erweisen sich außer<strong>de</strong>m als wahre Kosmopoliten. Im Gegensatz zu Platon und<br />
Aristoteles halten sie alle Menschen für gleichwertig und wen<strong>de</strong>n sich folgerichtig gegen die Sklaverei in<br />
<strong>de</strong>r Polis. In Zenos "Republik" gibt es keine Rassen- o<strong>de</strong>r Rangunterschie<strong>de</strong>, we<strong>de</strong>r Gerichtshöfe noch<br />
Polizei, Armeen, Tempel, Geld, Ehe noch Schulen. In einer solchen ›natürlichen Ordnung‹ "arbeitet ein<br />
je<strong>de</strong>r nach seinen Fähigkeiten und konsumiert nach seinen Bedürfnissen". Erst gut 2000 Jahre später wird<br />
die Tradition solch radikaler Gedankengänge zaghaft wie<strong>de</strong>r aufgegriffen: von Lessing und Fichte,<br />
vehementer dann von Godwin, Kropotkin und Landauer.<br />
Vergessen wir aber eines nicht: Zenos "Republik" war kein real existieren<strong>de</strong>s Territorium, son<strong>de</strong>rn<br />
Philosophie. I<strong>de</strong>en, die als schriftliche Fragmente o<strong>de</strong>r Berichte auf uns gekommen sind. Epikuräer,<br />
Kyniker und Stoiker waren Randgruppen <strong>de</strong>r Gesellschaft, die im Gegensatz zur herrschen<strong>de</strong>n Moral und<br />
Philosophie stan<strong>de</strong>n. ›Spinner‹ vermutlich in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r meisten Menschen, die überhaupt von ihnen<br />
Kenntnis nahmen. Über konkrete Versuche, solche I<strong>de</strong>en in die Tat umzusetzen, ist wenig bekannt. Sofern<br />
es dazu Ansätze gab, die
149<br />
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über die Privathäuser <strong>de</strong>r Philosophen hinausgingen, sind sie nicht erfolgreich gewesen – sonst hätten wir<br />
sehr wahrscheinlich davon erfahren. Philosophie war im alten Griechenland ein Steckenpferd<br />
privilegierter Menschen.<br />
Dennoch darf die Wirkung solcher philosophischer Schulen nicht unterschätzt wer<strong>de</strong>n. Zum einen sind sie<br />
Trendsetter. Ohne Zweifel haben sie einen Einfluß auf <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>r Zeit und wirken auf das soziale<br />
Leben einer Epoche. So fand die Stoa im gesamten Mittelmeerraum Anhänger, beson<strong>de</strong>rs in Kleinasien<br />
und in Rom, wo sie nachhaltigen Einfluß auf die Rechtsprechung ausübte - die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Naturrechts<br />
verdrängte die <strong>de</strong>s Formalrechts. Zum an<strong>de</strong>ren wur<strong>de</strong>n sie Teil <strong>de</strong>r menschlichen Kulturgeschichte und<br />
wirkten wie Samenkörner <strong>de</strong>r Freiheit, die Jahrhun<strong>de</strong>rte überdauerten, um irgendwann auf fruchtbaren<br />
Bo<strong>de</strong>n zu fallen und Keime in <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Wirklichkeit zu treiben. Die wenigen hellen Denker<br />
<strong>de</strong>s Mittelalters schöpften ebenso aus diesem Saatgut wie die Philosophen <strong>de</strong>r Renaissance, die Aufklärer<br />
<strong>de</strong>r Neuzeit und die frühen Anarchisten.<br />
Düstere Zeiten im Schatten <strong>de</strong>r Kirche<br />
Die nun folgen<strong>de</strong>n Jahrhun<strong>de</strong>rte sind arm an solchen freiheitlichen ›Samenkörnern‹, und auch die ›A<strong>de</strong>rn<br />
<strong>de</strong>r Freiheit pulsieren für lange Zeit nurmehr ganz schwach. Das Römische Reich ist nicht nur <strong>de</strong>r<br />
machtpolitische Triumph <strong>de</strong>s Staates an sich, son<strong>de</strong>rn gipfelt in schärfster Konsequenz in einem bis dahin<br />
nie gekannten Imperialismus. Fast die gesamte abendländische Welt ist einer einzigen, mächtigen,<br />
zentralen Staatsdoktrin unterworfen und dient Rom. Schlechte Zeiten für die Liebe zur Freiheit.<br />
Danach kommt das sogenannte ›finstere Mittelalten, das zwar in vielem so finster nicht war wie<br />
gemeinhin angenommen, in <strong>de</strong>r Frage globaler Freiheit aber eben doch. Im Gefolge <strong>de</strong>r neuen christlichen<br />
Religion und ihrem einen, gestrengen, neurotisch-autoritären Gott folgt - mit etwas zeitlichem Abstand -<br />
ein neuer, religiöser Imperialismus: Kirche, Klerus und Klöster überziehen Europa mit einer ebenso<br />
dumpfen wie intoleranten Einheitsdoktrin. Sie ist auf Angst aufgebaut und verfilzt sich vortrefflich mit<br />
<strong>de</strong>r weltlichen Staatsmacht. Ein Denken außerhalb religiöser Kategorien ist für an<strong>de</strong>rthalb Jahrtausen<strong>de</strong><br />
schier unmöglich gewor<strong>de</strong>n.<br />
Darum ist das meiste, was uns aus diesen Zeiten an freiheitlichen Impulsen überliefert ist, entwe<strong>de</strong>r<br />
direkte Rebellion gegen Unterdrückung o<strong>de</strong>r aber Abweichung von <strong>de</strong>r kirchlichen Lehre. Sklaven und<br />
Ketzer*, Bauern und Häretiker* sind die Protagonisten* dieses Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s. Die Quellenlage aus<br />
heutiger Sicht ist dabei schier zum Verzweifeln. Die reinen Aufstandsbewegungen haben kaum Schriften<br />
o<strong>de</strong>r Theorien hervorgebracht; sie sind uns nur aus <strong>de</strong>n Berichten <strong>de</strong>r Sieger bekannt, und entsprechend<br />
schlecht kommen sie dabei weg. Bei <strong>de</strong>n Häretikern gibt es schon eher schriftliche Dokumente, da ihre<br />
Denker meist selbst <strong>de</strong>r Kirche entstammten und fleißige Schreiber waren. Vieles aber wur<strong>de</strong> vernichtet,<br />
und <strong>de</strong>n Rest muß man sich mühsam aus <strong>de</strong>n Akten <strong>de</strong>r Inquisitoren zusammenreimen. Das ist etwa so<br />
authentisch*, wie wenn man die Weltanschauungen <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rständler gegen Hitler aus <strong>de</strong>n<br />
Verhörprotokollen <strong>de</strong>r Gestapo rekonstruieren wollte.<br />
150<br />
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Seit <strong>de</strong>r Zeitenwen<strong>de</strong> gibt es kein Jahrhun<strong>de</strong>rt ohne Aufstand und Häresie. Eine ununterbrochene Kette<br />
<strong>de</strong>r Aufmüpfigkeit begleitet die ›offizielle‹ Entwicklung <strong>de</strong>r Gesellschaft. Plebejer, Gracchen, die von<br />
Spartakus angeführten Sklaven, Kimbern, Teutonen und Donatisten erhoben sich gegen das Römische<br />
Reich. Allein in unserer näheren Umgebung setzten sich Bataver, Sachsen, Slawen, Friesen, Lutizen und<br />
immer wie<strong>de</strong>r die geknechteten Bauern gegen Unterdrückung und Entrechtung zur Wehr. Köln,
Mag<strong>de</strong>burg, Straßburg, Mainz, Würzburg o<strong>de</strong>r Braunschweig erlebten Erhebungen gegen die Obrigkeit<br />
ebenso wie Bayern, das Elsaß, Thüringen, Pommern, Dithmarschen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Sundgau. Sie alle können<br />
we<strong>de</strong>r aufgezählt noch untersucht wer<strong>de</strong>n.<br />
Haben solche Rebellionen an-archische Züge gehabt? In einem strengen Sinne sicher nicht, <strong>de</strong>nn in <strong>de</strong>r<br />
Regel fehlte die Gesamtheit einer herrschaftsfreien Vision. So kommt <strong>de</strong>nn auch Max Nettlau in seiner<br />
"Geschichte <strong>de</strong>r Anarchie" zu <strong>de</strong>m Urteil, daß die Aufstän<strong>de</strong> im alten Rom ebenso autoritäre Formen<br />
aufwiesen wie die urchristlichen Gemeinschaften, die trotz ihrer kommunistisch-<strong>de</strong>mokratischen<br />
Anfangsphase rasch in <strong>de</strong>r neuen Staatsreligion aufgesogen wur<strong>de</strong>n. Für die Sache <strong>de</strong>r Freiheit, so<br />
Nettlau, "kamen alle diese nicht in Betracht", und er läßt nur wenige Ausnahmen gelten. Im Sinne unserer<br />
unbefangenen Suche nach Essentials jenseits <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Anarchismusbegriffs aber lohnt sich ein etwas<br />
näheres Hinsehen.<br />
"O Ihr Dummköpfe! Je<strong>de</strong>r kann in ein Buch schreiben, was er will; und <strong>de</strong>r das Evangelium schrieb,<br />
konnte auch schreiben, was er wollte." Solch respektlose<br />
Sätze aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> überzeugter Christen klingen ungewohnt. Und doch sind sie typisch für jenen<br />
egalitären und antiautoritären Strang, <strong>de</strong>r sich als Opposition durch die Geschichte <strong>de</strong>s Christentums zieht<br />
und bis heute nicht zum Schweigen gebracht wur<strong>de</strong>.<br />
Das Zitat stammt aus <strong>de</strong>r Endphase <strong>de</strong>r Katharer, einer ungemein populären christlichen<br />
Protestbewegung, die im 12. und 13. Jahrhun<strong>de</strong>n große Teile Sü<strong>de</strong>uropas erfaßte. Diese Menschen<br />
verstan<strong>de</strong>n sich nach <strong>de</strong>m griechischen katharos als ›die Reinen‹ - ein Wort, aus <strong>de</strong>m das <strong>de</strong>utsche<br />
›Ketzer‹ entstand. Sie wandten sich gegen die allgemeine Armut und die Privilegien <strong>de</strong>s A<strong>de</strong>ls,<br />
verspotteten die Amtskirche mitsamt ihren Dogmen und ihrem Pomp, predigten ein einfaches Leben und<br />
betrachteten alle Menschen als gleich. Das galt auch für Frauen, was in <strong>de</strong>r patriarchalen Welt <strong>de</strong>s<br />
Mittelalters eine unglaubliche Provokation war. Offenbar trafen aber solche I<strong>de</strong>en die Bedürfnisse und<br />
<strong>de</strong>n Geschmack breitester Kreise und wur<strong>de</strong>n zu einer ernsten Bedrohung <strong>de</strong>r Kirche. Da Ketzer überdies<br />
<strong>de</strong>n nötigen Respekt vor <strong>de</strong>r Heiligen Schrift und <strong>de</strong>r Heiligen Römischen Kirche vermissen ließen, saß<br />
Papst Gregor IX. schließlich <strong>de</strong>rart in <strong>de</strong>r Klemme, daß er 1232 die ›Heilige Inquisition‹ erfand, ein<br />
Glaubensgericht, das mittels Tribunal, Folter und To<strong>de</strong>sstrafe alle Arten von ›Irrglauben‹ bekämpfen<br />
sollte. Es folgten, Hand in Hand mit staatlicher Macht, regelrechte Ausrottungskriege - etwa gegen die<br />
Albigenser in <strong>de</strong>r Provence o<strong>de</strong>r die Wal<strong>de</strong>nser in Frankreich und Norditalien. Trotz aller Brutalität sollte<br />
es über siebzig Jahre dauern, bis die Katharer endlich vernichtet waren - nur, um neuen<br />
Protestbewegungen<br />
151<br />
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Platz zu machen, die dann ebenfalls verfolgt wur<strong>de</strong>n. Die Inquisition - sie besteht bis heute, darf aber<br />
keine weltlichen Strafen mehr verhängen - blieb in ihrer beinahe 8oo-jährigen Geschichte nie ohne<br />
Beschäftigung.<br />
Kirchliche Rebellen - gleich ob in Wort, Schrift o<strong>de</strong>r Tat - hießen seit <strong>de</strong>n Tagen <strong>de</strong>r Katharer allgemein<br />
›Ketzer‹. Und Ketzer wur<strong>de</strong>n, sofern sie nicht reuig waren und von <strong>de</strong>r Mutter Kirche Pardon erhielten,<br />
bis ins 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt hinein verbrannt, gehängt, gevierteilt o<strong>de</strong>r gerä<strong>de</strong>rt. Oft genug reichte es hierfür<br />
aus, von <strong>de</strong>r offiziellen Meinung abzuweichen und selbst nachzu<strong>de</strong>nken. Treffen<strong>de</strong>r ist <strong>de</strong>shalb das Wort<br />
Häretiker. Es kommt von <strong>de</strong>m griechischen Wort für ›Wahl‹, häresis, und bezeichnet Menschen, die<br />
"selbsterwählten Anschauungen o<strong>de</strong>r Lebensarten anhängen". Schon im zweiten nachchristlichen<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rt wird das Wort von <strong>de</strong>r Kirche für das Verbrechen "willkürlicher Menschenmeinung"<br />
verwen<strong>de</strong>t und bezeichnet fortan einen ›Abweichler‹ von <strong>de</strong>r göttlichen Wahrheit, die natürlich von <strong>de</strong>r<br />
Kirche festgelegt wur<strong>de</strong>. Und Abweichung galt als eine arge Sün<strong>de</strong>, die durchaus to<strong>de</strong>swürdig war.<br />
Dabei gab es ›Häresie‹ schon vor <strong>de</strong>r Kirche - genau genommen schon vor <strong>de</strong>r historischen Gestalt <strong>de</strong>s<br />
Jesus' von Nazareth. Dieser war nämlich nur einer von zahlreichen utopischen Spinnern‹, die seinerzeit
mit ihren Provokationen und prophetischen Visionen im jüdischen Stammland umherschweiften und <strong>de</strong>n<br />
braven Bürgern damit vermutlich ziemlich auf die Nerven gingen. Ähnlich wie bei uns während <strong>de</strong>r<br />
Hippie-Ära waren damals in Palästina An<strong>de</strong>rsartigkeit, universelle Liebe, Herausfor<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r<br />
Autoritäten, neue Lebensformen, Visionen von Gleichheit und natürlich Wi<strong>de</strong>rstand gegen die<br />
Staatsgewalt schwer in Mo<strong>de</strong>. Und bevor jener belächelte Provo-Prophet Jesus gekreuzigt wur<strong>de</strong>, zum<br />
Mythos avancierte und unter <strong>de</strong>m Spitznamen ›<strong>de</strong>r Gesalbte‹ (Christus) zum Stifter einer neuen Religion<br />
ward, hatte er sehr wahrscheinlich in Verbindung mit einer radikalen religiösen Sekte gestan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n<br />
Essenern. Diese wohnten in einer Art Dorfkommune an <strong>de</strong>n Ufern <strong>de</strong>s Toten Meeres und praktizierten<br />
einen ›vorchristlichen‹ Liebeskommunismus in Gleichheit, Armut, Führerlosigkeit und religiöser<br />
Sinnsuche im Einklang mit <strong>de</strong>r Natur und ihren Gesetzen. Ohne Zweifel ist vieles von <strong>de</strong>m, was <strong>de</strong>r<br />
wan<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Prophet Jesus in Wort und Tat von sich gab, hier entlehnt.<br />
Erst Jahrzehnte und Jahrhun<strong>de</strong>rte später schrieben irgendwelche Leute, die nicht dabeiwaren, all die<br />
Anekdoten und Legen<strong>de</strong>n auf, die über Jesus vom Hörensagen kursierten. So entstan<strong>de</strong>n die ›Evangelien‹<br />
- Teil jener zweifelhaften Textsammlung namens Bibel, die als ›Buch <strong>de</strong>r Bücher‹ bis heute nicht<br />
angezweifelt wer<strong>de</strong>n darf. Aus ihm wur<strong>de</strong> dann sehr schnell ein Paket von ›Wahrheiten‹ geschnürt, die<br />
einer machtbesessenen, dogmatischen und intoleranten Kirche dienten, die sich christlich nannte.<br />
Vermutlich wäre <strong>de</strong>r historische Jesus von Nazareth in ihr <strong>de</strong>r erste Rebell gewesen.<br />
Das heißt nichts weniger, als daß Häresie in ihrem eigentlichen Sinn nicht eine Abweichung, son<strong>de</strong>rn<br />
gera<strong>de</strong>zu etwas Typisches <strong>de</strong>s Christentums ist - ganz einfach <strong>de</strong>shalb, weil Jesus von Nazareth als freier<br />
Sucher abweichen<strong>de</strong>r Anschauungen und Lebensarten selbst ein typischer Häretiker war. Insofern wäre<br />
die christliche Kirche die wirkliche<br />
152<br />
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Degenerierung* <strong>de</strong>r Ethik Jesu. So je<strong>de</strong>nfalls sehen es mehr o<strong>de</strong>r weniger stark alle häretischen<br />
Bewegungen: sie streben stets nach einem ›wahren‹ Christentum, wollen zurück zu <strong>de</strong>n unverfälschten<br />
Ursprüngen. Dabei suchen sie <strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>r Botschaft weniger in <strong>de</strong>r peniblen Auslegung kirchlicher<br />
Texte als vielmehr in <strong>de</strong>m Geist, <strong>de</strong>n sie beispielhaft im Leben Jesu meinen gefun<strong>de</strong>n zu haben. Diese<br />
Ten<strong>de</strong>nz ist nicht auf das Mittelalter beschränkt. Sie zieht sich lückenlos hin, von <strong>de</strong>n Essenern bis zu<br />
Tolstoi. Jesus als Rebell - das inspiriert bis heute! Etwa die ›Theologie <strong>de</strong>r Befreiung‹ Lateinamerikas,<br />
das katholische Arbeiter-priestertum o<strong>de</strong>r das Werk <strong>de</strong>s religiös-pazifistischen Sozialisten Leonhard<br />
Ragaz. Gruppen wie die ›Catholic Workers‹ aus <strong>de</strong>n USA gehen noch einen Schritt weiter. Ihnen macht<br />
es offenbar keine Schwierigkeiten, Christus und Anarchie unter einen Hut zu bringen. Ihre Aktivisten<br />
Dorothy Day, Ammon Hennacy und Peter Maurin vertraten eine Art religiösen Anarchismus, ähnlich wie<br />
<strong>de</strong>r russische Denker Nikolai Berdjajew dies auf philosophischer Ebene tat. Der religiöse, ja ausdrücklich<br />
auch <strong>de</strong>r "christliche Anarchismus", bil<strong>de</strong>t seit langem einen kleinen aber interessanten Seitenstrang im<br />
›schwarzen Fa<strong>de</strong>n‹ <strong>de</strong>r libertären Bewegung. Religiöse Ansichten sind im Anarchismus ja auch nicht<br />
verboten, und Atheismus ist keinesfalls eine automatische Pflichtübung. Trotz<strong>de</strong>m können die meisten<br />
Anarchisten hier nicht mehr folgen. In unserem Zeitalter, so argumentieren sie, seien ›Religion‹ und<br />
maturharmonisches Weltbild‹ klar getrennt, wodurch auch <strong>de</strong>r "philosophische Trick" mit <strong>de</strong>m Naturrecht<br />
überflüssig wer<strong>de</strong>. Um so unverständlicher sei es, wie jemand Herrschaftsfreiheit mit <strong>de</strong>r Unterwerfung<br />
unter göttliche Autorität und Allmacht in Einklang bringen will.<br />
"Nichts ist uns frem<strong>de</strong>r als <strong>de</strong>r Staat" – diese Äußerung von Tertullian, einem <strong>de</strong>r ältesten lateinischen<br />
Kirchenväter, zeigt, wie stark und selbstverständlich christlich-antiautoritäre Tugend noch im 2.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rt vertreten wur<strong>de</strong>. Das sollte sich bald än<strong>de</strong>rn. Die Sekte <strong>de</strong>r Christen baut noch in <strong>de</strong>r<br />
Verfolgung durch das Römische Imperium ihren eigenen hierarchischen Apparat auf und wird am En<strong>de</strong><br />
Staatsreligion. Das Christentum vollzieht eine radikale Wen<strong>de</strong> von seinen kommunitären Wurzeln hin zur<br />
Verfolgung <strong>de</strong>r utopischchristlichen Visionen. Ab sofort wer<strong>de</strong>n alle, die die Kungelei mit Macht und<br />
Reichtum ablehnen und statt<strong>de</strong>ssen in <strong>de</strong>m egalitären Liebesbeispiel die eigentliche Botschaft Jesu sehen,<br />
zu Verfolgten. Auch Tertullian bricht noch zu Lebzeiten mit <strong>de</strong>r Bischofskirche.
Der Gnostiker* Karpokrates von Alexandrien for<strong>de</strong>rt in seinem Buch "Über Gerechtigkeit" in <strong>de</strong>r Mitte<br />
<strong>de</strong>s 2. Jahrhun<strong>de</strong>rts einen seiner Meinung nach gottgewollten Kommunismus ein, <strong>de</strong>r auch in <strong>de</strong>r Natur<br />
überall erkennbar sei: Alle sollen an allen Gütern gleich teilhaben, niemand solle mehr besitzen als ein<br />
an<strong>de</strong>rer. Lust und Begier<strong>de</strong> dürften nicht unterdrückt wer<strong>de</strong>n, da sie ebenfalls natürlich und daher<br />
gottgefällig seien. Auf diese Gleichsetzung von Naturgesetz und Gotteswille beruft sich auch Bischof<br />
Ambrosius von Mailand (540-397), <strong>de</strong>r verkün<strong>de</strong>te: "Die Natur hat das Gemeinschaftsrecht hervorbracht.<br />
Die Anmaßung hat das Privateigentum erzeugt." Im syrischen Antiochia vertrat Johannes Chrysostomus<br />
(354-407) Ähnliches und predigte später, als er Bischof in Konstantinopel gewor<strong>de</strong>n war, <strong>de</strong>n unter<br />
römischer Steuerknechtschaft ächzen<strong>de</strong>n Untertanen<br />
153<br />
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ein kommunitäres Sozialwesen mit Gemeineigentum. Er starb in Verbannung. Augustinus, ein Schüler<br />
<strong>de</strong>s Ambrosius, verschenkte seinen gesamten Besitz, um fortan in Afrika zu wirken. Ein scharfer Gegner<br />
<strong>de</strong>r Verquickung von Kirche und Staat, schuf er mit seinem Buch "De civitate Dei" die erste christlich<br />
inspirierte politische Utopie, in <strong>de</strong>r das Gol<strong>de</strong>ne Zeitalter <strong>de</strong>r Menschheit nicht im verlorenen Paradies,<br />
son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r irdischen Zukunft liegen sollte. Diese Vision von Gottes Reich gipfelt in <strong>de</strong>m Satz "Liebe<br />
und tu was Du willst", die sich 1534 fast wörtlich in <strong>de</strong>n utopischen Schriften <strong>de</strong>s französischen<br />
›Frühlibertären‹ Rabelais wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>t. Augustinus wird damit zum Begrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Millenarismus, jener<br />
Hoffnung auf ein tausendjähriges Reich Gottes auf Er<strong>de</strong>n, geprägt von Gleichheit, Gerechtigkeit,<br />
Brü<strong>de</strong>rlichkeit und Liebe. Aus dieser Quelle sollten später noch viele kirchliche Rebellenbewegungen<br />
schöpfen.<br />
Nun blieben I<strong>de</strong>en wie die von Karpokrates, Ambrosius, Chrysostomus, Augustinus und an<strong>de</strong>rer fast<br />
immer ohne praktische Konsequenzen. Die christlichen Gemein<strong>de</strong>n lebten anfänglich ohnehin in einer Art<br />
Urkommunismus, und das Gros <strong>de</strong>r Bevölkerung erreichte diese Lehren kaum. Allenfalls kleinere<br />
Gruppen nahmen sich <strong>de</strong>rartige Predigten zu Herzen und folgten Männern wie Basilius, <strong>de</strong>r um 370 die<br />
Vision einer Stadt <strong>de</strong>r Nächstenliebe und Fürsorge propagierte. Herausgekommen ist dabei eine Reihe<br />
von Klöstern. Überdies wur<strong>de</strong>n die frühen kirchenkritischen Denker in <strong>de</strong>r Regel entwe<strong>de</strong>r entmachtet<br />
o<strong>de</strong>r aber korrumpiert. Eine Ausnahme bil<strong>de</strong>t die Staats- und kirchenkritische Bewegung <strong>de</strong>r Donatisten,<br />
die im 4. und 5. Jahrhun<strong>de</strong>rt in <strong>de</strong>r nordafrikanischen Provinz Numidien die soziale Rebellion <strong>de</strong>r<br />
verarmten Pachtbauern gegen die Großgrundbesitzer inspirierte und in vielem wie eine Vorwegnahme <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utschen Bauernkriege erscheint. Es kam zu Steuerstreiks, Landbesetzungen, und schließlich zu<br />
bewaffneten Konflikten mit <strong>de</strong>m Römischen Imperium. Bischof Donatus, im Jahre 314 als<br />
›Basiskandidat‹ gegen <strong>de</strong>n Favoriten Roms gewählt, versorgte die Aufmüpfigen im Kampf um ihre<br />
Rechte mit biblischer Munition. Für ihn, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Satz "Was hat <strong>de</strong>r Kaiser mit <strong>de</strong>r Kirche zu tun?"<br />
zugeschrieben wird, galt das Naturrecht <strong>de</strong>s Menschen mehr als das Interesse <strong>de</strong>s Staates. Als <strong>de</strong>r<br />
Aufstand <strong>de</strong>r Donatisten und ihres militanten Flügels, <strong>de</strong>r Circumellionen, auch auf an<strong>de</strong>re römische<br />
Provinzen überzugreifen droht, greift Rom hart durch. Donatus wird nach Gallien verbannt und die<br />
Bewegung geächtet, verfolgt, ausgehungert und verleum<strong>de</strong>t.<br />
Im 9. Jahrhun<strong>de</strong>n brechen erneut aufrührerische I<strong>de</strong>en hervor und wer<strong>de</strong>n zu einer breiten sozialen<br />
Bewegung: Auf <strong>de</strong>m Balkan lehren die Bogumilen <strong>de</strong>n Ungehorsam gegen die Obrigkeit, verlachen die<br />
Kirche und verweigern <strong>de</strong>m A<strong>de</strong>l <strong>de</strong>n Dienst. Ungemein populär in <strong>de</strong>r bäuerlichen Bevölkerung, schickt<br />
die Bewegung Missionare ins westliche Europa, wo ihr Beispiel auf fruchtbaren Bo<strong>de</strong>n fällt. Im Laufe <strong>de</strong>r<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rte entsteht aus diesen Wurzeln die Bewegung <strong>de</strong>r Katharer, <strong>de</strong>r wir bereits begegnet sind. Auch<br />
sie folgen <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>al freiwilliger Armut und lehnen Herrschaft ab. Ihr Leben fassen sie als radikalen<br />
Ausstieg aus üblicher Norm und Ordnung auf: Staat, Ehe, weltliche Gerichtsbarkeit, Kriegsdienst und Eid<br />
sind ebenso verpönt wie das Töten von Menschen und Tieren. Viele Katharer wählen ein Wan<strong>de</strong>rleben,<br />
und so breitet sich die I<strong>de</strong>e epi<strong>de</strong>misch<br />
154
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aus: in Belgien, Italien, Deutschland und vor allem Frankreich ergreift die Bewegung überwiegend die<br />
städtische Bevölkerung. Verfolgt, unterdrückt und geschlagen, fin<strong>de</strong>t ›die Ketzerei‹ jedoch nie ein En<strong>de</strong>.<br />
Sie verbin<strong>de</strong>t sich mit neuen Bewegungen, verän<strong>de</strong>rt sich, und bald lassen sich kaum mehr feste Grenzen<br />
zwischen <strong>de</strong>n einzelnen Häresien feststellen. Trotz aller Verfolgung überleben sie, wie etwa die im 12.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rt entstan<strong>de</strong>nen Wal<strong>de</strong>nser, in Untergrund, Exil und Partisanenkrieg bis zur Deutschen und<br />
Schweizer Reformation und konnten so bis in unsere Tage überdauern.<br />
Als En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 12. Jahrhun<strong>de</strong>rts Joachim von Fiore <strong>de</strong>n Anbruch <strong>de</strong>s ›dritten Zeitalters <strong>de</strong>s Heiligen<br />
Geistes‹ verkün<strong>de</strong>t, in <strong>de</strong>m alle Herren verschwän<strong>de</strong>n, und das Leben pure Freu<strong>de</strong> und Lust sein sollte,<br />
ziehen Zigtausen<strong>de</strong> ekstatischer Menschen tanzend durch die Lan<strong>de</strong> und verunsichern rechtschaffene<br />
Bürger und Kirchenobrigkeit gleichermaßen. Ähnliche Erschütterungen wie diese millenaristische Welle<br />
ruft <strong>de</strong>r kompromißlose Pazifist Franz von Assisi hervor, <strong>de</strong>ssen Radikalismus die Kirche allerdings in<br />
einem klösterlichen Or<strong>de</strong>n kanalisieren kann. Im 13. Jahrhun<strong>de</strong>rt tauchen die Brü<strong>de</strong>r und Schwestern <strong>de</strong>s<br />
freien Geistes auf, die einem radikalen Pantheismus* anhängen und die Einheit von Gott und Natur über<br />
das weltliche Gesetz erheben. Sie berufen sich dabei auf die Worte Paulus' im Brief an die Galater:<br />
"Regiert euch aber <strong>de</strong>r Geist, so seid ihr nicht unter <strong>de</strong>m Gesetz." Mit ihrem freien Kommunismus stellen<br />
sie sich bewußt außerhalb <strong>de</strong>r Gesellschaft, ihrer Sitten und Gebräuche. Eng verquickt und kaum<br />
auseinan<strong>de</strong>rzuhalten waren sie mit <strong>de</strong>n Beginen und Begar<strong>de</strong>n, die sich ebenfalls in Wohn- und<br />
Arbeitsgemeinschaften praktisch organisierten. Mit <strong>de</strong>n Beginen begegnen wir einer sehr frühen und<br />
außeror<strong>de</strong>ntlich aktiven Frauenbewegung <strong>de</strong>s Mittelalters. Es gelang ihnen zunehmend, in eigenen<br />
Klöstern Freiräume für ihre feminine, pantheistische und mystische Religiosität zu erkämpfen. Die<br />
praktischen Zielvorstellungen dieser meist <strong>de</strong>r Oberschicht entstammen<strong>de</strong>n Frauen zielten auf<br />
wirtschaftliche Unabhängigkeit durch Arbeit in einem herrschaftsfreien Raum hin, <strong>de</strong>m Frauenkloster.<br />
Die Schweifen<strong>de</strong>n Beginen wie<strong>de</strong>rum waren nicht ans Kloster gebun<strong>de</strong>n und zogen frei durchs Land. Es<br />
wird berichtet, daß sie gelegentlich unter Slogans wie "Tod <strong>de</strong>r Kirche" die saturierten* Mönche aus ihren<br />
Klöstern verjagten. Die Beginen verstießen gegen die kirchlichen Auffassungen von Eigentum, Arbeit,<br />
Keuschheit und <strong>de</strong>n Sakramenten. Frauen wie Hil<strong>de</strong>gard von Bingen, Mechthild von Mag<strong>de</strong>burg,<br />
Margarets von Porete o<strong>de</strong>r die <strong>de</strong>m ketzerischen Mystiker Meister Eckhart nahestehen<strong>de</strong> Schwester Katrei<br />
wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Kirchenhierarchie zunehmend als Bedrohung empfun<strong>de</strong>n. Nach<strong>de</strong>m zunächst <strong>de</strong>n<br />
Schweifen<strong>de</strong>n Beginen <strong>de</strong>r Garaus gemacht wur<strong>de</strong>, zwang Rom auch die Frauenklöster in <strong>de</strong>n Gehorsam<br />
o<strong>de</strong>r vernichtete ihre Bewegung durch Feuer und Schwert. Margarete von Porete wur<strong>de</strong> 1310 in Paris<br />
öffentlich verbrannt.<br />
In England erheben sich 1381 die Bauern in einer Revolte gegen A<strong>de</strong>l und drücken<strong>de</strong> Steuern, in <strong>de</strong>ren<br />
Spitze sich <strong>de</strong>r Priester John Ball stellt. Er verlieh <strong>de</strong>m Protest in einem berühmt gewor<strong>de</strong>nen Zweizeiler<br />
Ausdruck: "Als Adam grub und Eva spann, wo war da <strong>de</strong>r E<strong>de</strong>lmann?" Obwohl die Bewegung nach<br />
anfänglichen Erfolgen mit 100.000 Bewaffneten - in London einmarschiert, wird sie vom König mit<br />
Versprechungen hingehalten und<br />
155<br />
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schließlich plump übertölpelt. Dennoch sollten die radikalen Predigten <strong>de</strong>s John Ball, in <strong>de</strong>nen er zur<br />
Abschaffung von A<strong>de</strong>l, Richtern, Anwälten und allen Mächtigen aufruft, um die kommunitäre Gleichheit<br />
<strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n Gesellschaft zu sichern, über Jahrhun<strong>de</strong>rte unvergessen bleiben.<br />
1419 löst die Hinrichtung <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>raten Kirchenkritikers Jan Hus in Böhmen einen Aufstand aus. Waren<br />
die Hussiten eher autoritär-nationalistisch eingestellt, so versuchten sich im Gefolge dieser Bewegung die<br />
Taboriten mit <strong>de</strong>r Gründung eines Gemeinwesens, das spätere Historiker als "anarcho- kommunistisches<br />
Experiment" eingestuft haben: In einem Städtchen auf einem Berg nahe Prag, nach biblischem Vorbild<br />
Tabor getauft, grün<strong>de</strong>n sie eine Kommune ohne Eigentum und Steuern, in <strong>de</strong>r keine Autorität außer <strong>de</strong>r<br />
Bibel gilt. Sie teilen Besitz und Produktion und glauben in typisch millenaristischer Verklärung, daß das<br />
verheißene Reich, in <strong>de</strong>m alle Gesetze abgeschafft und die Erwählten unsterblich seien, nun angebrochen
wäre. Singend, tanzend und oftmals auch unbeklei<strong>de</strong>t ziehen sie durch die Wäl<strong>de</strong>r. Angesichts solcher<br />
Verzückung kümmern sie sich nur wenig um so weltliche Dinge wie effektive Produktion und<br />
Güterverteilung, so daß das Experiment nach wenigen Jahren wirtschaftlich zusammenbricht. Einige<br />
Taboriten verlegen sich nun auf Bettelei und Diebstahl, an<strong>de</strong>re gefallen sich in <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>s bewaffneten<br />
Armes gegen <strong>de</strong>n Antichrist und rufen dazu auf, alle Adligen zu schlachten. Von dieser Wen<strong>de</strong> zur<br />
Gewalt distanziert sich ein Teil <strong>de</strong>r Taboriten und zieht unter Peter Chelsicky ins ländliche Böhmen, wo<br />
sie eine pazifistische Gemeinschaft grün<strong>de</strong>n, aus <strong>de</strong>r später die ›Mährischen Brü<strong>de</strong>r‹ hervorgehen. In<br />
seinem Buch "Netz <strong>de</strong>s Glaubens" interpretiert Chelsicky Staat und politische Macht als Strafe für die<br />
Erbsün<strong>de</strong>, die, wenngleich <strong>de</strong>rzeit notwendige Übel, in <strong>de</strong>r Gemeinschaft wahrer Christen überflüssig<br />
seien. Kropotkin zählt ihn <strong>de</strong>shalb zu <strong>de</strong>n Vorläufern <strong>de</strong>s Anarchismus, und Rudolf Rocker sieht in ihm<br />
gar einen frühen Tolstoi.<br />
Vor <strong>de</strong>m Hintergrund solch bewegter Ketzeri<strong>de</strong>en nimmt sich <strong>de</strong>r Reformansatz eines Martin Luther eher<br />
zahm aus. Tatsächlich war die Luthersche Kritik an<br />
<strong>de</strong>r Katholischen Kirche und <strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong>n im Deutschen Reich alles an<strong>de</strong>re als radikal. In erster Linie<br />
war sie als ein Än<strong>de</strong>rungsvorschlag für verkrustete Institutionen geplant, und Luther war zunächst nicht<br />
mehr als ein Ketzer unter vielen, <strong>de</strong>r nur etwas mehr Glück hatte als an<strong>de</strong>re. Daß seine Thesen <strong>de</strong>nnoch so<br />
viel Wirbel machten und über verheeren<strong>de</strong> Kriege schließlich zur Geburt einer neuen Kirche führten, lag<br />
<strong>de</strong>nn auch weniger an <strong>de</strong>r Originalität <strong>de</strong>s Dr. Luther, als vielmehr an <strong>de</strong>r päpstlichen Halsstarrigkeit und<br />
<strong>de</strong>n machtpolitischen Konstellationen jener Zeit: Der Zusammenbruch <strong>de</strong>s Feudalismus zeichnete sich<br />
immer klarer ab. Neue gesellschaftliche Schichten waren aufgestiegen, alte kämpften gegen ihren<br />
Untergang, und die ewig Rechtlosen for<strong>de</strong>rten ihre Rechte ein. Die gesellschaftlichen Strukturen aber<br />
waren uralt und taugten nicht mehr für die neue Zeit. Der Ruf nach einer ›Reichsreform‹ wur<strong>de</strong> laut, aber<br />
nicht verwirklicht. Seit über 100 Jahren lehnten sich die Bauern im gesamten <strong>de</strong>utschsprachigen Raum<br />
gegen Armut und Rechtlosigkeit auf und griffen nun vermehrt zu <strong>de</strong>n Waffen. Kaiser, Kaufleute und<br />
Kirche, Patrizier, Reichsritter<br />
156<br />
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und Humanisten mischten ihre jeweiligen Interessen in <strong>de</strong>n Sauerteig dieses bewegten 16. Jahrhun<strong>de</strong>rts.<br />
Die Reformation entfesselte in diesen wi<strong>de</strong>rsprüchlichen Interessen Kräfte, die nicht mehr zu<br />
kontrollieren waren und auch das Ausland auf <strong>de</strong>n Plan riefen. Wo immer aber <strong>de</strong>r Wunsch nach<br />
wirklicher Befreiung und radikaler Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Zustän<strong>de</strong> durchschimmerte, wur<strong>de</strong>n die ›großen<br />
Reformatoren wie Luther, Calvin o<strong>de</strong>r Zwingli zu entschie<strong>de</strong>nen Verteidigern von Ruhe und Ordnung.<br />
Herrschaft, Unterwerfung und Hierarchie stellten sie nie in Frage.<br />
Das turbulente Jahrhun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Reformations- und Bauernkriege bringt aber auch an<strong>de</strong>re Namen hervor,<br />
die typisch für jene bizarre, aus <strong>de</strong>n Fugen geratene Welt sind.<br />
Zu Beginn <strong>de</strong>s 16. Jahrhun<strong>de</strong>rts steht fast <strong>de</strong>r gesamte süd<strong>de</strong>utsche Raum in Aufruhr. Die Bauern stellen<br />
regelrechte Heere auf und bedrängen die Obrigkeit mit einer Mischung aus For<strong>de</strong>rung, Kampf und<br />
Verhandlungstaktik. Einer dieser legendären Bauernbün<strong>de</strong> war <strong>de</strong>r Bundschuh; seine Struktur wür<strong>de</strong>n wir<br />
heute ›basis<strong>de</strong>mokratisch‹ nennen. Die zwölf Artikel ihrer Statuten beklagen Unrecht und for<strong>de</strong>rn Rechte,<br />
postulieren Gleichheit und Gemeineigentum, schmähen die Privilegien von A<strong>de</strong>l und Klerus - all das<br />
begrün<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>m Geist <strong>de</strong>s Evangeliums. Die geistigen, geistlichen und militärischen Anführer dieser<br />
verschie<strong>de</strong>nen ›Bauernhaufen‹ wie Florian Geyer, Ulrich von Hütten, Götz von Berlichingen, Wen<strong>de</strong>l<br />
Hipler, Thomas Müntzer o<strong>de</strong>r Joß Fritz waren keine Bauern, son<strong>de</strong>rn Pfarrer, Reichsritter o<strong>de</strong>r Notare, die<br />
sich <strong>de</strong>r Bewegung aus durchaus unterschiedlichen Motiven anschlössen: von tief empfun<strong>de</strong>nem<br />
Humanismus über Gerechtigkeitsgefühl, religiöse Überzeugung, politische Reformvisionen bis hin zu<br />
berechnen<strong>de</strong>m Eigennutz war alles vertreten. Auch aus <strong>de</strong>n Reihen <strong>de</strong>r Bauern sind einige - wenige -<br />
Namen überliefert, die aus <strong>de</strong>n Quellen aber meist als zwielichtige Gestalten hervorgehen. Desperados,<br />
wie wir heute sagen wür<strong>de</strong>n, die es nicht selten auf Beute und persönliche Rache abgesehen hatten. Sie<br />
sorgten mit ihrem wortradikalen Haß auf Pfaffen und Adlige zwar reichlich für <strong>de</strong>n Stoff, aus <strong>de</strong>m jene<br />
Legen<strong>de</strong>n sind, die später bei <strong>de</strong>n Linken so beliebt wur<strong>de</strong>n. Allerdings trugen ihre oft kopf- und
sinnlosen Exzesse* nicht wenig dazu bei, daß aus diesem Kampf kaum Neues erwuchs. Ihr Zorn war<br />
berechtigt und ist leicht zu verstehen - und die Grausamkeiten waren auf Seiten <strong>de</strong>r fürstlichen Truppen<br />
eher noch schlimmer -, er führte aber immer öfter zu Nie<strong>de</strong>rlagen und Diskreditierung dieser mächtigen,<br />
ruhelosen Bewegung. So konnten kaum Visionen für eine neue Ordnung ge<strong>de</strong>ihen, und Pläne reichten<br />
meist nicht über <strong>de</strong>n Augenblick hinaus. Der Protest machte sich an Einzelheiten fest und war, wie die<br />
Historikerin Christa Dericum schreibt, eher eine Zusammenballung revoltieren<strong>de</strong>r Potenzen als eine<br />
Revolution. We<strong>de</strong>r die geistige Elite noch ihre radikalisierte Basis erreichte je die visionäre Höhe etwa<br />
<strong>de</strong>r alten Griechen; ihr Begriff von Freiheit kommt nicht über die Bibel hinaus. Im dritten Artikel <strong>de</strong>s<br />
Bundschuh liest sich das so: "Es fin<strong>de</strong>t sich in <strong>de</strong>r Schrift, daß wir frei sind, und wir wollen frei sein.<br />
Freilich nicht so, daß wir ganz frei und keine Obrigkeiten haben wollen. Das lehrt uns Gott nicht."<br />
Ein Denken jenseits von Gott war schlicht tabu. Das gilt selbst für die mit kaum gekannter Radikalität<br />
auftreten<strong>de</strong>n interessanten ›Ran<strong>de</strong>rscheinungen‹ <strong>de</strong>r Bauernkriege<br />
157<br />
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wie die Wie<strong>de</strong>rtäufer, die Kommunen von Münster und Mühlhausen o<strong>de</strong>r gut hun<strong>de</strong>rt Jahre später die<br />
Diggers und Ranters, mit <strong>de</strong>nen in England die religiös inspirierten Revolten ausklingen.<br />
Im Gefolge all dieser Unruhen flutete eine Welle <strong>de</strong>r Heilserwartung durch Europa: Das ersehnte Reich<br />
von Gottes Gerechtigkeit sei angebrochen, hier und heute müsse es gelebt wer<strong>de</strong>n! Wie<strong>de</strong>rtäufer zogen<br />
durch die Lan<strong>de</strong>, zitierten millenaristische Prophezeiungen und verkün<strong>de</strong>ten <strong>de</strong>n Auserwählten die neue<br />
Zeit. Wie überall kamen die I<strong>de</strong>en von radikaler Gleichheit und <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> wirtschaftlicher Knechtschaft<br />
bei <strong>de</strong>n einfachen Leuten gut an. Im thüringischen Mühlhausen gelang <strong>de</strong>m bewaffneten Geheimbund<br />
Thomas Müntzers die Eroberung <strong>de</strong>r Stadt, und mit Hilfe <strong>de</strong>r Bauernschaft etablierte sich eine Kommune,<br />
die das praktische Experiment einer Gütergemeinschaft versuchte. 1525 wur<strong>de</strong> Müntzers Bauernarmee in<br />
Frankenhausen geschlagen. Einer <strong>de</strong>r Überleben<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Buchdrucker Hans Hut, begann daraufhin, <strong>de</strong>n<br />
generalisierten militanten Aufstand zu predigen. Sein Programm kam einer sozialen Revolution gleich:<br />
Christus wer<strong>de</strong> das Schwert führen, um alle Sün<strong>de</strong>n zu bestrafen, alle Regierungen zu vernichten und<br />
allen Besitz zu teilen. Auch nach <strong>de</strong>r Hinrichtung Huts breiteten sich die Wie<strong>de</strong>rtäufergemein<strong>de</strong>n weiter<br />
aus. Sie lebten in kommunitären Gruppen und lehnten die kirchlichen Riten und Sakramente ab.<br />
Erst nach <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschlagung <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rtäuferkommune von Münster im Jahre 1535 verebbte diese<br />
Bewegung. Jan Bockelson (Johann von Ley<strong>de</strong>n) hatte 1534 die Einwohnerschaft für seine<br />
millenaristischen Visionen gewonnen und in <strong>de</strong>r westfälischen Stadt das ›neue Jerusalem‹ ausgerufen. Ein<br />
Jahr lang wur<strong>de</strong> hier ein weitreichen<strong>de</strong>r Güterkommunismus gelebt, <strong>de</strong>r sowohl die Produktion als auch<br />
<strong>de</strong>n Konsum einschloß. Geld wur<strong>de</strong> abgeschafft, und allen stand alles zur Verfügung. Triebkraft dieses<br />
Experiments war in<strong>de</strong>s nicht Bockelsons Liebe zur Freiheit, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r religiöse Wahn <strong>de</strong>r<br />
›Auserwählten‹. Das Regime <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rtäufer war, allen Legen<strong>de</strong>n zum Trotz, durch und durch autoritär<br />
und führte zu einem neuen, tyrannischen Gesetzbuch, das <strong>de</strong>n Männern die Polygamie* erlaubte und <strong>de</strong>n<br />
Kin<strong>de</strong>rn Wi<strong>de</strong>rworte gegen ihre Eltern bei To<strong>de</strong>sstrafe verbot. Es gipfelte in <strong>de</strong>r Krönung <strong>de</strong>s Jan<br />
Bockelson zum "König <strong>de</strong>r Gotteskin<strong>de</strong>r und Regenten <strong>de</strong>s neuen Zion". Die aufständischen Bürger und<br />
Bauern von Münster hatten zwar bewiesen, daß sie sich von <strong>de</strong>r Obrigkeit befreien und auch<br />
wirtschaftlich erfolgreich selbst organisieren konnten, aber nur um <strong>de</strong>n Preis einer neuen Herrschaft, die<br />
kaum weniger tyrannisch war als die alte. Nach langer Belagerung und Hungersnot wur<strong>de</strong> Münster<br />
schließlich von bischöflichen Truppen genommen. Die Sieger hielten blutige Rache.<br />
Nach dieser Erfahrung wur<strong>de</strong>n die Wie<strong>de</strong>rtäufer zu strikten Pazifisten. Beson<strong>de</strong>rs in Mitteleuropa<br />
grün<strong>de</strong>ten sie zahlreiche Kommunen und Gemeinwesen. Der kommunitär-pazifistische Millenarist Jakob<br />
Hutter wur<strong>de</strong> zum Begrün<strong>de</strong>r einer wirtschaftlich blühen<strong>de</strong>n Siedlungsbewegung in Böhmen, Mähren,<br />
Süd<strong>de</strong>utschland und Österreich. Obwohl die Hutterer kein Privateigentum kannten und ein relativ<br />
beschei<strong>de</strong>nes Leben führten, verhalf die Solidarökonomie ihren Gemein<strong>de</strong>n zu blühen<strong>de</strong>m Wohlstand. So<br />
war neben religiöser Intoleranz wirtschaftlicher Neid ein Hauptgrund, <strong>de</strong>r 1622 zu ihrer Vertreibung<br />
führte.
158<br />
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Nicht wenige emigrierten in die Neue Welt, wo ihre Kolonien in <strong>de</strong>n USA und Kanada bis heute<br />
bestehen.<br />
All das klingt nun nicht gera<strong>de</strong> sehr ermutigend und schon gar nicht nach "Frühformen <strong>de</strong>r Anarchie".<br />
Vergessen wir aber nicht, daß wir uns auf die Suche nach Essentials begeben hatten. Versuchen wir<br />
<strong>de</strong>shalb ein Resümee:<br />
Fast alle Aufstandsbewegungen haben auffällige Übereinstimmungen. Es geht stets um die<br />
Wie<strong>de</strong>rerlangung o<strong>de</strong>r Verteidigung von ›Freiheit‹. Freiheit be<strong>de</strong>utet dabei zunächst immer das<br />
Abschütteln konkreter Herrschaft. Sofern sich Zielvorstellungen abzeichnen, gehen diese fast<br />
ausnahmslos in Richtung Gleichheit, Gemeinschaftlichkeit und Gerechtigkeit. Oft wer<strong>de</strong>n, wie bei <strong>de</strong>n<br />
meisten Bauernrevolten, alte Rechte eingefor<strong>de</strong>rt, die sich auf Kollektivität grün<strong>de</strong>ten: Genossenschaften,<br />
Autonomie o<strong>de</strong>r Gemeineigentum wie etwa die Allmen<strong>de</strong>*. Bei <strong>de</strong>n religiösen Häretikern das gleiche<br />
Bild: Leitmotiv ist hier stets das (Wie<strong>de</strong>rherstellen eines als ›wahr‹ empfun<strong>de</strong>nen Christentums. Und<br />
›wahr‹ be<strong>de</strong>utet dabei interessanterweise immer: Leben in Gemeinschaft, solidarisches Han<strong>de</strong>ln, Ächtung<br />
von Reichtum, gemeinsamer Besitz, Ablehnung von Knechtschaft, kirchlicher Hierarchie und Macht,<br />
Achtung vor <strong>de</strong>m Leben, Liebe zu <strong>de</strong>n Menschen und - in <strong>de</strong>n Grenzen einer intuitiv empfun<strong>de</strong>nen<br />
göttlichen Ethik - die Freiheit <strong>de</strong>s Geistes und meist auch <strong>de</strong>s einzelnen Menschen. Das liest sich fast wie<br />
ein anarchistischer For<strong>de</strong>rungskatalog aus <strong>de</strong>m 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt, wenn - ja, wenn <strong>de</strong>r Liebe Gott nicht<br />
ständig zwischen <strong>de</strong>n Zeilen hervorgucken wür<strong>de</strong>.<br />
Der Gottesbegriff ist daher <strong>de</strong>r Schlüssel zum Verständnis all dieser Rebellionen.<br />
Vermutlich können wir die einfache Tatsache heute nicht mehr nachvollziehen, daß das Mittelalter eine<br />
Ära war, in <strong>de</strong>r ein Denken außerhalb <strong>de</strong>s Rahmens ›Gott‹ gar nicht stattfand. Gottloses Denken war<br />
buchstäblich nicht <strong>de</strong>nk-bar. "Gott" stand hierbei nicht in erster Linie für ein religiöses Objekt, er war vor<br />
allem an<strong>de</strong>ren das einzig vorhan<strong>de</strong>ne Erkenntnissystem. Jenseits dieses Bil<strong>de</strong>s gab es einfach nichts, und<br />
basta. "Gott" war gleichbe<strong>de</strong>utend mit "Weltbild".<br />
Heute ist Religion Privatsache. Nicht je<strong>de</strong>r Gottgläubige ist religiös. Nicht je<strong>de</strong>r Religionsfeind ist<br />
Atheist. Atheisten können <strong>de</strong>n unterschiedlichsten Philosophien anhängen. Aber versuchen wir doch<br />
einmal, uns heute irgen<strong>de</strong>ine soziale o<strong>de</strong>r politische Bewegung außerhalb unseres mo<strong>de</strong>rnen Weltbil<strong>de</strong>s<br />
vorzustellen! Zweifeln Sozial<strong>de</strong>mokraten, islamische Fundamentalisten, Faschisten, Christen,<br />
Anarchisten, Woodo-Anhänger, Kommunistcn, Buddhisten, Liberale, Existentialisten, Esoteriker o<strong>de</strong>r<br />
Materialisten daran, daß ein Flugzeug <strong>de</strong>shalb fliegt, weil die Kräfte gemäß <strong>de</strong>m Newton'schen Gesetz<br />
wirken? O<strong>de</strong>r, daß sich die Er<strong>de</strong> um die Sonne dreht? O<strong>de</strong>r, daß <strong>de</strong>r Mond Ebbe und Flut bewirkt? Daran<br />
glaubt sogar <strong>de</strong>r Papst.<br />
Die Rolle aber, die in unserem Weltbild heute die Naturwissenschaften spielen, spielte früher Gott. Gewiß<br />
zweifeln viele mo<strong>de</strong>rne Menschen an wissenschaftlichen Erkenntnissen, vielleicht hat Newton ja gar nicht<br />
recht, und wer versteht schon Einstein! Wissen-<br />
159<br />
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schaftskritik gibt es en masse und zum Teil mit Recht, aber <strong>de</strong>nnoch - und darauf kommt es an - <strong>de</strong>nken<br />
wir alle im Rahmen unseres heutigen Erkenntnissystems. Natürlich auch Einstein, auch je<strong>de</strong>r fromme<br />
Katholik und sogar die Esoteriker, die mehr als alle an<strong>de</strong>ren so gerne mit logischen Analogieschlüssen<br />
überzeugen möchten.
Gera<strong>de</strong> darum ist die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s ›Naturrechts‹ so wichtig, jener "Trick mit Folgen", <strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>n Kynikern<br />
und <strong>de</strong>r Stoa auftauchte: Gott ist Natur und Natur ist Vernunft! Jemand konnte im Mittelalter von genau<br />
<strong>de</strong>n gleichen I<strong>de</strong>alen, Gefühlen und Gedanken befallen sein wie ein Anarchist <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts - er<br />
wäre <strong>de</strong>nnoch kaum in <strong>de</strong>r Lage gewesen, zu einem "Weltbild ohne Gott" zu gelangen, selbst wenn<br />
<strong>de</strong>rselbe Mensch heute vermutlich Atheist wäre. Ebensowenig, wie heute ein Anarchist zu einem<br />
"Weltbild ohne Natur" gelangen kann. Gewiß kann er die Naturwissenschaften kritisieren, aber trotz<strong>de</strong>m<br />
bleibt er im Rahmen unserer heutigen positiven Erkenntnis. Genauso hätte er vor tausend Jahren die<br />
Religion kritisieren können, nicht aber die I<strong>de</strong>e "Gott" leugnen - <strong>de</strong>nn das hätte geheißen, alles zu<br />
negieren, was vorstellbar war. Max Nettlaus Vermutung, die Angst vor Verfolgung hätte viele Denker <strong>de</strong>s<br />
Mittelalters daran gehin<strong>de</strong>rt, ihre Kritik schärfer zu formulieren, muß wohl relativiert wer<strong>de</strong>n. Klare<br />
Geister und mutige Visionäre wie Meister Eckhart, Giordano Bruno, Margarete von Porete, Erasmus von<br />
Rotterdam, Galileo Galilei, Kopernikus und ungezählte an<strong>de</strong>re scheuten sich nicht, das aufzuschreiben,<br />
was sie dachten. Für viel weniger kam man damals ohnehin auf <strong>de</strong>n Scheiterhaufen. Deshalb dürfen wir,<br />
selbst wenn sie waschechte Vorläufer mo<strong>de</strong>rner Naturwissenschaft waren, <strong>de</strong>n Bezug vieler Denker auf<br />
eine göttliche Ordnung kaum als taktische Tarnung verstehen, um sich vor Verfolgung zu schützen. Es<br />
fin<strong>de</strong>n sich im Mittelalter nicht <strong>de</strong>shalb keine ›Atheisten‹, weil es keine gegeben hätte, son<strong>de</strong>rn weil sie<br />
selbst sich gedanklich unmöglich so hätten <strong>de</strong>finieren können.<br />
Wir tun <strong>de</strong>shalb gut daran, an vielen Stellen, an <strong>de</strong>nen bei kritischen Denkern <strong>de</strong>s Mittelalters <strong>de</strong>r Begriff<br />
›göttlich‹ auftaucht, diesen als ein Axiom* zu verstehen, gera<strong>de</strong> so, wie wenn heute jemand ›natürlich‹<br />
sagt. So manche merkwürdige Einschränkung <strong>de</strong>s Freiheitsbegriffes erscheint dann in einem an<strong>de</strong>ren<br />
Licht. Lesen wir in alten Quellen, daß die Freiheit <strong>de</strong>s Menschen dort ihre Grenzen fin<strong>de</strong>t, wo sie gegen<br />
göttliche Ordnung verstößt, so müssen wir ›übersetzen‹, daß unsere Freiheit an <strong>de</strong>n Grenzen <strong>de</strong>r Natur<br />
en<strong>de</strong>t. Das klingt dann auf einmal nicht nur verständlich, son<strong>de</strong>rn sogar sehr vernünftig. Über diese<br />
Grenzen <strong>de</strong>r Natur und ihr Wesen können wir trefflich streiten, ebenso wie die Menschen <strong>de</strong>s Altertums<br />
über das Wesen Gottes und <strong>de</strong>ssen Grenzen streiten konnten. Darüber zu streiten, ob es Gott gab, müssen<br />
wir uns aber so abwegig vorstellen wie heute ein Streit darüber, ob es Natur gibt.<br />
Unter diesem Aspekt müßten wir also unsere kritische Wertung jener Bewegungen wie<strong>de</strong>rholen, und nun<br />
wird es wirklich interessant. Die Frage, an <strong>de</strong>r die libertäre Trennungslinie dann verliefe, wäre dann<br />
nämlich die, ob Gott jeweils als religiöse Figur o<strong>de</strong>r als ordnen<strong>de</strong>s Prinzip verstan<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>. War er<br />
Tyrann o<strong>de</strong>r Natur, das angsteinflößen<strong>de</strong> Übermonster mit Rauschebart o<strong>de</strong>r die Tatsache, daß das Jahr<br />
vier Jahreszeiten hat? Dieser Prüfstein sollte auf je<strong>de</strong> einzelne <strong>de</strong>r Bewegungen und Philosophien<br />
angewandt wer<strong>de</strong>n,<br />
160<br />
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die wir kennengelernt haben, wenn wir ihren Gehalt an ›Anarchismen‹ beurteilen wollen. Je stärker dabei<br />
›gottgewollte Ordnung‹ als Synonym für natürliche Harmonie‹ verstan<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>sto näher stand <strong>de</strong>r<br />
Geist solcher Bewegungen <strong>de</strong>n Positionen <strong>de</strong>s heutigen Anarchismus. Je kritischer sie sich dabei von <strong>de</strong>r<br />
Bibel entfernten, <strong>de</strong>sto mehr ähnelten sie heutigen Libertären, die einen wissenschaftskritischen Ansatz<br />
vertreten. Nur sehr wenige große Geister besaßen seinerzeit die Bildung und <strong>de</strong>n Willen, die Welt zu<br />
verstehen und dabei die Bibel gegen <strong>de</strong>n Strich zu lesen. Von rebellischen Bauern, von <strong>de</strong>nen kaum einer<br />
lesen konnte, dürfen wir zu einer Zeit, als die ersten Bibelübersetzungen noch druckfrisch waren, solche<br />
intellektuellen Leistungen nicht erwarten. Ihnen entsprang <strong>de</strong>r Geist von Empörung und Revolte.<br />
Interessant ist letztlich, daß das, was sich bei<strong>de</strong> - kritische Denker und empörte Rebellen – als i<strong>de</strong>ale Ziele<br />
vorstellten, in wesentlichen Teilen <strong>de</strong>m nahekommt, was auch Quintessenz <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus<br />
ist: Freiheit, Gemeinschaft, gegenseitige Hilfe, wirtschaftliche Gleichheit und Abscheu gegen Tyrannei.<br />
Das zeigt zum min<strong>de</strong>sten eines: daß es offenbar zu allen Zeiten einen Drang in diese Richtung gab und<br />
libertäre I<strong>de</strong>en wohl kaum als eine ›überspannte Erfindung <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne‹ abgetan wer<strong>de</strong>n können.<br />
Literatur: Max Nettlau: Der Vorfrühling <strong>de</strong>r Anarchie in: Geschichte <strong>de</strong>r Anarchie, Bd. I (überarbeitete<br />
und kommentierte Neuausgabe, hrsg. v. Heiner Becker), Aßlar-Werdorf 1993 (Berlin 1925), Bibliothek
Theleme, 252 S., ill. / Peter Marshall: Demanding the Impossible – A History of Anarchism London<br />
1995, Harper & Collins, 776 S. / Luciano De Crescenzo: Geschichte <strong>de</strong>r griechischen Philosophie 2 B<strong>de</strong>,<br />
Zürich 1985, Diogenes, 234 u. 244 S. / Hellmut G. Haasis; Freiheitsbewegungen von <strong>de</strong>n<br />
Germanenkämpfen bis zu <strong>de</strong>n Bauernaufstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Dreißigjährigen Krieges (= Bd. I von: Spuren <strong>de</strong>r<br />
Besiegten, 3 B<strong>de</strong>.) Reinbek 1984, Rowohlt, 404 S. / Dietrich Schirmer (Hrsg.): Kirchenkritische<br />
Bewegungen Bd. I: Antike und Mittelalter, Stuttgart 1985, Kohlhammer, 160 S., ill. / Jens Harms (Hrsg.):<br />
Christentum und Anarchismus Frankfurt/M. 1988, Athenäum, 288 S. / Heiner Köchlin: Christentum,<br />
Kirche und Anarchismus Karlsruhe o.J., Laubfrosch, 15 S. / Christa Dericum: Des Geyers schwarze<br />
Haufen: Florian Geyer und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Bauernkrieg Berlin 1987, Karin Kramer, 163 S., ill. / Eileen<br />
Power: Als Adam grub und Eva spann, wo war da <strong>de</strong>r E<strong>de</strong>lmann? Das Leben <strong>de</strong>r Frau im Mittelalter vgl.<br />
Kap. 9! / Gustav Landauer (Hrsg.): Meister Eckharts mystische Schriften Wetzlar 1978, Büchse <strong>de</strong>r<br />
Pandora, 152 S.<br />
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Kapitel 21 Die Zeit wird reif<br />
Kommunikation ist das Wesen <strong>de</strong>r Freiheit.<br />
Zwang kann nicht überzeugen.<br />
Macht die Menschen weise,<br />
und ihr macht sie frei.<br />
- William Godwin -<br />
DAS BUCH HATTE EINEN FURCHTBAR LANGEN TITEL und bereitete <strong>de</strong>m britischen<br />
Premierminister William Pitt Kopfzerbrechen. Nicht wegen <strong>de</strong>r umständlichen Überschrift – so etwas war<br />
damals Mo<strong>de</strong> –, son<strong>de</strong>rn wegen <strong>de</strong>s Inhalts. Der war brisant wie eine Ladung Schwarzpulver. Pitt erwog,<br />
<strong>de</strong>n Autor verhaften zu lassen, nahm aber schließlich Abstand davon und tröstete sich mit <strong>de</strong>m Gedanken,<br />
daß "ein Buch zum Preis von drei Guineen unter Leuten, die keine drei Shilling übrig haben, nicht viel<br />
Unheil anrichten kann".<br />
161<br />
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Inzwischen aber wur<strong>de</strong> es schon zum halben Preis feilgeboten, und Arbeiter taten sich zu<br />
Subskriptionsgemeinschaften zusammen, um das Werk zu erwerben. In Schottland und Irland zirkulierten<br />
erste Raubdrucke.<br />
Die Re<strong>de</strong> ist von William Godwins Schrift "Eine Untersuchung über das Wesen politischer Gerechtigkeit<br />
und ihr Einfluß auf allgemeine Tugend und Glück". Das Manuskript mit <strong>de</strong>m betulichen Titel hatte neun<br />
Jahre in <strong>de</strong>r Schubla<strong>de</strong> gelegen. 1793, vier Jahre nach <strong>de</strong>r Französischen Revolution, war es endlich<br />
erschienen und löste sogleich beträchtlichen Wirbel aus. Dabei war es alles an<strong>de</strong>re als eine Rechtfertigung<br />
<strong>de</strong>r blutigen Umwälzung in Frankreich und hob sich wohltuend von <strong>de</strong>r Masse <strong>de</strong>magogischer<br />
Alltagspamphlete ab, die Europa in jenen Jahren überschwemmten. Es war ein philosophisches<br />
Grundsatzwerk mit unerhört radikalen Schlußfolgerungen für das soziale Leben; streng logisch aufgebaut<br />
und inhaltlich nahezu allumfassend.<br />
An <strong>de</strong>r Schwelle zum Anarchismus: William Goodwin<br />
In <strong>de</strong>r Tat hatte <strong>de</strong>r 37jährige Godwin, <strong>de</strong>r sich als als hack-writer in London mit literarischer Lohnarbeit<br />
durchs Leben schlug, ohne es zu ahnen <strong>de</strong>n ersten ›anarchistischen Klassiker‹ geschrieben. In vielem kann<br />
er bis heute als Grundlagenwerk angesehen wer<strong>de</strong>n. Lei<strong>de</strong>r, so muß man sagen, haben die meisten seiner<br />
Kritiken kaum an Aktualität verloren.
Bezeichnen<strong>de</strong>rweise entstammt Godwin einer alten Familie religiöser Dissi<strong>de</strong>nten und genoß eine streng<br />
calvinistische Erziehung, die jedoch ebenso egalitär wie kritisch und rationalistisch war. Nach einer<br />
kurzen theologischen Karriere entwickelte er sich unter <strong>de</strong>m Einfluß von Rousseau und Swift schrittweise<br />
zu einem aufgeklärten, radikalen Atheisten, <strong>de</strong>r sich wie kaum ein an<strong>de</strong>rer Intellektueller seiner Zeit<br />
daranmachte, die Gesellschaft frei von religiösen o<strong>de</strong>r nationalistischen Vorurteilen zu analysieren. Seine<br />
"Politische Gerechtigkeit" betrachtet nicht, wie die Werke früherer anarchoi<strong>de</strong>r Vorläufer, lediglich <strong>de</strong>n<br />
einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Aspekt <strong>de</strong>s libertären Gedankengebäu<strong>de</strong>s, son<strong>de</strong>rn han<strong>de</strong>lt praktisch <strong>de</strong>ssen gesamte<br />
Bandbreite in einem komplett durchdachten System ab. Bei Godwin fin<strong>de</strong>n wir eine erste globale und in<br />
sich geschlossene Vision anarchistischer Kritik und Utopie.<br />
Mit unerschütterlicher Sturheit geht er <strong>de</strong>r Frage nach, wie <strong>de</strong>r Mensch das größtmögliche Maß an Glück<br />
erreichen könne. Auf seinem Weg verwirft er Patriotismus, positives Recht und materiellen Reichtum,<br />
aber auch Religion, Unterdrückung und Unterwürfigkeit. Am En<strong>de</strong> kommt er ganz sachlich zu <strong>de</strong>r<br />
Erkenntnis, daß dies nur unter einer Bedingung zu erreichen sei: in einer Gesellschaft ohne Regierung.<br />
Dabei befaßt er sich mit Problemen <strong>de</strong>r Philosophie, <strong>de</strong>s Menschenbil<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>r Ethik ebenso wie mit<br />
Ökonomie, Erziehung, Verwaltung, Recht, Strafe, Gewalt, Sexualität und sogar <strong>de</strong>r Ökologie. Und<br />
natürlich stellt er die Frage, mit welchen Mitteln die neue Gesellschaft anzustreben und durchzusetzen sei,<br />
und nach welchen Strukturen die Menschen in ihr leben könnten. Seine Vorgehensweise ist dabei, ganz<br />
im Sinne <strong>de</strong>r Aufklärung, streng rationalistisch: Godwin setzt hohe Hoffnungen in die Vernunft <strong>de</strong>s<br />
Menschen; die Fähigkeit zur geistigen und sittlichen Entfaltung wachse mit <strong>de</strong>r Freiheit ihrer<br />
Rahmenbedingungen. In genau diesem Maße wür<strong>de</strong> Herr-<br />
162<br />
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schaft und damit staatliche Struktur überflüssig. Noch zu Lebzeiten hat Godwin einiges von diesem<br />
ungetrübt-sachlichen Glauben an das Gute zugunsten <strong>de</strong>r irrationalen Seite <strong>de</strong>s menschlichen Charakters<br />
zurücknehmen müssen, womit er wie<strong>de</strong>rum <strong>de</strong>m mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus vorgriff, <strong>de</strong>r heute ebenfalls<br />
nicht mehr auf <strong>de</strong>r Vernunfterwartung grün<strong>de</strong>t.<br />
Pädagogik war zeitlebens Godwins liebstes Steckenpferd. Folgerichtig sieht er diese Entwicklung als<br />
einen langen Prozeß <strong>de</strong>r Reife, <strong>de</strong>r sich nicht durch einen plötzlichen, gewalttätigen Umsturz <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft erreichen lasse. Revolution ist bei Godwin eine Aneinan<strong>de</strong>rreihung von Schritten. Von<br />
gängigen Reformisten unterschei<strong>de</strong>t er sich aber darin, daß er schon vor 200 Jahren Parteien als völlig<br />
untauglich betrachtet, eine Gesellschaft wirklich zu verän<strong>de</strong>rn. Ähnlich wie später Landauer sieht er<br />
innerhalb staatlicher Strukturen keine Zukunft. Statt<strong>de</strong>ssen empfiehlt er ein Geflecht kleiner,<br />
unabhängiger Zirkel, die ihre Umgebung beispielhaft anregen sollen - eine Vorstellung, die mo<strong>de</strong>rnen<br />
libertären Organisationstheorien mit ihren katalysatorischen Affinitätsgruppen sehr nahe kommt. Obwohl<br />
Godwin eine gewaltfreie Strategie vertritt und ein erklärter Gegner <strong>de</strong>s jakobinischen Revolutionsterrors<br />
war, ist er kein absoluter Pazifist: Gewalt könne in bestimmten Situationen unumgänglich wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r<br />
nötig sein, um Schlimmeres zu verhin<strong>de</strong>rn.<br />
Anstelle <strong>de</strong>r existieren<strong>de</strong>n Tyrannei entwirft Godwin das Bild einer <strong>de</strong>zentralen und vereinfachten<br />
Gesellschaft, die auf <strong>de</strong>m freiwilligen Zusammenschluß freier und gleicher Individuen grün<strong>de</strong>t. Für<br />
komplexere Zusammenhänge entwickelt er bereits die I<strong>de</strong>e von koordinieren<strong>de</strong>n Körperschaften und<br />
Distriktfö<strong>de</strong>rationen; für Konflikte schwebt ihm die Einrichtung von Schlichtungsausschüssen vor, und<br />
warnend weist er auf die Gefahren von Bürokratie und Hierarchie hin - es fin<strong>de</strong>n sich I<strong>de</strong>en von Rotation<br />
und Ehrenamtlichkeit aller politischen Funktionen, ebenso Min<strong>de</strong>rheitenschutz und Konsensprinzip. Mit<br />
Recht wer<strong>de</strong>n Godwins jurys als Vorläufer eines libertären Rätesystems angesehen.<br />
Als Ökonom erkennt Godwin als einer <strong>de</strong>r ersten <strong>de</strong>n Zusammenhang zwischen Eigentum und Regierung<br />
in aller Klarheit: "Die Reichen sind die direkten o<strong>de</strong>r indirekten Gesetzgeber <strong>de</strong>s Staates". Ganz wie<br />
später Proudhon unterschei<strong>de</strong>t er zwischen Eigentum und Besitz und skizziert einen freiwilligen<br />
Kommunismus für Produktion und Verteilung, in <strong>de</strong>m reichlich Platz für Genuß, Vergnügen und Muße<br />
sein sollte. Er erkennt die ambivalente Rolle <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s und analysiert die Wi<strong>de</strong>rsprüche zwischen
Bedürfnissen, Produktion und Kapital. Schonungslos kritisiert er die Zustän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r britischen<br />
Arbeitswelt. Gera<strong>de</strong>zu visionär mutet seine Aussage an, daß sich in einer optimal organisierten freien<br />
Gesellschaft die Arbeitszeit drastisch reduzieren ließe – auf eine halbe Stun<strong>de</strong> täglich, wie er schätzt...<br />
Dabei war Godwin weniger als Utopist <strong>de</strong>nn als Kritiker gefürchtet. Tatsächlich widmete er <strong>de</strong>n größten<br />
Teil seines Werkes <strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong>n seiner Zeit, die er allerdings nicht wie viele modisch-reformistische<br />
Zeitgenossen bloß anprangerte, son<strong>de</strong>rn durchleuchtete und als Ganzes in Frage stellte. Er war ohne<br />
Zweifel ein galliger Rhetoriker. "Peitschen, Beile und Galgen - Kerker, Ketten und Folterbänke sind die<br />
beliebtesten und gebräuchlichsten Mittel, <strong>de</strong>n Menschen zum Gehorsam anzuhalten", schreibt er in seinen<br />
Überlegungen zum<br />
163<br />
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Strafsystem, das er als gleichermaßen unmoralisch und nutzlos darstellt: "Wer aus Gefängnissen nicht<br />
schlechter herauskommt, als er hineinging, muß entwe<strong>de</strong>r ungewöhnlich geübt in <strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>r<br />
Ungerechtigkeit o<strong>de</strong>r ein Mann von erhabener Tugend sein." In seinem Roman Die Abenteuer <strong>de</strong>s Caleb<br />
Williams, <strong>de</strong>n Godwin ein Jahr später seinem ersten Bestseller folgen ließ, entlarvt er die britische Justiz<br />
in <strong>de</strong>r Manier eines frühen Psychokrimis. Eine freie Gesellschaft, so Godwins Überzeugung, sollte<br />
Kriminelle nicht vernichten o<strong>de</strong>r einsperren, son<strong>de</strong>rn sich ihrer "mit Freundlichkeit und Sanftmut"<br />
annehmen. Ein an<strong>de</strong>res rotes Tuch war ihm das Erziehungssystem. "Nationale Erziehung hat die Ten<strong>de</strong>nz,<br />
Fehler zu perpetuieren* und je<strong>de</strong>s Bewußtsein nach <strong>de</strong>mselben Mo<strong>de</strong>ll zu formen. (...) Sie lehrt ihre<br />
Schüler die Kunst, jene Lehrsätze zu rechtfertigen, die zufällig zum etablierteten Wissen zählen." Sein<br />
Lernziel ist ein an<strong>de</strong>res: Kin<strong>de</strong>r zu befähigen, eine freie Gesellschaft zu erschaffen und zu genießen.<br />
Dabei stellt er <strong>de</strong>n gesamten traditionellen Erziehungsansatz, <strong>de</strong>r immer etwas Despotisches habe, in<br />
Frage und plädiert für Lernen aus eigenem Antrieb, wobei die Lehren<strong>de</strong>n als gleichberechtigte Partner zu<br />
verstehen seien.<br />
"Hat man einmal angefangen, Gesetze zu geben, so fin<strong>de</strong>t man leicht kein En<strong>de</strong>. Die menschlichen<br />
Handlungen sind verschie<strong>de</strong>n und verschie<strong>de</strong>n ist auch ihre Nützlichkeit und Schädlichkeit. Wenn neue<br />
Fälle auftreten, erweist sich das Gesetz immer als ungenügend, und man muß ständig neue Gesetze<br />
machen." Auch die Ehe ist für Godwin "ein Gesetz und das schlechteste aller Gesetze. (...) Es wäre<br />
unsinnig, wollte man sich <strong>de</strong>r Erwartung hingeben, daß zwei Menschen lange Zeit vollständig<br />
miteinan<strong>de</strong>r übereinstimmen könnten. (...) Das Institut <strong>de</strong>r Ehe ist ein system <strong>de</strong>s Betrugs. Solange ich<br />
danach trachte, eine Frau für mich allein in Anspruch zu nehmen, mache ich mich <strong>de</strong>r abscheulichsten<br />
Alleinherrschaft schuldig." Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß Godwin und seine Gefährtin Mary<br />
Wollstonecraft entgegen ihrer gemeinsamen Überzeugung durch tragische Umstän<strong>de</strong> gezwungen waren,<br />
<strong>de</strong>m Druck <strong>de</strong>r Gesellschaft nachzugeben und schließlich doch heirateten. Den hämischen Kritikern, die<br />
ihm vorhielten, er sei ein "Hitzkopf mit kalten Füßen", nahmen die bei<strong>de</strong>n jedoch <strong>de</strong>n Wind aus <strong>de</strong>n<br />
Segeln, <strong>de</strong>nn sie faßten ihre Ehe als eine unfreiwillige Formsache auf und gestan<strong>de</strong>n sich gegenseitig die<br />
gleichen Freiheiten zu wie zuvor. Das Glück <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n dauerte in<strong>de</strong>s nicht lange. Mary Wollstonecraft,<br />
eine <strong>de</strong>r ersten großen Feministinnen <strong>de</strong>r Geschichte, die 1792 ihre brillante "Verteidigung <strong>de</strong>r<br />
Frauenrechte" geschrieben hatte, starb 1797 bei <strong>de</strong>r Geburt ihrer Tochter Mary.<br />
Das neue Jahrhun<strong>de</strong>rt begann düster. England, das fast ständig mit Frankreich im Krieg lag, durchlebte<br />
eine langanhalten<strong>de</strong>, dumpfe Perio<strong>de</strong> reaktionärsten Patriotismus'. Die Französische Revolution, inhaltlich<br />
längst gescheitert, war politisch zur Despotie Napoleons verkommen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n von ihm begonnenen Krieg<br />
verlor. Auf Seiten <strong>de</strong>r Sieger schwelgte England im Triumph und ebnete sich <strong>de</strong>n Weg zur künftigen<br />
Weltmacht. Imperialismus, Industrie und Ignoranz triumphierten. Männer wie Godwin gerieten in<br />
Vergessenheit, und Reformer aller Couleur besorgten das politische Tagesgeschäft. Es entstan<strong>de</strong>n<br />
Parteien, Gewerkschaften und Genossenschaften, <strong>de</strong>ren führen<strong>de</strong> Köpfe sich bisweilen sogar auf Godwin<br />
beriefen, ohne jedoch jemals seine gedankliche Tiefe und radikale Globalität zu erreichen.<br />
164
--------------------------------------------------------------------------------<br />
In bedrücken<strong>de</strong>n wirtschaftlichen Verhältnissen lebte er weiterhin in London und veröffentlichte noch<br />
zahlreiche Schriften, die aber kein großes Echo mehr hervorriefen - mit einer Ausnahme: 1812 besuchte<br />
ihn <strong>de</strong>r junge Poet Percy Bysshe Shelley, ein glühen<strong>de</strong>r Verehrer Godwins, <strong>de</strong>r allerdings geglaubt hatte,<br />
sein Idol sei längst verstorben. Eine ebenso turbulente wie folgenreiche Begegnung, an <strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
revolutionär-romantische A<strong>de</strong>lssprößling Godwins Schwiegersohn wur<strong>de</strong> und diesem auch finanziell<br />
unter die Arme griff. Shelley avancierte bald zu einem <strong>de</strong>r gefeiertsten britischen Dichter. Er blieb bis zu<br />
seinem frühen Tod 1822 nicht nur ein überzeugter Anhänger von Godwins Lebensphilosophie, son<strong>de</strong>rn<br />
verewigte sie auch in einer Reihe unvergessener Werke. "The Mask of Anarchy" ist eine <strong>de</strong>r ersten<br />
Allegorien*, in <strong>de</strong>nen das Wort eine positive Bewertung erhält.<br />
Als William Godwin 1836 im Alter von 80 Jahren als armer Pensionär friedlich in seinem Bett starb,<br />
waren die Männer, die später die ›Väter <strong>de</strong>s Anarchismus‹ genannt wur<strong>de</strong>n, noch junge Burschen in<br />
Rußland und Frankreich. Zwischen ihnen und Godwin gab es keine Verbindung - we<strong>de</strong>r persönlich noch<br />
durch soziale Bewegungen. Nicht einmal sein Buch war außerhalb Englands son<strong>de</strong>rlich bekannt<br />
gewor<strong>de</strong>n. So begann die ganze I<strong>de</strong>enfindung einige Jahre später praktisch noch einmal von vorne. Es<br />
sollte lange dauern, bis die anarchistische Philosophie wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Erkenntnisstand jenes glücklosen<br />
Schriftstellers Godwin hatte, <strong>de</strong>r am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts schon zu <strong>de</strong>r schlichten Erkenntnis kam:<br />
"Kommunikation ist das Wesen <strong>de</strong>r Freiheit. Zwang kann nicht überzeugen."<br />
Wo kam so ein Geist im Jahre 1793 her? Noch im vorigen Kapitel stan<strong>de</strong>n wir tief in düsteren Zeiten, wo<br />
die kühnsten Geister sich gera<strong>de</strong> mal die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Teilfreiheit vorstellen konnten, und je<strong>de</strong><br />
Rebellion im Rahmen göttlicher Ordnung blieb. Und nur zwei Jahrhun<strong>de</strong>rte später ist das anarchistische<br />
Grundrezept plötzlich fix und fertig angerührt!? Nun, Godwin ist kein Genie, das plötzlich vom Himmel<br />
fiel. Auch er hat seine Vorgeschichte; die Zeit war einfach reif für einen wie ihn.<br />
Schauen wir uns also an, was zwischen Reformation und Französischer Revolution passiert war: wie<br />
soziale Bewegungen sich zuspitzten, und wie sich eine diffuse libertäre I<strong>de</strong>engeschichte langsam zu einer<br />
veritablen anarchistischen Vision verdichten konnte, die nur noch ›geboren‹ wer<strong>de</strong>n mußte.<br />
Es klart auf<br />
Im Denken <strong>de</strong>s Mittelalters gab es keinen Platz für das Individuum. Im Guten wie im Schlechten war es<br />
eine Zeit kollektiver Vereinnahmung: Menschen wur<strong>de</strong>n durch Gruppen <strong>de</strong>finiert, zugeordnet und<br />
benutzt. Die Welt war fest gefügt und klar geordnet, es gab Gott, Kaiser, Papst, König, E<strong>de</strong>lleute, Pfaffen,<br />
Bürger und Bauern; es gab oben und unten, richtig und falsch. Das gilt grosso modo auch für Bereiche, in<br />
<strong>de</strong>nen es weniger hierarchisch zuging, die freien Städte etwa mit ihrer Autonomie o<strong>de</strong>r die Gil<strong>de</strong>n, die auf<br />
gegenseitiger Hilfe aufbauten: alles blieb doch immer auf die jeweilige Gruppe zugeschnitten, zu <strong>de</strong>r man<br />
gehörte o<strong>de</strong>r nicht. Freiheiten galten nur innerhalb <strong>de</strong>r Stadtmauer. Wer nicht in<br />
165<br />
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<strong>de</strong>r Gil<strong>de</strong> war, kam nur schwer hinein, wer keinen Herren hatte, hatte auch keinen Schutz. Und wer kein<br />
Christ war, gehörte verbrannt.<br />
OD: grosso modo: im großen Ganzen, grob gesehen<br />
Erst mit <strong>de</strong>r Renaissance - <strong>de</strong>r "Wie<strong>de</strong>rgeburt" <strong>de</strong>r Klassischen Antike im europäischen Geistesleben -<br />
beginnt sich das zu än<strong>de</strong>rn: Griechische Philosophen wer<strong>de</strong>n übersetzt, humanistische I<strong>de</strong>ale<br />
wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckt, selbst Mo<strong>de</strong> und Architektur wer<strong>de</strong>n nachgeahmt: Antik ist schick! Der einzelne Mensch<br />
wird nun wie<strong>de</strong>r gesehen, Althergebrachtes wird hinterfragt - das regt die Phantasie an. 1516
veröffentlicht Thomas Morus in England sein "Utopia", in <strong>de</strong>m er eine skandalös an<strong>de</strong>re<br />
Phantasiegesellschaft beschreibt, die natürlich (das läßt er durchblicken) besser ist als die Despotie seines<br />
Königs und Dienstherrn Heinrich VIII. (<strong>de</strong>r ihn aus an<strong>de</strong>rem Anlaß später enthaupten läßt). ›Utopie‹ wird<br />
nicht nur eine neue politische Vokabel, son<strong>de</strong>rn löst auch eine literarische Mo<strong>de</strong> aus, die bis heute anhält.<br />
Ein Jahr später provoziert ein Theologe namens Luther in Wittenberg eine Diskussionslawine, an <strong>de</strong>ren<br />
En<strong>de</strong> ein "freier Christenmensch" stehen sollte, <strong>de</strong>r die Bibel endlich auch einmal selbst lesen durfte. Das<br />
Zeitalter, in <strong>de</strong>r die Religion <strong>de</strong>n Menschen und alles an<strong>de</strong>re <strong>de</strong>finierte, geht zu En<strong>de</strong>.<br />
Denker fangen plötzlich an zu <strong>de</strong>nken, ganz und gar von vorne wie <strong>de</strong>r systematische Zweifler Descartes,<br />
frei und ungebun<strong>de</strong>n an heilige Dogmen. Dabei ent<strong>de</strong>cken sie etwas Interessantes: <strong>de</strong>r Mensch ist nicht<br />
statisch, also wan<strong>de</strong>lbar, also auch verbesserungsfähig. Wissenschaftler betrachten die Natur, wagen ihren<br />
Augen zu trauen und ziehen ihre Schlüsse. Galilei, Kopernikus, Kepler und Newton erschüttern Lehre und<br />
Weltbild <strong>de</strong>r Kirche. Das neue Stichwort heißt ›Vernunft‹. Das Ergebnis ist Aufklärung, und dieses Wort<br />
will wörtlich verstan<strong>de</strong>n sein: es wird hell.<br />
Europa ent<strong>de</strong>ckt neue Kontinente, Menschen reisen, wan<strong>de</strong>rn aus, neue Waren gelangen ins Land, <strong>de</strong>r<br />
Horizont weitet sich. Landwirtschaft und Handwerk sind nicht länger Mittelpunkt <strong>de</strong>r Wirtschaft. Han<strong>de</strong>l<br />
und Manufaktur gewinnen an Be<strong>de</strong>utung, und Industrien entstehen, <strong>de</strong>ren Konsequenzen alle Aspekte <strong>de</strong>r<br />
kommen<strong>de</strong>n Jahrhun<strong>de</strong>rte prägen sollten. Nach Bürgerkrieg und Revolution ist England seit 1688 eine<br />
parlamentarische Demokratie. 1765 wird die Dampfmaschine erfun<strong>de</strong>n. Wenig später besiegt zum ersten<br />
Male eine Kolonie ihr ›Mutterland‹: Die Bürger <strong>de</strong>r Vereinigten Staaten von Amerika leben nun unter<br />
einer Verfassung, in <strong>de</strong>r von ›Menschenrechten‹ die Re<strong>de</strong> ist. Und ausgerechnet in Frankreich, <strong>de</strong>m<br />
klassischen Land <strong>de</strong>s Zentralismus und <strong>de</strong>r absoluten Monarchie, kippen die Verhältnisse<br />
lei<strong>de</strong>nschaftlich, gewaltsam und chaotisch um: die Französische Revolution von 1789 bringt unter <strong>de</strong>r<br />
hoffnungsvollen Losung "Freiheit, Gleichheit, Brü<strong>de</strong>rlichkeit" eine Republik hervor, die zwar <strong>de</strong>n<br />
humanistischen I<strong>de</strong>alen <strong>de</strong>r Aufklärung letztlich nicht gerecht wird, gleichwohl aber ihr<br />
hun<strong>de</strong>rtprozentiges Kind ist. Revolutionäre schnei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m König <strong>de</strong>n Kopf ab. Das ist ebenso neu wie die<br />
Tatsache, daß sie sich bald gegenseitig enthaupten sowie alle, die zu protestieren wagen: Terror im<br />
Namen <strong>de</strong>r Vernunft. Das folgen<strong>de</strong> Jahrhun<strong>de</strong>rt erlebt nach Napoleons Untergang zunächst <strong>de</strong>n Versuch<br />
einer konservativen Restauration, aber die Geschichte läßt sich nicht mehr zurückdrehen. Die Saat <strong>de</strong>r<br />
Aufklärung ist aufgegangen, und mit <strong>de</strong>r Industrie ist eine neue Klasse<br />
166<br />
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entstan<strong>de</strong>n. Freiheit – was immer auch darunter verstan<strong>de</strong>n wird – ist ein Thema <strong>de</strong>r Massen gewor<strong>de</strong>n.<br />
So hat sich in diesen drei Jahrhun<strong>de</strong>rten mehr bewegt als in an<strong>de</strong>rthalb Jahrtausen<strong>de</strong>n zuvor.<br />
Der an-archische Fa<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n wir verfolgen, wird stetig dicker und nimmt in <strong>de</strong>r Geistesgeschichte immer<br />
klarere Gestalt an: zunächst aufklärerisch, dann liberal, dann libertär und schließlich anarchistisch, mit<br />
jeweils fließen<strong>de</strong>n Grenzen. Auf diesem Weg stoßen wir auf Menschen, die wir mit Fug und Recht<br />
›Frühlibertäre‹ nennen können. Ihr Denken nähert sich mehr und mehr einer Position, die sich schon bald<br />
als "anarchistisch" <strong>de</strong>finieren wird. Insofern sind sie Vorläufer und nehmen wichtige Thesen mit<br />
zunehmen<strong>de</strong>r Schärfe vorweg. Godwin steht mit ihnen in einer Reihe. Als erster Anarchist, weil bei ihm<br />
die Globalität gegeben ist, als letzter Frühlibertärer, weil er sich noch nicht als Anarchist bezeichnete und<br />
vor allem keiner anarchistischen Bewegung angehörte, die es erst Jahre später gibt. Er steht buchstäblich<br />
an <strong>de</strong>r Schwelle.<br />
Frühlibertäre fin<strong>de</strong>n wir in diesen Jahrhun<strong>de</strong>rten im Dutzend. Nur die interessantesten von ihnen können<br />
wir hier streifen.<br />
Die Frühlibertären
Der be<strong>de</strong>utendste Strang aufklärerischen Denkens kommt aus Frankreich. Francois Rabelais, ein<br />
ehemaliger Mönch, <strong>de</strong>r in seiner satirischen Abrechnung mit <strong>de</strong>n Institutionen seiner Zeit kein Blatt vor<br />
<strong>de</strong>n Mund nimmt, schil<strong>de</strong>rt in seiner 1534 erschienenen Utopie "Gargantua und Pantagruel" ein<br />
herrschaftsfreies Leben in <strong>de</strong>r imaginären Abtei von Thélème. Dort geht es antiautoritär, <strong>de</strong>rb und<br />
genußvoll zu - allerdings nur für die privilegierten Mitglie<strong>de</strong>r. Das Motto dieser anarchischen Vision<br />
lautet: "Tu, was du willst!".<br />
Deutlich libertärer ausgeprägt stellt sich Rabelais' Zeitgenosse Étienne <strong>de</strong> La Boetie dar. In seinem<br />
philosophischen Werk "Diskurs über die freiwillige Sklaverei" (1571-1573), stellt er Regierungen an sich<br />
in Frage. Menschen, so La Boetie, unterwerfen sich freiwillig <strong>de</strong>r Herrschaft, für die es keinen<br />
vernünftigen Grund gebe, die aber überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n könne. Seine Analyse <strong>de</strong>r politischen Macht bil<strong>de</strong>t<br />
eine frühe Grundlage für die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s ›Zivilen Ungehorsams‹ und steht somit in bester pazifistischer<br />
Tradition.<br />
Auch im Werk Michel <strong>de</strong> Montaignes, einem engen Freund La Boeties, fin<strong>de</strong>n sich beredte Spuren<br />
libertären Denkens, allerdings besser getarnt. Seine warme Schil<strong>de</strong>rung einer staatenlosen Gesellschaft<br />
<strong>de</strong>r Indianer baut Shakespeare fast wörtlich in sein Drama "Sturm" ein. In <strong>de</strong>m Essay "Über<br />
Kin<strong>de</strong>rerziehung" hält Montaigne ein überzeugend antiautoritäres Plädoyer für einen Unterricht "in Güte<br />
und Freiheit, ohne Härte und Zwang", das in <strong>de</strong>r völlig unzeitgemäßen For<strong>de</strong>rung nach Blumen statt<br />
Ruten im Schulzimmer gipfelt.<br />
Eine stark anarchisch eingefärbte Utopie liefert uns 1676 Gabriel <strong>de</strong> Foigny. In <strong>de</strong>n "Abenteuern <strong>de</strong>s<br />
Jacques Sa<strong>de</strong>ur bei <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s Südlan<strong>de</strong>s" schil<strong>de</strong>rt er in lebendigen Bil<strong>de</strong>rn das Sozialwesen <strong>de</strong>r<br />
terre australe, in <strong>de</strong>r Kirche, Staat, Eigentum und<br />
167<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Herrschaft unbekannt sind. Die Einwohner, übrigens von zweigeschlechtlichem Wesen, stimmen sich auf<br />
einer allmorgendlichen Versammlung miteinan<strong>de</strong>r ab. Foigny, <strong>de</strong>r sich im protestantischen Genf<br />
nie<strong>de</strong>rließ, verstand es, die Vorzüge dieser Gesellschaft so überzeugend zu schil<strong>de</strong>rn, daß die Behör<strong>de</strong>n<br />
sein Buch als subversiv ansahen und ihn vorübergehend einsperrten. 1704 erschien die "Südlandreise" in<br />
<strong>de</strong>utscher Übersetzung und gilt als <strong>de</strong>r Urahn <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschsprachigen libertären Literatur. Zur beliebten<br />
Form <strong>de</strong>r Utopie griff ebenfalls Francois <strong>de</strong> Fénélon, Erzbischof und Erzieher <strong>de</strong>s jungen Herzogs von<br />
Burgund. In seinem didaktischen Roman "Télemaque" (1699) vergleicht er das Land La Bétique mit <strong>de</strong>r<br />
Stadt Salente. Bei<strong>de</strong> tragen starke Züge eines friedlichen libertären Kommunismus, sind im Vergleich zu<br />
Thélème aber stark puritanisch, <strong>de</strong>nn Glück entstehe durch Verzicht. Ludwig XIV. fand das gar nicht<br />
lustig und schickte Fénélon in Verbannung.<br />
Wenig wissen wir von Jean Meslier, einem zornigen Dorfpfarrer, <strong>de</strong>ssen um 1720 geschriebenes<br />
"Testament" erst nach seinem To<strong>de</strong> veröffentlicht wur<strong>de</strong>. In scharfen Worten fällt er ein vernichten<strong>de</strong>s<br />
Urteil über Religion und Kirche, das in <strong>de</strong>r Feststellung gipfelt, daß Gott einfach nicht existiert. Der<br />
antiklerikale Teil <strong>de</strong>s "Testaments", in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r ehemalige Gottesmann am liebsten alle adligen Blutsauger<br />
mit <strong>de</strong>n Därmen <strong>de</strong>r Priester erwürgen wür<strong>de</strong>, wur<strong>de</strong> später von Voltaire veröffentlicht. Wenn man weiß,<br />
daß Meslier überdies verkün<strong>de</strong>t, die Befreiung <strong>de</strong>r einfachen Menschen liege in ihren eigenen Hän<strong>de</strong>n,<br />
und dies könne nur durch eine gewalttätige soziale Revolution geschehen, wird verständlich, warum <strong>de</strong>r<br />
vollständige Text erst 1865 gedruckt wur<strong>de</strong>.<br />
Auch die bei<strong>de</strong>n großen Namen <strong>de</strong>r Aufklärung, Di<strong>de</strong>rot und Rousseau, verdienen einen Platz unter <strong>de</strong>n<br />
Ahnen freiheitlichen Denkens. Bei <strong>de</strong>m berühmten Enzyklopädisten Denis Di<strong>de</strong>rot blühte die Liebe zum<br />
Libertären, offenbar aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Vorsicht, eher im Verborgenen. Im privaten Kreise vertrat er, <strong>de</strong>r<br />
Mitte <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit für eine aufgeklärte Monarchie plädierte, die Meinung,<br />
daß die Natur keinem Menschen das Recht gegeben habe, über an<strong>de</strong>re zu herrschen. Auch er verfaßte eine<br />
Utopie, die natürlich in <strong>de</strong>r Südsee angesie<strong>de</strong>lt war und ebenfalls ein harmonisches Leben ohne Regierung<br />
und Gesetze beschrieb. Allerdings wagte er nicht, diese "Ergänzung zur Reise Bougainvilles" auch zu
veröffentlichen. Dessen ungeachtet wur<strong>de</strong> seine Encyclopédie für lange Zeit Anregung und Quelle für<br />
radikales und subversives Denken.<br />
Jean-Jacques Rousseau, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r nicht ganz treffen<strong>de</strong> Satz "Zurück zur Natur" in <strong>de</strong>n Mund gelegt wird,<br />
ist sicherlich kein in <strong>de</strong>r Wolle gefärbter Anarchist. Staat und Herrschaft hat er nie wirklich in Frage<br />
gestellt; Regierung jedoch ist für ihn eine künstliche Einrichtung, erschaffen von freien Menschen in <strong>de</strong>r<br />
Hoffnung, das Leben zu erleichtern. Die Beziehung zwischen Herrschern und Beherrschten regele eine<br />
freie, vertragliche Vereinbarung, <strong>de</strong>r contrat social. Den Wi<strong>de</strong>rspruch allerdings, wie sich Freisein und<br />
Beherrschtsein vertragen, löst er nicht. Dennoch ist seine Wirkung auf <strong>de</strong>n späteren Anarchismus und<br />
viele seiner großen Theoretiker enorm gewesen. Vor allem seine Analyse <strong>de</strong>s Zusammenhangs zwischen<br />
Eigentum und Herrschaft sowie seine Ansichten über Erziehung wirkten anregend. Rousseau orientiert<br />
sich an <strong>de</strong>n ›Gesetzen <strong>de</strong>r Natur‹, die er mit <strong>de</strong>n realen<br />
168<br />
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Zustän<strong>de</strong>n vergleicht, was ihn zu einem harschen Kritiker <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Zivilisation wer<strong>de</strong>n läßt. Mit<br />
einer Serie von ›Diskursen‹, die ab 1750 erscheinen und 1752 mit "Émile" ihren Höhepunkt fin<strong>de</strong>n, setzt<br />
er eine regelrechte Mo<strong>de</strong> in Gang, die eine kollektive Sehnsucht nach <strong>de</strong>m "edlen Wil<strong>de</strong>n" auslöst. Seine<br />
Wirkung auf die Herausbildung einer libertären Bewegung liegt daher weniger in <strong>de</strong>r Konsequenz seiner<br />
I<strong>de</strong>en, als vielmehr in <strong>de</strong>r Breitenwirkung, die auf seiner unglaublichen Popularität beruhte.<br />
Ein Name, <strong>de</strong>r in dieser Aufzählung wohl kaum erwartet wur<strong>de</strong>, ist schließlich <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Marquis <strong>de</strong> Sa<strong>de</strong>,<br />
von <strong>de</strong>m die meisten Menschen wohl nur <strong>de</strong>n schlechten Ruf kennen, ohne ihn je gelesen zu haben. In<br />
Frankreich blieben seine Schriften bis 1957 verboten. Es ist ein Irrtum zu glauben, die Botschaft <strong>de</strong>r<br />
Schriften <strong>de</strong>s Marquis bestün<strong>de</strong> in "Sadismus", worunter gemeinhin die Lust am Quälen an<strong>de</strong>rer<br />
Menschen verstan<strong>de</strong>n wird. Das, was er in einigen seiner Novellen an sexuellen Exzessen schil<strong>de</strong>rt, ist<br />
literarische Fiktion und nicht das Leben <strong>de</strong>r realen Person <strong>de</strong> Sa<strong>de</strong>. Insofern er aber die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r<br />
Sexualität überhaupt erkennt, und die Folgen sexueller Unterdrückung untersucht, ist er ein Vorläufer<br />
mo<strong>de</strong>rner Sexualpsychologen, wie etwa Wilhelm Reich, sowie <strong>de</strong>r sexuellen Revolution <strong>de</strong>s 20.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts. Triebunterdrückung wird als eine <strong>de</strong>r Wurzeln von Tyrannei erkannt. De Sa<strong>de</strong>, ein<br />
antireligiöser aber sehr moralisieren<strong>de</strong>r Mann, for<strong>de</strong>rte nicht nur die sexuelle Befreiung <strong>de</strong>r Frau, er<br />
vertritt in <strong>de</strong>m 1794 geschriebenen Roman "Juliette" auch die Meinung, daß ein anarchischer<br />
Naturzustand allen Gesetzen und Regierungen vorzuziehen sei.<br />
Den französischen Aufklärern haftet <strong>de</strong>r Flair einer gewissen philosophischen Heiligkeit an; zumin<strong>de</strong>st<br />
die Großen unter ihnen stehen in höchster Reputation*. Ihre I<strong>de</strong>en haben die Geistesgeschichte jener<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rte tief geprägt und sind bis heute ein Begriff geblieben. Ganz so berühmt sind die Namen <strong>de</strong>r<br />
britischen Frühlibertären nicht; vielleicht auch <strong>de</strong>shalb, weil sich unter ihnen etliche Männer befan<strong>de</strong>n,<br />
die weniger schrieben und mehr han<strong>de</strong>lten.<br />
In <strong>de</strong>n Wirren <strong>de</strong>s englischen Bürgerkrieges entstehen unter <strong>de</strong>n Oppositionskräften von Cromwells<br />
Revolutionsarmee radikale Bewegungen, in <strong>de</strong>ren<br />
Visionen millenaristische Vorstellungen <strong>de</strong>s Mittelalters ein spätes Revival* erfahren: die Diggers und die<br />
Ranters. Obwohl religiös inspiriert, gebär<strong>de</strong>n sich diese masterless men and husbandless women* äußerst<br />
radikal. In <strong>de</strong>r Diggers-Kolonie, die 1649 in Surrey an <strong>de</strong>r Themse entsteht, wird ohne Privateigentum<br />
genossenschaftlich gewirtschaftet. Gerrard Winstanley, ihr wortgewaltiger Prediger, vertrat in jenen<br />
Jahren die Meinung, daß mit Abschaffung <strong>de</strong>s Eigentums auch Staat, Kirche und Armee überflüssig<br />
wür<strong>de</strong>n. Nach <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Experiments entwickelten die Ranters als radikalere Variante ein reges<br />
Eigenleben, das wil<strong>de</strong>r, individualistischer und ungebun<strong>de</strong>ner war als das <strong>de</strong>r strenggläubigen Diggers. In<br />
<strong>de</strong>n Augen braverer Zeitgenossen galten sie schlicht als unmoralisch und ausgeflippt. Sexuell<br />
ungezwungen, ohne feste Strukturen, umherziehend und von einem individualistischen Freiheitssinn<br />
beseelt, stieß diese frühe pazifistische Subkultur auf ebensowenig Verständnis wie<br />
169
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die gemäßigteren aber unanarchischen Quakers, mit <strong>de</strong>nen sie oft verwechselt wer<strong>de</strong>n. Ihre Treffen<br />
glichen surrealistischen Happenings, und ihre wenigen Schriften waren äußerst bissige Pamphlete. Die<br />
Cromwell'sche Diktatur je<strong>de</strong>nfalls empfand sie als Bedrohung; Wortführer wie Abiezer Coppe und<br />
Lawrence Clarkson wur<strong>de</strong>n unnachsichtig verfolgt.<br />
Gesitteter benahm sich da schon Jonathan Swift, ein wohlhaben<strong>de</strong>r, blitzgescheiter Zyniker, <strong>de</strong>r nur<br />
literarisch provozierte. In seinem Leben gewiß mehr ein etablierter, zeitkritischer Publizist als ein<br />
›Anarchist‹, waren ihm libertäre Gedankengänge aber durchaus nicht fremd. Im vierten Band seiner<br />
berühmten utopischen Erzählungen von Gullivers Reisen (1726) stellt er die Houyhnhnms vor, die in<br />
einem etwas asketischen und primitiven anarcho-kommunistischen Land leben. Dem Reisen<strong>de</strong>n Gulliver<br />
erklären sie ihr regierungsloses System, in <strong>de</strong>m alle vier Jahre eine große Versammlung für <strong>de</strong>n nötigen<br />
Konsens sorgt. Godwin war von <strong>de</strong>n Houyhnhnms gera<strong>de</strong>zu entzückt. Geschickt verbarg Swift darin seine<br />
Kritik an <strong>de</strong>n europäischen Staaten, ihren Regierungen und Gesetzen, ihrem Han<strong>de</strong>lssystem und ihren<br />
endlosen Kriegen. Kein Geringerer als George Orwell hat Swift einen tory-anarchist* genannt, und seine<br />
ebenso geistreiche wie inkonsequente Haltung damit wohl treffend charakterisiert.<br />
Der junge Edmund Burke, <strong>de</strong>r sich nach <strong>de</strong>r Französischen Revolution zum Gegner je<strong>de</strong>r Erneuerung<br />
wan<strong>de</strong>lte, schrieb mit seiner "Verteidigung <strong>de</strong>r Naturgesellschaft" 1756 ein <strong>de</strong>rart starkes Plädoyer für<br />
eine an-archische Gesellschaft, daß <strong>de</strong>r Text gut 100 Jahre später in <strong>de</strong>n USA von George Holyoake als<br />
anarchistische Kampfschrift erneut herausgegeben wur<strong>de</strong>. Burke vertritt eine natürliche Ordnung <strong>de</strong>r<br />
Dinge und wen<strong>de</strong>t sich gegen politische Herrschaft; je<strong>de</strong> Form <strong>de</strong>r Regierung ist für ihn "Anmaßung".<br />
Auch Godwins berühmter Zeitgenosse Thomas Payne gehörte zu jenen Radikal-Liberalen, die am Ran<strong>de</strong><br />
an-archischer I<strong>de</strong>en wan<strong>de</strong>lten; für ihn blieb jedoch die Frage <strong>de</strong>s Eigentums zeitlebens unantastbar. Mit<br />
"Common sense"*, das 1776 erschien, wur<strong>de</strong> er zu einem Ghostwriter <strong>de</strong>r Amerikanischen Revolution.<br />
Für Payne steht die I<strong>de</strong>e von ›Gesellschaft‹ gegen die von ›Regierung‹, die er als Ursache vielen Übels<br />
ansieht. Schärfer noch als <strong>de</strong>r große Liberale John Locke kommt er zu <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung einer ›minimalen<br />
Regierung‹ und begrün<strong>de</strong>t damit eine Ten<strong>de</strong>nz, die in <strong>de</strong>n USA eine lange und tiefe Tradition entwickelt<br />
hat. Auf diese Richtung berufen sich heute etwa die ultraliberale Libertarian Party, die trotz ihrer<br />
Staatskritik eigene Präsi<strong>de</strong>ntschaftskandidaten nominiert, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r als ›Rechter Anarchist‹ bezeichnete<br />
Ökonom Murray Rothbart.<br />
Als letzter britischer Frühlibertärer aus Godwins Zeit sei William Blake genannt, <strong>de</strong>ssen bissige Prosa<br />
damals sehr populär war. "Je<strong>de</strong>r Mensch haßt Könige", schrieb er, o<strong>de</strong>r "Gefängnisse sind aus <strong>de</strong>n Steinen<br />
<strong>de</strong>s Gesetzes gebaut, Bor<strong>de</strong>lle aus <strong>de</strong>n Steinen <strong>de</strong>r Religion". Dabei war <strong>de</strong>r Kirchenkritiker ein<br />
überzeugter Christ, für <strong>de</strong>n Jesus ein aufrechter Rebell war, <strong>de</strong>r "aus eigenem Impuls und nicht nach<br />
Gesetzen" han<strong>de</strong>lte. Autorität war für Blake die größte Ursache für Ungerechtigkeit. Die repressive<br />
Struktur <strong>de</strong>s Staates för<strong>de</strong>re nicht das Glück <strong>de</strong>r Menschen, son<strong>de</strong>rn hin<strong>de</strong>re sie an <strong>de</strong>r Entfaltung ihres<br />
›göttlichen Potentials‹ freier Brü<strong>de</strong>rlichkeit.<br />
170<br />
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Deutschland steht in diesem bunten Reigen libertären Denkens übrigens nicht völlig abseits. Die Namen<br />
dürften allerdings für einige überraschend sein. Neben <strong>de</strong>m unfreiwillig als bürgerlicher Benimm-Apostel<br />
bekannt gewor<strong>de</strong>nen Freiherr von Knigge, <strong>de</strong>r sich bei näherem Hinsehen als veritabler Libertärer<br />
entpuppt, ist hier vor allem Wilhelm von Humboldt zu nennen, nachmaliger preußischer<br />
Erziehungsminister und Grün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Universität zu Berlin. 1772 veröffentlichte er eine Denkschrift mit<br />
<strong>de</strong>m Titel "Versuch, die Grenzen <strong>de</strong>r Wirksamkeit <strong>de</strong>s Staates zu bestimmen". Der Mensch ist für ihn<br />
kein dumpfer Untenan, son<strong>de</strong>rn ein kreatives Individuum, das zu seiner Entfaltung <strong>de</strong>r Freiheit bedarf.<br />
Freiheit muß daher oberstes Prinzip eines politischen Systems sein. Die Rolle <strong>de</strong>s Staates achtet<br />
Humboldt hierbei gering. Er behandle seine Untertanen wie Kin<strong>de</strong>r und bremse ihre Initiative. Allenfalls<br />
käme ihm noch die Rolle eines "Nachtwächters" zu, <strong>de</strong>r darüber wacht, daß keine schlimmen Exzesse
geschehen. In Humboldts Ansichten spiegelt sich das Weltbild <strong>de</strong>r Aufklärung wi<strong>de</strong>r, insbeson<strong>de</strong>re<br />
Leibniz' Lehre von <strong>de</strong>r Verbesserungsfähigkeit <strong>de</strong>s Menschen. Trotz seines Ausflugs in libertäre Höhen<br />
blieb er auf Dauer im liberalen Lager. Max Nettlau beurteilte seine Arbeit über die Grenzen <strong>de</strong>s Staates<br />
als "eine kuriose Mischung aus essentiell anarchistischen I<strong>de</strong>en und autoritären Vorurteilen".<br />
Immanuel Kant schließlich gebührt das Verdienst, eine erste ernstzunehmen<strong>de</strong> politische Einordnung <strong>de</strong>s<br />
Wortes ›Anarchie‹ geleistet zu haben. Der belesene Professor, <strong>de</strong>r seine Heimatstadt Königsberg<br />
zeitlebens nicht verließ, versuchte eine theoretische Bestimmung <strong>de</strong>r politischen Zustän<strong>de</strong> ›Anarchie‹,<br />
›Despotismus‹, ›Barbarei‹ und ›Republik‹ anhand ihres Verhältnisses zu <strong>de</strong>n Prinzipien ›Freiheit‹,<br />
›Gesetz‹ und ›Gewalt‹, auf <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong> organisierte Gesellschaft beruhe. Wenn wir verstehen, daß Kant<br />
unter ›Gewalt‹ die Autorität versteht, die nötig ist, etwas durchzusetzen, und unter ›Gesetz‹ regeln<strong>de</strong><br />
Ordnung, so erstaunt seine Definition von ›Anarchie‹ nicht: "Anarchie ist Gesetz und Freiheit ohne<br />
Gewalt". Das klingt erstaunlich positiv, aber zweierlei darf hierbei nicht vergessen wer<strong>de</strong>n: Das Wort<br />
Anarchie be<strong>de</strong>utet für Kant noch keineswegs eine politische Theorie o<strong>de</strong>r soziale Utopie, son<strong>de</strong>rn steht,<br />
ganz wie seinerzeit gebräuchlich, für einen Zustand <strong>de</strong>r Unordnung im Staate. Insofern dürfen wir darin<br />
keine Wertung einer Weltanschauung sehen, die es damals noch gar nicht gab. Vor allem aber war Kant<br />
kein Anhänger solcher Art "Anarchie", son<strong>de</strong>rn zählte sie zu <strong>de</strong>n drei "falschen Staatsformen". Die für ihn<br />
richtige Staatsform ist die, in <strong>de</strong>r alle drei Elemente - Gesetz, Freiheit und Gewalt - vertreten wären: die<br />
Republik.<br />
Ein Wort wan<strong>de</strong>lt sich<br />
Freilich war das schon eine sehr aufgeklärte Sichtweise <strong>de</strong>s Begriffes Anarchie, <strong>de</strong>r, wie wir uns erinnern,<br />
seit <strong>de</strong>n alten Griechen negativ überliefen war,<br />
und <strong>de</strong>ssen weitere Entwicklung wir nicht näher verfolgt hatten.<br />
An <strong>de</strong>m negativen Beigeschmack hatte sich auch im christlich geprägten Sprachgebrauch <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n<br />
Epochen nichts geän<strong>de</strong>rt. Zur Zeit <strong>de</strong>r Kirchenväter wird das Wort kaum gebraucht, und wenn, dann wie<br />
bei Theodoretus Cyrrhensis als "niemand unterworfene Macht". Im Mittelalter wird <strong>de</strong>r Begriff wie<strong>de</strong>rholt<br />
biblisch benutzt. Er steht für "Anfang"<br />
171<br />
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und umschreibt sinnbildlich <strong>de</strong>n Urzustand vor <strong>de</strong>r Schöpfung, in an<strong>de</strong>ren Fällen auch für "Gottlosigkeit".<br />
Einzig Nicolaus von Oresme, <strong>de</strong>r Aristoteles ins Französische übersetzt, liefert 1571 eine politische<br />
Definition als "Freilassung von Sklaven" und führt "Anarchie" als Fremdwort in die europäischen<br />
Nationalsprachen ein. Seit <strong>de</strong>m 16. Jahrhun<strong>de</strong>rt wird das Wort zum philosophisch-politischen Begriff, <strong>de</strong>r<br />
einen Zustand ohnmächtiger Unordnung durch fehlen<strong>de</strong> Autorität bezeichnet. Also durchweg negativ und<br />
nur insofern an soziale Bewegungen gebun<strong>de</strong>n, als man diese mit <strong>de</strong>m Begriff verbin<strong>de</strong>t und beschimpft.<br />
So bei Erasmus von Rotterdam und Calvin, die mit diesem Wort die Wie<strong>de</strong>rtäufer diffamieren wollen.<br />
Vor <strong>de</strong>r Gefährlichkeit <strong>de</strong>r "Anarchie" warnt Stephan Gardiner, <strong>de</strong>r Legat Heinrichs VIII., seinen Herrn.<br />
Er hat sie bei jenen ent<strong>de</strong>ckt, die behaupten, <strong>de</strong>r Mensch sei nur Gottes Gesetz und <strong>de</strong>r Natur untertan -<br />
womit er ja durchaus richtig lag. Anfang <strong>de</strong>s 17. Jahrhun<strong>de</strong>rts wird <strong>de</strong>r Begriff zunehmend aka<strong>de</strong>misch<br />
verwen<strong>de</strong>t, erweitert sich - wie schon zeitweise in <strong>de</strong>r griechischen Antike - um die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r<br />
"Zügellosigkeit", und wird munter in alle möglichen polemischen Debatten geworfen. Er bezieht sich nun<br />
auf Atheismus, Barbarei und Wie<strong>de</strong>rtäufertum, die allesamt zum Ziel hätten, die Monarchie in<br />
"Demokratie und Anarchie" zu stürzen - zwei Begriffe, die hier wohlgemerkt als Schreckenswörter<br />
gemeint sind und zusammen benutzt wer<strong>de</strong>n! Der Bischof von Winchester, Thomas Cooper, nannte seine<br />
Gegner ohne Zögern "pestilente Anarchisten Satans". Mit <strong>de</strong>r Aufklärung wird <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Anarchie<br />
als Ohnmacht <strong>de</strong>s Staates zwar weiterhin negativ benutzt (auch von <strong>de</strong>n Frühlibertären, <strong>de</strong>ren I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>m<br />
mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus ja durchaus nahe stehen!), aber je staatskritischer die Haltung <strong>de</strong>s betreffen<strong>de</strong>n<br />
Autoren, <strong>de</strong>sto differenzierter fällt die Beurteilung eines solchen ›anarchischen Zustan<strong>de</strong>s‹ aus. Di<strong>de</strong>rot,<br />
Rousseau und Mirabeau zögen selbst eine solche An von "Anarchie" <strong>de</strong>m Zustand <strong>de</strong>r Despotie vor. Das<br />
gleiche gilt für Godwin, <strong>de</strong>r paradoxerweise <strong>de</strong>r erste Anarchist war, sich aber nie so genannt hätte. Erst
ei seinem Schwiegersohn Shelley erfährt das Wort anarchy eine positive Wendung, in<strong>de</strong>m sie die<br />
Unterdrückten zum Triumph <strong>de</strong>r Befreiung führt. Mit <strong>de</strong>r Französischen Revolution kommt <strong>de</strong>r Begriff so<br />
richtig in Mo<strong>de</strong>: er wird gegen alle Arten von ›Radikalen‹ benutzt - linke Jakobiner, die Anhänger<br />
Babeufs und Hebens und alle ›unkontrollierbaren Elemente‹. 1797 enthält <strong>de</strong>r Eid, <strong>de</strong>n die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />
"Rats <strong>de</strong>r 50" schwören müssen, <strong>de</strong>n Passus "Haß <strong>de</strong>n Königstreuen und <strong>de</strong>r Anarchie!". Zur gleichen Zeit<br />
führt Wieland das Wort ›Anarchisten‹ in Deutschland ein, um damit "Freiheitsschwärmer" zu bezeichnen.<br />
Josef Görres dürfte <strong>de</strong>r erste im <strong>de</strong>utschen Sprachraum gewesen sein, <strong>de</strong>r "Anarchie" positiv verwen<strong>de</strong>te<br />
und in seine religiös-soziale Herrschaftstypologie einbaute. 1796 verteidigt <strong>de</strong>r junge Friedrich Schlegel<br />
das Recht <strong>de</strong>r Rebellion gegen eine Despotie, da er die Tyrannei für ein "ungleich größeres politisches<br />
Übel als selbst die Anarchie" hält. Im Jahre 1801 sieht er das schon differenzierter: Die Anarchie, das<br />
heißt, die "absolute Freiheit", ist für ihn nun <strong>de</strong>r Endzweck <strong>de</strong>s Menschen, wenn auch nur als ein<br />
anzustreben<strong>de</strong>s I<strong>de</strong>al, das "durch Annäherung erreicht wer<strong>de</strong>n kann".<br />
Diese Wandlung <strong>de</strong>s jungen Schlegel ist gera<strong>de</strong>zu symbolisch für <strong>de</strong>n Paradigmenwechsel in jenen<br />
Jahren: Einerseits verdichtet sich offenbar ein ›libertäres Klimas das anarchistische<br />
172<br />
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Inhalte vorwegnimmt, ohne dafür <strong>de</strong>n Namen "Anarchie" zu verwen<strong>de</strong>n: immer mehr Leute kommen auf<br />
immer libertärere Gedanken. An<strong>de</strong>rerseits erfährt das nach wie vor negative Wort eine sprachliche<br />
Differenzierung, die sich auf diese positiven libertären Inhalte zubewegt. Es war nur noch eine Frage <strong>de</strong>r<br />
Zeit, bis jemand diese bei<strong>de</strong>n Begriffe zusammenbringen wür<strong>de</strong>.<br />
Die Frühsozialisten<br />
Die Unmenge angehäufter philosophischer I<strong>de</strong>en, durch die wir uns nun gefressen haben, könnte zu <strong>de</strong>m<br />
Irrtum führen, Anarchismus sei nichts weiter als<br />
ein schönes Gedankenspiel. Zur anarchistischen I<strong>de</strong>e aber gehören soziale Bewegung und politische<br />
Aktion. Bisher haben wir davon wenig gesehen, was vor allem daran lag, daß solche Verschmelzungen<br />
von Philosophie, Revolte und Experiment in <strong>de</strong>r Frühgeschichte selten waren. Natürlich aber auch daran,<br />
daß wir zuletzt bewußt nur die I<strong>de</strong>engeschichte untersucht haben.<br />
Zu Beginn <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts kam es jedoch vermehrt zu Ansätzen praktischer Experimente, bei <strong>de</strong>nen<br />
die Nutzanwendung einer I<strong>de</strong>e im Vor<strong>de</strong>rgrund stand. Etwas willkürlich wur<strong>de</strong>n diese Bewegungen später<br />
unter <strong>de</strong>m Begriff "Frühsozialismus" zusammengefaßt; Marx und Engels sprachen in durchaus<br />
verächtlichem Ton auch von "utopischem Sozialismus". Triebkraft <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns wur<strong>de</strong>n zunehmend<br />
soziale Probleme, die sich mit <strong>de</strong>r voranschreiten<strong>de</strong>n Industrialisierung verschärften. Die I<strong>de</strong>en und<br />
Erfahrungen dieser Bewegungen dienten später <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie, <strong>de</strong>m Kommunismus und <strong>de</strong>m<br />
Anarchismus gleichermaßen als Quelle, <strong>de</strong>nn damals waren die Elemente dieser drei Richtungen noch<br />
munter miteinan<strong>de</strong>r verquirlt. Für alle drei sind sie das Bin<strong>de</strong>glied zwischen I<strong>de</strong>engeschichte und<br />
Bewegung. Wir hätten sie <strong>de</strong>shalb ebensogut in <strong>de</strong>r Abteilung "Frühlibertäre" abhan<strong>de</strong>ln können, <strong>de</strong>nn anarchische<br />
Elemente lassen sich natürlich auch bei <strong>de</strong>n "Frühsozialisten" nachweisen. Sie unterschie<strong>de</strong>n<br />
sich von <strong>de</strong>n "Frühlibertären" aber klar durch <strong>de</strong>n Schwerpunkt, <strong>de</strong>r auf eine praktische Umsetzung gelegt<br />
wur<strong>de</strong> - ein Aspekt, <strong>de</strong>r beim theoretisch ausgereifteren Godwin beispielsweise noch völlig fehlte.<br />
Der französische Gesellschaftskritiker Clau<strong>de</strong> Henry <strong>de</strong> Saint Simon, ein verarmter Graf, <strong>de</strong>r mit<br />
Washington im Amerikanischen Befreiungskrieg kämpfte,<br />
erkannte wie viele seiner Zeitgenossen die verheeren<strong>de</strong>n sozialen Auswirkungen <strong>de</strong>r Industrialisierung.<br />
Seihe Kritik konzentrierte sich auf die Frage <strong>de</strong>s Eigentums: das Erbrecht sollte abgeschafft und<br />
Produktionsmittel müßten Gemeineigentum wer<strong>de</strong>n. Wissenschaft und Industrie wären die Pfeiler einer<br />
künftigen, klassenlosen Gesellschaft, die von einer Hierarchie <strong>de</strong>r Fähigsten verwaltet wür<strong>de</strong>. Unschwer<br />
läßt sich hier eine Wurzel <strong>de</strong>s Marx'schen Kommunismus erkennen. Saint Simon sieht die Triebkraft <strong>de</strong>r<br />
Bewegung allerdings in Volksaufklärung und <strong>de</strong>m Wirken <strong>de</strong>s aufgeklärten Bürgertums; die<br />
Arbeiterschaft ist für ihn eher eine zu beglücken<strong>de</strong> Zielgruppe. Deshalb versammelte er einen Kreis
e<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r Persönlichkeiten um sich und inszenierte eine großartige Unterwan<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Institutionen<br />
Frankreichs. ›Saint-Simonisten‹ gelangten auch nach <strong>de</strong>m Tod ihres Meisters in einflußreiche Positionen<br />
173<br />
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und spielten um 1830 eine gewisse Rolle in <strong>de</strong>r Politik. Nicht wenige <strong>de</strong>r Reformer aber wur<strong>de</strong>n auf ihren<br />
bequemen Posten korrumpiert o<strong>de</strong>r zerstritten sich untereinan<strong>de</strong>r. Am Leben <strong>de</strong>r Arbeiter än<strong>de</strong>rte das<br />
natürlich wenig – eine negative aber wichtige Erfahrung, die man im aufkommen<strong>de</strong>n Anarchismus nie<br />
vergaß: spätestens seit Bakunin wur<strong>de</strong>n Anarchisten zu entschie<strong>de</strong>nen Gegnern jeglicher<br />
›Pöstchenschacherei‹ und noch 1970 warnten beispielsweise die <strong>de</strong>utschen Anarchisten die APO1<br />
eindringlich vor <strong>de</strong>m "Langen Marsch durch die Institutionen". Das Gros <strong>de</strong>r enttäuschten Anhänger<br />
Saint-Simons wandte sich in <strong>de</strong>r Folge <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en Fouriers zu.<br />
Charles Fourier kam durch seinen Kaufmannsberuf zu einer tiefempfun<strong>de</strong>nen Abneigung gegen die<br />
"Schmarotzerrolle" seines Gewerbes und wur<strong>de</strong> zu einem profun<strong>de</strong>n Systemkritiker. Seine Ansichten,<br />
beson<strong>de</strong>rs in jüngeren Jahren, sind <strong>de</strong>utlich libertärer als die Saint-Simons und haben Anarchisten von<br />
Kropotkin bis Bookchin beeinflußt. Fouriers Weltbild ist ebenso umfassend wie phantasievoll und<br />
wi<strong>de</strong>rsprüchlich. Ihm schweben gänzlich neue Formen <strong>de</strong>s Zusammenlebens und -arbeitens vor, mit einer<br />
<strong>de</strong>m Menschen angemessenen Ethik <strong>de</strong>r Arbeit und <strong>de</strong>s Genusses. Soziale Freiheit sei ohne<br />
wirtschaftliche Gleichheit nichts wert: "Wir brauchen Luxus für alle, nicht Gleichheit <strong>de</strong>s Elends!" Lange<br />
vor Marx mißt er <strong>de</strong>n Grad <strong>de</strong>r Freiheit einer Gesellschaft an <strong>de</strong>r sozialen Lage und <strong>de</strong>r Befreiung <strong>de</strong>r<br />
Frau. Auch zu Themen <strong>de</strong>r Erziehung, Sexualität und Ökologie nimmt er Stellung und setzt sich sogar für<br />
die Rechte <strong>de</strong>r Tiere ein.<br />
Das Originelle an Fourier aber ist, daß er alle diese I<strong>de</strong>en in <strong>de</strong>m konkreten Plan <strong>de</strong>r Phalansteres<br />
zusammenfließen läßt. In diesen "Kolonien <strong>de</strong>r Harmonie" sollen bis zu tausend Menschen gemeinsam<br />
leben, arbeiten und das Land bestellen. Basis <strong>de</strong>r Arbeit sollen Kooperativen sein, in <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>s Mitglied<br />
ein Recht auf Bildung, Arbeit und ein garantiertes "soziales Minimum" habe; höhere Leistung wer<strong>de</strong><br />
durch höhere "Divi<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n" belohnt. Wichtiger ist für Fourier jedoch <strong>de</strong>r Genuß: Nicht umsonst soll die<br />
Phalanstere in einer Art Palast untergebracht sein, einem Ort, wo auch Lei<strong>de</strong>nschaft, Vergnügen, Überfluß<br />
und Liebe zu Hause sind. Das klingt sympathisch, aber Fouriers Vorstellungen verraten im Detail sehr oft<br />
seine Sehnsucht nach einem hedonistischen*, männlichen Aristokratentum. Zwar ist er für die<br />
Gleichstellung <strong>de</strong>r Frau und erkennt richtig, daß sexuelle Befriedigung zur sozialen Harmonie beiträgt,<br />
gleichzeitig aber reglementiert er das Sexualleben in einer Art Hierarchie, die seine männliche<br />
Beschränktheit verrät. Auch seine Vorstellungen zur Erziehung sind dogmatisch und naiv. Überhaupt liegt<br />
ihm das Reglementieren sehr. Sogar <strong>de</strong>n Tagesablauf in <strong>de</strong>r Phalanstere beschreibt er so minutiös, daß<br />
kaum noch Platz für Eigeninitiative übrig bleibt. Das Leben <strong>de</strong>r Kommune erscheint so durchorganisiert,<br />
daß es streckenweise mehr an ein sanftes Gefängnis als an ein irdisches Paradies erinnert.<br />
Erst nach Fouriers Tod gewannen seine I<strong>de</strong>en größeren Einfluß. Zwar erlebte er noch 1833 in Frankreich<br />
die Gründung und das Scheitern <strong>de</strong>r ersten Siedlung, <strong>de</strong>r "Fourierismus" aber wur<strong>de</strong> erst nach 1848 zu<br />
einer be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Bewegung. Zahlreiche Anhänger entwickelten und propagierten seine Lehre und<br />
versuchten, seine Utopien umzusetzen. Ver-<br />
1) Siehe Kapitel 37!<br />
174<br />
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suche wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Schweiz, in England, Deutschland und vor allem in <strong>de</strong>n USA unternommen, wo es<br />
zeitweise drei Dutzend Fourierscher Kommunen gab. Keine lebte in<strong>de</strong>s länger als ein paar Jahre, die
meisten zerbrachen an innerem Streit. Das mangeln<strong>de</strong> Vertrauen Fouriers in die Freiheit <strong>de</strong>r Menschen,<br />
sein Hang zu Vorschriften und seine versteckten Hierarchien waren daran nicht schuldlos. Entschei<strong>de</strong>nd<br />
aber blieb, daß in diesen frühen Kommunen Erfahrungen gesammelt wur<strong>de</strong>n, die für die Zukunft wertvoll<br />
waren. Godwin kannte nur die Überzeugung durch Diskussion und blieb <strong>de</strong>shalb steril. Fourier fügte die<br />
Macht <strong>de</strong>s praktischen Beispiels hinzu. Das blieb selbst nach <strong>de</strong>m Scheitern nicht ohne Folgen: <strong>de</strong>r<br />
Einfluß Fourierscher I<strong>de</strong>en von freier Assoziation und Kooperation auf die Genossenschaftsbewegung,<br />
insbeson<strong>de</strong>re in Großbritannien, war enorm; sogar in Rußland fand er ein Echo. Selbst Jahrzehnte später<br />
beeinflußte Fourier noch die einschlägige Szene. Etwa die 1892 gegrün<strong>de</strong>te südbrasilianische<br />
Aussteigersiedlung La Cecilia mit ihrem idyllischen Dörfchen namens "Anarchie", die Surrealisten <strong>de</strong>r<br />
Zwischenkriegszeit o<strong>de</strong>r die Subkulturbewegung <strong>de</strong>r 60er und 70er Jahre.<br />
Ein Mann, <strong>de</strong>r sich auf William Godwin als seinen "philosophischen Lehrmeister" berief, war Robert<br />
Owen, <strong>de</strong>r "Vater <strong>de</strong>s britischen Sozialismus". Tatsächlich führten die I<strong>de</strong>en und Experimente dieses<br />
radikalen Reformers zur Geburt einer florieren<strong>de</strong>n Genossenschaftsbewegung und zur Gründung <strong>de</strong>r<br />
ersten Gewerkschaften <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s. Als wohlhaben<strong>de</strong>r Mann erlebte er das soziale Elend in <strong>de</strong>r britischen<br />
Industrieproduktion aus <strong>de</strong>r Perspektive eines Direktors in <strong>de</strong>r Fabrik seines Schwiegervaters. Er bricht<br />
jedoch mit seiner Klasse und gelangt zu <strong>de</strong>r Einsicht, daß die bestehen<strong>de</strong> Gesellschaftsordnung falsch sei:<br />
Das Individuum trage keine Schuld an Armut, Laster und Verbrechen, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Charakter <strong>de</strong>s Menschen<br />
wer<strong>de</strong> vom Milieu bestimmt. Wirtschaftliche Gleichheit sei die Voraussetzung für positive Entfaltung ;<br />
Fortschritt beruhe auf <strong>de</strong>r Erziehung zur wahren Erkenntnis.<br />
Sein erstes praktisches Experiment ist daher auch die Einrichtung einer Schule für Arbeiterkin<strong>de</strong>r, die er<br />
gegen <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Kirche durchsetzt, die <strong>de</strong>m antireligiösen Unternehmer mißtraut. In <strong>de</strong>n<br />
folgen<strong>de</strong>n Jahren schickt er massenweise Denkschriften an Regierungen, Ministerien und Universitäten in<br />
<strong>de</strong>r Hoffnung, Verbün<strong>de</strong>te für seine Vorschläge zur Reform <strong>de</strong>r Arbeitszeit, <strong>de</strong>r Erziehung, <strong>de</strong>s<br />
Armenrechts o<strong>de</strong>r zur Abschaffung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rarbeit zu gewinnen. Vergebens — überall stößt er auf eine<br />
Mauer <strong>de</strong>s Schweigens. 1819 zieht er die Konsequenzen und stellt sich mit seiner "Botschaft an die<br />
arbeiten<strong>de</strong>n Klassen" auf die Seite <strong>de</strong>r Arbeiterschaft. Von ›oben‹ sei keine Hilfe zu erwarten, also müsse<br />
man >von unten< durch Selbsthilfe agieren. Konsumvereine, Gewerkschaften und vor allem<br />
Genossenschaftsdörfer wer<strong>de</strong>n propagiert. Owens Vorstellungen solcher Siedlungen sind weit praktischer<br />
und weniger extravagant als die Fouriers, und ähneln <strong>de</strong>nen von Gustav Landauers "Sozialistischem<br />
Bund": 500 bis 3000 Menschen sollen sich durch eine selbstverwaltete Wirtschaftsform und eigene<br />
Erziehungseinrichtungen <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise entziehen. Privateigentum beschränkt sich<br />
auf <strong>de</strong>n persönlichen Lebensbereich. Für die innere Demokratie wer<strong>de</strong>n Räte vorgeschlagen, die sich über<br />
Delegierte<br />
175<br />
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und Ausschüsse mit ähnlichen Gemein<strong>de</strong>n verbin<strong>de</strong>n sollen. Da er in England wenig Echo fin<strong>de</strong>t, geht er<br />
in die USA, wo er mit seinen Anhängern 1825 die Kommune New Harmony grün<strong>de</strong>t. Nach drei Jahren<br />
scheitert das Experiment, und Owen kehrt enttäuscht in seine Heimat zurück. Hier sind aber inzwischen<br />
seine I<strong>de</strong>en auf fruchtbaren Bo<strong>de</strong>n gefallen, und viele <strong>de</strong>r neuen Gewerkschaften, die allenthalben<br />
entstehen, folgen seinen Gedanken zur Selbstorganisation. Auch Owen wird nun zeitweise<br />
gewerkschaftlich aktiv. Die I<strong>de</strong>e, gegen die Industriegesellschaft mo<strong>de</strong>llhafte Gegengesellschaften<br />
aufzubauen, fin<strong>de</strong>t allerdings wenig Anhänger. Nach<strong>de</strong>m auch die von Owen gegrün<strong>de</strong>te kommunistische<br />
Siedlung Queenswood wie<strong>de</strong>r aufgelöst wer<strong>de</strong>n muß, zieht sich <strong>de</strong>r 65 jährige resigniert zurück. Einen<br />
Tag vor seinem Tod im Jahre 1858 sagte Owen "Ich bin meiner Zeit voraus". Die Erfahrungen unseres<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts – etwa die israelischen Kibuzzim, die spanischen Kollektive o<strong>de</strong>r die heutige<br />
Selbstverwaltungswirtschaft – gaben ihm darin Recht.<br />
Anarchistisch o<strong>de</strong>r libertär?<br />
Wir sind nun in die Zeit vorgedrungen, in <strong>de</strong>r sich die Theorie eines mo<strong>de</strong>rnen Anarchismus herausbil<strong>de</strong>t<br />
und bald zu einer neuen, sozialen Bewegung wird. Die Voraussetzungen hierzu waren erfüllt:
geistesgeschichtlich war <strong>de</strong>r Gedanke <strong>de</strong>r Herrschaftsfreiheit weit verbreitet, wirtschaftliches Elend führte<br />
in <strong>de</strong>r Arbeiterschaft zu wachsen<strong>de</strong>m Selbstbewußtsein und auch erste praktische Erfahrungen waren<br />
schon gemacht.<br />
Natürlich ist es naiv zu glauben, daß ab <strong>de</strong>m Moment, wo Menschen sich offen zum Anarchismus<br />
bekannten, eine klare Trennung in Anarchisten und Nichtanarchisten möglich wäre. Nicht alle Menschen,<br />
die libertär dachten und han<strong>de</strong>lten, schlössen sich <strong>de</strong>r neuen Bewegung an, und - lei<strong>de</strong>r - dachten und<br />
han<strong>de</strong>lten auch nicht alle Menschen, die sich fortan Anarchisten nannten, libertär. Schon die Uneinigkeit<br />
und Wi<strong>de</strong>rsprüchlichkeit <strong>de</strong>r neuen Bewegung sorgte dafür, daß auch nach Proudhons ›anarchistischem<br />
Outing‹ viele große libertäre Geister es vorzogen, sich am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Bewegung zu halten, obwohl sie<br />
<strong>de</strong>ren Inhalten o<strong>de</strong>r Zielen sehr verbun<strong>de</strong>n waren. Die Reihe <strong>de</strong>r "Frühlibertären" läßt sich <strong>de</strong>shalb auch<br />
im 19. Jahrhun<strong>de</strong>n nahtlos fortsetzen.<br />
So stan<strong>de</strong>n in England etwa <strong>de</strong>r Künstler William Morris o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Schriftsteller Oscar Wil<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>n USA<br />
Ralph Waldo Emerson und Walt Whitman <strong>de</strong>m Anarchismus nicht nur nahe, son<strong>de</strong>rn waren zum Teil<br />
direkt an anarchistischen Projekten beteiligt. Die englischen Sozialphilosophen John Stuart Mill, Herbert<br />
Spencer und Edward Carpenter, die genauso libertär wie liberal zu nennen sind, verteidigten alle das<br />
Recht <strong>de</strong>s Individuums gegenüber <strong>de</strong>m Staat und traten für eine minimalisierte Form <strong>de</strong>s Regierens ein.<br />
Auch Henry David Thoreau, <strong>de</strong>r 1854 mit seinem Buch "Über die Pflicht <strong>de</strong>s Ungehorsams gegen <strong>de</strong>n<br />
Staat" einen Grundlagentext für alle späteren Formen <strong>de</strong>s ›zivilen Ungehorsams‹ schrieb, gehört in diese<br />
Reihe libertärer Aufmüpfiger, die in Amerika eine tiefe Tradition begrün<strong>de</strong>n konnten.<br />
Und sicher ist hier <strong>de</strong>r oft verkannte <strong>de</strong>utsche Philosoph Friedrich Nietzsche zu nennen, <strong>de</strong>ssen<br />
zweifelhafter Ruf zu einem großen Teil darauf beruht, daß seine Schwester <strong>de</strong>n schriftlichen Nachlaß<br />
scheibchenweise im Sinne <strong>de</strong>r Nazis verwurstete. Tatsächlich<br />
176<br />
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aber hat kaum ein an<strong>de</strong>rer härtere Worte über Staat, Nation und Religion gefun<strong>de</strong>n als Nietzsche. Seine<br />
stark individualistische Philosophie <strong>de</strong>s "Übermenschen" steht gewiß in einer geistigen Verwandtschaft<br />
mit Max Stirner. Anarchisten wie Benjamin Tucker, Emma Goldman, Rudolf Rocker und Herbert Read<br />
haben sich von <strong>de</strong>m sächsischen Philosophen inspirieren lassen, während er von vielen an<strong>de</strong>ren Libertären<br />
rundheraus abgelehnt wur<strong>de</strong>. Nietzsche hat übrigens selbst <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Hinweis darauf gegeben,<br />
warum er sich nicht als "Anarchist" fühlte. Trotz geistiger Nähe hielt er <strong>de</strong>n Anarchismus seiner Tage für<br />
die Einmündung in einen falschen Weg, weil seine "Klagen über An<strong>de</strong>re und die Gesellschaft aus<br />
Schwäche und enggeistigem Rachegefühl" geboren seien. Für die anarchistische Bewegung En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 19.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts ist das eine durchaus treffen<strong>de</strong> Kritik. In gewissem Sinne gilt sie noch heute für so manche<br />
liebgewonnene Wehleidigkeit vieler Anarchisten.<br />
Literatur:<br />
/ William Godwin: Über die politische Gerechtigkeit (Auszüge) Berlin 1978, Libertad, 33 S. / <strong>de</strong>rs.:<br />
Enquiry Concerning Political Justice Oxford 1971, Clarendon Press / <strong>de</strong>rs.: Die Abenteuer <strong>de</strong>s Caleb<br />
Williams München 1978, Goldmann<br />
/ Pierre Ramus: William Godwin, <strong>de</strong>r Theoretiker <strong>de</strong>s kommunistischen Anarchismus Westbevern o.J.<br />
(1975?), Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 85 S.<br />
/ John P. Clark: The Philosophical Anarchism of William Godwin Princeton, N.Y. 1977, Princeton Univ.<br />
Press, 343 S.<br />
/ Ulrich Dierse: Anarchie, Anarchismus (15 S.) in: J. Ritter (Hrsg.): Histor. Wörterbuch d. Philosophie<br />
Basel u. Stuttgart 1971, Schwabe & Co, [Spalte 167-294]<br />
/ Peter Christian Ludz: Anarchie - Anarchismus -Anarchist (S. 44-50 u. S. 55-109) sowie Christian Meier:<br />
"Anarchie' in <strong>de</strong>r Antike (S. 50-55) in: Brunner, Conze, Koseliek (Hrsg.): Histor. Lexikon z. politischsozialen<br />
Sprache in Deutschland (Bd I), Stuttgart 1972, Klett
Peter Marshall: Demanding The Impossible, vgl. Kap. 20!<br />
/ Thomas Morus: Utopia Frankfurt/M. 1987, Büchergil<strong>de</strong> Gutenberg, 189 ill.<br />
/ Michael Vester (Hrsg.): Die Frühsozialisten (Bd. I, 1789-1848) Hamburg 1970, Rowohlt, 247 S.<br />
/ Charles Fourier: Aus <strong>de</strong>r neuen Liebeswelt Berlin 1977, Wagenbach, 205 S.<br />
/ Andre Breton: O<strong>de</strong> an Charles Fourier Berlin 1982, Karin Kramer, 167 S.<br />
/ Giovanni Rossi: Utopie und Experiment Berlin 1979, Karin Kramer, 322 S.<br />
/ Henry David Thoreau: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen <strong>de</strong>n Staat Zürich 1973, Diogenes, 86 S.<br />
177<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Kapitel 22<br />
"Eigentum ist Diebstahl!"<br />
Proudhon und die Anfänge <strong>de</strong>s Anarchismus<br />
Was sind Sie also? –<br />
Ich bin Anarchist. –<br />
Ich verstehe. Sie wollen sich auf Kosten <strong>de</strong>r Regierung lustig machen? –<br />
Keineswegs. Ich habe Ihnen nur meine wohl abgewogene und ernsthafte Überzeugung genannt. Obwohl<br />
ich überzeugter Anhänger <strong>de</strong>r Ordnung bin, bin ich im vollsten Sinne <strong>de</strong>s Wortes ein Anarchist.<br />
- Pierre Joseph Proudhon -<br />
DIE TROSTLOSEN WINTER DER SPÄTEN VIERZIGER JAHRE brachten in Paris die größten<br />
politischen Schwärmer <strong>de</strong>s neunzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rts zusammen. Stun<strong>de</strong>nlang, ganze Nächte hindurch,<br />
saßen sie in ihren Spelunken und Stammcafes im Marrais und disputierten über die leuchten<strong>de</strong> Zukunft<br />
<strong>de</strong>r Menschheit. In ihren Taschen war kaum ein sou, ihre Anzüge waren fa<strong>de</strong>nscheinig und ihre Absteigen<br />
ungeheizt. Feuer glühte allein in<br />
177<br />
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ihren Herzen - <strong>de</strong>r Wunsch nach Revolution. Aus fast allen Län<strong>de</strong>rn Europas hatte es Legionen politischer<br />
Emigranten in die französische Hauptstadt verschlagen: Aus Preußen und <strong>de</strong>m Deutschen Reich, aus <strong>de</strong>m<br />
untergegangenen Polen, aus Italien und vor allem aus Rußland. Zwar hatte auch Frankreich ein<br />
reaktionäres Regime - <strong>de</strong>n "Bürgerkönig" Louis-Philippe -, aber in Paris gab es noch einen guten Rest von<br />
Liberalität: Nischen <strong>de</strong>r Freiheit, in <strong>de</strong>nen man atmen konnte. Ganz Europa dämmerte inzwischen unter<br />
einer brutalen und spießigen Reaktion. Das Bürgertum war zu Geld und Macht gekommen und sonnte<br />
sich in seinem Glanz und seiner Stärke. Und überall gab es Menschen, die litten und ächzten, weil sie all<br />
das bezahlen mußten. Diejenigen, die in <strong>de</strong>n Fabriken für lächerliche Löhne 12, 14 Stun<strong>de</strong>n täglich<br />
arbeiteten und doch nicht davon leben konnten. Männer, Frauen, Kin<strong>de</strong>r - die Arbeiterklasse o<strong>de</strong>r, wie sie<br />
neuerdings genannt wur<strong>de</strong>n, das "Proletariat".<br />
Zu <strong>de</strong>n politischen Asylanten <strong>de</strong>r 40er Jahre gehörte ein gewisser Herr Karl Marx, abgebrochener Jurist<br />
und promovierter Philosoph aus Deutschland, <strong>de</strong>r als Beruf ›politischer Journalist‹ angab. Ein Monsieur<br />
Alexan<strong>de</strong>r Herzen aus Moskau war hinzugestoßen, halb Russe und halb Deutscher, Naturwissenschaftler<br />
und Literat und soeben <strong>de</strong>r Verbannung entflohen. Und ein ehemaliger Offizier aus nie<strong>de</strong>rem A<strong>de</strong>l<br />
namens Michail Bakunin, <strong>de</strong>r Philosophie studierte, steckbrieflich gesucht ruhelos durch Europa reiste<br />
und noch nicht ahnte, daß er schon in Kürze auch aus Frankreich ausgewiesen wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>.<br />
Lei<strong>de</strong>nschaftlich diskutierten sie die Hegelsche Dialektik und erörterten Fragen revolutionärer Strategie.
Alle drei hatten unterschiedliche Ansichten, aber einen gemeinsamen Bekannten, <strong>de</strong>ssen skandalöses<br />
Buch "Was ist das Eigentum?" in aller Mun<strong>de</strong> war: Pierre-Joseph Proudhon. Ein Mann von einfacher<br />
Herkunft, Wan<strong>de</strong>rgeselle, Handwerker, Autodidakt*, ein Hinterwäldler aus <strong>de</strong>r finstersten Provinz, <strong>de</strong>r in<br />
kürzester Zeit mit seinen provozieren<strong>de</strong>n Gedanken zum Bestsellerautor gewor<strong>de</strong>n war. "Eigentum ist<br />
Diebstahl", "Anarchie ist Ordnung", "Gott ist ein Übel" - das waren griffige Zitate Proudhons,<br />
herausgerissen aus seinen Büchern und zu geflügelten Worten gemacht.<br />
In jenen vierziger Jahren wur<strong>de</strong> in Paris die Ursuppe <strong>de</strong>s Sozialismus zusammengebraut. Marx, Herzen<br />
und Bakunin, die Proudhon natürlich gelesen hatten, machten sich mit seinen I<strong>de</strong>en vertraut und ihn mit<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Philosophie. Mit Proudhonschem Geld eröffnete <strong>de</strong>r mittellose Marx ein "Büro für<br />
internationale sozialistische Korrespon<strong>de</strong>nz" - Vorläufer <strong>de</strong>r "Ersten Internationale". Bakunin und Herzen<br />
wur<strong>de</strong>n zu Proudhons Freun<strong>de</strong>n. Die Frage, die alle gleichermaßen interessierte: Wie könnten Elend und<br />
Unzufrie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>s Proletariats zum Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft wer<strong>de</strong>n? Was waren die<br />
Ziele und welches <strong>de</strong>r richtige Weg?<br />
Es gärte und roch nach Verän<strong>de</strong>rung. Im Februar 1848 entlud sich <strong>de</strong>r Druck in einer ersten Revolution,<br />
vielleicht zu früh: Louis-Philippe wur<strong>de</strong> von seinem Thron geblasen - nur, um im Dezember Louis-<br />
Napoleon emporzubringen, <strong>de</strong>r 1851 gegen das Parlament putschte und bald als Napoleon III. neuer<br />
Kaiser wur<strong>de</strong>...<br />
178<br />
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Ein Rückschlag, keine Frage, aber <strong>de</strong>nnoch - nach <strong>de</strong>r Februarrevolution war nichts mehr so wie vorher:<br />
Eine Bewegung war geboren, die nicht wie<strong>de</strong>r verschwand. Die vier Männer zerstreuten sich in alle<br />
Richtungen. Herzen führte Proudhons Gedanken in <strong>de</strong>n russischen Populismus* ein, Bakunin entwickelte<br />
seine I<strong>de</strong>en weiter und machte sie international populär. In <strong>de</strong>n nächsten Jahrzehnten beriefen sich immer<br />
mehr soziale Strömungen auf Proudhon: Gewerkschaften, Arbeiterbörsen, Genossenschaften, politische<br />
Clubs und vor allem <strong>de</strong>r antiautoritäre Flügel <strong>de</strong>r Ersten Internationalen Arbeiter- Assoziation. Als sich<br />
1871, sechs Jahre nach Proudhons Tod, die Arbeiterschaft von Paris in <strong>de</strong>r Commune erhob, stellten seine<br />
Anhänger die größte Fraktion. Einzig Karl Marx war inzwischen zu seinem erbitterten Gegner gewor<strong>de</strong>n.<br />
Wer war dieser Proudhon, und was hatte er <strong>de</strong>r Welt zu sagen?<br />
Denker und Dickschä<strong>de</strong>l<br />
Proudhon entstammt einer jener typischen Familien armer, bo<strong>de</strong>nständiger und dickschädliger Bergbauern<br />
<strong>de</strong>s französischen Jura. 1809 in Besancon geboren, muß <strong>de</strong>r junge Pierre-Joseph schon mit zwölf Jahren<br />
im Gewerbe seines Vaters mitarbeiten, <strong>de</strong>r eine Kneipe mit Küferei betreibt. Nebenher besucht <strong>de</strong>r<br />
auffallend gescheite Junge das angesehene College <strong>de</strong> Besancon. Damit ist Schluß, als <strong>de</strong>r Vater 1827<br />
bankrott macht. Proudhon erlernt das Buchdruckerhandwerk und frönt, wann immer er kann, seinem<br />
unstillbaren Bildungshunger. Er besucht sozialistische Zirkel, lernt Charles Fourier kennen und kommt<br />
auf seiner mehrjährigen Wan<strong>de</strong>rschaft mit ersten Arbeiterkooperativen in Verbindung. Zurück in <strong>de</strong>r<br />
Heimat, grün<strong>de</strong>t er eine Druckerei und wird unter <strong>de</strong>m Eindruck <strong>de</strong>r religiösen Traktate, die er für die<br />
Diözese druckt, zum überzeugten Atheisten. Mit einer preisgekrönten Arbeit über Moses, <strong>de</strong>n er<br />
interessanterweise und völlig unkonventionell als Sozialwissenschaftler und weisen Ent<strong>de</strong>cker von<br />
Naturgesetzen interpretiert, gewinnt er 1838 ein Stipendium an <strong>de</strong>r örtlichen Aka<strong>de</strong>mie. Aus Dankbarkeit<br />
widmet er ihr auch sein aufsehenerregen<strong>de</strong>s nächstes Werk, "Was ist das Eigentum?", das 1840 erscheint<br />
und zum Skandal wird. Entsetzt besteht die Aka<strong>de</strong>mie darauf, die Widmung zu streichen. Kein Wun<strong>de</strong>r,<br />
<strong>de</strong>nn die Denkschrift ist ein Frontalangriff auf die wichtigsten Säulen <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Ordnung:<br />
Eigentum und Regierung.<br />
Ab nun wird Proudhon zu einem vielbeachteten Autor, ruhelosen politischen Organisator und originellen<br />
sozialen Quer<strong>de</strong>nker. Den Rest seines Lebens bleibt er ein experimenteller Anarchist zwischen<br />
Philosophie und Versuch, Ruhm und Gefängnis, Hoffnung und Resignation. Hierbei sieht man ihn hinter
Barrika<strong>de</strong>n ebenso wie als Abgeordneten im Parlament. Er grün<strong>de</strong>t eine Bank, gibt Zeitungen mit<br />
Massenauflagen heraus, und wie ein Worcaholic schreibt er ein Buch nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren. Als er 1865<br />
stirbt, hinterläßt er mehr als vierzig Titel, vierzehn Bän<strong>de</strong> Korrespon<strong>de</strong>nz und elf Bän<strong>de</strong> Notizen, Mehrere<br />
tausend Trauern<strong>de</strong> begleiten <strong>de</strong>n Sarg <strong>de</strong>s Mannes, <strong>de</strong>r sich zu Lebzeiten selbst als "<strong>de</strong>n<br />
Exkommunizierten <strong>de</strong>r Epoche" gesehen hatte, unverstan<strong>de</strong>n und seinen Mitmenschen entfrem<strong>de</strong>t.<br />
Damit lag er gar nicht so falsch, <strong>de</strong>nn Proudhon war alles an<strong>de</strong>re als ein Philosoph zum<br />
179<br />
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Liebhaben. In <strong>de</strong>r Tat hatte er sich - auch im eigenen Lager - nicht nur Freun<strong>de</strong> gemacht. Er war zwar<br />
einer <strong>de</strong>r kühnsten und bizarrsten Denker seines Jahrhun<strong>de</strong>rts, aber zugleich auch von solcher<br />
Wi<strong>de</strong>rsprüchlichkeit, polemischer Übertreibung und Wechselhaftigkeit <strong>de</strong>r Ansichten, daß es bis heute<br />
selbst seinen Anhängern schwerfällt, ihm immer zu folgen. Innigste Freiheitsliebe stehen bei Proudhon<br />
unvermittelt neben tumben, reaktionären Anschauungen, scharfsinnige Analysen von bestechen<strong>de</strong>r<br />
Klarheit beißen sich mit vagen und unsystematischen Spekulationen.<br />
Proudhon war kein Systematiker, son<strong>de</strong>rn Spontaneist. Seine Metho<strong>de</strong> glich mehr einem Brainstorming<br />
als <strong>de</strong>m Aufbau eines schlüssigen Mo<strong>de</strong>lls. Es machte ihm nichts aus, für bei<strong>de</strong> Seiten einer Frage gleich<br />
überzeugend Partei zu ergreifen, wenn er die Wahrheit irgendwo dazwischen vermutete. Kam er zu einer<br />
klaren Entscheidung, konnte es sein, daß er sie Jahre später recht unbekümmert wie<strong>de</strong>r verwarf. Kein<br />
Wun<strong>de</strong>r, daß ein or<strong>de</strong>ntlicher Philosoph wie Karl Marx an solch einem chaotischen Autodidakten<br />
verzweifelte.<br />
Proudhon hinterließ kein philosophisches System, son<strong>de</strong>rn einen reichen Steinbruch an I<strong>de</strong>en. Vor allem<br />
aber konnte er - trotz seines ruhelosen Bildungshungers - zeitlebens nie <strong>de</strong>n begrenzten Horizont seiner<br />
provinziellen Herkunft überwin<strong>de</strong>n. Recht treffend hat Trotzki ihn <strong>de</strong>shalb <strong>de</strong>n "Robinson Crusoe <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus" genannt. Nirgends zeigt sich diese engstirnige, puritanische und rückständige Verwurzelung<br />
<strong>de</strong>s schreiben<strong>de</strong>n Handwerkers aus <strong>de</strong>r Franche Comté so sehr, wie in seinem Bild <strong>de</strong>r Frau o<strong>de</strong>r seinen<br />
Ansichten zur Rasse. Der Mensch sei an <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n gebun<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>m er stamme, und die Liebe zur<br />
Er<strong>de</strong>, auf <strong>de</strong>r man geboren ist, empfin<strong>de</strong>t er als natürlich, gut und harmonisch. Eine Vermischung von<br />
Rassen sei daher unnatürlich. Von <strong>de</strong>r Schlechtigkeit seiner jüdischen Mitmenschen schien er ebenso<br />
überzeugt zu sein wie von <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rwertigkeit <strong>de</strong>r Frau. Es ist kaum zu glauben, aber <strong>de</strong>r glühendglobale<br />
Schrei nach Freiheit scheint für <strong>de</strong>n "Vater <strong>de</strong>s Anarchismus" nur für mitteleuropäische Männer<br />
zu gelten! Je älter er wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>sto wun<strong>de</strong>rlicher wur<strong>de</strong>n seine Ansichten. Zehn Jahre nach seinem Tod<br />
wur<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>m Titel "Pornokratie o<strong>de</strong>r Frauen <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Zeit" Fragmente aus seinem Nachlaß<br />
veröffentlicht, in <strong>de</strong>nen er <strong>de</strong>r Frau <strong>de</strong>n Platz zuweist, <strong>de</strong>r ihr seiner Meinung nach gebührt: am Herd<br />
inmitten <strong>de</strong>r Familie, <strong>de</strong>m Manne vollkommen untertan. Intellektuell traut er ihr nicht viel zu. Ein<br />
erschrecken<strong>de</strong>s Pamphlet, das in schreien<strong>de</strong>m Gegensatz zu <strong>de</strong>m steht, was <strong>de</strong>rselbe Mensch an<strong>de</strong>rswo an<br />
bahnbrechen<strong>de</strong>n Erkenntnissen über Unterdrückung, Herrschaft und das Recht auf Freiheit geschrieben<br />
hat...<br />
Ist <strong>de</strong>r Vater <strong>de</strong>s Anarchismus also ein Blut-und-Bo<strong>de</strong>n-Rassist und reaktionärer Macho? Ein Wegbereiter<br />
<strong>de</strong>s Faschismus gar? Wer das glauben möchte, müßte auch Martin Luther und die Bolschewiki, Nietzsche<br />
o<strong>de</strong>r die Französische Revolution, Goethe, Wagner, Schopenhauer und die Brü<strong>de</strong>r Grimm <strong>de</strong>n frühen<br />
Nazis zurechnen, weil bei ihnen allen bezüglich Heimat, Frauen o<strong>de</strong>r auch Ju<strong>de</strong>n Äußerungen zu fin<strong>de</strong>n<br />
sind, die wir heute mit Recht als reaktionär und teilweise abscheulich empfin<strong>de</strong>n. Das Dilemma scheint<br />
im Falle Proudhons eher darin zu liegen, daß er am Beginn eines Denkens steht, aus <strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r<br />
mo<strong>de</strong>rne Anarchismus erst noch entwickeln wird, an <strong>de</strong>m er aber gleichwohl gemessen<br />
180<br />
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wird. Einige anarchistische Essentials durchblickte er gera<strong>de</strong>zu glasklar, an<strong>de</strong>re hingegen verstand er<br />
nicht einmal ansatzweise.<br />
Die anarchistische Bewegung ist über dieses Dilemma immer wie<strong>de</strong>r gerne mit peinlichem Schweigen<br />
hinweggegangen - ein ebenso albernes wie bezeichnen<strong>de</strong>s Verhalten. Es zeigt, wie schwer man sich darin<br />
tut, mit wi<strong>de</strong>rsprüchlichem Verhalten umzugehen - einer Eigenschaft, die (angeblich mit Ausnahme <strong>de</strong>r<br />
Heiligen) ja allen Menschen eigen ist. Da stellt sich doch die Frage, ob <strong>de</strong>r Anarchismus Heilige braucht.<br />
Idole als Inkarnation von Tugend sind ein Mythos, <strong>de</strong>r nötig ist, um Massen an eine I<strong>de</strong>ologie zu fesseln.<br />
Der Anarchismus sollte das nicht nötig haben. Vielleicht tun wir gut daran, am Beispiel Proudhon die<br />
bittere Erkenntnis zu schlucken, daß gute I<strong>de</strong>en nicht automatisch in ihren Trägern zur ethischen<br />
Fleischwerdung gelangen müssen. Das macht uns frei dafür, auch die I<strong>de</strong>en und Taten eines Menschen<br />
durchaus fesselnd, inspirierend und positiv fin<strong>de</strong>n zu können, <strong>de</strong>r seiner eigenen Philosophie wi<strong>de</strong>rsprach.<br />
Für <strong>de</strong>n Anarchismus ist insofern an Proudhon weniger die Person interessant, als vielmehr die<br />
Auswirkungen seiner zentralen Thesen.<br />
Soziale Gerechtigkeit als Grundlage <strong>de</strong>r Freiheit<br />
In seinem Hauptwerk liefert Proudhon zunächst eine Bestandsaufnahme <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Gesellschaft, vor<br />
allem ihrer Ökonomie. Er erkennt die Entfremdung mo<strong>de</strong>rner Industriearbeit und brandmarkt, daß <strong>de</strong>r<br />
Arbeiter mehr und mehr zu einem Automaten <strong>de</strong>gradiert wer<strong>de</strong>. Besitzverhältnisse, Arbeitsteilung und<br />
Geldsystem führten bei <strong>de</strong>n Unternehmern zu wachsen<strong>de</strong>m Wohlstand, bei <strong>de</strong>r Arbeiterschaft zu<br />
materieller und seelischer Verelendung. Umfassend untersucht er sodann Entstehung, Wesen und<br />
Wirkung von Eigentum, da er in <strong>de</strong>r ungerechten Verteilung <strong>de</strong>s Wohlstan<strong>de</strong>s die Wurzel vieler Übel<br />
sieht. Seiner Beweisführung, daß auch die besitzlosen Klassen ein Anrecht auf <strong>de</strong>n erwirtschafteten<br />
Reichtum hätten, läßt er aber nun nicht die For<strong>de</strong>rung nach einer gerechteren Verteilung <strong>de</strong>s Eigentums<br />
folgen, son<strong>de</strong>rn propagiert seine Abschaffung. Einesteils aus moralischen Grün<strong>de</strong>n, weil Eigentum<br />
insofern Diebstahl sei, als es aus <strong>de</strong>r Ausbeutung <strong>de</strong>r Besitzlosen und Rechtlosen gewonnen wird, und<br />
diese um die Früchte ihrer Arbeit betrügt. Vor allem aber, weil im Eigentum das Fundament von<br />
Herrschaft und Unterdrückung zu sehen sei, die <strong>de</strong>n Menschen an <strong>de</strong>r freien Entfaltung von Initiative,<br />
Kreativität und Moral hin<strong>de</strong>re. Eigentum habe fatale Folgen. Es sei eine angemaßte Verfügungsgewalt zur<br />
persönlichen Bereicherung, ein abstraktes Prinzip. Besitz hingegen sei segensreich. Er diene als<br />
Voraussetzung einer individuellen o<strong>de</strong>r kollektiven Nutzung <strong>de</strong>r Güter zum Wohle aller. Besitz ist<br />
<strong>de</strong>mnach kein theoretischer und ewiger Rechtsanspruch, son<strong>de</strong>rn besteht nur so lange, wie eine Nutzung<br />
auch tatsächlich erfolgt. Proudhon <strong>de</strong>nkt hierbei nicht an <strong>de</strong>n Besitz privater Dinge, son<strong>de</strong>rn zielt auf die<br />
Verfügungsgewalt über Bo<strong>de</strong>n und Produktionsmittel. Entschie<strong>de</strong>n wen<strong>de</strong>t er sich gegen gewisse<br />
kommunistische Vorstellungen von <strong>de</strong>r Kollektivierung <strong>de</strong>s Privaten. Der Mensch, so Proudhon, brauche<br />
freie Entscheidung und die Wahl zwischen Alternativen - <strong>de</strong>r Kommunismus gehe statt<strong>de</strong>ssen<br />
181<br />
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davon aus, daß sich das Individuum vollständig <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>r Gesellschaft unterzuordnen habe.<br />
Von dieser radikalen Kritik war es nur noch ein kleiner Schritt zu radikalen Konsequenzen, die in <strong>de</strong>r<br />
For<strong>de</strong>rung nach einer neuen Gesellschaft mün<strong>de</strong>ten. In dieser Suche nach einer "dritten<br />
Gesellschaftsform" entsteht <strong>de</strong>r erste grobe Entwurf eines anarchistischen Systems.<br />
Die Grundlage <strong>de</strong>r Freiheit müsse soziale Gerechtigkeit sein, in <strong>de</strong>r unabhängige Produzenten und<br />
Konsumenten <strong>de</strong>n Austausch gleichwertiger Waren, Produkte und Leistungen verwirklichen. Die<br />
Beziehungen zwischen Menschen und sozialen Gruppen regele die freie Vereinbarung, die autonome<br />
Individuen untereinan<strong>de</strong>r und mit <strong>de</strong>r Gesellschaft eingehen. Das Interesse am Austausch beruhe dabei auf<br />
Gegenseitigkeit - französisch mutualite - ein Begriff, <strong>de</strong>r bei Proudhon eine wesentliche Rolle spielt.<br />
Zwischen <strong>de</strong>n Polen absoluter Freiheit und Tyrannei gesteht <strong>de</strong>r späte Proudhon hierbei auch einer<br />
wohlverstan<strong>de</strong>nen "Autorität" eine regulieren<strong>de</strong> Rolle zu. Stark ausgeprägt ist <strong>de</strong>r
Genossenschaftsgedanke: handwerkliche, bäuerliche und industrielle Kooperation soll die Initiative<br />
einzelner Kapitalisten ersetzen. Anstelle <strong>de</strong>r als unsozial empfun<strong>de</strong>nen Bereicherung sieht Proudhon als<br />
Antrieb zum Han<strong>de</strong>ln eine Art sozialen Wettbewerbs, <strong>de</strong>r um so stärker greife, je freier <strong>de</strong>r Mensch sei<br />
und je mehr er sich mit <strong>de</strong>r Gesellschaft i<strong>de</strong>ntifiziere. Als materieller Anreiz bleibt die Verfügungsgewalt<br />
über die Früchte <strong>de</strong>r Arbeit, die die Produzenten behalten sollen. Das ganze System schließlich wür<strong>de</strong><br />
strikt <strong>de</strong>zentral sein; die notwendigen Strukturen <strong>de</strong>r Koordination müßten sich fö<strong>de</strong>ralistisch aufbauen,<br />
das heißt, von ›unten‹ nach ›oben‹. So könne das Entstehen neuer Tyrannei verhin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.<br />
Konsequenz einer solchen selbstverwalteten Gesellschaft wäre ein Verschwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Staates, ihr Ziel die<br />
"Anarchie". Originellerweise packt Proudhon die positive politische Definition dieses Begriffes eher<br />
beiläufig in eine Fußnote: Schon 1840, in "Was ist das Eigentum?", räumt er ein, daß das Wort<br />
"Anarchie" bisher als "Abwesenheit von Gesetzen" verstan<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong> und als Synonym für "Unordnung"<br />
stand. In Wahrheit aber seien <strong>de</strong>r Staat und die ungleiche Verteilung <strong>de</strong>s Wohlstan<strong>de</strong>s die Quellen <strong>de</strong>s<br />
Chaos'. Da Herrschaftslosigkeit diese Ursachen beseitige, sei es gerechtfertigt zu sagen: Anarchie ist<br />
Ordnung. Selten ist ein vermeintliches Paradox knapper und schlüssiger erklärt wor<strong>de</strong>n. Die Originalität<br />
dieses Gedankengangs, zusammen mit <strong>de</strong>r vorausschauen<strong>de</strong>n Skizze einer anarchistischen Gesellschaft in<br />
ihren wesentlichen Grundzügen, begrün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Ruf Proudhons als geistiger "Vater <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen<br />
Anarchismus".<br />
"Vom Geist <strong>de</strong>s Proudhonismus befallen"<br />
Der Wust neuer I<strong>de</strong>en, <strong>de</strong>n Proudhon auf <strong>de</strong>n Markt <strong>de</strong>r Meinungen seiner Zeit warf, hatte für viele<br />
Jahrzehnte enormen Einfluß auf das soziale Denken und<br />
Han<strong>de</strong>ln, insbeson<strong>de</strong>re auf die Arbeiterschaft. In Deutschland, England und <strong>de</strong>n Vereinigten Staaten<br />
waren alle frühen sozialistischen Bewegungen durch die Bank vom "Geist <strong>de</strong>s Proudhonismus befallen".<br />
Friedrich Engels nannte seine Schrift über das Eigentum "das tiefste philosophische<br />
182<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Werk, das ... in französischer Sprache geschrieben wur<strong>de</strong>". 1895 spielten bei <strong>de</strong>r Gründung <strong>de</strong>r<br />
Confe<strong>de</strong>ration Generale du Travail, Frankreichs wichtigster Gewerkschaft, die erst nach <strong>de</strong>m Ersten<br />
Weltkrieg unter kommunistischen Einfluß geriet, Proudhons I<strong>de</strong>en eine prägen<strong>de</strong> Rolle. Fernand<br />
Pelloutier schuf mit <strong>de</strong>r Fö<strong>de</strong>ration <strong>de</strong>r "Arbeiterbörsen" ein Instrument zur Selbstorganisation und<br />
Fortbildung <strong>de</strong>r Arbeiterschaft, das sich an Proudhons Mutualismus orientierte. Nach 1870 drangen seine<br />
I<strong>de</strong>en nach Spanien, beeinflußten eine ganze Generation von Intellektuellen wie etwa <strong>de</strong>n Philosophen Pi<br />
y Margall und legten ein wichtiges Fundament für eine starke anarchistische Arbeiterbewegung, die ab <strong>de</strong>r<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle auf <strong>de</strong>r Iberischen Halbinsel spielte. Mexikanische<br />
Revolutionäre waren von ihm ebenso beeinflußt wie die russischen Narodniki o<strong>de</strong>r Leo Tolstoi, <strong>de</strong>r nicht<br />
nur das philosophische Leitmotiv, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>n Titel zu seinem Roman "Krieg und Frie<strong>de</strong>n" direkt<br />
bei Proudhon entlehnte. Bis in unsere Tage wird er immer wie<strong>de</strong>r bemüht - die einen sehen ihn als<br />
geistigen Mentor <strong>de</strong>s Anarchosyndikalismus, die an<strong>de</strong>ren als einen Vorläufer <strong>de</strong>r Soziologie; als<br />
Theoretiker <strong>de</strong>s Fö<strong>de</strong>ralismus wird er ebenso in Anspruch genommen wie als Pate <strong>de</strong>r<br />
Genossenschaftsbewegung o<strong>de</strong>r Ahnherr <strong>de</strong>r Selbstverwaltungsi<strong>de</strong>e.<br />
Zum ersten großen Wirbel kam es schon kurz nach seinem Tod innerhalb <strong>de</strong>r 1864 gegrün<strong>de</strong>ten "Ersten<br />
Internationale", in <strong>de</strong>ren französischer Sektion Proudhons I<strong>de</strong>en sehr populär waren. Hier prallten<br />
freiheitlicher und autoritärer Sozialismus erstmals mit Wucht aufeinan<strong>de</strong>r, was schließlich zur Spaltung in<br />
Anarchismus und Kommunismus führte. Den libertären Part in diesem Konflikt spielte Bakunin, <strong>de</strong>r seine<br />
ersten anarchistischen Kicks keinem an<strong>de</strong>ren als Proudhon verdankte. Sein Gegenspieler, Karl Marx,<br />
hatte sich inzwischen schon längst mit <strong>de</strong>m Mann aus Besancon überworfen. Vorbei waren die<br />
Winteraben<strong>de</strong> <strong>de</strong>r vierziger Jahre, in <strong>de</strong>nen man respektvoll miteinan<strong>de</strong>r verkehrte und gemeinsam<br />
Utopien schmie<strong>de</strong>te. Die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung zwischen Marx und Bakunin war bereits 25 Jahre zuvor in<br />
einer symbolträchtigen Polemik zwischen Marx und Proudhon vorweggenommen wor<strong>de</strong>n. Als <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utsche Kommunist <strong>de</strong>n französischen Anarchisten für die Mitarbeit an seinen Projekten gewinnen
wollte, antwortete Proudhon: "Machen wir uns nicht zu Führern einer neuen Intoleranz. Posieren wir nicht<br />
als Apostel einer neuen Religion, und sei es auch die Religion <strong>de</strong>r Logik und <strong>de</strong>r Vernunft. (...) Lassen Sie<br />
uns, wenn Sie wollen, gemeinsam die Gesetze <strong>de</strong>r Gesellschaft suchen, die Wege, auf <strong>de</strong>nen sie<br />
verwirklicht wer<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n Prozeß, nach <strong>de</strong>m es uns gelingt, sie zu ent<strong>de</strong>cken. Hüten wir uns jedoch um<br />
Himmels Willen, <strong>de</strong>n Leuten nach <strong>de</strong>r Zertrümmerung aller vorgefaßten Dogmen unserseits eine neue<br />
Doktrin einzuimpfen. (...) Unter diesen Bedingungen trete ich mit Vergnügen in Ihre Assoziation ein;<br />
an<strong>de</strong>renfalls nicht." Mit gutem Gespür hatte Proudhon die Falle <strong>de</strong>r marxistischen Dogmatik gewittert und<br />
<strong>de</strong>n Finger auf <strong>de</strong>n wun<strong>de</strong>n Punkt gelegt: die Gefahr einer kommunistischen Diktatur. Marx hat ihm das<br />
nie verziehen. Auf Proudhons Buch "Die Philosophie <strong>de</strong>s Elend" konterte er geschickt mit <strong>de</strong>r Polemik<br />
"Das Elend <strong>de</strong>r Philosophie", in <strong>de</strong>r er Proudhon "Unwissenschaftlichkeit" vorwarf. Er ließ kein gutes<br />
Haar mehr an seinem ehemaligen För<strong>de</strong>rer und sprach ihm rundheraus seine<br />
183<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Fähigkeiten als Ökonom und Philosoph ab. Proudhon reagierte lakonisch: "Der wirkliche Sinn dieses<br />
Werkes von Marx ist, daß er bedauert, daß ich überall gedacht habe wie er und es vor ihm gesagt habe."<br />
Ein Leben als Experiment<br />
Ebenso wie seine Gedankenwelt war auch Proudhons politisches Leben eine Aneinan<strong>de</strong>rreihung von<br />
Versuchen. Kurz nach<strong>de</strong>m er sich in Paris nie<strong>de</strong>rgelassen hat, bricht 1848 die Revolution gegen Louis-<br />
Philippe aus. Trotz seiner Skepsis gegenüber dieser "Revolution ohne I<strong>de</strong>en" stellt sich Proudhon voll in<br />
ihren Dienst, hält Vorträge in politischen Clubs, druckt Flugschriften und fehlt im entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Augenblick auch nicht auf <strong>de</strong>n Barrika<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Pariser Aufständischen. Im Februar startet er seine Zeitung<br />
Le representant du peuple, die in kurzer Zeit eine Auflage von 40ooo Exemplaren erreicht - für die<br />
damalige Zeit ein wahres Massenblatt, das dreimal verboten wur<strong>de</strong> und seinen Namen wechseln mußte.<br />
Kurz nach <strong>de</strong>r Revolution wagt Proudhon das Experiment, die Nationalversammlung für seine Ziele zu<br />
nutzen. Immer wie<strong>de</strong>r hatte er darauf hingewiesen, daß eine neue Gesellschaft durch sozialen Kampf und<br />
wirtschaftliche Organisation, nicht aber durch Putsch o<strong>de</strong>r Parteipolitik zu erreichen sei. Obwohl er sich<br />
als klarer Gegner <strong>de</strong>s Parlamentarismus zu erkennen gibt, wird er auf Anhieb ins Parlament gewählt. Dort<br />
versucht er mit einer Mischung aus provozieren<strong>de</strong>m Protest und ernsthaften Anträgen die Möglichkeit<br />
auszuloten, <strong>de</strong>n bürgerlichen Apparat in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>r proletarischen Subversion zu stellen. So lehnt er<br />
<strong>de</strong>n Entwurf einer neuen, liberaleren Verfassung mit <strong>de</strong>n Worten ab: "Ich stimme gegen die Verfassung,<br />
nicht weil sie Dinge enthält, die ich ablehne o<strong>de</strong>r Dinge enthält, die ich billige, ich stimme gegen die<br />
Verfassung, weil sie eine Verfassung ist." Seinen eigenen Antrag auf Aussetzung aller Schul<strong>de</strong>n und<br />
Kapitalgewinne würzt er mit <strong>de</strong>r Drohung, daß das Proletariat dies an<strong>de</strong>rnfalls eben auf eigene Faust<br />
durchsetzen wür<strong>de</strong>. Die verschreckten Abgeordneten kommentierten das mit <strong>de</strong>m Ausruf "Das ist <strong>de</strong>r<br />
soziale Krieg!" und stimmen 691:2 dagegen. Schnell erkennt Proudhon, daß sich das Parlament we<strong>de</strong>r als<br />
propagandistische Plattform eignet noch als Kulisse für entlarven<strong>de</strong> Spaße - schon gar nicht als Ort, um<br />
grundlegen<strong>de</strong> Verän<strong>de</strong>rungen durchzusetzen. Nach wenigen Monaten kehrt er <strong>de</strong>r Nationalversammlung<br />
<strong>de</strong>n Rücken und zieht eine ernüchtern<strong>de</strong> Bilanz: "Kaum hatte ich <strong>de</strong>n Fuß ins parlamentarische Sinai<br />
gesetzt, hörte ich auf, mit <strong>de</strong>n Massen in Verbindung zu stehen. Die legislative Arbeit absorbierte mich<br />
<strong>de</strong>rmaßen, daß ich <strong>de</strong>n Blick für das aktuelle Geschehen vollständig verlor. (...) Man muß in diesem<br />
Isolator namens Nationalversammlung gelebt haben, um zu erkennen, daß die Männer, die absolut keine<br />
Ahnung vom Zustand <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s haben, meist genau dieselben sind, die es vertreten. (...) Die Angst vor<br />
<strong>de</strong>m Volk ist die Krankheit all <strong>de</strong>rer, die auf Seiten <strong>de</strong>r Autorität stehen; das Volk ist <strong>de</strong>r Feind <strong>de</strong>r<br />
Mächtigen." Mit diesem frühen Parlamentarismustest machte Proudhon eine Erfahrung, die für <strong>de</strong>n<br />
gesamten Anarchismus prägend wer<strong>de</strong>n sollte und zur Ablehnung <strong>de</strong>s parlamentarischen Reformismus<br />
führte.<br />
Dem Flirt mit <strong>de</strong>m Parlament folgte ein praktischer Versuch auf wirtschaftlichem Gebiet.<br />
184
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Proudhon grün<strong>de</strong>te eine Tauschbank die zinsfreie Kredite gewährte und einen praktischen,<br />
"mutualistischen" Weg zur Überwindung <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaft aufzeigen sollte. Die Bank, die<br />
keinen Eigengewinn anstrebte, stellte Anteilscheine aus, die unter allen Assoziierten wie Geld akzeptiert<br />
wur<strong>de</strong>n. Ihr Gegenwert bestand in eingebrachten Waren, in <strong>de</strong>ren Bewertung Arbeitszeit und<br />
Materialkosten eingingen. Die Bank sollte so einen Austausch von Leistungen frei von Spekulation und<br />
Profitinteresse ermöglichen. Vor allem sollte sie Darlehen gewähren, die in erster Linie<br />
Kleinproduzenten, Arbeitergenossenschaften und - wie wir heute sagen wür<strong>de</strong>n - selbstverwalteten<br />
Projekten zugute gekommen wären. Obwohl sich in kürzester Zeit 27000 Mitglie<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>m Versuch<br />
beteiligten, kam es nicht zur praktischen Verwirklichung. Im Dezember 1848 bringt ein coup d'etat*<br />
Louis-Napoleon an die Macht, im Januar wird Proudhon verhaftet, die Bank bricht wenig später<br />
zusammen. Es folgen drei Jahre Haft wegen Pressevergehens, in <strong>de</strong>nen das autobiographische Werk<br />
"Bekenntnisse eines Revolutionärs" entsteht. Es sollte we<strong>de</strong>r sein letztes Buch noch sein letzter<br />
Gefängnisaufenthalt bleiben...<br />
In <strong>de</strong>r Folgezeit zieht sich Proudhon vermehrt aus <strong>de</strong>m aktuellen politischen Geschehen zurück,<br />
produziert aber unermüdlich politische Literatur und sucht Geborgenheit im Privaten. Viel Zeit widmet er<br />
seinen drei Töchtern, die ihm "zur Freu<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Lebens" wer<strong>de</strong>n. Es sind jene Jahre, in <strong>de</strong>nen sich seine<br />
Ansichten über <strong>de</strong>n Wert eines ›harmonischen Familienlebens‹ verfestigen, so wie er es sich in seiner<br />
patriarchalen Sicht und seinem traditionell geprägten Denken vorstellt und offenbar genießt. Die I<strong>de</strong>e<br />
einer punktuellen Kollaboration in Sachen Wirtschaftsreform mit Louis-Napoleon, <strong>de</strong>r sich 1851 zum<br />
neuen Kaiser krönen läßt, wird schon 1852 ebenso rasch bereut wie sie geboren wor<strong>de</strong>n war. Das<br />
Kaiserreich bietet wenig Ansätze für neue Strategien. Die Vorstellungen <strong>de</strong>s Kommunisten Etienne<br />
Gäbet, <strong>de</strong>r auf Wahlen setzt, <strong>de</strong>s Sozialisten Louis Blanc, <strong>de</strong>r einen Wohlfahrtsstaat favorisiert o<strong>de</strong>r<br />
Auguste Blanquis I<strong>de</strong>e einer revolutionären Diktatur lehnt Proudhon sämtlich wegen ihrer autoritären<br />
Ten<strong>de</strong>nzen ab. Gegen En<strong>de</strong> seines Lebens verdichtet sich die Überzeugung, daß die Zukunft <strong>de</strong>r libertären<br />
Utopie in <strong>de</strong>r Entwicklung und Organisierung <strong>de</strong>r Arbeiterschart liege. Sein letztes Buch "Von <strong>de</strong>r<br />
politischen Fähigkeit <strong>de</strong>r Arbeiterklasse" ist die schlüssige Vision einer autonomen Arbeiterbewegung<br />
und ihrer Chancen, sofern sie sich von <strong>de</strong>r Vormundschaft politischer Parteien und reformistischer<br />
Gewerkschaftsbürokratie befreien könne. Für die revolutionären Syndikalisten, die 1906 in <strong>de</strong>r<br />
Massengewerkschaft CGT mit <strong>de</strong>r Charta von Amiens diese Unabhängigkeit durchsetzten, war, wie<br />
Daniel Guérin schreibt, dieses Buch "wie eine Bibel".<br />
Proudhon, <strong>de</strong>r nie ein guter Taktiker war, und in seinem Leben die unterschiedlichsten Strategien testete,<br />
erscheint in seinen Aktionen wie <strong>de</strong>r Versuchsballon einer Bewegung, die noch hilflos nach gangbaren<br />
Wegen zu ihrer Utopie suchte. Trotz seiner Wi<strong>de</strong>rsprüchlichkeit gelang es ihm, das Interesse riesiger<br />
sozialer Kreise auf die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Frage von Staat, Eigentum und Autorität zu lenken. Hierbei hatte er<br />
mehr Erfolg als an<strong>de</strong>re Zeitgenossen. Zwei seiner Landsleute, <strong>de</strong>r junge Arzt Ernest Caur<strong>de</strong>roi und <strong>de</strong>r<br />
ehemalige Seemann<br />
185<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Joseph Déjacque kamen unabhängig voneinan<strong>de</strong>r und etwa zur gleichen Zeit wie Proudhon zu ganz<br />
ähnlichen Ansichten, bezeichneten sich gar als Anarchisten, blieben aber zeitlebens isoliert und ohne<br />
Einfluß.<br />
Als Proudhon 1840 bei <strong>de</strong>r Aka<strong>de</strong>mie von Besancon seine Denkschrift einreichte, war nicht einmal das<br />
Wort Anarchismus bekannt. Als er 25 Jahre später starb, gab es eine Bewegung, die dieses Schimpfwort<br />
zu ihrem Namen machte.<br />
Literatur
Pierre-Joseph Proudhon: Ausgewählte Texte (Hrsg. v. Thilo Ramm) Stuttgart 1963, K. F. Koehler, 363<br />
S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Eigentum ist Diebstahl (Textsammlung) Berlin 1977, Libertad, 38 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Was ist das Eigentum? Berlin 1896, Zack, 233 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Bekenntnisse eines Revolutionärs Reinbek 1969, Rowohlt, 248 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Demokratie und Republik Karlsruhe o.J., ABF, 17 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Die Volksbank Wien 1985, Monte Verita, 53 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Von <strong>de</strong>r Anarchie zur Pornokratie Zürich 1970, Arche, 47 S.<br />
/ Max Nettlau: Der Anarchismus von Proudhon bis Kropotkin in: Geschichte <strong>de</strong>r Anarchie, Bd. II, (vgl.<br />
Kap. 20!) 328 S., ill.<br />
/ Arthur Mülberger: Studie über Proudhon Stuttgart 1891, G. F. Göschen, 171 S.<br />
/ Karl Hahn: Fö<strong>de</strong>ralismus - Eine Untersuchung zu P. J. Proudhons Freiheitsbegriff München 1975, E.<br />
Vögel, 356 S.<br />
Kapitel 23<br />
Das große Ich — Stirner und <strong>de</strong>r Individualanarchismus<br />
Wer ein ganzer Mensch ist,<br />
braucht keine Autorität zu sein.<br />
Max Stirner<br />
IM JAHRE 1844 ERSCHIEN IN LEIPZIG ein dickes, launiges und schwerverdauliches Buch, das von<br />
<strong>de</strong>r Zensur unverzüglich verboten und beschlagnahmt wur<strong>de</strong>. Eine Woche später aber wird das Werk<br />
wie<strong>de</strong>r freigegeben. Es sei, so die Zensoren, einfach zu absurd und <strong>de</strong>shalb ungefährlich. Sein "niedriger<br />
und beschränkter Standpunkt" wer<strong>de</strong> überall "auf Abscheu stoßen". Mit dieser Einschätzung lagen die<br />
Gedankenwächter allerdings daneben; sie hatten soeben einen Text lizenziert, <strong>de</strong>r zu einem <strong>de</strong>r<br />
meistgelesensten Klassiker mo<strong>de</strong>rner Philosophie wer<strong>de</strong>n sollte - allerdings auch zu einem <strong>de</strong>r<br />
kontroversesten*. Sein glückloser Autor, <strong>de</strong>r "Prophet <strong>de</strong>s Egoismus", hat daraus paradoxerweise<br />
zeitlebens keinen persönlichen Vorteil ziehen können. Immerhin kam er, was die Zensur angeht,<br />
ungeschoren davon.<br />
Johann Caspar Schmidt hieß dieser Mann, 1806 in Bayreuth geboren und Lehrer an <strong>de</strong>r privaten "Lehrund<br />
Erziehungsanstalt für höhere Töchter" zu Berlin. Der aus ärmlichen Verhältnissen stammen<strong>de</strong><br />
Freizeitautor hatte in Erlangen und Berlin - unter an<strong>de</strong>rem bei Hegel und Schleiermacher - Philosophie<br />
studiert. Obwohl er seine Lehrerprüfung bestand, wur<strong>de</strong> er nach <strong>de</strong>r Probezeit nicht in <strong>de</strong>n Staatsdienst<br />
übernommen. Die Anstellung bei <strong>de</strong>r angesehenen Privatschule <strong>de</strong>r Madame Gropius hielt ihn über<br />
Wasser, zwang ihn aber auch zu einem Doppelleben, <strong>de</strong>nn dort durfte nicht ruchbar wer<strong>de</strong>n, was <strong>de</strong>r Herr<br />
Schmidt in seiner Freizeit trieb.<br />
186<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Das unfreie Leben eines "Freien"<br />
In <strong>de</strong>n frühen vierziger Jahren verkehrten in einer Weinstube in <strong>de</strong>r Berliner Friedrichstraße einige <strong>de</strong>r<br />
umtriebigsten und radikalsten Intellektuellen jener Zeit. Zu ihnen zählten neben Bruno und Edgar Bauer<br />
auch Arnold Rüge, Friedrich Engels und Karl Marx. Der Name dieses Zirkels klang wie ein Programm, er<br />
nannte sich "Die Freien"; bekannt wur<strong>de</strong>n seine Mitglie<strong>de</strong>r später allerdings unter <strong>de</strong>m Begriff<br />
"Linkshegelianer", <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Disput um die Lehren <strong>de</strong>s großen Meisters Hegel war <strong>de</strong>r gemeinsame<br />
Ausgangspunkt ihrer durchaus unterschiedlichen politischen Karrieren. Johann Caspar Schmidt gehörte<br />
diesem Kollegium an, räsonierte, disputierte und schrieb gelegentlich Aufsätze und Korrespon<strong>de</strong>nzen. Sie
erschienen in <strong>de</strong>n Blättern <strong>de</strong>r Opposition und waren mit Rücksicht auf sein <strong>de</strong>likates Arbeitsverhältnis<br />
entwe<strong>de</strong>r ungezeichnet o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Pseudonym Max Stirner versehen.<br />
Sein Hauptwerk entstand in eben jenen kurzen Jahren beruflicher Sicherheit, intellektueller<br />
Herausfor<strong>de</strong>rung und privaten Glücks und trug <strong>de</strong>n Titel "Der Einzige und sein Eigentum". Es sollte <strong>de</strong>r<br />
Gipfel seines geistigen Schaffens bleiben und <strong>de</strong>n Höhepunkt seines Lebens markieren. Noch vor <strong>de</strong>r<br />
Drucklegung verliert er seinen Lehrerposten und ist gezwungen, sich mit Übersetzungen, Artikeln und<br />
Gelegenheitsschreiberei durchs Leben zu schlagen. Mit <strong>de</strong>m Versuch, einen Milchvertrieb aufzubauen,<br />
macht er bankrott. Seine junge Frau Marie Dähnhardt, die er bei <strong>de</strong>n "Freien" kennengelernt hatte, verläßt<br />
ihn; zweimal lan<strong>de</strong>t er im Schuldgefängnis. Als 1852 seine farblose und wenig originelle "Geschichte <strong>de</strong>r<br />
Reaktion" erscheint, wird <strong>de</strong>r ehemalige "Prediger <strong>de</strong>r Eigenheit" noch gelegentlich in bürgerlichen<br />
Salons als kurioser Radikaler vorgeführt. Einsam und vergessen stirbt er 1856 in Berlin.<br />
Philosoph <strong>de</strong>r individuellen Autonomie<br />
Max Stirner hat keine Anhänger um sich geschart, keine Bewegung hervorgebracht, kaum Einfluß auf das<br />
reale Leben seiner Zeit genommen. Und doch polarisiert sein Denken bis heute die Gemüter. Was war an<br />
diesem glücklosen Philosophen und gescheiterten Milchhändler so interessant?<br />
Stirner vertrat <strong>de</strong>n radikalsten Individualismus, <strong>de</strong>r sich nur <strong>de</strong>nken läßt. Er legte sich mit <strong>de</strong>r gesamten<br />
rationalistischen Tradition <strong>de</strong>r abendländischen Philosophie an. "Was soll nicht alles Meine Sache sein!<br />
Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache <strong>de</strong>r Menschheit, <strong>de</strong>r Wahrheit, <strong>de</strong>r Freiheit,<br />
<strong>de</strong>r Humanität, <strong>de</strong>r Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlan<strong>de</strong>s;<br />
endlich gar die Sache <strong>de</strong>s Geistes und tausend an<strong>de</strong>re Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache<br />
sein." Den Standpunkt <strong>de</strong>r eigenen, subjektiven Erfahrung vertritt er <strong>de</strong>rart konsequent, daß er als größter<br />
Egoist ebenso verschrien ist wie als Erfin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Nihilismus*, Wegbereiter <strong>de</strong>s Faschismus o<strong>de</strong>r als<br />
Ahnherr <strong>de</strong>s Existentialismus*. Nichts von <strong>de</strong>m trifft zu. Eigentlich hat Max Stirner nichts an<strong>de</strong>res getan,<br />
als <strong>de</strong>n Standpunkt <strong>de</strong>s Individuums einzunehmen und <strong>de</strong>ssen Rechte über die Interessen von Staat,<br />
Religion, Masse, I<strong>de</strong>ologie, Gesellschaft, Kollektivität und Moral<br />
187<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
zu stellen. Das freilich tat er so gründlich, daß er quer zu allen geistigen und politischen Strömungen<br />
seiner Zeit zu liegen kam und eine entsprechend schlechte Aufnahme fand.<br />
Stirner propagiert einen ichbezogenen, absolut autonomen Denkansatz. "Wer außer mir und <strong>de</strong>n<br />
Menschen, auf <strong>de</strong>ren Meinung ich Wert lege, hat das Recht, über mich zu bestimmen?" fragt er rhetorisch<br />
und antwortet sich selbst: "Was Du zu sein die Macht hast, dazu hast Du das Recht". Natürlich gerät<br />
Stirner bei solcher Denkweise sofort und unweigerlich mit <strong>de</strong>m Staat aneinan<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n er als fixe I<strong>de</strong>e und<br />
einen Feind <strong>de</strong>r "Eigenheit" betrachtet: "Der Staat hat immer nur <strong>de</strong>n Zweck, <strong>de</strong>n Einzelnen zu<br />
beschränken, zu bändigen, zu subordinieren, ihn irgen<strong>de</strong>inem Allgemeinen Untertan zu machen. (...) Je<strong>de</strong>r<br />
Staat ist eine Despotie, sei nun Einer o<strong>de</strong>r Viele <strong>de</strong>r Despot, o<strong>de</strong>r seien, wie man sich wohl von einer<br />
Republik vorstellt, Alle die Herren, <strong>de</strong>nn das heißt nur: Einer <strong>de</strong>spotiert <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren." Im Gegensatz zum<br />
Mainstream-Anarchismus aber sieht Stirner nun nicht etwa eine an<strong>de</strong>re Form sozialer Gemeinschaft als<br />
Ausweg an, son<strong>de</strong>rn eigentlich gar keine. Er liefert kein Mo<strong>de</strong>ll. Sein Thema ist die Rehabilitierung <strong>de</strong>s<br />
Individuums und <strong>de</strong>ssen Schutz vor <strong>de</strong>r Anmaßung <strong>de</strong>r Gruppe, vor <strong>de</strong>r Diktatur <strong>de</strong>s Kollektiven. So<br />
kritisiert Stirner an Proudhon, <strong>de</strong>n er gewiß zu Unrecht <strong>de</strong>n "autoritären Kommunisten" zurechnet, die<br />
Neigung, "das Individuum in <strong>de</strong>r Masse aufgehen zu lassen". Das kommunistische System, so Stirner,<br />
betreibe <strong>de</strong>n "Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>r Persönlichkeit im Namen <strong>de</strong>r Gesellschaft". Heraus komme dabei eine<br />
"mystische und anonyme Tyrannei", womit er tragisch recht behalten sollte.<br />
Stirner ist kein konstruktiver Philosoph, son<strong>de</strong>rn ein ungebremster Kritiker. Er hat keine Visionen einer<br />
besseren sozialen Gemeinschaft zu bieten, <strong>de</strong>nn er glaubt nicht an die Gruppe. Schon gar nicht hatte er<br />
<strong>de</strong>n Anspruch, mit einem praktischen politischen Programm aufzuwalten, das viele von ihm verlangten.
Zwar läßt er sich auf Spekulationen ein, daß ein von allen Menschen befolgter, konsequenter<br />
Individualismus auch zu sozialer Vernetzung selbstbewußter und starker Individuen führen könne - einer<br />
Art freiwilliger Zusammenschlüsse von Egoisten, die gemeinsame Interessen wahrnähmen, und die<br />
Stirner "Vereine" nennt. Aber gera<strong>de</strong> dieser Teil <strong>de</strong>s Stirnerschen Gedankengebäu<strong>de</strong>s ist sein schwächster.<br />
Für die Annahme, gesellschaftliche Konflikte wür<strong>de</strong>n dann weniger gewalttätig sein, bleibt er <strong>de</strong>n Beweis<br />
schuldig, und nirgendwo entkräftet er <strong>de</strong>n naheliegen<strong>de</strong>n Schluß, daß bei ungebremstem Egoismus<br />
niemand veranlaßt sei, irgendwelche Absprachen auch einzuhalten, sobald sie keinen persönlichen Vorteil<br />
mehr bringen. Zu erwarten wäre im Gegenteil das Faustrecht <strong>de</strong>s Stärkeren.<br />
Auf die Frage <strong>de</strong>r Wechselbeziehungen zwischen <strong>de</strong>n Rechten <strong>de</strong>s Individuums und <strong>de</strong>n Interessen<br />
sozialer Gruppen gibt Stirner keine praktikable Antwort. So blieb er in anarchistischen Kreisen lange ein<br />
belächelter Außenseiter, <strong>de</strong>m lediglich ein paar unverbesserliche Individualisten folgten. Er wur<strong>de</strong> als<br />
bizarrer Exzentriker angesehen, <strong>de</strong>n man nicht ernst nehmen könne. Das stimmt - aber nur, wenn man ihn<br />
auf kollektive Gesellschaftsmo<strong>de</strong>lle bezieht, die Stirner jedoch nie im Sinn hatte. Es versteht sich daher<br />
von selbst, daß er an <strong>de</strong>r 48er Revolution in Berlin nicht <strong>de</strong>n geringsten Anteil nahm. Seine Wirkung liegt<br />
in<br />
188<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
seiner Botschaft, und die lautet: nimm dich selbst ernst, laß dich nicht vor i<strong>de</strong>ologische Karren spannen,<br />
gehe nicht im Kollektiv unter und verliere nicht <strong>de</strong>in größtes Ziel aus <strong>de</strong>n Augen: das Leben bewußt zu<br />
genießen. So etwas taugt nicht zum politischen Programm und ergibt für sich alleine auch keine soziale<br />
Lebensphilosophie. Stirners Be<strong>de</strong>utung erschließt sich daher auch am ehesten aus seiner Zeit heraus; seine<br />
These wird dann als ein notwendiges Element zur Freiheit erkennbar - eines allerdings, das bis dahin<br />
völlig tabuisiert war. Insofern ist Stirners Beitrag auch ein geistesgeschichtliches Korrektiv.<br />
Sein Buch erschien in einer Zeit, in <strong>de</strong>r die Philosophen aller Richtungen von Kant bis Hegel, von<br />
Feuerbach bis Leibniz in irgen<strong>de</strong>iner Weise die Unterordnung <strong>de</strong>s Individuums unter höhere Mächte<br />
predigten — seien es nun <strong>de</strong>r Staat, das Gute, das Göttliche, das Vaterland o<strong>de</strong>r die Vernunft: immer und<br />
überall zählt <strong>de</strong>r Einzelne nichts, das Kollektiv alles. Entsprechend sahen die herrschen<strong>de</strong> Moral und das<br />
soziale Leben aus. Nirgendwo war das Individuum ein sich selbst genügen<strong>de</strong>s, für sich han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>s<br />
Subjekt, son<strong>de</strong>rn stets Objekt erhabenerer Kräfte, Ziele und Interessen.<br />
Gegen diese Ten<strong>de</strong>nz setzt Stirner mit allem Starrsinn, zu <strong>de</strong>r ein Denker überhaupt fähig sein kann, das<br />
Recht seiner Einzigartigkeit als Individuum. Dabei greift er mit gedanklicher Kühnheit Fragen auf, die<br />
erst hun<strong>de</strong>rt Jahre später Thema wer<strong>de</strong>n sollten: das Individuum in gesellschaftlicher Entfremdung und<br />
industrieller Verskla<strong>vu</strong>ng, die Massenpsychologie <strong>de</strong>r Gleichmacherei, die Verinnerlichung kollektiver<br />
Werte durch I<strong>de</strong>ologien und Meinungsmache, das Hinterfragen hergebrachter moralischer und sexueller<br />
Werte, das Lügenmärchen <strong>de</strong>s Altruismus* als Antrieb sozialen Han<strong>de</strong>lns und die Selbstverleugnung <strong>de</strong>s<br />
Einzelmenschen in <strong>de</strong>r Massengesellschaft — fast die ganze Bandbreite <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen sozialen Theorien<br />
und psychologischen Schulen wird bei Stirner bereits aufgegriffen. Seine Therapie ist die Selbstbefreiung<br />
<strong>de</strong>s Einzelnen — ein damals mehr als ungewöhnlicher Gedanke. Kein Wun<strong>de</strong>r, daß man ihn zu Lebzeiten<br />
kaum verstand, wortreich zu wi<strong>de</strong>rlegen versuchte, und erst in unserem Jahrhun<strong>de</strong>rt in seiner ganzen Tiefe<br />
zu würdigen wußte. Camus und Sartre haben sich ihm ebenso gestellt wie Emma Goldman, Gustav<br />
Landauer, Ricarda Huch o<strong>de</strong>r Max Nettlau. Letzterer stellte ihm folgen<strong>de</strong>s Zeugnis aus: "Für mich gehört<br />
er keineswegs <strong>de</strong>m engen Individualismus an, <strong>de</strong>r nur Individualist sein will und dadurch vom Bourgeois<br />
o<strong>de</strong>r Tyrannen nicht zu schei<strong>de</strong>n ist, son<strong>de</strong>rn er begrün<strong>de</strong>te jenen breiten, echten Individualismus, <strong>de</strong>r die<br />
Grundlage je<strong>de</strong>s freiheitlichen Sozialismus ist: die Selbstbestimmung eines je<strong>de</strong>n über die Beziehungen,<br />
in die er mit an<strong>de</strong>ren zu treten wünscht."<br />
Von <strong>de</strong>r Philosophie zum "Individualanarchismus"<br />
Nun hat Stirner keineswegs <strong>de</strong>n Individualismus erfun<strong>de</strong>n. Vor ihm gab es ausgeprägte Individualisten,<br />
ebenso wie nach ihm. Sein historisches Verdienst liegt vor allem darin, daß er genau zum richtigen
Zeitpunkt seinen einseitigen Standpunkt in die Debatte warf - in <strong>de</strong>m Moment nämlich, als sich <strong>de</strong>r<br />
mo<strong>de</strong>rne Anarchismus herausbil<strong>de</strong>te. Stirner, <strong>de</strong>r sich selbst nicht als Anarchist bezeichnete, ist mit<br />
seinem Lobgesang auf die Einzigartigkeit <strong>de</strong>s Individuums sozusagen das zeitgleiche Gegengewicht zu<br />
Proudhon, <strong>de</strong>r das Hohelied auf<br />
189<br />
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die Gemeinschaft anstimmte. Schon bei Bakunin, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahrzehnten die anarchistische<br />
Position entschei<strong>de</strong>nd prägen sollte, sind bei<strong>de</strong> Einflüsse <strong>de</strong>utlich zu erkennen: Er, <strong>de</strong>r als Vater <strong>de</strong>s<br />
"kollektivistischen Anarchismus" gilt, war nicht weniger entschie<strong>de</strong>n auch Individualist. Er versucht,<br />
bei<strong>de</strong> Interessen unter einen Hut zu bringen und <strong>de</strong>finiert, daß ein Eigeninteresse am persönlichen Glück<br />
nur dann vollkommen sein kann, wenn auch das gesellschaftliche Umfeld für die Mitmenschen Freiheit<br />
und Gerechtigkeit beinhalte. Er bemüht also eine eher ›egoistische‹ als eine ›altruistische‹ Triebkraft.<br />
Dabei besteht er energisch darauf, daß ein Individuum Pflichten gegenüber <strong>de</strong>r Gesellschaft nur in <strong>de</strong>m<br />
Maße übernehmen kann, als es diese Bindung freiwillig und bewußt eingeht; je<strong>de</strong>rzeit müsse es sich von<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft auch wie<strong>de</strong>r lossagen können. Im Anarchismus unserer Tage spielt zunehmend die<br />
Überlegung eine Rolle, daß die Motivation zur Gesellschaftsverän<strong>de</strong>rung nicht aus abstrakten I<strong>de</strong>ologien<br />
kommen sollte, son<strong>de</strong>rn aus wohlverstan<strong>de</strong>nem Eigeninteresse <strong>de</strong>r Betroffenen. Der hierbei gebrauchte<br />
Begriff <strong>de</strong>s ›sozialen Egoismus‹ verrät eine Stirnersche Handschrift und hat nichts mit <strong>de</strong>m gewöhnlichen<br />
›parasitären Egoismus‹ gemein.<br />
Zwar gibt es, seit<strong>de</strong>m 1844 das folgenreiche Buch vom "Einzigen" erschien, auch einen eigenständigen<br />
Strang innerhalb <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung, <strong>de</strong>r sich auf Stirner beruft und sich das Etikett<br />
"Individualanarchismus" gegeben hat. Diese wahrhaftigen "Stirnerianer" bewegen sich je nach politischer<br />
Großwetterlage und persönlichen Präferenzen zwischen stolzer Lebensattitü<strong>de</strong>, kurioser Sekte und<br />
erfrischend anregen<strong>de</strong>r Geistesbewegung. Beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>n USA waren es Männer wie Lysan<strong>de</strong>r<br />
Spooner, Benjamin R. Tucker und Josiah Warren, die Stirnersches Gedankengut aufgriffen und auch<br />
sozial Stellung bezogen. In Frankreich wur<strong>de</strong>n die Literaten Zo d'Axa, Han Ryner und E. Armand zu<br />
vielbeachteten Propagandisten <strong>de</strong>s libertären Individualismus im Wi<strong>de</strong>rstand gegen die<br />
Industriegesellschaft. Seit <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> machte sich <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-schottische Schriftsteller John-<br />
Henry Mackay um die Herausgabe <strong>de</strong>r Schriften Stirners verdient und produzierte selbst große Mengen<br />
individualanarchistischer Erbauungsliteratur.<br />
Interessanter aber als alle "Stirnerianer" (ein Ausdruck übrigens, <strong>de</strong>r Johann Caspar Schmidt eigentlich<br />
große Schmerzen hätte verursachen müssen!) scheint mir die Wirkung zu sein, die Stirners I<strong>de</strong>en im<br />
Anarchismus zeitigten. Interessanterweise ergab eine Umfrage, die Augustin Hamon schon gegen En<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rts in Anarchistenkreisen durchführte, daß sich kein Anarchist fin<strong>de</strong>n ließ, <strong>de</strong>r sich<br />
nicht auch als Individualist verstan<strong>de</strong>n hätte. Daniel Guérin macht <strong>de</strong>nn auch als die für <strong>de</strong>n Anarchismus<br />
typischen Quellen <strong>de</strong>r revolutionären Energie die bei<strong>de</strong>n scheinbaren Gegensätze aus: Das Individuum<br />
und die Massen.<br />
Stirners "Individualismus" ist kein Sozialsystem, son<strong>de</strong>rn ein Standpunkt. Sein "Egoismus" ist eine<br />
Geisteshaltung und keine Anleitung zum Schmarotzertum. Stirners Philosophie als Faustrecht auszulegen,<br />
wür<strong>de</strong> nicht nur seinem Impuls freiheitlicher Rebellion wi<strong>de</strong>rsprechen, es wäre schlicht nicht lebbar. Ein<br />
entsprechen<strong>de</strong>s Sozialsystem bliebe unerträglich<br />
190<br />
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und entspräche auch kaum menschlichen Bedürfnissen. Deshalb sollte man <strong>de</strong>n Individualanarchismus<br />
nicht als das nehmen, was er nie sein wollte: eine Anleitung zum sozialen Leben. Zwar gibt es bisweilen<br />
auch überspannte Stirnerianer, die sich mit einer gewissen ultraindividualistischen Borniertheit gerne
konsequent egoistisch geben wollen, aber solche Versuche erschöpfen sich meist in <strong>de</strong>r provokanten<br />
Geste und führen durchweg zu rascher sozialer Isolation.<br />
In Wirklichkeit sind auch Individualanarchisten meist nichts weiter als nette und durchaus sozial<br />
verantwortungsvolle Leute mit hohen Ansprüchen an ihre eigene Ethik. Selbst Max Stirner, <strong>de</strong>r<br />
vielgeschmähte Prophet <strong>de</strong>s eiskalten Egoismus und angebliche Menschenfeind, schien im realen Leben<br />
nicht frei von romantischen Regungen gewesen zu sein. Die possierliche Widmung, die er seinem<br />
"Einzigen" voranstellte, lautete: "Meinem Liebchen Marie Dähnhardt"...<br />
Literatur<br />
/ Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum Stuttgart 1972, Reclam, 461 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Das unwahre Prinzip unserer Erziehung Mag<strong>de</strong>burg 1925, Der Einzige, 19 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Über Schulgesetze Berlin o.J., Guhl, 27 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Gegenwort Westbevern 1977, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 44 S.<br />
/ John Henry Mackay: Max Stirner - sein Leben und sein Werk Freiburg i.Br. 1977, Mackay-Gesellschaft,<br />
128 S., ill.<br />
/ Hans Sveistrup: Stirners drei Egoismen Freiburg i.Br. 1983, Mackay-Gesellschaft, 112 S.<br />
/ Herbert Stourzh: Max Stirners Philosophie <strong>de</strong>s Ich Freiburg i.Br. 1978, Mackay-Gesellschaft, 99 S.<br />
/ Gerhard Senft: Der Schatten <strong>de</strong>s Einzigen - die Geschichte <strong>de</strong>s Stirnerschen Individualanarchismus<br />
Wien 1988, Monte Verita, 131 S.<br />
/ Individualistischer Anarchismus - eine Autorenauswahl Berlin 1977, Libertad, 59 S.<br />
/ James J. Martin: Manner gegen <strong>de</strong>n Staat -Die Vertreter <strong>de</strong>s individualistischen Anarchismus in<br />
Amerika 1827-1908(1 B<strong>de</strong>.) Freiburg i.Br. 1980, Mackay- Gesellschaft<br />
/ John Henry Mackay: Die Anarchisten Leipzig 1992, Forum, 304 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Der Freiheitssucher Freiburg i. Br. 1976, Mackay-Gesellschaft, 261 S.<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Kapitel 24 Empörung und Revolte –<br />
Bakunin und <strong>de</strong>r kollektivistische Anarchismus<br />
Seit Bakunin hat es in Europa keinen<br />
radikalen Begriff von Freiheit mehr gegeben.<br />
Walter Benjamin<br />
ACHTZEHNHUNDERTACHTUNDVIERZIG BEKAM EUROPA einen ausgewachsenen politischen<br />
Husten. Am 23. Februar niest Paris, am 24. ist Frankreich eine Republik. Der Virus scheint ansteckend zu<br />
sein. Im Laufe <strong>de</strong>s Jahres springen Aufstän<strong>de</strong> und Proteste, Revolutionen und Revolutiönchen kreuz und<br />
quer durch <strong>de</strong>n alten Kontinent; In Wien flieht <strong>de</strong>r Kaiser, in Berlin <strong>de</strong>r König, Metternich, <strong>de</strong>r Architekt<br />
<strong>de</strong>r monarchistischen Restauration, muß abdanken. Meetings und Barrika<strong>de</strong>n, Pulverdampf und<br />
Parlamente sind <strong>de</strong>r Anfang vom En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r alten Fürstenordnung. Allenthalben weht ein frischer Wind in<br />
<strong>de</strong>n konservativen Mief, <strong>de</strong>r seit Napoleons En<strong>de</strong> wie unter einer Käseglocke auf Europa lastete. Kaum<br />
ein Landstrich Mitteleuropas, <strong>de</strong>r nicht vom diesem umstürzlerischen Fieber<br />
191<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
gepackt wird. Slawen mucken gegen Österreich und Rußland auf, Franzosen wollen Freiheit, Deutsche<br />
ein Parlament und Italiener eine <strong>de</strong>mokratische Vereinigung.<br />
Es war, als wenn ein bro<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Kessel Dampf ablassen mußte. Zwar gelang es <strong>de</strong>n alten Kräften, in
monatelangem Ringen <strong>de</strong>n Deckel wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Topf zu kriegen. Aber es kostete sie viel Mühe, und<br />
immer wie<strong>de</strong>r hob sich <strong>de</strong>r Deckel von neuem: in <strong>de</strong>r Pfalz, im Badischen und in Sachsen, in Polen,<br />
Rußland und Italien, in Spanien und immer wie<strong>de</strong>r in Paris, wo die Barrika<strong>de</strong> fast zu einer städtebaulichen<br />
Tradition wur<strong>de</strong>. Die Opposition bezahlte mit vielen Toten, Verfolgung und Exil, aber die Gesellschaft<br />
war nicht mehr die alte. Das ancien régime* war erschüttert, die Anhänger neuer I<strong>de</strong>en hatten - trotz ihrer<br />
Nie<strong>de</strong>rlagen - die eigenen Kräfte gespürt. Eine neue Ära war angebrochen, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Ruf nach Freiheit<br />
nicht mehr verstummte, und an <strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> das Verschwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r monarchistischen Nationalstaaten<br />
stehen sollte.<br />
Unter <strong>de</strong>m "Ruf nach Freiheit" verstan<strong>de</strong>n die verschie<strong>de</strong>nsten Menschen freilich die verschie<strong>de</strong>nsten<br />
Dinge. Vor<strong>de</strong>rgründig waren die "Achtundvierziger" bürgerliche Revolutionen. Die sozialen Verhältnisse<br />
<strong>de</strong>s Industriezeitalters hatten eine besitzen<strong>de</strong> Klasse hervorgebracht, die zwar zunehmend wirtschaftliche<br />
Macht besaß, aber politisch nichts zu mel<strong>de</strong>n hatte. Sie strebte nach nationaler Einigung und einem<br />
parlamentarischen System, in <strong>de</strong>m sie ihre Interessen durchsetzen konnte - möglichst noch mit einem<br />
netten Monarchen als Galionsfigur. Der Bourgeois hatte kein Interesse an radikaler Än<strong>de</strong>rung und<br />
globaler Befreiung <strong>de</strong>r Menschheit, son<strong>de</strong>rn an einer angemessenen Beteiligung seiner Klasse an <strong>de</strong>r<br />
politischen Macht im Staate. Im besten Fall war er liberal gesinnt, in <strong>de</strong>r Regel aber ging ihm eine<br />
Gesinnung völlig ab. Mit Freiheit hatte das nur begrenzt zu tun, mit sozialer Gerechtigkeit schon gar<br />
nichts.<br />
Und <strong>de</strong>nnoch wur<strong>de</strong>n durch diese Erhebungen Kräfte entfesselt, die diesen engen Rahmen bürgerlicher<br />
Freisinnigkeit längst verlassen hatten. Denn auf <strong>de</strong>n Barrika<strong>de</strong>n stan<strong>de</strong>n meist nicht die satten Bürger - die<br />
warteten lieber ab und versuchten, im Parlament die Ernte <strong>de</strong>r Kämpfe einzubringen. Diejenigen, die auf<br />
die Straße gingen, waren ärmer an Geld, aber reicher an Phantasie. Und natürlich waren sie radikaler. Es<br />
waren freiheitstrunkene Stu<strong>de</strong>nten und zornige Fabrikarbeiter, philosophieren<strong>de</strong> Weltverbesserer und<br />
abenteuerlustige Revoluzzer, hungrige Frauen und Kin<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n Vorstädten, verarmte Handwerker,<br />
honorige Professoren und radikalisierte Wan<strong>de</strong>rgesellen. Und auch einige Aristokraten, die ihrer Klasse<br />
radikal <strong>de</strong>n Rücken gekehrt und sich mit Haut und Haaren <strong>de</strong>r freiheitlichen Revolte verschrieben hatten.<br />
Einer von ihnen hieß Michail Bakunin.<br />
Faszination einer maßlosen Legen<strong>de</strong><br />
Bakunin – für viele die Inkarnation <strong>de</strong>s Anarchisten schlechthin, ein leben<strong>de</strong>s Klischee. Ein Mensch <strong>de</strong>r<br />
Auflehnung, spontan und impulsiv, kühn in seiner Vision von Freiheit und ganz und gar <strong>de</strong>r Aktion<br />
verschrieben. Zeitgenossen beschreiben ihn als in je<strong>de</strong>r Hinsicht "maßlos": in seinen I<strong>de</strong>en und seinem<br />
Appetit, seiner Energie, seinem persönlichen Einsatz,<br />
192<br />
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seinem Konsum von Tabak, Tee und Briefpapier, vor allem aber in seinem Haß auf die Tyrannei, zugleich<br />
aber von einer gera<strong>de</strong>zu kindlichen Güte. Sein Leben lang in Geldnot, nahm er be<strong>de</strong>nkenlos die<br />
Unterstützung seiner zahlreichen Freun<strong>de</strong> in Anspruch, um genauso unbekümmert die letzte Kopeke<br />
herzugeben, wenn sie gebraucht wur<strong>de</strong>. So langte es oft nur zum Darben bei Tee und Tabak, obwohl <strong>de</strong>r<br />
Genußmensch Bakunin auch Austern und Sekt nicht abhold war. Revolution hatte für ihn nicht <strong>de</strong>n<br />
Beigeschmack <strong>de</strong>r Askese.<br />
So wuchtig wie sein Impetus* war auch sein Äußeres. Diese von ruheloser Hektik durchs Leben<br />
getriebene Figur mit <strong>de</strong>n Abmessungen eines aufrecht gehen<strong>de</strong>n Bären könnte die Erfindung eines<br />
Drehbuchautors gewesen sein, und in <strong>de</strong>r Tat inspirierte dieser ungezähmte Geist die Künstler nicht nur<br />
seiner Epoche. Turgenjew verewigte ihn in <strong>de</strong>r Romanfigur <strong>de</strong>s Rudin, sogleich von Tschernischwski<br />
dafür gescholten, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Ansicht war, daß er <strong>de</strong>m Ansehen eines Mannes, "<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Erzählungen <strong>de</strong>s<br />
Volkes genannt wird", nicht gerecht wer<strong>de</strong>: "Ein Löwe eignet sich nicht für eine Karikatur!" Der Mann<br />
mit <strong>de</strong>r Mähne übte auf Literaten wie Belinskij, George Sand, Arnold Rüge, Herwegh, Gogol,
Dostojewski, Sacher-Masoch, Joseph Conrad, Ricarda Huch, 'Walter Benjamin, <strong>Horst</strong> Bienek o<strong>de</strong>r Hans<br />
Magnus Enzensberger die unterschiedlichsten Arten <strong>de</strong>r Faszination aus: von sanftem Gruseln bis zu<br />
unverhohlener Bewun<strong>de</strong>rung. Für Richard Wagner, <strong>de</strong>r mit ihm 1849 in Dres<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>n Barrika<strong>de</strong>n<br />
stand, war dieser "Alleszerstörer", im Grun<strong>de</strong> ein "liebenswürdiger und zartfühlen<strong>de</strong>r Mensch". Sein<br />
Biograph Fritz Brupbacher nannte ihn in einer treffen<strong>de</strong>n Persiflage* auf die Sprache seiner Gegner einen<br />
"Satan <strong>de</strong>r Revolte". In seinem Nachruf schrieb Arnold Ruge 1876: "Seine Schicksale, sein Charakter,<br />
sein Geist und seine Liebenswürdigkeit mögen ihn in seinem Vaterlan<strong>de</strong> noch zu einer mythischen Figur<br />
machen." Er sollte Recht behalten: 1921 setzten ihm avantgardistische Künstler in Moskau ein veritables<br />
Denkmal. Die Bolschewiki ließen es drei Jahre später wie<strong>de</strong>r abreißen. Bakunin war eine Legen<strong>de</strong><br />
gewor<strong>de</strong>n - eine gefährliche Legen<strong>de</strong>.<br />
Freun<strong>de</strong> wie Gegner schil<strong>de</strong>rn ihn als mitreißen<strong>de</strong>n Redner, <strong>de</strong>r seine Zuhörer in <strong>de</strong>n Bann schlug. An<br />
ihm schie<strong>de</strong>n sich die Geister. Der russische Baron Wrangel, <strong>de</strong>r im übrigen nichts von all <strong>de</strong>m hielt, was<br />
er zu hören bekam, beschreibt seine Erinnerungen an eine Re<strong>de</strong>, die Bakunin 1867 in Basel auf <strong>de</strong>m<br />
Kongreß <strong>de</strong>r "Liga für Frie<strong>de</strong>n und Freiheit" hielt: "Der Mann war ein geborener Redner, wie gemacht für<br />
die Revolution. Seine Re<strong>de</strong> machte einen kolossalen Eindruck. Hätte er seine Zuhörer aufgefor<strong>de</strong>rt, sich<br />
gegenseitig die Kehle durchzuschnei<strong>de</strong>n, sie wären ihm freudig gefolgt." In all seinem Ungestüm war er<br />
zugleich eine i<strong>de</strong>ale Zielscheibe für seine zahlreichen politischen Wi<strong>de</strong>rsacher.<br />
Bakunin re<strong>de</strong>te oft und schrieb wenig. Er blieb in erster Linie Praktiker, Theorie war für ihn Mittel zum<br />
Zweck - sie sollte sich aus <strong>de</strong>r Aktion entwickeln und <strong>de</strong>r Aktion dienen. Zu Lebzeiten brachte er nur ein<br />
einziges Buch zu En<strong>de</strong>, ansonsten kursierten von ihm massenweise Briefe, gedruckte Re<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r<br />
agitatorische Pamphlete <strong>de</strong>s Augenblicks. Erst nach Bakunins Tod erschloß sich vollständig das<br />
faszinieren<strong>de</strong> Mosaik einer umfassen<strong>de</strong>n anarchistischen Theorie, von <strong>de</strong>r noch heute vieles Gültigkeit<br />
hat.<br />
Sein ganzes ruheloses Leben ist eine einzige Aneinan<strong>de</strong>rreihung von Reisen, Aufstän<strong>de</strong>n,<br />
193<br />
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Flucht, Agitation, Verschwörung und Gefängnis. Kaum eine Revolte, an <strong>de</strong>r er nicht beteiligt ist, kaum<br />
ein Staat, <strong>de</strong>r ihn nicht in seinen Fahndungslisten führt. Zweimal wird er zum To<strong>de</strong> verurteilt, Jahre<br />
verbringt er angekettet in feuchten Verliesen und sibirischer Verbannung, nur, um bei <strong>de</strong>r erstbesten<br />
Gelegenheit über Japan und die USA zu fliehen und sich in Europa sogleich wie<strong>de</strong>r kopfüber in die<br />
Stru<strong>de</strong>l revolutionärer Abenteuer zu stürzen.<br />
Polarisierung zur rechten Zeit<br />
Das ist die Wolle, aus <strong>de</strong>r man Mythen strickt. Das ist vermutlich auch <strong>de</strong>r Grund, warum Bakunin bis<br />
heute <strong>de</strong>r bekannteste aller Anarchisten blieb, <strong>de</strong>nn spannen<strong>de</strong> Geschichten sind ungemein langlebig. Sie<br />
sind aber, auch wenn sie wahr sind, nicht immer wahrhaftig, <strong>de</strong>nn sie verklären. Was aber war er jenseits<br />
<strong>de</strong>s Mythos wirklich? Welche Rolle spielt er bei <strong>de</strong>r Herausbildung <strong>de</strong>s Anarchismus?<br />
Bakunin war we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ale Revolutionär noch <strong>de</strong>r Vater einer i<strong>de</strong>alen Theorie. Dazu war er viel zu<br />
sehr Suchen<strong>de</strong>r und Experimentierer. Er kultivierte Spontaneität in einer gera<strong>de</strong>zu messianischen* Form<br />
und war davon überzeugt, daß eine verrottete Gesellschaft nur verrottete I<strong>de</strong>en hervorbringen könne.<br />
Regeln, Strukturen und Theorien wür<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Aktion entstehen und sich überdies ständig wan<strong>de</strong>ln.<br />
Dieser <strong>de</strong>r Rastlosigkeit entsprungene Glaube verhin<strong>de</strong>rte, daß er <strong>de</strong>r konstruktive Anarchist wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r er<br />
wohl gerne gewesen wäre - noch auf <strong>de</strong>m Sterbebett bedauerte er, niemals die nötige Zeit gefun<strong>de</strong>n zu<br />
haben, eine anarchistische Ethik zu schreiben. Seine Verdienste um <strong>de</strong>n Anarchismus liegen auf ganz<br />
an<strong>de</strong>rem Gebiet.<br />
Er war ein Mann, <strong>de</strong>r polarisierend* wirkte in einer Zeit, als die Herausbildung einer eigenständigen
anarchistischen I<strong>de</strong>e aus <strong>de</strong>m Gedankeneintopf von Aufklärung, Liberalismus, Französischer Revolution,<br />
bürgerlicher Reform, Sozialismus und Kommunismus dringend einer Polarisierung bedurfte. Bakunins<br />
Begriff von Freiheit war radikaler als bürgerliche Liberalität und großherziger als <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r kleinkarierten<br />
Sozialisten. Seine Vorstellung von Aktion verabschie<strong>de</strong>te sich endgültig von parlamentarischen Illusionen<br />
und <strong>de</strong>r Hoffnung auf die befreien<strong>de</strong> Allmacht einer sozialen Bürokratie. In seinem exemplarischen<br />
Konflikt mit Karl Marx sah er mit fast prophetischer Pedanterie die Abscheulichkeiten einer<br />
kommunistischen Parteidiktatur voraus, die ein Menschenleben später schreckliche Wirklichkeit wer<strong>de</strong>n<br />
sollte. Er führte zur Abspaltung <strong>de</strong>s antiautoritären Flügels <strong>de</strong>r Arbeiterschaft und zur Bildung einer<br />
eigenständigen anarchistischen Bewegung. War <strong>de</strong>r Anarchismus vorher noch immer mehr eine<br />
Angelegenheit schöner I<strong>de</strong>en und radikaler Philosophie, so fin<strong>de</strong>t er in <strong>de</strong>r Ära Bakunin endgültig <strong>de</strong>n<br />
Weg in die Praxis. Das war nicht nur sein Verdienst, und er war beileibe nicht <strong>de</strong>r einzige anarchistische<br />
Revolutionär seiner Zeit. Im Gegenteil: Bakunin fand erst relativ spät zu klaren anarchistischen<br />
Positionen, und dabei halfen ihm Leute, die schon längst praktische anarchistische Ansätze vorantrieben.<br />
Ihnen allen aber gab die leben<strong>de</strong> Legen<strong>de</strong> Bakunin mit seinem Charisma und seinem Elan erst <strong>de</strong>n nötigen<br />
Schwung. Mit seinen internationalen Beziehungen sorgte er überdies im richtigen Augenblick für die<br />
richtigen Kontakte.<br />
194<br />
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Die Anarchisten vor Bakunin waren grosso modo* allesamt Schreibtischrevolutionäre. Mit Bakunin geht<br />
<strong>de</strong>r Anarchismus auf die Straße. Er klettert auf Barrika<strong>de</strong>n und hält Einzug in Fabriken. Als Bakunin 1876<br />
stirbt, hinterläßt er eine organisierte anarchistische Arbeiterbewegung mit regen Sektionen in mehreren<br />
Län<strong>de</strong>rn, die die Verbesserung ihrer sozialen Lage mit einer allumfassen<strong>de</strong>n freiheitlichen Vision<br />
verknüpft. Bakunins Be<strong>de</strong>utung liegt also in seiner Wirkung, und die erschließt sich nur aus seinem<br />
Han<strong>de</strong>ln. An<strong>de</strong>rs als bei an<strong>de</strong>ren Anarchisten, liegt <strong>de</strong>r Schlüssel zum Verständnis <strong>de</strong>s ›Phänomens<br />
Bakunin‹ in seinem Leben. Das ist <strong>de</strong>r Grund, weshalb wir nicht umhin können, seinen Spuren durch die<br />
Zeit zu folgen.<br />
Ein Leben in Aktion<br />
Daß uns <strong>de</strong>r junge Bakunin in <strong>de</strong>n bewegten achtundvierziger Jahren erstmals über <strong>de</strong>n Weg läuft, ist kein<br />
Zufall. Diese Erhebungen ziehen ihn an wie ein<br />
Magnet. Als er in Brüssel von <strong>de</strong>n Ereignissen in Paris hört, marschiert er zu Fuß in die französische<br />
Hauptstadt. Mit ganzem Einsatz nimmt er an fast allen Aufstän<strong>de</strong>n jener Jahre teil und erfährt in diesen<br />
unruhigen Zeiten seine charakteristische Prägung, die ihn bald zum meistgesuchten Revolutionär <strong>de</strong>r<br />
Epoche macht. Dabei hatte alles so harmlos begonnen, als er 1840 nach Berlin gekommen war, um<br />
<strong>de</strong>utsche Philosophie zu studieren.<br />
Michail Alexandrowitsch Bakunin wuchs privilegiert und behütet auf <strong>de</strong>m Landgut seiner Eltern im<br />
Gouvernement Twer auf, wo er 1814 im idyllischen<br />
Prjamuchino geboren wur<strong>de</strong>. Seine Familie gehörte zum alten russischen Provinza<strong>de</strong>l, zeigte aber<br />
<strong>de</strong>utliche aufklärerische und liberale Ten<strong>de</strong>nzen. So verkehrte Bakunins Vater in einer oppositionellen<br />
Geheimgesellschaft und schaffte auf seinem Gut die Leibeigenschaft ab. Der kleine Michail entwickelt<br />
schon früh ein ausgeprägtes Interesse für Musik und Mathematik, gepaart mit phantasievoller<br />
Abenteuerlust und einem unbändigen Reisetrieb. Vor allem aber tut er sich mit metaphysischer<br />
Schwärmerei und einem frühreifen Interesse an philosophischen Fragen hervor.<br />
Im Alter von vierzehn Jahren kommt er - gleichsam automatisch - als Ka<strong>de</strong>tt zum Offizierskorps. Der<br />
sensible Knabe lei<strong>de</strong>t unsäglich unter Drill und Ungerechtigkeit und lehnt sich innerlich gegen das Militär<br />
auf. Mit achtzehn wird er zum Artillerieoffizier ernannt, kurz darauf aber wegen Unbotmäßigkeit in eine<br />
kleine litauische Garnison strafversetzt. Hier widmet er sich statt <strong>de</strong>m Exerzieren lieber <strong>de</strong>m Studium<br />
französischer, <strong>de</strong>utscher und polnischer Literatur und quittiert schließlich 1835 angewi<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>n Dienst.<br />
Zurück daheim muß er feststellen, daß die wirtschaftliche Situation <strong>de</strong>r Familie nicht zum besten steht. So<br />
beschließt er, in Moskau Nachhilfelehrer und Studiosus zu wer<strong>de</strong>n.
Dort bleibt er fünf Jahre, widmet sich <strong>de</strong>r Philosophie und stürzt sich in das gären<strong>de</strong> Bro<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r<br />
intellektuellen Kreise, Salons und Zirkel. Er lernt Dichterpersönlichkeiten kennen, liest <strong>de</strong>utsche Literatur<br />
und Philosophie, übersetzt ein bißchen Goethe, Fichte und Hegel, trägt sich mit <strong>de</strong>m Gedanken, "aus<br />
Lei<strong>de</strong>nschaft zur Erkenntnis" Professor zu<br />
195<br />
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wer<strong>de</strong>n. Es ist Alexan<strong>de</strong>r Herzen, <strong>de</strong>r über die Schriften Saint-Simons sein Interesse für <strong>de</strong>n Sozialismus<br />
weckt und ihm klar macht, daß er die vieldiskutierten <strong>de</strong>utschen Philosophen nirgends besser als in<br />
Deutschland studieren könne. Glücklicherweise ist Bakunins neuer Freund begütert genug, ihm auch die<br />
Reise zu finanzieren. So verläßt Michail Alexandrowitsch 1840 seine Heimat, um endgültig mit seiner<br />
Vergangenheit, seiner Familie und seiner adligen Herkunft zu brechen.<br />
Zunächst genießt er das Leben in Preußens Hauptstadt, die damals im Ruf eines be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Horts<br />
mo<strong>de</strong>rnen Geisteslebens stand. Er verkehrt in Cafes, Theatern, politischen Salons und <strong>de</strong>n Kreisen <strong>de</strong>r<br />
Linkshegelianer, lernt fließend Deutsch und hört die Vorlesungen von Wer<strong>de</strong>r und Schelling, die jedoch<br />
als reaktionär gelten. Mehr angetan ist Bakunin von <strong>de</strong>n Schriften Feuerbachs, die ihn endgültig zum<br />
Atheisten machen. Intensiv beschäftigt er sich auch mit <strong>de</strong>n sozialen Utopien <strong>de</strong>r französischen Denker.<br />
Der Salons und <strong>de</strong>s Studierens überdrüssig, übersie<strong>de</strong>lt er 1842 nach Dres<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Hauptstadt <strong>de</strong>s<br />
Königreichs Sachsen. Seine Professorenpläne hat er aufgegeben. Er lernt Arnold Ruge kennen, <strong>de</strong>n<br />
Herausgeber <strong>de</strong>r Deutschen Jahrbücher, <strong>de</strong>r bald zu einem engen Freund wird. Bei ihm veröffentlicht er<br />
unter Pseudonym seine erste größere Arbeit, "Über die Reaktion in Deutschland". In diesem, noch stark<br />
von Hegels I<strong>de</strong>alismus geprägten Aufsatz, liefert Bakunin gleichwohl schon einen kompletten Vorgriff<br />
auf seine gesamte spätere Philosophie. Sein Leitmotiv ist "die Realisierung <strong>de</strong>r Freiheit", die "auf <strong>de</strong>r<br />
Tagesordnung <strong>de</strong>r Geschichte" stehe, und zwar als Revolution, die alles umwälzen und erneuern müsse.<br />
Dabei dürfe man nicht auf das Alte, das Unfreie, das Faule aufbauen, son<strong>de</strong>rn müsse damit tabula rasa*<br />
machen. Das Traktat schließt mit jenen Sätzen <strong>de</strong>s jungen Radikalen, die wohl am meisten von allen<br />
zitiert wor<strong>de</strong>n sind: "Laßt uns also <strong>de</strong>m ewigen Geiste vertrauen, <strong>de</strong>r nur <strong>de</strong>shalb zerstört und vernichtet,<br />
weil er <strong>de</strong>r unergründliche und ewig schaffen<strong>de</strong> Quell alles Lebens ist. - Die Lust <strong>de</strong>r Zerstörung ist<br />
zugleich eine schaffen<strong>de</strong> Lust."<br />
Bakunin hatte sich endgültig <strong>de</strong>r Revolution verschrieben.<br />
In Dres<strong>de</strong>n teilt er ein Zimmer mit <strong>de</strong>m aus Preußen ausgewiesenen politischen Lyriker Georg Herwegh.<br />
Bei<strong>de</strong> schwärmen für die revoltieren<strong>de</strong>n Polen, verkehren in <strong>de</strong>n gleichen revolutionären Zirkeln, fühlen<br />
sich aber zunehmend von <strong>de</strong>n philisterhaften <strong>de</strong>utschen Verhältnissen abgestoßen. Inzwischen wur<strong>de</strong>n die<br />
"Jahrbücher" wegen Bakunins Aufsatz verboten, und auch die zaristische Geheimpolizei war auf <strong>de</strong>n<br />
Dissi<strong>de</strong>nten aufmerksam gewor<strong>de</strong>n. So reisten bei<strong>de</strong> in die Schweiz. Dort gab es <strong>de</strong>n kommunistischen<br />
"Bund <strong>de</strong>r Gerechten", <strong>de</strong>ssen Programm <strong>de</strong>r Schnei<strong>de</strong>rgeselle Wilhelm Weitling verfaßt hatte, <strong>de</strong>n<br />
Bakunin 1843 in Zürich kennenlernt. Zwar respektieren sich <strong>de</strong>r Arbeiter und <strong>de</strong>r Intellektuelle und<br />
versuchen, voneinan<strong>de</strong>r zu lernen. Bakunin ist beeindruckt von <strong>de</strong>m schlichten proletarischen Charakter<br />
und gesteht gerne zu, daß "alle befreien<strong>de</strong>n Revolutionen" nur vom Volk, nicht von intellektuellen<br />
Avantgar<strong>de</strong>n ausgehen können. Gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb aber kritisiert er in einer Artikelserie <strong>de</strong>s Schweizer<br />
Republikaner bereits das noch ganz vage skizzierte kommunistische Staatsi<strong>de</strong>al: "Es wäre keine freie<br />
Gesellschaft, es wäre keine echte, lebendige Gemeinschaft freier Menschen, son<strong>de</strong>rn durchaus ein Regime<br />
von un-<br />
196<br />
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erträglicher Unterdrückung, eine Her<strong>de</strong> durch Zwang zusammengehaltener Tiere, die nur die materielle<br />
Befriedigung im Auge hätte."
Eine Verhaftung Weitlings bringt die zaristischen Behör<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r auf Bakunins Spur; seine<br />
Auslieferung wird verlangt. Bakunin verweigert die ›freiwillige Rückkehr‹, und wird nun offiziell zu <strong>de</strong>m,<br />
was er sein Leben lang bleiben sollte: politischer Emigrant. Er flieht über Brüssel nach Paris und wird<br />
daraufhin in Abwesenheit verurteilt: Verlust <strong>de</strong>s A<strong>de</strong>lstitels sowie aller Bürgerrechte und Deportation<br />
nach Sibirien.<br />
In Brüssel macht er die folgenreiche Bekanntschaft <strong>de</strong>s polnischen Historikers und Revolutionärs Ignacy<br />
Lelewel. Dessen slawophile* Vision einer <strong>de</strong>mokratischen Bauernrepublik beeindruckt ihn sehr, wobei er<br />
<strong>de</strong>n engen Nationalismus <strong>de</strong>r ganzen Sache in typisch Bakuninscher Begeisterung einfach ausblen<strong>de</strong>t. Der<br />
Gedanke an eine generelle Erhebung <strong>de</strong>r slawischen Völker, <strong>de</strong>nen er die Kraft zutraut, als ungezähmter<br />
Motor einer generellen Revolution gegen je<strong>de</strong> Tyrannei zu wirken, nimmt Gestalt an und wird ihn für<br />
viele Jahre nicht mehr loslassen.<br />
In Paris nimmt er sein Emigrantenleben wie<strong>de</strong>r auf, lernt George Sand, Victor Hugo und Lamenais<br />
kennen, vor allem aber Proudhon. Bei<strong>de</strong> Männer haben sich sehr viel zu geben. Oft treffen sie sich bei<br />
Adolf Reichel, einem gänzlich unpolitischen Musiker und lebenslangen Freund Bakunins aus Dresdner<br />
Tagen. Dort lauschen sie <strong>de</strong>r Musik und tauschen sich in endlosen Gesprächen aus. Zur gleichen Zeit lernt<br />
Bakunin auch Marx kennen, <strong>de</strong>ssen Gelehrsamkeit er bewun<strong>de</strong>rt, <strong>de</strong>ssen technokratische Kälte ihn jedoch<br />
abstößt. Ihr Umgang bleibt ebenso freundlich wie frostig. Obwohl es ja noch nicht um i<strong>de</strong>ologische<br />
Differenzen o<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>ne Etikettierungen ging - die Spaltung in ›Kommunisten‹ und ›Anarchisten‹<br />
sollte erst achtzehn Jahre später erfolgen - tun sich <strong>de</strong>utliche Unterschie<strong>de</strong> auf. Sie scheinen zunächst eher<br />
charakterliche Ursachen zu haben. "Unsere Temperamente vertrugen sich nicht", schreibt Bakunin. "Er<br />
nannte mich einen sentimentalen I<strong>de</strong>alisten, und er hatte recht; ich nannte ihn einen perfi<strong>de</strong>n und<br />
tückischen eitlen Menschen, und ich hatte auch recht." Hinter dieser Spannung zwischen zwei Männern,<br />
die eigentlich ›politische Freun<strong>de</strong>‹ waren und dies auch noch recht lange blieben, steckte natürlich eine<br />
tiefere Be<strong>de</strong>utung, die mit <strong>de</strong>n Jahren zunehmend klarer wur<strong>de</strong>. Ricarda Huch trifft in ihrer Bakunin-<br />
Biographie <strong>de</strong>n Kern <strong>de</strong>r Sache, wenn sie schreibt: "Dem einen kam es auf Organisation, Gütererzeugung,<br />
Betriebe an, <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren auf natürliches Menschenleben.".<br />
Im November 1847 hält Bakunin auf Einladung polnischer Emigranten seine verhängnisvolle ›Polen-<br />
Re<strong>de</strong>‹. In ihr ruft er die unter russischer Besatzung leben<strong>de</strong>n Polen zum gemeinsamen Aufstand mit <strong>de</strong>n<br />
russischen Regimegegnern auf, <strong>de</strong>r alle Slawen mitreißen und alle Despoten hinwegfegen sollte. Als Ziel<br />
sieht er eine freie Fö<strong>de</strong>ration aller slawischen Völker. Man hat oft darüber gerätselt, ob Bakunin<br />
Panslawist* gewesen sei; Kritiker haben ihm das unumwun<strong>de</strong>n vorgeworfen. Es trifft jedoch nicht <strong>de</strong>n<br />
Kern seines Engagements, <strong>de</strong>nn Bakunin glaubte nicht an die Überlegenheit einer slawischen Rasse,<br />
ebensowenig wie heute diejenigen, die Kämpfe in <strong>de</strong>r Dritten Welt unterstützen, indianische, molukkische<br />
o<strong>de</strong>r eritreische Rassisten sind. Natürlich verstand er als Russe das slawische Naturell<br />
197<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
besser als alles an<strong>de</strong>re, aber das war nicht sein Antrieb. Im Grun<strong>de</strong> war Bakunin ein Revolutionär, <strong>de</strong>r<br />
stets auf <strong>de</strong>r Suche nach einem revolutionären Subjekt war, bei <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Funke seiner Vision zün<strong>de</strong>n<br />
könnte. Wie ein Spieler setzte er dabei mal auf dieses, mal auf jenes Pferd - wo immer er ein Potential für<br />
Revolte und Freiheit auszumachen glaubte - und die von Rußland und Österreich unterjochten slawischen<br />
Völker muckten ja in <strong>de</strong>r Tat überall auf. Aber Bakunin hoffte ebenso wie auf Polen und Tschechen zu<br />
an<strong>de</strong>ren Zeiten auch auf Deutsche, Italiener, Franzosen o<strong>de</strong>r Spanier, auf das städtische Proletariat o<strong>de</strong>r<br />
die Bauern, auf die <strong>de</strong>klassierte Jugend Rußlands o<strong>de</strong>r das "Lumpenproletariat". Dabei ging es ihm immer<br />
um "das Volk", um die unterdrückten und arbeiten<strong>de</strong>n Menschen - für <strong>de</strong>n dünkelhaften,<br />
e<strong>de</strong>lproletarischen "Klassenstandpunkt", insbeson<strong>de</strong>re bei <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sozial<strong>de</strong>mokratie, hatte er nur<br />
Spott übrig. Bakunin seinerseits war bei <strong>de</strong>r Beurteilung sozialer Bewegungen von einer gera<strong>de</strong>zu naiven<br />
Großherzigkeit und wur<strong>de</strong> nur allzu leicht Opfer <strong>de</strong>r eigenen Begeisterung.<br />
Der ›Polen-Re<strong>de</strong>‹ folgte die sofortige Ausweisung aus Frankreich, die <strong>de</strong>r russische Botschafter verlangt<br />
hatte. In geschickter Taktik ließ dieser auch noch das Gerücht ausstreuen, Bakunin sei ein in Rußland
vorbestrafter Dieb und als agent provocateur im Dienste <strong>de</strong>s Zaren unterwegs. Die Rechnung <strong>de</strong>s<br />
Diplomaten ging auf, <strong>de</strong>nn prompt kolportierte* Marxens Neue Rheinische Zeitung <strong>de</strong>n Klatsch. Zwar<br />
gab es später Dementi und Entschuldigung, aber <strong>de</strong>r Makel blieb und das Gerücht hielt sich lange frisch.<br />
Bakunins Gegner wärmten es bei günstigen Gelegenheiten immer mal wie<strong>de</strong>r auf.<br />
Der geächtete Revolutionär weicht nach Brüssel aus, aber kurz darauf wird <strong>de</strong>r König, <strong>de</strong>r ihn auswies,<br />
durch die Februarrevolution gestürzt. Frankreich ist Republik, Bakunin kehrt sofort zurück und tummelt<br />
sich im revolutionären Paris. Er ist in seinem Element, beehrt die Barrika<strong>de</strong>n mit seiner Anwesenheit,<br />
agitiert die Arbeiter und läßt sich von ihnen agitieren. Er will <strong>de</strong>n revolutionären Funken nun auch nach<br />
Rußland und Polen überspringen lassen. Die republikanische Regierung unterstützt ihn hierbei mit Geld<br />
und Pässen - vielleicht, um ihn loszusein, <strong>de</strong>nn die neue Administration war be<strong>de</strong>utend mo<strong>de</strong>rater als<br />
dieser russische Emigrant. Der frischgebackene Polizeipräsi<strong>de</strong>nt soll damals gesagt haben: "Ein solcher<br />
Mann ist unschätzbar am ersten Tag <strong>de</strong>r Revolution, am zweiten muß man ihn aber erschießen."<br />
Bakunin bricht in Richtung Osten auf.<br />
Sein Weg durch Deutschland führte ihn auch nach Frankfurt, wo die Demokraten in <strong>de</strong>r Paulskirche<br />
versuchten, ein gesamt<strong>de</strong>utsches Parlament auf die Beine zu stellen. In einem Empfehlungsschreiben hatte<br />
Herwegh seinen "treuesten Freund" Bakunin angekündigt: "Er bringt noch einen Sack Revolutionsluft mit<br />
sich, um Eure konstitutionelle Atmosphäre zu reinigen." Doch von <strong>de</strong>m professoralen Palaver enttäuscht<br />
schreibt Bakunin an seinen Freund: "Ich glaube nicht an Verfassungen noch an Gesetze. Die beste<br />
Verfassung kann mich nicht befriedigen. Wir brauchen etwas an<strong>de</strong>res: <strong>de</strong>n Sturm und das Leben, eine<br />
neue Welt, in <strong>de</strong>r das Fehlen von Gesetzen die Freiheit erschaffen wird."<br />
Die unter österreichischer Herrschaft leben<strong>de</strong>n Tschechen, Slowaken und Mähren hatten<br />
198<br />
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es abgelehnt, sich am Frankfurter Vorparlament zu beteiligen. Statt<strong>de</strong>ssen lu<strong>de</strong>n sie alle Slawen für <strong>de</strong>n<br />
Juli zu einem Kongreß nach Prag ein. Da <strong>de</strong>r polnische Aufstand in Posen inzwischen gescheitert ist, reist<br />
Bakunin agitierend und konspirierend über Leipzig, Berlin und Breslau nach Prag, wo er erneut seine I<strong>de</strong>e<br />
einer <strong>de</strong>mokratischen Konfö<strong>de</strong>ration <strong>de</strong>r slawischen Völker aufleben läßt, in <strong>de</strong>r alle Klassenprivilegien<br />
abgeschafft sein sollten. Obwohl er in seinen radikalen Freiheitsfor<strong>de</strong>rungen zurücksteckt und eine Art<br />
Übergangsdiktatur vorschlägt, konnte er sich gegen die Hauptten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>s Kongresses, mit <strong>de</strong>m<br />
Habsburger Herrscherhaus zu paktieren, nicht durchsetzen. Ein dilettantisch inszenierter Aufstand <strong>de</strong>r<br />
Prager Stu<strong>de</strong>ntenschaft wird nach fünf Tagen nie<strong>de</strong>rgeworfen. Bakunin hatte vergeblich vor diesem<br />
Abenteuer gewarnt, sich dann aber doch helfend zur Verfügung gestellt. Am 16. Juni kam das En<strong>de</strong> für<br />
Aufstand und Kongreß. Bakunin mußte aus Prag fliehen.<br />
Obwohl inzwischen in Paris die sozialen Kräfte <strong>de</strong>r Februarrevolution in blutigen Straßenkämpfen<br />
nie<strong>de</strong>rgerungen wur<strong>de</strong>n, und Cavignac Tausen<strong>de</strong> Arbeiter massakrieren läßt, treibt Bakunin die<br />
revolutionäre Konspiration weiter voran. Von Breslau aus knüpft er Fä<strong>de</strong>n zu Gruppen im russischen<br />
Untergrund, grün<strong>de</strong>t eine slawische ›Geheimgesellschaft‹, organisiert <strong>de</strong>n Schmuggel von Waffen und<br />
Propagandaschriften. Kein geringerer als Brockhaus druckt ihm diese als Gebetbücher getarnten Traktate,<br />
die in mehreren slawischen Sprachen erscheinen. Aus Berlin, wo er Bettina von Arnim und Max Stirner<br />
kennenlernt, muß er erneut fliehen, <strong>de</strong>nn wie<strong>de</strong>r sind ihm die russischen Behör<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>n Fersen, und<br />
Preußen weist ihn aus. Im Herbst wur<strong>de</strong> auch <strong>de</strong>r Deutschen Revolution überall <strong>de</strong>r Garaus gemacht; die<br />
Fürsten sitzen fürs erste wie<strong>de</strong>r fest im Sattel. Bakunin verbringt <strong>de</strong>n Winter schreibend im Provinznest<br />
Köthen und zieht im Frühjahr 1849 unter falschem Namen nach Dres<strong>de</strong>n, wo er sich mit seinem<br />
Nachbarn, <strong>de</strong>m jungen Kapellmeister Richard Wagner anfreun<strong>de</strong>t. Als ob er Revolutionen anzöge, erhebt<br />
sich am 3. Mai das Volk gegen <strong>de</strong>n Sächsischen König, <strong>de</strong>r zuvor das Parlament aufgelöst hatte und nun<br />
überstürzt flieht. Eine provisorische Regierung wird gebil<strong>de</strong>t; sie überträgt Bakunin die militärische<br />
Führung <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r gegen die anrücken<strong>de</strong>n preußischen Truppen allerdings keine Aussicht auf<br />
Erfolg hat. Dennoch organisiert <strong>de</strong>r ehemalige Artillerieoffizier <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rstand "mit Geschick und
Kaltblütigkeit". Über eine Woche kann sich die Stadt halten. Mit 1800 Revolutionären, die sich bald<br />
darauf zerstreuen, gelingt <strong>de</strong>r Ausbruch aus <strong>de</strong>r Umzingelung. Am 10. Mai wird Bakunin in einem<br />
Chemnitzer Gasthof aus <strong>de</strong>m Tiefschlaf gerissen und verhaftet - er war eine Woche lang ruhelos auf <strong>de</strong>n<br />
Beinen gewesen.<br />
Der Russische Zar ist entzückt, aber er muß sich noch gedul<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn zunächst wird <strong>de</strong>r Gefangene in<br />
Preußen angeklagt und am 14. Januar 1850 zum To<strong>de</strong> verurteilt. Gleichzeitig mit seiner Begnadigung zu<br />
lebenslänglicher Festungshaft erfährt er von Österreichs Auslieferungsbegehren, wohin er im Mai<br />
abgeschoben wird. Wegen <strong>de</strong>s Prager Aufstan<strong>de</strong>s erneut zum Galgen verurteilt, verbringt er über ein Jahr<br />
in schwerer Haft. In <strong>de</strong>r Festung Olmütz wird er mit Ketten an die Wand geschmie<strong>de</strong>t und unternimmt<br />
einen Selbstmordversuch. Im Oktober 1851 wird Bakunin an Rußland ausgeliefert, wo er ohne Prozeß<br />
sechs<br />
199<br />
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Jahre unter harten Bedingungen in Haft bleibt. Diese Jahre ruinieren seine Gesundheit. In <strong>de</strong>r<br />
Schlüsselburg befällt ihn Skorbut und Wassersucht, die Zähne fallen ihm aus. Unermüdlich interveniert<br />
seine Familie, um eine Begnadigung zu erreichen. Beim To<strong>de</strong> <strong>de</strong>s alten Zaren hoffte man auf eine<br />
Amnestie, aber <strong>de</strong>r Nachfolger, Alexan<strong>de</strong>r II., streicht eigenhändig Bakunins Namen aus <strong>de</strong>r ihm<br />
vorgelegten Liste. Endlich, 1857, begnadigt man ihn – zur Verbannung nach Sibirien.<br />
Als 1917 die zaristischen Archive geöffnet wur<strong>de</strong>n, fand sich ein Brief Bakunins, <strong>de</strong>r als die sogenannte<br />
"Beichte" bekannt wur<strong>de</strong>. Der Zar hatte ihn bereits zu Beginn seiner Haft aufgefor<strong>de</strong>rt, sich ihm mit <strong>de</strong>r<br />
Aussicht auf Mil<strong>de</strong> "wie ein geistlicher Sohn" anzuvertrauen. Daraufhin verfaßte <strong>de</strong>r Häftling ein<br />
ausführliches Dokument, angesie<strong>de</strong>lt "zwischen Dichtung und Wahrheit", ohne jedoch seine Freun<strong>de</strong><br />
noch seine I<strong>de</strong>en zu verraten. Statt<strong>de</strong>ssen stellte er geschickt seine charakterlichen ›Schwächen‹ in <strong>de</strong>n<br />
Vor<strong>de</strong>rgrund, und appellierte an die mildtätigen Gefühle <strong>de</strong>s Zaren – ohne Erfolg, wie wir wissen. Als<br />
Jahre später seine Begnadigung erwogen wur<strong>de</strong>, kommentierte <strong>de</strong>r Minister Gortschakow das Dokument<br />
mit folgen<strong>de</strong>n Worten: "Aber ich sehe in diesem Brief nicht die geringste Reue". Trotz<strong>de</strong>m legen ihm bis<br />
heute seine Gegner die "Beichte" als Schwäche, Verrat, ja als Kollaboration aus. Dabei han<strong>de</strong>lt es sich um<br />
das taktische Meisterstück eines lebendig Begrabenen, <strong>de</strong>r zwar Zerknirschung heuchelt, gleichzeitig aber<br />
<strong>de</strong>m Zaren in fast belehren<strong>de</strong>m Ton unangenehme Wahrheiten zu sagen wagt.<br />
In Sibirien verbringt er die nächsten vier Jahre in relativer Bequemlichkeit und wohlverdienter Ruhe,<br />
zunächst in Tomsk, später in Irkutsk. Er knüpft Kontakte, versucht, nicht ohne Erfolg, <strong>de</strong>n Gouverneur für<br />
fö<strong>de</strong>ralistische I<strong>de</strong>en zu gewinnen und gibt Französischunterricht. Dabei lernt er die junge Antonia<br />
Kwiatkowska kennen, und bei<strong>de</strong> entwickeln eine starke Zuneigung zueinan<strong>de</strong>r. 1858 heiratet das<br />
ungleiche Paar und bleibt in sehr lockerer aber respektvoller Form bis zu Bakunins Tod miteinan<strong>de</strong>r<br />
verbun<strong>de</strong>n. Die Tatsache, daß die drei Kin<strong>de</strong>r, die Antonina bekam, nicht Bakunin zum Vater hatten, und<br />
dies vom Ehegatten offenbar gebilligt wur<strong>de</strong>, hat zu Spekulationen über angebliche Impotenz o<strong>de</strong>r<br />
homoerotische Neigungen Bakunins geführt. Das ist ebensogut möglich wie die naheliegen<strong>de</strong> Vermutung,<br />
daß das Ehepaar Bakunin bewußt eine sehr offene Beziehung lebte, was bei ihrem Altersunterschied,<br />
ihren Vorstellungen von Freiheit, <strong>de</strong>n unterschiedlichen Temperamenten und jahrelangen Trennungen<br />
nicht verwun<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong>.<br />
Als frischgebackener Ehemann je<strong>de</strong>nfalls genoß Bakunin zunehmen<strong>de</strong>s Vertrauen bei <strong>de</strong>n Behör<strong>de</strong>n und<br />
eine gewisse Freizügigkeit, die er 1861 zu seiner spektakulären Flucht um <strong>de</strong>n halben Erdball nutzte. Auf<br />
einem amerikanischen Walfängerschiff ging es via Japan in die USA, bei <strong>de</strong>ren Durchquerung er -<br />
naturellement! - bei je<strong>de</strong>r Gelegenheit politische Kontakte knüpfte. Schließlich schiffte er sich wie<strong>de</strong>r<br />
nach Europa ein, und En<strong>de</strong> 1861 mel<strong>de</strong>te er sich voll Ungestüm bei Herzen in London zurück. Dem<br />
Einreisebeamten antwortete er auf die Frage nach <strong>de</strong>m Beruf: "Revolutionär." Dieser glaubte wohl an<br />
einen Scherz, musterte die abgerissene Kleidung Bakunins und antwortete: "Genauso habe ich mir einen<br />
Revolutionär vorgestellt."
200<br />
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Aufstand, Organisation und die Lust an <strong>de</strong>r Verschwörung<br />
Nahezu 12 Jahre war Bakunin von <strong>de</strong>r politischen Bühne Europas verschwun<strong>de</strong>n gewesen. Vieles hatte<br />
sich seither verän<strong>de</strong>rt. Zwar gab es immer noch Aufstän<strong>de</strong> und Revolten, auch die Polen muckten erneut<br />
auf, aber <strong>de</strong>r Elan <strong>de</strong>r achtundvierziger Jahre war einer allgemeinen Ernüchterung gewichen. Revolution<br />
schien doch mehr zu sein als die Inszenierung eines erfolgreichen coup d'etat auf <strong>de</strong>r Straße.<br />
Längerfristige Perspektiven waren gefragt. Welche Volksschichten könnten eine Revolution wünschen,<br />
durchführen und tragen? Wollten die Arbeiter wirklich Freiheit o<strong>de</strong>r nur mehr Brot? Die ›Organisation<br />
<strong>de</strong>s Proletariats‹ rückte auf die Tagesordnung.<br />
Bakunin hatte Schwierigkeiten, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Nicht, weil er die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r<br />
Arbeiterschaft verkannt hätte, son<strong>de</strong>rn weil er <strong>de</strong>n gängigen Organisationsformen mißtraute. Zu Recht<br />
witterte er die Gefahr eines lauwarmen Reformismus, <strong>de</strong>r für eine wirkliche Befreiung <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
keinen Platz ließe.<br />
Man kann <strong>de</strong>n Rest von Bakunins Leben als <strong>de</strong>n Versuch interpretieren, eine theoretische und praktische<br />
Synthese zwischen Massenbewegung und Aufstand, zwischen kleinen Schritten und großer Revolution zu<br />
suchen. Sein Ziel war im Grun<strong>de</strong> einfach: <strong>de</strong>n naheliegen<strong>de</strong>n Wunsch nach alltäglichen Verbesserungen<br />
mit <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Notwendigkeit einer radikalen Umwälzung unter einen Hut zu bringen - die<br />
Verschmelzung von Status quo* und Utopie in einer praktischen Strategie. Am En<strong>de</strong> seines Lebens sind<br />
die Grundlagen für diese Synthese gelegt, und im neuen Jahrhun<strong>de</strong>rt wird sie die libertären I<strong>de</strong>en in <strong>de</strong>r<br />
Form <strong>de</strong>s Anarchosyndikalismus zum ersten Mal zu einem durchschlagen<strong>de</strong>n Erfolg verhelfen.<br />
Bakunins weiterer Lebensweg beweist, wie schwer es ihm fiel, dieses einfache Ziel anzusteuern, gab es<br />
doch da so viele wi<strong>de</strong>rsprüchliche Faktoren...!<br />
Zum Beispiel seine Vorliebe für <strong>de</strong>n Aufstand, <strong>de</strong>n er als Initialzündung zur allgemeinen Erhebung für<br />
notwendig hielt. Entschlossene Revolutionäre sollten<br />
blitzschnell vollen<strong>de</strong>te Tatsachen schaffen: wichtige Gebäu<strong>de</strong> besetzen, Akten - insbeson<strong>de</strong>re die<br />
Grundbücher! - vernichten, revolutionäre Körperschaften bil<strong>de</strong>n, die Verteidigung organisieren und das<br />
Leben neu strukturieren. In einer Zeit, in <strong>de</strong>r das Pferd das gängige Transportmittel war, und ein Regiment<br />
Soldaten zum Anrücken mehrere Tage brauchte, war eine solche Taktik noch nicht so aussichtslos, wie<br />
sie uns heute erscheinen mag. Auch gab es, zumin<strong>de</strong>st qualitativ, eine Parität <strong>de</strong>r Waffen.<br />
Dagegen stand die Organisation, die bei Bakunin eine ebenso große Rolle spielt. Das war ein langfristiges<br />
Projekt, das Geduld, kleine Schritte und Augenmaß erfor<strong>de</strong>rte - nicht gera<strong>de</strong> Bakuninsche Tugen<strong>de</strong>n.<br />
Trotz<strong>de</strong>m hat er die enorme Wichtigkeit erkannt, eine Organisation aufzubauen, die <strong>de</strong>n elen<strong>de</strong>n Massen<br />
<strong>de</strong>r Arbeiter als Werkzeug zur Überwindung ihrer Lage dienen könnte. Sein Engagement in <strong>de</strong>r<br />
Internationalen Arbeiter Assoziation war nicht nur stark, son<strong>de</strong>rn auch prägend: Bakunin verschaffte in<br />
<strong>de</strong>r ›Internationale‹ <strong>de</strong>m Primat von Freiheit, Autonomie und Spontaneität Gehör.<br />
201<br />
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Bei<strong>de</strong>s aber schien ihm nicht zu genügen. Aufstand war zu kurzatmig, Organisation zu langatmig. Die<br />
Barrika<strong>de</strong> brachte spontan unerfahrene Dilettanten auf die Beine, die im entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Augenblick<br />
versagten. Die Organisation brachte zwar gute Leute hervor, konnte sich aber nicht erlauben, militant und<br />
konspirativ aufzutreten, <strong>de</strong>nn sie wirkte offen und legal. Die Lösung dieses Wi<strong>de</strong>rspruchs scheint Bakunin<br />
zeitlebens in <strong>de</strong>m Aufbau von Geheimgesellschaften gesucht zu haben - seinen berühmten und
erüchtigten "Bru<strong>de</strong>rschaften", "Ligen" und "Allianzen". Sie sind auch innerhalb <strong>de</strong>s Anarchismus oft auf<br />
Unverständnis und kaum verhohlenes Entsetzen gestoßen. Tatsächlich stehen sie eher in <strong>de</strong>r Tradition von<br />
Avantgar<strong>de</strong> und Elite<strong>de</strong>nken als <strong>de</strong>r libertärer I<strong>de</strong>ale. Sie lassen an ›Berufsrevolutionäre‹ <strong>de</strong>nken und<br />
ähneln in letzter Konsequenz <strong>de</strong>r Struktur einer Ka<strong>de</strong>rpartei. Den Preis dafür hat Bakunin, wie wir sehen<br />
wer<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>m verhängnisvollen Abenteuer bezahlen müssen, auf das er sich mit <strong>de</strong>m<br />
Revolutionshochstapler Netschajew einließ, <strong>de</strong>m es mühelos gelang, <strong>de</strong>n alten Kämpen um <strong>de</strong>n Finger zu<br />
wickeln und für seine Machenschaften einzuspannen. Man sollte allerdings nicht <strong>de</strong>n Fehler machen,<br />
Bakunins Vorliebe für Geheimbün<strong>de</strong>lei nach <strong>de</strong>m zu beurteilen, was darüber zu Papier gebracht wur<strong>de</strong>.<br />
Das klingt in <strong>de</strong>r Tat erschreckend autoritär und steht im Gegensatz zu allem, was er ansonsten lebte,<br />
dachte, tat und schrieb. Dennoch: Was ist davon zu halten, wenn ein Gralshüter <strong>de</strong>r Freiheit plötzlich von<br />
einer "unsichtbaren Diktatur" spricht?<br />
Eigentlich ein unbeholfener aber aufrichtiger Versuch, ein freies I<strong>de</strong>al mit unfreien Mitteln zu erreichen,<br />
<strong>de</strong>r sich glücklicherweise in <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung nicht durchgesetzt hat. Vergessen wir aber<br />
nicht, daß in Zeiten von Illegalität und Verfolgung eine offene i<strong>de</strong>allibertäre Struktur kaum möglich ist.<br />
Internationale Organisation, Diskussion, Propaganda, Kommunikation, Koordination und Subversion<br />
verlangten nach einem Netzwerk, das nicht offen vor <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Geheimpolizei ausgebreitet liegen<br />
durfte. Daß Bakunin hierbei versuchte, kleine verschworene Zellen zu bil<strong>de</strong>n, die sich untereinan<strong>de</strong>r nur<br />
über Mittelsmänner kannten, läßt weniger auf Autoritätsgeilheit schließen als vielmehr auf <strong>de</strong>n Wunsch,<br />
die gefähr<strong>de</strong>ten Menschen zu schützen. Interessanterweise aber hat Bakunin aus dieser Not keine Tugend<br />
gemacht. Man merkt ihm seine geistigen Bauchschmerzen gera<strong>de</strong>zu an, wenn er immer wie<strong>de</strong>r betont, daß<br />
Geheimgesellschaften nur zur Initialzündung für die Revolution dienen sollen, in <strong>de</strong>r dann das Volk<br />
alleine über sein Schicksal zu bestimmen habe. Keinesfalls dürfe <strong>de</strong>r Revolutionär irgendwelche<br />
Privilegien, materiellen Vorteile o<strong>de</strong>r Ehren genießen, niemand dürfe eine Funktion auf Dauer beklei<strong>de</strong>n<br />
und letztlich müsse sich <strong>de</strong>r Revolutionär <strong>de</strong>m souveränen Volkswillen unterordnen und nicht umgekehrt.<br />
Schon gar nicht war Bakunin selbst <strong>de</strong>r ›Chef‹ all dieser Organisationen, wie die Beispiele belegen, in<br />
<strong>de</strong>nen er überstimmt o<strong>de</strong>r übergangen wur<strong>de</strong>. Das sind schon <strong>de</strong>utliche Unterschie<strong>de</strong> zum Leninschen<br />
Konzept <strong>de</strong>r Ka<strong>de</strong>rpartei, in <strong>de</strong>r sich tatsächlich die Not zur Tugend erhob. Gewiß hatte für Bakunin das<br />
Verschwörerische immer auch einen Hauch von Revolutionsromantik, und sicher hat er sich gelegentlich<br />
mit <strong>de</strong>m konspirativen Gebrauch von Chiffrierco<strong>de</strong>s und Geheimtinte über herbe Rückschläge<br />
hinweggetröstet und -getäuscht. Auch existierten manche dieser Gesellschaften wohl eher<br />
202<br />
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in <strong>de</strong>r Phantasie <strong>de</strong>s Meisters als in <strong>de</strong>r Realität. Tatsache aber bleibt, daß aus <strong>de</strong>m unentwirrbaren<br />
Spinnennetz Bakuninscher Verschwörungsfä<strong>de</strong>n ein ganz ausgezeichnetes System internationaler<br />
Verbindungen hervorging, das in entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Momenten immer wie<strong>de</strong>r gute Dienste leistete. Hier<br />
reifte eine neue Generation von Menschen heran, die in <strong>de</strong>n nächsten Jahrzehnten die anarchistische I<strong>de</strong>e<br />
in alle Welt hinaustragen und zu Protagonisten <strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n Kämpfe wer<strong>de</strong>n sollten. Hier entstan<strong>de</strong>n<br />
die Kontakte, die durch die Entsendung eines einzelnen Menschen zur Bildung einer ganzen Sektion in<br />
einem neuen Land führten, wie im Falle von Bakunins Emissär Fanelli, <strong>de</strong>r in Spanien innerhalb weniger<br />
- Monate einen wahren Massenboom auslöste.<br />
Bakunins Traum, mittels einer recht autoritären Organisationsform in Europa die generelle antiautoritäre<br />
Revolte zu entfesseln, ging nicht in Erfüllung. Aber sie legte wichtige Grundlagen für spätere<br />
Revolutionen. Schon <strong>de</strong>shalb sollte, bei aller berechtigten Kritik, die Geheimbün<strong>de</strong>lei nicht einzig daran<br />
gemessen wer<strong>de</strong>n, wieweit sie mit <strong>de</strong>r Gedankenwelt libertärer I<strong>de</strong>ale konform geht.<br />
Geburtsstun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung<br />
Von London aus beginnt Bakunin unverzüglich wie<strong>de</strong>r seine Fä<strong>de</strong>n zu spinnen, unzufrie<strong>de</strong>ne Slawen um<br />
sich zu sammeln und zu schreiben. In Rußland<br />
macht eine von seinen I<strong>de</strong>en inspirierte Oppositionsbewegung namens "Bo<strong>de</strong>n und Freiheit" von sich<br />
re<strong>de</strong>n, und 1863 erlebt Russisch-Polen erneut einen Aufstand und die Ausrufung einer provisorischen
Regierung. Die Hilfsexpedition, mit <strong>de</strong>r Bakunin per Schiff von London aus aufbricht, scheitert jedoch<br />
schon in Schwe<strong>de</strong>n: die Revolutionäre hatten sich unterwegs zerstritten.<br />
In London aber hatte Bakunin die Bekanntschaft <strong>de</strong>s italienischen Revolutionärs Giuseppe Mazzini<br />
gemacht. Mit ihm sollte ihn, trotz grundlegen<strong>de</strong>r politischer Differenzen, eine lange Freundschaft<br />
verbin<strong>de</strong>n, ähnlich seinem von Respekt und Anerkennung getragenen Verhältnis zum italienischen<br />
Nationalhel<strong>de</strong>n Giuseppe Garibaldi. Bakunin ent<strong>de</strong>ckt sein Herz für Italien und die Italiener, und bald<br />
beginnt er für sie ebenso zu schwärmen wie für die Slawen. Die nächsten Jahre lebt er in Florenz, später<br />
in Neapel, immer von Reisen unterbrochen, während <strong>de</strong>r er auch wie<strong>de</strong>r mit Marx und Proudhon<br />
zusammentrifft. Es sollten außeror<strong>de</strong>ntlich fruchtbare Jahre wer<strong>de</strong>n: vielerorts fin<strong>de</strong>t er schon eine aktive<br />
anarchistische Bewegung mit reifen I<strong>de</strong>en vor. Von einem Denker und Organisator wie Carlo Piscane<br />
kann sogar ein Bakunin vieles lernen; sein etwas rustikaler Anarchismus verfeinert sich zu ausgereiften<br />
I<strong>de</strong>en. Er verfaßt eine Reihe kleinerer, aber sehr klarer Aufsätze, in <strong>de</strong>nen er auch I<strong>de</strong>en Proudhons<br />
aufgreift und weiterführt. Diese ›Neapolitanischen Schriften‹ wur<strong>de</strong>n für lange Zeit zur Wurzel je<strong>de</strong>r<br />
weiteren Entwicklung <strong>de</strong>s Anarchismus. In ihrer einfachen Sprache leicht verständlich, erlangen sie -<br />
nicht nur in Italien - eine ungemeine Popularität. Bakunins "Revolutionärer Katechismus" von 1865/66 -<br />
nicht zu verwechseln mit <strong>de</strong>m von Netschajew inspirierten "Katechismus <strong>de</strong>s Revolutionärs" - gehört zu<br />
<strong>de</strong>n radikalsten politisch-humanitären Utopien <strong>de</strong>r Literatur. Die Broschüre löst in Italien unter <strong>de</strong>r<br />
revolutionären Jugend, die von <strong>de</strong>n religiösen und nationalen Unter-<br />
203<br />
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tönen Mazzinis und Garibaldis irritiert ist, ein lebhaftes Echo aus. Bakunin hat nun wie<strong>de</strong>r Substanz für<br />
seine Geheimgesellschaften. Die "Internationale Bru<strong>de</strong>rschaft" bekam spürbar Leben eingehaucht;<br />
Malatesta, Fanelli, Francia und Costa, die allesamt be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Anarchisten wer<strong>de</strong>n sollten, erlebten hier<br />
ihre libertäre Initiation*.<br />
Mit <strong>de</strong>m Umzug in die Schweiz beginnt für Bakunin 1867 die Ära <strong>de</strong>r politischen Organisation, die<br />
begleitet ist von spektakulären Auftritten in <strong>de</strong>r Arena internationaler Versammlungen und Kongresse. Im<br />
Schweizer Jura hatte <strong>de</strong>r Anarchismus, beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>r dortigen Uhrenindustrie, eine breite<br />
Anhängerschaft gewonnen; Bakunins Freund James Guillaume gehörte zu ihren klügsten Köpfen und<br />
fähigsten Organisatoren. Die sehr aktive Jurassische Fö<strong>de</strong>ration gab die Zeitung Liberté heraus, Bakunin<br />
wur<strong>de</strong> ihr Redakteur.<br />
Ebenso wie Sozialisten aller Couleur, waren Anarchisten von Anfang an auch in <strong>de</strong>r "Internationalen<br />
Arbeiter-Assoziation" organisiert. 1868 treten auch Bakunin und seine Anhänger bei. Parallel dazu<br />
wirkten sie weiterhin in <strong>de</strong>r "Liga für Frie<strong>de</strong>n und Freiheit", in <strong>de</strong>r "Bru<strong>de</strong>rschaft" und in <strong>de</strong>r im gleichen<br />
Jahr gegrün<strong>de</strong>ten "Internationalen Allianz <strong>de</strong>r sozialistischen Demokratie", was Marx, <strong>de</strong>r die<br />
"Internationale" auf seinen Kurs einschwören wollte, zum Anlaß nahm, um gegen Bakunin und die<br />
"Antiautoritären" vorzugehen. In Wirklichkeit ging es um die politische Frage, ob das Ziel <strong>de</strong>r<br />
Internationalen ein autoritärer o<strong>de</strong>r ein freiheitlicher Sozialismus sein sollte. Es kam zu einem jahrelangen<br />
Hickhack, an <strong>de</strong>ssen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Kongress von St. Imier stand, auf <strong>de</strong>m sich die libertäre Arbeiterbewegung<br />
in einer eigenen Internationale von <strong>de</strong>n autoritären und reformistischen Sozialisten abnabelte. Dieser i$.<br />
September 1872, an <strong>de</strong>m sich in <strong>de</strong>m kleinen schweizer Industriestädtchen Delegierte aus Spanien, Italien,<br />
Frankreich, <strong>de</strong>r Schweiz und Amerika trafen, um eine autonome, fö<strong>de</strong>ralistische, libertäre und<br />
revolutionäre Organisation zu bil<strong>de</strong>n, gilt seither als das ›offizielle‹ Geburtsdatum einer organisierten und<br />
internationalen anarchistischen Bewegung. Michail Bakunin war ihr Architekt, ihr Mentor und ihr Motor.<br />
Organisationsarbeit und die Abwehr von Intrigen aber war nicht alles, was <strong>de</strong>r gealterte Revolutionär in<br />
diesen Jahren trieb. Noch 1870, beim Ausbruch <strong>de</strong>s<br />
<strong>de</strong>utsch-französischen Krieges, hatte er große Hoffnungen auf einen Aufstand in Frankreich gegen <strong>de</strong>n<br />
unfähigen Louis-Napoleon gesetzt. Tatsächlich gärte es an vielen Orten; es kam zu Unruhen in Lyon,<br />
Marseille und schließlich, 1871, in Paris, die in <strong>de</strong>r berühmten Commune gipfelte. Nur zu gern hätte
Bakunin eine allgemeine Revolte in eine soziale Revolution verwan<strong>de</strong>lt. Er läßt seine ›Beziehungen‹<br />
spielen und reist nach Lyon, wo sich bereits ein "Wohlfahrtsausschuß" konstituiert hat, <strong>de</strong>r sich nach<br />
seiner Ankunft flugs in ein "revolutionäres Komitee" verwan<strong>de</strong>lt. Am 14. September wird das Stadthaus<br />
erobert. Eine Proklamation, die auch Bakunins Unterschrift trägt, erklärt die Abschaffung von Staat,<br />
Steuern und Zinsen und ruft zu einer "Fö<strong>de</strong>ration revolutionärer Kommunen" auf. Unter <strong>de</strong>m Feuer <strong>de</strong>r<br />
Nationalgar<strong>de</strong> bricht dieser Aufstand ebenso rasch zusammen wie die vielen an<strong>de</strong>ren schlecht<br />
organisierten coups ohne ausreichen<strong>de</strong> Basis, an <strong>de</strong>nen er zuvor teilgenommen hatte. Bakunin wird<br />
gefangen, aber seine franctireurs* hauen ihn wie<strong>de</strong>r raus, und er kann in die<br />
204<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Schweiz entkommen. Er dürfte kaum geahnt haben, welcher an<strong>de</strong>ren Gefahr er entronnen war, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r<br />
Zar hatte die Preußen gebeten, Bakunin zu verhaften, falls er ihnen in Frankreich in die Hän<strong>de</strong> fiele. Otto<br />
von Bismarck ließ <strong>de</strong>m russischen Gesandten antworten: "Unsere Aufmerksamkeit ist bereits auf die<br />
genannte Person gerichtet, und wir wer<strong>de</strong>n, sobald sie in unsere Hän<strong>de</strong> fällt, sie in Haft halten und<br />
Mitteilung nach Petersburg machen."<br />
Bakunins Gesundheitszustand war inzwischen be<strong>de</strong>nklich gewor<strong>de</strong>n. Ruhelos zieht er in <strong>de</strong>r Schweiz<br />
umher, immer auch, wie sein ganzes Leben lang, von finanziellen Sorgen gedrückt. In nie<strong>de</strong>rgeschlagener<br />
Stimmung verbringt er <strong>de</strong>n Winter schreibend in Locarno. Als ihn im Frühjahr erste Nachrichten von <strong>de</strong>r<br />
Pariser Commune erreichen, flackert trotz aller Skepsis seine Hoffnung wie<strong>de</strong>r auf, und er begibt sich für<br />
alle Fälle an die französische Grenze. Er ist aber zu krank zum Reisen und erfährt bald, daß auch dieser<br />
Aufstand, <strong>de</strong>r diesmal tatsächlich von <strong>de</strong>r Masse <strong>de</strong>r Bevölkerung getragen war, nach zwei Monaten<br />
erbittertem Wi<strong>de</strong>rstand besiegt wur<strong>de</strong>.<br />
1873 zieht sich Bakunin aus <strong>de</strong>r Politik zurück. Er ist alt, verbraucht, krank und enttäuscht. Er verläßt die<br />
Internationale und will sich nur noch <strong>de</strong>m Schreiben widmen. Marxens Verleumdungen haben seinem<br />
Ruf gescha<strong>de</strong>t, und noch immer fällt <strong>de</strong>r Schatten einer Affäre auf ihn, in die er sich knapp vier Jahre<br />
zuvor in unglaublicher Einfalt und mit <strong>de</strong>m für ihn typischen blin<strong>de</strong>n Vertrauen selbst hineinlaviert hatte:<br />
<strong>de</strong>r ›Affäre Netschajew‹.<br />
Verrat an <strong>de</strong>r Seele: Die Affäre Netschajew<br />
Im Frühjahr 1869 war bei Bakunin ein junger Mann aufgetaucht, <strong>de</strong>r sich als Delegierter <strong>de</strong>s Moskauer<br />
Komitees einer "großen russischen<br />
Geheimgesellschaft" ausgab. Dieser Sergej Netschajew berichtete von konspirativen Netzen und Scharen<br />
opferbereiter Jugendlicher, die nur darauf warteten, ihr Leben <strong>de</strong>r Revolution zu weihen. In Wirklichkeit<br />
hatte er sich in oppositionellen Stu<strong>de</strong>ntenkreisen bewegt, ein bißchen <strong>de</strong>n Verschwörer gespielt und sich<br />
die krause Theorie eines gna<strong>de</strong>nlos harten Revolutionärstums zurechtgelegt, die er aus Babeuf,<br />
Buonarotti, Bakunin und <strong>de</strong>m "Kommunistischen Manifest" von Marx und Engels <strong>de</strong>stilliert hatte. Von<br />
<strong>de</strong>m legendären Bakunin erhoffte er sich Prestige und Hilfe, konkret wollte er Geld, Ausweise,<br />
Propagandamaterial. Bakunin war von <strong>de</strong>m mit ungewöhnlicher Suggestivkraft begabten jungen Mann<br />
begeistert und griff die vermeintlich guten Nachrichten aus Rußland mit <strong>de</strong>rselben naiven Hoffnung auf,<br />
wie er das bei allem tat, was nach Revolution roch. Mehr noch - er scheint an <strong>de</strong>m Asketen mit <strong>de</strong>n<br />
märtyrerhaften Allüren einen Narren gefressen zu haben. Möglicherweise projizierte er in <strong>de</strong>n jungen<br />
Hel<strong>de</strong>n auch die Enttäuschung <strong>de</strong>s alten Revoluzzers, und band all seine Hoffnungen an das Phantom<br />
jener angeblichen Organisation. Je<strong>de</strong>nfalls unterstützte er ihn bei <strong>de</strong>r Herstellung einer Reihe von<br />
Broschüren, die sich an die Jugend, an die Offiziere und an die Stu<strong>de</strong>nten wandten. Sie erschienen En<strong>de</strong><br />
1869, um nach Rußland geschmuggelt zu wer<strong>de</strong>n. Eine davon, die "Prinzipien <strong>de</strong>r Revolution", liest sich<br />
wie ein Horrormanual; "Gift, Dolch, Strick – die Revolution rechtfertigt alle Mittel ohne Unterschied".<br />
Ihre Bot-<br />
205
--------------------------------------------------------------------------------<br />
schaft besteht darin, daß die Revolution ein hehres Ziel sei, das je<strong>de</strong>s Mittel heilige und je<strong>de</strong>s Opfer<br />
verlangen dürfe. Sie erkenne "keine an<strong>de</strong>re Tätigkeit als die Sache <strong>de</strong>r Zerstörung" an. Eine unter <strong>de</strong>m<br />
Titel "Katechismus <strong>de</strong>s Revolutionärs" bekannt gewor<strong>de</strong>ne Broschüre listet die "Regeln, nach <strong>de</strong>nen sich<br />
<strong>de</strong>r Revolutionär richten muß" auf. Ihr zufolge müsse eine Elite von "Geweihten" das Volk führen. Ein<br />
Revolutionär dürfe keine menschlichen Regungen entwickeln, und habe emotionslos und gehorsam <strong>de</strong>r<br />
Sache zu dienen. Eine solche Mischung aus macchiavellischer Kälte und jesuitischem Fanatismus<br />
wi<strong>de</strong>rspricht vollständig <strong>de</strong>m, was Bakunin sein Leben lang vertrat und lebte. Die Autorenschaft <strong>de</strong>r<br />
Broschüren wur<strong>de</strong> nie geklärt. Fest steht, daß Netschajew es geschickt verstand, zu suggerieren, Bakunin<br />
sei <strong>de</strong>r Autor. Gewisse Re<strong>de</strong>wendungen sind so ein<strong>de</strong>utig seinem Stil entlehnt, daß noch heute<br />
Nachdrucke und Übersetzungen unter Bakunins Namen kursieren. Fest steht ferner, daß Bakunin sich im<br />
Juni 1870 in einem Brief vom Umfang eines Taschenbuchs von Netschajew distanzierte und <strong>de</strong>n Inhalt<br />
dieser Traktate gehörig auseinan<strong>de</strong>rnahm. Sein Fazit: Die Gedanken <strong>de</strong>s "furchtbaren Ehrgeizlings" seien<br />
"für <strong>de</strong>n Leib einzig und allein Gewalt, für die Seele die Lüge". Aber da war es schon zu spät. Inzwischen<br />
nämlich war Netschajew mit <strong>de</strong>m brisanten Material nach Moskau gereist, um Zellen aufzubauen. Er<br />
agiert im Namen eines geheimnisvollen Zentralkomitees; ein von Bakunin unterschriebener Ausweis<br />
verschafft ihm Autorität. Als ein Genösse Verdacht schöpft und die Existenz <strong>de</strong>r Organisation anzweifelt,<br />
wird er "als Verräter verurteilt" und hingerichtet. Die Gruppe fliegt auf, Netschajew kann fliehen und<br />
mel<strong>de</strong>t sich erneut bei Bakunin, ohne die Vorfälle auch nur zu erwähnen. Erneut dringt er in <strong>de</strong>n alten<br />
Mann, sich nunmehr ganz "in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>r Sache zu stellen". Es kam jedoch zu keinen weiteren<br />
Netschajewschen Projekten mehr, <strong>de</strong>nn wenig später wur<strong>de</strong> er verhaftet und an Rußland ausgeliefert –<br />
seine Moskauer Machenschaften wur<strong>de</strong>n publik. Erst jetzt ging Bakunin gänzlich auf, mit wem und auf<br />
was er sich da eingelassen hatte. Zu spät, <strong>de</strong>nn mittlerweile war <strong>de</strong>r große, legendäre Revolutionär in<br />
weiten Kreisen als Menschenverachter diffamiert und als Abenteurer verspottet. Es war auch kaum mehr<br />
zu verhin<strong>de</strong>rn, daß diese Eskapa<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Anarchismus angelastet wur<strong>de</strong>n.<br />
Netschajew wur<strong>de</strong> abgeurteilt und starb 1882 an Skorbut und Unterernährung im Gefängnis. Für viele<br />
wur<strong>de</strong> er zum Märtyrer und Hel<strong>de</strong>n. Nicht wenige, die in späteren Jahren die sogenannte "Propaganda <strong>de</strong>r<br />
Tat" praktizierten, griffen auf jene Schriften zurück, mit <strong>de</strong>ren Hilfe es ein leichtes war, einem<br />
gewöhnlichen Raubmord ein ›anarchistisches‹ Etikett aufzukleben.<br />
Kein Hel<strong>de</strong>ntod<br />
In seinen Schweizer Jahren, <strong>de</strong>n letzten seines Lebens, entstan<strong>de</strong>n Bakunins wichtigste Schriften, die fast<br />
alle fragmentarisch bleiben, und von <strong>de</strong>nen etliche erst nach seinem To<strong>de</strong> gedruckt wur<strong>de</strong>n. Er erlebte<br />
aber noch, welche positive Aufnahme manche von ihnen fan<strong>de</strong>n. "Staatlichkeit und Anarchie" wur<strong>de</strong> in<br />
hoher Auflage nach Rußland geschmuggelt und übte starken Einfluß auf die Narodniki* aus. Die<br />
"Antwort eines Internationalisten an<br />
206<br />
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Mazzini" führte in Italien zu einer regelrechten Beitrittswelle in die Internationale. In Spanien kam es im<br />
Sommer 1873 zu einer Serie von Generalstreiks und Erhebungen, <strong>de</strong>ren Urheber die junge Sektion <strong>de</strong>r<br />
Internationale war.<br />
Bakunins Saat ging an vielen Orten auf, und die Bewegung hatte talentierten Nachwuchs hervorgebracht.<br />
Er hätte sich getrost auf das Landgut La Baronata zurückziehen können, das ihm ein junger Anhänger,<br />
Carlo Cafiero, zur Verfügung gestellt hatte. Eigentlich hatte er auch vor, nur noch zu schreiben und sich<br />
zu schonen, und er begann sogar, im Garten mit Obstkulturen zu experimentieren. Aber wie<strong>de</strong>r einmal<br />
zog ihn die Nachricht von einem geplanten Aufstand ins Ausland - zum letzten Mal.<br />
In Bologna war für <strong>de</strong>n Juli 1874 ein Aufstand vorbereitet, <strong>de</strong>r auf ganz Norditalien übergreifen sollte und
ei <strong>de</strong>m Republikaner, Mazzini-Anhänger und Anarchisten gemeinsame Sache machen wollten. Bakunin<br />
reiste in die Stadt, um sich <strong>de</strong>r Erhebung anzuschließen. Der politisch nicht einmal so abwegige Plan<br />
wur<strong>de</strong> allerdings schon im Vorfeld verraten und war, wie üblich, nur mangelhaft geplant. Die von<br />
mehreren Seiten anrücken<strong>de</strong>n Kolonnen wur<strong>de</strong>n nach kurzen Scharmützeln vom Militär zerstreut, und das<br />
Unternehmen daraufhin abgeblasen. Bakunin mußte fliehen - zu seiner großen Schmach in <strong>de</strong>r<br />
Verkleidung eines Priesters.<br />
Als ihm die Nachricht vom Zusammenbruch <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s überbracht wur<strong>de</strong>, wollte er sich eine Kugel<br />
in <strong>de</strong>n Kopf schießen, weil es ihm nicht vergönnt war, im revolutionären Tumult zu sterben. Es scheint,<br />
daß <strong>de</strong>r große alte Mann <strong>de</strong>r Revolte nur nach Bologna gefahren war, um dort <strong>de</strong>n Tod zu suchen. Der<br />
ereilte ihn in Form <strong>de</strong>r Wassersucht, die er sich Jahre zuvor im Kerker geholt hatte, am 1. Juli 1876 im<br />
Hospital eines befreun<strong>de</strong>ten Arztes in Bern.<br />
Philosophie <strong>de</strong>r Dynamik<br />
"Bakunin", so sagte sein Freund Herzen einmal, "hielt <strong>de</strong>n ersten Monat <strong>de</strong>r Schwangerschaft für <strong>de</strong>n<br />
neunten". Diese Anspielung trifft ziemlich genau das, was ihm immer wie<strong>de</strong>r vorgehalten wur<strong>de</strong>: seine<br />
revolutionäre Ungeduld‹. Bei Bakunin mußte immer alles heute, hier und sofort geschehen. Es läge nahe<br />
zu vermuten, daß auch seine anarchistische Philosophie die Handschrift eines Hau-Ruck-Revolutionärs<br />
trüge. Das stimmt aber nur bedingt. Es erstaunt zu sehen, daß Bakunin offenbar differenzierter dachte als<br />
er han<strong>de</strong>lte. Verän<strong>de</strong>rung sieht auch er als einen komplexen Prozeß, in <strong>de</strong>m sich Evolution und<br />
Revolution ablösen: "Wir fallen in die Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Evolution zurück, das heißt in die <strong>de</strong>r unterirdischen,<br />
unsichtbaren und oft selbst unfühlbaren Revolution", schrieb er 1875 an "einen Freund Elisée Reclus.<br />
Warum aber ist er dann so atemlos herumgewirbelt, pausenlos bemüht, <strong>de</strong>n revolutionären Umsturz<br />
herbeizuführen?<br />
Bakunins Philosophie ist eine Philosophie <strong>de</strong>r Dynamik. In sie setzte er ein fast unbegrenztes Vertrauen.<br />
Ihm war klar, daß alles schöne Re<strong>de</strong>n, Schreiben und Denken — die "Philisterei", wie er es nannte —,<br />
solange nichts konkret än<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong>, wie das gegenwärtige<br />
207<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
System nicht erschüttert und zu Fall gebracht wäre. Das könne nur durch Taten geschehen. Und solche<br />
Taten wür<strong>de</strong>n, sofern sie von unterdrückten Menschen getragen wären, sich schon irgendwie in Richtung<br />
Freiheit entwickeln. Deshalb war Bakunin bei <strong>de</strong>r Auswahl <strong>de</strong>r sozialen Bewegungen, <strong>de</strong>nen er sich<br />
anschloß, nie sehr wählerisch. Entschei<strong>de</strong>nd schien ihm einzig die Aussicht auf Dynamik, die einen<br />
Prozeß in Gang setzen könnte, fähig, die gegenwärtige Ordnung zu ›zerstören‹. Erst dann könne wirklich<br />
Neues entstehen. Daß dies dann auch geschehen wür<strong>de</strong>, davon war Bakunin in einem zwar sympathischen<br />
aber auch blin<strong>de</strong>n Optimismus felsenfest überzeugt.<br />
Plausibel machen konnte er diesen Glauben an die ›spontane Schöpfungskraft <strong>de</strong>r Massen‹ zeitlebens<br />
nicht — we<strong>de</strong>r praktisch noch theoretisch. Man darf ihm vorhalten, daß er das Problem <strong>de</strong>s Heranreifens<br />
einer revolutionären Situation - also das diffizile Wechselspiel zwischen <strong>de</strong>r Möglichkeit eines<br />
Umsturzes, <strong>de</strong>m Wunsch <strong>de</strong>r Menschen nach einer radikalen Verän<strong>de</strong>rung und ihrer tatsächlichen<br />
kreativen Fähigkeit zu einer Erneuerung - zu leicht genommen hat. Aber solch ein Vorwurf wäre aus<br />
heutiger Sicht ziemlich selbstgerecht. Erstens, weil die Bewegung noch arm an praktischer Erfahrung war.<br />
Es sollte noch fünfundzwanzig Jahre dauern, bis dieses Problem eine theoretisch wie praktisch<br />
befriedigen<strong>de</strong> Lösung fand, die jedoch ohne die Grundlagen, die Bakunin legte, kaum möglich gewesen<br />
wäre. Zweitens, weil <strong>de</strong>r Gedanke, <strong>de</strong>n han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Menschen und <strong>de</strong>r Kraft ihrer Dynamik überhaupt<br />
einen Wert einzuräumen, neu und von großer Wichtigkeit war.<br />
Alle vorherigen Libertären — mit Ausnahme Stirners, <strong>de</strong>r sich dafür sowieso nicht interessierte — hatten
eher versucht, Baupläne eines künftigen Paradieses zu erstellen. Die I<strong>de</strong>e, daß die Revolution selbst<br />
ungeahnte kreative Kräfte freisetzen könnte, daß ganz einfache Menschen, die we<strong>de</strong>r etwas von<br />
Philosophie, Ökonomie noch Politik verstün<strong>de</strong>n, die Schöpfer <strong>de</strong>r neuen Ordnung sein sollten, diese I<strong>de</strong>e<br />
ist neu, und es war Bakunin, <strong>de</strong>r sie lautstark und polternd eingeführt hat. Eine solche These ist ja nun<br />
we<strong>de</strong>r ›falsch‹ noch ›richtig‹, son<strong>de</strong>rn ein Teil <strong>de</strong>r komplexen Faktoren, nach <strong>de</strong>nen soziale<br />
Umwälzungen ablaufen. Möglich, daß Bakunin zu einseitig darauf herumgeritten ist und von ihr wahre<br />
Wun<strong>de</strong>r erwartete, aber seither ist "die Spontaneität <strong>de</strong>r Massen" je<strong>de</strong>nfalls ein fester Bestandteil<br />
anarchistischer Szenarien. Sie ist ein äußerst wirksames Gegengift gegen alle Arten ehrgeiziger<br />
Beglückungstheoretiker, von <strong>de</strong>nen Bakunin mit Recht fürchtet, daß sie nach <strong>de</strong>r Revolution die ersten<br />
sein wür<strong>de</strong>n, eine neue Herrschaft zu begrün<strong>de</strong>n — und sei es, im Namen <strong>de</strong>r Freiheit, <strong>de</strong>s Fortschritts<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Vernunft. "Nehmt <strong>de</strong>n radikalsten Revolutionär und setzt ihn auf <strong>de</strong>n Thron aller Reussen",<br />
schreibt Bakunin, "und nach einem Jahr wird er schlimmer als <strong>de</strong>r Zar gewor<strong>de</strong>n sein". Sein Fazit: eine<br />
Gesellschaft ohne Thron.<br />
In diesem Zusammenhang erscheint auch Bakunins ›Zerstörungswahn‹ in einem an<strong>de</strong>ren Licht. Man hat<br />
ihm vorgeworfen, ein ›Kaputtschlag-Revolutionär‹ zu sein. Dabei geht es ihm, wenn er von "zerstören"<br />
spricht, um ein radikales En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r gegenwärtigen sozialen Werte. Er wolle, so sagt er, keinen Krieg gegen<br />
Menschen, son<strong>de</strong>rn gegen "Positionen und Dinge", die er auch konkret benennt: Grenzen, Heere, Pässe,<br />
Zölle, Erbrecht - das sind für ihn rote Tücher. Seine Gegner heißen Staat, Kapital und Kirche. Man dürfe<br />
diese Dinge<br />
208<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
nicht in eine neue Ordnung einbauen, da sie <strong>de</strong>n Keim <strong>de</strong>r alten Ordnung in sich trügen. Erst wenn sie<br />
überwun<strong>de</strong>n seien, aus <strong>de</strong>m "Amorphismus" also, könne wirklich Neues entstehen. Daher wäre es<br />
gera<strong>de</strong>zu ein "Verbrechen", schon heute genaue Pläne für die künftige Gesellschaft zu erstellen.<br />
Skizzen einer freien Gesellschaft<br />
An<strong>de</strong>rerseits war es auch Bakunin völlig klar, daß eine Revolution ohne Zielvorstellungen ebenso<br />
"verbrecherisch" wäre. Im Gegensatz zu seinem Image ist seine Philosophie nämlich stellenweise<br />
ausgesprochen konstruktiv. Der Unterschied zu an<strong>de</strong>ren Theoretikern liegt vor allem darin, daß er bewußt<br />
vieles offen läßt und damit Spielraum für Möglichkeiten bietet, die heute noch gar nicht vorstellbar sind:<br />
Raum für Spontaneität.<br />
Für Bakunin heißt das Ziel einer neuen Gesellschaft "Freiheit". Die sollte absolut für alle mündigen<br />
Menschen gelten und frei von Dogmen sein. Je<strong>de</strong> Art "sozialistischer Religion" lehnt er ab. Für ihn ist es<br />
übrigens schon selbstverständlich, daß die Frau, <strong>de</strong>ren beson<strong>de</strong>re Qualitäten er immer wie<strong>de</strong>r hervorhebt,<br />
die gleichen Rechte haben müsse wie <strong>de</strong>r Mann. Freiheit be<strong>de</strong>ute das Recht auf autonomes Han<strong>de</strong>ln.<br />
Verantwortlich sei das autonome Individuum dabei zunächst gegenüber sich selbst, das heißt, seinem<br />
Gewissen und seiner Vernunft, und dann gegenüber <strong>de</strong>r Gesellschaft - aber nur in <strong>de</strong>m Maße, wie es ihr<br />
freiwillig angehört. Geschickt verknüpft Bakunin individuelles Glück mit gesellschaftlicher Freiheit: Man<br />
könne nur dann wirklich frei sein, wenn auch die Menschen drumherum die gleiche Freiheit genießen<br />
könnten. Das soziale Umfeld wird hiermit zur Voraussetzung persönlicher Freiheiten, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r einzelne<br />
Mensch alleine in <strong>de</strong>r Natur ist alles an<strong>de</strong>re als frei. Bakunin zweifelt nicht daran, daß <strong>de</strong>r Mensch ein<br />
soziales Wesen ist und in <strong>de</strong>r Regel stets dazu tendiert, das Leben in Gesellschaft vorzuziehen. In <strong>de</strong>r<br />
Anarchie allerdings hätte er zu einer wirklichen Wahl erstmals die Gelegenheit, <strong>de</strong>nn hier gäbe es<br />
verschie<strong>de</strong>ne Alternativen. Bakunin spricht von "autonomen Gemein<strong>de</strong>n", die sich auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r<br />
"Provinz" in "freiwilliger Fö<strong>de</strong>ration" zusammenschließen können. Je<strong>de</strong> Administration, Struktur und<br />
Entscheidungsfindung müsse dabei "von unten nach oben, von <strong>de</strong>r Peripherie zum Zentrum" erfolgen.<br />
Freiheit aber bliebe ohne wirtschaftliche Gerechtigkeit ein leeres Wort. Daher will Bakunin "Gleichheit" –<br />
nicht <strong>de</strong>r Menschen, son<strong>de</strong>rn ihrer Chancen und Rechte. Klassen, Rangordnungen und Privilegien<br />
gehörten abgeschafft. Ausgehend von Proudhon for<strong>de</strong>rt er, daß <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n Eigentum aller sein solle, aber
im Besitz <strong>de</strong>rjenigen bliebe, die ihn bearbeiten. Bis hin zur Erziehung und <strong>de</strong>m Umgang mit Straftätern<br />
macht sich <strong>de</strong>r angebliche Feind aller Pläne so seine Gedanken. Allerdings will er sie nur als Vorschläge<br />
verstan<strong>de</strong>n wissen. Entschei<strong>de</strong>n wird, da macht er keine Abstriche, in je<strong>de</strong>m Fall "das Volk".<br />
Die anarchistische Gesellschaft Bakuninscher Prägung beruht nicht nur auf <strong>de</strong>r Gleichheit <strong>de</strong>r Rechte,<br />
son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>r Pflichten. Obwohl das Individuum sich frei und lustvoll entfalten können soll, läßt<br />
Bakunin keinen Zweifel daran, daß für ihn die gesellschaftliche Gruppe die Basis <strong>de</strong>s sozialen Lebens ist.<br />
Nur in <strong>de</strong>r Gesellschaft wer<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Mensch zum<br />
209<br />
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Menschen. Das "Kollektiv" ist Garant <strong>de</strong>r Freiheiten und Rechte eines je<strong>de</strong>n, hat aber auch eigene Rechte.<br />
Also müsse auch je<strong>de</strong>r Mensch, <strong>de</strong>r sich einer Gesellschaft anschließt, dieser seiner Gesellschaft dienen.<br />
Nur in <strong>de</strong>m Maße könne er von ihr eine Gegenleistung erwarten. Alle erwachsenen und gesun<strong>de</strong>n<br />
Menschen sollten zur Arbeit angehalten wer<strong>de</strong>n, und nur gemäß ihren Leistungen hätten sie Anspruch auf<br />
die Früchte <strong>de</strong>r Arbeit. Das Recht einer Gesellschaft, sich durch Ausschluß vor "Parasiten" zu schützen,<br />
wird ausdrücklich erwähnt. All das erinnert stark an die sozial-juristische Rechtfertigung gewöhnlicher<br />
Staaten in ihrem Anspruch auf Loyalität. Es klingt, etwas überspitzt interpretiert, nach <strong>de</strong>m recht<br />
unanarchistischen Satz "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen". So ist es aber nicht zu verstehen, <strong>de</strong>nn<br />
bei aller Ähnlichkeit gibt es zwei entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Unterschie<strong>de</strong>. Zum einen muß dieser Standpunkt als eine<br />
nur zu verständliche Reaktion auf die parasitäre Lebensweise <strong>de</strong>s A<strong>de</strong>ls und <strong>de</strong>s Bürgertums verstan<strong>de</strong>n<br />
wer<strong>de</strong>n, die ohne entsprechen<strong>de</strong> Leistung auf Kosten <strong>de</strong>r Ärmsten in exuberantem* Überfluß lebten. Zum<br />
an<strong>de</strong>ren stand dahinter die Überzeugung, daß eine Gesellschaft nur dann ausreichend Waren und<br />
Lebensmittel produzieren könne, wenn alle Menschen fleißig zupackten. Das "Recht auf Faulheit" wird<br />
nicht <strong>de</strong>shalb verwehrt, weil es unmoralisch wäre, son<strong>de</strong>rn weil Bakunin vermutet, daß sich die<br />
Gesellschaft dieses Recht einfach nicht leisten könne. Eine Sichtweise, für die man bei <strong>de</strong>m niedrigen<br />
Produktivitätsgrad und <strong>de</strong>r geringen technischen Entwicklung Mitte <strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rts Verständnis<br />
aufbringen muß.<br />
Diese Sichtweise einer anarchistischen Gesellschaft wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n libertären Theorie<strong>de</strong>batten späterer<br />
Jahre als "kollektivistischer Anarchismus" bekannt, und man stellte sie in Gegensatz zum<br />
"kommunistischen Anarchismus", <strong>de</strong>ssen Vertreter Peter Kropotkin war. Der allerdings konnte die<br />
Entwicklung <strong>de</strong>r Produktivität schon viel optimistischer einschätzen, <strong>de</strong>nn er war einige Jahrzehnte jünger<br />
und glaubte als Wissenschaftler außer<strong>de</strong>m an <strong>de</strong>n technischen Fortschritt. So proklamierte er guten<br />
Gewissens das Recht eines je<strong>de</strong>n Mitglieds <strong>de</strong>r Gesellschaft auf ein menschenwürdiges Auskommen,<br />
unabhängig von seiner Leistung.<br />
Es darf bezweifelt wer<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r Unterschied zwischen <strong>de</strong>n Mo<strong>de</strong>llen dieser bei<strong>de</strong>n Anarchisten so<br />
be<strong>de</strong>utend war, wie er oft dargestellt wird. Vielleicht hat die anarchistische Scholastik* hier ein wenig<br />
über die Stränge geschlagen und einen etwas künstlichen Gegensatz aufgebaut, <strong>de</strong>r lange Zeit für<br />
fruchtlose Spitzfindigkeiten sorgte. Je<strong>de</strong>nfalls kann man <strong>de</strong>m alten Bakunin kaum unterstellen, daß sein<br />
"kollektivistischer Anarchismus" die Vision einer Art Zwangsarbeiterkolonie war, wenn man Sätze wie<br />
die folgen<strong>de</strong>n liest, die er 1865 am Golf von Neapel schrieb:<br />
"Die Freiheit je<strong>de</strong>s mündigen Individuums, Mann o<strong>de</strong>r Frau, muß absolut und vollständig sein; Freiheit,<br />
zu gehen und zu kommen, laut je<strong>de</strong> Meinung auszusprechen, faul o<strong>de</strong>r fleißig, unmoralisch o<strong>de</strong>r<br />
moralisch zu sein, mit einem Wort: über die eigene Person und <strong>de</strong>n eigenen Besitz nach Belieben zu<br />
verfügen, ohne jeman<strong>de</strong>m Rechenschaft abzulegen: Freiheit, ehrlich zu leben durch eigene Arbeit o<strong>de</strong>r<br />
durch schimpfliche Ausbeutung <strong>de</strong>r Wohltätigkeit o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s privaten Vertrauens, sobald bei<strong>de</strong> freiwillig<br />
sind und nur von<br />
210
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Erwachsenen gespen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. (...) Die Freiheit kann und soll sich nur durch die Freiheit verteidigen,<br />
und es ist ein gefährlicher Wi<strong>de</strong>rsinn, sie zu beeinträchtigen unter <strong>de</strong>m durch <strong>de</strong>n Schein blen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Vorwand, sie zu beschützen."<br />
Literatur<br />
/ Michail Bakunin: Gesammelte Werke (3 B<strong>de</strong>) Berlin 1975 (1923), Karin Kramer, 311, 285 u. 278 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.; Staatlichkeit und Anarchie u.a. Schriften (Hrsg. u. eingeleitet v. <strong>Horst</strong> Stuke) Frankfurt, Berlin,<br />
Wien 1972, Ullstein, 885 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Gott und <strong>de</strong>r Staat u.a. Schriften (Hrsg. v. Susanne Hillmann) Reinbek 1969, Rowohlt, 24; S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Philosophie <strong>de</strong>r Tat (Textsammlung, Hrsg. v. Rainer Beer) Köln 1968, Hegner, 382 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Sozialpolitischer Briefwechsel Berlin 1977, Kann Kramer, 489 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs: Schriften gegen Marx (Textsammlung) Hannover 1981, Die Freie Gesellschaft, 82 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Freiheit und Sozialismus (3 Aufsätze) Berlin 1978, Libertad, 28 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Die Reaktion in Deutschland Hamburg 1984, Naualus/Nemo, 64 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Die vollständige Ausbildung Köln 1976, Heinzelpress, 25 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Die Berner Bären und <strong>de</strong>r Bär von Petersburg Zürich 1970, Die Arche, 55 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Revolutionärer Katechismus Osnabrück o.J. (197.1?), Autonomes Jugendzentrum, 20 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: "Gewalt für <strong>de</strong>n Körper, Verrat für die Seele" - ein Brief an Sergej Netschajew Berlin 1980, Karin<br />
Kramer, 126 S., ill. (darin enthalten: Sergej Netschajew[?]: Prinzipien <strong>de</strong>r Revolution)<br />
/ Justus Franz Wittkop: Bakunin Reinbek 1974, Rowohlt, (rororo Bildmonographie), 147 S., ill.<br />
/ Fritz Brupbacher: Bakunin, <strong>de</strong>r Satan <strong>de</strong>r Revolte Berlin 1979, Libertad, 111 S.<br />
/ Arthur Lehning (Hrsg.): Unterhaltungen mit Bakunin Nördlingen 1987, Greno, 451 S., ill.<br />
/ Josef Pfitzner: Bakunin-Studien Berlin 1977, Karin Kramer, 244 S.<br />
/ Ricarda Huch: Michael Bakunin und die Anarchie Frankfurt/M. 1972, Suhrkamp, 259 S.<br />
/ Riccardo Bacchelli: Der Teufel auf <strong>de</strong>m Pontelungho Zürich 1972, Manesse, 542 S.<br />
/ <strong>Horst</strong> Bienek: Bakunin, eine Invention München 1970, Hanser, 93 S.<br />
/ Herbert Wehner: Bakunin führt zum Sieg! Frankfurt/M. 1970 (1923/24), Freie Gesellschaft, 16 S.<br />
211<br />
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Kapitel 25<br />
Ein folgenschwerer Streit:<br />
die Spaltung <strong>de</strong>r Ersten Internationale<br />
Wie aber sollte eine egalitäre und freie Gesellschaft aus einer<br />
autoritären Organisation hervorgehen? Das ist unmöglich.<br />
- Zirkular <strong>de</strong>r Jura-Fö<strong>de</strong>ration -<br />
ES IST OFFENSICHTLICH, daß bis heute eine Befreiung <strong>de</strong>r Menschheit nicht stattgefun<strong>de</strong>n hat. Die<br />
vielen erheben<strong>de</strong>n Theorien sozialen Lebens blieben letztendlich Luftschlösser. Die libertären Versuche<br />
wur<strong>de</strong>n zerschlagen, die autoritären gingen an sich selbst zugrun<strong>de</strong>. Dabei hätten gera<strong>de</strong> sie die<br />
Gelegenheit gehabt, sich zu entwickeln, <strong>de</strong>nn immerhin genossen sie – etwa in Rußland – siebzig Jahre<br />
lang genügend Unabhängigkeit zu ihrer freien Entfaltung. Sie scheiterten nicht, weil sie von Fein<strong>de</strong>n<br />
bedroht wor<strong>de</strong>n wären, son<strong>de</strong>rn – eben – weil sie durch und durch autoritär waren. Im Kommunismus<br />
sowjetischer Prägung gab es keine Freiheit, und die Menschen hatten nichts zu mel<strong>de</strong>n. "Sozialismus" war<br />
reduziert auf Phrasen, Gleichmacherei und täglichen Mangel. Der Nie<strong>de</strong>rgang dieses Systems kam<br />
schleichend, grau und unspektakulär: die Menschen machten nicht mehr mit, das schwindsüchtige<br />
Phantom brach zusammen.
Heute sind viele Menschen geneigt, darin <strong>de</strong>n Beweis zu sehen, daß soziale Utopien Spinnerei sind.<br />
"Sozialismus" ist ein gebrandmarktes Wort mit <strong>de</strong>m Geschmack von vorgestern. Dabei sind die Probleme<br />
<strong>de</strong>r Menschheit nach wie vor ungelöst. Sie haben sich,<br />
211<br />
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global gesehen, sogar dramatisch verschärft. Zwar geht es heute kaum mehr um die "Emanzipation <strong>de</strong>r<br />
Arbeiterklasse", son<strong>de</strong>rn um das Überleben auf diesem Planeten, soziale Utopien jedoch sind, obwohl<br />
<strong>de</strong>rzeit außer Mo<strong>de</strong>, nötiger <strong>de</strong>nn je.<br />
Diese Hypothek, die so schwer auf <strong>de</strong>m Traum einer freien und gerechten Gesellschaft lastet, geht<br />
ein<strong>de</strong>utig auf das Konto <strong>de</strong>s autoritären Kommunismus. Es gibt einen direkten Weg von Marx zu Lenin,<br />
Stalin und Pol Pot*. So wur<strong>de</strong> die Geschichte <strong>de</strong>s Sozialismus zu einer Geschichte <strong>de</strong>r vertanen Chancen.<br />
Eine solche Tragik <strong>de</strong>s Versagens verlangt gera<strong>de</strong>zu nach <strong>de</strong>r Frage, was hätte sein können! Am Anfang<br />
war doch alles so schön klar und einfach: Die I<strong>de</strong>ale. Das Ziel. Die Utopien. Das unsägliche Elend. Die<br />
Menschen, die all das wollten: frei sein und menschenwürdig leben. Die Kraft, die daraus erwuchs.<br />
Warum wur<strong>de</strong> aus schönen Visionen eine abscheuliche Wirklichkeit? Wie hat das alles angefangen?<br />
Hätte es nicht auch an<strong>de</strong>rs kommen können?<br />
Diese Fragen führen uns zurück zu <strong>de</strong>n Wurzeln. Sie liegen in jenen Jahren, als die große Chance vertan<br />
wur<strong>de</strong>, eine gemeinsame Perspektive all jener Kräfte zu fin<strong>de</strong>n, die von <strong>de</strong>r Ellenbogengesellschaft die<br />
Nase voll hatten. Sie führt uns zurück zu jenem folgenschweren Streit, in <strong>de</strong>m sich die Erste<br />
Internationale zerzankte: <strong>de</strong>r Streit zwischen <strong>de</strong>n "Autoritären" und <strong>de</strong>n "Libertären". Ein Streit, bei <strong>de</strong>m<br />
die Weichen gestellt wur<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r all das vorwegnahm, was die Welt in <strong>de</strong>n nächsten hun<strong>de</strong>rt Jahren<br />
politisch in Atem halten sollte.<br />
"Die Arbeiter haben kein Vaterland"<br />
Die Internationale Arbeiter-Assoziation war 1864 angetreten, um Ordnung in <strong>de</strong>n sozialistischen Ursumpf<br />
zu bringen. Da gab es Arbeitervereine, Gewerkschaften, Parteien, Bün<strong>de</strong>, Theoriekreise, Schulen,<br />
Korrespon<strong>de</strong>nzclubs, Geheimzirkel, lose Gruppen, Kulturinitiativen, Konsum- und Sparvereine,<br />
Bru<strong>de</strong>rschaften von Wan<strong>de</strong>rgesellen und Turnerriegen. Es gab die großen Denker, Philosophen und<br />
Wissenschaftler - verstorbene wie leben<strong>de</strong> - mit ihrem jeweiligen Anhang: Fourier, Proudhon, Marx,<br />
Lasalle, Engels, Bakunin, Owen, Bebel, Herzen, Schulze-Delitzsch, Liebknecht, Baboeuf, Saint-Simon<br />
und wie sie alle hießen. Und die unübersehbare Masse verarmter ›Proletarier‹, die sich immer wie<strong>de</strong>r<br />
gegen ihr Elend erhoben: spontane Streiks, Sabotage, Revolten - meist gar nicht o<strong>de</strong>r nur lose organisiert,<br />
in isolierten Gruppen von kurzer Lebensdauer. Es lag auf <strong>de</strong>r Hand, diese Kräfte zu bün<strong>de</strong>ln und eine<br />
gemeinsame Linie zu fin<strong>de</strong>n - um sich zu wehren, und um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Dies mußte<br />
natürlich international geschehen. Nicht nur, weil lokale und nationale Aktionen ziemlich chancenlos<br />
gewesen wären - die Arbeiter verstan<strong>de</strong>n sich auch zunehmend als eine internationale Familie: "Wir<br />
Arbeiter haben kein Vaterland", hieß es damals.<br />
Das gemeinsame Ziel war in seinen groben Zügen nicht strittig: eine Gesellschaft mit sozialer<br />
Gerechtigkeit, ohne Klassen und Unterdrückung. Selbst über die Rolle <strong>de</strong>s Staates war man sich,<br />
zumin<strong>de</strong>st theoretisch, im Groben einig: er sollte verschwin<strong>de</strong>n und durch etwas Besseres ersetzt wer<strong>de</strong>n.<br />
Paktieren mit <strong>de</strong>m Staat und seinen Institutionen war<br />
212<br />
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verpönt. Es war eine Zeit, in <strong>de</strong>r noch kaum zwischen Sozial<strong>de</strong>mokraten, Kommunisten, Anarchisten,<br />
Fö<strong>de</strong>ralisten, Demokraten, Republikanern, Mutualisten unterschie<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>. Die Worte waren zwar<br />
schon in Gebrauch, aber sie trennten nicht. Unterm Strich waren alle schlicht "Sozialisten", und das<br />
genügte.<br />
Die wenigen Delegierten, die 1864 in London zusammenkamen, um die Internationale zu grün<strong>de</strong>n, waren<br />
britische Tra<strong>de</strong>-Unionisten und eine Gruppe französischer Sozialisten um Henry Tolain. In ihren ersten<br />
Jahren war die Organisation sehr stark von <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en Owens und Proudhons beeinflußt, was sich in ihrer<br />
Struktur nie<strong>de</strong>rschlug: Die einzelnen Sektionen genossen eine starke Autonomie, ihr Zusammenhalt war<br />
fö<strong>de</strong>ralistisch organisiert; <strong>de</strong>r Schwerpunkt lag auf sozialen Kämpfen, nicht auf <strong>de</strong>r politischen Eroberung<br />
<strong>de</strong>r Macht. Die Leitung <strong>de</strong>r Internationale sollte kein Zentralapparat mit diktatorischer Vollmacht sein,<br />
son<strong>de</strong>rn eher ein Korrespon<strong>de</strong>nz- und Verbindungssekretariat. Auf <strong>de</strong>n periodisch stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Kongressen war das Stimmrecht <strong>de</strong>r Delegierten entsprechend <strong>de</strong>r Größe ihrer Sektionen bemessen. Karl<br />
Marx, <strong>de</strong>r schon früher versucht hatte, ein Koordinationsbüro aufzuziehen, war von Anfang an dabei und<br />
übernahm rasch eine führen<strong>de</strong> Rolle. Er wur<strong>de</strong> Sekretär <strong>de</strong>s Generalrates <strong>de</strong>r Internationale, <strong>de</strong>ren Sitz in<br />
London lag. Die Organisation bekam rasch Zulauf. Überall wo die Industrialisierung vorangeschritten<br />
war, bil<strong>de</strong>ten sich Sektionen. So entstand in <strong>de</strong>n meisten europäischen und einigen amerikanischen<br />
Staaten ein organisatorischer Rahmen, in <strong>de</strong>m vereinzelte Aktionen zu einer gemeinsamen Praxis<br />
gebün<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>n.<br />
Schon früh knisterte im Gebälk <strong>de</strong>r Internationale eine unheilvolle Spannung: Immer wie<strong>de</strong>r entzün<strong>de</strong>te<br />
sich an taktischen Fragen <strong>de</strong>r Streit über <strong>de</strong>n richtigen Weg. Karl Marx und Friedrich Engels hatten die<br />
Organisation als Forum genutzt, um ihre Theorien eines "wissenschaftlichen Sozialismus" zu propagieren.<br />
Der lief auf einen sehr engen "Klassenstandpunkt" hinaus. Nur <strong>de</strong>r Proletarier sei, aufgrund <strong>de</strong>r inneren<br />
Logik historischer Gesetze, in <strong>de</strong>r Lage, eine Revolution zu machen. Dies sei nur mit Hilfe einer<br />
zentralen, proletarischen Partei möglich, die durch Wahlen die politische Macht erobern müsse.<br />
Starke, zentrale Massengewerkschaften hätten diesen Kampf durch Streiks und Aktionen zu unterstützen.<br />
Derartige Theorien fan<strong>de</strong>n vor allem in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen und österreichischen Sozial<strong>de</strong>mokratie, teilweise<br />
auch in Großbritannien Anklang - Län<strong>de</strong>rn mit fortgeschrittener Industrialisierung und einer<br />
theoriegläubigen Arbeiterschaft, die sich gerne in <strong>de</strong>r Rolle einer historisch auserwählten Klasse sah.<br />
Diese Sektionen stellten in <strong>de</strong>r Internationale zwar die Min<strong>de</strong>rheit, aber Marx konnte seine Sichtweise,<br />
die er für einzig wahr und richtig hielt, von zentraler Stelle aus wirkungsvoll verbreiten. Die meisten<br />
an<strong>de</strong>ren Sektionen teilten diesen dogmatischen Standpunkt nicht. Viele suchten einen Mittelweg zwischen<br />
<strong>de</strong>n Marxisten und <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren großen Ten<strong>de</strong>nz innerhalb <strong>de</strong>r Organisation - <strong>de</strong>n Anhängern Proudhons<br />
und Bakunins. Diese Strömung sah in <strong>de</strong>r Internationale eher ein revolutionäres Werkzeug sozialer<br />
Kämpfe, <strong>de</strong>ren Form die Arbeiter selbst bestimmen sollten. Damit waren keineswegs nur ›E<strong>de</strong>lproletarier‹<br />
im Sinne von Marx gemeint, son<strong>de</strong>rn ebenso auch Bauern, Arbeitslose, Handwerker, verarmte und<br />
entwurzelte Schichten, die Marx verächt-<br />
213<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
lieh "Lumpenproletarier" nannte, und <strong>de</strong>nen er das ›richtige Bewußtsein‹ absprach. Politische Parteien<br />
lehnten die "Antiautoritären" ab. Statt<strong>de</strong>ssen befürworteten sie direkte Aktionen, vor allem <strong>de</strong>n<br />
revolutionären Generalstreik, mit <strong>de</strong>m Ziel einer sozialen Umwälzung. Für sie durfte die Internationale<br />
schon <strong>de</strong>shalb kein Zwangsapparat sein, weil in ihren Formen bereits ein Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r künftigen<br />
Gesellschaft vorweggenommen wer<strong>de</strong>n sollte. Ein sozialistischer Embryo sozusagen. Solche I<strong>de</strong>en fan<strong>de</strong>n<br />
überwiegend in <strong>de</strong>n romanischen Län<strong>de</strong>rn Anklang: in Spanien, Italien, Frankreich und <strong>de</strong>r Westschweiz;<br />
aber auch in Belgien und Holland, einigen slawischen Län<strong>de</strong>rn und <strong>de</strong>n USA hatten sie zahlreiche<br />
Anhänger.<br />
Frei o<strong>de</strong>r nicht frei, das ist hier die Frage<br />
Zu ersten Spannungen kam es, als Bakunin und einige seiner Anhänger 1868 <strong>de</strong>r Internationale beitraten,
wobei sie sie um eine Reihe aktiver Sektionen<br />
bereicherten. In naiver Unbefangenheit schrieb Bakunin seinem carissimo amico* Marx damals: "Mein<br />
Vaterland ist jetzt die Internationale, von <strong>de</strong>r Du einer <strong>de</strong>r wichtigsten Begrün<strong>de</strong>r bist. Du siehst also,<br />
mein lieber Freund, daß ich Dein Schüler bin und stolz bin, es zu sein." Die meisten Anarchisten in <strong>de</strong>r<br />
Internationale glaubten damals, daß innerhalb <strong>de</strong>r Organisation eine ›Einheit in Vielfalt‹ möglich und<br />
nötig wäre. Aber Marx war mißtrauisch. Er, <strong>de</strong>r schon zwei Jahrzehnte darunter gelitten hatte, im<br />
Schatten <strong>de</strong>s "Dillettanten Proudhon" zu stehen, ahnte, daß <strong>de</strong>r Einfluß <strong>de</strong>s legendären Revoluzzers seine<br />
Pläne stören könnte. Vertraulich schrieb er an Engels: "Dieser Russe will offenbar Diktator <strong>de</strong>r<br />
europäischen Arbeiterbewegung wer<strong>de</strong>n. Er soll sich in Acht nehmen. Sonst wird er offiziell<br />
exkommuniziert."<br />
Es ist nicht von Interesse, hier die Schlammschlacht nachzuzeichnen, die sich in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahren<br />
zwischen Marx und Bakunin entspann, <strong>de</strong>nn in diesem Konflikt geht es nicht um Personen, um gute o<strong>de</strong>r<br />
böse Charaktere. Die bei<strong>de</strong>n Kampfhähne interessieren hier nur als Stellvertreter für die zwei gänzlich<br />
unterschiedlichen Auffassungen <strong>de</strong>ssen, was "Sozialismus" ist.<br />
Der offene Streit begann 1869 auf <strong>de</strong>m Kongreß <strong>de</strong>r Internationale in Basel und entzün<strong>de</strong>te sich an <strong>de</strong>r<br />
eher nebensächlichen Frage <strong>de</strong>r Abschaffung <strong>de</strong>s Erbrechts, <strong>de</strong>m Bakunin zum Anlaß genommen hatte,<br />
nicht nur Marx' i<strong>de</strong>ologische und politische Position anzuzweifeln, son<strong>de</strong>rn auch die Funktion <strong>de</strong>s<br />
Londoner Generalrates zu kritisieren. Marx konnte nicht zulassen, daß ›seine‹ Internationale unter <strong>de</strong>n<br />
Einfluß <strong>de</strong>r "Bakunisten" geriet. Taktisch geschickt bestimmte er <strong>de</strong>n Zeitpunkt für <strong>de</strong>n Gegenschlag.<br />
1871 berief er eine "Geheimkonferenz" nach London ein, zu <strong>de</strong>r Bakunin und seine engeren Gefolgsleute<br />
nicht eingela<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n. Die antiautoritären Delegierten blieben in <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rzahl und konnten nicht<br />
verhin<strong>de</strong>rn, daß Beschlüsse gefaßt wur<strong>de</strong>n, die ein<strong>de</strong>utig im Wi<strong>de</strong>rspruch zu <strong>de</strong>n Statuten <strong>de</strong>r<br />
Internationale stan<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen es hieß, daß "die Emanzipation <strong>de</strong>r Arbeiter das Werk <strong>de</strong>r Arbeiter<br />
selbst" sein müsse: Die Autonomie <strong>de</strong>r Sektionen und Fö<strong>de</strong>rationen wur<strong>de</strong> aufgehoben, und <strong>de</strong>r<br />
Generalrat erhielt fast diktatorische Vollmachten.<br />
214<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Überdies machte diese sogenannte "Winkelkonferenz" allen Sektionen die Bildung politischer Parteien<br />
zur Pflicht. Marx hielt damit <strong>de</strong>n Einfluß Bakunins für gebrochen. Die Beschlüsse stießen jedoch fast<br />
überall auf Murren, und bei <strong>de</strong>n Libertären auf offenen Wi<strong>de</strong>rstand. "Dringend war nun geboten", schrieb<br />
James Guillaume, "die Internationale, die als umfassen<strong>de</strong> Fö<strong>de</strong>ration von Gruppierungen (...) organisiert<br />
wor<strong>de</strong>n war, nicht durch eine kleine Clique von marxistischen (...) Sektierern absorbieren zu lassen." Die<br />
Jura-Fö<strong>de</strong>ration lehnte die Londoner Beschlüsse ab und verschickte ein Zirkular, das von Spanien, Italien,<br />
Belgien, <strong>de</strong>n meisten Sektionen Frankreichs und <strong>de</strong>r USA inhaltlich gebilligt wur<strong>de</strong>. In ihm hieß es: "Die<br />
künftige Gesellschaft darf nichts an<strong>de</strong>res sein als die Universalisierung <strong>de</strong>r Organisation, die sich die<br />
Internationale gegeben haben wird. Wir müssen also dafür sorgen, diese Organisation unserem I<strong>de</strong>al so<br />
weit wie möglich anzunähern. Wie aber sollte eine egalitäre und freie Gesellschaft aus einer autoritären<br />
Organisation hervorgehen? Das ist unmöglich. Die Internationale, Embryo <strong>de</strong>r künftigen menschlichen<br />
Gesellschaft, ist gehalten, (...) je<strong>de</strong>s Prinzip, das nach Autorität und Diktatur strebt, aus ihrem Inneren<br />
auszuschließen."<br />
Das kam einer Kriegserklärung gleich. Im Herbst 1872 wur<strong>de</strong> die Generalversammlung einberufen - in<br />
einen möglichst nördlichen Ort, weit weg von <strong>de</strong>n aufmüpfigen Südlän<strong>de</strong>rn und unerreichbar für <strong>de</strong>n mit<br />
Haftbefehl gesuchten Bakunin. In Den Haag versammelten sich 62 Männer, von <strong>de</strong>nen lediglich 22 echte<br />
Delegierte waren, 40 hingegen ausgesuchte Anhänger von Marx mit zweifelhaften Mandaten, die im<br />
Grun<strong>de</strong> nur sich selbst vertraten. Mit diesen "aus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n gestampften Delegierten", wie Engels später<br />
zugab, kam eine kommo<strong>de</strong> Mehrheit zustan<strong>de</strong>, zumal <strong>de</strong>r Generalrat festgelegt hatte, nach Anwesen<strong>de</strong>n<br />
abzustimmen und nicht nach <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>rstärke <strong>de</strong>r Sektionen. So konnte die von Marx gewünschte<br />
"Exkommunizierung" glatt über die Bühne gehen: Bakunin und Guillaume wur<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>r Internationale<br />
ausgeschlossen - mit einer ehrenrührigen Begründung, in <strong>de</strong>r kein politisches Argument genannt wur<strong>de</strong>:<br />
Bakunin sei <strong>de</strong>r Betrügerei, <strong>de</strong>r Erpressung und <strong>de</strong>r Konspiration überführt und Guillaume sein Komplize.
Der gelassene Kommentar <strong>de</strong>s alten Revolutionärs: "Das Damokles-Schwert, mit <strong>de</strong>m sie uns so lange<br />
bedroht haben, ist endlich auf unsere Häupter herabgefallen. Genaugenommen ist es gar kein Schwert,<br />
son<strong>de</strong>rn die übliche Waffe <strong>de</strong>s Herrn Marx: ein Kübel Dreck."<br />
Was nach einem Sieg für Marx aussah, war in Wirklichkeit das En<strong>de</strong> einer großen Chance. Die Einheit<br />
einer jungen, hoffnungsvollen Bewegung war <strong>de</strong>n kleinlichen Ambitionen eines intoleranten Theoretikers<br />
geopfert wor<strong>de</strong>n. Die Anarchisten organisierten sich nur eine Woche später auf <strong>de</strong>m Kongreß von St.<br />
Imier in einer eigenen Internationale, die, mit einigen Unterbrechungen, bis heute besteht und ihre<br />
Blütezeit zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Weltkriegen erlebte. Marx verlegte <strong>de</strong>n Sitz ›seines‹ Generalrates nach<br />
New York, wo die Organisation jedoch rasch zur Be<strong>de</strong>utungslosigkeit verkam. In Europa schwand ihr<br />
Einfluß, und die zuvor gegrün<strong>de</strong>ten Parteien entfalteten nunmehr in je<strong>de</strong>m Land ein von Wahlzielen<br />
bestimmtes Eigenleben. 1876 löste sich die Marxsche Rest-Internationale in Phila<strong>de</strong>lphia selbst auf.<br />
215<br />
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Parabel <strong>de</strong>r vertanen Chancen<br />
Die Be<strong>de</strong>utung dieser Spaltung als ein Lehrstück für das Scheitern <strong>de</strong>s Sozialismus im Zwanzigsten<br />
Jahrhun<strong>de</strong>n läßt sich an <strong>de</strong>r weiteren Geschichte jener "Internationalen" ablesen, die <strong>de</strong>r Ersten<br />
nachfolgten. Sie symbolisieren auf unterschiedlichste Weise, wie die Saat <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Hauptelemente <strong>de</strong>s<br />
Marxismus aufging: reformistische Sozial<strong>de</strong>mokratie und autoritärer Kommunismus. 1889 regten<br />
<strong>de</strong>utsche Sozial<strong>de</strong>mokraten die Zweite Internationale an, die in Paris gegrün<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong> und im Ersten<br />
Weltkrieg auseinan<strong>de</strong>rbrach, weil die staatsfixierten Sozial<strong>de</strong>mokraten trotz ihres theoretischen<br />
Internationalismus die Arbeiter ins große Völkermor<strong>de</strong>n schickten. Sie wur<strong>de</strong> 1923 in Brüssel reanimiert*<br />
und ging 1940, im nächsten Weltkrieg, erneut unter. In Frankfurt wur<strong>de</strong> 1951 die kreuzbrave und<br />
lammfromme Sozialistische Internationale gegrün<strong>de</strong>t. Sie gilt als reformistische Fortsetzung <strong>de</strong>r Ersten<br />
und Zweiten Internationale und dient heute überwiegend als Forum zur Selbstdarstellung<br />
sozial<strong>de</strong>mokratischer Staatschefs. 1919 spalteten sich die Kommunisten von <strong>de</strong>n Sozial<strong>de</strong>mokraten ab,<br />
die sich gleichermaßen auf Marx beriefen, und grün<strong>de</strong>ten die Dritte Internationale, kurz Komintern<br />
genannt - ein Zwangsapparat aller kommunistischen Parteien unter <strong>de</strong>r Regie Moskaus. 1945 aus<br />
taktischen Grün<strong>de</strong>n aufgelöst, 1947 in Belgrad als Kominform wie<strong>de</strong>rerweckt, diente sie Stalin als<br />
i<strong>de</strong>ologische Glaubenskirche zur Kontrolle <strong>de</strong>r sowjetischen Satellitenstaaten. Nach<strong>de</strong>m sich Tito in<br />
Jugoslawien gegen Stalins Diktat aufgelehnt hatte, verlegte sie ihren Sitz 1948 nach Bukarest, wo sie<br />
1956 aufgelöst wur<strong>de</strong>. Ein prominentes Opfer <strong>de</strong>r brutalen Bru<strong>de</strong>rkämpfe unter kommunistischen<br />
Diktatoren, Leo Trotzki, grün<strong>de</strong>te im mexikanischen Exil, kurz bevor ihn dort sein rivalisieren<strong>de</strong>r<br />
Genosse Stalin ermor<strong>de</strong>n ließ, die Vierte Internationale, die als Sammelbecken für kommunistische<br />
Dissi<strong>de</strong>nten aber ohne Be<strong>de</strong>utung blieb.<br />
Es fällt schwer, angesichts dieses abstoßen<strong>de</strong>n Trauerspiels, in all <strong>de</strong>m keine Parabel* zu erkennen. Nur<br />
mit Zorn kann man heute an die vertanen Chancen zurück<strong>de</strong>nken, die im Schoß <strong>de</strong>r Ersten Internationale<br />
schlummerten. Die Intrigen, die Marx dort gegen seine Gegner inszenierte, waren nur ein matter<br />
Vorgeschmack auf das, was seine A<strong>de</strong>pten* in <strong>de</strong>n nächsten hun<strong>de</strong>rt Jahren bis zur Perfektion<br />
weiterentwickelten: Parteidiktatur, Schauprozesse, Meinungsterror, inszenierte Massenkundgebungen,<br />
Denunziantentum, Geheimdiplomatie, Wahlfälschungen, Säuberungen, Kriege, Bespitzelung — die ganze<br />
perfi<strong>de</strong> Welt von GULAG* bis STASI*. Sie steht für die Lebenslüge einer I<strong>de</strong>ologie <strong>de</strong>r<br />
Zwangsbeglückung, die die Menschen, die sie zu beglücken vorgab, nie ernst genommen hat.<br />
Angesichts unserer geschichtlichen Erfahrungen, müssen uns heute die Worte, die Bakunin im Jahr seines<br />
Ausschlusses aus <strong>de</strong>r Internationale schrieb, wie die Worte eines Rufers in <strong>de</strong>r Wüste erscheinen:<br />
"Der ganze Unterschied zwischen revolutionärer Diktatur und Staatlichkeit besteht nur in <strong>de</strong>n äußeren<br />
Umstän<strong>de</strong>n. Faktisch be<strong>de</strong>uten sie das gleiche: die Verwaltung einer Mehrheit durch eine Min<strong>de</strong>rheit im<br />
Namen <strong>de</strong>r angeblichen Dummheit ersterer und <strong>de</strong>r angeblichen Weisheit letzterer. Deshalb sind sie auch<br />
gleich reaktionär und
216<br />
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haben, die eine wie die an<strong>de</strong>re, als unmittelbares und notwendiges Ergebnis die Sicherung politischer und<br />
ökonomischer Privilegien für die herrschen<strong>de</strong> Min<strong>de</strong>rheit und die politische und wirtschaftliche<br />
Verskla<strong>vu</strong>ng <strong>de</strong>r Volksmassen."<br />
Literatur:<br />
/ Pierre Ramus, Hector Zoccoli: Die Erste Internationale 1864 (Textsammlung) Berlin 1979, Libertad, 44<br />
S.<br />
/ Henryk Grossmann, Carl Grünberg: Die Internationalen in: dieselben: Anarchismus, Bolschewismus,<br />
Sozialismus Frankfurt/M. 1971, Europäische Verlagsanstalt, 540 S.<br />
/ N.N.: Die IAA - Geschichte <strong>de</strong>r Internationalen Arbeiter-Assoziation Berlin 1980, Libertad, 48 S.<br />
/ Fritz Brupbacher: Marx und Bakunin - Ein Beitrag zur Geschichte <strong>de</strong>r Internationalen Arbeiter-<br />
Assoziation Berlin 1976, Karin Kramer, 228 S.<br />
Kapitel 26<br />
"Vive la Commune!"<br />
Schön wäre die Natur, wäre <strong>de</strong>r Mensch nicht Sklave <strong>de</strong>s Menschen.<br />
- Louise Michel -<br />
JAHRZEHNTELANG HATTEN DIE SOZIALISTEN ALLER COULEUR auf eine Gelegenheit<br />
gewartet, wo sich ihre I<strong>de</strong>en in großem Maßstab wür<strong>de</strong>n verwirklichen und bewähren können. Wann und<br />
wie und warum dieser herbeigesehnte Moment kommen wür<strong>de</strong>, darüber gab es dutzendweise Theorien.<br />
Als es am 18. März 1871 plötzlich soweit war, waren alle Theoretiker ebenso überrascht wie ratlos.<br />
In <strong>de</strong>r Nacht <strong>de</strong>s 17. März schickte die Regierung in Paris ihre Artilleristen los, um die Kanonen wie<strong>de</strong>r in<br />
ihre Gewalt zu bringen, die sich auf <strong>de</strong>m Montmartre in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Nationalgar<strong>de</strong> befan<strong>de</strong>n. Diese<br />
Reservetruppe, eine Art Miliz, bestand überwiegend aus Arbeitern und galt bei <strong>de</strong>r bürgerlichen<br />
Regierung als politisch unzuverlässig — mit Recht, wie sich bald herausstellen sollte. Seit acht Monaten<br />
tobte <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-französische Krieg, <strong>de</strong>r für Frankreich so gut wie verloren war. Bereits im September<br />
<strong>de</strong>s Vorjahres war <strong>de</strong>r Kaiser in Gefangenschaft geraten, und das Land zum dritten Male Republik<br />
gewor<strong>de</strong>n. Die bürgerliche Regierung glänzte durch Unfähigkeit und suchte ein rasches En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Krieges.<br />
Nicht aus Frie<strong>de</strong>nsliebe, son<strong>de</strong>rn weil sie <strong>de</strong>n sozialen Aufruhr fürchtete. Auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> herrschte zwar<br />
eine teilnahmslose Kriegsmüdigkeit, in <strong>de</strong>n Städten aber hatte sich sozialer Sprengstoff angesammelt. In<br />
seltener Einmütigkeit fürchteten die oppositionellen Intellektuellen und die Arbeiterschaft eine<br />
Unterwerfung Frankreichs durch das autoritäre Preußentum. Sie waren stinksauer auf die Regierung <strong>de</strong>r<br />
Republik und zum Wi<strong>de</strong>rstand entschlossen. Die Kühnsten unter ihnen verknüpften die politische<br />
Unzufrie<strong>de</strong>nheit mit <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Not zu einem Szenario für <strong>de</strong>n revolutionären Umsturz.<br />
Tatsächlich war in Lyon, Marseiile, Bor<strong>de</strong>aux, Le Creuzot und St. Etienne die Wut in Aufstän<strong>de</strong><br />
umgeschlagen: ›Revolutionäre Kommunen‹ wur<strong>de</strong>n proklamiert, aber rasch nie<strong>de</strong>r-<br />
217<br />
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geworfen. Die Libertären — wir erinnern uns an Bakunins Intermezzo in Lyon — hofften auf eine levée<br />
en masse*, aus <strong>de</strong>r eine ›Fö<strong>de</strong>ration Freier Kommunen‹ hervorgehen sollte, während Marx und Engels<br />
ganz ungeniert <strong>de</strong>n militärischen Sieg Preußens wünschten, weil damit die Vormacht <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
Arbeiterbewegung - sprich: <strong>de</strong>s Marxismus - über die von Proudhon ›verdorbene‹ französische
Arbeiterschaft gefestigt wür<strong>de</strong>.<br />
Inzwischen war Paris von preußischen Truppen belagert, die Regierung hatte einen Waffenstillstand<br />
geschlossen, die Armee sollte die Waffen strecken. Zuvor aber mußten <strong>de</strong>r Nationalgar<strong>de</strong>, dieser<br />
unzufrie<strong>de</strong>nen und unzuverlässigen Volkstruppe, die Kanonen genommen wer<strong>de</strong>n. Denn davor hatte die<br />
Bourgeoisie allemal mehr Angst als vor <strong>de</strong>r preußischen Armee.<br />
Die Flucht <strong>de</strong>r Mächtigen<br />
Es war eine Gruppe von Arbeiterfrauen, die <strong>de</strong>n Anmarsch <strong>de</strong>r Truppen auf <strong>de</strong>n Montmartre bemerkte,<br />
und in allen Quartiers von Paris Alarm schlug. Wie ein Lauffeuer ging die Kun<strong>de</strong> durch die<br />
Arbeiterviertel, die nächtlichen Straßen füllten sich mit ärmlich geklei<strong>de</strong>ten Menschenmassen. Soldaten<br />
erschossen ihre eigenen Generäle, liefen über o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>sertierten. Die Kanonen aber blieben, wo sie waren.<br />
Während die reichen Bürger von Paris noch schlummerten, versammelten sich Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong> von<br />
Arbeitern vor <strong>de</strong>m Rathaus und for<strong>de</strong>rten La Commune!.<br />
Die Erhebung war spontan, einmütig und von nieman<strong>de</strong>m angezettelt. Angesichts <strong>de</strong>r Lage floh die<br />
Regierung, und unzählige Bourgeois folgten ihr mit Sack und Pack. Am Abend <strong>de</strong>s 18. März hatte die<br />
Stadt begriffen, daß sie frei war. Mit einer Mischung aus Erstaunen, Jubel und Beklemmung sah man die<br />
Chance, dieses Machtvakuum zu nutzen und das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Die einfachen<br />
Leute hatten die Mächtigen verjagt. Paris, die große Metropole, war faktisch in <strong>de</strong>r Hand <strong>de</strong>r<br />
Arbeiterschaft. Und diese war bewaffnet.<br />
Das war nun fast eine revolutionäre Situation wie aus <strong>de</strong>m Lehrbuch. Allerdings hatte man so etwas noch<br />
nie zuvor erlebt. Bei allem kämpferischen Elan <strong>de</strong>r unteren Schichten, bei allem Wunsch nach<br />
tiefgreifen<strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung und mutigem Neuanfang, regierte in <strong>de</strong>n siebzig Tagen, die die Commune<br />
standhielt, überwiegend die Unsicherheit. Zumin<strong>de</strong>st auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r politischen Macht. Halbherzig<br />
waren die Kompromisse, die unter <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Fraktionen zustan<strong>de</strong> kamen, zögerlich das<br />
Anpacken politischer Neuerungen und tastend das Suchen nach einer politischen Zukunft für das Mo<strong>de</strong>ll<br />
einer autonomen, freien Kommune, zu <strong>de</strong>r die größte Stadt <strong>de</strong>s europäischen Festlands über Nacht<br />
gewor<strong>de</strong>n war.<br />
Es fehlte nicht an Gruppierungen, die einen Weg zu kennen glaubten. Auch gab es Strukturen, die schon<br />
vor <strong>de</strong>m eigentlichen Aufstand bestan<strong>de</strong>n. Aber es fehlte an jeglicher Erfahrung im Umgang mit einer<br />
solch unerhört neuen Situation. Überdies war die äußere Situation, beson<strong>de</strong>rs die militärische,<br />
aussichtslos. Paris war von zwei Armeen umfaßt. Ein Sieg <strong>de</strong>r Waffen war von vornherein<br />
ausgeschlossen. So konnte die Commune lediglich<br />
218<br />
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versuchen, ihren Freiraum zu verteidigen, auf eine günstige Konstellation für die Zukunft hinzuwirken,<br />
und bestenfalls in ihrem Inneren mit <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung sozialer Experimente vollen<strong>de</strong>te Tatsachen zu<br />
schaffen.<br />
Die politischen Kräfte<br />
Die 'offiziellem' Träger <strong>de</strong>r Commune, die von nun an versuchten, die Geschicke <strong>de</strong>r Erhebung zu lenken,<br />
waren aus <strong>de</strong>n politischen Clubs <strong>de</strong>r Hauptstadt hervorgegangen, die seit drei Jahren wie<strong>de</strong>r erlaubt<br />
waren. Hier trafen sich Patrioten und Revolutionäre aller Schattierungen: junge Stu<strong>de</strong>nten mit einem stark<br />
emotionalen Hang zum Extremismus und altehrwürdige Deputierte <strong>de</strong>r Achtundvierziger Generation,<br />
Arbeiteraktivisten aus Syndikaten und Kooperativen, geistvolle Journalisten und Delegierte aus <strong>de</strong>n<br />
Stadtteilen, Milizionäre <strong>de</strong>r Nationalgar<strong>de</strong> und abgehalfterte Politiker <strong>de</strong>r dritten Wahl, die ihre Chance<br />
witterten. Auch politisch gesehen war das Spektrum durchaus bunt. Alle <strong>de</strong>nkbaren Sorten von
Republikanern, Sozialisten <strong>de</strong>r libertären und autoritären Richtung, Befürworter <strong>de</strong>r revolutionären<br />
Diktatur, Anhänger direkter Volksregierung und kommunaler Autonomie. Sie alle einte, mehr als alle<br />
Theorie, die Tatsache, daß sie gemeinsam in einer ebenso revolutionären wie verfahrenen Situation<br />
festsaßen. Sie zogen zwar die Republik <strong>de</strong>n Preußen und <strong>de</strong>r drohen<strong>de</strong>n Monarchie vor, aber viele wollten<br />
letztlich auch die Republik überwin<strong>de</strong>n. Sie alle verteidigten die Autonomie ihrer Stadt, aber die freie<br />
Kommune war für die einen eine Not, für die an<strong>de</strong>ren die Tugend, auf <strong>de</strong>r die neue Gesellschaft gegrün<strong>de</strong>t<br />
sein sollte. Einig waren sie sich zwar in ihrem Haß auf <strong>de</strong>n zentralistischen französischen Staat, aber die<br />
einen sahen nur das Versagen einer bestimmten Regierung, die an<strong>de</strong>ren lehnten das Regieren überhaupt<br />
ab.<br />
Dieses Gerangel um <strong>de</strong>n richtigen Weg spielte sich in <strong>de</strong>n neuen Einrichtungen ab, die sich die Commune<br />
selbst gegeben hatte. Schon im September <strong>de</strong>s Vorjahres waren angesichts <strong>de</strong>s Krieges und <strong>de</strong>r miserablen<br />
Regierungspolitik in fast allen Stadtteilen "Komitees <strong>de</strong>r republikanischen Wachsamkeit" gebil<strong>de</strong>t<br />
wor<strong>de</strong>n, die je vier Vertreter in einen gemeinsamen Zentralrat entsandten. Ihr Mißtrauen gegen die<br />
Regierung und ihr Wille zur Selbstverwaltung <strong>de</strong>r Riesenstadt äußerte sich in For<strong>de</strong>rungen nach<br />
Aufhebung <strong>de</strong>r zentral geleiteten Polizei, <strong>de</strong>r Wahl aller Behör<strong>de</strong>n einschließlich <strong>de</strong>r Sicherheitsorgane,<br />
<strong>de</strong>r kommunalen Erfassung und Rationierung aller Lebensmittel sowie nach Presse- und<br />
Versammlungsfreiheit. An<strong>de</strong>rerseits hatten die einzelnen Kompanien und Bataillone <strong>de</strong>r Nationalgar<strong>de</strong><br />
Delegierte in eine "Fédération <strong>de</strong> la Gar<strong>de</strong> Nationale" gewählt. Diese fédérés wur<strong>de</strong>n nach anfänglich eher<br />
patriotischer Ausrichtung rasch zum Fokus* <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s und zum Organisator <strong>de</strong>s militärischen<br />
Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s.<br />
Am 26. Mai wur<strong>de</strong> durch eine allgemeine Wahl <strong>de</strong>r Rat <strong>de</strong>r Commune gebil<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r aus achtundzwanzig<br />
Arbeitern und dreißig Intellektuellen bestand. Die Komitees <strong>de</strong>r Stadtteile und <strong>de</strong>r Gar<strong>de</strong> legten ihre<br />
politische Mission nie<strong>de</strong>r. Die revolutionären Gruppen besaßen im Rat zwar die Mehrheit, blockierten<br />
sich aber bald aufgrund ihrer unterschiedlichen Konzeptionen. Und die waren im Grun<strong>de</strong> unvereinbar.<br />
219<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Konkret waren drei wichtige Gruppierungen zu unterschei<strong>de</strong>n. Am straffsten organisiert waren die<br />
Blanquisten. Die Anhänger <strong>de</strong>s alten Revolutionärs Auguste Blanqui, <strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> in einem<br />
Provinzgefängnis einsaß, befürworteten eine harte, revolutionäre Diktatur geschulter Ka<strong>de</strong>r zum Wohle<br />
<strong>de</strong>s einfachen Volkes — ein Vorgriff auf das Leninsche Staats- und Parteimo<strong>de</strong>ll. Ihrem hierarchischen<br />
Verständnis gemäß waren sie darauf aus, möglichst viele wichtige Schlüsselpositionen zu besetzen.<br />
Ihnen nahe stan<strong>de</strong>n die Neojakobiner, kaum organisiert aber zahlreich, vertreten durch bekannte<br />
Persönlichkeiten mit starken Ambitionen, die allesamt von einer Restauration <strong>de</strong>r Zustän<strong>de</strong> von 1789<br />
träumten. Der alte Jakobiner Delesciuze wur<strong>de</strong> zum militärischen Führer <strong>de</strong>s letzten Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s.<br />
Ansonsten bestand ihr Beitrag mehr in traditioneller Symbolik und radikaler Demagogie als in klaren<br />
Vorstellungen für die Zukunft. So drückte ihr Vertreter Jules Miot am 1. Mai die Bildung eines<br />
diktatorischen "Wohlfahrtsausschusses" durch und spaltete damit <strong>de</strong>n Rat <strong>de</strong>r Commune endgültig in<br />
autoritäre Zentralisten und antiautoritäre Fö<strong>de</strong>ralisten.<br />
Die Fö<strong>de</strong>ralisten stellten in Paris, vor allem in <strong>de</strong>n Arbeitervierteln und an <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r communards, die<br />
vermutlich stärkste Gruppe. Sie waren aber vergleichsweise schlecht organisiert und konnten in <strong>de</strong>m<br />
Intrigenspiel um Posten und Pöstchen in <strong>de</strong>n neuen Strukturen nicht mithalten. I<strong>de</strong>ologisch stan<strong>de</strong>n sie in<br />
<strong>de</strong>r Tradition Proudhons, organisatorisch waren sie überwiegend in <strong>de</strong>r Pariser Sektion <strong>de</strong>r Internationale<br />
vertreten, wo Bakunins Ansichten ein starkes Echo gefun<strong>de</strong>n hatten. Zu <strong>de</strong>n aktivsten Persönlichkeiten<br />
unter diesen Libertären zählten Auguste Vermorel und Eugene Varlin, unermüdlicher Organisator von<br />
Genossenschaften und Arbeiterverbän<strong>de</strong>n. Die intemationalistes von Paris waren eng mit <strong>de</strong>m<br />
gewerkschaftlichen Dachverband, <strong>de</strong>r "Fö<strong>de</strong>ration <strong>de</strong>s Chambres Syndicales et <strong>de</strong>s Associations<br />
Ouvrieres*, verbun<strong>de</strong>n - entsprechen<strong>de</strong>n Nachdruck legten sie daher auf die ökonomische Seite <strong>de</strong>r<br />
Revolution. Für sie war die Commune verloren, wenn sie sich nicht <strong>de</strong>r sozialen Gerechtigkeit annähme,<br />
was nichts an<strong>de</strong>res be<strong>de</strong>utete, als daß Produktion und Verteilung in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Arbeiterschaft
sozialisiert und selbst organisiert wer<strong>de</strong>n müsse. So fin<strong>de</strong>n wir die Vertreter <strong>de</strong>r fe<strong>de</strong>ralistes folgerichtig<br />
auch in <strong>de</strong>n Kommissionen für Arbeit, Industrie, Warenverkehr und Bildung wie<strong>de</strong>r, wo sie in <strong>de</strong>r kurzen<br />
Zeit versuchten, die Grundlagen einer Neuordnung zwischen Kapital und Arbeit zu legen.<br />
Was all diese Revolutionäre jenseits <strong>de</strong>r äußeren Bedrohung einte, war eigentlich recht wenig: Sie fühlten<br />
sich von <strong>de</strong>r Masse <strong>de</strong>r sozial niedrig Gestellten beauftragt, für menschenwürdigere Zustän<strong>de</strong> zu sorgen.<br />
Über Weg und Ziel aber war man uneins. Für die gemäßigten Republikaner ging es um eine militärische<br />
Kraftprobe mit <strong>de</strong>n Regierungstruppen in Versailles; soziale und politische Reformen hielten sie für<br />
verfrüht und störend. Blanquisten und Jakobiner sahen im Rat <strong>de</strong>r Commune einen revolutionären,<br />
diktatorischen Konvent, in <strong>de</strong>m alle Autorität zu energischen Maßnahmen konzentriert sein müsse, um<br />
die Interessen <strong>de</strong>s Volkes mit allen zur Verfügung stehen<strong>de</strong>n Gewaltmitteln zu vertei-<br />
220<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
digen. Die Fö<strong>de</strong>ralisten glaubten, <strong>de</strong>r Kampf mit <strong>de</strong>r Waffe könne ohne soziale Grundlage und moralische<br />
Legitimität nicht gewonnen wer<strong>de</strong>n. Umwälzen<strong>de</strong> Reformen und das Festhalten an fö<strong>de</strong>ralistischen und<br />
humanistischen Prinzipien seien nicht das Ergebnis, son<strong>de</strong>rn die Voraussetzung für einen Sieg <strong>de</strong>r<br />
Commune. Im Rat sahen sie lediglich eine Art Kontrollorgan mit <strong>de</strong>r Aufgabe, die Selbsttätigkeit und<br />
Initiative <strong>de</strong>r Massen zu för<strong>de</strong>rn, ohne sie in ihrer freien Entfaltung zu behin<strong>de</strong>rn. Dieser <strong>de</strong>utlich<br />
anarchistische Standpunkt war zwar an <strong>de</strong>r Basis durchaus populär, konnte sich aber im Rat nicht<br />
durchsetzen.<br />
Nach <strong>de</strong>m Rückzug <strong>de</strong>r gemäßigt-fö<strong>de</strong>ralistischen Vertreter erlangten die Autoritären die Mehrheit und<br />
installierten schließlich ihren "Wohlfahrtsausschuß", <strong>de</strong>r rasch dazu überging, in geheimer Sitzung<br />
selbstherrlich Beschlüsse zu fassen. Das <strong>de</strong>mokratische Mandat durch die Basis war verraten, die<br />
Libertären verließen <strong>de</strong>n Rat unter Protest und kehrten in die Stadtteile zurück. Hier versuchten sie, jene<br />
beschei<strong>de</strong>nen Ansätze voranzutreiben, die sie in <strong>de</strong>n offiziellen Kommissionen bereits begonnen hatten.<br />
Erste konstruktive Initiativen<br />
Das war nicht gera<strong>de</strong> wenig, auch wenn es in <strong>de</strong>r kurzen Lebensdauer <strong>de</strong>r Commune kaum greifbare<br />
Erfolge brachte. Es läßt aber <strong>de</strong>n Rückschluß darauf zu, was auf <strong>de</strong>r Tagesordnung gestan<strong>de</strong>n hätte, wäre<br />
<strong>de</strong>m Experiment mehr Zeit beschie<strong>de</strong>n gewesen: <strong>de</strong>r Übergang von einer Revolte zur sozialen Revolution.<br />
Im starren Rahmen <strong>de</strong>r Kommissionen freilich kamen viele Projekte kaum über das Stadium von<br />
Dekreten hinaus: Die Trennung von Kirche und Staat, die Aufhebung <strong>de</strong>r Konskription*, <strong>de</strong>r Erlaß <strong>de</strong>r<br />
Mieten, die Unterstützung <strong>de</strong>r Waisen und Witwen gefallener communards, bis hin zur Rückerstattung<br />
<strong>de</strong>r in Pfandleihhäusern verpfän<strong>de</strong>ten Gegenstän<strong>de</strong> — vor allem aber die Sozialisierung <strong>de</strong>r von ihren<br />
Besitzern verlassenen Betriebe — all das zeigt eine klare Zielrichtung <strong>de</strong>r "Wirtschaftskommission",<br />
<strong>de</strong>ren Mitglie<strong>de</strong>r ausschließlich <strong>de</strong>r Pariser Sektion <strong>de</strong>r Internationale angehörten. Die Schaffung<br />
unentgeltlicher Laienschulen stand ebenso auf <strong>de</strong>m Programm wie die Einrichtung handwerklicher<br />
Berufsschulen o<strong>de</strong>r das Verbot <strong>de</strong>r Nachtarbeit in <strong>de</strong>n Bäckereien.<br />
Schon bald aber traten solche Fragen in <strong>de</strong>n Hintergrund, <strong>de</strong>nn am 2. April begann die Offensive <strong>de</strong>r<br />
französischen Armee gegen die Stadt. Die i<strong>de</strong>ologischen Differenzen verstummten damit keineswegs, sie<br />
wur<strong>de</strong>n eher noch heftiger, <strong>de</strong>nn auch in <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r richtigen Verteidigung verhielten sich die<br />
Ansichten wie Feuer und Wasser. Wie so oft, diente auch hier die militärische Lage zur Abrechnung mit<br />
<strong>de</strong>m politischen Gegner: Die autoritäre Mehrheit an <strong>de</strong>n Hebeln <strong>de</strong>r Macht begann, die Fö<strong>de</strong>ralisten<br />
nunmehr offen als Verräter zu diffamieren. Erst in <strong>de</strong>n letzten Tagen sollten sie alle wie<strong>de</strong>r vereint<br />
nebeneinan<strong>de</strong>r stehen, um gemeinsam unterzugehen.<br />
Die Kraft <strong>de</strong>r Basis<br />
Das alles aber war nur die eine Seite <strong>de</strong>r Medaille. Das, was die Pariser Commune schon kurz nach ihrer
lutigen Nie<strong>de</strong>rschlagung zur Legen<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n ließ, waren nicht die<br />
221<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Fraktionskämpfe <strong>de</strong>r ›führen<strong>de</strong>n‹ Revolutionäre. Es war jene an<strong>de</strong>re Seite dieser siebzig Tage: die jäh<br />
entfesselte, intuitive und heitere Suche nach Freiheit durch die einfachen Menschen aus <strong>de</strong>n Pariser<br />
Quartiers. Ihre spontane Erhebung, ihre Solidarität, ihre naiv-euphorische Art, mit <strong>de</strong>r sie in die neu<br />
errungene Freiheit sprangen, <strong>de</strong>r trunkene Taumel, mit <strong>de</strong>m sie sie genossen und die gefaßte Konsequenz,<br />
mit <strong>de</strong>r sie bis zum En<strong>de</strong> kämpften - all das macht <strong>de</strong>n Mythos aus, <strong>de</strong>r sich bis heute um die Pariser<br />
Commune rankt. Ein Bild, an <strong>de</strong>m auch bei genauer und nüchterner Betrachtung kaum Abstriche gemacht<br />
wer<strong>de</strong>n müssen.<br />
Der Masse <strong>de</strong>r einfachen Kämpfer <strong>de</strong>r Pariser Commune, die Frauen und Männer aus <strong>de</strong>n Fabriken, die<br />
confédérés, die Bewohner <strong>de</strong>r Vorstädte, die hungern<strong>de</strong>n Jugendlichen, die Deklassierten - sie alle<br />
kümmerten sich kaum um ›Politik‹. Das Schattenboxen in <strong>de</strong>n Komitees, Räten und Ausschüssen<br />
interessierte sie nicht. Dort wur<strong>de</strong> Revolution im Kopf gemacht, hier fand sie im Bauche statt. Gewiß, von<br />
ihren ›Führern‹ hätten sie sich energische Lösungen erhofft - dazu waren sie ja gewählt -, aber die kamen<br />
nicht. Trotz<strong>de</strong>m, das merkte man, war alles wie verwan<strong>de</strong>lt: das Leben, die Arbeit, die Straße. Die Luft<br />
schien Revolution zu atmen, und die Revolution, das war klar, mußte weitergehen.<br />
Für das Gros <strong>de</strong>r Pariser Bevölkerung war <strong>de</strong>r 18. März ein Tag <strong>de</strong>r Entladung gewesen. Mehrere Monate<br />
hatte die Stadt einer Belagerung standgehalten, die die sozialen Gegensätze klar wie nie zuvor hatte<br />
erkennen lassen. Während die Arbeiter hungerten und verhungerten, während das Fleisch von Ratten zu<br />
festen Marktpreisen gehan<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>, konnte je<strong>de</strong>rmann sehen, daß es <strong>de</strong>m Bourgeois an nichts fehlte.<br />
Wer Geld hatte, <strong>de</strong>r aß. Seine Interessen waren durch <strong>de</strong>n Krieg nicht bedroht, für ihn ging das Leben<br />
weiter wie gewohnt. Er machte Profit, ganz gleich, ob im Namen <strong>de</strong>s Kaisers, <strong>de</strong>r Republik o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Preußen. Wie Hohn klangen die patriotischen Phrasen, mit <strong>de</strong>nen man die jungen Arbeiter in <strong>de</strong>n Krieg<br />
getrieben hatte, jetzt, angesichts einer unfähigen und tumben Regierung, die sich, als es brenzlig wur<strong>de</strong>,<br />
nach Bor<strong>de</strong>aux abgesetzt hatte. Die Regierung war in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r einfachen Menschen nichts weiter<br />
als eine Ban<strong>de</strong> schmarotzen<strong>de</strong>r Nichtsnutze. Der Staat - darauf wur<strong>de</strong> in jenen Tagen gespuckt. Die<br />
Commune - die war naheliegend, überschaubar und konkret. Dafür, daß diese Freiheit erhalten bliebe und<br />
sich entwickeln könnte, dafür wür<strong>de</strong> man kämpfen, und für diesen Kampf notfalls auch <strong>de</strong>n Preis<br />
bezahlen. Und <strong>de</strong>r Preis, darüber gab es im Proletariat dieser Stadt keine Illusionen, wäre <strong>de</strong>r Tod.<br />
Diese Menschen waren gewiß keine ›Anarchisten‹, ebensowenig wie sie ›Blanquisten‹, ›Jakobiners‹,<br />
›Kommunisten‹ o<strong>de</strong>r ›Republikaner‹ waren - obwohl es von all jenen auch überzeugte Anhänger unter<br />
ihnen gab. Die Pariser Commune war keine i<strong>de</strong>ologische Revolution, son<strong>de</strong>rn eine Revolution <strong>de</strong>r<br />
Gefühle. Ihre konkreten Errungenschaften, ja selbst ihre Proklamationen und Dekrete sind, gemessen an<br />
<strong>de</strong>n politischen I<strong>de</strong>alen ihrer Protagonisten, mehr als mager. Man wird ihre Be<strong>de</strong>utung nicht an ihren<br />
Ergebnissen messen können, son<strong>de</strong>rn an <strong>de</strong>m Geist <strong>de</strong>r Menschen, die sie gemacht und gelebt haben. Und<br />
<strong>de</strong>r war so überwältigend spontan, antiautoritär und staatsverachtend, daß es verwun<strong>de</strong>rt, wie sich schon<br />
einige Wochen später ein Karl Marx schreibend auf die Seite <strong>de</strong>r<br />
222<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
communards schlagen konnte. Es scheint, als habe er die Kröte wohl o<strong>de</strong>r übel schlucken müssen: Das<br />
waren nicht die disziplinierten, zentral geleiteten <strong>de</strong>utschen Parteiproletarier, von <strong>de</strong>nen er träumte,<br />
son<strong>de</strong>rn Menschen, die sich nicht vereinnahmen ließen. Sie erklärten Paris nicht zur Hauptstadt einer<br />
neuen französischen Regierung, son<strong>de</strong>rn setzten auf die freie Fö<strong>de</strong>ration autonomer Kommunen. Es waren<br />
Menschen, die die Siegessäule Napoleons nie<strong>de</strong>rrissen o<strong>de</strong>r öffentlich eine Guillotine verbrannten, und<br />
daraus ein Volksfest machten. Es waren Milizionäre, die zwar revolutionäre Kämpfer, aber keine
gehorsamen Soldaten sein wollten. Menschen, die ohne <strong>de</strong>n Befehl aus irgen<strong>de</strong>iner Zentrale Barrika<strong>de</strong>n<br />
bauten, rote und schwarze Fahnen schwenkten, miteinan<strong>de</strong>r sangen, aßen, kämpften und schließlich<br />
untergingen.<br />
In <strong>de</strong>r Tat war die Pariser Commune die erste bewaffnete, spontane Massenerhebung <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen<br />
Proletariats. Es gelang ihr, ein großes, zusammenhängen<strong>de</strong>s urbanes Gebiet zu befreien und sich selbst zu<br />
organisieren. Sie tat die ersten Schritte zu einem sozialen Experiment, bei <strong>de</strong>m die hergebrachten<br />
Autoritäten so herausfor<strong>de</strong>rnd in Frage gestellt wur<strong>de</strong>n, daß die alten Kräfte fürchterliche Rache nahmen.<br />
Die Rache <strong>de</strong>s Staates<br />
Während die preußischen Truppen in aller Ruhe abwarteten, organisierte die französische Regierung von<br />
Versailles aus eine regelrechte Reconquista* gegen das eigene Volk, für die schwerlich ein mil<strong>de</strong>res Wort<br />
gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann als das einer Blutorgie. Sie dauerte volle 45 Tage. Fast alle großen Gestalten <strong>de</strong>r<br />
Commune fan<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>r Barrika<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Tod, wo viele ihn zuletzt auch gesucht haben mögen. Nach<strong>de</strong>m<br />
die Truppen <strong>de</strong>s Generals Mac Mahon die Innenstadt erobert hatten, dauerte es noch acht Tage, bis in <strong>de</strong>n<br />
Arbeitervororten <strong>de</strong>r letzte Wi<strong>de</strong>rstand gebrochen war. Zuletzt verteidigte man sich Straße um Straße,<br />
Haus um Haus.<br />
Die Regierung Thiers hatte schon zuvor jegliche Verhandlungen abgelehnt und proklamiert, es wür<strong>de</strong><br />
kein Pardon gegeben. So wur<strong>de</strong> es auch gehalten. Gefangene und Verwun<strong>de</strong>te wur<strong>de</strong>n exekutiert, auch<br />
vor <strong>de</strong>r Erschießung von Frauen und Kin<strong>de</strong>rn schreckte man nicht zurück. Es schien, als wolle <strong>de</strong>r<br />
französische Staat die Schmach seiner Nie<strong>de</strong>rlage gegen die Deutschen in einem Gemetzel gegen die<br />
eigenen Landsleute wie<strong>de</strong>r wettmachen. Am En<strong>de</strong> zählte man in <strong>de</strong>n Straßen von Paris über 20.000<br />
erschossene communards. 40.000 Menschen wur<strong>de</strong>n bis En<strong>de</strong> Mai verhaftet, von <strong>de</strong>nen viele noch auf<br />
<strong>de</strong>m Weg zum Gefängnis mißhan<strong>de</strong>lt o<strong>de</strong>r füsiliert wur<strong>de</strong>n. Die Kriegsgerichte verurteilten 18.700<br />
Menschen, davon 270 zum To<strong>de</strong> und 7459 zur Deportation.<br />
Man hat dieses Massaker als Reaktion auf die Erschießung von Geiseln durch Kommunar<strong>de</strong>n zu<br />
rechtfertigen versucht. So verfehlt das Aufrechnen von Mor<strong>de</strong>n auch ist, muß diese Legen<strong>de</strong> hier doch ins<br />
rechte Licht gerückt wer<strong>de</strong>n – nicht zur Rechtfertigung, son<strong>de</strong>rn zur Klärung von Ursache und Wirkung.<br />
In <strong>de</strong>r Tat hatte die Commune am 6. April das "Geiselgesetz" <strong>de</strong>kretiert, und zwar nach<strong>de</strong>m die ersten<br />
Nachrichten über die Erschießung von Gefangenen durch Versailler Truppen zum erbitterten Ruf nach<br />
energischer<br />
223<br />
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Vergeltung geführt hatten. Demnach sollten für je<strong>de</strong>n weiteren erschossenen Gefangenen drei Personen,<br />
die bereits <strong>de</strong>r Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>m Feind überführt wor<strong>de</strong>n waren, hingerichtet wer<strong>de</strong>n. Von dieser<br />
Drohung erhoffte man sich ein En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gewalttaten, zumal zu <strong>de</strong>n Geiseln so prominente Männer wie<br />
<strong>de</strong>r Erzbischof von Paris zählten. Obwohl sich diese Hoffnung nicht erfüllte, schreckte <strong>de</strong>r Rat vor <strong>de</strong>r<br />
Erschießung <strong>de</strong>r Geiseln zurück. Erst in <strong>de</strong>n letzten Tagen holten fö<strong>de</strong>rierte Nationalgardisten <strong>de</strong>n eigenen<br />
Tod vor Augen, 100 Geiseln aus ihren Kerkern und erschossen sie.<br />
Louise Michel und die Rolle <strong>de</strong>s Anarchismus<br />
Für die anarchistische Bewegung war die Commune von Paris Bestätigung und Nie<strong>de</strong>rlage zugleich.<br />
Bestätigt hatten sich ihre Auffassung vom Charakter einer sozialen Umwälzung: von <strong>de</strong>n Bedürfnissen,<br />
Fähigkeiten und Triebkräften <strong>de</strong>r einfachen Menschen, <strong>de</strong>m weit verbreiteten Wunsch nach Revolution<br />
und <strong>de</strong>n Kräften <strong>de</strong>r Spontaneität. Ironischerweise war auch die Nie<strong>de</strong>rlage <strong>de</strong>r Bewegung in gewissem<br />
Sinne eine Bestätigung – nämlich <strong>de</strong>r schlimmsten Befürchtungen. Befürchtungen hinsichtlich <strong>de</strong>r<br />
folgenschweren Bevormundung durch eine autoritäre Avantgar<strong>de</strong>. Befürchtungen über das ungeklärte<br />
Verhältnis zwischen <strong>de</strong>r aufmüpfigen Masse und einer libertären Organisation. Befürchtungen vor allem
aber bezüglich <strong>de</strong>r ungehemmten Bereitschaft <strong>de</strong>s Gegners, je<strong>de</strong>s Aufbegehren im Blut zu ersticken.<br />
Diese Lehre sollten die Arbeiter <strong>de</strong>r Welt so schnell nicht wie<strong>de</strong>r vergessen. Seit <strong>de</strong>m Mai 1871 nannte<br />
man <strong>de</strong>n Bourgeois in aller Welt nur noch <strong>de</strong>n "Klassenfeind", und dieses Wort entsprach ohne jene<br />
Übertreibung <strong>de</strong>n Maßstäben, die die französische Armee im Auftrag <strong>de</strong>s französischen Staates und im<br />
Interesse <strong>de</strong>s französischen Bürgertums gesetzt hatte.<br />
Die Pariser Anarchisten haben in <strong>de</strong>r Commune einen hohen Blutzoll gezahlt. Die meisten Aktivisten,<br />
unter ihnen Varlin und Vermorel, starben unter <strong>de</strong>n Kugeln <strong>de</strong>r Armee. Die wenigen Überleben<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Pariser Sektion <strong>de</strong>r Internationale wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>poniert o<strong>de</strong>r mußten ins Exil fliehen, unter ihnen die Brü<strong>de</strong>r<br />
Elie und Elisee Reclus, die in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahren großen Einfluß auf die libertäre Bewegung nehmen<br />
sollten. Von beson<strong>de</strong>rer Faszination aber ist die Figur <strong>de</strong>r Louise Michel, <strong>de</strong>ren bewegte Erzählungen und<br />
Tagebücher aus <strong>de</strong>n Tagen <strong>de</strong>r Commune einen lebendigen Eindruck von jenem Geist <strong>de</strong>r Freiheit<br />
vermitteln, <strong>de</strong>r Paris damals erfaßt hatte. Sie berichtet nicht aus <strong>de</strong>m Hôtel <strong>de</strong> Ville* mit seinen Phrasen,<br />
Spaltungen und Intrigen, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>n Orten, an <strong>de</strong>nen sie das kleinliche Mittelmaß vor <strong>de</strong>n Realitäten<br />
<strong>de</strong>s wirklichen Lebens verblassen sah: die Straße, das Viertel, <strong>de</strong>r Vorposten, die Barrika<strong>de</strong> - Orte <strong>de</strong>r<br />
Solidarität. Diese bemerkenswerte Frau, die 1855 als junge Lehrerin nach Paris gekommen war, die<br />
Commune als republikanische Patriotin begann und als überzeugte Anarchistin verließ, sparte nicht mit<br />
scharfer Kritik an <strong>de</strong>n revolutionären Defiziten <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s, an <strong>de</strong>ssen Basis Frauen eine ganz<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielten. Aber sie Schil<strong>de</strong>n auch das Gefühl von Freiheit und Hoffnung, das<br />
Zigtausen<strong>de</strong> erfaßte. Louise Michel wur<strong>de</strong> vor das Versailler Kriegsgericht gestellt, wo sie, anstatt sich zu<br />
verteidigen, eine wortgewaltige Anklage gegen ihre Ankläger<br />
224<br />
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erhob. Für sich selbst for<strong>de</strong>rte sie, gleich an<strong>de</strong>ren Revolutionären behan<strong>de</strong>lt zu wer<strong>de</strong>n und lehnte je<strong>de</strong><br />
Bevorzugung als Frau ab – sie bestand auf ihrem eigenen Tod. Die Richter schickten "la bonne Louise",<br />
wie das Volk sie nannte, lieber nach Neukaledonien in die Verbannung. Dort wirkte sie als Lehrerin unter<br />
<strong>de</strong>n Eingeborenen, überlebte das Klima und alle Entbehrungen und kehrte schließlich nach Europa<br />
zurück. Bis zu ihrem To<strong>de</strong> 1905 blieb sie die charismatischste und aktivste Propagandistin <strong>de</strong>s<br />
Anarchismus.<br />
Louise Michel verkörpert <strong>de</strong>n freiheitlichen Geist <strong>de</strong>r Pariser Commune weit glaubhafter als die<br />
umfangreiche analytische Literatur, die seither über dieses Kapitel verfaßt wur<strong>de</strong>. Für sie waren die<br />
Ereignisse im Frühjahr 1871 schlicht ein Kampf um wirkliches Leben.<br />
Literatur:<br />
/ Dieter Marc Schnei<strong>de</strong>r (Hrsg.:) Pariser Kommune 1871 (2 B<strong>de</strong>., Textsammlung) Reinbek 1971,<br />
Rowohlt, 207 u. 196 S.<br />
/ N.N.: Die Pariser Kommune 1871 (Textsammlung) Berlin 1979, Libertad, 38 S.<br />
/ P.L. Lavrov: Die Pariser Kommune vom 18. März 1871 Berlin 1971, Wagenbach, 191 S.<br />
/ Klaus Meschkat: Pariser Kommune Köln 1971, Infodruck, 267 S.<br />
/ Heinrich Koechlin: Die Pariser Commune im Bewußtsein ihrer Anhänger Basel 1950, Don Quichotte,<br />
248 S.<br />
/ Gerd Koch: Zerstört <strong>de</strong>n Staat! Marx und Bakunin zur Pariser Kommune Hamburg 1974, Association, in<br />
S.<br />
/ Louise Michel: Memoiren Münster 1977, Frauenpolitik, 372 S., ill.<br />
/ N.N.: Frauen in <strong>de</strong>r Revolution: Loiuse Michel Berlin 1976, Karin Kramer, 173 S., ill.<br />
Kapitel 27<br />
"Hoch das Dynamit!" – Der Anarchismus und die Bombe<br />
Die Explosion meiner Bombe ist nicht allein das Zeichen <strong>de</strong>r Verzweiflung eines einzelnen Menschen,<br />
sie ist <strong>de</strong>r Ausdruck <strong>de</strong>r Not einer ganzen Klasse, die bald <strong>de</strong>n Schrei <strong>de</strong>s Einzelnen übertönen wird.
– Auguste Vaillant –<br />
ZWANZIGTAUSEND TOTE HATTE DER STAAT in <strong>de</strong>n Straßen von Paris zurückgelassen.<br />
Zwanzigtausend ausgelöschte Leben je<strong>de</strong>n Alters und Geschlechts. Sie hatten kein an<strong>de</strong>res Verbrechen<br />
begangen, als sich gegen die Obrigkeit aufzulehnen und Autonomie zu for<strong>de</strong>rn.<br />
Das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Pariser Commune war für alle freiheitlich <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n Menschen ein Schock. Ein Trauma,<br />
das tief saß und die Arbeiterbewegung wie betäubt zurückließ. Niemals hatte man sich Illusionen darüber<br />
gemacht, daß die Herrschen<strong>de</strong>n ihre Privilegien verteidigen wür<strong>de</strong>n. Aber das, was im Mai 1871 in Paris<br />
geschah, war kein Klassenkampf mehr, das war Krieg. Während die Organisationen gelähmt ihre Wun<strong>de</strong>n<br />
leckten, ihre großen Denker ratlos schwiegen und niemand einen Ausweg zu sehen schien, gab es<br />
einzelne, verzweifelte Menschen, die diese Kriegserklärung trotzig aufnahmen.<br />
Als <strong>de</strong>r kollektive Aufstand scheiterte, schlug die Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r individuellen Kämpfer.<br />
225<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Tyrannenmord als Allheilmittel<br />
Die Jahre nach 1871 sind geprägt von einer fast tatenlosen Ohnmacht. Alle Sozialisten spüren diese Krise<br />
und geraten nun zusätzlich noch in die Defensive, <strong>de</strong>nn in fast allen europäischen Län<strong>de</strong>rn nimmt die<br />
Verfolgung <strong>de</strong>r Arbeiterbewegung bedrohliche Ausmaße an. Der Londoner Anarchistenkongreß von 1881<br />
konnte seinen Anhängern nichts besseres mehr empfehlen, als in die Illegalität abzutauchen. Schon bald<br />
folgte eine Welle individueller Gewalt, ausgeführt von einzelnen Attentätern, Verschwörergruppen und<br />
berufsmäßigen Ban<strong>de</strong>n. Tyrannenmord, Attentate auf verhaßte Staatsdiener und Einrichtungen, Bomben<br />
zur Unterstützung von Streiks, wahllose Anschläge auf Orte bürgerlicher Vergnügungen bis hin zu<br />
politisch motiviertem Räuberhandwerk — all das wur<strong>de</strong> zum Ausdruck dieser wüten<strong>de</strong>n Verzweiflung<br />
und all ihrer Perspektivlosigkeit. Die Bombe avanciert zum Symbol dieser Zeit, das Dynamit zum<br />
Zaubermittel <strong>de</strong>r Ausweglosen.<br />
Viele <strong>de</strong>rjenigen, die damals zum Mittel individueller Gewalt griffen, beriefen sich auf <strong>de</strong>n Anarchismus.<br />
Es war nicht schwer, in Schriften Stirners, Bakunins, Kropotkins o<strong>de</strong>r Malatestas Stellen zu fin<strong>de</strong>n, aus<br />
<strong>de</strong>nen man eine politische Rechtfertigung für Gewalt herauslesen konnte. Angereichert mit ein bißchen<br />
Blanqui, Robespierre und Netschajew, ergab sich eine bizarre Theorie, mit <strong>de</strong>r alles zu begrün<strong>de</strong>n war.<br />
Die Attentäter han<strong>de</strong>lten für gewöhnlich im Hochgefühl moralischer Überlegenheit, fühlten sich<br />
selbstverständlich im Recht und betrachteten ihre Gegner mit kalter Verachtung. Genau damit aber hatten<br />
sie sich auf das Niveau <strong>de</strong>rjenigen begeben, <strong>de</strong>ren Abscheulichkeit man bekämpfen wollte. Sehr effektiv<br />
war diese blutige Taktik - selbst im Rahmen ihrer eigenen Moral und Logik – übrigens auch nicht. Die<br />
meisten Anschläge mißlangen, und fast alle Attentäter en<strong>de</strong>ten am Galgen o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Schafott.<br />
Bei <strong>de</strong>n Anarchisten hieß dieses Vorgehen "Propaganda <strong>de</strong>r Tat", die Bürger nannten es Mord, Terror,<br />
Chaos – eben das, was man noch heute landläufig unter ›Anarchie‹ versteht. Liegt im Werfen von<br />
Bomben, im individuellen Terror also doch das Wesen <strong>de</strong>s Anarchismus?<br />
Die Propaganda <strong>de</strong>r Tat<br />
Es hat tatsächlich eine Zeit gegeben, in <strong>de</strong>r große Teile <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung im individuellen<br />
Attentat <strong>de</strong>n Stein <strong>de</strong>r Weisen sahen. Diese Phase, vor allem in Frankreich, aber auch in Rußland und<br />
vereinzelt in Spanien, Deutschland, Italien <strong>de</strong>n USA und Lateinamerika, hatte ihren Höhepunkt zwischen<br />
1891 und 1894. Man machte aus <strong>de</strong>r Not eine Tugend und gebar ein Konzept, das beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>n<br />
Verzweifelten einleuchtete.<br />
Die Not bestand darin, daß die Arbeiterbewegung seit <strong>de</strong>r Commune in einer Sackgasse steckte.
An<strong>de</strong>rerseits hatte man in all <strong>de</strong>n Jahren in <strong>de</strong>m Glauben gelebt, die soziale Revolution stün<strong>de</strong> unmittelbar<br />
vor <strong>de</strong>r Tür. Fast zwangsläufig wur<strong>de</strong> ihr ›Erscheinen‹ erwartet, wenn nicht heute, dann spätestens<br />
übermorgen. Man müsse Staat und Kapital nur mal kräftig gegen's Schienbein treten, dann wür<strong>de</strong>n sie<br />
schon umfallen.<br />
226<br />
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Vor diesem Hintergrund predigten die Jünger <strong>de</strong>r "Propaganda <strong>de</strong>r Tat" eine einfache I<strong>de</strong>e: Einzelne,<br />
entschlossene Männer sollten beson<strong>de</strong>rs verhaßte Repräsentanten <strong>de</strong>s Systems – Könige, Bischöfe,<br />
Präsi<strong>de</strong>nten, Kapitalisten und Polizeichefs - durch gezielte Attentate töten. Die wären dann nicht mehr da,<br />
<strong>de</strong>r Gegner also geschwächt. Das wie<strong>de</strong>rum wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Volk Mut machen, sich "massenhaft zu erheben",<br />
<strong>de</strong>nn ein je<strong>de</strong>r wür<strong>de</strong> erkennen, daß <strong>de</strong>r mächtige Gegner verwundbar sei. Die Prozesse könne man zu<br />
lei<strong>de</strong>nschaftlichen Anklagen gegen das System nutzen, darin läge großer propagandistischer Wert. Und<br />
wenn man dann angesichts <strong>de</strong>r Guillotine ein entschlossenes "Vive l'Anarchie!" ausriefe, wäre <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e<br />
ein unschätzbarer Dienst erwiesen. Außer<strong>de</strong>m brauchte es dazu keine starke Bewegung, keine mühsame<br />
Organisationsarbeit – nur ein paar Entschlossene.<br />
Es klang wie ein Patentrezept, das alle Probleme <strong>de</strong>r verzweifelten Bewegung jener Jahre mit einem<br />
Schlag zu lösen schien. Den Pfer<strong>de</strong>fuß, daß man dabei die eigenen I<strong>de</strong>ale verraten mußte, ›vergaßen‹ viele<br />
Anhänger dieser Taktik in ihrer Begeisterung. Die Sache aber hatte, jenseits aller ethischen Vorbehalte,<br />
noch weitere Haken. Das Volk tat alles an<strong>de</strong>re, als <strong>de</strong>n Hel<strong>de</strong>n begeistert nachzustürmen. Es gaffte, es<br />
konsumierte, es applaudierte allenfalls. Statt zum Fanal <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s, wur<strong>de</strong>n die Prozesse zu<br />
Lieferanten für <strong>de</strong>n grusligen Stoff schauriger Geschichten in <strong>de</strong>n Klatschblättern <strong>de</strong>r Epoche. Statt zu<br />
zerfallen, festigte sich die Macht <strong>de</strong>r Herrschen<strong>de</strong>n; unter <strong>de</strong>m Druck <strong>de</strong>s Dynamits verschwan<strong>de</strong>n<br />
Rivalitäten. Der Machtapparat kroch nicht zu Kreuze, son<strong>de</strong>rn holte zum Gegenschlag aus. Je<strong>de</strong>r<br />
Anarchist, ja die gesamte Arbeiterbewegung mußte mit harter Verfolgung, mit Verhaftungen, mit <strong>de</strong>r<br />
Liquidierung rechnen. Die ausgeflipptesten Kriminellen begannen plötzlich, ihre Taten mit <strong>de</strong>m<br />
magischen Wort "Anarchie!" zu rechtfertigen. Sie hatten für ihr soziales Elend, das sie zu Kriminellen<br />
gemacht hatte, eine politische Interpretation ent<strong>de</strong>ckt, die all ihre Taten zu rechtfertigen schien. Die<br />
anarchistische I<strong>de</strong>e, ihre gesamte Bewegung konnte nun mit Leichtigkeit diffamiert wer<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>r<br />
Anarchist war fortan ein Bombenleger, nichts weiter. Am En<strong>de</strong> stand die Bewegung mit einem Haufen<br />
›Märtyrer‹ da und einem <strong>de</strong>nkbar üblen Image.<br />
Dabei hatte nur ein Teil <strong>de</strong>r Anarchisten mit <strong>de</strong>r "Propaganda <strong>de</strong>r Tat" sympathisiert, und nur eine kleine<br />
Min<strong>de</strong>rheit sie jemals angewandt. Die wirbelte dafür aber um so mehr Staub auf. Der größte Teil wandte<br />
sich schon bald entschie<strong>de</strong>n gegen diese blutige Mo<strong>de</strong>, unter ihnen auch Kropotkin und Malatesta. Sie<br />
stellten nachdrücklich fest, daß sie Gewalt allenfalls im Zusammenhang mit <strong>de</strong>m Recht einer<br />
gewaltsamen Erhebung <strong>de</strong>s Volkes gegen seine Unterdrücker gutgeheißen hätten, nicht aber als Mittel<br />
individuellen Terrors. Der sei we<strong>de</strong>r moralisch noch praktisch ein probates Mittel zur Erlangung <strong>de</strong>r<br />
Freiheit. Es sei überdies eine Illusion, schrieb Kropotkin, <strong>de</strong>n Zusammenhalt <strong>de</strong>r Ausbeuter durch ein paar<br />
Kilo Sprengstoff brechen zu können.<br />
Eine Welle <strong>de</strong>r Gewalt<br />
Zunächst aber blieben solche Worte ungehört. Für einige Jahre hatte erst einmal <strong>de</strong>r "Anarchisterich mit<br />
<strong>de</strong>m Attentatterich" Hochkonjunktur, wie Erich Mühsam diesen Typus vierzig Jahre später ironisch<br />
nannte.<br />
227<br />
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In <strong>de</strong>n achtziger Jahren sorgten die russischen Narodniki für eine Reihe von spektakulären Attentaten<br />
gegen Polizeiminister und höchste Repräsentanten <strong>de</strong>s Zarismus. Diese "Volkstümler", wie sie sich selbst<br />
nannten, waren eine straff organisierte Politorganisation junger Menschen aus <strong>de</strong>n gebil<strong>de</strong>ten Stän<strong>de</strong>n, die<br />
sich zunächst voller I<strong>de</strong>alismus <strong>de</strong>n Bauern zuwandten. Unter ihnen gab es auffallend viele Frauen.<br />
Bakunins Auffor<strong>de</strong>rung, "zu <strong>de</strong>n Wurzeln <strong>de</strong>s Volkes zurückzukehren", interpretierten die Narodniki<br />
schon bald auf ihre Weise und versuchten, Netschajews Revolutionsszenarien folgend, mit ihren<br />
Anschlägen eine Volkserhebung zu entfesseln. Selten ist ein Attentat in aller Welt so freudig<br />
aufgenommen wor<strong>de</strong>n wie das, <strong>de</strong>m 1881 <strong>de</strong>r verhaßte Zar Alexan<strong>de</strong>r II. zum Opfer fiel — <strong>de</strong>r Aufstand<br />
<strong>de</strong>r Massen aber blieb aus. Führen<strong>de</strong> Narodniki wie Wera Sassulitsch, Boris Ssawinkow, Sofia<br />
Perowskaja o<strong>de</strong>r Vera Figner gingen zwar in <strong>de</strong>n Pantheon <strong>de</strong>r linken Legen<strong>de</strong>n ein, ihre Bewegung aber<br />
wur<strong>de</strong> Stück für Stück und ziemlich unspektakulär aufgerieben.<br />
Als isolierte Taten Einzelner stellten sich die meisten Attentate heraus, die zwischen 1878 und 1900<br />
führen<strong>de</strong>n Regenten im westlichen Europa galten. Der arbeitslose Klempnergeselle Maximilian Hö<strong>de</strong>l,<br />
ein ehemaliger Sozial<strong>de</strong>mokrat, und <strong>de</strong>r zum Mystizismus neigen<strong>de</strong> Philosoph Dr. Carl Nobiling verüben<br />
im Sommer 1878 in Berlin, unabhängig voneinan<strong>de</strong>r, in kurzer Folge Attentate auf Kaiser Wilhelm I., <strong>de</strong>r<br />
jedoch bei<strong>de</strong> Male <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> entgeht. Hö<strong>de</strong>l wird hingerichtet, Nobiling stirbt später an <strong>de</strong>n Folgen einer<br />
unmittelbar nach <strong>de</strong>m Attentat versuchten Selbsttötung. Die Anschläge dienen Bismarck zum Vorwand<br />
für die Verhängung <strong>de</strong>s Ausnahmezustan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>m Namen "Sozialistengesetz" bekannt wur<strong>de</strong><br />
und zwischen 1878 und 1890 alle linken Parteien und Gruppierungen Deutschlands in die Illegalität<br />
zwang. Im Herbst <strong>de</strong>sselben Jahres schießt <strong>de</strong>r junge Arbeiter Oliva Moncasi auf <strong>de</strong>n spanischen König<br />
Alfons XIII., ohne ihn jedoch zu treffen. Moncasi, <strong>de</strong>r sich als Mitglied <strong>de</strong>r spanischen Internationale zu<br />
erkennen gibt, beruft sich im Verhör ausdrücklich auf Hö<strong>de</strong>l und Nobiling, <strong>de</strong>ren Beispiel er folgen<br />
wollte. Im Dezember wird er in Madrid öffentlich mit <strong>de</strong>r garrote, <strong>de</strong>m mittelalterlichen Würgeeisen,<br />
hingerichtet.<br />
Ebenfalls 1878 mißlingt das Attentat <strong>de</strong>s jungen Kochs Giovanni Passanante auf <strong>de</strong>n italienischen König<br />
Umberto I. Mit <strong>de</strong>m Ruf "Es lebe die internationale Republik!" stürzte er mit einem Messer auf <strong>de</strong>n<br />
Monarchen. Zum To<strong>de</strong> verurteilt, wird er begnadigt und stirbt 1910 in <strong>de</strong>r Haft. 1897 entgeht <strong>de</strong>rselbe<br />
Umberto I. erneut einem Messerattentat. Unter seiner Regentschaft war es inzwischen zu harten<br />
Repressalien gegen alle Arbeiterorganisationen und die aufständischen Bauern in Sizilien gekommen;<br />
Presse- und Versammlungsfreiheit waren aufgehoben, und 847.000 Menschen wur<strong>de</strong> wegen<br />
"Progressismus" das Wahlrecht aberkannt. Kriegerische Abenteuer in Afrika stürzten das Land in eine<br />
wirtschaftliche Krise. In diesem sozialen Klima will <strong>de</strong>r anarchistische Einzelgänger Pietro Acchiarito am<br />
König exemplarische Rache nehmen, verfehlt <strong>de</strong>n Monarchen aber und sticht sein Messer in die Polster<br />
<strong>de</strong>r Kutsche. Auch er been<strong>de</strong>t sein Leben im Zuchthaus. Die sozialen Unruhen verschärfen sich, die<br />
Repression wird härter, und im folgen<strong>de</strong>n Jahr<br />
228<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
kommt es in fast allen Provinzen zu Protesten. Universitäten wer<strong>de</strong>n geschlossen, Zeitungen verboten. In<br />
Mailand unterdrückt <strong>de</strong>r General Bava Beccaris <strong>de</strong>n Protest von Arbeitern und Stu<strong>de</strong>nten und hinterläßt<br />
dabei 80 Tote und 450 Verletzte. Umberto beglückwünscht ihn öffentlich und verleiht ihm "wegen seiner<br />
Verdienste um die Zivilisation" <strong>de</strong>n höchsten Verdienstor<strong>de</strong>n Savoyens. Damit hatte er sein eigenes<br />
To<strong>de</strong>surteil gesprochen, <strong>de</strong>nn nun tritt erstmals eine organisierte anarchistische Gruppe auf <strong>de</strong>n Plan, die<br />
<strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>s Tyrannen beschließt. Im fernen Paterson, New Jersey, wird dieser Entschluß gefaßt. Das Los<br />
fällt auf <strong>de</strong>n Drucker Gaetano Bresci, einen jungen italienischen Einwan<strong>de</strong>rer, <strong>de</strong>r im Jahre 1900 nach<br />
Europa reist und <strong>de</strong>n König am 7. Mai aus drei Metern Entfernung erschießt. Die Bürger im Park <strong>de</strong>r<br />
Sommerresi<strong>de</strong>nz, die ihn lynchen wollen, schreien ihn an: "Mör<strong>de</strong>r! Du hast Umberto getötet", worauf<br />
Bresci antwortet: "Ich habe nicht Umberto getötet, son<strong>de</strong>rn einen König."<br />
Alle Monarchen <strong>de</strong>r Epoche lebten mit einem beson<strong>de</strong>rs hohen Berufsrisiko, und nicht nur Umberto<br />
wur<strong>de</strong> mehrere Male zum Ziel von Anschlägen. In Spanien hatte 1880 Alfons XIII. erneut das Glück,<br />
einem Attentat zu entgehen, das diesmal Olivero Gonzales verübte, <strong>de</strong>r Moncasi rächen wollte. Eine vom
Regen aufgeweichte Zündschnur bewahrte 1883 etliche Bischöfe und die höchsten <strong>de</strong>utschen Fürsten<br />
davor, mitsamt ihrem Kaiser in die Luft gesprengt zu wer<strong>de</strong>n. Eine Anarchistengruppe um August<br />
Reinsdorf hatte das Dynamit anläßlich <strong>de</strong>r Einweihung eines vaterländischen Monumental<strong>de</strong>nkmals<br />
plaziert und aus Kostengrün<strong>de</strong>n die billigere Lunte verwen<strong>de</strong>t. Im Spätsommer 1898 lungerte <strong>de</strong>r<br />
italienische Anarchist Luigi Luccheni am Genfer See herum, um irgen<strong>de</strong>inen Monarchen umzubringen.<br />
Kaiserin Elisabeth von Österreich hatte das Unglück, ihm zufällig über <strong>de</strong>n Weg zu laufen und mußte<br />
sterben. Sterben mußten natürlich auch Gonzales, Reinsdorf und Luccheni.<br />
In Frankreich jedoch, wo das Trauma <strong>de</strong>r Commune nie vergessen wur<strong>de</strong>, sollte die "Propaganda <strong>de</strong>r Tat"<br />
zu Beginn <strong>de</strong>r 90er Jahre ihren Höhepunkt erreichen. Sie trat wie eine Epi<strong>de</strong>mie auf und war offenbar<br />
ansteckend. Zwar gab es auch hier <strong>de</strong>n klassischen Einzeltäter, aber im Gegensatz zu an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn<br />
entstand - beson<strong>de</strong>rs in Paris - gera<strong>de</strong>zu eine soziale Szene <strong>de</strong>r Gewaltverherrlichung mit <strong>de</strong>m typischen,<br />
fast möchte man sagen folkloristischen Ambiente <strong>de</strong>s outlaw*. Auflagenstarke Anarchoblätter wie <strong>de</strong>r<br />
Père Peinard unterstützten militantes Han<strong>de</strong>ln, applaudierten <strong>de</strong>r Gewalt und sorgten für weiteste<br />
Verbreitung <strong>de</strong>r Gedanken, die die Protagonisten <strong>de</strong>r Aktion von sich gaben. Taten wie die von Henry,<br />
Ravachol o<strong>de</strong>r Bonnot hielten in einer Mischung aus klammheimlicher Bewun<strong>de</strong>rung, Nervenkitzel,<br />
Scha<strong>de</strong>nfreu<strong>de</strong> und Märtyrerkult Einzug in die subversive Phantasie <strong>de</strong>r einfachen Leute. Als Lie<strong>de</strong>r,<br />
Legen<strong>de</strong>n und Folklore lebten sie fort in <strong>de</strong>n Trivialmythen <strong>de</strong>r vorstädtischen Subkultur. Aus dieser<br />
Szene ging überdies ein ganz spezieller Typus <strong>de</strong>s sich politisch legitimieren<strong>de</strong>n Kleinkriminellen hervor,<br />
<strong>de</strong>r sich stolz "Anarchiste expropriateur" nannte - auf <strong>de</strong>utsch; "anarchistischer Enteigner".<br />
Emile Henry, <strong>de</strong>r hochintelligente Sohn eines überleben<strong>de</strong>n communard, wur<strong>de</strong> am<br />
229<br />
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24. Juli 1894 guillotiniert - seinen Kopf kann man übrigens in einem mit Formalin gefüllten Glas im<br />
Polizeimuseum von Paris bewun<strong>de</strong>rn. Er war unter an<strong>de</strong>rem verurteilt wor<strong>de</strong>n, weil er eine Bombe in das<br />
vollbesetzte Cafe Terminus geschleu<strong>de</strong>rt und dabei einen Gast getötet und zwanzig verletzt hatte. "Es gibt<br />
keine Unschuldigen" sagte <strong>de</strong>r eiskalt-rationale Überzeugungstäter vor Gericht. "Die Bourgeoisie soll<br />
endlich begreifen, daß die, die gelitten haben, ihrer Lei<strong>de</strong>n mü<strong>de</strong> sind. Sie kennen keine Achtung vor <strong>de</strong>m<br />
Menschenleben, weil die Bourgeoisie es auch nicht respektiert."<br />
Nirgends kommt <strong>de</strong>r ins krankhafte gesteigerte Haß gegen alles, was bourgeois ist, klarer zum Ausdruck<br />
als bei Henry. Dabei kann man, bei aller Abscheu vor blin<strong>de</strong>m Terror, <strong>de</strong>r Argumentation in seiner<br />
berühmt gewor<strong>de</strong>nen Verteidigungsre<strong>de</strong> kaum die Stringenz* absprechen, mit <strong>de</strong>r er beweist, daß er<br />
nichts an<strong>de</strong>res getan hat als seine Fein<strong>de</strong>: wahllos Unschuldige zu töten. Eben darum aber, so urteilten die<br />
meisten Anarchisten seiner Zeit, könne er sich nicht auf <strong>de</strong>n Anarchismus berufen.<br />
Bei <strong>de</strong>n Bombenanschlägen auf das Hotel Foyot und das Café Terminus wer<strong>de</strong>n auch die mit <strong>de</strong>m<br />
Anarchismus sympathisieren<strong>de</strong>n Schriftsteller Laurent Tailha<strong>de</strong> und Octave Mirbeau verletzt, was in <strong>de</strong>r<br />
Presse zu einmütiger Scha<strong>de</strong>nfreu<strong>de</strong> führt. Mirbeau bemerkte damals: "Ein Todfeind <strong>de</strong>s Anarchismus<br />
hätte diesem keinen größeren Scha<strong>de</strong>n zufügen können als Emile Henry mit seinem unerklärlichen<br />
Bombenanschlag auf friedliche Bürger, die in ein Cafe gekommen waren, um vor <strong>de</strong>m Zubettgehen noch<br />
ein Bier zu trinken. (...) Émile Henry versichert, er sei Anarchist. Das ist möglich. Aber <strong>de</strong>r Anarchismus<br />
hat einen breiten Rücken, er ist geduldig wie Papier. Heute pflegen sich Kriminelle auf ihn zu berufen,<br />
wenn sie ein gutes Verbrechen begangen haben. (...) Je<strong>de</strong> Partei hat ihre Kriminellen und Wahnsinnigen,<br />
weil je<strong>de</strong> Partei sich aus Menschen zusammensetzt."<br />
Typisch für Henry und viele seiner Bombenwerferkollegen war, daß sein erstes Attentat in engem<br />
Zusammenhang mit sozialen Kämpfen stand. Vor <strong>de</strong>m Büro einer Bergwerksgesellschaft, die auf<br />
streiken<strong>de</strong> Arbeiter hatte schießen lassen, <strong>de</strong>ponierte er seinen aus einem Kochtopf gebastelten<br />
Sprengsatz, <strong>de</strong>r dann in einem Polizeirevier <strong>de</strong>tonierte. Ganz ähnlich war die Motivation <strong>de</strong>s Anarchisten<br />
Charles Gallo, <strong>de</strong>r eine Explosivröhre in die Pariser Börse geschleu<strong>de</strong>rt hatte, ohne freilich jeman<strong>de</strong>n zu<br />
verletzen. Er tat dies aus Solidarität mit <strong>de</strong>n Bergarbeitern von Decazeville. Deren Lohn war zwischen
1878 und 1886 um 50% gedrückt wor<strong>de</strong>n und reichte nicht einmal mehr fürs Essen, während die<br />
Gesellschaft ihren Aktionären einen Jahresgewinn von 460.000 Franc ausschüttete. Nun sollten die Löhne<br />
abermals gekürzt wer<strong>de</strong>n. Die aufgebrachten Arbeiter warfen daraufhin <strong>de</strong>n verhandlungsführen<strong>de</strong>n<br />
Ingenieur, <strong>de</strong>m im Erfolgsfalle eine Provosion von 5 % versprochen war, aus <strong>de</strong>m Fenster, wobei sich<br />
dieser das Genick brach. Als Gallo im Prozeß gefragt wur<strong>de</strong>, ob man in Anarchistenkreisen die Mör<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>s Ingenieurs verherrliche, antwortete dieser: "Natürlich, und ich selbst habe gehofft, es sei nur <strong>de</strong>r<br />
Anfang einer ganzen Serie."<br />
Aus einer Bewegung zur Befreiung <strong>de</strong>r Menschheit schien ein Zirkel einsamer Rächer gewor<strong>de</strong>n zu sein.<br />
230<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Kaum noch etwas von sozialem Rächertum ist bei Clau<strong>de</strong> Ravachol zu fin<strong>de</strong>n, einem verarmten<br />
Angestellten, <strong>de</strong>r sich zunächst als Kleinkrimineller und Grabräuber durchs Leben schlug, um sich später<br />
auf Raubmor<strong>de</strong> zu verlegen. Sofern Ravachol alle Verbrechen begangen hat, die ihm zur Last gelegt, aber<br />
letztlich nicht nachgewiesen wur<strong>de</strong>n, trifft hier Mirbeaus Wort von <strong>de</strong>n "Kriminellen und Wahnsinnigen"<br />
ins Schwarze, <strong>de</strong>nn manche Taten fielen durch ihre beson<strong>de</strong>re Bestialität auf. Je<strong>de</strong>nfalls prahlte Ravachol<br />
mit großen Verbrechen ebenso wie mit anarchistischen Phrasen, die er in linken Kreisen aufgeschnappt<br />
hatte. Nach zwei dilettantisch inszenierten Bombenanschlägen gegen einen Richter und einen<br />
Staatsanwalt verrät er sich durch Wichtigtuerei und en<strong>de</strong>t am 14. Juli 1892 unter <strong>de</strong>r Guillotine. Obwohl<br />
schon vor ihm in Deutschland das Anarchistenduo Stellmacher/Kämmerer und in Osterreich <strong>de</strong>ren<br />
Gesinnungsgenossen Engel und Pfleger ähnlich blutige Raubzüge veranstaltet hatten, war es Ravachols<br />
Name, <strong>de</strong>r als Synonym <strong>de</strong>s Expropriateurs in die Geschichte einging und als "La Ravachole" sogar in<br />
einem zeitweise sehr beliebten Mo<strong>de</strong>tanz seinen Nie<strong>de</strong>rschlag fand.<br />
Anarchokriminelle Taten dieser Art fan<strong>de</strong>n noch eine ganze Weile ihre Nachahmer - nun aber vermehrt in<br />
Ban<strong>de</strong>n. Für die Mitglie<strong>de</strong>r solcher Gangs war Raub eine revolutionäre Form <strong>de</strong>s Klassenkampfes.<br />
Weniger brutal als Ravachol, dafür aber wirtschaftlich be<strong>de</strong>utend erfolgreicher praktizierten etwa die<br />
Ortiz- Ban<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r die Panther von Batignolles diese mo<strong>de</strong>rne Version <strong>de</strong>r Robin-Hood-Legen<strong>de</strong>. Noch<br />
1911 machte die berüchtigte Bonnot-Ban<strong>de</strong> von sich re<strong>de</strong>n, die im Vorgriff auf <strong>de</strong>n amerikanischen<br />
Gangsterstil das Automobil als Werkzeug <strong>de</strong>r anarchistischen Expropriation einführte. In einem<br />
regelrechten show down wur<strong>de</strong>n sie schließlich von <strong>de</strong>r Polizei in ihrem Versteck umstellt, von Militär<br />
belagert und medienwirksam zusammengeschossen.<br />
Eher ein individueller Verzweiflungstäter war hingegen die tragische Gestalt <strong>de</strong>s Auguste Vaillant: ein<br />
ausgemachter Pechvogel und philosophieren<strong>de</strong>r Schwärmer, <strong>de</strong>r mit seinen zwanzig Franc Monatslohn<br />
Frau und Tochter nicht ernähren konnte. In seiner Aussichtslosigkeit bastelte er eine Bombe, die sich als<br />
recht harmlos erwies, und warf sie in die Deputiertenkammer <strong>de</strong>s Pariser Parlaments, ohne daß dabei<br />
jemand verletzt wur<strong>de</strong>. Obwohl sich mehrere <strong>de</strong>r Abgeordneten für ihn verwen<strong>de</strong>ten, verurteilte ihn das<br />
Schwurgericht zum To<strong>de</strong>. Sein Gna<strong>de</strong>ngesucht wur<strong>de</strong> abgelehnt, und auch Vaillant en<strong>de</strong>te unter <strong>de</strong>m<br />
Fallbeil. Der Mann, <strong>de</strong>r das To<strong>de</strong>surteil zur Vollstreckung freigab, war <strong>de</strong>r Staatspräsi<strong>de</strong>nt Sadi Carnot,<br />
<strong>de</strong>r seinerseits am 24. Juni 1884 von <strong>de</strong>m italienischen Bäckergesellen Sante Caserio aus Rache erdolcht<br />
wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>ssen Kopf wie<strong>de</strong>rum am 15. August unter <strong>de</strong>r Guillotine fallen sollte...<br />
Es schien, als hätte die Verzweiflungstheorie von <strong>de</strong>r "Propaganda <strong>de</strong>r Tat" ein Karussell <strong>de</strong>s Wahnsinns<br />
in Gang gesetzt, eine Art politischer Blutrache, die in schwin<strong>de</strong>lerregen<strong>de</strong>r Folge ihre Kreise zog: Ein<br />
je<strong>de</strong>r wollte jeman<strong>de</strong>n rächen o<strong>de</strong>r bezog sich auf einen Vorgänger, <strong>de</strong>r seinerseits jeman<strong>de</strong>n hatte rächen<br />
wollen. Eine Spirale <strong>de</strong>r Gewalt, <strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> nicht abzusehen war. Ein Kampf aber auch, <strong>de</strong>r niemals zu<br />
gewinnen war.<br />
Rirette Maitrejean, die zusammen mit Victor Serge das Blatt Anarchie herausgab, in <strong>de</strong>ren Redaktion die<br />
Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Bonnot-Ban<strong>de</strong> ein- und ausgingen, schrieb später über<br />
231
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diese Epoche: "Unsere I<strong>de</strong>en waren schön. Lei<strong>de</strong>r verstan<strong>de</strong>n diese Neulinge, die jungen Burschen, nicht<br />
die abstrakte Lehre daraus zu ziehen. Sie haben getötet. Und das vergossene Blut fiel auf uns zurück."<br />
Die gesamte anarchistische Bewegung durchlebte nun eine nie zuvor gekannte Repression, die keine<br />
Unterschie<strong>de</strong> machte und nicht nach Schuld fragte. Viele Anarchisten, die anfänglich <strong>de</strong>m Tyrannenmord<br />
applaudiert hatten, wandten sich angewi<strong>de</strong>rt von <strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>r Bombenleger und Raubmör<strong>de</strong>r ab. Es<br />
dauerte nicht lange, bis sich bei <strong>de</strong>n Libertären die Erkenntnis wie<strong>de</strong>r durchgesetzt hatte, daß Terror kein<br />
Weg sein konnte und durfte. Das war im Anarchismus theoretisch auch nie an<strong>de</strong>rs gesehen wor<strong>de</strong>n. Aber<br />
die Dynamik, die jene entfesselten, die glaubten, zwischen "revolutionärer Gewalt" und "Terror" eine<br />
saubere Grenze ziehen zu können, setzte starke Emotionen und zeitweise auch gewisse Sympathien frei.<br />
Es spricht für die innere Stärke <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung, daß sie sich nach kaum zehn Jahren aus<br />
eigener Kraft aus dieser tödlichen Sackgasse befreite. Die bombige I<strong>de</strong>e von <strong>de</strong>r Zauberwaffe Dynamit<br />
verschwand ebenso schnell wie<strong>de</strong>r, wie sie aufgetaucht war. Der Anarchismus entwickelte neue,<br />
konstruktivere Formen <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung, in <strong>de</strong>r das individuelle Attentat keinen Platz mehr hatte.<br />
Der Schatten <strong>de</strong>r Bombe aber lastet noch heute auf ihm.<br />
Das ist erstens ungerecht, und zweitens ist es grotesk. Ungerecht, weil Gewalt kein Merkmal <strong>de</strong>s<br />
Anarchismus ist. Grotesk, weil diejenigen, die <strong>de</strong>m Anarchismus Gewalt vorhalten, das Gewaltmonopol<br />
innehaben und sich darüber in keiner Weise moralisch <strong>de</strong>n Kopf zerbrechen. Ganz im Gegensatz zu <strong>de</strong>n<br />
Anarchisten.<br />
Exkurs: Anarchismus und Gewalt<br />
Einer <strong>de</strong>r wichtigsten Grundsätze <strong>de</strong>s Anarchismus for<strong>de</strong>rt die Anwesenheit <strong>de</strong>s Zieles in <strong>de</strong>n Mitteln.<br />
Freiheit kann man nicht mit unfreien Mittel erpressen, ein harmonisches Nebeneinan<strong>de</strong>r nicht mit<br />
Dynamit herbeibomben. Versucht man es doch, birgt dies bereits <strong>de</strong>n Keim zu neuer Gewalt in sich, <strong>de</strong>r<br />
in <strong>de</strong>r künftigen Gesellschaft üppig wuchern wür<strong>de</strong>. Dieser Grundsatz ist das genaue Gegenteil solch<br />
weitverbreiteten Unsinns, daß man mit <strong>de</strong>r Diktatur einer Partei zu einer freien Gesellschaft o<strong>de</strong>r mit<br />
staatlichen Vorschriften zum mündigen Bürger gelangen könne. Für Anarchisten heiligt <strong>de</strong>r Zweck also<br />
nicht die Mittel.<br />
Hat irgendjemand das Recht, einem an<strong>de</strong>ren das Leben zu nehmen? Sicher nicht. Auch nicht die<br />
Anarchisten. Kann irgendjemand einer geschun<strong>de</strong>nen Kreatur verbieten, sich zu wehren, sich zu rächen?<br />
Ja, aber es wäre lächerlich.<br />
Sprechen wir <strong>de</strong>shalb nicht von <strong>de</strong>n spontanen Wutausbrüchen, von geplün<strong>de</strong>rten Kirchen o<strong>de</strong>r<br />
erschlagenen Folterern, von angezün<strong>de</strong>ten Militärkasernen, verwüsteten Justizarchiven o<strong>de</strong>r gelynchten<br />
Polizeispitzeln. Solche Eruptionen <strong>de</strong>s angestauten Zorns wird es immer geben, solange Unterdrückung,<br />
Erniedrigung und Demütigung Instrumente <strong>de</strong>r Herrschaft sind. Mit "Anarchismus" haben sie nichts zu<br />
tun. Die alten Ostfriesen ließen gelegentlich einen fürstlichen Steuereintreiber im Grünkohlkessel<br />
verschwin<strong>de</strong>n, ein drang-<br />
232<br />
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salierter Ju<strong>de</strong> im Jahre Null hat schon mal einen Besatzer erschlagen, auch wur<strong>de</strong> hier und da ein<br />
Inquisitor gelyncht, und selbst Benito Mussolini hat man ohne Gerichtsurteil einfach erschossen. Solche<br />
Dinge mag man verurteilen, man mag dabei schau<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r sich klammheimlich darüber freuen — das<br />
än<strong>de</strong>rt nichts daran, daß die Opfer bisweilen <strong>de</strong>n Spieß umdrehen. Denn <strong>de</strong>r Inquisitor, Mussolini und <strong>de</strong>r<br />
Römer haben eines gemeinsam: die lange Liste ihrer Opfer.
Das soll keine Rechtfertigung von Gewalt wer<strong>de</strong>n. Solche Gewalt entzieht sich je<strong>de</strong>r Rechtfertigung wie<br />
auch je<strong>de</strong>r Verdammung. Sie wird immer wie<strong>de</strong>r produziert von vorausgehen<strong>de</strong>r Gewalt. Sie ist für Täter<br />
und Opfer kein ethisches Problem und kennt keine Abwägung von Gut und Böse. Über diese Art von<br />
Gegengewalt <strong>de</strong>n Stab zu brechen, wäre pervers. Dann müßte man auch einer jüdischen Mutter, die,<br />
nackt, mit ihrem Kind auf <strong>de</strong>m Arm, in Auschwitz in die Gaskammer getrieben wird, <strong>de</strong>n Vorwurf <strong>de</strong>r<br />
Körperverletzung machen, wenn sie in ihrer Verzweiflung auf die I<strong>de</strong>e käme, über <strong>de</strong>n SS-Offizier<br />
herzufallen.<br />
Re<strong>de</strong>n wir statt<strong>de</strong>ssen von geplanter Gewalt. Von Gewalt als Mittel zum Zweck und ihrem Verhältnis<br />
zum Anarchismus.<br />
Die Frage <strong>de</strong>r Gewalt ist für <strong>de</strong>n Anarchismus in keiner Weise prägend o<strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>nd. Hierin<br />
unterschei<strong>de</strong>t er sich nicht im geringsten von allen an<strong>de</strong>ren politischen, religiösen o<strong>de</strong>r weltanschaulichen<br />
Strömungen.<br />
Es gab immer Anarchisten, die Gewalt prinzipiell und kategorisch ablehnten, aber auch solche, die<br />
Gewalt zum Prinzip erhoben. Das ergibt sich schon aus <strong>de</strong>r Vielfalt - man könnte auch sagen: <strong>de</strong>r<br />
Inkonsequenz - dieser Bewegung. Pazifistische und gewaltbereite Anarchisten sind in<strong>de</strong>s nur die<br />
Extrempositionen, zwischen <strong>de</strong>nen sich die ganze Bandbreite einer Bewegung entfaltet, die auch in ihrem<br />
Verhältnis zur Gewalt keinen einheitlichen Standpunkt kennt.<br />
Das ist aber überall so und keinesfalls charakteristisch für Anarchisten. Liberale und Nationalisten,<br />
Christen und Patrioten, Mohammedaner und Demokraten, Rassisten und Republikaner, Kommunisten<br />
und Protestanten, Imperialisten und Sozialisten, Palästinenser und Israelis, Kapitalisten und Separatisten,<br />
Bourgeois und Proletarier, Fö<strong>de</strong>ralisten und Faschisten, Kaufleute, Forscher und Wissenschaftler, Braune,<br />
Rote, Schwarze, Grüne, Bunte und Schwarzrote - kurz: die Menschen schlechthin - haben zu allen Zeiten<br />
mehr o<strong>de</strong>r weniger intensiv Gewalt für ihre Ziele angewen<strong>de</strong>t. Alle, mit Ausnahme wirklicher Pazifisten,<br />
haben zu bestimmten Zeiten und für bestimmte Ziele Bomben gelegt, Menschen getötet, Geiseln<br />
genommen, ohne daß es einem vernünftigen Menschen einfallen wür<strong>de</strong>, auch nur eine <strong>de</strong>r genannten<br />
Menschengruppen als "Bombenwerfer" zu <strong>de</strong>finieren, wie es mit <strong>de</strong>n Anarchisten geschah.<br />
Die meisten Mor<strong>de</strong> in<strong>de</strong>s geschehen im Namen <strong>de</strong>s Staates. Das ist offensichtlich. Der Staat baut, besitzt<br />
und benutzt die meisten Bomben. Er hat Milliar<strong>de</strong>n von ihnen hergestellt und auch eingesetzt. Darin liegt<br />
das eigentlich Groteske am Gewaltvorwurf gegen <strong>de</strong>n<br />
233<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Anarchismus: Nüchtern betrachtet ist <strong>de</strong>r Staat <strong>de</strong>r berufsmäßige Terrorist, ein Profi unter lauter<br />
Stümpern. Er baut seine Bomben nicht in nächtlicher Schwarzarbeit wie Vaillant, son<strong>de</strong>rn als<br />
Serienprodukt in Fabriken. Er unterhält eine ganze Klasse von Menschen, die berufsmäßig zum Mor<strong>de</strong>n<br />
und Bombenwerfen ausgebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. O<strong>de</strong>r ist ein Bomberpilot <strong>de</strong>r Luftwaffe etwas an<strong>de</strong>res als ein<br />
professioneller Bombenwerfer mit Pensionsanspruch? Im Vergleich zum Terrorpotential <strong>de</strong>s Staates sind<br />
die anarchistischen Attentäter - vielleicht zwei Dutzend an <strong>de</strong>r Zahl - ein hoffnungsloses Häuflein von<br />
Dilettanten. Der Staat mitsamt seinen Armeen, Polizisten, agents provocateurs und Geheimdiensten - das<br />
sind die Profis <strong>de</strong>r Gewalt. Ein Blick auf die täglichen Schlagzeilen beweist, daß es Heuchelei sein muß,<br />
wenn sich ausgerechnet <strong>de</strong>r Staat über Gewalt im Anarchismus empört: Sie sind täglich voll von Terror<br />
und Gegenterror, Krieg und Vergeltungskrieg. Kein Hahn kräht danach. Es ist die Normalität. Für <strong>de</strong>n<br />
Staat war Gewalt nie eine Frage <strong>de</strong>r Moral, für ihn ist sie ein wichtiges Monopol. Er hat Angst, daß ihm<br />
jemand ins Handwerk pfuschen und seine eigenen Waffen gegen ihn kehren könnte.<br />
Ich sagte vorhin, niemand habe das Recht, einen an<strong>de</strong>ren Menschen zu töten, und das gelte auch für<br />
Anarchisten. Die Betonung liegt aber auch auf niemand: We<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Mör<strong>de</strong>r hat dieses Recht, noch sein<br />
Henker hat es, we<strong>de</strong>r Emile Henry, noch <strong>de</strong>r Richter, <strong>de</strong>r ihn zum To<strong>de</strong> verurteilte, we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Offizier, <strong>de</strong>r<br />
auf Streiken<strong>de</strong> schießt, noch <strong>de</strong>r Anarchist, <strong>de</strong>r die Streiken<strong>de</strong>n rächt. Nur - wer sich am allerwenigsten an
diese Ethik hält, ist <strong>de</strong>r Staat.<br />
Die moralische Frage von Gewalt ist ein Problem, mit <strong>de</strong>m sich die Anarchisten immer herumgequält<br />
haben und bis heute herumquälen. Der Staat tut das nicht. Anarchisten müssen mit diesem ihrem<br />
Dilemma leben und selbst zurechtkommen - <strong>de</strong>r Staat sollte hierzu am besten <strong>de</strong>n Mund halten. In <strong>de</strong>r<br />
Frage von Gewalt und Moral wäre er <strong>de</strong>r inkomptenteste Ratgeber, <strong>de</strong>n man sich <strong>de</strong>nken kann.<br />
Der Nobelpreisträger Bertrand Russell, Philosoph, Pazifist und Libertärer, hat das treffend ausgedrückt:<br />
"Wir können die ganze Frage <strong>de</strong>r Gewalt, die in <strong>de</strong>r allgemeinen Einbildung eine so große Rolle spielt,<br />
beiseite lassen, weil sie we<strong>de</strong>r etwas Wesentliches, noch etwas Beson<strong>de</strong>res für die anarchistische Position<br />
darstellt."<br />
Gewalt als Übel<br />
Das Dilemma <strong>de</strong>r Anarchisten ist damit freilich nicht gelöst. Wenngleich die historische Ära <strong>de</strong>r Attentate<br />
rasch überwun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>, so blieb <strong>de</strong>r Anarchismus in <strong>de</strong>r Folge keineswegs gewaltfrei. Der Unterschied<br />
bestand darin, daß fortan in <strong>de</strong>r Gewalt an sich niemand mehr eine Taktik o<strong>de</strong>r gar etwas Positives sah.<br />
Wo immer Gewalt noch auftrat, geschah dies, weil man glaubte, daß sie unvermeidbar war und nicht, weil<br />
man sie sich wünschte: In <strong>de</strong>r Russischen, <strong>de</strong>r Deutschen, <strong>de</strong>r Spanischen Revolution wur<strong>de</strong> geschossen.<br />
Die militante Taktik <strong>de</strong>r "Direkten Aktion" libertärer Gewerkschaften in Spanien, Lateinamerika und <strong>de</strong>n<br />
USA war auch nicht gera<strong>de</strong> friedfertig. Selbst die anarchistische Expropriation lebte in abgewan<strong>de</strong>lter<br />
Form wie<strong>de</strong>r auf, um Streikkassen zu füllen, Schulen zu finanzieren, illegale<br />
234<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Gewerkschaften aufzubauen. Der Kampf anarchistischer Partisanen gegen Mussolini o<strong>de</strong>r libertärer<br />
Guerillas gegen Franco konnte nur mit Gewalt geführt wer<strong>de</strong>n. Sogar Attentate hat es nach 1900 noch<br />
vereinzelt gegeben - etwa gegen Mussolini und Franco, <strong>de</strong>n spanischen Diktator Primo <strong>de</strong> Rivera, <strong>de</strong>n<br />
faschistoi<strong>de</strong>n Bischof von Zaragoza o<strong>de</strong>r die Militärs Falcon und Varela, die die Verantwortung für<br />
blutige Massaker an <strong>de</strong>r argentinischen Arbeiterschaft trugen. Das geschah nicht aus Lust an <strong>de</strong>r Gewalt,<br />
son<strong>de</strong>rn die Beteiligten hielten es für unumgänglich. Diese "Beteiligten" han<strong>de</strong>ln jetzt auch nicht mehr,<br />
wie Ravachol o<strong>de</strong>r Bonnot, auf eigene Rechnung, son<strong>de</strong>rn im Kontext sozialer Kämpfe. Sie waren Teil<br />
einer politischen Organisation o<strong>de</strong>r Bewegung, <strong>de</strong>r sie Rechenschaft ablegen mußten. Keine von ihnen<br />
aber hat jemals wie<strong>de</strong>r Gewalt zum Inhalt ihres Han<strong>de</strong>lns gemacht, sie alle betrachteten Gewalt als Übel.<br />
Das alles aber beantwortet nicht das ethische Problem, das sich <strong>de</strong>n Anarchisten bei <strong>de</strong>r Anwendung von<br />
Gewalt stellt. Diese Frage beantworten verschie<strong>de</strong>ne Anarchisten auf verschie<strong>de</strong>ne Weise, und nur bei <strong>de</strong>n<br />
Pazifisten ist diese Antwort ein<strong>de</strong>utig. In <strong>de</strong>r Tat sind es die sogenannten gewaltfreien Libertären, die sich<br />
als einzige konsequent nicht nur gegen Gewalt wen<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn aktiv für Friedfertigkeit eintreten. In <strong>de</strong>n<br />
Traditionen von Tolstoi, Gandhi, Martin Luther-King und Russell haben sie dabei ein ganzes System<br />
ethischen Han<strong>de</strong>lns entwickelt, das durchaus in <strong>de</strong>r Lage ist, sozialen Druck auszuüben, ohne gewalttätig<br />
zu sein. Für sie ist Ablehnung von Gewalt nicht das Ergebnis einer Abwägung <strong>de</strong>r Vor- und Nachteile,<br />
son<strong>de</strong>rn eine ein<strong>de</strong>utige ethische Entscheidung. In regelrechten Workshops trainieren sie passiven<br />
Wi<strong>de</strong>rstand, <strong>de</strong>fensive Taktik und Deeskalation, und bestens aufeinan<strong>de</strong>r eingespielte "gewaltfreie<br />
Bezugsgruppen" tragen solche Aktionsformen dann in die Arenen politischer Kämpfe, in <strong>de</strong>nen sonst eher<br />
Knüppel und Pflasterstein regieren. Dabei nehmen sie lieber eine Nie<strong>de</strong>rlage in Kauf, als zur Gewalt zu<br />
greifen, <strong>de</strong>nn dies wäre ihre schlimmste Nie<strong>de</strong>rlage. Sie setzen auf Zeit, beweisen Geduld und kommen<br />
immer wie<strong>de</strong>r. Dabei sind sie durchaus zornig und keineswegs immer sanftmütig - aber eben nie<br />
gewalttätig. Auf diese Weise haben sie, auch in Deutschland, durch jahrelanges Beispiel Stück für Stück<br />
das Klima <strong>de</strong>r politischen Kultur und Auseinan<strong>de</strong>rsetzung verän<strong>de</strong>rt. Selbstverständlich ist in <strong>de</strong>r Theorie<br />
ein gewaltfreier Anarchismus zugleich auch <strong>de</strong>r konsequenteste Anarchismus, <strong>de</strong>nn Gewalt ist immer<br />
auch Zwang.<br />
Im Mainstream-Anarchismus dominiert heute eine ein<strong>de</strong>utige Abscheu vor Gewalt; noch in <strong>de</strong>n siebziger
Jahren war eher die Lust am "militanten Zoff" die Regel. Heute wird Gewalt fast ausnahmslos als ein<br />
Übel verstan<strong>de</strong>n, das so selten wie möglich als ›unver-meidlich‹ angesehen wer<strong>de</strong>n darf. Ihr Nutzen wird<br />
sehr begrenzt eingeschätzt und müsse, so die vorherrschen<strong>de</strong> Meinung, sehr verantwortungsbewußt gegen<br />
ihre Gefahren abgewägt wer<strong>de</strong>n. Wobei nicht vergessen wer<strong>de</strong>n darf, daß in <strong>de</strong>r politischen Diskussion<br />
unter "Gewalt" heute eher ein geworfener Pflasterstein, ein nie<strong>de</strong>rgerissener Bauzaun o<strong>de</strong>r ein<br />
zerschlagenes Schaufenster verstan<strong>de</strong>n wird als die Bomben <strong>de</strong>s Emile Henry, die selbst in<br />
Anarchistenkreisen kaum mehr <strong>de</strong>m Hörensagen nach bekannt sind.<br />
Das führt natürlich zu <strong>de</strong>r Frage, was <strong>de</strong>nn Gewalt überhaupt genau ist.<br />
235<br />
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Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r nicht meint, die Herrschen<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n eines Tages wegen <strong>de</strong>r besseren Argumente <strong>de</strong>r<br />
Unterdrückten freiwillig abtreten, muß wissen, daß sich gewaltsame Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen - gleich in<br />
welcher Form - kaum vermei<strong>de</strong>n lassen wer<strong>de</strong>n. Gewalt kann viele Gesichter haben: brutal o<strong>de</strong>r sanft,<br />
physisch o<strong>de</strong>r psychisch, direkt o<strong>de</strong>r indirekt, vernichtend o<strong>de</strong>r erpresserisch. Letztendlich ist je<strong>de</strong>r Druck,<br />
<strong>de</strong>n Menschen auf an<strong>de</strong>re Menschen ausüben, damit diese etwas tun, was sie nicht wollen, eine Form von<br />
Gewalt. In diesem Sinne wäre selbst ein Hungerstreik Gandhis als Gewalt zu werten. Es ist keine Frage,<br />
daß ein überzeugter Anarchist im Zweifelsfalle stets eine ›Gewalt à la Gandhi‹ vorziehen wür<strong>de</strong>. Nur: Die<br />
Herrschen<strong>de</strong>n stellen die Machtfrage meist in ihrem Sinne und mit ihren Mitteln, und die bestehen eben in<br />
<strong>de</strong>r Regel aus – Gewalt.<br />
Die "Anwesenheit <strong>de</strong>s Ziels in <strong>de</strong>n Mitteln" ist ein kluger Grundsatz <strong>de</strong>s Anarchismus. Je<strong>de</strong>r Mensch<br />
weiß, daß auch dieser Grundsatz ein Ziel ist, ein Ziel, daß beständig angestrebt wer<strong>de</strong>n muß, aber nicht<br />
immer erreicht wird. Eine Maxime, wie die Philosophen sagen.<br />
Die Terroristen vom Schlage Henrys und Ravachols hatten, selbst wenn sie sich Anarchisten nannten, mit<br />
dieser Maxime nichts im Sinn. Die Anarchistin Severine, Lebensgefährtin <strong>de</strong>s Ex-Kommunar<strong>de</strong>n Jules<br />
Volles, spricht über sie ein mitleidloses Urteil: Sie waren "Hysteriker <strong>de</strong>s Elends, Neurotiker <strong>de</strong>r Revolte,<br />
die sich an ihrer Virulenz wie an einem allzu feurigen Wein berauschten."<br />
Wie wichtig diese Maxime im Denken späterer Generationen wer<strong>de</strong>n sollte, mag das Zitat <strong>de</strong>r jungen<br />
Anarchistin Victoria d'Andrea zeigen. Es stammt aus <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>nschaftlichen Gewaltdiskussion, die in <strong>de</strong>n<br />
zwanziger Jahren die Gemüter <strong>de</strong>r argentinischen Libertären erhitzte und eine <strong>de</strong>r stärksten, populärsten<br />
und hoffnungsvollsten anarchistischen Bewegungen <strong>de</strong>r Welt in eine verhängnisvolle Spaltung trieb:<br />
"Wir sind nicht Anarchisten weil wir hassen, son<strong>de</strong>rn weil wir das Leben lieben. Der Mensch ist von<br />
Natur aus ein geselliges Wesen, und wir kämpfen dafür, daß je<strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>r zu seinem Recht kommt, über<br />
sein Leben zu verfügen; das be<strong>de</strong>utet, die jetzige Gesellschaftsform zu vernichten und eine anarchistische<br />
aufzubauen, die <strong>de</strong>r natürlichen Entwicklung <strong>de</strong>s Menschen gerecht wird. Da für uns Mord unmenschlich<br />
ist, können wir ihn auch nicht als Kampfmetho<strong>de</strong> akzeptieren."<br />
Literatur:<br />
/ Justus F. Wittkop: Propaganda <strong>de</strong>r Tat, in: Unter <strong>de</strong>r schwarzen Fahne, Frankfurt/M. 1973, Fischer, 270<br />
S., ill.<br />
/ James Joll: Terrorismus und Propaganda durch die Tat, in: Die Anarchisten, Berlin 1969, Ullstein, 222<br />
S.<br />
/ Rudolf Krämer-Badoni: Terror m: Anarchismus, Wien, München, Zürich 1970, Mel<strong>de</strong>n, 288 S.<br />
/ Ro<strong>de</strong>rick Kedward: Individueller Terror, in: Die Anarchisten Lausanne 1970, Editions Rencontre, 128<br />
S., ill.<br />
/ Georges Sorel: Über die Gewalt Frankfurt/M. 1969, Suhrkamp, 393 S.<br />
/ Johann Most: Revolutionäre Kriegswissenschaft Berlin 1980, Rixdorfer Verlagsanstalt, 97 S.<br />
/ Arthur Holitscher: Ravachol und die Pariser Anarchisten Frankfurt/M. o.J., Freie Gesellschaft, 94 S.<br />
/ Maria Matray, Answald Krüger: Der Tod <strong>de</strong>r Kaiserin Elisabeth von Österreich München, Wien, Basel
1970, Desch, 415 S.<br />
/ Siegfried Schrö<strong>de</strong>r: Bomben, Blut und Bitterkeit Berlin 1980, Militärverlag <strong>de</strong>r DDR, 270 S.<br />
/ Walter Laqueur: Terrorismus Kronberg 1977, Athenäum, 243 S.<br />
/ Friedrich Hacker: Terror Reinbek 1975, Rowohlt, 331 S.<br />
/ Hannah Arendt: Macht und Gewalt München 1970, Piper, 1363.<br />
/ Eric J. Hobsbawm: Sozialrebellen Neuwied 1971, Luchterhand, 285 S.<br />
/ Edith Eucken-Erdsiek: Die Macht <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rheit - Eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m Neuen<br />
Anarchismus Freiburg 1970, Her<strong>de</strong>r, 123 S.<br />
/ George Lakey, Michael Rändle; Gewaltfreie Revolution Berlin 1988, Oppo, 113 S.<br />
/ Kurt Hiller: Pazifismus <strong>de</strong>r Tat -Revolutionärer Pazifismus Berlin 1981, AHDE, 71 S.<br />
/ April Carter: Direkte Aktion - Leitfa<strong>de</strong>n für <strong>de</strong>n Gewaltfreien Wi<strong>de</strong>rstand Berlin 1983, AHDE, 76 S.<br />
236<br />
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Kapitel 28<br />
Gegenseitige Hilfe –<br />
Kropotkin und <strong>de</strong>r kommunistische Anarchismus<br />
Eine zukünftige Gesellschaft muß die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Entlohnens <strong>de</strong>r Arbeit aufgeben.<br />
Es bleibt nur eins: Die Bedürfnisse über die Leistungen zu stellen.<br />
- Peter Kropotkin -<br />
"WIR HATTEN EINEN KLEINEN GARTEN, in <strong>de</strong>m wir uns mit Kegelschieben unterhalten konnten.<br />
Überdies bestellten wir ein schmales Stückchen Land und erzielten fast unglaubliche Mengen an<br />
Salatköpfen und Rettichen, wie auch einige Blumen."<br />
Über <strong>de</strong>n Mann, <strong>de</strong>r so von seinem Gärtlein schwärmte, schrieb George Bernhard Shaw: "Er war so<br />
liebenswert, daß es ans Heilige grenzte; mit seinem roten Vollbart und <strong>de</strong>m gütigen Gesicht hätte man ihn<br />
für einen Hirten aus <strong>de</strong>n lieblichen Bergen halten können." Der vermeintliche Landfreak aber war kein<br />
Hirte, und sein Gärtlein lag im Zentralgefängnis von Clairvaux. In <strong>de</strong>n Mauern <strong>de</strong>s alten Klosters, in <strong>de</strong>m<br />
einst <strong>de</strong>r Heilige Bernhard wirkte, saß Peter Alexandrowitsch Kropotkin eine fünfjährige Haftstrafe ab<br />
und litt trotz <strong>de</strong>r Salatköpfe an Skorbut. Der sanfte Gefangene war ein leibhaftiger russischer Fürst und<br />
prominenter Naturwissenschaftler, <strong>de</strong>r in seiner Zelle Artikel für die Encyclopedia Britannica verfaßte.<br />
Vor allem aber war er <strong>de</strong>r <strong>de</strong>rzeit populärste und <strong>de</strong>shalb, wie die Behör<strong>de</strong>n meinten, gefährlichste<br />
Anarchist. Prominente Zeitgenossen wie Swinbourne, Herbert Spencer, Victor Hugo und Clemenceau<br />
hatten sich für die Lockerung seiner Haftbedingungen eingesetzt, und die Académie <strong>de</strong>s Sciences in Paris<br />
stellte ihm ihre Bibliothek zur Verfügung. 1886 wur<strong>de</strong> er begnadigt und ging nach London, um sich<br />
sogleich wie<strong>de</strong>r seiner Lebensaufgabe zu widmen: <strong>de</strong>r Erneuerung <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung.<br />
Peter Kopotkin war zur zentralen Figur unter <strong>de</strong>njenigen gewor<strong>de</strong>n, die die Krise <strong>de</strong>s Anarchismus<br />
überwin<strong>de</strong>n wollten, und er hatte das Zeug dazu. Seine I<strong>de</strong>en sollten die libertäre Bewegung ins<br />
zwanzigste Jahrhun<strong>de</strong>rt führen. Von ihm gingen erneuern<strong>de</strong> Impulse aus, die <strong>de</strong>n rustikalen Anarchismus<br />
Bakunins weiterentwickelten und verfeinerten, und <strong>de</strong>ren zentrale Gedanken bis heute Bestand haben.<br />
Vom Fürsten zum Rebellen<br />
Dabei hätte aus <strong>de</strong>m 1842 in Moskau geborenen Peter Alexandrowitsch eigentlich etwas ganz an<strong>de</strong>res<br />
wer<strong>de</strong>n sollen. 1857 kam <strong>de</strong>r Sproß eines alten russischen Hocha<strong>de</strong>lsgeschlechtes auf speziellen Wunsch<br />
<strong>de</strong>s Zaren in <strong>de</strong>ssen persönliche Pagencorps an <strong>de</strong>n Hof zu St. Petersburg. Der Fünfzehnjährige aber<br />
fühlte sich alles an<strong>de</strong>re als geehrt. Er empfand die <strong>de</strong>spotische Atmosphäre im Zentrum <strong>de</strong>r Macht als
unerträglich, versuchte sich sogar mit <strong>de</strong>r Herausgabe eines handgeschriebenen revolutionären Blättchens.<br />
Schon als Knabe hatte er Mitleid mit <strong>de</strong>m bedrücken<strong>de</strong>n Schicksal <strong>de</strong>r landlosen Bauern empfun<strong>de</strong>n, von<br />
<strong>de</strong>nen sein Vater immerhin 12.000 ›sein Eigen‹ nannte. Zum Offizier avanciert, mel<strong>de</strong>t er<br />
237<br />
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sich zum Entsetzen seiner adligen Freun<strong>de</strong> freiwillig zu einem <strong>de</strong>r verrufensten Regimenter im fernen<br />
Sibirien, <strong>de</strong>n Amur-Kosaken. Er wollte fort von <strong>de</strong>n Verlogenheiten <strong>de</strong>s Hofes, hin zum harten, einfachen<br />
Leben in <strong>de</strong>n endlosen Weiten Sibiriens, zu <strong>de</strong>n Bauern, Verbrechern und verkrachten Existenzen, die er<br />
in gewisser Weise i<strong>de</strong>alisierte.<br />
In Sibirien trifft er aber auch auf Spuren <strong>de</strong>r Anarchie. In Irkutsk lernt er, kurz nach Bakunins Flucht,<br />
<strong>de</strong>ssen Frau Antonia kennen und <strong>de</strong>n mit Bakunin befreun<strong>de</strong>ten Gouverneur Kukel. In <strong>de</strong>r Bibliothek <strong>de</strong>s<br />
verbannten Schriftstellers M. L. Michailow fin<strong>de</strong>t er die Werke Proudhons, die er mit Gewinn liest.<br />
Prägen<strong>de</strong>r aber sollten sich seine eigenen Erfahrungen erweisen, die <strong>de</strong>r aufmerksame Beobachter mit <strong>de</strong>n<br />
Menschen, <strong>de</strong>m Land und <strong>de</strong>r Natur macht. Mit seiner Truppe aus verurteilten Mör<strong>de</strong>rn und Dieben<br />
unternimmt er ausge<strong>de</strong>hnte Forschungsreisen, <strong>de</strong>ren Ergebnisse weit über die verkehrsstrategischen Ziele<br />
hinausgehen, die <strong>de</strong>r Generalstab ihm gesetzt hatte. Über 8000 Meilen legt er zu Pfer<strong>de</strong>, im Wagen, im<br />
Dampfboot o<strong>de</strong>r im Kahn zurück und dringt als Händler verklei<strong>de</strong>t in Gebiete vor, die noch von keinem<br />
Europäer besucht wor<strong>de</strong>n waren. Hier legt Kropotkin <strong>de</strong>n Grundstock für seine naturwissenschaftliche<br />
Karriere als Geograph und Geologe, aber auch als universeller Beobachter <strong>de</strong>r Natur, die ihn zum<br />
Wegbereiter einer Disziplin machen, die später "Verhaltensforschung" genannt wer<strong>de</strong>n wird.<br />
"Die Jahre, die ich in Sibirien verbrachte", schreibt er in seinen Memoiren, "lehrten mich vieles, das ich<br />
schwerlich woan<strong>de</strong>rs hätte lernen können. Es wur<strong>de</strong> mir bald klar, daß es völlig unmöglich sei, für die<br />
große Masse <strong>de</strong>s Volkes auf <strong>de</strong>m gewöhnlichen Weg <strong>de</strong>r Verwaltung etwas wirklich Heilsames zu<br />
schaffen. (...) Die konstruktive Arbeit, die von <strong>de</strong>r namenlosen Menge getan wird, und die große<br />
Be<strong>de</strong>utung dieser konstruktiven Arbeit für die Entwicklung sozialer Formen trat mir überzeugend vor<br />
Augen. (...) So wur<strong>de</strong> ich dazu vorbereitet, ein Anarchist zu wer<strong>de</strong>n."<br />
1868, nach <strong>de</strong>r blutigen Nie<strong>de</strong>rschlagung eines Aufstan<strong>de</strong>s polnischer Deportierter, zieht er unter Protest<br />
die Uniform aus und widmet sich an <strong>de</strong>r Universität von St. Petersburg <strong>de</strong>m Studium <strong>de</strong>r<br />
Naturwissenschaften. Er wird ein vielbeachtetes Mitglied <strong>de</strong>r Russischen Geographischen Gesellschaft<br />
und schon bald zu ihrem Generalsekretär berufen. Seine wissenschaftlichen Ambitionen hatten sich rasch<br />
erfüllt, aber in ihm gärte bereits ein stärkerer Wunsch. Ein Forschungsauftrag, <strong>de</strong>r ihn nach Skandinavien<br />
führt, bringt ihn erneut in Kontakt mit <strong>de</strong>m kärglichen Leben <strong>de</strong>r Bauern, und als er zurückkehrt, steht<br />
sein Entschluß fest: Fortan will er sein Leben "in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>r sozialen Frage" stellen.<br />
1872 bekommt er die Gelegenheit, nach Zürich zu gehen, wo bereits sein Bru<strong>de</strong>r Alexan<strong>de</strong>r lebt. Durch<br />
ihn fin<strong>de</strong>t er Zugang zu sozialistischen Kreisen und wird Mitglied <strong>de</strong>r Internationale. Er liest mit Eifer,<br />
schaut sich aufmerksam um und erlebt das abstoßen<strong>de</strong> Verhalten karrierebesessener Arbeiterfunktionäre:<br />
"Diese Drahtzieherei seitens <strong>de</strong>r Führer konnte ich mit <strong>de</strong>n flammen<strong>de</strong>n Re<strong>de</strong>n, die ich sie hatte halten<br />
hören, nicht zusammenreimen. Ich fühlte mich abgestoßen."<br />
In Genf lernt er die bakunistische Sektion kennen und wen<strong>de</strong>t sich von dort nach Neuchâtel, ins Herz <strong>de</strong>r<br />
"Jura-Fö<strong>de</strong>ration". In wenigen Wochen machte er sich so ein Bild vom Zustand <strong>de</strong>s Sozialismus — nicht,<br />
in<strong>de</strong>m er sich auf theo-<br />
238<br />
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etische Spitzfindigkeiten einließ, son<strong>de</strong>rn dadurch, daß er genau hinschaute. Am meisten imponierte ihm<br />
das offene, freie Klima bei <strong>de</strong>n Libertären, ihr optimistischer und konstruktiver Geist. Die Uhrmacher<br />
hatten sich in kleinen Kollektiven zusammengeschlossen, die jeweils eine Manufaktur betrieben und die<br />
Gewinne untereinan<strong>de</strong>r aufteilten. Hier gab es kaum hierarchische Strukturen - we<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Arbeit, noch<br />
in <strong>de</strong>r Politik. "Die Trennung zwischen Führern und Arbeitern", schreibt Kropotkin, "existierte dort nicht.<br />
Es fand sich auch dort eine Anzahl von Männern, die scharfsinniger und vor allem tätiger waren als die<br />
an<strong>de</strong>ren, aber das war alles." Von diesen "scharfsinnigen Männern" lernte er <strong>de</strong>n Graveur Adhémar<br />
Schwitzguebel und <strong>de</strong>n Lehrer James Guillaume näher kennen, <strong>de</strong>r ihm übrigens von einem Besuch beim<br />
"alt und mü<strong>de</strong> gewor<strong>de</strong>nen" Bakunin im nahen Locarno abriet. Aber auch ohne die Visite bei seinem<br />
berühmten Landsmann, <strong>de</strong>n er nie persönlich kennenlernen sollte, stand Kropotkins Bilanz nach zwölf<br />
Tagen fest: "Ich war ein Anarchist."<br />
Jahre <strong>de</strong>r Aktion<br />
Als solcher war er fest entschlossen, nach Rußland zurückzukehren. Ein Dasein als Frem<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />
Emigration empfand er als steril. Noch im Sommer <strong>de</strong>s gleichen Jahres reist Kropotkin zurück in die<br />
Heimat — im Gepäck mehrere Bün<strong>de</strong>l illegaler Literatur. In St. Petersburg nimmt er Verbindung zu<br />
Oppositionsgruppen auf: <strong>de</strong>m seit 1869 bestehen<strong>de</strong>n Sozialistischen Bildungsverein und <strong>de</strong>m<br />
konstitutionellen Tschaikowski-Kreis, <strong>de</strong>r sich um <strong>de</strong>n Bru<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Komponisten geschart hatte. Es gelingt<br />
ihm, viele <strong>de</strong>r jungen Leute für seine I<strong>de</strong>en zu interessieren. Neben seinen wissenschaftlichen Arbeiten<br />
entfaltet er im Geheimen eine rege agitatorische Tätigkeit. Auch die Polizei wird auf diesen ominösen*<br />
Mann aufmerksam, <strong>de</strong>r sich Borodin nennt und als Bauer verklei<strong>de</strong>t an illegalen Versammlungen in <strong>de</strong>n<br />
Vorstädten teilnimmt o<strong>de</strong>r Vorträge in Webereien und Baumwollfabriken hält.<br />
Wie üblich herrscht auch in <strong>de</strong>r Gruppe keine Einigkeit über <strong>de</strong>n richtigen Weg. Vom Sozial<strong>de</strong>mokraten<br />
bis zum strammen Narodnik sind alle Richtungen vertreten, nicht wenige hängen <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en Netschajews<br />
an. Agitation halten sie für Zeitverschwendung: Verschwörung und Attentate lautet ihr Rezept, wobei sich<br />
einige sogar auf Bakunin berufen. Kropotkin tritt diesem "Nihilismus" entgegen und entwickelt seine<br />
eigene Auffassung von Revolution:<br />
"Zur Verwirklichung <strong>de</strong>r Gleichheit gehören viele Jahre, viele partielle Ausbrüche, die man beschleunigen<br />
muß. Der Aufstand kann nicht von <strong>de</strong>n Revolutionären gemacht wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn sie müssen <strong>de</strong>n sich<br />
vorbereiten<strong>de</strong>n Aufstand för<strong>de</strong>rn, die unzufrie<strong>de</strong>nen Elemente untereinan<strong>de</strong>r verbin<strong>de</strong>n, kurz, auf je<strong>de</strong><br />
Weise helfen."<br />
Nicht unbedingt nur friedlich, aber so friedlich wie irgend möglich: "Ich begriff allmählich, daß<br />
Revolutionen, d.h. Perio<strong>de</strong>n beschleunigter Entwicklung und reißend schneller Fortschritte, <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r<br />
menschlichen Gesellschaften nicht min<strong>de</strong>r eigen sind als die langsame Fortentwicklung." Es han<strong>de</strong>le sich<br />
also nicht um die Frage, wie man Revolutionen vermei<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn wie "die größten Ergebnisse bei<br />
möglichster Beschränkung <strong>de</strong>r Opfer und einem Minimum gegenseitiger Erbitterung" zu erzielen seien.<br />
Kropotkin plädiert zunächst für die Verbreitung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>en unter <strong>de</strong>n Bauern und Arbeitern: durch<br />
239<br />
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leicht verständliche Broschüren und eine kleine volkstümliche Zeitschrift. Vor allem aber durch eine Art<br />
von Propaganda, "die wir die tägliche nennen": das direkte, nachvollziehbare Vorleben freiheitlicher und<br />
befreien<strong>de</strong>r Lebensformen. Er dachte hierbei an lokale Bewegungen mit weitreichen<strong>de</strong>n sozialen Zielen,<br />
vor allem an Produktions- und Verbrauchsgenossenschaften. Aber damit war er seiner Zeit weit voraus.<br />
Schon bald wird die Gruppe systematisch verfolgt, immer mehr Mitglie<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n verhaftet. Kropotkin<br />
trägt sich mit <strong>de</strong>m Gedanken, nach Südrußland zu gehen, um auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> weiter zu wirken. Im März<br />
1874 wird er jedoch entlarvt und verhaftet. Er lan<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r Peter-und-Pauls-Festung, wo schon Bakunin<br />
dreiundzwanzig Jahre zuvor gelitten hatte. 193 Gesinnungsgenossen sitzen wegen Agitation in strengster<br />
Haft: Isolierung, feuchte Zellen, schlechtes Essen, keine Heizung, absolutes Sprechverbot. Die
Untersuchung sollte sich vier Jahre hinschleppen, während <strong>de</strong>r einundzwanzig Häftlinge Selbstmord<br />
begehen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Wahnsinn verfallen. "Bakunin hat es ausgehalten", sagte sich Kropotkin, "und das muß<br />
auch ich; ich will nicht erliegen." Von Skorbut befallen und völlig entkräftet wird er ins Militärhospital<br />
eingeliefert. Von hier gelingt ihm mit Hilfe von außen die Flucht. Während die ganze Stadt nach <strong>de</strong>m<br />
prominenten Flüchtling durchkämmt wird, sitzt dieser, <strong>de</strong>n Bart gestutzt, dort, wo man ihn am wenigstens<br />
vermutet: beim Diner im besten Restaurant am Platze.<br />
Über Schwe<strong>de</strong>n und Schottland gelangt Kropotkin nach London, immer noch entschlossen, nach ein paar<br />
Monaten Erholung in seine Heimat zurückzukehren. Es sollte aber noch einundvierzig Jahre dauern, bis er<br />
Rußland 1917 wie<strong>de</strong>rsieht. In London verdient er sich seinen Lebensunterhalt mit journalistischen<br />
Arbeiten in <strong>de</strong>r Times und <strong>de</strong>m Magazin Nature, aber es hält ihn nicht in England. Er will wie<strong>de</strong>r an die<br />
Brennpunkte <strong>de</strong>r Bewegung. Nach einigen Reisen kehrt er 1877 zurück in <strong>de</strong>n Schweizer Jura.<br />
Reorganisation<br />
Die Jura-Fö<strong>de</strong>ration fand er in einem be<strong>de</strong>nklichen Zustand vor. Die zahlreichen Flüchtlinge aus <strong>de</strong>r<br />
Pariser Commune hatten einen Hauch von Resignation mitgebracht, und auch in <strong>de</strong>r liberalen Schweiz<br />
wur<strong>de</strong>n nun die Anarchisten von Behör<strong>de</strong>n und Unternehmern schikaniert und bedroht. Immer weniger<br />
Arbeiter trauten sich, offen zu ihrer Überzeugung zu stehen. Vor allem aber fehlte es an Elan, neuen I<strong>de</strong>en<br />
und einem Organisationstalent. Es schien, als wartete hier eine Aufgabe auf <strong>de</strong>n tatendurstigen Russen.<br />
In diesen Jahren entsteht von <strong>de</strong>r Schweiz aus die längst überfällige geistige und personelle Erneuerung<br />
<strong>de</strong>s Anarchismus. Um Kropotkin und Guillaume schart sich eine neue Generation von aktiven<br />
Gesinnungsgenossen, die in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahrzehnten <strong>de</strong>n Motor <strong>de</strong>r Bewegung abgeben wer<strong>de</strong>n: Elisee<br />
Reclus, ein Flüchtling <strong>de</strong>r Commune, vormals Direktor <strong>de</strong>r Pariser Nationalbibliothek und Geograph wie<br />
Kropotkin. Errico Malatesta, ein junger Italiener, ehemals Medizinstu<strong>de</strong>nt, <strong>de</strong>r 1877 mit einer Gruppe<br />
anarchistischer Guerillas in italienischen Bergdörfern <strong>de</strong>n Aufstand geprobt hatte. Der puritanische<br />
Marchese Carlo Cafiero, ebenfalls Teilnehmer <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s und finanzieller För<strong>de</strong>rer <strong>de</strong>s<br />
240<br />
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greisen Bakunin. Der Südfranzose Paul Brousse, ein ruheloser Wirbelwind, Herausgeber eines<br />
französischen sowie eines <strong>de</strong>utschen Blattes und Erfin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s so sehr mißbrauchten Ausdruckes<br />
propagan<strong>de</strong> par le fait*. Dieser harte Kern hochmotivierter Leute dachte das, was bei Bakunin als negative<br />
Kritik begonnen war, zu En<strong>de</strong>. Heraus kam eine positive Utopie, die später als "Anarchistischer<br />
Kommunismus" bezeichnet wur<strong>de</strong>. Schon die anarchistischen Kongresse von Florenz 1876 und La-<br />
Chaux-<strong>de</strong>-Fonds 1880 brachten <strong>de</strong>r neuen I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>n Durchbruch. Kropotkin wur<strong>de</strong> für mehr als dreißig<br />
Jahre ihr prominentester Autor. "Unsere Haupttätigkeit", schrieb er, "bestand in <strong>de</strong>r Ausgestaltung <strong>de</strong>s<br />
anarchistischen Sozialismus nach <strong>de</strong>r praktischen und theoretischen Seite hin".<br />
Nach<strong>de</strong>m das Bulletin <strong>de</strong>r Jura-Fö<strong>de</strong>ration verboten wur<strong>de</strong>, grün<strong>de</strong>ten Kropotkin, Dumatheray und Herzig<br />
1879 in Genf Le Revolte*. Das war nun endlich ein Blatt, das ein breites Publikum ansprach. In ihr<br />
veröffentlichte Kropotkin eine Unzahl seiner volkstümlich geschriebenen Artikel, hier fand die<br />
publizistische Umsetzung <strong>de</strong>r neuen I<strong>de</strong>en statt, die in jenen Jahren im Jura ausgebrütet wur<strong>de</strong>n. Viele<br />
Texte, die später in Buchform zu libertären Klassikern wur<strong>de</strong>n, hatten zuerst im Revolte gestan<strong>de</strong>n. Das<br />
Blatt erschien zunächst vierzehntägig, dann wöchentlich, und die Auflage stieg so rasch, daß die<br />
Behör<strong>de</strong>n begannen, die Druckerei zu schikanieren. Kropotkin & Co. entschlossen sich kurzerhand,<br />
›Unternehmer‹ zu wer<strong>de</strong>n: Sie grün<strong>de</strong>ten die Imprimerie Jurassienne, in <strong>de</strong>r auf Jahre die subversive<br />
Gebrauchsprosa vieler Län<strong>de</strong>r gedruckt wur<strong>de</strong>. Le Revolte, diese vielleicht erste anarchistische<br />
›Publikumszeitschrift‹ wur<strong>de</strong> zum Vorbild vieler an<strong>de</strong>rer libertärer Blätter, die jetzt überall offensiv<br />
begannen, anarchistische I<strong>de</strong>en auch unter <strong>de</strong>m Etikett ›Anarchis-mus‹ zu verbreiten. In Frankreich,<br />
wohin die Redaktion später umzog, trug <strong>de</strong>r Revolte nicht unwesentlich zur Erstarkung <strong>de</strong>s Anarchismus<br />
bei. Elisee Reclus wur<strong>de</strong> zeitweise ihr Herausgeber, gefolgt von <strong>de</strong>m energischen Arbeiter Jean Grave,<br />
<strong>de</strong>r wegen Verbots zweimal <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s Blattes än<strong>de</strong>rn mußte: zunächst in La Revolte* und später in
Les Temps Nouveaux*.<br />
Zeit für die Naturwissenschaften fand Kropotkin nun kaum noch. Er bereiste halb Europa: Frankreich,<br />
Belgien, England und Spanien. Der Besuch auf <strong>de</strong>r iberischen Halbinsel wur<strong>de</strong> zum beeindrucken<strong>de</strong>n<br />
Erlebnis: Hier kam er erstmals in Kontakt mit gut organisierten anarchistischen Arbeiterorganisationen.<br />
Aus <strong>de</strong>m belächelten Netz <strong>de</strong>r Bakuninschen Alliance waren regelrechte Massengewerkschaften<br />
entstan<strong>de</strong>n.<br />
1878 hatte Kropotkin in Genf die Bekanntschaft einer russischen Stu<strong>de</strong>ntin gemacht, die in <strong>de</strong>n<br />
"nihilistischen Kreisen <strong>de</strong>r russischen Jugend" aktiv gewesen war, und die er offenbar sehr sympathisch<br />
fand. Dort, so schreibt Kropotkin mit kaum verhohlener Bewun<strong>de</strong>rung, sah man in einer Frau "einen<br />
Kamera<strong>de</strong>n, ein menschliches Wesen, aber keine Puppe und keinen Klei<strong>de</strong>rstock". Die selbstbewußte und<br />
emanzipierte Sofia Ananeva schien <strong>de</strong>rartiges von <strong>de</strong>m anarchisieren<strong>de</strong>n Fürsten auch nicht erwartet zu<br />
haben. Bald darauf wird sie Frau Kropotkina.<br />
Als Kropotkin 1881 vom Londoner Anarchistenkongreß zurückkehrt, wird er aus <strong>de</strong>r Schweiz<br />
ausgewiesen. Dabei hat vermutlich die Wortradikalität eine Rolle gespielt, mit <strong>de</strong>r<br />
241<br />
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er verschie<strong>de</strong>ne Artikel im Revolte gewürzt hatte, nach<strong>de</strong>m in Rußland einige seiner besten Freun<strong>de</strong><br />
hingerichtet wor<strong>de</strong>n waren. Trotz seiner eigenen Einschätzung, die Zeitung "im Tonfall maßvoll, aber<br />
<strong>de</strong>m Wesen nach revolutionär" zu gestalten, fan<strong>de</strong>n sich Sätze wie diese: "Unsere Aktion muß die<br />
permanente Revolution sein, mit Wort, Schrift, Dolch, Gewehr, Dynamit" — das liest sich nicht gera<strong>de</strong><br />
"maßvoll", beson<strong>de</strong>rs, wenn dabei überlesen wird, daß <strong>de</strong>r Autor damit ausdrücklich keinen individuellen<br />
Terror, son<strong>de</strong>rn das Recht auf kollektive Revolte begrün<strong>de</strong>t. Die Schweizer Behör<strong>de</strong>n haben sich offenbar<br />
für solche Feinheiten nicht interessiert, ebensowenig wie die fanatisierten Jünger, die zu Kropotkins<br />
Entsetzen diese Worte als Blankovollmacht für politische Attentate auffaßten. An<strong>de</strong>rerseits war<br />
Kropotkin inzwischen selbst ins Zielkreuz terroristischer Aktivitäten geraten: Die in Rußland agieren<strong>de</strong><br />
ultrakonservative "Heilige Liga", <strong>de</strong>ren Ziel "die Ausrottung <strong>de</strong>s Nihilismus" war, hatte <strong>de</strong>n Exilfürsten<br />
auf ihre To<strong>de</strong>sliste gesetzt.<br />
Die junge Familie weicht aus und zieht nach Thonon, auf die französische Seite <strong>de</strong>s Genfer Sees,<br />
verbringt ein Jahr in London, wo Artikel für die Encyclopedia Britannien und Nineteenth Century<br />
entstehen, um En<strong>de</strong> 1882 nach Thonon zurückzukehren. Dort wird Kropotkin im Dezember verhaftet und<br />
im Januar zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Als Grund mußte die Mitgliedschaft in <strong>de</strong>r Internationale<br />
herhalten, die in Frankreich nach wie vor verboten war. Tatsächlich wollte man ihm und sechzig an<strong>de</strong>ren<br />
mitangeklagten Anarchisten, die er nie zuvor gesehen hatte, die Verwicklung in einen Anschlag auf ein<br />
Cafe in Lyon und die Ausschreitungen bei einem Bergarbeiterstreik in Montceau-les-mines nachweisen.<br />
Dort hatten die Arbeiter versucht, nach Bakuninscher Lehre die Akten zu verbrennen. Gegen keinen <strong>de</strong>r<br />
Angeklagten konnte <strong>de</strong>r Beweis einer Beteiligung erbracht wer<strong>de</strong>n. Da "geistige Urheberschaft" noch<br />
nicht, wie später in Deutschland, ein Tatbestand war, genügte die Mitgliedschaft in <strong>de</strong>r mittlerweile<br />
übrigens aufgelösten Internationale, um <strong>de</strong>n lästigen Aufwiegler für einige Jahre aus <strong>de</strong>m Verkehr zu<br />
ziehen.<br />
So kam <strong>de</strong>r Fürst zu <strong>de</strong>m zweifelhaften Vergnügen, sich mit aller Muße in <strong>de</strong>r Aufzucht von Rettichen zu<br />
versuchen.<br />
Nach <strong>de</strong>r Haftentlassung 1886 wohnen die völlig mittellosen Kropotkins eine Weile bei Reclus' Bru<strong>de</strong>r<br />
Elie in Paris, um dann einer Einladung nach London zu folgen, wo ein anarchistischer Kreis die<br />
Herausgabe einer Zeitschrift plant, für die man sich die Mitarbeit <strong>de</strong>s prominenten Anarchisten sichern<br />
wollte. Im Oktober <strong>de</strong>sselben Jahres wird die erste Nummer <strong>de</strong>r Freedom gedruckt, die übrigens bis heute<br />
erscheint. Sie wird bis zum Jahre 1914, als es wegen unterschiedlicher Standpunkte zum beginnen<strong>de</strong>n<br />
Weltkrieg zu einem Zerwürfnis kommt, Kropotkins politisches Sprachrohr. Neben <strong>de</strong>m Revolte, für <strong>de</strong>n
er weiterhin schreibt, publiziert er wie<strong>de</strong>r verstärkt in wissenschaftlichen Zeitschriften, hält Vorträge und<br />
wird Mitglied <strong>de</strong>r Königlichen Geographischen Gesellschaft, in <strong>de</strong>r er einen zwiespältigen Ruf genießt:<br />
Als Naturwissenschaftler und Sozialtheoretiker hoch geachtet, gilt er doch als etwas verschroben, da er es<br />
ablehnt, sich beim üblichen Toast auf <strong>de</strong>n König zu erheben.<br />
242<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Privat beginnt diese Londoner Phase, die über dreißig Jahre dauern sollte, düster. Im Sommer erkrankt<br />
seine Frau an Typhus, und aus Sibirien erreicht ihn die Nachricht vom Selbstmord seines in Verbannung<br />
leben<strong>de</strong>n Bru<strong>de</strong>rs Alexan<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r sich stets für ihn eingesetzt hatte. Seine eigene Gesundheit ist schwer<br />
angeschlagen, er fühlt sich physisch und psychisch erschöpft. "Ich habe die Kraft verloren, die ich zehn<br />
Jahre zuvor hatte", antwortet er einem Freund, <strong>de</strong>r ihn zur Mitarbeit in einer <strong>de</strong>utschen Anarchistengruppe<br />
bewegen will. Einziger Lichtblick ist die Geburt einer Tochter, die im An<strong>de</strong>nken an <strong>de</strong>n Bru<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
Namen Alexandra erhält.<br />
Die wil<strong>de</strong>n Jahre, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r feurige Revolutionär ohne Rücksicht auf seine eigene Substanz ruhelos<br />
herumreiste und sich aufrieb, sind vorbei. Zwar stellt er sich auch weiterhin in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>r<br />
anarchistischen Bewegung, schreibt, kommentiert, besucht Kongresse. Vorträge führen ihn 1901 sogar in<br />
die USA, die Schweiz, nach Italien und auch wie<strong>de</strong>r ins geliebte Frankreich. Seine ganze Kraft aber<br />
widmet er fortan <strong>de</strong>r Ausarbeitung seiner Theorien, die er in mehreren Büchern veröffentlicht. Sie wer<strong>de</strong>n<br />
allesamt zu Klassikern <strong>de</strong>r sozialen Literatur, <strong>de</strong>ren Wirkung weit über die engen Grenzen <strong>de</strong>r<br />
anarchistischen Kreise hinausgeht.<br />
Die Theorie <strong>de</strong>r Solidarität<br />
Kropotkin gilt seither als <strong>de</strong>r große Mo<strong>de</strong>rnisierer <strong>de</strong>s Anarchismus, <strong>de</strong>ssen Anregungen seiner Zeit so<br />
weit voraus waren, daß sie erst heute, im Zeitalter <strong>de</strong>s wirtschaftlichen und ökologischen Schachmatt,<br />
langsam ins Bewußtsein <strong>de</strong>r Menschen rücken. "Fast ein halbes Jahrhun<strong>de</strong>rt vor <strong>de</strong>m technischen Denken<br />
unserer Zeit", schrieb Lewis Mumford 1961, "hatte er erfaßt, daß die Anpassungsfähigkeit und<br />
Anwendbarkeit <strong>de</strong>r Kommunikationsmittel und <strong>de</strong>r elektrischen Energie in Verbindung mit <strong>de</strong>n<br />
Möglichkeiten einer intensiven, biodynamischen Landwirtschaft die Grundlagen für eine <strong>de</strong>zentralisierte<br />
Entwicklung <strong>de</strong>r Städte in Form von kleinen Gemeinschaften geschaffen hatten, die auf direktem<br />
menschlichen Kontakt beruhen und die Vorteile <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s mit <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Stadt verbin<strong>de</strong>n". Dem<br />
ungestümen Impuls einer alles neuschöpfen<strong>de</strong>n Empörung, die Bakunins Denken beherrschte, fügt<br />
Kropotkin in gera<strong>de</strong>zu sachlicher Verfeinerung ein philosophisches Weltbild mit einer soli<strong>de</strong>n<br />
wissenschaftlichen Grundlage hinzu.<br />
Sein Thema ist die Natur <strong>de</strong>s Menschen, die Frage, ob er zu einer an-archischen Lebensform überhaupt<br />
taugt. Sein Ziel ist die Struktur einer libertären Gesellschaft, die nicht auf Spekulation und<br />
Wunsch<strong>de</strong>nken, son<strong>de</strong>rn auf nüchternen Tatsachen beruht. Technik, Soziologie, Statistik,<br />
Verhaltensforschung, Ethik, Biologie und Geschichte, all das sind Elemente, die Kropotkin als erster<br />
systematisch in <strong>de</strong>n anarchistischen Diskurs einbringt. Schon zuvor hatte er eine Reihe von Büchern<br />
veröffentlicht, von <strong>de</strong>nen "Worte eines Rebellen' (188$) und "Die Eroberung <strong>de</strong>s Brotes" (1892) die<br />
populärsten wur<strong>de</strong>n. In diesen Aufbereitungen seiner wichtigsten Artikel aus <strong>de</strong>m Revolte entwickelte<br />
Kropotkin seine bereits bekannte Vision <strong>de</strong>s "kommunistischen Anarchismus" weiter.<br />
Zunächst greift er die übliche anarchistische Polemik gegen Staat, Kirche, Gesetz und die<br />
243<br />
--------------------------------------------------------------------------------
ökonomische Herrschaft <strong>de</strong>s Bürgertums auf. Ganz im Sinne Bakunins wettert er gegen <strong>de</strong>n autoritären<br />
Sozialismus als eine neue Tyrannei und unterstreicht das Recht auf Rebellion gegen das gesamte System<br />
kapitalistischer Unfreiheit. Aber schon bei <strong>de</strong>r Betrachtung <strong>de</strong>s Wesens <strong>de</strong>r Gesetze zeigt sich, daß <strong>de</strong>r<br />
Autor be<strong>de</strong>utend subtiler vorgeht als <strong>de</strong>r poltern<strong>de</strong> Bakunin. Als Naturwissenschaftler differenziert<br />
Kropotkin akkurat zwischen sozialen Verhaltensweisen, Gebräuchen, Sitten, Konventionen und Gesetz.<br />
Dabei kommt er zu <strong>de</strong>m Schluß, daß freiwillige Übereinkünfte in <strong>de</strong>r Regel sozial, solidarisch und<br />
vernünftig waren und es zum Teil bis heute geblieben sind. Das "Gesetz" interpretiert er als ein<br />
"verhältnismäßig mo<strong>de</strong>rnes Produkt", entstan<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Interesse einer Min<strong>de</strong>rheit, an<strong>de</strong>re zu<br />
beherrschen und sich frem<strong>de</strong> Arbeit anzueignen. Im Verein mit religiöser Verklärung hätten es die<br />
Herrschen<strong>de</strong>n verstan<strong>de</strong>n, die hergebrachten "notwendigen Gebräuche" geschickt mit <strong>de</strong>n Erfor<strong>de</strong>rnissen<br />
ihrer eigenen Interessen zu vermischen und in Gesetzesform zu bringen, für die von allen Menschen <strong>de</strong>r<br />
gleiche Respekt eingefor<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>. Übergeordneter Sachwalter dieser Min<strong>de</strong>rheitsinteressen sei in<br />
mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaften <strong>de</strong>r Staat. Ganz Massenpsychologe, untersucht Kropotkin sodann die<br />
Verinnerlichung dieser Gesetze, die von Kin<strong>de</strong>sbeinen an durch Erziehung, Moral und Konvention unser<br />
Verhalten bestimmten und dazu führten, daß <strong>de</strong>r Mensch in allen Lebensbereichen kontrolliert wer<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r<br />
sich selbst kontrolliere. Es entstehe ein Art ›Staat im Kopfes <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Impuls zu autonomem Han<strong>de</strong>ln<br />
hemme. Das Ziel könne daher nicht sein, ein Gesetz durch ein besseres zu ersetzen, son<strong>de</strong>rn das<br />
geschriebene Gesetz abzuschaffen und einen Lernprozeß in Gang zu setzen mit <strong>de</strong>m Ziel, das Soildaritätsund<br />
Gerechtigkeitsempfin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Menschen zu entwickeln.<br />
Für Kropotkin war es nur eine Frage <strong>de</strong>r Zeit, bis eine soziale Revolution mit <strong>de</strong>m Unfug <strong>de</strong>r<br />
herrschen<strong>de</strong>n Gesellschaftsordnung Schluß machen wür<strong>de</strong>. In Italien, Spanien o<strong>de</strong>r Rußland erwartete er<br />
ihren Ausbruch, wobei die Ausgestaltung in je<strong>de</strong>m Falle Sache <strong>de</strong>s Volkswillens bleiben müsse.<br />
Revolutionäre seien in diesem Prozeß lediglich Geburtshelfer. Ziel einer solchen Umwälzung müsse die<br />
Enteignung und die Umverteilung <strong>de</strong>s Eigentums sein, allerdings in <strong>de</strong>r gesamten Gesellschaft. Eine<br />
Enteignung im Kleinen, wie sie die expropriateurs jener Tage pflegten, war in Kropotkins Augen nichts<br />
weiter als eine gewöhnliche Plün<strong>de</strong>rung.<br />
Bislang hatten die Anarchisten gefor<strong>de</strong>rt, ›nach <strong>de</strong>r Revolution‹ weitgehend autonome Kollektive zu<br />
schaffen, die zu Besitzern <strong>de</strong>s Produktivvermögens wer<strong>de</strong>n sollten. Die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kollektive sollten<br />
entsprechend ihrer Leistung in Form von Gutscheinen bezahlt wer<strong>de</strong>n, für die sie in eigenen Lä<strong>de</strong>n die<br />
Produkte <strong>de</strong>s täglichen Bedarfs zum Selbstkostenpreis erstehen könnten. Rasch erkannte Kropotkin die<br />
Beschränktheit dieses Ansatzes. Zum einen verkenne ein solches Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>n komplizierten<br />
Zusammenhang, <strong>de</strong>r in einer mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaft zwischen Industrie, Landwirtschaft, Infrastruktur und<br />
sozialem Leben bestehe, in <strong>de</strong>r "je<strong>de</strong> Arbeit <strong>de</strong>s Individuums das Resultat früherer und gegenwärtiger<br />
Arbeiten <strong>de</strong>r gesamten Gesellschaft" sei. Da die Wertschöpfung in <strong>de</strong>r<br />
244<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
arbeitsteiligen Gesellschaft ein komplexer und vor allem kollektiver Akt sei, müßten die Werte auch allen<br />
Mitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Gesellschaft gehören. Zum an<strong>de</strong>ren sei es unmöglich, Arbeitsleistung exakt o<strong>de</strong>r auch nur<br />
einigermaßen gerecht zu bemessen - schon gar nicht durch die Arbeitszeit. Vor allem aber folge dieses<br />
System, so Kropotkin, im Grun<strong>de</strong> lediglich <strong>de</strong>r Grundphilosophie <strong>de</strong>s Kapitalismus, <strong>de</strong>rzufolge <strong>de</strong>r<br />
Einzelne kein Recht auf die notwendigen Dinge <strong>de</strong>s Lebens habe, sofern er sich nicht ausbeuten lasse.<br />
Was wäre mit Kranken, Ungeschickten, Talentlosen, ja, mit Faulen? Auch sie müßten leben. Deshalb<br />
bliebe nur eines: "Die Bedürfnisse über die Leistungen zu stellen und zuerst das Recht auf das Leben<br />
anzuerkennen."<br />
Je<strong>de</strong>r sollte also bekommen, was er brauchte und geben, was er könnte. Diese For<strong>de</strong>rung wur<strong>de</strong> zum<br />
Grundproblem <strong>de</strong>s "anarchistischen Kommunismus", <strong>de</strong>nn wo kein Zwang zur Arbeit besteht, müßte eine<br />
innere Einsicht vorhan<strong>de</strong>n sein - ein starkes Solidaritätsgefühl, was eine große moralische Entwicklung<br />
<strong>de</strong>r Menschheit voraussetze. Auf die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Weise sollte das gesamte weitere Schaffen<br />
Kropotkins eine Suche nach <strong>de</strong>n Bedingungen dieser Entwicklung wer<strong>de</strong>n. Er spekulierte über <strong>de</strong>n Segen<br />
<strong>de</strong>s technischen Fortschritts, beschäftigte sich mit Arbeitsethik, <strong>de</strong>m Abbau von Entfremdung, <strong>de</strong>m
Problem unangenehmer Tätigkeiten, vor allem aber mit <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s Menschen, in <strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n<br />
Schlüssel zu dieser Frage vermutete.<br />
Natürlich wur<strong>de</strong> so ein Thema auch in <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung kontrovers diskutiert, es kam zu<br />
Reibereien und Disputen, bis am En<strong>de</strong> die Frage immer spitzfindiger erörtert wur<strong>de</strong>. Es gehe nicht an,<br />
schrieb Malatesta 1889, die Bewegung "wegen reiner Hypothesen zu spalten". Schließlich einigte man<br />
sich darauf, <strong>de</strong>n kommunistischen Anarchismus als Ziel zu erklären, während <strong>de</strong>r kollektivistische<br />
Anarchismus, <strong>de</strong>r weniger Anfor<strong>de</strong>rungen an das Bewußtsein <strong>de</strong>r Kollektivmitglie<strong>de</strong>r stellt, als<br />
Übergangsfonn angesehen wur<strong>de</strong>. Im übrigen sollten Kommunen aufgebaut wer<strong>de</strong>n, um als<br />
Mo<strong>de</strong>llversuche Aufschluß darüber zu geben, welche Schwierigkeiten sich bei <strong>de</strong>r praktischen Umsetzung<br />
ergäben. So entstan<strong>de</strong>n frühe anarchistische Experimente, die zu Vorläufern <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen<br />
›Projektanarchismus‹ wur<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ren begrenzte Erfahrungen aber nicht zu ein<strong>de</strong>utigen Rückschlüssen<br />
taugten. Ohne ein soziales Experiment im großen Stil blieb es bei einer eher aka<strong>de</strong>mischen Streitfrage.<br />
1899 erscheint Kropotkins Buch "Landwirtschaft, Industrie und Handwerk", in <strong>de</strong>m er die Frage aufwirft,<br />
ob das gegenwärtige System von Gewinnstreben und Arbeitsteilung wirklich ökonomisch, das heißt<br />
arbeitserleichternd und arbeitssparend funktioniere. Mit einer Fülle von Zahlen und Beispielen kommt er<br />
zu einem vernichten<strong>de</strong>n Urteil: Gera<strong>de</strong> die großen Industriezentren führten zur einer verhängnisvollen<br />
Abhängigkeit, zu einer Trennung von Mensch und Natur, zu einer Ausplün<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Umwelt.<br />
Gewinnmaximierung und Arbeitsteilung hätten zur Folge, daß unsinnige Produkte an unsinnigen Orten<br />
hergestellt wür<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>r Mensch einer stumpfsinnigen Entfremdung zum Opfer fiele. Sein<br />
Gegenmo<strong>de</strong>ll, das er mit akribischer Plausibilitat entwickelt, setzt auf eine völlig an<strong>de</strong>re Struktur: Da die<br />
Zerglie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Arbeit und die Zentralisierung <strong>de</strong>r Produktion keinem<br />
245<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
sinnvollen Bedürfnis entspräche außer <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Unternehmers, möglichst viel Geld zu verdienen, sollten<br />
in <strong>de</strong>r Solidarökonomie einer freien Gesellschaft die verschie<strong>de</strong>nen Arbeitsbereiche statt<strong>de</strong>ssen wie<strong>de</strong>r zu<br />
geschlossenen Kreisläufen zusammengefügt und in <strong>de</strong>zentralen, regionalen Netzen angesie<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n. In<br />
solchen Gemein<strong>de</strong>n wären industrielle Produktion, Landwirtschaft und Handwerk wie<strong>de</strong>r miteinan<strong>de</strong>r<br />
verbun<strong>de</strong>n. Die Menschen müßten nicht lebenslang die gleiche stumpfsinnige Arbeit verrichten, es<br />
entstün<strong>de</strong> eine Synthese aus Arbeit und sozialem Leben. Das meiste für <strong>de</strong>n regionalen Bedarf könne<br />
ohnehin regional produziert und verteilt wer<strong>de</strong>n, nur für <strong>de</strong>n verbleiben<strong>de</strong>n Rest wäre noch ein<br />
überregionaler Austausch von Überschüssen und Fehlen<strong>de</strong>m nötig.<br />
Dieses Mo<strong>de</strong>ll einer teilweisen Autarkie hätte zu<strong>de</strong>m einige angenehme Nebeneffekte: Der Außenhan<strong>de</strong>l<br />
als Quelle <strong>de</strong>r Bereicherung wür<strong>de</strong> verschwin<strong>de</strong>n, die absur<strong>de</strong>n Transportwege wären reduziert,<br />
Monokulturen könnten größtenteils durch Mischkulturen ersetzt wer<strong>de</strong>n und die regionalen Gemein<strong>de</strong>n<br />
wären in vieler Hinsicht unabhängiger und weniger erpreßbar. Das wie<strong>de</strong>rum ist für Kropotkin eine<br />
Voraussetzung, um <strong>de</strong>n Staat als zentrales Verwaltungs- und Herrschaftsgebil<strong>de</strong> zu überwin<strong>de</strong>n. Den<br />
Bewohnern böte es überdies alle Voraussetzungen zu einer umfassen<strong>de</strong>n Bildung und einem vielseitigen,<br />
erfüllten Leben unter menschlichen Arbeitsbedingungen.<br />
Der Frage, ob <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Mensch zu hierarchiefreiem Leben und solidarischem Wirtschaften fähig sei, geht<br />
Kropotkin in seinem wohl berühmtesten Buch nach, <strong>de</strong>r "Gegenseitigen Hilfe", das 1902 erscheint. Das<br />
Werk, <strong>de</strong>ssen vollständiger Titel "Gegenseitige Hilfe in <strong>de</strong>r Tier- und Menschenwelt - Ein Faktor <strong>de</strong>r<br />
Evolution" lautet, war ursprünglich als eine Antwort auf <strong>de</strong>n Darwinismus gedacht, wie ihn Thomas<br />
Huxley vertrat, ein Schüler <strong>de</strong>s britischen Forschungsreisen<strong>de</strong>n Charles Darwin. Dieser hatte 1859 in<br />
seinem aufsehenerregen<strong>de</strong>n Buch "Von <strong>de</strong>r Entstehung <strong>de</strong>r Arten" die These aufgestellt, daß sich die<br />
Entwicklung aller Lebewesen von nie<strong>de</strong>ren zu höheren Formen durch Mutation* und Auslese im Rahmen<br />
eines beständigen Konkurrenzkampfes vollziehe. In <strong>de</strong>r Natur wür<strong>de</strong>n nur die Fähigsten überleben,<br />
diejenigen, die sich an verän<strong>de</strong>rte Bedingungen anpassen und sich in <strong>de</strong>r immerwähren<strong>de</strong>n<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung als die Stärkeren erwiesen.
Diese "Evolutionstheorie", als biologische Lehre zur genetischen Erklärung <strong>de</strong>r Abstammungsgeschichte<br />
gedacht, wur<strong>de</strong> im Bürgertum <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts begeistert aufgegriffen. Man reduzierte ihre Botschaft<br />
auf die Aussage, Motor <strong>de</strong>s Fortschritts sei <strong>de</strong>r "Kampf ums Überleben" - eine Formulierung, die Darwin<br />
bildlich, nicht wörtlich verstan<strong>de</strong>n wissen wollte, und schon gar nicht als Rechtfertigung sozialer<br />
Zustän<strong>de</strong>. Genau das aber hatten die "Sozialdarwinisten" im Sinn, die eine treffliche wissenschaftliche<br />
Rechtfertigung für all das gefun<strong>de</strong>n zu haben glaubten, was ihnen wichtig war: die Herrschaft <strong>de</strong>s<br />
Mächtigen über die sozial Schwachen, <strong>de</strong>n alltäglichen Konkurrenzkampf aller gegen alle, die<br />
wirtschaftliche Ausbeutung <strong>de</strong>s Arbeiters, <strong>de</strong>n Kolonialismus, ja selbst <strong>de</strong>n Krieg.<br />
Kropotkin bezweifelte die Stichhaltigkeit <strong>de</strong>r These, <strong>de</strong>r Kampf je<strong>de</strong>r gegen je<strong>de</strong>n sei ein<br />
allgemeingültiges ›Naturgesetz‹. Sie war nicht nur unbewiesen, sie wi<strong>de</strong>rsprach seinen Beobachtungen in<br />
<strong>de</strong>r Natur ebenso wie <strong>de</strong>r menschlichen Sozialgeschichte. Schon während<br />
246<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
seiner sibirischen Forschungsreisen hatte er festgestellt, daß die natürliche Auslese <strong>de</strong>r Arten weniger auf<br />
gegenseitigen Kampf als auf widrige Lebensumstän<strong>de</strong> zurückzuführen war, und daß sich alle möglichen<br />
Tierarten im Kampf gegen diese äußeren Bedrohungen zu Solidargemeinschaften zusammenschlössen.<br />
Innerhalb <strong>de</strong>r Gattungen war gegenseitige Hilfe min<strong>de</strong>stens ebensooft zu fin<strong>de</strong>n wie Konkurrenz, und für<br />
das Überleben <strong>de</strong>r Gruppe wahrscheinlich von größerer Be<strong>de</strong>utung. Seine Beobachtungen fand er in <strong>de</strong>n<br />
Untersuchungen zahlreicher Biologen bestätigt. Kropotkin bestritt nicht, daß das Leben Kampf sei, und<br />
daß in diesem Kampf die Geeignetsten überlebten. Seine Frage war vielmehr: Wie wird dieser Kampf in<br />
<strong>de</strong>r Natur geführt, und wer hätte in ihm die besseren Chancen - <strong>de</strong>r starke Einzelne o<strong>de</strong>r die eher<br />
schwächeren Vielen, die sich zusammenschließen?<br />
Soweit war das noch nichts Originelles. Viele Tierforscher, selbst Darwin, hatten vor Kropotkin <strong>de</strong>n<br />
sozialen Charakter tierischer Populationen* beobachtet. Neu war aber, daß er diese Beobachtungen zu<br />
einer biologischen und anthropologischen* These zusammenfaßte, die Darwins an sich richtige Aussage<br />
durch eine ebenso wichtige Tatsache ergänzte.<br />
"Glücklicherweise ist Konkurrenz we<strong>de</strong>r im Tierreich noch in <strong>de</strong>r Menschheit die Regel. Sie beschränkt<br />
sich unter Tieren auf Ausnahmezeiten, und die natürliche Auslese fin<strong>de</strong>t bessere Gelegenheiten zu ihrer<br />
Wirksamkeit. Bessere Zustän<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n geschaffen durch die Überwindung <strong>de</strong>r Konkurrenz durch<br />
gegenseitige Hilfe. In <strong>de</strong>m großen Kampf ums Dasein — für die möglichst große Fülle und Intensität <strong>de</strong>s<br />
Lebens mit <strong>de</strong>m geringsten Aufwand an Kraft — sucht die natürliche Auslese fortwährend ausdrücklich<br />
die Wege aus, auf <strong>de</strong>nen sich die Konkurrenz möglichst vermei<strong>de</strong>n läßt."<br />
Erst aus dieser Wechselwirkung zwischen Konkurrenz und gegenseitiger Hilfe, zwischen ›Egoismus‹ und<br />
›Altruismus‹, ergab sich ein realistisches Bild <strong>de</strong>ssen, was sich in <strong>de</strong>r Natur unter Lebewesen abspielte.<br />
Spannend für <strong>de</strong>n Anarchismus waren hierbei natürlich die Rückschlüsse, die daraus für das soziale<br />
Lebewesen ›Mensch‹ gezogen wer<strong>de</strong>n konnten. Aus <strong>de</strong>r Natur je<strong>de</strong>nfalls war eine Rechtfertigung <strong>de</strong>r<br />
Herrschaft <strong>de</strong>s Menschen über <strong>de</strong>n Menschen als zwingen<strong>de</strong>s Ordnungsprinzip nicht abzuleiten.<br />
Allerdings auch keine Notwendigkeit <strong>de</strong>r Herrschaftsfreiheit. Klar war nur, daß Solidarität und<br />
gegenseitige Hilfe, die Voraussetzungen für eine libertäre Gesellschaft, offenbar we<strong>de</strong>r unnatürlich noch<br />
unvorteilhaft waren. Bei<strong>de</strong> Optionen — Kampf und Solidarität — scheinen auch beim Menschen<br />
angelegt, sind aber kulturhistorisch unterschiedlich stark ausgeprägt. In vielen tausend Jahren staatlicher<br />
Konkurrenzethik mußten die Tugen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r gegenseitigen Hilfe verkümmern. Mit Fleiß und viel<br />
Detailwissen <strong>de</strong>ckt Kropotkin diese verschütteten Tugen<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r Menschheit auf und<br />
zeigt, daß sie sich neben <strong>de</strong>r offiziellen hierarchischen Welt bis in die Gegenwart behaupten konnten.<br />
Die Grenzen <strong>de</strong>r Wissenschaftlichkeit
Kropotkin hat tatsächlich versucht, eine umfassen<strong>de</strong> Philosophie <strong>de</strong>r Solidarität aus einem Guß zu<br />
schaffen und ihr eine soli<strong>de</strong> wissenschaftliche Grundlage zu geben. Darin liegt sein Verdienst, aber<br />
gleichzeitig auch eine Schwäche, die allen Theorien eigen ist, die Globalität<br />
247<br />
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anstreben und zur Allgemeingültigkeit tendieren. Die Aussagekraft sogenannter ›wissenschaftlicher<br />
Tatsachen‹ ist immer begrenzt in ihrer Zeit, ihrem Horizont und ihrem unsichtbar vorgegebenen Ziel. Die<br />
marxistische Scholastik ist hierfür ein abschreckend krasses Beispiel. Man kann Kropotkin nicht einmal<br />
vorhalten, daß er ein Dogmatiker gewesen wäre, <strong>de</strong>nn er läßt bei je<strong>de</strong>r ›Erkenntnis‹ zugunsten seiner<br />
Thesen auch immer die ›Gegenkraft‹ zu. Insofern geht er dialektisch vor. Dennoch wird sein<br />
Theoriegebäu<strong>de</strong> für ihn und seine Anhänger in gewisser Weise zu einem Gefängnis. Die Realität wird am<br />
Mo<strong>de</strong>ll gemessen, das Mo<strong>de</strong>ll schafft a priori ein Denkmuster, das nur schwer zu korrigieren ist. So stellt<br />
ihm sein I<strong>de</strong>al so manche Falle. Recht schwärmerisch erscheint uns heute die Interpretation etlicher<br />
Details, die Kropotkin kurzentschlossen zu Kronzeugen seiner Thesen macht. An <strong>de</strong>r fast kindlichen<br />
Freu<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>r er die technischen Erfindungen seiner Zeit bejubelte, beeindruckt uns als skeptische<br />
Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Technologiezeitalters noch am ehesten <strong>de</strong>r erfrischen<strong>de</strong> Optimismus, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r würdige<br />
Wissenschaftler an <strong>de</strong>n Tag zu legen vermochte. Der alte Herr, so wird berichtet, war ganz aus <strong>de</strong>m<br />
Häuschen, als eine Mrs. Cochrane in Illinois eine Waschmaschine erfand, erhoffte er sich doch von einer<br />
flächen<strong>de</strong>cken<strong>de</strong>n Technisierung die Überwindung unangenehmer Arbeit.<br />
In allem und je<strong>de</strong>m schien er Vorboten <strong>de</strong>r nahen<strong>de</strong>n Revolution zu erkennen, und arg verklärt nimmt<br />
sich im Licht <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Geschichtsforschung auch so manches mittelalterliche Beispiel aus, das für<br />
gegenseitige Hilfe, Solidarität und Selbstorganisation herhalten mußte. Auch ist die Art, mit <strong>de</strong>r er die<br />
Überlegenheit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>zentralen Kleingemein<strong>de</strong> verficht und sie zum exemplarischen Mo<strong>de</strong>ll erhebt, nicht<br />
ohne Dogma. Vor allem aber bleibt die Annahme, daß <strong>de</strong>r Mensch zur Solidarität fähig sei, und daß<br />
Einsicht hierbei eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spiele, trotz <strong>de</strong>r Fülle von Beispielen wissenschaftlich letztlich<br />
nicht beweisbar. Es ist im Grun<strong>de</strong> eine Glaubensfrage, auf die <strong>de</strong>r kritische Anarchismus unserer Tage<br />
sich daher auch nicht mehr verläßt: Anarchistische Strukturen müßten auch mit unvollkommenen<br />
Menschen funktionieren, o<strong>de</strong>r sie seien untauglich.<br />
Kropotkin hat zwar nie behauptet, daß <strong>de</strong>r Mensch gut sei, aber <strong>de</strong>nnoch ständig versucht, es zu belegen.<br />
Und dabei war er nicht gera<strong>de</strong> wählerisch.<br />
All das hat ihm gelegentlich <strong>de</strong>n Vorwurf wissenschaftlicher Flachheit eingebracht. Diese Kritik übersieht<br />
jedoch, daß uns in Kropotkins Schriften ein rechtes Durcheinan<strong>de</strong>r von ernsthafter Forschung und<br />
populärer Tagespropaganda begegnet. Vielleicht war es unklug, daß Kropotkin, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />
Agitationsliteratur ein Freund <strong>de</strong>r plausiblen Analogieschlüsse war, nicht stärker auf die Trennung<br />
zwischen Journalismus und Wissenschaft geachtet hat. An<strong>de</strong>rerseits aber hat ihn das davor bewahrt, ein<br />
steriler Theoretiker zu bleiben, <strong>de</strong>ssen Ergüsse von <strong>de</strong>r Fachwelt anerkannt in <strong>de</strong>r British Library<br />
verstaubten. Gera<strong>de</strong> das aber kann man ihm nicht nachsagen: daß <strong>de</strong>r "anarchist prince" unpopulär<br />
gewesen wäre. Allein als Wissenschaftler wäre er heute als interessante Ran<strong>de</strong>rscheinung verbucht und in<br />
Wür<strong>de</strong> vergessen.<br />
Seine große Popularität beruhte neben <strong>de</strong>m Talent, sich einfach ausdrücken zu können, vor allem auf<br />
seiner Persönlichkeit. Die scheint so bizarr, als wäre sie für die Medien<br />
248<br />
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erfun<strong>de</strong>n: Ein hochwohlgeborener Fürst, <strong>de</strong>r in fast puritanischer Askese lebt, sich als honoriger
Wissenschaftler in <strong>de</strong>n Dienst einer nach Pulverdampf riechen<strong>de</strong>n Bewegung stellt, in<strong>de</strong>m er ihr die Güte<br />
predigt, die er dann auch noch selbst vorzuleben versteht — das war etwas nach <strong>de</strong>m Geschmack vieler<br />
Menschen: ein mil<strong>de</strong>r Anarchist, <strong>de</strong>r einen mil<strong>de</strong>n Anarchismus vertrat!<br />
Nach Bakunin, <strong>de</strong>ssen sprö<strong>de</strong>r Charme sich nur wenigen erschloß, endlich ein Anarchist zum Knud<strong>de</strong>ln ...<br />
Die Schwärmerei für Kropotkin liest sich bei <strong>de</strong>n Vorwortschreibern <strong>de</strong>r bürgerlichen Memoirenliteratur<br />
ebenso heraus wie aus <strong>de</strong>r Wortwahl mancher anarchistischer Zeitgenossen, die ihn tatsächlich als<br />
"Apostel <strong>de</strong>r Anarchie" bezeichnet haben. Es fällt noch heute schwer, sich <strong>de</strong>r Ausstrahlung dieses<br />
Mannes zu entziehen, die ihn in seiner Zeit so beliebt machte, und es dürfte schwerfallen, ihm die Schuld<br />
dafür zu geben, daß man ihn auf einen Sockel stellte, auf <strong>de</strong>m er sich gar nicht gerne sah.<br />
Letztendlich wichtig bleibt allein die große Frage, die Kropotkin sich und <strong>de</strong>m Anarchismus stellte, und<br />
diese Frage blieb bei aller Wissenschaftlichkeit spekulativ: Könnte es <strong>de</strong>m Menschen als<br />
vernunftbegabtem und aktiv han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>m Wesen gelingen, soziale Zustän<strong>de</strong> zu schaffen, die eine<br />
Entfaltung seiner latent vorhan<strong>de</strong>nen solidarischen Fähigkeiten gegenüber <strong>de</strong>m Konkurrenzverhalten<br />
begünstigen?<br />
Rückkehr in die Heimat<br />
Während sich Kropotkin mit solch zeitlosen Themen beschäftigte, blieb die Zeit um ihn herum nicht<br />
stehen. Ein neues Jahrhun<strong>de</strong>rt war angebrochen, mit <strong>de</strong>m sich große Hoffnungen verban<strong>de</strong>n. Der<br />
Anarchismus war inzwischen in vielen Län<strong>de</strong>rn verbreitet und hatte in <strong>de</strong>n sozialen Bewegungen mancher<br />
Regionen dauerhaft Fuß fassen können. Die Phase <strong>de</strong>s blin<strong>de</strong>n Aktionismus war auf <strong>de</strong>m Misthaufen <strong>de</strong>r<br />
Geschichte gelan<strong>de</strong>t, und die erste russische Revolution von 1905 hatte unter <strong>de</strong>n Libertären erneut die<br />
Diskussion um die Organisation <strong>de</strong>r Industriearbeiter entfacht. Die Zeit war reif für eine konstruktive<br />
Strategie, die sich schon 1907 auf <strong>de</strong>m Amsterdamer Anarchistenkongreß durchsetzte: <strong>de</strong>r<br />
Anarchosyndikalismus. 1910 schlössen sich die anarchistischen Arbeitersyndikate Spaniens in <strong>de</strong>m<br />
mächtigen Gewerkschaftsbund CNT zusammen.<br />
1914 brach <strong>de</strong>r Erste Weltkrieg aus. Die Anarchisten verstan<strong>de</strong>n sich als Internationalisten und<br />
Antimilitaristen. Sie riefen die Arbeiter aller Nationen zur Kriegsdienstverweigerung, zu Sabotage und<br />
Boykott <strong>de</strong>r Rüstungsindustrie auf. Im Gefolge <strong>de</strong>s Krieges hofften sie auf soziale Unruhen, die zum Fall<br />
<strong>de</strong>s Kapitalismus und zur endgültigen Abschaffung aller Kriege hätten führen sollen. Kropotkin teilte<br />
diese Sichtweise nicht. Im Gegensatz zu früheren Äußerungen und <strong>de</strong>r Meinung fast all seiner<br />
Gesinnungsfreun<strong>de</strong> nahm er für die Län<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Entente* Partei. Er fürchtete, daß ein Sieg <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen<br />
Militarismus fatale Folgen für die Entwicklung aller sozialistischen Bewegungen hätte. Daß er damit ins<br />
Fahrwasser <strong>de</strong>r übelsten Kriegshetzer geriet, schien ihn nicht zu stören. Er blieb bis Kriegsen<strong>de</strong> bei seiner<br />
Meinung und überwarf sich mit fast allen seinen Freun<strong>de</strong>n.<br />
Noch während <strong>de</strong>r Krieg tobt, bricht im Februar 1917 in Rußland die Revolution aus.<br />
249<br />
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Der Zar ist entmachtet, Kropotkin kann nach einundvierzig Jahren Exil in seine Heimat zurückkehren.<br />
En<strong>de</strong> Mai treffen seine Frau und er in Petrograd ein und wer<strong>de</strong>n von sechzigtausend Menschen begeistert<br />
empfangen. Selbst <strong>de</strong>r Chef <strong>de</strong>r provisorischen Regierung, Kerenskij, kommt zur Begrüßung, während die<br />
antimilitaristischen Anarchisten sich <strong>de</strong>monstrativ fernhalten. Die Pläne <strong>de</strong>s heimgekehrten Revolutionärs<br />
zielten darauf ab, <strong>de</strong>n politischen Umsturz in eine soziale Revolution zu verwan<strong>de</strong>ln. Zu diesem Zweck<br />
versuchte er, die unentschlossenen neuen Machthaber zu bewegen, Rußland unverzüglich zu einer<br />
fö<strong>de</strong>ralen Republik mit starker lokaler Autonomie zu erklären. Alles was dabei herauskam war, daß<br />
Kerenskij ihm einen Posten als Minister anbot, was <strong>de</strong>r alte Anarchist empört ablehnte.<br />
Mit <strong>de</strong>r Oktoberrevolution übernehmen die Bolschewiki die Macht, schlagartig än<strong>de</strong>rt sich die Situation.
Zunächst scheint es so, daß Lenins Partei einen sozialrevolutionären Kurs einschlägt und eine Art<br />
Räte<strong>de</strong>mokratie zulassen wür<strong>de</strong>. Schon bald aber wird hinter <strong>de</strong>r taktischen Losung "Alle Macht <strong>de</strong>n<br />
Räten" die Absicht klar: die Diktatur <strong>de</strong>r Partei über das Volk. Eine neue Hierarchie von selbstherrlichen<br />
Apparatschiks*, brutalen Revolutionska<strong>de</strong>rn und tumben Parteifunktionären erstickt je<strong>de</strong> Eigeninitiative<br />
<strong>de</strong>r Menschen schon im Ansatz. Selbst die Arbeiter, zu <strong>de</strong>ren Befreiung die "Partei <strong>de</strong>s Proletariats"<br />
angetreten war, haben nichts zu mel<strong>de</strong>n. Sobald sie von <strong>de</strong>r "Parteilinie" abweichen, wer<strong>de</strong>n auch sie zum<br />
Opfer einer rücksichtslosen Repression.<br />
Kropotkin ist einer <strong>de</strong>r ersten, <strong>de</strong>r diese Entwicklung erkennt. In seiner altersbedingten Abgeklärtheit läßt<br />
er sich nicht von revolutionärem Pathos und kämpferischen Phrasen blen<strong>de</strong>n. 1918 versucht er, mit <strong>de</strong>r<br />
Fö<strong>de</strong>ralistischen Liga, einem Kreis namhafter Wissenschaftler, die seine Auffassung von<br />
Dezentralisierung und Fö<strong>de</strong>ralismus teilen, Einfluß auf das Geschehen zu nehmen. Aber es ist bereits zu<br />
spät. Die Regierung verweigert nicht nur die Kenntnisnahme <strong>de</strong>s ersten Ban<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Memoran<strong>de</strong>n*, die die<br />
Liga erarbeitet hat, son<strong>de</strong>rn verbietet sogar ihren Druck. Die befürchtete Parteidiktatur ist bereits da. Alle<br />
Linken außer <strong>de</strong>n Bolschewiki wer<strong>de</strong>n verfolgt, die Anarchisten gehören zu <strong>de</strong>n ersten Opfern. Mehrmals<br />
wird Kropotkins Wohnung von <strong>de</strong>r politischen Polizei durchsucht. Ihm wird klar, daß sich <strong>de</strong>r neue Staat<br />
mit Riesenschritten auf einen verhängnisvollen Zentralismus zubewegt und daß sich seine Hoffnungen auf<br />
eine Gesellschaft frei fö<strong>de</strong>rierter Gemein<strong>de</strong>n mit einem blühen<strong>de</strong>n Genossenschaftswesen nicht erfüllen<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Im Sommer 1918 zieht Kropotkin mit seiner Familie voller Resignation in das abgelegene Dorf Dimitrov,<br />
sechzig Werst von Moskau entfernt. "Ich muß euch offen gestehen", schreibt er später in seiner Botschaft<br />
"An die Arbeiter <strong>de</strong>r westlichen Welt", "daß meiner Meinung nach <strong>de</strong>r Versuch, eine kommunistische<br />
Republik gemäß <strong>de</strong>n Richtlinien eines streng zentralisierten Staatskommunismus unter <strong>de</strong>r eisernen<br />
Herrschaft <strong>de</strong>r Diktatur einer Partei aufzubauen, dabei ist, in einem Fiasko zu en<strong>de</strong>n. Aus <strong>de</strong>n russischen<br />
Verhältnissen lernen wir, wie <strong>de</strong>r Kommunismus nicht eingeführt wer<strong>de</strong>n sollte." Zu diesem bitteren<br />
Urteil hatte nicht zuletzt eine Unterredung beigetragen, die er 1919 in Moskau mit Lenin hatte. Es gab<br />
keine Möglichkeit, die unterschiedlichen Standpunkte dieser bei<strong>de</strong>n Männer in Einklang zu bringen.<br />
250<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
In Dimitrov lebten die Kropotkins unter <strong>de</strong>nselben bedrücken<strong>de</strong>n Verhältnissen, wie sie in ganz Rußland<br />
zu spüren waren. Schlimmer noch als an <strong>de</strong>n materiellen Entbehrungen litt <strong>de</strong>r alte Rebell an <strong>de</strong>r geistigen<br />
Isolation: Die Post wur<strong>de</strong> zensiert, ausländische Zeitungen erreichten ihn nicht mehr und die nationale<br />
Presse war verstaatlicht. Die Lektüre <strong>de</strong>r Pravda, <strong>de</strong>m Propagandablatt <strong>de</strong>r Bolschewiki, war für je<strong>de</strong>n<br />
kritischen Geist eine Zumutung.<br />
Die letzten zwei Jahre widmete sich Kropotkin <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschrift seiner "Ethik", die eine Synthese seines<br />
gesamten Gedankengebäu<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n sollte und zu <strong>de</strong>r er 1890 bereits die Vorstudie "Anarchistische<br />
Moral* veröffentlicht hatte. Er brachte jedoch nur noch <strong>de</strong>n ersten Band über "Ursprung und Entwicklung<br />
<strong>de</strong>r Sitten" zu Papier. In ihr stellt er Sittlichkeit als ein komplexes System von Instinkt, Gefühl und<br />
Erkenntnis dar, <strong>de</strong>ssen Erreichen auf einem natürlichen Verhalten basieren müsse und nicht auf Zwang.<br />
Ein solidarisches Verhalten aus Angst vor Strafe sei reine Heuchelei. "Das Ziel <strong>de</strong>r Moral darf nicht etwas<br />
›Transzen<strong>de</strong>ntales‹, d.h. Übernatürliches sein, wie es einige I<strong>de</strong>alisten haben möchten: es muß real sein.<br />
Die sittliche Befriedigung müssen wir im Leben, nicht aber in irgen<strong>de</strong>inem Zustand außerhalb <strong>de</strong>s Lebens<br />
fin<strong>de</strong>n."<br />
Am 8. Februar 1921 stirbt <strong>de</strong>r große alte Mann <strong>de</strong>s Anarchismus. Die kommunistische Partei begeht die<br />
Geschmacklosigkeit, ein Staatsbegräbnis anzubieten, was seine Freun<strong>de</strong> und Verwandten indigniert*<br />
ablehnen. Als er am 13. Februar zu Grabe getragen wird, folgen Tausen<strong>de</strong> von Anarchisten schweigend<br />
seinem Sarg. Einige von ihnen sind für einen Tag aus <strong>de</strong>m Gefängnis freigekommen und wer<strong>de</strong>n selbst<br />
schon bald nicht mehr am Leben sein. Vom Gewerkschaftshaus, wo <strong>de</strong>r Tote unter großer Anteilnahme<br />
<strong>de</strong>r Bevölkerung aufgebahrt wor<strong>de</strong>n war, geht <strong>de</strong>r Trauerzug durch die Straßen Moskaus und schwillt auf<br />
fast 100.000 Menschen an. Es war die letzte große anarchistische Demonstration in Rußland, das letzte
Mal, daß anarchistische Transparente in Moskau gezeigt wur<strong>de</strong>n – bis siebzig Jahre später das Imperium<br />
<strong>de</strong>r Bolschewiki zusammenbrechen sollte.<br />
Es war in je<strong>de</strong>r Hinsicht ein Trauermarsch. Peter Alexandrowitsch Kropotkin wur<strong>de</strong> zu Grabe getragen<br />
und mit ihm eine Hoffnung, für die sein Name stand.<br />
Literatur:<br />
/ Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in <strong>de</strong>r Tier- und Menschenwelt Frankfurt/M., Berlin, Wien 1975,<br />
Ullstein, 333 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Die Eroberung <strong>de</strong>s Brotes u.a. Schriften München 1973, Hanser, 228 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Landwirtschaft, Industrie und Handwerk Berlin 1976, Karin Kramer, 292 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.; Worte eines Rebellen Reinbek 1972, Rowohlt, 204 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Ethik Berlin 1976, Karin Kramer, 265 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Anarchistische Moral Frankfurt/M. 1977, Freie Gesellschaft, 40 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Gesetz und Autorität Berlin 1978, Libertad, 51 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Gerechtigkeit und Sittlichkeit Wilnsdorf o.J., Winddruck, l" S,.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Die freie Vereinbarung Wetzlar 1972, An-Archia, 18 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Die Entwicklung <strong>de</strong>r anarchistischen I<strong>de</strong>en Karlsruhe 1978, Laubfrosch, 16 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Der mo<strong>de</strong>rne Staat Berlin o.J., Der freie Arbeiter, 80 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Unterredung mit Lenin Hannover 1980, Die Freie Gesellschaft, 42 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Die französische Revolution Frankfurt 1970, Neue Kritik, ¦M S.<br />
/ <strong>de</strong>n.: I<strong>de</strong>ale und Wirklichkeit in <strong>de</strong>r russischen Literatur Frankfurt/M. 1975, Suhrkamp, 368 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Memoiren eines Revolutionärs Frankfurt/M. 1973, Insel, 616 S.<br />
/ Max Nettlau: Der Anarchismus von Proudhon bis Kropotkin in: Geschichte <strong>de</strong>r Anarchie (Bd. II, vgl.<br />
Kap. 20!), 328 S., ill.<br />
/ Pierre Ramus: Die Neuschöpfung <strong>de</strong>r Gesellschaft durch <strong>de</strong>n kommunistischen Anarchismus Wien-<br />
Klosterneuburg 1923, Erkenntnis und Befreiung, 280 S.<br />
/ Roel van Duyn: Die Botschaft eines weisen Heinzelmännchens Wuppertal 1971, Jugenddienst, 9; S.<br />
/ Heinz Hug: Die Inthronisation <strong>de</strong>r Solidarität: Peter Kropotkin als sozialinnovativer Denker in: W.<br />
Beyer (Hrsg.); Zur Aktualität anarchistischer Klassiker Berlin 1993, Oppo, 128 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Kropotkin zur Einführung Hamburg 1989, SOAK, 167 S.<br />
251<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Kapitel 29<br />
Hoffnung und Resignation: Revolution in Rußland<br />
Langsam aber sicher errichteten die Bolschewiki einen zentralistischen Staat,<br />
<strong>de</strong>r die Sowjets zerstörte und die Revolution nie<strong>de</strong>rschlug,<br />
einen Staat, <strong>de</strong>r sich, was Bürokratie und Despotismus anbelangt,<br />
heute mit je<strong>de</strong>m Großstaat <strong>de</strong>r Welt vergleichen kann.<br />
– Emma Goldman, 1922 –<br />
DIE GRABREDE BEI KROPOTKINS BEERDIGUNG hielt eine Anarchistin, die aus <strong>de</strong>n USA nach<br />
Rußland gekommen war: Emma Goldman. Zusammen mit ihrem Lebensgefährten Alexan<strong>de</strong>r Berkman<br />
war die gefürchtete Agitatorin 1918 von <strong>de</strong>r amerikanischen Regierung kurzerhand zwangs<strong>de</strong>portiert<br />
wor<strong>de</strong>n. Bei<strong>de</strong> reisten mit sehr großen Hoffnungen in ihre alte Heimat, wo es endlich zu einer veritablen<br />
Revolution gekommen war. Es schien, als hätten die einfachen Menschen ihr Schicksal in die eigenen<br />
Hän<strong>de</strong> genommen. Jetzt, wenige Jahre später, blieb ihnen nur noch Resignation. Tief enttäuscht, aber<br />
auch bestätigt in ihrer anarchistischen Kritik am Marxismus, gingen sie in <strong>de</strong>n Westen zurück. Früh<br />
genug, um <strong>de</strong>m Schicksal <strong>de</strong>r meisten russischen Libertären zu entgehen, die bald <strong>de</strong>m neuen linken<br />
Terror zum Opfer fallen sollten. "Ich bin felsenfest davon überzeugt", schrieb die "Rote Emma", "daß je<strong>de</strong>
kommen<strong>de</strong> Revolution zum Untergang verdammt ist, wenn das, was Lenin selbst <strong>de</strong>n militärischen<br />
Kommunismus, nannte, <strong>de</strong>r Welt aufgezwungen wer<strong>de</strong>n sollte. Dies zu zeigen", fügt sie hinzu, "schul<strong>de</strong><br />
ich <strong>de</strong>r Revolution, die ans Kreuz <strong>de</strong>s Bolschewismus geschlagen wur<strong>de</strong>."<br />
Eine libertäre Revolution<br />
Dieser Satz klingt Menschen fremd, die daran gewöhnt sind, zu glauben, die Russische Revolution sei<br />
von Lenin und <strong>de</strong>n Bolschewiki ›gemacht‹ wor<strong>de</strong>n. Tatsächlich hat die bolschewistische Partei dafür<br />
gesorgt, daß die Revolution unterging und die Diktatur triumphierte.<br />
Der Februar 1917 brachte Rußland nach drei Jahren Krieg einen Umsturz, <strong>de</strong>r weit über einen politischen<br />
Kurswechsel hinausging. Zwar trat zunächst nur eine linksbürgerliche Regierung an die Stelle <strong>de</strong>s<br />
entmachteten Zaren, aber entschei<strong>de</strong>nd war, daß die so oft beschworenen ›Massen‹ auf <strong>de</strong>n Plan traten<br />
und die Initiative ergriffen. Rußland war kriegsmü<strong>de</strong>, zarenmü<strong>de</strong>, herrschaftsmü<strong>de</strong>. Man wollte keine<br />
mil<strong>de</strong>re Regierung, son<strong>de</strong>rn das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Despotie und <strong>de</strong>n Beginn <strong>de</strong>r Selbstbestimmung. Das war nicht<br />
die Losung irgendwelcher Revolutionäre, son<strong>de</strong>rn entsprach <strong>de</strong>r allgemeinen Stimmung.<br />
Die politischen Parteien und Bewegungen Rußlands wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Revolution überrascht. Die<br />
lei<strong>de</strong>nschaftliche Woge überrollte sie alle. Selbst Lenin mußte zugeben, daß seine Partei sich von <strong>de</strong>n<br />
Massen links überholt sah. Das, was die Menschen wollten, for<strong>de</strong>rten und auch spontan umzusetzen<br />
begannen, entsprach am ehesten libertären I<strong>de</strong>alen. Dies war allerdings kaum das Verdienst <strong>de</strong>r wenigen<br />
und schlecht organisierten<br />
252<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
anarchistischen Gruppen, son<strong>de</strong>rn Ausdruck eines allgemeinen Wunsches nach Befreiung und<br />
Selbstbestimmung. In dieser Ten<strong>de</strong>nz mag sich bis zu einem gewissen Gra<strong>de</strong> die jahrzehntelange<br />
anarchistische Propaganda wi<strong>de</strong>rspiegeln, aber in erster Linie zeigte sie, daß solche I<strong>de</strong>en einfach<br />
naheliegend und so populär waren, daß sie keiner Avantgar<strong>de</strong> bedurften. Genau das hatten Anarchisten ja<br />
immer gehofft.<br />
Die russische Linke war seit langer Zeit gespalten. Die Sozial<strong>de</strong>mokratie, <strong>de</strong>ren führen<strong>de</strong> Köpfe<br />
überwiegend im Exil lebten, hatte sich 1903 in London zerstritten: Die gemäßigten Sozialisten, die einen<br />
parlamentarischen Weg <strong>de</strong>r Reformen wollten, unterlagen in <strong>de</strong>r Abstimmung und nannten sich nach <strong>de</strong>m<br />
russischen Wort für ›Min<strong>de</strong>rheit‹ Menschewiki. Die ›Mehrheitler‹ – Bolschewiki – hingen einem<br />
revolutionären Marxismus an und wollten mit <strong>de</strong>r Hilfe einer Partei von Berufsrevolutionären die Macht<br />
durch einen Umsturz erobern. Sie verstan<strong>de</strong>n sich als Avantgar<strong>de</strong>, ihr Ziel war die sogenannte "Diktatur<br />
<strong>de</strong>s Proletariats". Der Parteiführer Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, lebte in Zürich im Exil,<br />
verfügte aber in Rußland über ein straff organisiertes Netz ihm ergebener Anhänger mit einem klaren<br />
Programm. Es ist <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Generalstab zu verdanken, daß er, ausgestattet mit Geld plötzlich in St.<br />
Petersburg auftauchte und entschei<strong>de</strong>nd in die Ereignisse eingriff: Man hatte in Deutschland gehofft, daß<br />
die Bolschewiki die Ereignisse in Rußland soweit <strong>de</strong>stabilisieren wür<strong>de</strong>n, daß es an <strong>de</strong>r Ostfront zu einem<br />
Separatfrie<strong>de</strong>n kommen könnte, <strong>de</strong>nn Kaiser Wilhelm brauchte dringend Truppen für <strong>de</strong>n Krieg im<br />
Westen. So durfte <strong>de</strong>r gefürchtete Revolutionär in einem kaiserlichen Son<strong>de</strong>rzug quer durchs Deutsche<br />
Reich fahren, um die Front zu entlasten. Ein cleverer Schachzug <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Geheimdienstes, <strong>de</strong>r<br />
allerdings weitreichen<strong>de</strong>re Folgen haben sollte, als man sich das in Berlin jemals gewünscht hatte.<br />
Die Bewegung <strong>de</strong>r Sozialrevolutionäre war ebenfalls in linke, rechte und an<strong>de</strong>re Splittergruppen<br />
gespalten, die sogenannten Ka<strong>de</strong>tten befürworteten eine gemäßigt <strong>de</strong>mokratische Konstitution, und die<br />
Genossenschaften, Berufsverbän<strong>de</strong> und Gewerkschaften konnten sich zwischen all diesen Angeboten<br />
nicht recht entschei<strong>de</strong>n. Die Anarchisten schließlich lehnten je<strong>de</strong> Organisierung in Parteien ab und waren,<br />
beson<strong>de</strong>rs an <strong>de</strong>r Basis sozialer Bewegungen, in erster Linie durch <strong>de</strong>n Einfluß präsent, <strong>de</strong>n sie in ihrem<br />
Umkreis durch persönliches Wirken ausübten. Sie waren in Gruppen organisiert, die zum Teil lose<br />
fö<strong>de</strong>riert waren; außer<strong>de</strong>m konnten sie auf Vertrauensleute in <strong>de</strong>n Betrieben und einige Zeitungen
zurückgreifen.<br />
Dieser ganze politische Klüngel jedoch hatte mit <strong>de</strong>r eigentlichen Revolution herzlich wenig zu tun. Die<br />
Revolte, die unter <strong>de</strong>n Soldaten an <strong>de</strong>r Front, bei <strong>de</strong>n Matrosen <strong>de</strong>r Flotte, <strong>de</strong>n Arbeitern in <strong>de</strong>r<br />
Schwerindustrie, <strong>de</strong>n hungern<strong>de</strong>n Familien und <strong>de</strong>n Bauern einzelner Distrikte ausbrach, kümmerte sich<br />
nämlich kaum um Parteien, Programme und I<strong>de</strong>ologien. Diese Revolution gehörte nieman<strong>de</strong>m außer <strong>de</strong>m<br />
Volk. Ihr Impuls wirkte von unten nach oben, folgte keinen beson<strong>de</strong>ren Strategien und entwickelte rasch<br />
Organe einer direkten Demokratie. Arbeiter bemächtigten sich spontan <strong>de</strong>r Fabriken, Matrosen besetzten<br />
Schiffe und Häfen, Dorfbewohner und Nachbarn schlossen sich zusammen, bil<strong>de</strong>ten<br />
253<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Komitees und begannen zu han<strong>de</strong>ln. Allenthalben entstan<strong>de</strong>n Räte, die das Leben organisierten, sich<br />
miteinan<strong>de</strong>r verban<strong>de</strong>n und schon bald anfingen, die Zukunft zu planen. Mehr und mehr begannen diese<br />
Räte, sich nicht nur als eine Notlösung zu verstehen, son<strong>de</strong>rn als die Struktur einer künftigen Ordnung:<br />
eine direkte Basis<strong>de</strong>mokratie – freiheitlich, <strong>de</strong>zentral, transparent, offen, gleich, unbürokratisch und ohne<br />
Dogma. Das war Punkt für Punkt die logische Antwort auf das, was man nicht mehr wollte: Despotie,<br />
Zentralismus, Unmündigkeit, Hierarchie, Privilegien, Bürokratie und Starrheit. Die Räte – auf russisch<br />
Sowjets – wur<strong>de</strong>n zum populärsten Ausdruck <strong>de</strong>r neuen Verhältnisse, sie waren das Synonym <strong>de</strong>r<br />
Revolution. Quicklebendig und begeistert begrüßt, hatten sie nichts mit <strong>de</strong>m zu tun, was, die Bolschewiki<br />
in nur wenigen Jahren aus ihnen machten und womit noch heute <strong>de</strong>r Begriff Sowjetunion in so übler<br />
Verbindung steht; einem staatlichen Instrument im Dienste einer bürokratischen Partei zur Beherrschung<br />
<strong>de</strong>r Menschen. Als 1917 die Räte begannen, das soziale Leben im libertären Geist zu gestalten, war Lenin<br />
noch gar nicht im Lan<strong>de</strong>. Aber auch die Räte waren nicht einfach vom Himmel gefallen.<br />
Die Revolution von 1905<br />
Sie waren in Rußland schon zwölf Jahre zuvor geboren wor<strong>de</strong>n, und auf diese Erfahrung von 1905 griffen<br />
die Menschen nun wie<strong>de</strong>r zurück. Auch damals hatte die Not im Gefolge eines Krieges zur Erhebung<br />
geführt. Im fernen Osten waren sich <strong>de</strong>r russische und <strong>de</strong>r japanische Imperialismus in die Haare geraten,<br />
und Rußland unterlag haushoch zu Lan<strong>de</strong> und zu Wasser. Im Januar kam es zu einer großen<br />
Antikriegs<strong>de</strong>monstration; sie wur<strong>de</strong> zwar blutig nie<strong>de</strong>rgemetzelt, aber unter <strong>de</strong>r Oberfläche gärte die<br />
Unzufrie<strong>de</strong>nheit weiter. Bis dahin war die Oppositionsbewegung Rußlands überwiegend eine<br />
Angelegenheit politischer Intellektueller <strong>de</strong>r höheren Stän<strong>de</strong> gewesen, <strong>de</strong>ren Taktik sich in Propaganda<br />
und Verschwörung erschöpfte. Jetzt besteht die Opposition zu vier Fünfteln aus Arbeitern und Bauern,<br />
und sie beginnen, sich zu organisieren: Berufsverbän<strong>de</strong>, Genossenschaften und Bauernbund erstarken<br />
zusehends, Gewerkschaften entstehen. Im Oktober entlädt sich, gegen <strong>de</strong>n Willen vieler Parteimarxisten,<br />
die neue Kraft in einem gewaltigen Generalstreik. Fabrikanten, Adlige, Popen und Großgrundbesitzer<br />
wer<strong>de</strong>n vielerorts verjagt. Wirtschaft und Gesellschaft sind lahmgelegt.<br />
Dies war die Geburtsstun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s ersten Sowjets, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n großen Putilow-Werken von St. Petersburg<br />
entstand und rasch viele Nachahmer fand. Das Konzept dazu hatten sich kurz zuvor einige<br />
Industriearbeiter in <strong>de</strong>r Wohnung <strong>de</strong>s anarchistischen Juristen Wsewolod M. Eichbaum ausgedacht,<br />
besser bekannt unter <strong>de</strong>m Pseudonym Volin. Sie verfolgten schon damals syndikalistische I<strong>de</strong>en, die erst<br />
Jahre später zur >offiziellen< Taktik im Anarchismus wer<strong>de</strong>n sollten. Ihrzufolge wür<strong>de</strong>n kämpferische<br />
"industrielle Verbän<strong>de</strong>" zu einer Art "wirtschaftlicher Schule" für die Arbeiterschaft, um Verwaltung,<br />
Produktion und Verteilung selbst zu übernehmen. Ein solches Netz <strong>de</strong>r Selbstorganisation sollte zur<br />
Grundlage einer befreiten Gesellschaft wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r kurzen Phase <strong>de</strong>r 1905er Revolution entfalteten die<br />
Sowjets eine so rege Aktivität, daß <strong>de</strong>r junge Leo Trotzki, damals Vorsitzen-<br />
254<br />
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<strong>de</strong>r eines Arbeiter- und Soldatenrates, voller Begeisterung schrieb: "Die Aktivität <strong>de</strong>s Rates be<strong>de</strong>utete die<br />
Organisation <strong>de</strong>r Anarchie. Seine Existenz und seine spätere Entwicklung bezeichnen eine<br />
Konsolidierung <strong>de</strong>r Anarchie."<br />
Angesichts <strong>de</strong>r entfesselten Kräfte versprachen <strong>de</strong>r Zar und seine Regierung rasch ein paar Freiheiten:<br />
eine liberale Verfassung, ein freies Parlament, Reformen. Tatsächlich schickte sich das einberufene<br />
Parlament, die Duma, an, eine weitreichen<strong>de</strong> Landreform einzuleiten, <strong>de</strong>n Klerus und <strong>de</strong>n A<strong>de</strong>l zu<br />
enteignen und die Macht <strong>de</strong>s Kaisers zu beschnei<strong>de</strong>n. Die Revolutionäre waren naiv genug, an ihren Sieg<br />
zu glauben. Ernsthafte Versuche, in diesem Moment <strong>de</strong>r Staatskrise die Fabriken, die Verwaltung und die<br />
Schaltstellen <strong>de</strong>r Macht zu übernehmen, gab es kaum. Zu schnell und zu leicht hatte man <strong>de</strong>n<br />
vermeintlichen Erfolg errungen und war nun ein wenig ratlos. Nicht so das Regime, das seine<br />
Versprechen brach, sobald es sich stark genug fühlte. Die Duma wur<strong>de</strong> aufgelöst, die Verfassung<br />
zerrissen, <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand in altbekannter Manier unterdrückt: Auf 400.000 Tote wur<strong>de</strong>n die Opfer <strong>de</strong>r<br />
blutigen Gegenrevolution geschätzt, 142.761 gab die Regierung offiziell zu. Während <strong>de</strong>r Kämpfe fan<strong>de</strong>n<br />
auf <strong>de</strong>r Gegenseite etwa 4000 Menschen <strong>de</strong>n Tod. Eine traumatische Erfahrung, vergleichbar mit <strong>de</strong>r<br />
Pariser Commune, aber ohne die jahrzehntelange Lähmung von damals. Die russische Arbeiterbewegung<br />
zog rasch ihre Lehren aus dieser Nie<strong>de</strong>rlage.<br />
In <strong>de</strong>n Gewerkschaften und Berufsverbän<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n eigentlichen Trägern <strong>de</strong>s Streiks, wur<strong>de</strong> die<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle, die die Räte gespielt hatten, nicht so schnell vergessen. In <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahren, für<br />
die sie sich immerhin eine legale Existenz erkämpft hatten, konnten sie ihre Stellung in <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
ausbauen. Sie blieben dabei von Parteien und Bewegungen unabhängig, verstan<strong>de</strong>n sich aber auch nicht<br />
als revolutionäre Organisationen. Dennoch waren auch hier typisch libertäre For<strong>de</strong>rungen durchaus<br />
populär gewor<strong>de</strong>n. So beschloß etwa <strong>de</strong>r Bauernbund auf seinem allrussischen Kongreß in Moskau, daß<br />
das Land <strong>de</strong>nen gehören solle, die es bestellen. Land dürfe we<strong>de</strong>r Privatbesitz noch Staatsbesitz sein,<br />
son<strong>de</strong>rn müsse <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> gehören, die in ihrem inneren Verwaltungsleben unabhängig und<br />
selbständig bleiben solle. Man darf nicht vergessen, daß die Bevölkerung Rußlands zu achtzig Prozent aus<br />
Bauern bestand, die in unbeschreiblichem Elend und weitgehen<strong>de</strong>r Rechtlosigkeit lebten. Dabei konnten<br />
sie durchaus auf eigene freiheitliche Traditionen zurückgreifen – etwa die dörfliche Selbstverwaltung, <strong>de</strong>n<br />
Semstwo, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Mir, das bäuerliche Gemeineigentum an Ackerland. Libertäre I<strong>de</strong>en waren ihrem<br />
eigenen Erfahrungshorizont also keineswegs fremd. Vom marxistischen Standpunkt aus galten Semstwo<br />
und Mir jedoch als "rückständig", gera<strong>de</strong>so wie <strong>de</strong>r Bauer an sich, war er doch ungebil<strong>de</strong>t und ohne<br />
proletarisches Bewußtsein. Vermutlich verstand <strong>de</strong>r alte Kropotkin, <strong>de</strong>r in die dörfliche Autonomie so<br />
große Hoffnungen gesetzt hatte, mehr von <strong>de</strong>r Psychologie <strong>de</strong>s russischen Bauern als die russischen<br />
Marxisten, die einzig im mo<strong>de</strong>rnen Industrieproletariat das Heil <strong>de</strong>r Revolution erblickten.<br />
Aber auch die Arbeiter in <strong>de</strong>n großen Städten <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s waren erwacht. Sie entwickelten ein starkes<br />
Selbstbewußtsein, und wußten ihre Unabhängigkeit gegenüber <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>ologen zu wahren. Alle Parteien<br />
Rußlands vertraten lediglich Min<strong>de</strong>rheiten. Die Masse <strong>de</strong>r Bauern<br />
255<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
und Arbeiter han<strong>de</strong>lte, wenn sie in Bewegung kam, intuitiv. In dieser Intuition waren die Erfahrung <strong>de</strong>r<br />
Sowjets von 1905 zu einer festen Größe gewor<strong>de</strong>n, die 1917 wie<strong>de</strong>r aufgegriffen wur<strong>de</strong>.<br />
Die ›Jesuiten‹ schlucken Krei<strong>de</strong><br />
Es stellt sich natürlich die Frage, wie die kleine, relativ isolierte Partei <strong>de</strong>r Bolschewiki es schaffen könne,<br />
eine so große, unabhängige Bewegung wie die von 1917, vor ihren Karren zu spannen. Hierfür gibt es<br />
eine Reihe von Grün<strong>de</strong>n.<br />
Die Partei <strong>de</strong>r Bolschewisten war straff organisiert und gehorchte ohne Verzug <strong>de</strong>n Anordnungen <strong>de</strong>r<br />
Parteiführung. Sie verfügte über eine in sich geschlossene I<strong>de</strong>ologie, die im Rang eines fast heiligen<br />
Dogmas stand, und <strong>de</strong>n Ruf einer allseits abgesegneten ›Wissenschaftlichkeit‹ genoß. Dadurch war sie
weitgehend gegen Kritik abgeschottet. Sie war bewaffnet und scheute sich nicht, Gewalt einzusetzen. Sie<br />
konnte sich auf einen gut organisierten Auslandsapparat stützen, <strong>de</strong>r für logistische Unterstützung, Geld<br />
und Propaganda sorgte. Sie hatte einen unangefochtenen Chef, <strong>de</strong>r ein kluger Taktiker und guter Redner<br />
war. Dieser Chef, Lenin, war intelligent, ehrgeizig und entschlossen, die Macht an sich zu reißen. Er<br />
verfügte über ein ausgeprägtes Gespür für die Gefühle im Volk, verstand es, sich unterschiedlichen Lagen<br />
anzupassen und schnell zu reagieren. All das machte die Bolschewiki zu einer effektiven Truppe, die von<br />
Anfang an <strong>de</strong>n Mythos einer selbstlosen, zielstrebigen und opferbereiten Kampfgemeinschaft unters Volk<br />
brachte; ein Volk, das von jeher einen Hang zur Verehrung <strong>de</strong>s Märtyrertums hatte. Emma Goldman faßte<br />
all diese Eigenschaften in <strong>de</strong>m launigen Satz zusammen: "Die Bolschewisten bil<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Jesuitenor<strong>de</strong>n in<br />
<strong>de</strong>r marxistischen Kirche".<br />
Gegen diese geballte Organisationsstärke waren etwa die Anarchisten hoffnungslose Stümper. Was nützte<br />
es da, daß sie solch ›effektive‹ Strukturen aus Prinzip ablehnten? Und wer verstand schon ihre warnen<strong>de</strong><br />
Kritik vor <strong>de</strong>m unseligen Geist <strong>de</strong>s autoritären Sozialismus? Das waren Dinge, mit <strong>de</strong>nen sich Theoretiker<br />
beschäftigten, Menschen, die Bücher lasen... So wur<strong>de</strong> die revolutionäre Bewegung von 1917, <strong>de</strong>r es bei<br />
allem freiheitlichen Elan vor allem an revolutionärer Erfahrung und <strong>de</strong>r Geschlossenheit einer eigenen,<br />
positiven I<strong>de</strong>e fehlte, relativ leicht übertölpelt.<br />
Und doch hätte all das nicht ausgereicht, <strong>de</strong>n libertären Geist dieser Revolution so einfach einzukassieren.<br />
Um <strong>de</strong>njenigen <strong>de</strong>n Schneid abzukaufen, die in Rußland ohne Lenins Erlaubnis die Revolution gemacht<br />
hatten, mußten die Bolschewiki erst einmal gehörig Krei<strong>de</strong> fressen. Es klingt paradox, ist aber<br />
folgerichtig: Die Bolschewiki mußten zunächst die ›besseren Anarchisten‹ wer<strong>de</strong>n.<br />
Lenin, <strong>de</strong>r Freiheit einstmals als "bürgerliches Vorurteil" bezeichnet hatte, erfaßt nach seiner Ankunft<br />
sofort die Lage. Entgegen allen bolschewistischen Theorien schwenkt er umgehend auf libertären Kurs<br />
und verwirft offiziell all die Dogmen von <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n Rolle <strong>de</strong>r Partei, Verstaatlichung und Diktatur.<br />
Statt<strong>de</strong>ssen schreiben die Bolschewiki plötzlich die libertäre Losung "Alle Macht <strong>de</strong>n Räten!" auf ihre<br />
Fahnen. Damit liegen sie<br />
256<br />
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voll im Trend. "Lenin", schreibt Daniel Guerin, "tat seinen ›Leutnants‹ buchstäblich Gewalt an, in<strong>de</strong>m er<br />
sie verpflichtete, eine libertäre Sprache zu re<strong>de</strong>n. (...) Das Ansehen <strong>de</strong>r Räte war so groß, daß <strong>de</strong>r<br />
Oktoberaufstand nur in ihrem Namen und auf ihren Appell hin ausgelöst wer<strong>de</strong>n konnte."<br />
Mit <strong>de</strong>m Sturm auf das Winterpalais im Oktober 1917 macht die revolutionäre Bewegung Schluß mit <strong>de</strong>r<br />
provisorischen Regierung Kerenskij. Es scheint, als hätten jetzt die Werktätigen die Macht. Noch ziehen<br />
die einfachen Menschen, die Sowjets, Lenin und die Anarchisten an einem Strang. Unzweifelhaft kommt<br />
<strong>de</strong>n Bolschewiki ein be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r Verdienst bei <strong>de</strong>r Organisation und <strong>de</strong>m militärischen Sieg in dieser<br />
Nacht zu. Dieses Ereignis bringt ihnen dann auch einen enormen Prestigegewinn und bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n<br />
Grundstock zur Legen<strong>de</strong> <strong>de</strong>r "siegreichen Oktoberrevolution", die in<strong>de</strong>s nichts an<strong>de</strong>res war als eine<br />
Revolution in <strong>de</strong>r Revolution und zugleich <strong>de</strong>r Anfang ihres Nie<strong>de</strong>rgangs.<br />
En<strong>de</strong> Oktober sitzen die Bolschewiki fest im Sattel und genießen <strong>de</strong>n Ruf entschlossener Revolutionäre.<br />
Die Partei verzeichnet großen Zulauf. Selbst bei <strong>de</strong>n Anarchisten ist das Mißtrauen geschwun<strong>de</strong>n, scheint<br />
es doch, daß sich Lenin zu einem aufrechten Libertären gelaufen hat. In <strong>de</strong>r Tat operieren die<br />
Kommunisten mehr <strong>de</strong>nn je mit knallharten Anarchoparolen. Nur so konnte Lenin hoffen, die nötige<br />
Begeisterung zu entfachen und alle Kräfte zu mobilisieren. Auf <strong>de</strong>m dritten Rätekongreß Anfang 1918<br />
verkün<strong>de</strong>t er wörtlich: "Die anarchistischen I<strong>de</strong>en nehmen jetzt lebendige Gestalt an". Auf ihrem siebten<br />
Kongreß beschließt die Bolschewistische Partei ihre <strong>de</strong>nkwürdigen "Aprilthesen". In ihnen ist die Re<strong>de</strong><br />
von <strong>de</strong>r Abschaffung <strong>de</strong>r Berufsfunktionäre, <strong>de</strong>r Polizei und <strong>de</strong>r Armee, <strong>de</strong>r Gleichheit von Löhnen und<br />
Gehältern sowie <strong>de</strong>r Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktion, die in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Arbeiterorganisationen<br />
liegen müsse. Die Räte sollten an <strong>de</strong>r Regierung teilnehmen, Ziel sei die völlige Aufhebung <strong>de</strong>s Staates<br />
und <strong>de</strong>r Geldwirtschaft. Eine Räterepublik à la Pariser Commune müsse erreicht wer<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>r eine
Köchin in <strong>de</strong>r Lage sei, das Land zu lenken. Kaum jemand traut <strong>de</strong>n Bolschewiki zu, daß all das nur<br />
Taktik ist, kaum jemand hegt Mißtrauen, als sich in <strong>de</strong>r Folge immer mehr prominente Bolschewisten in<br />
<strong>de</strong>n Räten etablieren. Lenin wird Vorsitzen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Rates <strong>de</strong>r Volkskommissare und installiert mit seinen<br />
Gefolgsleuten Schritt für Schritt eine An neuer Regierung, die das Land nach innen und außen vertritt. All<br />
das unter <strong>de</strong>m Etikett "Aufbau <strong>de</strong>r Sowjetmacht".<br />
In aller Welt fällt die Arbeiterschaft in einen Freu<strong>de</strong>ntaumel und feiert die große proletarische Revolution,<br />
in <strong>de</strong>r die Werktätigen die Freiheit errungen haben. Es ist die Re<strong>de</strong> davon, nun das "Paradies <strong>de</strong>r Arbeiter"<br />
aufzubauen. Wie später in China, Kuba, Nicaragua glaubt die Linke nur allzu gerne an die guten<br />
Nachrichten, die aus fernen Län<strong>de</strong>rn kommen. Wer wollte auch angesichts <strong>de</strong>s langersehnten Triumphes<br />
die Schattenseiten sehen! Selbst in Rußland dauerte es ein, zwei Jahre, bis die kritischsten Geister <strong>de</strong>n<br />
wahren Charakter <strong>de</strong>s Bolschewismus erkannten und das Scheitern <strong>de</strong>r Revolution konstatieren mußten –<br />
wie sollte es da erstaunen, wenn im Ausland <strong>de</strong>r Mythos <strong>de</strong>r Russischen Revolution sogar in <strong>de</strong>n Köpfen<br />
<strong>de</strong>r Libertären noch viele Jahre lang festsaß.<br />
Zunächst jedoch schweißt <strong>de</strong>r Druck von außen die revolutionären Kräfte noch einmal<br />
257<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
zusammen und über<strong>de</strong>ckt alle Wi<strong>de</strong>rsprüche: Die Bolschewiki schließen in Brest-Litowsk unter<br />
erdrücken<strong>de</strong>n Bedingungen einen Separatfrie<strong>de</strong>n mit Deutschland. Inzwischen hat sich die Reaktion im<br />
Ausland formiert und beginnt eine gut organisierte Gegenrevolution. Von England unterstützte<br />
exilrussische Truppen greifen die junge Sowjetfö<strong>de</strong>ration von Westen, Sü<strong>de</strong>n und Osten an, eine<br />
Blocka<strong>de</strong> wird verhängt. Das Land fällt in einen Bürgerkrieg und durchlebt furchtbare Hungerperio<strong>de</strong>n.<br />
Die Revolution ist aufs äußerste bedroht.<br />
In diesem Chaos bieten sich die Bolschewiki als Ordnungsfaktor und Retter an, ihre Position festigt sich<br />
weiter. Alle Unzulänglichkeiten und Grausamkeiten wer<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>n ›beson<strong>de</strong>ren Umstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Krieges‹<br />
erklärt o<strong>de</strong>r als Kin<strong>de</strong>rkrankheiten <strong>de</strong>r Revolution dargestellt: bedauerliche Fehler, die sich mit <strong>de</strong>r Zeit<br />
schon legen wür<strong>de</strong>n. Gleichzeitig räumt die Geheimpolizei stückchenweise alle Konkurrenten aus <strong>de</strong>m<br />
Wege. Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Bürgerkrieges ist Lenins Partei, die sich nun Kommunistische Partei <strong>de</strong>r<br />
Sowjetunion (KPdSU) nennt, unumschränkter Herrscher über ein riesiges Reich. Es gibt keine Opposition<br />
mehr, das Land ist militärisch organisiert und bürokratisch gleichgeschaltet. Das Volk hat nichts mehr zu<br />
sagen. Es regiert die Partei, und das tut sie mit Befehlen, Einschüchterung, nackter Gewalt. Der Geist <strong>de</strong>r<br />
Revolution ist tot.<br />
Bittere Lehren<br />
All <strong>de</strong>m stan<strong>de</strong>n die Anarchisten fassungslos und unvorbereitet gegenüber. Sie hatten kein Verhältnis zur<br />
Macht und waren <strong>de</strong>m Umgang mit Machtmenschen hilflos ausgeliefert. Der Durchschlagskraft einer<br />
straffen Organisation hatten sie nichts entgegenzusetzen. Die Erkenntnis, daß auch die Freiheit sich<br />
konkret organisieren müsse, war bitter und wur<strong>de</strong> teuer bezahlt. Anarchisten hatten sich stets darauf<br />
verlassen, daß eine breite Entfesselung <strong>de</strong>s allgemeinen Volksaufstan<strong>de</strong>s ungeahnte Kräfte freisetzen<br />
wür<strong>de</strong>, die sich nach <strong>de</strong>m Sieg <strong>de</strong>r Revolution frei und schöpferisch entfalten könnten. Die Russische<br />
Revolution hatte gezeigt, daß dies zwar möglich war, aber sie hatte auch schonungslos die Lücken im<br />
anarchistischen Revolutionsszenario freigelegt. Der Gegner stand nicht nur jenseits <strong>de</strong>r Barrika<strong>de</strong>n,<br />
son<strong>de</strong>rn auch im Lager <strong>de</strong>r Revolutionäre. Anarchisten verstan<strong>de</strong>n es wohl, zu kämpfen, nicht aber gegen<br />
Intrigen. Vor allem aber verstan<strong>de</strong>n sie es kaum, zu organisieren. Zwischen <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e und <strong>de</strong>ren<br />
tatsächlicher Umsetzung klaffte eine riesige Lücke. Die Fragen <strong>de</strong>r alltäglichen Praxis und ihrer konkreten<br />
Organisation waren sträflich vernachlässigt. So hatte die freiheitliche Revolution keine Zeit zur<br />
Entwicklung ihres eigenen Weges und wur<strong>de</strong> zur leichten Beute <strong>de</strong>rer, die mit Gewalt und<br />
entschlossenem Auftreten die scheinbar einfachste Lösung boten. Der alte Kropotkin hatte das klar<br />
erkannt, als er kurz vor seinem To<strong>de</strong> Emma Goldman seine Lehre aus diesem Debakel anvertraute: "Wir<br />
Anarchisten haben sehr viel von <strong>de</strong>r sozialen Revolution gesprochen. Aber wie wenige von uns haben
sich die Mühe genommen, die nötigen Vorbereitungen für die unmittelbare Arbeit, die während und nach<br />
<strong>de</strong>r Revolution geleistet wer<strong>de</strong>n muß, zu treffen. Die Russische Revolution hat uns die absolute<br />
Notwendigkeit solcher Vorbereitungen für praktische konstruktive Arbeit klar vor Augen geführt."<br />
258<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Bevor diese Lehren verstan<strong>de</strong>n und umgesetzt wer<strong>de</strong>n konnten, mußte noch viel geschehen. In Rußland<br />
jedoch stan<strong>de</strong>n die Zeichen <strong>de</strong>r Zeit nicht auf kritischer Reflexion. Die meisten Anarchisten waren von<br />
<strong>de</strong>r Tscheka verhaftet, viele von ihnen hingerichtet wor<strong>de</strong>n. Aber noch gab es Menschen im Lan<strong>de</strong>, die<br />
die Freiheit nicht verloren gaben und sich gegen die neue Tyrannei genauso wehrten wie gegen die alte.<br />
Literatur:<br />
/ Volin: Die unbekannte Revolution, (3 Bän<strong>de</strong>) Hamburg 1977, Association, 291, 221 u. 189 S.<br />
/ Emma Goldman: Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>r russischen Revolution, Berlin 1987, Karin Kramer, 119 S.<br />
/ Alexan<strong>de</strong>r Berkman: Die russische Tragödie, Berlin 1980, Libertad, 44 S.<br />
/ Rudolf Rocker: Der Bankerott <strong>de</strong>s russischen Staatskommunismus, Berlin o.J. (1921), 45 S., in: E.<br />
Goldmann, R. Rocker: Der Bolschewismus - Verstaatlichung <strong>de</strong>r Revolution<br />
/ Arthur Müller-Lehning: Anarchismus und Marxismus in <strong>de</strong>r russischen Revolution Berlin o.J. (1971 ?),<br />
Verlag für Sozial-Revolutionäre Schriften, 146 S.<br />
/ Maximoff: Die revolutionär-syndikalistische Bewegung in Rußland, ebda.<br />
/ Isaak Steinberg: Gewalt und Terror in <strong>de</strong>r Revolution, Berlin 1981, Karin Krämer, 339 S.<br />
/ Johannes Ch. Traut (Hrsg.): Rußland zwischen Revolution und Konterrevolution (Textsammlung, 2<br />
B<strong>de</strong>.) München 1974/75, Willing, 23; u. 241 S.<br />
/ N.N.: Die russische Revolution I (Textsammlung) Berlin 1980, Libertad, 43 S.<br />
/ Victor Serge: Eroberte Stadt Frankfurt/M. 1977, Freie Gesellschaft, 181 S.<br />
/ A. M. Pankratowa: Fabrikräte in Rußland Frankfurt/M. 1976, Fischer, 337 S.<br />
/ Group Solidarity: Räte in Rußland Berlin 1971, Roter Oktober, 95 S.<br />
/ Maurice Brinton: Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle Hamburg 1976, Association, 136 S.<br />
/ Gottfried Mergner (Hrsg.): Die russische Arbeiteropposition - Die Gewerkschaften in <strong>de</strong>r Revolution<br />
(Textsammlung) Reinbek 1972, Rowohlt, 21; S.<br />
/ Rudi Dutschke: Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen, Berlin 1974, Wagenbach, 348 S., ill.<br />
Kapitel 30<br />
Die Machnotschina: Bauernguerilla in <strong>de</strong>r Ukraine<br />
"Sterben o<strong>de</strong>r siegen – das ist es, was im gegenwärtigen historischen Augenblick <strong>de</strong>n Bauern <strong>de</strong>r Ukraine<br />
bevorsteht. Wir können aber nicht sterben – unser sind zu viele, wir sind die Menschheit. Also wer<strong>de</strong>n wir<br />
siegen. Wir wer<strong>de</strong>n aber nicht siegen, um unser Schicksal einer neuen Regierung zu überantworten,<br />
son<strong>de</strong>rn, um es in unseren eigenen Hän<strong>de</strong>n zu halten. Um unser Leben zu gestalten, wie wir es selbst<br />
wollen und wie wir es als wahr empfin<strong>de</strong>n."<br />
"Armee ukrainischer Insurgenten", aus <strong>de</strong>m ersten Aufruf<br />
VOR FAST ACHTZIG JAHREN streiften verwegene Gestalten durch die Weite <strong>de</strong>r ukrainischen<br />
Landschaft. Ein Heer von über 10.000 Bauernguerillas kontrollierte dort länger als drei Jahre ein Gebiet<br />
von 70.000 Quadratkilometern, in <strong>de</strong>m über sieben Millionen Menschen lebten. Die Bolschewiki nannten<br />
sie Banditen, Konterrevolutionäre und aufständische Kulaken*. Die Bourgeoisie beschimpfte sie als<br />
bolschewistische Hor<strong>de</strong>n. Die ukrainische Bauernschaft aber wußte es besser: es waren die "Machnowzi",<br />
anarchistische Partisanen, die in ihrer Heimat für eine libertäre Revolution kämpften. Es gelang ihnen<br />
tatsächlich – zum ersten Mal in <strong>de</strong>r Geschichte – eine ganze Region von staatlicher Autorität zu befreien.<br />
So martialisch* sie in ihrem waffenstrotzen<strong>de</strong>n Aufzug und <strong>de</strong>n zusammengeklaubten Uniformen auch
wirkten – sie waren fast ausschließlich Bauern, die Ärmsten <strong>de</strong>r Armen,<br />
259<br />
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die mit Krieg nichts im Sinn hatten. Sie hätten viel lieber die Gewehre weggelegt, um in Ruhe ihre Fel<strong>de</strong>r<br />
zu bestellen und jenen Traum zu verwirklichen, für <strong>de</strong>n die schwarze Fahne stand, unter <strong>de</strong>r sie ritten: die<br />
Anarchie. Dieses Wort be<strong>de</strong>utete für sie etwas sehr Handfestes. Zunächst einmal, daß sie überhaupt Land<br />
zum bebauen hatten. Weiterhin, daß sie sich zusammenschlossen, um gemeinsam zu wirtschaften. Das<br />
leuchtete unmittelbar ein und war an sich auch nichts Neues. Vor allem aber, daß es keine Herren mehr<br />
gab, die kommandierten, dreinre<strong>de</strong>ten und <strong>de</strong>n Ertrag fortnahmen. Das war jene schlichte Art von<br />
Anarchie, die aus <strong>de</strong>n Herzen kommt und nicht aus Büchern. Nicht erstaunlich bei einer Bewegung, die<br />
zum größten Teil aus landlosen Bauern bestand, die in ihrem Leben we<strong>de</strong>r lesen und schreiben gelernt<br />
hatten, noch Politik o<strong>de</strong>r militärische Strategie.<br />
Dennoch waren sie, wenn es drauf an kam, hervorragen<strong>de</strong> Soldaten. Nicht aus Neigung zum Militär,<br />
son<strong>de</strong>rn weil sie eine Sache verteidigten, in <strong>de</strong>r sie alles zu verlieren hatten. In <strong>de</strong>r "Armee Ukrainischer<br />
Insurgenten", wie sich die Machnowzi offiziell nannten, gab es we<strong>de</strong>r militärischen Drill noch<br />
Rangabzeichen; die Anführer <strong>de</strong>r Kampfgruppen wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r ganzen Mannschaft aus <strong>de</strong>n fähigsten<br />
Leuten gewählt. Blin<strong>de</strong>r Gehorsam war verpönt, aber es herrschte strenge Disziplin. Diese<br />
Freiwilligenarmee brauchte we<strong>de</strong>r Nachschub noch Verwaltung o<strong>de</strong>r Kasernen. Ihre Leute waren bei <strong>de</strong>n<br />
Bauern <strong>de</strong>r Region willkommen, konnten sich überall verpflegen, die Pfer<strong>de</strong> wechseln o<strong>de</strong>r untertauchen.<br />
Das hatten die Bewohner auf <strong>de</strong>n großen Rayonkongressen selbst so beschlossen, und darauf konnten sich<br />
die Machnowzi verlassen. In <strong>de</strong>n wenigen friedlichen Perio<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>r Bewegung vergönnt waren,<br />
gingen die Partisanen nach Hause und wur<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r zu Landwirten. Gute Reiter von Kin<strong>de</strong>sbeinen an,<br />
entwickelten diese Menschen eine Taktik <strong>de</strong>s mobiles Krieges, die ihre gut ausgerüsteten Gegner zum<br />
Wahnsinn trieb. Sie schlugen überraschend dort zu, wo sie am wenigsten vermutet wur<strong>de</strong>n, zogen sich<br />
wie<strong>de</strong>r zurück, blieben unauffindbar, um an<strong>de</strong>rnorts wie<strong>de</strong>r anzugreifen. So zermürbten sie die<br />
<strong>de</strong>utschösterreichische Besatzungsarmee, trieben die eroberungslustigen Truppen <strong>de</strong>r zaristischen<br />
Konterrevolution zur Flucht und wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>n lange Zeit <strong>de</strong>r Roten Armee, die sich anschickte, die<br />
aufrührerische Ukraine ihrem Sowjetstaat zu unterwerfen. Und so schufen sie auch die Grundlage zur<br />
Befreiung eines Landstriches von <strong>de</strong>r Größe Irlands, in <strong>de</strong>m sie sich, wann immer es ging, an <strong>de</strong>n Aufbau<br />
einer libertären Gesellschaft machten.<br />
Die rebellische Ukraine<br />
Das, was sich wie das Drehbuch eines revolutionsromantischen Spielfilms ausnimmt, hatte einen sehr<br />
realen Hintergrund. Die Ukraine – <strong>de</strong>r Name be<strong>de</strong>utet übersetzt "am Ran<strong>de</strong>" – war für Rußland schon<br />
immer ein ganz beson<strong>de</strong>res Territorium: eine Art Halbkolonie vor <strong>de</strong>r eigenen Haustür mit einem Hauch<br />
von Exotik. Moskau kümmerte sich wenig um diese ›unzivilisierte‹ Gegend. Solange das fruchtbare Land<br />
nur genug Lebensmittel erzeugte, durfte es eine relativ große Freizügigkeit genießen. Es wur<strong>de</strong><br />
Zufluchtsort von entlaufenen Leibeigenen und lokalen Kosakenhäuptlingen, die in <strong>de</strong>n ausge<strong>de</strong>hnten<br />
Wäl<strong>de</strong>rn reichlich Unterschlupf fan<strong>de</strong>n. Die Städte am Schwarzen Meer, in <strong>de</strong>nen sich viele Ju<strong>de</strong>n nie<strong>de</strong>r-<br />
260<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
gelassen hatten, galten als kosmopolitische Schmelztiegel verschie<strong>de</strong>nster Volksgruppen und Orte<br />
südlicher Lebensart. Die Ukraine aber war kein unabhängiger Staat, son<strong>de</strong>rn eine Provinz <strong>de</strong>s Russischen<br />
Reiches.<br />
Während <strong>de</strong>r Unruhen Anfang 1917 hatten die ukrainischen Bauern vielerorts die Großgrundbesitzer
verjagt, das Land enteignet und sich auf eigene Faust in autonomen Sowjets organisiert. Auch in <strong>de</strong>n<br />
Industrien kam es vereinzelt zur Bildung von Fabrikkomitees und Übernahmen durch die Belegschaft. Die<br />
Provinzregierung war zu schwach, um sich gegen diese Bestrebungen durchzusetzen. Die<br />
Oktoberrevolution fand im Sü<strong>de</strong>n Rußlands praktisch nicht statt; erst zum Jahreswechsel versuchte die<br />
Sowjetregierung ohne großen Erfolg, in <strong>de</strong>r Ukraine Fuß zu fassen. Die Anhängerschaft <strong>de</strong>r Bolschewiki<br />
beschränkte sich hier vorwiegend auf intellektuelle Zirkel in <strong>de</strong>n Städten. Zu<strong>de</strong>m hatte sich inzwischen<br />
noch eine bürgerlich-liberale Bewegung unter Ssemjon Petljura gebil<strong>de</strong>t, die im November eine nahezu<br />
folgenlose "Ukrainische Republik" ausrief.<br />
Durch <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n von Brest-Litowsk fiel das Land 1918 an die Deutschen und Österreicher, die aus ihm<br />
herausholten, was nur irgend ging. Es kam zu bewaffnetem Wi<strong>de</strong>rstand, Gewalttaten, Vergeltung und<br />
Unruhen. Die Besatzer versuchten daraufhin, mit Hilfe <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschfreundlichen Hetman* Skoropadski ein<br />
autoritäres Marionettenregime zu installieren, das sich anschickte, die Landnahme rückgängig zu machen.<br />
Dagegen wehrten sich die Bauern nur noch energischer. Erstmals tauchen nun kleine Freischärlergruppen<br />
von 20 bis 100 Bewaffneten auf, die von <strong>de</strong>r Verteidigung zum Angriff übergehen. Sie überfallen die<br />
Miliz, plün<strong>de</strong>rn Arsenale und verjagen die Gutsbesitzer. Mit zunehmen<strong>de</strong>m Erfolg verteidigen sie die<br />
enteigneten Güter gegen die anrücken<strong>de</strong>n Regierungstruppen. Die Bewegung radikalisiert sich zusehends<br />
und gewinnt an Einfluß und Selbstbewußtsein. Immer öfter tauchen politische Parolen und Manifeste auf,<br />
die eine ein<strong>de</strong>utig anarchistische Handschrift verraten. Die Regierung wird nervös. Trotz <strong>de</strong>r großen<br />
Härte, mit <strong>de</strong>r sie vorgeht, wird sie nicht Herr <strong>de</strong>r Lage. Weite Teile <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s scheinen praktisch<br />
unregierbar zu wer<strong>de</strong>n. Das Zentrum <strong>de</strong>s Ungehorsams liegt irgendwo im Gebiet zwischen Berdjansk,<br />
Jekaterinoslaw, Alexandrowsk und Mariupol – im Rajon von Gulaj-Pole, einer unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n<br />
Provinzstadt. Was zum Teufel ist dort los?<br />
"Väterchen Machno"<br />
Dort agierte ein Mann, <strong>de</strong>ssen Name bald zu <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n sollte: Nestor Machno. Er kam<br />
frisch aus <strong>de</strong>m Gefängnis <strong>de</strong>s Zaren und hatte das Zeug dazu, aus <strong>de</strong>m vereinzelten Wi<strong>de</strong>rstand eine<br />
soziale Bewegung zu machen. Gera<strong>de</strong> dreißig Jahre alt, wird er von <strong>de</strong>n Bauern <strong>de</strong>s Rayons wie ein<br />
weiser Alter verehrt — sie nennen ihn "Väterchen Machno".<br />
Dieser ehemalige Viehhirt wird während <strong>de</strong>r nächsten vier Jahre das bis dahin größte sozialrevolutionäre<br />
Experiment <strong>de</strong>s Anarchismus in Gang setzen und dafür Sorge tragen, daß die Generalstäbe mehrerer<br />
Armeen keine Ruhe mehr fin<strong>de</strong>n. Im Westen, wo er später das bittere Los <strong>de</strong>r Emigration trägt, wird man<br />
<strong>de</strong>n Mann ohne Schulbildung, <strong>de</strong>r ebenso selbstverständlich mit Lenin konferiert wie er sein<br />
Maschinengewehr bedient, zum<br />
261<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
"anarchistischen Robin-Hood" verklären, zu einem Rächer <strong>de</strong>r Unterdrückten. Das liegt bei einer solchen<br />
Biographie nahe – Machno war wirklich jemand, <strong>de</strong>r zum Anekdotenlieferant taugte.<br />
1905 hatte sich <strong>de</strong>r Siebzehnjährige in seiner Heimatstadt Gulaj-Pole einer anarcho-kommunistischen<br />
Gruppe angeschlossen. An seinem Arbeitsplatz, einer Gießerei, beginnt er mit <strong>de</strong>r Organisierung seiner<br />
Kollegen, nachts widmet er sich militanten Aktionen – die damals übliche Taktik. Dafür wird er 1908<br />
zum To<strong>de</strong> verurteilt, angesichts seiner Jugend aber zu lebenslänglich begnadigt. Wie für die meisten<br />
Revolutionäre <strong>de</strong>r Epoche wird die Haft für ihn zur i<strong>de</strong>ologischen Volkshochschule. Er schließt seine<br />
Bildungslücken und freun<strong>de</strong>t sich mit <strong>de</strong>m erfahrenen Anarchisten Peter Arschinoff an, <strong>de</strong>r später die<br />
Kulturabteilung <strong>de</strong>r Machnotschina aufbauen wird. 1917 befreit die Revolution bei<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m Moskauer<br />
Butirky-Gefängnis, und Machno kehrt voll Tatendrang in seine Heimatstadt zurück. Als einziger befreiter<br />
Gefangene <strong>de</strong>s Ortes genießt er eine gewisse Prominenz, die Kollegen bereiten ihm einen herzlichen<br />
Empfang.<br />
Als erstes ruft er einen Gewerkschaftsverband <strong>de</strong>r Bauernknechte ins Leben, bald wird er zum
Vorsitzen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Rayon-Bauernbun<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>s Gulaj- Polsker Bauern- und Arbeiterrates gewählt. Seine<br />
ungewöhnlichen Metho<strong>de</strong>n sprechen sich schnell herum und wer<strong>de</strong>n nachgeahmt. Beauftragt mit <strong>de</strong>r<br />
Landverteilung an die Tagelöhner, schlägt er statt<strong>de</strong>ssen die Einrichtung von agrarischen Kommunen vor,<br />
in <strong>de</strong>nen das Land allen gehört und gemeinsam bewirtschaftet wer<strong>de</strong>n soll. Den Bauern gefällt die I<strong>de</strong>e.<br />
Von <strong>de</strong>n Latifundisten* erzwingt er die Herausgabe genauer Inventarlisten und sorgt <strong>de</strong>monstrativ dafür,<br />
daß sie genug für ihr Auskommen behalten, aber auch nicht mehr, als allen an<strong>de</strong>ren zusteht. Das gefällt<br />
<strong>de</strong>n Bauern noch besser. Natürlich <strong>de</strong>nkt <strong>de</strong>r Landa<strong>de</strong>l nicht wirklich daran, auf seinen Besitzstand zu<br />
verzichten, angesichts <strong>de</strong>r Lage spielt er jedoch zähneknirschend mit. Als die Deutschen ins Land<br />
kommen, scheint die Stun<strong>de</strong> günstig, die Güter mit Hilfe <strong>de</strong>r Regierung zurückzuerobern. Das ist <strong>de</strong>r<br />
Augenblick, wo <strong>de</strong>r Rat Machno mit <strong>de</strong>r Aufstellung "revolutionärer Arbeiter- und Bauernbataillone"<br />
beauftragt – die Geburtsstun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Insurgentenarmee.<br />
Machno bewältigt diese Aufgabe in kürzester Zeit und mit erstaunlicher Effektivität. Da es mehr<br />
Freiwillige als Waffen gibt, bedient er sich bei <strong>de</strong>n Besatzern: In dreisten Handstreichen fällt <strong>de</strong>n<br />
Aufständischen mo<strong>de</strong>rnstes <strong>de</strong>utsches Gerät in die Hän<strong>de</strong>. Rasch stehen tausend Reiter unter Waffen,<br />
Gulaj- Pole wird befreit. Das 25.000 Einwohner zählen<strong>de</strong> Städtchen mit seiner mittelständischen Industrie<br />
verwaltet sich nun selbst. Aus einzelnen Überfällen entwickelt sich ein regelrechter Zermürbungskrieg,<br />
<strong>de</strong>ssen Ziel zunehmend darin besteht, gewisse Orte und Landstriche ganz von staatlicher Autorität frei zu<br />
halten, um dort <strong>de</strong>n Aufbau autonomer Kommunen und die Entwicklung von Selbstverwaltungsorganen<br />
zu begünstigen. Regelrechte Fronten entstehen. Mit einem an Provokation grenzen<strong>de</strong>n Selbstbewußtsein<br />
ignorieren die Menschen alles, was an staatlichen Strukturen übriggeblieben ist. Die verbitterten<br />
Kleinbauern haben <strong>de</strong>n Geruch <strong>de</strong>r Freiheit gewittert, und ihr Beispiel wirkt ansteckend. Wie ein<br />
Steppenbrand breitet sich die Bewegung aus. Die Staatlichkeit zieht sich in die Städte zurück.<br />
262<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Innerhalb weniger Monate hat die Guerilla <strong>de</strong>n Spieß umgedreht: Aus Verfolgern wur<strong>de</strong>n Verfolgte.<br />
Machnos Reiterei war nicht die einzige aufständische Gruppe in Südrußland. Bewaffnete Erhebungen<br />
haben in <strong>de</strong>r Ukraine eine lange Tradition, auch 1905 war <strong>de</strong>r Rayon Schauplatz heftiger Kämpfe<br />
gewesen. Kropotkins Lehren, seit Jahren durch kleine, illegale Gruppen propagiert, ließen nun vielerorts<br />
aufständische Trupps entstehen, in <strong>de</strong>nen meistens Anarchisten die Initiative ergriffen. Rasch entstan<strong>de</strong>n<br />
hieraus die Keimzellen <strong>de</strong>r Partisanenarmee. Die Gruppen operierten teils unter einem gemeinsamen Stab,<br />
teils autonom, und ihr Beispiel wirkte inspirierend. Auch außerhalb <strong>de</strong>r Ukraine, bis in <strong>de</strong>n Ural hinein,<br />
flackerten bewaffnete Rebellionen auf.<br />
Väterchen Machno schien die Figur zu sein, die all das zusammenhielt. Er war <strong>de</strong>r entschlossene<br />
militärische Stratege, <strong>de</strong>n die Guerilla brauchte, und es zeigte sich, daß er ein ausgesprochen taktisches<br />
Geschick entwickelte. Zweifellos besaß er großen persönlichen Mut. Sein Hang zu einem gewissen<br />
Draufgängertum, seine Trinkfestigkeit und sein bäuerlich-<strong>de</strong>rber Charakter stießen in städtischen<br />
Anarchistenkreisen gelegentlich auf Kritik, machten ihn bei <strong>de</strong>r Landbevölkerung hingegen sehr populär.<br />
Dabei war er alles an<strong>de</strong>re als <strong>de</strong>r lan<strong>de</strong>stypische kriegslüsterne Kosak. Persönliche Macht und<br />
Bereicherung waren <strong>de</strong>m zutiefst i<strong>de</strong>alistischen Revolutionär zuwi<strong>de</strong>r; entsprechen<strong>de</strong> Verstöße seiner<br />
Leute ließ er mit erschrecken<strong>de</strong>r Härte bestrafen. Im Grun<strong>de</strong> war Machno ein rigi<strong>de</strong>r anarchistischer<br />
Moralist, <strong>de</strong>ssen einfache Lebensphilosophie <strong>de</strong>n Bauern gera<strong>de</strong> durch ihre Gradlinigkeit verständlich<br />
wur<strong>de</strong>. Er war ein passabler Redner, verstand zu überzeugen, und seine etwas bildhaften politischen<br />
Manifeste trafen in ihrer Einfachheit genau <strong>de</strong>n Geschmack <strong>de</strong>r Adressaten.<br />
Es verwun<strong>de</strong>rt nicht, daß dieser Mann schon auf <strong>de</strong>m ersten Rayonkongreß <strong>de</strong>r Insurgenten zum<br />
militärischen Führer <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s gewählt wur<strong>de</strong>. Mit je<strong>de</strong>m Handstreich wird sein Kopfgeld erhöht,<br />
sein Name bekannter. Schon bald geben die Menschen <strong>de</strong>r ganzen Bewegung <strong>de</strong>n Namen ihres<br />
Organisators: "Machnotschina".<br />
Der Krieg
Niemals zuvor hatten spezifisch anarchistische I<strong>de</strong>en eine so breite soziale Basis und eine so starke<br />
Ausgangssituation gehabt wie diese "Machno- Bewegung". Die erste großangelegte Verwirklichung <strong>de</strong>r<br />
libertären Utopie war auf die Tagesordnung gesetzt. Allerdings stand dieses gewaltige Sozialrevolutionäre<br />
Experiment von Anfang an unter einem ungünstigen Zeichen: <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Krieges. Vom ersten bis zum<br />
letzten Tag waren die Machnowzi in einen unseligen Kampf verwickelt. Da sie sich als die Garanten <strong>de</strong>r<br />
freien Lebensentfaltung im Rayon verstan<strong>de</strong>n, waren sie ständig damit beschäftigt, die wechseln<strong>de</strong>n<br />
Invasoren fernzuhalten. Die Perio<strong>de</strong>n relativen Frie<strong>de</strong>ns waren zu kurz, um eine wirklich tiefgreifen<strong>de</strong><br />
soziale Umwälzung durchzusetzen.<br />
Zwar gelang es <strong>de</strong>r Bewegung, die Deutschen und Österreicher zu zermürben und die<br />
Marionettenregierung <strong>de</strong>s Hetman zu vertreiben, ebenso wie sie in ihrem Rayon die Re-<br />
263<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
gierung Petljura schachmatt setzte. Auch <strong>de</strong>r Anspruch <strong>de</strong>r Bolschewiki auf die Staatshoheit <strong>de</strong>r<br />
Sowjetregierung blieb in <strong>de</strong>r Region zunächst ein theoretisches Konstrukt, von <strong>de</strong>m praktisch nichts zu<br />
spüren war. Lenins Schreibtisch und die Rote Armee waren weit weg. Aber die Ukraine war inzwischen<br />
zum Spielball ganz an<strong>de</strong>rer Mächte gewor<strong>de</strong>n.<br />
Zarentreue Generäle rückten mit loyalen Truppen von Südosten her auf Zentralrußland vor. Auf ihrem<br />
Weg mußten sie zunächst die Ukraine erobern. Diese sogenannte "weiße" Konterrevolution wur<strong>de</strong> von<br />
England und exilrussischen Finanziers unterstützt, war gut ausgerüstet und bedrohte nicht nur <strong>de</strong>n freien<br />
Rayon, son<strong>de</strong>rn die Russische Revolution insgesamt. So focht die Machnotschina, inzwischen zu einer<br />
mobilen Partisanenarmee von bis zu 30.000 Freiwilligen angewachsen, einen erbitterten Kleinkrieg gegen<br />
die "weißen Generäle" Denikin und Wrangel.<br />
Die Bolschewiki wie<strong>de</strong>rum hatten in ihrem russischen Herrschaftsbereich machtpolitisch bald alles unter<br />
Kontrolle. Die "neuen Zaren" wollten sich nun auch <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>s alten Reiches einverleiben und stießen<br />
von Nor<strong>de</strong>n her in die Ukraine vor. An ihrer Spitze stand <strong>de</strong>r Marschall <strong>de</strong>r Roten Armee, Leo Trotzki,<br />
<strong>de</strong>r sich schon vorher einen üblen Namen bei <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschlagung <strong>de</strong>r Opposition gemacht hatte. Er<br />
gebär<strong>de</strong>te sich wie ein Feldherr in Fein<strong>de</strong>sland und zerschlug im Namen <strong>de</strong>r Sowjetmacht alle freien<br />
Sowjets, die in <strong>de</strong>n Bereich seines Militarismus gerieten. Aus <strong>de</strong>m Anarchosympathisanten war ein<br />
wahrer Anarchistenfresser gewor<strong>de</strong>n, ein Machtmensch, <strong>de</strong>r eine libertäre Alternative nicht dul<strong>de</strong>n<br />
konnte, und <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Wille <strong>de</strong>s Volkes wenig be<strong>de</strong>utete.<br />
Die Machnowisten jedoch sahen in <strong>de</strong>n Bolschewiki zunächst keine Gegner. Für sie waren Marxisten<br />
gleichfalls Sozialisten, also Klassenbrü<strong>de</strong>r. Daß sie eine an<strong>de</strong>re Auffassung von Sozialismus vertraten,<br />
schien ihnen nicht wichtig. Die libertären Bauern waren we<strong>de</strong>r versierte Theoretiker, noch ahnten sie, was<br />
die Tscheka inzwischen in Zentralrußland mit <strong>de</strong>n Anarchisten angestellt hatte. Sie wären nicht im Traum<br />
darauf gekommen, daß für die Bolschewiki ein friedliches Nebeneinan<strong>de</strong>r zweier unterschiedlicher<br />
Mo<strong>de</strong>lle gar nicht in Frage kam. Hatte nicht Machno noch im Sommer 1918 ein langes Gespräch mit<br />
Lenin geführt, in <strong>de</strong>m dieser <strong>de</strong>n Ernst und <strong>de</strong>n Mut <strong>de</strong>r ukrainischen Anarchisten lobte und von<br />
Zusammenarbeit sprach? An machtpolitisches Kalkül mochte ein aufrechter Machnowist nicht glauben.<br />
Die Revolution <strong>de</strong>r Bolschwiki hielten sie für gut, ihre eigene für besser.<br />
So waren die ersten Kontakte zwischen <strong>de</strong>n roten und <strong>de</strong>n schwarzen Truppen freundlich, ja gera<strong>de</strong>zu<br />
brü<strong>de</strong>rlich. Man respektierte sich und war sich einig im Bewußtsein, einen gemeinsamen Feind zu haben,<br />
<strong>de</strong>r die bolschewistische und die anarchistische Revolution gleichermaßen bedrohte.<br />
Dieser Feind rückte mittlerweile sehr handfest vor: General Denikins Invasionsarmee stand vor <strong>de</strong>r Tür.<br />
Unter diesem Druck ging die oberste Führung <strong>de</strong>r Sowjetarmee ein formelles Bündnis mit Machno ein,<br />
obwohl Lenin und Trotzki sehr wohl wußten, daß das Beispiel einer freien Ukraine mit blühen<strong>de</strong>r<br />
Selbstverwaltung eine ernste Bedrohung für ihren Kasernenhofsozialismus hätte wer<strong>de</strong>n können. Im<br />
Kreise seiner Vertrauten äußerte Trotzki: "Es ist besser, die gesamte Ukraine an Denikin abzutreten, als
eine Weiterentwick-<br />
264<br />
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lung <strong>de</strong>r Machnotschina zu dul<strong>de</strong>n." Aber die Kampfmoral <strong>de</strong>r Roten Südarmee war miserabel, ihre<br />
Truppen kontrollierten kaum mehr als die Eisenbahnlinien und ein paar befestigte Stützpunkte. Die<br />
hochmotivierten Machnowisten hingegen kämpften auf heimischem Bo<strong>de</strong>n und verteidigten ihre eigenen<br />
Interessen. Sie verfügten inzwischen über Kraftwagen, Eisenbahnen, Artillerie und sogar gepanzerte<br />
Fahrzeuge. Militärisch waren sie unverzichtbar. Und tatsächlich konnten sie <strong>de</strong>n Ansturm stoppen. Zwei<br />
Jahre dauerte das zähe Ringen — ein verwirren<strong>de</strong>s und atemloses Auf und Ab mit fließen<strong>de</strong>n Fronten und<br />
wechseln<strong>de</strong>m Kriegsglück, <strong>de</strong>ssen aufschlußreicher Detailgeschichte von Taktik, Verrat, Geniestreichen,<br />
Opfermut und Hinterlist hier nicht nachgegangen wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Um es kurz zu machen: Die Bolschewiki spielten ein machiavellistisches Spiel. Genau viermal bie<strong>de</strong>rten<br />
sie sich bei <strong>de</strong>r Machnobewegung an – immer dann, wenn <strong>de</strong>r militärische Druck zunahm. Je<strong>de</strong>smal kam<br />
es zu einem Appell an revolutionäre Gemeinsamkeiten, zu einem Bündnis und zum Marsch <strong>de</strong>r<br />
Insurgenten an die Front. Dort kämpften die Guerillas unter großen Opfern gegen die überlegenen weißen<br />
Truppen, während sich die Rote Armee meist diplomatisch auf ›strategische Positionen‹ zurückzog.<br />
Kaum waren die Partisanen jedoch in ihren Rayon zurückgekehrt, sickerte die Rote Armee wie<strong>de</strong>r ein und<br />
hinter ihr die rote Staatsmacht, um das freie Gemeinwesen zu bedrängen. Zunächst kaum merklich, aber<br />
mit <strong>de</strong>r Zeit immer dreister und brutaler. Die Machnowisten hatten ihre naive Gutgläubigkeit zwar längst<br />
begraben, aber zur Verteidigung ihres Lan<strong>de</strong>s sahen sie keine Alternative als <strong>de</strong>n Versuch, die<br />
Bolschewiki durch Kooperation ruhigzustellen. Als schließlich <strong>de</strong>r weiße Gegner endgültig geschlagen<br />
war, setzte die Anarchistenhatz mit voller Stärke ein. Der Auftakt hierzu begann noch während <strong>de</strong>r<br />
gemeinsamen Siegesfeiern <strong>de</strong>r roten und schwarzen Regimenter auf <strong>de</strong>r zurückeroberten Halbinsel Krim:<br />
Tscheka-Kommissare zerrten die machnowistischen Komman<strong>de</strong>ure von <strong>de</strong>r Tafel weg und ließen sie in<br />
einem Hinterhof erschießen. Die Partei wollte endlich die aufmüpfige Ukraine unterwerfen.<br />
Hierzu bedurfte es allerdings noch eines vollen Jahres erbitterter Kämpfe. Mit enormem Aufwand rollte<br />
man nun <strong>de</strong>n freien Rayon militärisch auf. Die aufständischen Truppen wur<strong>de</strong>n zersprengt, die<br />
Kommunen zerschlagen, die Räte aufgelöst. Unter <strong>de</strong>r Bevölkerung, die noch immer zu Machno hielt,<br />
übte die Invasionsarmee blutige Rache. Noch im Sommer 1922 rangen einzelne Guerillaverbän<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>r<br />
Roten Armee, aber sie kämpften auf verlorenem Posten. Das Experiment war militärisch liquidiert.<br />
Das konstruktive Werk <strong>de</strong>r Machnotschina<br />
Sobald die Partisanen eine Ortschaft eingenommen hatten, schlugen sie Plakate an, auf <strong>de</strong>nen zu lesen<br />
stand: "Die Freiheit <strong>de</strong>r Bauern und Arbeiter gehört ihnen selbst und darf nicht eingeschränkt wer<strong>de</strong>n. Die<br />
Bauern und Arbeiter han<strong>de</strong>ln selbst, organisieren sich, verständigen sich untereinan<strong>de</strong>r über alle Bereiche<br />
<strong>de</strong>s Lebens, so wie sie es selbst verstehen und wünschen. Die Machnowisten können ihnen nur helfen,<br />
ihnen diesen o<strong>de</strong>r jenen Ratschlag geben, aber sie können und wollen auf keinen Fall regieren." Das war<br />
<strong>de</strong>r freie Rahmen, in <strong>de</strong>m sich die Selbstverwaltung entfalten sollte.<br />
265<br />
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Überall dort, wo dieser Rahmen garantiert wer<strong>de</strong>n konnte, übernahmen Menschen, die nie zuvor<br />
Verantwortung getragen hatten, die Initiative. Grundlage <strong>de</strong>s Systems waren freie Räte, die sich übrigens<br />
allesamt dafür aussprachen, ihre Arbeit frei von Parteipolitik zu halten. Je<strong>de</strong>r Mensch sprach nur mit einer<br />
Stimme für sich selbst.
Die Räte waren in ein wirtschaftliches Gesamtsystem integriert, das auf <strong>de</strong>r Basis sozialer Gleichheit die<br />
Organisation <strong>de</strong>r Arbeit und <strong>de</strong>n Austausch <strong>de</strong>r Waren organisierte. Produktionseinheiten waren in<br />
Distrikte, Distrikte in Regionen zusammengefaßt. Die Delegierten hatten dabei das Mandat zu vertreten,<br />
mit <strong>de</strong>m sie von ihren Kollegen o<strong>de</strong>r ihrer Region beauftragt wor<strong>de</strong>n waren. Die gewählten Menschen<br />
verstan<strong>de</strong>n sich als Ausführen<strong>de</strong>, die ihren Auftrag vom Sowjet bezogen; gleiches galt für die<br />
Partisanenarmee. Ämter waren nicht mit wirtschaftlichen Vorteilen verbun<strong>de</strong>n, und nach Ablauf <strong>de</strong>r<br />
Amtszeit nahmen die Leute ihre gewöhnliche Arbeit wie<strong>de</strong>r auf. Die Rayonkongresse, auf <strong>de</strong>nen mehrere<br />
Tausend Menschen zusammenkamen, um die Fragen von großer Tragweite zu entschei<strong>de</strong>n, bil<strong>de</strong>ten<br />
sozusagen <strong>de</strong>n Gipfel <strong>de</strong>r Selbstverwaltung. Von ihnen wur<strong>de</strong>n insgesamt drei durchgeführt. Den vierten<br />
unterban<strong>de</strong>n die Bolschewiki, die dazu übrigens alle potentiellen Teilnehmer für vogelfrei erklärten.<br />
Die vordringlichste Aufgabe war neben <strong>de</strong>r Verteidigung <strong>de</strong>s Rayons die Organisation <strong>de</strong>r Arbeit.<br />
Fabrikbelegschaften, Bauern und Transportarbeiter waren hierbei aufeinan<strong>de</strong>r angewiesen. Die größten<br />
Fortschritte gab es dabei auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong>. Zwar kam es auch in etlichen größeren Städten, die von <strong>de</strong>n<br />
Machnowzi besetzt wur<strong>de</strong>n, zur Gründung von Räten und ansatzweiser Selbstverwaltung in <strong>de</strong>n<br />
Industrien, aber dort konnte sich die Guerilla nie für längere Zeit etablieren. Auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> hingegen<br />
florierte das Netz <strong>de</strong>r Bauernkommunen. Die erste wur<strong>de</strong> nach <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sozialistin Rosa Luxemburg<br />
benannt und später von <strong>de</strong>n Kommunisten zerstört; alle weiteren erhielten nur noch Nummern. Obgleich<br />
sich die Initiatoren <strong>de</strong>r Kommunen als "Anarchokommunisten" bezeichneten, folgte ihr Mo<strong>de</strong>ll eher <strong>de</strong>r<br />
"anarchokollektivistischen" I<strong>de</strong>e: Alle Männer, Frauen und Kin<strong>de</strong>r mußten ihren Kräften entsprechend<br />
arbeiten. Das waren die Menschen nicht an<strong>de</strong>rs gewohnt, und es entsprach ihrer Auffassung von<br />
Gleichheit und Solidarität. Trotz <strong>de</strong>r Kriegslage blieb die Agrarproduktion beachtlich. Die Machnowzi<br />
schickten ganze Güterzüge mit Getrei<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>n hungern<strong>de</strong>n Arbeitern nach Petrograd, wobei sie sich<br />
bezeichnen<strong>de</strong>rweise weigerten, mit <strong>de</strong>r Regierung in Kontakt zu treten. Sie wollten nur von Sowjet zu<br />
Sowjet verhan<strong>de</strong>ln. Der Ukraine blieben die großen Hungersnöte nicht <strong>de</strong>shalb erspart, weil sie ein<br />
Agrarland war – das galt für <strong>de</strong>n größten Teil Zentralrußlands ebenso –, son<strong>de</strong>rn weil die Menschen<br />
freiwillig und ohne Zwang arbeiten konnten.<br />
Ein Hauptproblem <strong>de</strong>r Bewegung war ihr Mangel an Intellektuellen. Sie hatte kaum Verbindung nach<br />
Rußland o<strong>de</strong>r ins Ausland. Der soziale Charakter <strong>de</strong>r Bewegung war so gut wie unbekannt, in <strong>de</strong>r<br />
staatlichen Presse war stets die Re<strong>de</strong> von "Banditen", und selbst die meisten Anarchisten schenkten <strong>de</strong>m<br />
Glauben. Erst eine Reise Machnos nach Rußland brachte im Sommer 1918 eine gewisse Verbesserung.<br />
Außer mit Lenin traf er mit Kropotkin zusammen und besuchte verschie<strong>de</strong>ne anarchistische Gruppen. Mit<br />
einem Koffer voll ver-<br />
266<br />
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botener Anarcholiteratur reiste er unerkannt in die Ukraine zurück, und wenig später folgten ihm unter<br />
abenteuerlichen Umstän<strong>de</strong>n einige risikofreudige städtische Anarchisten nach, die mit <strong>de</strong>m Aufbau einer<br />
eigenen Abteilung für Kultur und Volksbildung begannen. Unter ihnen befan<strong>de</strong>n sich auch Arschinoff<br />
und Volin, die in <strong>de</strong>n Städten die Bildung <strong>de</strong>r Nabat angeregt hatten, eines Kartells anarchistischer<br />
Gruppen zur Unterstützung <strong>de</strong>r Guerillabewegung. Die Kulturabteilung gab neben einer Reihe von<br />
Zeitschriften und einfachen Broschüren das Hauptorgan <strong>de</strong>r Aufständischen, Putj k Swobo<strong>de</strong>, heraus und<br />
sorgte ansonsten für die Pressefreiheit aller linken Gruppen und Parteien. Sie organisierte Schulungen<br />
unter <strong>de</strong>n Partisanen, initiierte eine breite Alphabetisierungskampagne und fand sogar Muße, sogenannte<br />
"revolutionäre Bauerntheater" zu för<strong>de</strong>rn, die sich bei <strong>de</strong>r Verbreitung libertärer I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>r Literatur als<br />
überlegen erwiesen. Die durchschlagendste Überzeugungskraft aber besaß nach wie vor die konkrete Tat.<br />
Das Verteilen von Land, das Verbrennen von Grundbüchern und Schuldlisten, die Vertreibung <strong>de</strong>r<br />
Großgrundbesitzer und Popen, die gemeinsame Arbeit in <strong>de</strong>r Kommune, <strong>de</strong>r Austausch von Gütern und<br />
das freie Wort als Grundlage zu freier Entscheidung – das war leicht zu verstehen. Wenn das, was die<br />
Machnowzi vorlebten, Anarchie sei, nun ja, dann war Anarchie eben etwas Gutes.<br />
Wir kennen lei<strong>de</strong>r sehr wenig Details über <strong>de</strong>n innerem Aufbau <strong>de</strong>s freien Rayons. Wie sah <strong>de</strong>r Alltag<br />
aus? Wie genau funktionierten die Kommunen? Wie geschah <strong>de</strong>r wirtschaftliche Austausch? Welche
Rolle spielten die verschie<strong>de</strong>nen Währungen? Wie verfuhren die Menschen mit unterschiedlichen<br />
Interessen? Welche Wirkung hatte die bewaffnete Präsenz <strong>de</strong>r Partisanen? All das bleiben offene Fragen.<br />
Als die letzten versprengten Trupps <strong>de</strong>r anarchistischen Hauptarmee, unter ihnen <strong>de</strong>r schwerverwun<strong>de</strong>te<br />
Machno, am 28. August 1921 über <strong>de</strong>n Dnjestr nach Rumänien flohen, hatten sie Besseres zu tun, als die<br />
Archive <strong>de</strong>r Bewegung zu retten. Die waren ohnehin dürftig genug, <strong>de</strong>nn die Machnotschina produzierte<br />
wenig bedrucktes Papier. Das meiste davon ging unwie<strong>de</strong>rbringlich verloren. So sind wir auf die<br />
spärlichen persönlichen Erinnerungen angewiesen, die die überleben<strong>de</strong>n Kämpfer im Exil<br />
veröffentlichten.<br />
Lehrstück mit tragischem Ausgang<br />
Ihnen können wir entnehmen, daß die freie Ukraine nicht das perfekte anarchistische Wunschmo<strong>de</strong>ll war,<br />
eher ein Lehrstück mit tragischem Ausgang. Die wichtigste Lehre lautete, daß es möglich ist, eine<br />
libertäre Revolution in Gang zu setzen und auf breitester Basis zu entwickeln. Die Grundzüge einer<br />
anarchistischen Gesellschaftsform sind auch in großem Stil nachvollziehbar, lebbar und funktionsfähig;<br />
offensichtlich entsprechen sie, unabhängig von politischen I<strong>de</strong>ologien, menschlichen Bedürfnissen. Die<br />
zweite Lehre ist ambivalent: Das Machtvakuum, das in chaotischen Zustän<strong>de</strong>n großer gesellschaftlicher<br />
Umbrüche entsteht, kann <strong>de</strong>n Ausbruch einer befreien<strong>de</strong>n Revolte und die Umsetzung einer libertären<br />
Gesellschaft begünstigen. Der Preis dafür ist oft die Militarisierung <strong>de</strong>r Bewegung, die <strong>de</strong>n Freiraum<br />
erkämpfen und verteidigen muß. Die Chance, <strong>de</strong>n Freiraum bei einer Normalisierung <strong>de</strong>r Lage gegen <strong>de</strong>n<br />
Staat mit Waffengewalt zu behaupten, ist<br />
267<br />
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gering. Als Ausweg aus diesem Dilemma bietet sich die dritte, die indirekte Lehre an: Je mehr eine<br />
Bewegung traditionell verankert, strukturell entwickelt und inhaltlich reif ist, <strong>de</strong>sto geringer wird die<br />
Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s militärischen Aspekts. Die Machnotschina war eine Spontangeburt, <strong>de</strong>r diese drei<br />
Voraussetzungen fast völlig fehlten. Entsprechend prägend war in ihr die Dynamik <strong>de</strong>s Kampfes und<br />
entsprechend spurlos verschwand sie nach <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rlage <strong>de</strong>r Guerilla. Ein Gemeinwesen ohne soli<strong>de</strong><br />
Tradition, Struktur und Vision kann Zeiten <strong>de</strong>r Okkupation nicht überleben. Die vierte Lehre ist kurz,<br />
traurig und bis heute prägend: In <strong>de</strong>r Ukraine machten die Anarchisten die traumatische Erfahrung, daß<br />
autoritärer und libertärer Sozialismus keine ungleichen Brü<strong>de</strong>r, son<strong>de</strong>rn Gegner sind.<br />
An <strong>de</strong>r Machnotschina haben sich seither die anarchistischen Geister geschie<strong>de</strong>n. Für die einen war sie ein<br />
heroisches Epos voller Hel<strong>de</strong>nmut und Opferwillen, für die an<strong>de</strong>ren war sie gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>swegen<br />
unarnachistisch.<br />
Tatsache ist, daß Krieg Hierarchie för<strong>de</strong>rt. Wieso gab es einen Machno, weshalb trägt die Bewegung<br />
seinen Namen? Wäre es ohne ihn genauso gekommen, o<strong>de</strong>r war er <strong>de</strong>r unverzichtbare Führer? Peter<br />
Arschinoff, <strong>de</strong>r Chronist <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s, ist überzeugt davon, daß sich auch ohne Machno eine<br />
vergleichbare Bewegung entwickelt hätte. An<strong>de</strong>rerseits war er tatsächlich <strong>de</strong>r Volksheld, <strong>de</strong>r sich voll und<br />
ganz für die Sache einsetzte, <strong>de</strong>r er sich verschrieben hatte. Es darf bezweifelt wer<strong>de</strong>n, daß die Bewegung<br />
ohne ihn solche Ausmaße angenommen hätte. Ohne Frage war er die zentrale Integrationsfigur zwischen<br />
bäuerlichem Zorn und anarchistischem I<strong>de</strong>al, gepaart mit strategischem Genius. Ob seine Qualitäten über<br />
die eines Partisanen-Feldherrn weit hinausreichten, ist umstritten; sicher ist aber, daß er als Mensch<br />
integer blieb und je<strong>de</strong>n Führerkult ablehnte. Dafür spricht auch das unauffällige Leben, das er im<br />
französischen Exil führte, wo er 1935 in einem Armenhospital an <strong>de</strong>n Spätfolgen von Kriegsverletzungen<br />
und Gefängnistuberkulose starb.<br />
Tatsache ist auch, daß <strong>de</strong>r Aufstand eine ungemein blutige Angelegenheit war. Die Anarchie, die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s<br />
herrschaftslosen Frie<strong>de</strong>ns, kam im Gewan<strong>de</strong> eines riesigen Gemetzels zur Welt. Das war nicht die Schuld<br />
<strong>de</strong>r Anarchisten – die verhielten sich inmitten <strong>de</strong>r entfesselten Blutorgie <strong>de</strong>s Bürgerkrieges<br />
vergleichsweise zurückhaltend –, aber für das einzelne Opfer wird es kaum ein Trost gewesen sein, zu<br />
wissen, warum und woher die Kugel kam, die es tötete. Daß Anarchisten, die Herrschaft abbauen statt
aufbauen wollten, ausgerechnet Krieg führen mußten, kam <strong>de</strong>r Herausbildung libertärer Friedfertigkeit<br />
nicht entgegen. Es gab für die ukrainischen Anarchisten aber in keinem Augenblick die Wahl zwischen<br />
kriegerischem und friedlichem Weg. Trotz<strong>de</strong>m: Krieg, egal in welcher Form, ist das Autoritärste was sich<br />
<strong>de</strong>nken läßt. Er macht die Menschen hart und verroht sie. Kein gutes Klima für Anarchie. Den Frie<strong>de</strong>n, in<br />
<strong>de</strong>m sie an<strong>de</strong>re Formen hätten fin<strong>de</strong>n können, haben die ukrainischen Partisanen nie gekannt. Sie waren<br />
daher nicht zimperlich, Gewalt war ihr tägliches Geschäft. Disziplin setzten sie in ihrer Armee oft brutal<br />
durch, und <strong>de</strong>r Tod war eine Strafe, die die Kämpfer nicht selten über ihre eigenen Kamera<strong>de</strong>n<br />
verhängten, wenn diese sich "gegen das Volk" o<strong>de</strong>r die "anarchistischen Prinzipien" vergingen. Ebenso<br />
268<br />
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unerbittlich wie gegen sich selbst, gingen die Aufständischen auch gegen die Fein<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Freiheit vor.<br />
Während man gefangene Soldaten, die ohnehin oft zu <strong>de</strong>n Machnowzi überliefen, entwaffnete und wie<strong>de</strong>r<br />
freiließ, fielen Offiziere, Großgrundbesitzer und Popen nicht selten <strong>de</strong>r aufgestauten Wut zum Opfer.<br />
Viele von ihnen wur<strong>de</strong>n erschossen, gehängt, oft auch gelyncht von <strong>de</strong>nen, <strong>de</strong>ren Angehörige zuvor<br />
erschossen, gehängt und gelyncht wor<strong>de</strong>n waren. Dadurch aber wird eine Hinrichtung nicht weniger<br />
unanarchistisch, ebensowenig wie durch die Tatsache, daß die Gegenseite ungleich brutaler vorging o<strong>de</strong>r<br />
die Partisanen immer wie<strong>de</strong>r einschritten, um schlimmere Exzesse zu verhin<strong>de</strong>rn.<br />
Es fällt <strong>de</strong>nnoch schwer, <strong>de</strong>n Philister zu spielen und über ein Volk, das sich mit Gewalt befreit, <strong>de</strong>n Stab<br />
zu brechen. Bei aller Kritik darf nicht vergessen wer<strong>de</strong>n, daß Gewalt bei <strong>de</strong>n Machnowzi kein<br />
Selbstzweck war. An<strong>de</strong>rs als Ravachol o<strong>de</strong>r Henry, die <strong>de</strong>r Gewalt an sich huldigten, war <strong>de</strong>r Krieg für<br />
die Aufständischen <strong>de</strong>r Ukraine ein offenbar unvermeidliches Mittel auf <strong>de</strong>m Weg zu einer freien<br />
Gesellschaft.<br />
Ob dieses Ziel auf diese Art jemals erreicht wor<strong>de</strong>n wäre, können wir nicht wissen. Die Frage, ob aus <strong>de</strong>m<br />
freien Rayon eine funktionieren<strong>de</strong> anarchistische Gesellschaft hervorgegangen wäre, hätte nur dann eine<br />
Antwort gefun<strong>de</strong>n, wenn man das Experiment hätte gewähren lassen. Das ist die Lehre Nummer sechs,<br />
und sie gilt für <strong>de</strong>n Anarchismus allgemein.<br />
Literatur:<br />
/ Nestor Machno: Das ABC <strong>de</strong>s revolutionären Anarchisten, Osnabrück o.J., Packpapier, 40 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: My Visit to the Kremlin Edmonton 1979, Black Cat Press, 32 S., ill.<br />
/ Peter Arschinoff: Geschichte <strong>de</strong>r Machno-Bewegung iyiS -1911 Berlin 1969, Institut f. Praxis u. Theorie<br />
d. Rätekomniunismus, 31; S.<br />
/ Volin: Ukraine iyi8 - 1921 in: <strong>de</strong>rs.: Die unbekannte Revolution Bd. III (vgl. Kap. 29!)<br />
/ Augustin Souchy: Wie lebt <strong>de</strong>r Arbeiter und Bauer in Rußland und in <strong>de</strong>r Ukraine? in: <strong>de</strong>rs.: Reise nach<br />
Rußland 79.20, Berlin 1971, Europäische I<strong>de</strong>en/Guhl, 172 S., ill.<br />
/ <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: Die Machnotschina Wetzlar 1982, An-Archia, 122 S., ill.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Machno (16 S.) in: Lehen ohne Chef und Staat Frankfurt/M. 1986, Eichborn, 192 S., ill.<br />
/ N.M.: Die Machno-Bewegung- Texte und Dokumente Berlin 1980, Libertad, 32 S.<br />
/ Michael Palij: The Anarchism of Nestor Makhno Seattle und London 1970, University of Washington<br />
Press, 428 S.<br />
/ Michael Malet: Neitor Makhno in the Russian Civil War London 1982, The Macmillan Press, 232 S.<br />
/ Alexandre Skirda: Nestor Makhno - LtCosaque <strong>de</strong> l'Anarchie Millau 1982, Selbstverlag, 476 S., ill.<br />
/ Dittmar Dahlmann: Land und Freiheit - Madmovscina und Zapatismo als Beispiele agrarrevolutionarer<br />
Bewegungen Stuttgart 1986, Franz Steiner, 296 S.<br />
Kapitel 31<br />
Die Kommune von Kronstadt<br />
Das Blut <strong>de</strong>r Unschuldigen wird auf die Häupter<br />
<strong>de</strong>r autoritätstrunkenen kommunistischen Fanatiker fallen.
- Kronstädter "Izvestia", 8.3.1921 -<br />
ALS "STOLZ UND RUHM DER RUSSISCHEN REVOLUTION" hatte Trotzki die Matrosen von<br />
Kronstadt bezeichnet. Das war im Jahre 1917. Im Jahre 1921 nannte er sie "gegen-revolutionäre<br />
Meuterer" und ließ ihnen eine unmißverständliche Warnung zukommen: "Wir wer<strong>de</strong>n Euch abknallen wie<br />
die Rebhühner!" Wenige Tage später lagen Tausen<strong>de</strong> von Toten im Schnee <strong>de</strong>r Insel. Was war in diesen<br />
vier Jahren geschehen? Die Kronstädter<br />
269<br />
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Matrosen hatten an ihrer For<strong>de</strong>rung von 1917, "Alle Macht <strong>de</strong>n Räten!", festgehalten. Leo Trotzki aber<br />
war inzwischen ein Staatsmann gewor<strong>de</strong>n. Was interessierte ihn sein Geschwätz von gestern? Die Zeiten<br />
hatten sich geän<strong>de</strong>rt.<br />
Kronstadt und seine Matrosen<br />
Kronstadt, auf einer Insel im Finnischen Meerbusen gelegen, ist bis heute Heimathafen <strong>de</strong>r russischen<br />
Ostseeflotte und vollständig als Marinestützpunkt ausgebaut. Die Insel ist St. Petersburg knapp dreißig<br />
Kilometer vorgelagert und dient mit ihren schweren Batterien <strong>de</strong>m Schutz <strong>de</strong>r ehemaligen Hauptstadt, die<br />
1921 bereits Petrograd hieß und schon bald Leningrad heißen sollte. In Kronstadt lebten 1921 etwa<br />
30.000 Menschen, überwiegend Marineangehörige und Werftarbeiter.<br />
Unter <strong>de</strong>n Kronstädter Matrosen herrschte seit jeher ein kritischer und revolutionärer Geist. 1905 gaben<br />
sie das Signal zum bewaffneten Aufstand, 1906 scheiterte eine Erhebung, 1917 setzen sie ihre Offiziere<br />
ab und unterstützten die Revolution, <strong>de</strong>r sie im Oktober unter Einsatz ihrer Schiffe und Kanonen zum<br />
Durchbruch verhalfen. Ohne diese Matrosen hätte die Oktoberrevolution nicht stattgefun<strong>de</strong>n.<br />
Begünstigt durch die isolierte Situation bil<strong>de</strong>te sich unter <strong>de</strong>n Menschen auf <strong>de</strong>r Insel ein eigenartiges<br />
Zusammenhörigkeitsgefühl heraus, in <strong>de</strong>m das neue Räteprinzip sehr ernst genommen wur<strong>de</strong>. Der<br />
zentrale Festungsplatz konnte die gesamte Bevölkerung fassen und diente oft als Forum für riesige<br />
Versammlungen. In <strong>de</strong>r Marine, einer hochtechnisierten Waffengattung, dienten überdurchschnittlich<br />
viele gebil<strong>de</strong>te Menschen aus allen Lan<strong>de</strong>steilen, <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r ziemlich leichte Dienst genügend Zeit ließ,<br />
die politischen Ereignisse aufmerksam zu verfolgen. Kronstadt war, noch bevor es zu einer<br />
aufständischen Kommune wur<strong>de</strong>, bereits eine sehr rege Gemein<strong>de</strong> mit einer starken I<strong>de</strong>ntität: sensibel,<br />
kritisch und relativ frei. Aufgrund ihres revolutionären Rufs hatten die Matrosen das Recht erhalten, an<br />
<strong>de</strong>n Arbeiterversammlungen von Petrograd teilzunehmen.<br />
Im Grun<strong>de</strong> waren die Bewohner Kronstadts die i<strong>de</strong>altypischen Anhänger <strong>de</strong>r Oktoberrevolution. Sie<br />
repräsentierten ihren Geist und versuchten, aufrichtig nach <strong>de</strong>m zu leben, was die Bolschewisten<br />
seinerzeit propagiert hatten. Die meisten waren überzeugte Parteigänger Lenins, und die Bolschewiki<br />
zählten auf <strong>de</strong>r Insel viele Mitglie<strong>de</strong>r. Es gab auch organisierte Anarchisten und linke Sozialrevolutionäre,<br />
aber Parteiunterschie<strong>de</strong> spielten kaum eine Rolle. Man lebte ja in einer Räte<strong>de</strong>mokratie, und das, darin<br />
war man sich einig, war das Wichtigste.<br />
Unruhe und Empörung<br />
1921 erwarteten die Menschen in Rußland endlich eine Verbesserung ihres schweren Lebens. Die weißen<br />
Generäle waren besiegt, <strong>de</strong>r Bürgerkrieg zu En<strong>de</strong>, es gab keinen Vorwand mehr für die harte Hand <strong>de</strong>r<br />
Diktatur und die Militarisierung <strong>de</strong>s Lebens. Aber die wirtschaftliche Lage blieb katastrophal. Es fehlte an<br />
Nahrung, Heizmaterial und allen Dingen <strong>de</strong>s täglichen Bedarfs bis hin zu Streichhölzern. Die Partei fuhr<br />
fort, <strong>de</strong>n Diktator<br />
270
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zu spielen, während sich ihre Funktionäre immer schamloser mit allem bedienten, was sie brauchten.<br />
En<strong>de</strong> Februar kam es in Petrograd, Moskau und an<strong>de</strong>ren Industriezentren zu Streiks, und auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong><br />
brachen Unruhen aus. Die For<strong>de</strong>rungen waren einfach: Brot und Freiheit. Die Regierung ließ die Proteste<br />
mit Gewalt auflösen. Aber die Arbeiter kamen wie<strong>de</strong>r, und diesmal war ihre Kritik schärfer: Die Partei<br />
wur<strong>de</strong> als autokratisch, machtgierig und unfähig angegriffen, die For<strong>de</strong>rung nach Wie<strong>de</strong>rherstellung freier<br />
Sowjets wur<strong>de</strong> laut. Die Antwort; Aussperrungen, Verhaftungen, Schüsse, die ersten Toten. Über<br />
Petrograd wur<strong>de</strong> das Kriegsrecht verhängt.<br />
In Kronstadt hatte man von diesen Ereignissen gehört und eine Delegation zu <strong>de</strong>n Streiken<strong>de</strong>n entsandt.<br />
Nach ihrer Rückkehr bestätigen die Matrosen die schlimmsten Befürchtungen. Während zweier<br />
Massenversammlungen auf <strong>de</strong>m Forum solidarisiert sich die Stadt mit <strong>de</strong>n Streiken<strong>de</strong>n und übernimmt<br />
<strong>de</strong>ren For<strong>de</strong>rungen. Noch glaubt niemand an eine Eskalation, obwohl <strong>de</strong>r zufällig anwesen<strong>de</strong> Staatschef<br />
Kalinin wutentbrannt abreist, nach<strong>de</strong>m er öffentlich von 16.000 Menschen überstimmt wor<strong>de</strong>n war, die<br />
auf <strong>de</strong>m großen Platz eine Protestnote verabschie<strong>de</strong>t hatten. Kernstück dieser Resolution war die<br />
For<strong>de</strong>rung nach einer parteilosen Konferenz von Arbeitern, <strong>de</strong>n roten Soldaten und Marineangehörigen<br />
von Petrograd, Kronstadt sowie <strong>de</strong>r Provinz, die die Vorfälle untersuchen sollte. Im Grun<strong>de</strong> hoffen die<br />
Matrosen auf die Einsicht <strong>de</strong>r Regierung, da die Arbeiter im Recht seien und eigentlich dasselbe for<strong>de</strong>rn<br />
wie die Bolschewiki. Sie bieten sich sogar als Vermittler an und entsen<strong>de</strong>n ein zweites Komitee. Als die<br />
dreißig Matrosen mit <strong>de</strong>r Resolution im Gepäck in Petrograd eintreffen, wer<strong>de</strong>n sie verhaftet und<br />
verschwin<strong>de</strong>n spurlos. Die Kommunistische Partei hatte die Bedrohung erkannt: Es ging letztlich um die<br />
Infragestellung ihres Herrschaftsmonopols. Sie reagiert mit Verleumdung und bezeichnet die Kronstädter<br />
als Meuterer gegen die Sowjetmacht im Sol<strong>de</strong> weißer Generäle, Pariser Finanziers und exilierter<br />
Menschewiken.<br />
In Kronstadt wird die Botschaft so verstan<strong>de</strong>n, wie sie gemeint war: als Kriegserklärung. Aber niemand<br />
wollte so recht daran glauben, daß die Regierung <strong>de</strong>r Revolution tatsächlich mit Gewalt gegen<br />
Revolutionäre vorgehen wür<strong>de</strong>. Während Trotzki, <strong>de</strong>r ehemalige zaristische Marschall Tuchatschewski<br />
und <strong>de</strong>r Petrogra<strong>de</strong>r KP-Chef Sinowjew bereits Truppen konzentrieren und <strong>de</strong>n Plan zur militärischen<br />
Eroberung ausarbeiten, verlegen sich die Kronstädter auf beschwören<strong>de</strong> Worte und hoffen auf ein<br />
Einlenken. Über ihren Radiosen<strong>de</strong>r und die täglich erscheinen<strong>de</strong> Izvestia rufen sie das russische Volk zur<br />
Solidarität und appellieren gleichzeitig an die Einsicht jener Partei, <strong>de</strong>r viele von ihnen selbst angehören.<br />
Die einzigen Antworten, die sie erhalten, sind ein Ultimatum Trotzkis sowie ein<strong>de</strong>utige Angebote<br />
zweifelhafter "Freun<strong>de</strong>" aus <strong>de</strong>m westlichen Exil. Die Arbeiter Petrograds liehen hinter Bajonetten und<br />
können nichts unternehmen, im Rest <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s weiß man nur, was in <strong>de</strong>r Prawda steht.<br />
Kronstadt weist die ausländischen Trittbrettfahrer ab und ruft zum Wi<strong>de</strong>rstand gegen die Regierung auf.<br />
Diesmal ist <strong>de</strong>r Bruch endgültig: Das Ultimatum wird zurückgewiesen, <strong>de</strong>r Gehorsam verweigert –<br />
Kronstadt versteht sich als rebellische Kommune.<br />
271<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Die Arbeiter und Matrosen nehmen nun kein Blatt mehr vor <strong>de</strong>n Mund, ihre Manifeste lesen sich wie die<br />
Statements anarchistischer Parteikritik: Die Partei habe die Macht an sich gerissen, sich von <strong>de</strong>n Massen<br />
gelöst, ihre Unfähigkeit hinlänglich bewiesen und das Vertrauen <strong>de</strong>r Arbeiter verloren. Sie sei<br />
bürokratisiert und zu einer mächtigen Polizeimaschinerie gewor<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m Volk ihr Gesetz mit<br />
Terrormaßnahmen diktiere. Die Bolschewiki hätten die Räte ihrer Macht beraubt und die Gewerkschaften<br />
verstaatlicht. Anstelle <strong>de</strong>s versprochenen Sozialismus herrsche ein kru<strong>de</strong>r Staatskapitalismus, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />
Arbeiter Lohnempfänger eines Staatskonzerns gewor<strong>de</strong>n sei. - Das war <strong>de</strong>utlich.<br />
Die unmittelbaren For<strong>de</strong>rungen Kronstadts beziehen sich auf die Wie<strong>de</strong>rherstellung politischer Rechte<br />
und freie Wahlen zu allen Organen <strong>de</strong>r Räte<strong>de</strong>mokratie; hierzu müsse die Parteimacht beschnitten
wer<strong>de</strong>n: Abschaffung <strong>de</strong>r "Politoffiziere", <strong>de</strong>r "Stoßtruppabteilungen" in <strong>de</strong>r Armee und <strong>de</strong>r<br />
"kommunistischen Gar<strong>de</strong>n" in <strong>de</strong>n Fabriken. Keine Partei sollte Privilegien haben. In <strong>de</strong>r Izvestia<br />
erscheinen seitenweise Austrittserklärungen aus <strong>de</strong>r Kommunistischen Partei. Obwohl sich die Rebellen<br />
sogar über Lenin und Trotzki lustig machen und keinen Zweifel daran lassen, daß die Macht <strong>de</strong>r Partei<br />
gebrochen wer<strong>de</strong>n muß, "damit nicht die Arbeiter und Bauern wie<strong>de</strong>r Sklaven wer<strong>de</strong>n", zerstören sie doch<br />
nicht alle Brücken zwischen sich und <strong>de</strong>m Regime. Ihr Ziel ist eine "dritte Revolution", die das Werk <strong>de</strong>r<br />
Befreiung vollen<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, und darin sollten, wie ausdrücklich betont wird, die "Kommunisten"<br />
durchaus vorkommen, ebenso wie "Anarchisten und Linkssozialisten".<br />
So suchen sie trotz allem eine Verständigung und meinen, <strong>de</strong>n Bolschewiki gol<strong>de</strong>ne Brücken zu bauen,<br />
in<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r sozialen Revolution nicht verlassen. Die aber interessierte die Kommunisten<br />
schon lange nicht mehr. Die Matrosen betonen immer wie<strong>de</strong>r, daß sie kein Blutvergießen wollen und<br />
achten peinlich darauf, daß <strong>de</strong>n kommunistischen Funktionären auf <strong>de</strong>r Insel kein Haar gekrümmt wird.<br />
Zu <strong>de</strong>m Zeitpunkt hat die Tscheka längst die in Petrograd wohnen<strong>de</strong>n Familienangehörigen <strong>de</strong>r<br />
Kronstädter in Geiselhaft genommen.<br />
Das En<strong>de</strong><br />
Am Morgen <strong>de</strong>s 7. März begann die Bombardierung <strong>de</strong>r Festung. Schwere Artillerie sollte die Rebellen<br />
von mehreren Forts <strong>de</strong>s Festlan<strong>de</strong>s aus sturmreif schießen, aber <strong>de</strong>r erste Angriff über das Eis <strong>de</strong>r<br />
gefrorenen Bucht scheiterte. Überhaupt sollte es Trotzki schwer haben, die ›Rebhühner‹ zu erlegen –<br />
ganze 11 Tage hielten die Matrosen stand. Militärisch war ihre Lage ohne Hoffnung. Die Befestigungen<br />
Kronstadts waren in Richtung See ausgelegt, <strong>de</strong>r Rücken war unge<strong>de</strong>ckt, die Kriegsschiffe lagen im Eis<br />
fest und die Lebensmittel gingen zur Neige. Aber die Appelle <strong>de</strong>r Matrosen zeigten Wirkung. Obwohl<br />
zuvor die "unzuverlässigen Truppen" bereits verlegt wor<strong>de</strong>n waren, weigerten sich viele Abteilungen <strong>de</strong>r<br />
Roten Armee, gegen ihre "Klassenbrü<strong>de</strong>r" vorzugehen, an<strong>de</strong>re for<strong>de</strong>rten Diskussionen mit <strong>de</strong>n<br />
Vorgesetzten. Selbst aus <strong>de</strong>n kommunistischen Elitetruppen <strong>de</strong>r Kursanty liefen die Soldaten zu <strong>de</strong>n<br />
Aufständischen über. Um die Disziplin wie<strong>de</strong>rherzustellen, ließ Tuchatschewski in einigen Regimentern<br />
je<strong>de</strong>n dritten Soldaten vortreten und exekutieren. Eine beson<strong>de</strong>rs geniale I<strong>de</strong>e lieferte ein junger<br />
Kommissar namens Josef Dschugaschwili, <strong>de</strong>r vor-<br />
272<br />
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schlug, asiatische Verbän<strong>de</strong> einzusetzen, da sie kein Russisch verstün<strong>de</strong>n und somit gegen die Propaganda<br />
<strong>de</strong>r Matrosen immun seien. So setzten auf Anraten dieses Mannes, <strong>de</strong>r schon bald unter <strong>de</strong>m Namen<br />
Stalin bekannt wer<strong>de</strong>n sollte, schließlich baschkirische und kirgisische Einheiten mit zum Sturm an. Die<br />
Sieger richteten in <strong>de</strong>n Straßen <strong>de</strong>r Stadt ein fürchterliches Blutbad an, <strong>de</strong>ren Opfer nie gezählt wur<strong>de</strong>n.<br />
Bis zuletzt wur<strong>de</strong> um einzelne Straßenzüge und Häuser gekämpft. Den Rest erledigte die Tscheka in <strong>de</strong>n<br />
folgen<strong>de</strong>n Tagen. Nur wenigen Matrosen gelang die gefährliche Flucht über das Eis bis nach Finnland.<br />
Am 18. März feierte die Kommunistische Partei <strong>de</strong>r Sowjetunion mit großem Pomp <strong>de</strong>n 50. Jahrestag <strong>de</strong>r<br />
Kommune von Paris, die im Blut <strong>de</strong>r französischen Arbeiter unterging. Am selben Tag feierte sie auch<br />
ihren Sieg über die Kommune von Kronstadt.<br />
Anarchisten hatten beim Aufstand von Kronstadt keine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle gespielt. Es gab zwar etliche<br />
erklärte Libertäre auf <strong>de</strong>r Insel, einige waren auch in <strong>de</strong>n Revolutionären Komitees vertreten, und ganz<br />
offensichtlich sympathisierten die Matrosen von Kronstadt zunehmend mit <strong>de</strong>m Anarchismus - aber nur<br />
<strong>de</strong>shalb, weil ihre eigene Kritik sich mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>ckte, die auch die Anarchisten vertraten. Der Aufstand aber<br />
war we<strong>de</strong>r geplant noch organisiert noch traten in ihm irgendwelche bekannten Persönlichkeiten auf. Er<br />
war im Grun<strong>de</strong> ein Beweis dafür, wie populär <strong>de</strong>r libertäre Geist von 1905 und 1917 nach vier Jahren<br />
Leninismus noch immer war.<br />
Das Regime benutzte <strong>de</strong>n Sieg über die Rebellen zu einer Endabrechnung mit einer Bewegung, die es<br />
noch immer fürchtete. Erst wenige Wochen zuvor waren an die hun<strong>de</strong>rttausend Menschen Kropotkins
Sarg gefolgt, und auf <strong>de</strong>n schwarzen Fahnen stand zu lesen: "Wo Autorität ist, da gibt es keine Freiheit".<br />
In <strong>de</strong>r Ukraine war Machno noch immer nicht geschlagen. Ein Kronstadt konnte sich je<strong>de</strong>n Tag<br />
wie<strong>de</strong>rholen ... In <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Monaten zerschlägt <strong>de</strong>r Staat die letzten anarchistischen Gruppen und<br />
verhaftet die wenigen noch verbliebenen Aktivisten. Viele en<strong>de</strong>n wie Fanny Baron und acht ihrer<br />
Genossen, die in einem Keller <strong>de</strong>r Moskauer Tscheka erschossen wer<strong>de</strong>n.<br />
Kronstadt war das letzte Aufbegehren <strong>de</strong>s Volkes gegen die Diktatur <strong>de</strong>r Kommunistischen Partei und <strong>de</strong>r<br />
erste große Auftritt jenes Mannes, <strong>de</strong>r als Lenins Nachfolger diese Diktatur zum Gipfel <strong>de</strong>r Perversion<br />
führte: Josef Stalin. Von <strong>de</strong>njenigen, die Kronstadt nie<strong>de</strong>rschlugen und die Machnotschina liquidierten,<br />
hat keiner Stalins Terror überlebt. Erst viele Jahrzehnte später sollten in Rußlands Satellitenstaaten erneut<br />
die Menschen gegen <strong>de</strong>n Bolschewismus aufbegehren – in Berlin, in Budapest, in Prag. Die Antwort, die<br />
die Kommunistische Partei fand, war stets dieselbe wie 1921.<br />
Literatur:<br />
/ Alexan<strong>de</strong>r Berkman: Die Kronstadt-Rebellion, Karlsruhe o.J., Laufbrosch, 34 S.<br />
/ Ida Mett: Kommune von Kronstadt Berlin 1971, Karin Kramer, 92 S.<br />
/ Victor Karelin: Aufstand <strong>de</strong>r Matrosen - Bericht über eine verratene Revolution Freiburg, Basel, Wien<br />
1972, Her<strong>de</strong>r, 219 S.<br />
/ Frits Kools, Erwin Oberlän<strong>de</strong>r (Hrsg.): Arbeiter<strong>de</strong>mokratie o<strong>de</strong>r Parteidiktatur, Bd. II: Kronstadt<br />
(Textsammlung) München 1972, dtv, 536 S.<br />
/ N.N.: Dossier: Kronstadt 1921 o<strong>de</strong>r die Dritte Revolution (28 S.) in: H. M. Enzensberger (Hrsg.):<br />
Kursbuch 9 Berlin 1967, Kursbuch Verlag<br />
/ <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: Der Aufstand <strong>de</strong>r Kronstädter Matrosen Wetzlar 1973, An-Archia, 46 S., ill.<br />
/ N.N.: Wir hoffen sehr auf Kronstadt Köln 1954, Greve, 354 S.<br />
/ Theodor Schübel: Die Matrosen von Kronstadt München 1983, Doemer-Knaur, 127 S.<br />
/ Dieter Kühn: Kronstadt: Thesen und Antithesen in: <strong>de</strong>rs.: Grenzen <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s Frankfurt/M. 1972,<br />
Suhrkamp, 163 S.<br />
/ Volin: Kronstadt in: Die unbekannte Revolution Bd. II (vgl. Kap. 29!)<br />
273<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Kapitel 32<br />
Anarchosyndikalismus – Geburtshelfer <strong>de</strong>r Revolution<br />
Man muß die Arbeiter nicht so sehr dazu auffor<strong>de</strong>rn,<br />
die Arbeit nie<strong>de</strong>rzulegen, als vielmehr dazu,<br />
sie unter eigener Regie fortzuführen.<br />
– Errico Malatesta –<br />
IM DEZEMBER 1922 KAMEN IN BERLIN Delegierte aus einem Dutzend europäischer und<br />
amerikanischer Län<strong>de</strong>r zusammen, um eine anarchistische Gewerkschaftsinternationale zu grün<strong>de</strong>n. Sie<br />
vertraten knapp zwei Millionen organisierter Mitglie<strong>de</strong>r. Zehn Jahre später zählte die Internationale<br />
Arbeiter- Assoziation mehr als doppelt soviele Anhänger in dreiundzwanzig Län<strong>de</strong>rn. Nach gut weiteren<br />
zehn Jahren waren von dieser mächtigen Bewegung nur noch kümmerliche Reste vorhan<strong>de</strong>n.<br />
Die einundzwanzig Jahre zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Weltkriegen markieren eine erste große Blütezeit <strong>de</strong>s<br />
Anarchismus. Die libertäre Bewegung hatte endgültig <strong>de</strong>n Bannkreis <strong>de</strong>r kleinen, isolierten Zirkel<br />
verlassen und war zu <strong>de</strong>m gewor<strong>de</strong>n, was man damals eine "Massenbewegung" nannte. Ihre I<strong>de</strong>en wur<strong>de</strong>n<br />
in manchen Län<strong>de</strong>rn gera<strong>de</strong>zu volkstümlich. Eine Zeit großer Erwartungen brach an, und tatsächlich sollte<br />
es in dieser Phase erstmals gelingen, die libertäre Utopie in einer mo<strong>de</strong>rnen Massengesellschaft im großen
Stil zum Funktionieren zu bringen. Die neue Formel, mit <strong>de</strong>r dies gelang, hieß Anarchosyndikalismus.<br />
Mit diesem Wort verband sich in <strong>de</strong>n zwanziger und dreißiger Jahren die Hoffnung einer ganzen<br />
Generation.<br />
Am En<strong>de</strong> aber stand <strong>de</strong>r Sieg <strong>de</strong>r Bajonette, und die Hoffnung en<strong>de</strong>te erneut unter <strong>de</strong>n Stiefeln <strong>de</strong>r<br />
Militärs. Ein neuer Gegner war auf die Bühne <strong>de</strong>r Geschichte getreten, an <strong>de</strong>m das anarchistische<br />
Experiment vorerst scheiterte: <strong>de</strong>r Faschismus. Zwar war <strong>de</strong>ssen Triumph von relativ kurzer Dauer und<br />
währte etwa in Deutschland nur zwölf Jahre, aber die verbrannte Er<strong>de</strong>, die er zurückließ, hinterließ auch<br />
eine politische Wüste, in <strong>de</strong>r es für lange Zeit keinen Platz mehr für soziale Utopien zu geben schien. Die<br />
anarchistische Bewegung war zerschlagen, ihre Hoffnungen ins Bo<strong>de</strong>nlose gefallen. Nach 1945 versank<br />
ihr reicher Schatz an Erfahrungen und Experimenten im Vergessen einer Gesellschaft, in <strong>de</strong>r einzig <strong>de</strong>r<br />
Sieger als Inhaber von Wahrheit und Werten auftrat.<br />
Der Wille zur Verän<strong>de</strong>rung<br />
Zu Beginn <strong>de</strong>r zwanziger Jahre hatten die Erfahrungen in Rußland gezeigt, daß die libertäre<br />
Selbstorganisation <strong>de</strong>r Menschen kein Hirngespinst war. Sogar das Scheitern dieser Revolution hatte<br />
indirekt <strong>de</strong>r anarchistischen Kritik am Kommunismus recht gegeben. Aus diesen Fehlern wollte man<br />
lernen, und die erste Lehre war, daß das naive Vertrauen in Lenins Phrasen von 1917 ein tödliches<br />
Vertrauen war. Als logische Konsequenz daraus brauchte man endlich einen eigenen, soli<strong>de</strong>n und<br />
gangbaren Weg, auf <strong>de</strong>m man die Höhenflüge <strong>de</strong>r schönen Utopie auf <strong>de</strong>n rauhen Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Wirklichkeit<br />
holen könnte. Funktionsfähige Umsetzungsmo<strong>de</strong>lle waren gefragt: Revolution ohne Avantgar<strong>de</strong>,<br />
Produktion ohne Kapi-<br />
274<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
talisten, Ordnung ohne Diktatur. Nicht gera<strong>de</strong> wenig, und vor allem keine Strategie, bei <strong>de</strong>r die großen<br />
Sprüche zählten. Gera<strong>de</strong> die kleinen Schritte wür<strong>de</strong>n hierbei wichtig sein. In gewissem Sinne Neuland für<br />
Anarchisten, die sich bisher eher in <strong>de</strong>r Pose <strong>de</strong>s radikalen Kritikers eingerichtet hatten.<br />
Aber die Einsicht war ebenso groß wie <strong>de</strong>r Wunsch, die Utopie endlich zu verwirklichen. Das Konzept<br />
hierzu war in Ansätzen schon vorhan<strong>de</strong>n und wartete nur darauf, umgesetzt zu wer<strong>de</strong>n. So wur<strong>de</strong> das<br />
möglich, was am ersten Weihnachtstag <strong>de</strong>s Jahres 1922 die frieren<strong>de</strong>n Delegierten aus Mexiko, Spanien<br />
und Chile mit <strong>de</strong>n kälteresistenten Genossen aus Rußland und Norwegen in Berlin an einen Tisch brachte.<br />
Als <strong>de</strong>r Kongreß am 2. Januar 1925 auseinan<strong>de</strong>rging, gab es eine weltweite libertäre Organisation mit<br />
einem gemeinsamen Programm und einer konkreten Strategie. Noch zehn Jahre zuvor hätte man das<br />
kaum für <strong>de</strong>nkbar gehalten.<br />
Es schien, als hätten sich die Anarchisten das zu Herzen genommen, was <strong>de</strong>r alte Kropotkin ihnen kurz<br />
vor seinem To<strong>de</strong> ins Stammbuch geschrieben hatte: daß es höchste Zeit sei, vom bloßen Gere<strong>de</strong> über die<br />
Soziale Revolution zur unmittelbaren Vorbereitung <strong>de</strong>r konstruktiven Arbeit überzugehen.<br />
Sozialpartnerschaft o<strong>de</strong>r Revolution?<br />
Unter Gewerkschaften versteht man gemeinhin die Interessenvertretung <strong>de</strong>r Arbeiterschaft. In ihrem<br />
heutigen Selbstverständnis begreift sich eine mo<strong>de</strong>rne Gewerkschaft als "Sozialpartner", <strong>de</strong>r in<br />
Verhandlungen mit <strong>de</strong>r Interessenvertretung <strong>de</strong>r Arbeitgeber versucht, bessere Arbeitsbedingungen zu<br />
erreichen. In <strong>de</strong>r Praxis läuft das auf ein Dienstleistungsunternehmen mit Vereinskasse hinaus, das die<br />
Löhne <strong>de</strong>r jeweiligen Inflation anpaßt – angesie<strong>de</strong>lt irgendwo zwischen Behör<strong>de</strong>, Traditionsverband und<br />
Geselligkeitsverein. Ihre Philosophie besteht im Interessenausgleich. Ihr ganzer Stolz ist es, ein wichtiger<br />
Teil <strong>de</strong>s Rechts-, Sozial- und Politiksystems zu sein – dafür haben Generationen von Gewerkschaftern<br />
gerungen, ganz beson<strong>de</strong>rs in Deutschland. Keine Frage: Gewerkschaften sind heute eine tragen<strong>de</strong> Stütze<br />
im mo<strong>de</strong>rnen Industriestaat.
Das war keineswegs schon immer so.<br />
Ursprünglich hatten Gewerkschaften mit <strong>de</strong>m Staat nichts am Hut. Er spuckte auf sie, und sie pfiffen auf<br />
ihn. Arbeiter hatten sich zusammengeschlossen, um gemeinsam dagegen zu kämpfen, daß es ihnen so<br />
dreckig ging. Es gab damals keine Gewerkschaft, die nicht als Endziel eine an<strong>de</strong>re Gesellschaft angestrebt<br />
hätte. Alle wollten ein Leben ohne Kapitalisten, die meisten auch ohne Obrigkeit. Vom Verschwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />
Staates zu träumen, gehörte m <strong>de</strong>r Gewerkschaftsbewegung, bevor sich die <strong>de</strong>utschen Sozial<strong>de</strong>mokraten<br />
ihrer annahmen, sozusagen zum guten Ton. Sich als Partner <strong>de</strong>r Kapitalisten zu verstehen, hätte als<br />
unanständig gegolten, Teil <strong>de</strong>s Staatssystems zu sein, als lächerlich. Erst nach<strong>de</strong>m Theorien und<br />
Theoretiker in <strong>de</strong>n Arbeitervereinen <strong>de</strong>n Ton angaben, wur<strong>de</strong>n Gewerkschaften zum Objekt für Parteien<br />
und tagespolitische Interessen: eine vielversprechen<strong>de</strong> Spielwiese für karrierebewußte Funktionäre und<br />
profilierungsfreudige Politiker. Die klügsten unter ihnen<br />
275<br />
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hatten in <strong>de</strong>n Arbeitern längst die kommen<strong>de</strong> soziale Kraft erkannt, ohne die politisch nichts mehr ginge;<br />
die cleveren hatten gerochen, daß man im Gewerkschaftsapparat steil aufsteigen und Geld machen konnte.<br />
Dazu aber war es nötig, daß die Gewerkschaften das System nicht mehr bedrohten – sie mußten ein Teil<br />
von ihm wer<strong>de</strong>n.<br />
So entstand die Philosophie <strong>de</strong>r Sozialpartnerschaft, so wur<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>n Gewerkschaften ein Teil <strong>de</strong>r<br />
Ausbeutungsmaschine.<br />
Für die Anarchisten sind Gewerkschaften stets das geblieben, was sie ursprünglich sein sollten: eine<br />
Organisationsform zur Erreichung <strong>de</strong>r freien und sozialen Gesellschaft. Mit <strong>de</strong>r Herausbildung <strong>de</strong>s<br />
Anarchosyndikalismus bekam dieser diffuse Wunsch eine geschlossene Theorie und eine gangbare Praxis.<br />
Das syndikalistische Rezept<br />
Ihr zufolge sollte die Gewerkschaft - französisch syndicat - eine doppelte Funktion bekommen. Zum einen<br />
bleibt sie ein Werkzeug, um die Arbeits- und Lebensbedingungen <strong>de</strong>r Menschen hier und heute konkret<br />
zu verbessern. Zum an<strong>de</strong>ren ist sie eine Organisation, aus <strong>de</strong>r sich Strukturen <strong>de</strong>r Zukunft entwickeln<br />
sollen. Die Syndikate mußten <strong>de</strong>mnach dazu taugen, das bestehen<strong>de</strong> System zu zermürben, anzugreifen<br />
und zu kippen, gleichzeitig in ihrem Schöße aber die Alternativen heranreifen zu lassen, die an die Stelle<br />
<strong>de</strong>r alten Ordnung treten sollten. Dieses Konzept war <strong>de</strong>struktiv und konstruktiv zugleich. Damit bot es<br />
sich als Lösung für das alte Dilemma <strong>de</strong>s Anarchismus an, <strong>de</strong>r zwischen Negation und Utopie oft keine<br />
gangbare Brücke fin<strong>de</strong>n konnte.<br />
Daß <strong>de</strong>r Kampf um alltägliche Verbesserungen nicht bittstellernd und <strong>de</strong>vot geführt wur<strong>de</strong>, versteht sich<br />
bei Anarchisten fast von selbst. Ihr Syndikalismus verstand sich als selbstbewußt und kämpferisch und<br />
entwickelte einen ganzen Fächer verschie<strong>de</strong>ner Metho<strong>de</strong>n und Formen <strong>de</strong>r Aktion. Angefangen von<br />
Betriebsversammlungen, Protest und Demonstrationen über Streiks, Blocka<strong>de</strong>n, Boykott und Sabotage<br />
reichte dieses Spektrum bis hin zu direkten Aktionen, Generalstreik, Arbeiterbewaffnung und<br />
Volksaufstand. Eine Horrorvision für je<strong>de</strong>n DGB-Funktionär unserer Tage, eine Hoffnungsvision für<br />
Millionen Arbeiter <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit. Die libertären Gewerkschaften waren <strong>de</strong>swegen aber keine<br />
Rabaukenhaufen, son<strong>de</strong>rn überaus disziplinierte Arbeiterorganisationen, die durchweg auch das taten, was<br />
man ›seriöse Gewerkschaftsarbeit nennt: Da gab es Streiks um Arbeitsverbesserungen, Tarifabschlüsse,<br />
Sicherheit am Arbeitsplatz und soziale Absicherung gera<strong>de</strong> so wie ein stetiges Engagement in sozialen<br />
Bereichen und allgemeinen gesellschaftlichen Fragen. Zwei Dinge aber waren grundlegend an<strong>de</strong>rs:<br />
Erstens behielten die Syndikalisten ein völlig an<strong>de</strong>res Ziel im Auge: die Überwindung dieser Gesellschaft.<br />
Deswegen blieben sie bei diesen Aktionsformen nicht stehen, son<strong>de</strong>rn verhielten sich latent subversiv.<br />
Wann immer die Gelegenheit günstig schien, griffen sie in <strong>de</strong>n reichen Fundus ihrer empfindlicheren<br />
Kampfformen. Sie waren ständig bereit, vom Lohnstreik zum Aufstand zu schreiten. Kleine Schritte<br />
waren <strong>de</strong>r Weg, nicht das Ziel. Zweitens verhan<strong>de</strong>lten o<strong>de</strong>r kämpften bei ihnen nicht die Gewerkschaften
für die Arbeiter, son<strong>de</strong>rn die Arbeiter be-<br />
276<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
stimmten selbst und direkt. Sie waren die Gewerkschaft. Der Anarchosyndikalismus kannte keinen<br />
anonymen Apparat; Funktionäre, Bürokratie und Tarifmauschelei hinter verschlossenen Türen waren ihm<br />
fremd. Es entschie<strong>de</strong>n ausschließlich die Betroffenen selbst - entwe<strong>de</strong>r als Vollversammlung <strong>de</strong>r<br />
Belegschaft o<strong>de</strong>r als gewerkschaftliche Basisgruppe. Eine Organisationsform also, in <strong>de</strong>r die<br />
Entscheidungsfindung von unten nach oben lief und dadurch die Gewerkschaft zu einer Art<br />
Volkshochschule für <strong>de</strong>n libertären Alltag machte.<br />
Genau hier beginnt <strong>de</strong>r konstruktive Teil <strong>de</strong>s syndikalistischen Konzepts.<br />
Die libertären Syndikate verstan<strong>de</strong>n sich als Keimzelle <strong>de</strong>r neuen Gesellschaft, als ihr verkleinertes<br />
Abbild, in <strong>de</strong>m sich schon in <strong>de</strong>r Gegenwart ansatzweise die Lebensformen <strong>de</strong>r Zukunft entwickeln<br />
sollten. Insofern waren sie weit mehr als Berufsorganisationen: ein Vorgriff auf das Ziel, ein Stück<br />
vorwegenommener Utopie. Das war natürlich nur begrenzt möglich, <strong>de</strong>nn innerhalb <strong>de</strong>r Unfreiheit ist die<br />
vollkommene Simulation von Freiheit nicht <strong>de</strong>nkbar. Dennoch erfüllte <strong>de</strong>r Anarchosyndikalismus seine<br />
Funktion als ›soziales Laboratoriums in<strong>de</strong>m er um die klassischen gewerkschaftlichen Aktivitäten herum<br />
eine eigene Welt entstehen ließ, die für viele Menschen zur sozialen Heimat wur<strong>de</strong>. Hier bil<strong>de</strong>ten sich<br />
neue Formen <strong>de</strong>s Zusammenlebens, <strong>de</strong>r Kultur, <strong>de</strong>r Wirtschaft und <strong>de</strong>s sozialen Umgangs heraus, in <strong>de</strong>r<br />
eine ganze Generation selbstbewußter Menschen lernte, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu<br />
nehmen: vom Lohnkampf über Erziehung, Bildung und Kultur bis hin zum täglichen Einkauf entstand<br />
hier eine Schule <strong>de</strong>r Selbstverwaltung, in <strong>de</strong>r auch die kniffligsten Fragen von Kommunikation und<br />
Organisation praktisch bewältigt wur<strong>de</strong>n. In diesen Inseln <strong>de</strong>r Freiheit wur<strong>de</strong>n ›libertäre Grundtugen<strong>de</strong>n‹<br />
zu alltäglichen Handlungsmustern. So entwickelte sich das, was sich nach <strong>de</strong>n Vorstellungen mancher<br />
Anarchisten am "Tag <strong>de</strong>r Revolution" angeblich von selbst einstellen sollte: libertäres Verhalten.<br />
Weit entfernt davon, sich von <strong>de</strong>r Welt abzuschotten, wur<strong>de</strong> diese soziale Kultur zu einer Art virulenter<br />
Gegengesellschaft, die die hierarchische Normgesellschaft <strong>de</strong>s Staates von innen her untergrub. Zugleich<br />
schuf sie in <strong>de</strong>r Nachbarschaft, in Betrieben, Stadtteilen, Genossenschaften und Kulturgruppen ein Klima<br />
<strong>de</strong>s Vertrauens. Anarchisten waren keine anonymen Bestien mehr, son<strong>de</strong>rn Nachbarn und Kollegen, <strong>de</strong>ren<br />
Wort etwas galt. Dies hat vermutlich mehr zum Verständnis und zur Verbreitung <strong>de</strong>s Anarchismus<br />
beigetragen als Tonnen von Agitationsliteratur.<br />
In erster Linie aber bereitete sich die syndikalistische Arbeiterschaft auf die Übernahme <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
vor, insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r Betriebe. Und das tat sie mit System. Nach einem Umsturz, <strong>de</strong>m man nach Kräften<br />
zuarbeitete, sollten die im gewerkschaftlichen Umfeld gewachsenen Strukturen dazu dienen, die<br />
Selbstverwaltung einer ganzen Gesellschaft in Gang zu setzen. Dem kam die Erfahrung in <strong>de</strong>r<br />
lan<strong>de</strong>sweiten Vernetzung einer großen Gewerkschaft ebenso zugute, wie die internationalen Kontakte, die<br />
sich zunehmend entwickelten. Vor allem aber war es nötig, exakte Kenntnisse über <strong>de</strong>n Fluß von Waren,<br />
Werten und Rohstoffen zu erlangen. Produktionsablauf, Kalkulation, Transport, Austausch - das ganze<br />
ABC <strong>de</strong>r Betriebs- und Volkswirtschaft rückte ins Interesse <strong>de</strong>r einfachen<br />
277<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich vorgenommen hatten, die neue Gesellschaft zu errichten. Ohne <strong>de</strong>n<br />
nötigen Durchblick durch die komplexen Zusammenhänge einer mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaft war es we<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>nkbar, freiheitliche Alternativen zu entwickeln, noch einen möglichst reibungslosen Übergang zu<br />
schaffen.
So erklärte das anarchosyndikalistische Konzept praktisch die vorrevolutionäre Phase zu einem<br />
Trainingslauf für die nachrevolutionäre Zeit. Während gleichzeitig soziale Verbesserungen erkämpft, die<br />
autoritäre Gesellschaft geschwächt und die notwendigen Erfahrungen gesammelt wur<strong>de</strong>n, stan<strong>de</strong>n immer<br />
mehr fähige Menschen in <strong>de</strong>n Startlöchern, bereit, jene große Umwandlung zu vollziehen, die aus einer<br />
Revolte erst eine Revolution macht. Man brauchte dann eigentlich nur noch auf eine günstige Gelegenheit<br />
zu warten, und die lieferte das System mit seinen tiefen Krisen in schöner Regelmäßigkeit. Es leuchtet<br />
ein, daß die politische Taktik <strong>de</strong>r Anarchosyndikalisten darin bestand, diesen Krisen nachzuhelfen. Je<strong>de</strong><br />
Situation eines staatlichen Machtvakuums konnte so zum Ausgangspunkt <strong>de</strong>r sozialen Revolution<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Dieses Konzept war in sich schlüssig und genügte sich selbst. Die herkömmliche Gewerkschaft war ein<br />
Hilfswerkzeug politischer Parteien gewesen, nun wur<strong>de</strong> sie zu einem eigenständigen Faktor. Hieraus<br />
erklärt sich die strikte Abgrenzung <strong>de</strong>r libertären Syndikate gegen politische Parteien, Wahlen und<br />
Parlamente - eine Haltung, die in etwas irreführen<strong>de</strong>r Weise "apolitisch" genannt wur<strong>de</strong>. Gemeint war<br />
damit, daß diese Gewerkschaften kein Instrument einer politischen Organisation sein wollten - auch<br />
keiner anarchistischen! -, son<strong>de</strong>rn autonome Körperschaften <strong>de</strong>r Werktätigen. Es versteht sich von selbst,<br />
daß die Mitgliedschaft kein Glaubensbekenntnis zum Anarchismus voraussetzte. Die Syndikate vertraten<br />
<strong>de</strong>n Standpunkt einer Klasse, keine I<strong>de</strong>ologie. Ihre Strukturen, Aktionsformen und Ziele waren libertär,<br />
das genügte.<br />
So einfach war die Grundi<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s anarchosyndicalisme, <strong>de</strong>r in Frankreich ausgebrütet und schon bald als<br />
anarcosindicalismo in Spanien verfeinert wur<strong>de</strong>.<br />
Die Geburt eines Konzeptes<br />
Natürlich ist dieses ›Rezept‹ nicht küchenfertig vom Himmel gefallen. Schon Proudhon und Bakunin<br />
müssen als gedankliche Urheber angesehen wer<strong>de</strong>n, und schon immer waren Anarchisten<br />
gewerkschaftlich organisiert. In <strong>de</strong>r Arbeiterbewegung <strong>de</strong>r romanischen Län<strong>de</strong>r war <strong>de</strong>r libertäre<br />
Standpunkt ohnehin prägen<strong>de</strong>r als <strong>de</strong>r sozial<strong>de</strong>mokratische. Als die Sozialisten 1889 die von <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utschen Sozial<strong>de</strong>mokratie beherrschte Zweite Internationale aus <strong>de</strong>r Taufe hoben, machte man <strong>de</strong>n<br />
Anarchisten zunehmend Schwierigkeiten. Es kam zu ›Säuberungen‹ und schließlich wur<strong>de</strong>n alle<br />
"Antiparlamentarischen" ausgeschlossen. In diesem Klima und im Bewußtsein <strong>de</strong>r Sackgasse, in die die<br />
"Propaganda <strong>de</strong>r Tat" geführt hatte, besann man sich in libertären Kreisen auf die Zielsetzung <strong>de</strong>r Ersten<br />
Internationale. 1895 erschien in Les Temps Nouveaux ein Aufsatz, in <strong>de</strong>m Fernand Pelloutier bereits das<br />
Grundmuster eines Syndikalismus vorstellte, <strong>de</strong>r zu einer "praktischen Schule <strong>de</strong>s Anarchismus" wer<strong>de</strong>n<br />
sollte. Pierre Monatte entwickelte die I<strong>de</strong>e weiter und wies euphorisch<br />
278<br />
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auf die Perspektiven hin, die sich aus <strong>de</strong>r geballten Kraft dieses Konzepts ergeben könnten. Emile Pouget<br />
insistierte* auf <strong>de</strong>r Eigenständigkeit <strong>de</strong>s Syndikalismus und entwickelte mit seiner Schrift Le Sabotage<br />
eine neue Form <strong>de</strong>s militanten, passiven Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s. Arnold Roller schließlich entwickelte eine Theorie<br />
<strong>de</strong>s Sozialen Generalstreiks und steuerte <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r "direkten Aktion" bei, die zu einer ungemein<br />
populären Aktionsform wur<strong>de</strong>. Selbst <strong>de</strong>r schillern<strong>de</strong> Sozialphilosoph Georges Sorel, <strong>de</strong>r sich zeitlebens<br />
als kämpferischer Marxist verstand, wur<strong>de</strong> zum Theoretiker <strong>de</strong>s militanten Syndikalismus und verhalf <strong>de</strong>r<br />
I<strong>de</strong>e vor <strong>de</strong>m Ersten Weltkrieg in <strong>de</strong>n französischen Gewerkschaften zum Durchbruch. In Spanien, wo<br />
sich das neue Konzept bereits auf reiche Erfahrung stützen konnte, trugen die Schriften von Soledad<br />
Gustavo und Anselmo Lorenzo zu einer praktischen Ausrichtung bei.<br />
In einem sehr kontroversen Diskussionsprozeß hielt die I<strong>de</strong>e einer libertären Gewerkschaftsstrategie nur<br />
langsam Einzug in die anarchistische Bewegung. Vor allem die Anhänger einer ›reinen Lehre‹<br />
befürchteten, daß Gewerkschaft "niemals etwas an<strong>de</strong>res sein kann, als eine legalitäre* und konservative<br />
Bewegung", wie Errico Malatesta sich ausdrückte. Diese Kritik, die vor allem auf die Gefahren <strong>de</strong>r
Funktionärsbürokratie hinwies, war im Rückblick auf die gemachten Erfahrungen durchaus verständlich.<br />
Sie verkannte allerdings die Innovationskraft <strong>de</strong>s Konzepts und zeichnete sich angesichts <strong>de</strong>r Chancen,<br />
die in dieser I<strong>de</strong>e steckten, durch konservative Phantasielosigkeit aus. Vor allem aber waren die Kritiker<br />
vom puristischen Flügel selbst ratlos, <strong>de</strong>nn ihnen mangelte es überhaupt an irgen<strong>de</strong>iner Strategie. "Sie<br />
verkrochen sich", wie Daniel Guerin schreibt, "in ihren geistigen Klöstern und verbarrikadierten sich in<br />
Elfenbeintürmen, um dort eine I<strong>de</strong>ologie zu reproduzieren, die zunehmend irrealer wur<strong>de</strong>". Es war nur<br />
eine Frage <strong>de</strong>r Zeit, bis so kluge Köpfe wie Malatesta sich zu einer differenzierteren Sichtweise<br />
durchrangen, und so <strong>de</strong>m pragmatischeren Weg zum Durchbruch verhalfen. Die Gefahr <strong>de</strong>r Bewegung,<br />
zur Sekte zu verkommen, war gebannt.<br />
Um 1910 ist <strong>de</strong>r neue Kurs allgemein akzeptiert und wird vielerorts mit Elan umgesetzt. Da die<br />
Entwicklungen und Voraussetzungen in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Län<strong>de</strong>rn unterschiedlich waren, ergaben sich<br />
hierbei starke zeitliche Verschiebungen. In Frankreich etwa lag die Blüte <strong>de</strong>s Syndikalismus sehr früh,<br />
während sie in Deutschland, <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>n, Portugal und Italien erst nach <strong>de</strong>m Ersten Weltkrieg<br />
einsetzte. In <strong>de</strong>n USA und einigen Län<strong>de</strong>rn Lateinamerikas prägte er die Gewerkschaftsbewegung ohne<br />
Unterbrechung von <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> bis in die vierziger Jahre, wohingegen er in Schwe<strong>de</strong>n einen<br />
lan<strong>de</strong>stypischen Son<strong>de</strong>rweg beschritt, <strong>de</strong>r bis heute fortdauert. In Spanien, wo <strong>de</strong>r Anarchosyndikalismus<br />
1956 schließlich zur praktischen Umsetzung gelangte, erfuhr das Konzept seine differenzierteste<br />
Mo<strong>de</strong>rnisierung. Populäre Autoren wie Ricardo Mella, Eleuterio Quintanilla o<strong>de</strong>r Isaac Puente trugen zu<br />
einer weiten Verbreitung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>en bei, für die eine überaus reiche Presse zur Verfügung stand. Zeitungen<br />
wie die Solidaridad Obrera o<strong>de</strong>r das Kulturmagazin La Revista Bianca erreichten enorme Auflagenhöhen.<br />
Fähige Organisatoren wie Salvador Segui und Angel Pestana beschleunigten das Wachstum, Praktiker<br />
wie Juan Peiro und Buenaventura Durruti entwickelten neue Aktionsformen. Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Impulse zu<br />
einer<br />
279<br />
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inhaltlichen Mo<strong>de</strong>rnisierung, die zum Teil auch in sehr kontroversen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen<br />
vorangetrieben wur<strong>de</strong>, trugen Theoretiker wie Orobon Fernan<strong>de</strong>z und Diego Abad <strong>de</strong> Santilldn bei. Der<br />
Deutsche Rudolf Rocker schließlich profilierte sich zu einem <strong>de</strong>r profun<strong>de</strong>sten Denker <strong>de</strong>s<br />
Syndikalismus, und noch in <strong>de</strong>n sechziger Jahren arbeiteten Helmut Rüdiger und Evert Arvidsson an einer<br />
Anpassung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e an die Gegebenheiten <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Sozialstaates.<br />
Die direkte Aktion<br />
Eine Hinterlassenschart <strong>de</strong>r kämpferischen Gewerkschaften, die alle Zeiten überdauert hat, ist die Taktik<br />
<strong>de</strong>r direkten Aktion. Sie erfreut sich ungebrochener Beliebtheit und ist auch außerhalb anarchistischer<br />
Kreise heimisch gewor<strong>de</strong>n.<br />
Wie bei allen genialen I<strong>de</strong>en liegt auch hier <strong>de</strong>r Trick in <strong>de</strong>r Einfachheit: Ein Problem wird direkt<br />
angegangen, die angestrebte Lösung zielt direkt auf die Ursache. Wenn Menschen hungern, bittet man<br />
nicht seinen Abgeordneten um Hilfe, son<strong>de</strong>rn man gibt ihnen zu essen und nimmt es <strong>de</strong>nen, die genug<br />
davon besitzen. Sind die Löhne zu niedrig, hört man auf zu arbeiten bis <strong>de</strong>r Lohn wie<strong>de</strong>r stimmt, statt<br />
seinen Gewerkschaftssekretär aufzufor<strong>de</strong>rn, mit <strong>de</strong>m Arbeitgeberverband in Verhandlungen um einen<br />
Manteltarifvertrag zu treten. Gibt es keine Schulen, so hofft man nicht auf die Kirche, <strong>de</strong>n Staat o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
Sieg <strong>de</strong>r Fortschrittspartei bei <strong>de</strong>n nächsten Wahlen, son<strong>de</strong>rn grün<strong>de</strong>t selbst welche. Ist <strong>de</strong>r Arbeitstag zu<br />
lang, tritt man nicht einer Partei bei, <strong>de</strong>r es <strong>de</strong>reinst im Parlament gelingen möge, einen<br />
Arbeitsgesetzentwurf einzubringen, son<strong>de</strong>rn macht einfach früher Feierabend - überall und gleichzeitig.<br />
Solches Vorgehen hat etwas von <strong>de</strong>r erfrischen<strong>de</strong>n Direktheit kleiner Kin<strong>de</strong>r und <strong>de</strong>r Dickköpfigkeit von<br />
Menschen, die zu oft an <strong>de</strong>r Nase herumgeführt wur<strong>de</strong>n. Die anarchistischen Arbeiter zwischen Feuerland<br />
und Finnischem Meerbusen haben dieses Prinzip sehr geliebt und es mit viel Phantasie auf alle möglichen<br />
und unmöglichen Situationen angewandt - meist mit durchschlagen<strong>de</strong>m Erfolg. Staat und Unternehmer<br />
haben es ebenso ein<strong>de</strong>utig gefürchtet. Die militantesten Anarchos machten daraus in <strong>de</strong>n zwanziger und<br />
dreißiger Jahren sogar eine sehr direkte Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Geldbeschaffung. Fehlte es an finanziellen Mitteln
zur Organisierung eines Streiks, zur Gründung einer Schule o<strong>de</strong>r zur Unterstützung <strong>de</strong>r Familien<br />
inhaftierter Genossen, eröffneten sie kein Spen<strong>de</strong>nkonto, son<strong>de</strong>rn holten es sich direkt von dort, wo es<br />
lag: von <strong>de</strong>r Bank. Moralische Be<strong>de</strong>nken schienen dabei keine große Rolle gespielt zu haben, stan<strong>de</strong>n sie<br />
doch auf <strong>de</strong>m Standpunkt, daß das Geld <strong>de</strong>r Kapitalisten ohnehin von <strong>de</strong>n Arbeitern erwirtschaftet wur<strong>de</strong>.<br />
Und wo immer es ging, wur<strong>de</strong>n die Gefangenen nicht durch Petitionen aus <strong>de</strong>m Gefängnis befreit,<br />
son<strong>de</strong>rn eben - direkt.<br />
Das ähnelt natürlich in gewisser Weise <strong>de</strong>m Denkmuster <strong>de</strong>r "anarchistischen Expropriation" wie es etwa<br />
bei <strong>de</strong>r Bonnot-Ban<strong>de</strong> gepflegt wur<strong>de</strong>. Aber die Historiker sind sich über einen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Unterschied einig: Die syndikalistischen Diebe waren treuherzig wie pedantische Buchhalter, und ihre<br />
"revolutionäre Ehre" gebot ihnen, nur für "die Sache" zu stehlen. Das spätere Massenidol Durruti, <strong>de</strong>ssen<br />
ganzes Leben <strong>de</strong>r Inszenierung einer<br />
280<br />
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acción directa glich, pflegte seiner Organisation stets Abrechnungen vorzulegen, die auf die Pesete genau<br />
stimmten. Gegenüber <strong>de</strong>r Presse erklärte seine Mutter einmal, daß sie ihn je<strong>de</strong>smal, wenn er heimlich bei<br />
ihr auftauchte, neu einklei<strong>de</strong>n mußte - weil er immer so abgerissen herumlief.<br />
Bis heute wirkt die direkte Aktion als Schei<strong>de</strong>mittel <strong>de</strong>r Geister. Die einen erhoffen vom Staat, er möge<br />
ihre maro<strong>de</strong>n Betriebe subventionieren und die Arbeitsplätze erhalten, die an<strong>de</strong>ren besetzen <strong>de</strong>n Betrieb<br />
und führen ihn in Selbstverwaltung weiter. Die einen beten zu Gott, er möge Kriege verhin<strong>de</strong>rn und<br />
Frie<strong>de</strong>n bringen, die an<strong>de</strong>ren blockieren Rüstungstransporte o<strong>de</strong>r sabotieren <strong>de</strong>n Wallenexport. Die einen<br />
wählen eine bestimmte Partei, die verhin<strong>de</strong>rn möchte, daß Wohnraumspekulation betrieben,<br />
Atomkraftwerke gebaut und Wale ausgerottet wer<strong>de</strong>n, die an<strong>de</strong>ren besetzen Häuser, legen Baustellen<br />
lahm o<strong>de</strong>r attackieren die Walfänger mit <strong>de</strong>m eigenen Schiff.<br />
Die direkte Aktion ist, wie aus diesen Beispielen ersichtlich, eine Form <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns - nicht mehr. Sie<br />
läßt sich nicht überall einsetzen und schon gar nicht aus Prinzip. Sie ist we<strong>de</strong>r ein Konzept, noch ersetzt<br />
sie eine Bewegung o<strong>de</strong>r eine Strategie. Und ohne eine angemessene Handlungsethik wird aus diesem<br />
Mittel <strong>de</strong>r Befreiung nur allzu leicht ein Werkzeug <strong>de</strong>s Terrors. Richtig dosiert aber ist sie fast<br />
unschlagbar.<br />
Die Wahl zwischen direkter Aktion und indirekter Aktion ist immer auch die Wahl zwischen<br />
Selbstvertretung und Stellvertretung, zwischen selbst han<strong>de</strong>ln und han<strong>de</strong>ln lassen. Selbst und direkt<br />
agieren be<strong>de</strong>utet, geradlinig aufs Ziel zuzugehen. Das stärkt das Vertrauen in die eigene Kraft und schafft<br />
überdies unverhohlene Sympathie, <strong>de</strong>nn es macht Dinge nachvollziehbar und zieht die Lacher auf die<br />
Seite <strong>de</strong>r Listigen. Das dürfte erklären, warum direkte Aktionen bei allen staatsbejahen<strong>de</strong>n Strömungen<br />
wie Sozialismus, Kommunismus, Sozial<strong>de</strong>mokratie, Parteien, Kirchen und sonstigen Sekten so unbeliebt<br />
sind.<br />
Zur Aktualität <strong>de</strong>r Struktur<br />
Vom Anarchosyndikalismus als Klassenbewegung ist heute nicht viel übriggeblieben. Das liegt in erster<br />
Linie daran, daß die Klassenbewegung überhaupt auf <strong>de</strong>n Hund gekommen ist. Die Arbeiterklasse, von<br />
<strong>de</strong>r sich viele fragen, ob es sie überhaupt noch gibt, ist mit Sicherheit nicht mehr <strong>de</strong>r Motor sozialer<br />
Verän<strong>de</strong>rung. Die große Zeit <strong>de</strong>r Gewerkschaften ist vorbei. Der Wunsch nach gesellschaftlicher<br />
Umwälzung ergibt sich heute aus an<strong>de</strong>ren Spannungsfel<strong>de</strong>rn als ausgerechnet <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Elends westlicher<br />
Industriearbeiter.<br />
Deshalb versuchen mo<strong>de</strong>rnere anarchistische Szenarien, das genial-einfache Konzept <strong>de</strong>s<br />
Anarchosyndikalismus zu übertragen. Hierzu müssen sie seine Struktur von ihren historischen Bindungen<br />
lösen, <strong>de</strong>nn sie ist ja keineswegs an die Form <strong>de</strong>r Gewerkschaft o<strong>de</strong>r die Klasse <strong>de</strong>s Industrieproletariats
gekoppelt. Gewiß machen auch heute noch einige Gruppen wackerer Anarchas und Anarchos in Nostalgie<br />
und halten das Banner <strong>de</strong>s Proletariats hoch. Solche historisieren<strong>de</strong>n Versuche erschöpfen sich aber für<br />
gewöhnlich in einem Syndikalismus ohne Gewerkschaften und einem Klassenkampf ohne Klasse. Selbst<br />
die wenigen noch funktionieren<strong>de</strong>n echten Anarcho-Gewerkschaften sind sich bei allen Achtungserfolgen,<br />
281<br />
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die sie gelegentlich erringen, ihrer Marginalisierung* durchaus bewußt. Nur in Spanien und Schwe<strong>de</strong>n<br />
und gibt es heute libertäre Gewerkschaften, die diesen Namen verdienen.<br />
Das Originelle am Anarchosyndikalismus aber war ja nicht, daß die Anarchisten vor hun<strong>de</strong>rt Jahren ihr<br />
Herz für die Gewerkschaften ent<strong>de</strong>ckten, son<strong>de</strong>rn daß sie einen Weg fan<strong>de</strong>n, wie die Lücke zwischen<br />
Utopie und Realität zu schließen wäre. Das ganze schlüssige Zusammenspiel zwischen sofortiger<br />
Verbesserung und revolutionärer Strategie, zwischen Aufbau und Subversion, zwischen kleinen Schritten<br />
und großen Sprüngen ist das eigentlich Interessante an dieser Strategie - ihr Wesen, das auch jenseits <strong>de</strong>s<br />
historischen Zusammenhanges noch heute seine Be<strong>de</strong>utung hat. Es dürfte nach wie vor <strong>de</strong>r einzig<br />
plausible Weg sein, wie eine libertäre Gesellschaft zu erreichen wäre. Ein Weg, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r großen Masse<br />
unpolitischer Menschen die Möglichkeit gäbe, die Verän<strong>de</strong>rung auch herbeizuführen, <strong>de</strong>ren<br />
Notwendigkeit sie möglicherweise spüren. Ein Weg, auf <strong>de</strong>m die Anarchisten ihre ungeliebte Funktion<br />
einer politischen Elite überwin<strong>de</strong>n und das Risiko von Chaos, Diktatur, Krieg und Hungersnot bei <strong>de</strong>r<br />
Geburt <strong>de</strong>r freien Gesellschaft kalkulierbar machen könnten.<br />
Literatur: Max Nettlau: Anarchisten und Syndikalisten, Teil I (= Geschich. d. Anarchie, Bd V) Vaduz<br />
1985, Topos, 551 S. / Enrico Malatesta: Anarchismus- Syndikalismus Berlin 1978, Libertad, 40 S. / Emile<br />
Pouget: Der Syndikalismus Berlin o.J., Der Syndikalist, 16 S. / Arnold Roller: Die direkte Aktion Bremen<br />
o.J., Impuls, 85 S. / <strong>de</strong>rs.: Der soziale Generalstreik Berlin o.J., 48 S. / Rudolf Rocker: Die<br />
Prinzipienerklärung <strong>de</strong>s Syndikalismus Berlin 1924, Der Syndikalist, 20 S. / Bertrand Russell: Wege zur<br />
Freiheit – Sozialismus, Anarchismus, Syndikalismus Frankfurt/M. 1971, Suhrkamp, 173 S. / G. Yvetot:<br />
ABC <strong>de</strong>s Syndikalismus Hamburg o.J. (1973?), MaD, 20 S. / Evert Arvidsson: Der freiheitliche<br />
Syndikalismus im Wohlfahrtsstaat Darmstadt 1960, Die Freie Gesellschaft, 51 S. / Ahto Uisk:<br />
Syndikalismus – eine I<strong>de</strong>enskizze Berlin 198 5, Libertäres Forum, 37 S. / Helmut Rüdiger: Sozialismus in<br />
Freiheit (Aufsätze) Wetzlar 1976, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 156 S.<br />
Kapitel 33 Zwischen <strong>de</strong>n Kriegen<br />
"Die Weltgeschichte zeigt zu allen Zeiten,<br />
daß die auf Unterdrückungen unmittelbar folgen<strong>de</strong>n<br />
sogenannten ›Befreiungen‹ noch lange keine wirkliche Freiheit bringen."<br />
- Max Nettlau -<br />
DIE RELATIV KURZE ZEITSPANNE zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Weltkriegen war in <strong>de</strong>r ganzen Welt eine<br />
Ära <strong>de</strong>s politischen Umbruchs, eine Zeit, in <strong>de</strong>r die Karten neu gemischt wur<strong>de</strong>n. In diesem Übergang zur<br />
Mo<strong>de</strong>rne installierte sich <strong>de</strong>r Kapitalismus amerikanischer Prägung, und in vielen westlichen Län<strong>de</strong>rn<br />
verschwan<strong>de</strong>n die Reste <strong>de</strong>ssen, was man in romantischer Verklärung als monarchistische Gemütlichkeit<br />
empfun<strong>de</strong>n hatte. In Rußland versuchte sich eine Alternative zu etablieren, die, wie wir gesehen haben,<br />
keine war. Zwischen diesen bei<strong>de</strong>n Polen wird sich in <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n siebzig Jahren die Weltgeschichte<br />
abspielen.<br />
Die Epoche, die wir in Deutschland die "Weimarer Ära" nennen, war von einer unglaub-<br />
282
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lichen Dichte an Ereignissen, I<strong>de</strong>en und Experimenten geprägt, die Kultur, Technik, Politik, Wissenschaft<br />
und Weltanschauung gleichermaßen aufwühlten. Es schien, als ob die Menschen nach <strong>de</strong>m Schock <strong>de</strong>s<br />
Ersten Weltkrieges nichts so sehr suchten wie einen radikalen Neuanfang. Diese latente Bereitschaft war<br />
diffus und grenzte nicht selten an irrationalen Wahn. Heilsverkün<strong>de</strong>r aller Couleur hatten Hochkonjunktur<br />
in dieser durchgerüttelten Menschheit und hielten reiche Ernte. Am En<strong>de</strong> setzten sich die brutalsten und<br />
fanatisiertesten durch und führten gera<strong>de</strong>wegs in <strong>de</strong>n nächsten großen Krieg.<br />
Jenseits von Faschismus, Stalinismus und gewöhnlichem Kapitalismus gab es jedoch mehr als eine<br />
interessante Alternative. Die meisten von ihnen sind heute vergessen. Der Anarchismus spielte auch in<br />
diesen Jahren auf <strong>de</strong>r politischen Bühne keine Hauptrolle, aber seine Alternativen zählen zu <strong>de</strong>n<br />
innovativsten und sind nicht mehr zu übersehen. Aus anarchistischer Perspektive stand diese Zeit ohne<br />
Zweifel für einen enormen Aufschwung. Nicht nur ein Zuwachs an Stärke machte sich bemerkbar,<br />
son<strong>de</strong>rn vor allem auch an Kreativität und Aktion. Im neunzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rt hatte <strong>de</strong>r Anarchismus zu<br />
keinem Zeitpunkt eine für ein Land prägen<strong>de</strong> soziale Rolle gespielt, in <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit <strong>de</strong>s<br />
zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rts sollte dies gleich in mehreren Län<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Fall sein.<br />
Machen wir also einen kurzen Streifzug durch diese zwei Jahrzehnte, bei <strong>de</strong>m wir neben <strong>de</strong>r<br />
syndikalistischen Hauptströmung auch an<strong>de</strong>re Stränge verfolgen wer<strong>de</strong>n, um lan<strong>de</strong>stypischen o<strong>de</strong>r<br />
inhaltlichen Ten<strong>de</strong>nzen nachzugehen, die bei <strong>de</strong>r bisherigen Betrachtung ausgeblen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n mußten.<br />
Einige dieser damals exotischen ›Nebenlinien‹ sind inzwischen übrigens zu Trendsettern gewor<strong>de</strong>n.<br />
Nordamerika<br />
Das Land, das sich im Zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rt anschickte, seine Lebensart in alle Welt zu exportieren,<br />
gilt als die Heimat <strong>de</strong>s smarten, erfolgsorientierten Unternehmertums. Der amerikanische Mythos von <strong>de</strong>n<br />
unbegrenzten Möglichkeiten <strong>de</strong>s Selfma<strong>de</strong>man* hat jedoch als Kehrseite eine beson<strong>de</strong>rs kru<strong>de</strong>* Variante<br />
<strong>de</strong>s Kapitalismus hervorgebracht, mit <strong>de</strong>ren Hilfe sich die Vereinigten Staaten zur führen<strong>de</strong>n<br />
Industrienation machten. Das Fußvolk dieser rasanten Entwicklung bil<strong>de</strong>ten die Massen billiger<br />
Arbeitskräfte, die als nahezu rechtlose Emigranten ins Land gekommen waren. Unter ihnen machten sich<br />
schon früh radikalsozialistische Ten<strong>de</strong>nzen bemerkbar, die mit <strong>de</strong>r starken individualistischen Tradition<br />
amerikanischen Pioniergeistes zu einer lan<strong>de</strong>stypischen anarchoi<strong>de</strong>n Legierung verschmolzen. Beson<strong>de</strong>rs<br />
<strong>de</strong>utsche Einwan<strong>de</strong>rer spielten hier eine wichtige Rolle, später zunehmend auch russische, schwedische,<br />
jüdische, und italienische Emigrantenkreise. Den Samen legten die <strong>de</strong>utschen Revoluzzer von 1848, die<br />
nach Amerika geflohen waren, <strong>de</strong>m "Land <strong>de</strong>r großen Freiheit".<br />
In <strong>de</strong>n Industriezentren <strong>de</strong>s Ostens gibt es bereits um 1860 eine kämpferische Arbeiterbewegung, einige<br />
sehr aktive Sektionen sind in <strong>de</strong>r Internationale organisiert. Die <strong>de</strong>utschen Sozialisten verfügen über die<br />
beste Infrastruktur. Ihre Mitglie<strong>de</strong>r zählen nach Tausen<strong>de</strong>n und gelten als ebenso diszipliniert wie aktiv.<br />
Sie besitzen Häuser, Druckereien,<br />
283<br />
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mehrsprachige Zeitungen, Verlage und kleinere genossenschaftliche Unternehmen. Ihre beliebteste<br />
Organisationsform ist <strong>de</strong>r "Lehr- und Wehrverein", eine Mischung aus linker Abendschule und<br />
Schützenverein. Selbstverteidigung schien auch dringend angeraten: Die Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Unternehmer<br />
waren oft brutal, Arbeitskonflikte ließen sie gerne von mietbaren Agenten, <strong>de</strong>n berüchtigten "Pinkertons",<br />
mit <strong>de</strong>m Revolver lösen. Spezifisch anarchistische I<strong>de</strong>en erlangen erst unter <strong>de</strong>m Einfluß von Johann<br />
Most größere Be<strong>de</strong>utung, <strong>de</strong>r 1883 in die USA auswan<strong>de</strong>rt und dort das legendäre Blatt Freiheit<br />
herausgibt. Dieser volkstümliche Agitator, <strong>de</strong>r sich vom populärsten Sozial<strong>de</strong>mokraten Deutschlands zum<br />
überzeugten Anarchisten gewan<strong>de</strong>lt hatte, verhilft <strong>de</strong>n libertären I<strong>de</strong>en auch in <strong>de</strong>n USA zu einer großen<br />
Anhängerschaft. Um diese Zeit tobt ein harter Kampf um die Einführung <strong>de</strong>s Achtstun<strong>de</strong>ntages. Am 1.
Mai 1886 streiken in Chicago 80.000 Arbeiter. Es kommt zu Ausschreitungen, die auf bei<strong>de</strong>n Seiten Tote<br />
for<strong>de</strong>rn. Acht anarchistischen Streikführern wird daraufhin <strong>de</strong>r Prozeß gemacht, vier von ihnen wer<strong>de</strong>n<br />
gehängt, einer begeht Selbstmord. Die drei Überleben<strong>de</strong>n kommen 1893 frei, nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Gouverneur<br />
von Illinois <strong>de</strong>n Schauprozeß offiziell zum Justizmord erklärt hatte. Die fünf Justizopfer, vier von ihnen<br />
<strong>de</strong>utsche Emigranten, gingen als die "Märtyrer von Chicago" in die Geschichte ein; <strong>de</strong>r erste Mai ist<br />
seither <strong>de</strong>r internationale Kampftag <strong>de</strong>r Arbeiter.<br />
1927 wird die Welt erneut durch amerikanische Justizmor<strong>de</strong> erschüttert: Am 23. August sterben die Italo-<br />
Amerikaner Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti auf <strong>de</strong>m elektrischen Stuhl. Der Gesinnungsprozeß<br />
gegen die bei<strong>de</strong>n Anarchisten, <strong>de</strong>nen man die Beteiligung an einem Raubüberfall vorwarf, hatte sieben<br />
Jahre lang für Schlagzeilen gesorgt und auf allen fünf Kontinenten die größten Protest<strong>de</strong>monstrationen<br />
ausgelöst, die die Welt bis dahin gesehen hatte. Auch Sacco und Vanzetti wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r amerikanischen<br />
Justiz rehabilitiert - nach genau fünfzig Jahren. 1977 erklärte <strong>de</strong>r Gouverneur von Massachusetts <strong>de</strong>n<br />
23.August zum "Sacco und Vanzetti-Ge<strong>de</strong>nktag"...<br />
Die amerikanische Justiz hat eine sehr lange Liste von anarchistischen ›Märtyrern‹ produziert. Solch harte<br />
Verfolgung wirft ein Schlaglicht auf die Bedrohung, die die Behör<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n Anarchismus empfun<strong>de</strong>n<br />
haben müssen; die bei<strong>de</strong>n ausgewählten Fälle markieren die Bandbreite <strong>de</strong>r Bewegung: Vom militanten<br />
Arbeiterverein bis zur klassischen Agitationsgruppe, zu <strong>de</strong>nen Sacco und Vanzetti gehörten, war <strong>de</strong>r<br />
Anarchismus in <strong>de</strong>n Vereinigten Staaten präsent und prägend. Dabei spielte er eine weitaus wichtigere<br />
Rolle als etwa die sozialistische Partei, die niemals Be<strong>de</strong>utung erlangte. Auch <strong>de</strong>r Marxismus blieb in <strong>de</strong>n<br />
USA eher das Hobby städtischer Intellektueller <strong>de</strong>r Ostküste. Die respektlose Direktheit <strong>de</strong>s Anarchismus<br />
und das libertäre I<strong>de</strong>al eines freien Individuums schienen <strong>de</strong>n rebellischen Traditionen <strong>de</strong>s<br />
amerikanischen Volkscharakters eher zu entsprechen.<br />
Es überrascht nicht, daß auch <strong>de</strong>r Syndikalismus in diesem riesigen Land eine etwas an<strong>de</strong>re Prägung<br />
bekam. Hier waren die klassenbewußten Arbeiter frei von sozial<strong>de</strong>mokratischer Konkurrenz, mußten sich<br />
dafür jedoch gegen mafiaähnliche Branchenkartelle behaupten, die die offiziellen Gewerkschaften fest im<br />
Griff hatten. Diese sahen in <strong>de</strong>r Interessenvertretung <strong>de</strong>r Arbeiter eher ein lukratives Protektionsgeschäft<br />
ohne sozial-<br />
284<br />
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politische Inhalte. Die 1905 gegrün<strong>de</strong>ten Industrial Workers of the World, kurz IWW genannt, waren die<br />
Antwort <strong>de</strong>r selbstbewußten Arbeiter auf diese Zustän<strong>de</strong>. Der Rückhalt dieses Verban<strong>de</strong>s lag in <strong>de</strong>n<br />
Schlüsselindustrien Stahl und Kohle, seine Stärke waren die Transportarbeiter auf Straßen, Schiene und<br />
zur See. Ihr verdankten die Wobblies, wie die militanten Syndikalisten im Volksmund genannt wur<strong>de</strong>n,<br />
eine rasante Verbreitung im ganzen Land und auch in Übersee, wo sie einige Filialen grün<strong>de</strong>ten. In <strong>de</strong>r<br />
gesamten Zwischenkriegszeit gab die IWW in <strong>de</strong>n wichtigsten Arbeitskämpfen <strong>de</strong>n Ton an und brachte es<br />
in <strong>de</strong>n Variationen <strong>de</strong>r direkten Aktion zu wahrer Meisterschaft. Neben militanten Streiks entwickelten<br />
sie sehr effektvolle Taktiken <strong>de</strong>r Blocka<strong>de</strong>, <strong>de</strong>s passiven Wi<strong>de</strong>rstands und vor allem <strong>de</strong>s Boykotts, die<br />
nahtlos in die Aktionsformen <strong>de</strong>r Bürgerrechts- und Protestbewegungen unserer Tage übergegangen sind.<br />
Mit Erfolg wandte die IWW auch das Mittel <strong>de</strong>s Label an, eines syndikalistischen Markenzeichens für<br />
Waren, <strong>de</strong>ren Konsum von <strong>de</strong>n Gewerkschaften empfohlen wur<strong>de</strong>. Industriezweige, die einen<br />
arbeiterfeindlichen Kurs verfolgten, erhielten kein Label, und ihre Produkte wur<strong>de</strong>n, begleitet von sehr<br />
wirksamen Publicity-Kampagnen, mit einem Boykott belegt. Der große Anklang, <strong>de</strong>n die Wobblies unter<br />
<strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>rarbeitern, im Millionenheer <strong>de</strong>r entwurzelten Arbeitslosen und <strong>de</strong>n Saisonarbeitern in <strong>de</strong>r<br />
kalifornischen Landwirtschaft fan<strong>de</strong>n, trug zur Bildung einer spezifischen Subkultur unter Tramps bei, die<br />
Eingang in Mythen und Folklore fand. So ist es nicht überraschend, daß <strong>de</strong>r legendäre ›Märtyrer‹ <strong>de</strong>r<br />
Wobblies, Josef Hillström, nicht nur ein berüchtigter Streikredner war, son<strong>de</strong>rn vor allem Musiker,<br />
Dichter und Sänger. Die Popularität seiner Protestsongs war so besorgniserregend, daß auch er einem<br />
Justizkomplott zum Opfer fiel. Auf Betreiben <strong>de</strong>r Kupferbosse wur<strong>de</strong> Joe Hill, wie ihn die Arbeiter<br />
nannten, im November 1915 hingerichtet. Auch seine typisch amerikanische Form <strong>de</strong>s Protestes lebte<br />
durch Sänger wie Woodie Guthrie, Pete Seeger und die Protestsänger <strong>de</strong>r 68er Generation fort und ist
heute eine feste Größe im Repertoire sozialer Bewegungen.<br />
Der spätere Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>r Wobblies ist nicht nur durch die äußerst brutale Verfolgung zu erklären, <strong>de</strong>r<br />
die militante Gewerkschaft ausgesetzt war. In einem immens großen Land mit einem stetigen<br />
Überangebot von Arbeitskräften war es schwierig genug, Arbeitskämpfe zu rühren und Solidarität zu<br />
wahren. Für die Durchsetzung politischer Ziele blieb da wenig Spielraum. So kam die IWW selten über<br />
punktuelle Aktionen hinaus. Sie blieb in erster Linie eine Organisation, die mit großer Militanz zwar<br />
einiges an <strong>de</strong>n himmelschreien<strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong>n im wil<strong>de</strong>n Kapitalismus Amerikas än<strong>de</strong>rte, aber nicht in <strong>de</strong>r<br />
Lage war, Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und <strong>de</strong>m aufkommen<strong>de</strong>n Nationalismus <strong>de</strong>r vierziger<br />
Jahre zu begegnen.<br />
Typisch für <strong>de</strong>n amerikanischen Anarchismus war, daß die linke Dogmatik Europas kaum eine Rolle<br />
spielte. Die Trennung zwischen reinem Anarchismus, militantem Syndikalismus und sozialer<br />
Protestbewegung mit ihren rivalisieren<strong>de</strong>n Theorien und Schulen hat die USA weitgehend verschont. Als<br />
herausragen<strong>de</strong> Vertreterin eines solch undogmatischen Standpunktes kann Emma Goldman gelten, die<br />
von <strong>de</strong>r zeitgenössischen Presse einmal als "die gefährlichste Frau Amerikas" bezeichnet wur<strong>de</strong>. Sie hat<br />
sich nicht unterteilt in Frau<br />
285<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
und Feministin, Anarchistin und Agitatorin, Gewerkschafterin und Philosophin, und genau <strong>de</strong>shalb war<br />
sie so geachtet. Statt<strong>de</strong>ssen hat sie, wie <strong>de</strong>r Titel ihrer Autobiographie verrät, ihr Leben gelebt, und das<br />
äußerst intensiv. Ihr bewegtes Schicksal, das sie zwischen Rußland, Amerika und Europa hin und her<br />
führte, machte sie schon früh zum begehrten Objekt <strong>de</strong>r Medien. Als junge Fabrikarbeiterin teilt sie das<br />
typische Schicksal russischjüdischer Emigranten, engagiert sich für die Rechte <strong>de</strong>r Frau, beteiligt sich an<br />
Streiks, agitiert für die mexikanische Revolution und wird zu einer <strong>de</strong>r brillantesten Rednerinnen<br />
Amerikas. Sie grün<strong>de</strong>t ihre eigene Zeitschrift, Mother Earth, hält Vorträge, lebt in provozierend offenen<br />
Männerbeziehungen. Als man sie nach Rußland <strong>de</strong>portiert, stürzt sie sich in die revolutionären Ereignisse,<br />
flieht vor drohen<strong>de</strong>r Verfolgung nach Europa, organisiert die Gefangenenhilfe, spricht auf anarchistischen<br />
Kongressen, erlernt einen weiteren Beruf. Bei all<strong>de</strong>m schreibt sie ebenso klug wie offenherzig über<br />
politische Themen, wobei sie ihre eigenen Erfahrungen nachvollziehbar reflektiert. Sie greift dabei auch<br />
Fragen auf, die in <strong>de</strong>r männergeprägten Welt <strong>de</strong>s Anarchismus tabu o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>stens heikel sind.<br />
Selbstverständlich fin<strong>de</strong>n wir sie 1936 im revolutionären Spanien wie<strong>de</strong>r, und sie setzt all ihre Kraft ein,<br />
im Ausland um Unterstützung für dieses libertäre Experiment zu werben. Es ist bezeichnend, daß die<br />
Vereinigten Staaten, <strong>de</strong>ren Bürgerin sie einst war, <strong>de</strong>r berühmten Anarchistin die Rückkehr nie erlaubt<br />
haben. Als sie 1940 in Kanada stirbt, war die erste libertäre Blüte in Amerika schon vorüber. Immerhin<br />
fühlten sich die Vereinigten Staaten von Amerika dadurch so nachhaltig bedroht, daß sie bis auf <strong>de</strong>n<br />
heutigen Tag grundsätzlich je<strong>de</strong>m Menschen ein Visum verweigern, <strong>de</strong>r sich vor <strong>de</strong>m Immigration Office<br />
als Anhänger anarchistischer I<strong>de</strong>en zu erkennen gibt. Es wird ausdrücklich danach gefragt.<br />
Lateinamerika<br />
Als die IWW nach <strong>de</strong>m ersten Weltkrieg in <strong>de</strong>n Pazifikhäfen Süd- und Mittelamerikas erste Ortskartelle<br />
grün<strong>de</strong>te, drang sie auf ein Terrain vor, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Anarchosyndikalismus bereits Fuß gefaßt hatte. Kein<br />
Wun<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>nn einzelne Län<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Subkontinents konnten auf eine lange libertäre Tradition<br />
zurückblicken. Der erste Streik in <strong>de</strong>r Geschichte Mexikos fand 1865 statt, organisiert vom libertären<br />
Syndikat <strong>de</strong>r Hutmacher. In Brasilien wur<strong>de</strong> 1890 eines <strong>de</strong>r frühen anarchistischen Siedlungsprojekte, die<br />
Kommune Cecilia gegrün<strong>de</strong>t. Argentinien galt als das Land mit <strong>de</strong>r weltweit größten Dichte<br />
anarchistischer Presse: dort erschienen über 60 libertäre Blätter in allen möglichen Sprachen, und Buenos<br />
Aires leistete sich gar <strong>de</strong>n Luxus zweier anarchistischer Tageszeitungen – eine morgens, eine abends.<br />
Das sind natürlich nur Indizien, die auf die frühe Popularität <strong>de</strong>s Anarchismus in Lateinamerika schließen<br />
lassen. Seine Verbreitung war jedoch keineswegs gleichmäßig und hatte sehr unterschiedliche Ursachen.<br />
Zwar dürfte es auf <strong>de</strong>m Subkontinent kaum ein Land ohne libertäre Spuren geben, aber während man in
Mexiko, Argentinien, Uruguay o<strong>de</strong>r Kuba von wirklich starken Traditionen sprechen kann, fin<strong>de</strong>n wir in<br />
Brasilien, Chile, Peru, Bolivien, Costa Rica o<strong>de</strong>r Paraguay bestenfalls zeitweise und regional interessante<br />
Ansätze. In Argentinien wie<strong>de</strong>rum ist die Kraft <strong>de</strong>s Anarchismus ein<strong>de</strong>utig in <strong>de</strong>n Einwan<strong>de</strong>rungs-<br />
286<br />
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bewegungen um die Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> zu suchen, während seine Wurzeln in Mexiko bis ins<br />
hausgemachte Elend <strong>de</strong>r indianischen Ureinwohner reichen. Unterschiedlich stark wirkten sich auch die<br />
Bindungen an das sogenannte "Mutterland" Spanien aus, das seinerseits intensiv vom anarchistischen<br />
Virus befallen war. Diese Bindungen waren zu Kuba und Mexiko be<strong>de</strong>utend stärker als etwa zu<br />
Argentinien. Mexiko ist überdies ein Land mit ausgesprochen rebellischen Traditionen. Beson<strong>de</strong>rs die<br />
landlosen indianischen Kleinbauern haben immer wie<strong>de</strong>r rebelliert und tun dies bis heute. Dabei haben<br />
sie, ohne ›Anarchisten‹ zu sein. Aktions- und Lebensformen hervorgebracht, die kaum an<strong>de</strong>rs als libertär<br />
zu nennen sind. Als in <strong>de</strong>r Agrarrevolution vor <strong>de</strong>m Ersten Weltkrieg <strong>de</strong>r Bauerngeneral Emiliano Zapata<br />
die Indios zum Sturm auf die Hauptstadt führte, geschah dies nicht zufällig unter <strong>de</strong>r libertären Losung<br />
"Land und Freiheit". Zapata stand in regem Kontakt zu <strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>rn Flores-Magon, <strong>de</strong>n hervorragendsten<br />
Köpfen <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung Mexikos. Gewisse Analogien mit Machnos ukrainischer<br />
Bauernguerilla fallen hier gera<strong>de</strong>zu ins Auge.<br />
In <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit jedoch war Argentinien das mit Abstand interessanteste lateinamerikanische<br />
Beispiel für die Blüte <strong>de</strong>s Anarchismus.<br />
Bei aller Vorsicht gegenüber Superlativen dürfte Argentinien das Land gewesen sein, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />
Anarchismus seinen bisher höchsten Grad an Popularität erreichte. In dieser sehr europäisch geprägten<br />
Republik hatte sich schon 1901 die anarchosyndikalistische Fe<strong>de</strong>ración Obrera Regional Argentina<br />
gegrün<strong>de</strong>t, die bis zur Ära <strong>de</strong>s Peronismus* in <strong>de</strong>n 40er Jahren stets die Mehrheitsgewerkschaft stellte.<br />
Vielen Neueinwan<strong>de</strong>rern, die 1914 33 Prozent <strong>de</strong>r insgesamt acht Millionen Einwohner ausmachten,<br />
wur<strong>de</strong> diese FORA zur politischen Heimat. In ihr organisierte sich <strong>de</strong>r Industriearbeiter ebenso wie <strong>de</strong>r<br />
Taxifahrer o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gaucho in <strong>de</strong>r Pampa. Das riesige Land zwischen Chaco, An<strong>de</strong>n und Kap Hoorn<br />
wur<strong>de</strong> mit einem Netz von Syndikaten überzogen. Als 1904 Syndikalisten und Anarchisten zur<br />
Demonstration riefen, zogen 70.000 Menschen durch die Straßen <strong>de</strong>r Hauptstadt, die noch keine Million<br />
Einwohner zählte. Argentinische Historiker schätzen, daß zur Zeit <strong>de</strong>s Ersten Weltkrieges je<strong>de</strong>r zehnte<br />
Erwachsene organisierter Libertärer war o<strong>de</strong>r anarchistischen I<strong>de</strong>en anhing. Die Delegierten <strong>de</strong>r FORA<br />
konnten unangemel<strong>de</strong>t beim Präsi<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>r Republik erscheinen, um ihm die Meinung zu sagen –<br />
niemand hätte gewagt, sie zurückzuweisen.<br />
Diese starke Bewegung baute auf einer langen und soli<strong>de</strong>n Vorarbeit zahlreicher anarchistischer Gruppen<br />
auf, die seit Jahrzehnten im Lan<strong>de</strong> wirkten. Bekannte Denker wie Enrico Malatesta, Pietro Gori und Luigi<br />
Fabbri hatten am Rio <strong>de</strong> la Plata gelebt und gelehrt und <strong>de</strong>r libertären Kultur dort einen sehr lebendigen,<br />
sehr italienischen tauch gegeben. Spanier, Deutsche, Polen, Russen, Balten taten das ihrige dazu, daß <strong>de</strong>r<br />
argentinische Anarchismus bunt blieb.<br />
Diese Vielfalt schien in<strong>de</strong>s einer einheitlichen Strategie im Wege zu stehen, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r argentinische<br />
Anarchismus blieb von einer tiefen und unheilvollen Spaltung beherrscht. Man könnte meinen, <strong>de</strong>r<br />
organisierte Syndikalismus sei in diesem Land zu früh losgeprescht<br />
287<br />
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– bevor nämlich die Debatte um die richtige Strategie zu einem breiten Konsens geführt hatte. Während<br />
ein libertärer Flügel <strong>de</strong>n gewerkschaftlichen Weg beschritt und programmatisch beschloß, daß "<strong>de</strong>r
Generalstreik die Basis <strong>de</strong>s wirtschaftlichen Kampfes und <strong>de</strong>r Streik eine Schulung zur Rebellion" zu sein<br />
habe, beharrte <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re auf anarchistischem Skeptizismus: Er hielt je<strong>de</strong> Gewerkschaft für zahm und<br />
kompromißlerisch. Der alte Streit darüber, ob das System an <strong>de</strong>n staatlichen Organen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
wirtschaftlichen Basis anzugreifen sei, brach nach <strong>de</strong>m ersten großen Generalstreik in aller Härte aus:<br />
Man konnte sich nicht darüber einigen, ob er nun ein Sieg o<strong>de</strong>r eine Nie<strong>de</strong>rlage war. Fortan wur<strong>de</strong><br />
polemisiert, und man ging zunehmend getrennte Wege. Während das FORA-Blatt La Protesta zu<br />
Kundgebungen, Streiks und Boykotten aufrief, sah sich die Leserschaft von La Antorcha ' eher zu<br />
Gefangenenbefreiung, Sabotageaktionen o<strong>de</strong>r "revolutionären Enteignungen" animiert. Aus dieser Ecke<br />
kam übrigens auch <strong>de</strong>r skurrile* Plan, <strong>de</strong>n Kapitalismus durch <strong>de</strong>n massenhaften Umlauf von Falschgeld<br />
in die Knie zu zwingen, wobei es nicht einer gewissen Ironie entbehrt, daß die allerbesten ›Blüten‹<br />
heimlich in <strong>de</strong>r Druckerei <strong>de</strong>s Staatsgefängnisses von Punta Carreta hergestellt wur<strong>de</strong>n. Trotz aller Härte,<br />
mit <strong>de</strong>r diese i<strong>de</strong>ologischen Grabenkämpfe ausgetragen wur<strong>de</strong>n, taten sie <strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>n Popularität <strong>de</strong>s<br />
Anarchismus in Argentinien keinen Abbruch. Der anarchophile Durchschnittsporteño* interessierte sich<br />
nicht übermäßig für anarchistische Glaubensfragen; er schien selbst zu wissen, wann Friedfertigkeit<br />
angesagt war und wann es Zeit wur<strong>de</strong>, die Faust aus <strong>de</strong>r Tasche zu ziehen.<br />
Das war zum Beispiel zur Jahreswen<strong>de</strong> 1918/19 <strong>de</strong>r Fall gewesen, als es in Buenos Aires zu <strong>de</strong>m<br />
erwähnten bewaffneten Generalstreik kam, <strong>de</strong>r sich vierzehn Tage lang mit schweren Kämpfen hinzog.<br />
Der für südamerikanische Verhältnisse geringfügige Anlaß – Polizisten hatten das Feuer auf einen<br />
anarchistischen Trauerzug eröffnet –, reichte diesmal zur Explosion <strong>de</strong>s Zorns. Unter <strong>de</strong>m Eindruck <strong>de</strong>r<br />
Russischen Revolution und meutern<strong>de</strong>r Matrosen in Deutschland ging es <strong>de</strong>n Industriearbeitern von<br />
Buenos Aires jetzt nicht mehr um irgendwelche For<strong>de</strong>rungen, son<strong>de</strong>rn um <strong>de</strong>n Besitz <strong>de</strong>r Fabriken, um<br />
die soziale Revolution. Seit 1905 hatte die FORA bereits <strong>de</strong>n freien Sonntag, das Streikrecht, Renten,<br />
Unfallkassen, Arbeitslosengeld und Arbeitszeitverkürzungen erstritten und fragte sich, ob sie damit ihrem<br />
eigentlichen Ziel näher gekommen sei. Diesmal wollten es die Syndikalisten wissen und riefen zum<br />
Umsturz. Das Echo war enorm, das Land wur<strong>de</strong> lahmgelegt und die Revolte griff um sich. Wichtige<br />
strategische Punkte und zahllose Fabriken wur<strong>de</strong>n besetzt, unter ihnen <strong>de</strong>r größte<br />
Schwerindustriekomplex <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s, die Vasena-Werke. Aber gegen Armee, Polizei und die<br />
halbfaschistischen Ban<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Liga Patriotica konnten sich die spärlich bewaffneten Arbeiter nicht lange<br />
halten. Dennoch gab die Regierung nach, bestrafte die Polizisten, ersetzte <strong>de</strong>n Gewerkschaften ihre<br />
Schä<strong>de</strong>n und erfüllte eine Reihe alter For<strong>de</strong>rungen - ein überaus kluger Akt <strong>de</strong>r Staatskunst <strong>de</strong>s<br />
populistischen Präsi<strong>de</strong>nten Yrigoyen. Der hatte klar erkannt, daß an<strong>de</strong>rnfalls ein Putsch <strong>de</strong>r Militärs o<strong>de</strong>r<br />
die anarchistische Revolution auf <strong>de</strong>r Tagesordnung gestan<strong>de</strong>n hätte. Es erstaunt nicht, daß dieser<br />
Schachzug die Anarchisten entzweite.<br />
Noch einmal vereint waren sie, als die FORA 1921/22 im fernen Patagonien einen Land-<br />
288<br />
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arbeiterstreik organisierte, <strong>de</strong>r schnell in einen allgemeinen Aufstand umschlug. Hier, im dünn besie<strong>de</strong>lten<br />
kalten Sü<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>reien wallisischer Schafzüchter, arbeiteten überwiegend chilenische<br />
Wan<strong>de</strong>rknechte und europäische Emigranten unter schau<strong>de</strong>rhaften Bedingungen. Fast alle waren<br />
gewerkschaftlich organisiert. Die rebellieren<strong>de</strong>n peones zogen nun von Estancia zu Estancia,<br />
proklamierten in je<strong>de</strong>m Dorf <strong>de</strong>n comunismo libertario und vertrieben mit Leichtigkeit die ohnehin<br />
schwach vertretene staatliche Autorität. Aus einem Gebiet, halb so groß wie Deutschland, flohen die<br />
Besitzen<strong>de</strong>n. Die Revolutionäre konnten ihr Glück kaum fassen! Während die einen eine permanente<br />
fiesta feierten, begannen an<strong>de</strong>re, sich konstruktiveren Plänen zuzuwen<strong>de</strong>n. Aber nach anfänglichem<br />
Zau<strong>de</strong>rn kehrte die Staatlichkeit zurück: Auf Druck <strong>de</strong>r einflußreichen Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Country Club<br />
sandte die Regierung in Buenos Aires ein Expeditionskorps aus. Zwar hatten die Anarchisten neben Staat<br />
und Privatbesitz auch die Armee für abgeschafft erklärt, aber das 10. argentinische Regiment unter<br />
Coronel Varela störte sich nicht daran. Es machte kurzen Prozeß und hinterließ 1800 Tote.<br />
Der Anarchismus in Argentinien aber ließ sich nicht so einfach erledigen wie <strong>de</strong>r patagonische Aufstand;
seine Wurzeln reichten zu tief und er überlebte bis heute. Daß er so viele, so langwierige und so grausame<br />
Diktaturen überstehen konnte, liegt gewiß auch an seiner einzigartigen Volkstümlichkeit. Jenseits aller<br />
politischen Tageskämpfe entstan<strong>de</strong>n hier Werte, die steh tief ins Unterbewußtsein <strong>de</strong>r nationalen I<strong>de</strong>ntität<br />
gruben. Anarchisten hatten Bibliotheken, Schulen, Kin<strong>de</strong>rhorte und Volksküchen organisiert,<br />
Kooperativen aufgebaut, Theater übers Land geschickt. Sie hinterließen ihre Spuren in Poesie und Musik,<br />
und umstürzlerische Vokabeln mischten sich in Tangos und Zambas, die von <strong>de</strong>n beliebten payadores*<br />
auf je<strong>de</strong>m Fest gesungen wur<strong>de</strong>n. Ihre folkloristischste Kreation aber blieb <strong>de</strong>r Typ <strong>de</strong>s linyera: ein<br />
umherziehen<strong>de</strong>r Agitator mit wallen<strong>de</strong>m Haar und langem Bart, zu gleichen Teilen Gaucho, Vagabund<br />
und Gelehrter. Mit Büchern, Gitarre und Pferd zog er durch die Pampa, um <strong>de</strong>n Leuten Lesen, Schreiben<br />
und das ABC <strong>de</strong>s Anarchismus beizubringen. Eine für die Zwischenkriegsepoche gera<strong>de</strong>zu typische<br />
Figur, <strong>de</strong>ren Pendant* wir damals auch in Thüringen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Extremadura hätten begegnen können.<br />
1929 schlossen sich auf einem Kongreß in Buenos Aires vierzehn libertäre Gewerkschaftsverbän<strong>de</strong><br />
Mittel- und Südamerikas zur ACAT zusammen, <strong>de</strong>r Kontinental-Amerikanischen Arbeiter-Assoziation,<br />
einer Untergruppierung <strong>de</strong>r in Berlin ansässigen IAA. Noch stand <strong>de</strong>r Anarchismus Lateinamerikas in<br />
kräftiger Blüte, noch schien es möglich, die sich abzeichnen<strong>de</strong> Gefahr <strong>de</strong>s Faschismus zu ersticken. Aber<br />
die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Schlachten wur<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rswo geschlagen und verloren. Obwohl nur indirekt betroffen,<br />
überstand die libertäre Bewegung <strong>de</strong>s Subkontinents die Jahre <strong>de</strong>s Naziterrors auch nicht viel besser als<br />
die europäische. Die tiefe Krise, in <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Anarchismus nach <strong>de</strong>m zweiten Weltkrieg wie<strong>de</strong>rfand,<br />
setzte mit einigen Jahren Verzögerung auch dort mit voller Wirkung ein. Die zeitweilige Belebung durch<br />
die Flüchtlinge <strong>de</strong>r Spanischen Revolution war im Grun<strong>de</strong> nichts weiter als das Echo einer Nie<strong>de</strong>rlage. Es<br />
konnte nicht verhin<strong>de</strong>rn, daß <strong>de</strong>r libertäre Diskurs in <strong>de</strong>n Zeiten <strong>de</strong>s kalten Krieges kein Thema mehr war.<br />
289<br />
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Die italienischen Fabrikräte<br />
Generelles Alkoholverbot und strenge Selbstdisziplin hatten sich die Arbeiter auferlegt, die im Sommer<br />
1920 in Norditalien die Metallbetriebe besetzten, um sie in eigene Regie zu übernehmen. Bewaffnete<br />
Patrouillen sicherten die großen Fabriken von Mailand und Turin, die man mit Laufgräben und<br />
Maschinengewehren in wahre Festungen verwan<strong>de</strong>lt hatte. Da sich die meisten Ingenieure und<br />
Vorarbeiter <strong>de</strong>r Selbstverwaltung verweigerten, organisierten sogenannte "Arbeiterkomitees für Technik<br />
und Verwaltung" <strong>de</strong>n Produktionsablauf. Ab nun bestimmten die Fabrikräte <strong>de</strong>n Kurs <strong>de</strong>r Branche. Da<br />
das Experiment auch auf an<strong>de</strong>re Wirtschaftszweige übergriff, konnten die selbstverwalteten Betriebe in<br />
eine direkte solidarwirtschaftliche Kooperation treten: Erz und Kohle wur<strong>de</strong> in Gemeineigentum<br />
überführt, und sogar die Banken spielten zunächst mit. Als diese sich später abwandten, gaben die Räte<br />
eigene Zahlungsmittel heraus.<br />
Zu diesem Experiment kam es zweifellos unter <strong>de</strong>m Eindruck <strong>de</strong>r Russischen Revolution, die vom<br />
italienischen Proletariat einschließlich <strong>de</strong>r Anarchisten begeistert gefeiert wur<strong>de</strong>. Eine regelrechte Räte-<br />
Euphorie setzte ein. Schon im Februar 1919 hatte <strong>de</strong>r italienische Metallarbeiterverband FIOM die<br />
Einrichtung betriebsinterner "Arbeiterkommissionen" erkämpft. Sie sollten sich, so hoffte man, durch<br />
Streiks, Besetzungen und direkte Aktionen schrittweise in Fabrikräte umwan<strong>de</strong>ln, die in <strong>de</strong>r Lage wären,<br />
die Produktionsmittel zu sozialisieren. Daraufhin sperrt im August 1920 das Patronat* die Arbeiter aus,<br />
die antworten mit <strong>de</strong>r generellen Besetzung <strong>de</strong>r Betriebe. Dieser Zustand währte einige Wochen und fand<br />
in Rom sein En<strong>de</strong> in Verhandlungen, bei <strong>de</strong>nen die Rückgabe <strong>de</strong>r Fabriken mit <strong>de</strong>m Versprechen erkauft<br />
wur<strong>de</strong>, eine Arbeiterkontrolle einzuführen. Der reformistische Mehrheitsflügel <strong>de</strong>r Gewerkschaft stellte<br />
das als großen Sieg hin, die radikalen Kräfte waren fassungslos. Der Triumph war in greifbare Nähe<br />
gerückt und wur<strong>de</strong> um nichts verspielt. Mit Recht bemerkte Malatesta, daß man sich kaum eine günstigere<br />
Gelegenheit zur sozialen Revolution hätte wünschen können: die Regierung schwach, die Bourgeoisie<br />
verunsichert, die Menschen radikalisiert durch Krieg und Hunger, die heimgekehrten Soldaten geschult<br />
im Umgang mit Waffen und die Schlüsselindustrie in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Arbeiter. Wie zutreffend diese<br />
Einschätzung war, bewies zwei Jahre später Mussolini, <strong>de</strong>m mit nur vier von diesen Druckmitteln <strong>de</strong>r<br />
italienische Staat wie eine reife Pflaume in <strong>de</strong>n Schoß fiel.
Nach Auflösung <strong>de</strong>r Fabrikräte kam es zum endgültigen Bruch zwischen <strong>de</strong>m reformistischen<br />
italienischen Gewerkschaftsverband und <strong>de</strong>n Anarchosyndikalisten, <strong>de</strong>ren 1914 gegrün<strong>de</strong>te Unione<br />
Sindacale Italiana rund eine halbe Million Mitglie<strong>de</strong>r zählte. Sie hatte die Besetzungen aktiv unterstützt,<br />
und nach<strong>de</strong>m sich die Wogen geglättet hatten, stellte <strong>de</strong>r Staat über 80 Libertäre unter Anklage. Bis auf<br />
<strong>de</strong>n USI-Vorsitzen<strong>de</strong>n Armando Borghi und Errico Malatesta, <strong>de</strong>r die anarchistische Tageszeitung<br />
Umanita Nova herausgab, wur<strong>de</strong>n alle freigesprochen. Zwar konnte man auch diesen bei<strong>de</strong>n nichts<br />
Strafbares anhängen, aber sie galten, wohl nicht ganz zu unrecht, als gefährliche Elemente; man behielt<br />
sie vorsichtshalber noch acht Monate hinter Gittern. Tragischer verlief das Schicksal <strong>de</strong>s jungen Turiner<br />
290<br />
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Intellektuellen Antonio Gramsci, <strong>de</strong>m eigentlichen geistigen Vater <strong>de</strong>s italienischen Rätemo<strong>de</strong>lls. Dieser<br />
von anarchistischen I<strong>de</strong>en stark beeinflußte Linkssozialist entwickelte in seinem Wochenblatt Ordine<br />
Nuovo eine eigenständige Rätetheorie. Obwohl Mitglied <strong>de</strong>r Sozialistischen Partei, vertrat er die These,<br />
daß die direkte Arbeitermacht sowohl <strong>de</strong>n Syndikalismus als auch Parteien und politische Gruppen<br />
überflüssig machen wür<strong>de</strong>. Dabei glaubte er noch, daß sich <strong>de</strong>rzeit in Rußland genau dies vollziehe. Die<br />
heißen Debatten, die sich Sozialisten, Syndikalisten, Räteanhänger und Anarchisten damals über <strong>de</strong>n<br />
wahren und unwahren Charakter <strong>de</strong>r Räte lieferten, mögen uns heute vielleicht etwas überspannt<br />
erscheinen. Entschei<strong>de</strong>nd jedoch war, daß aus dieser Diskussion ein grober Konsens entstand, <strong>de</strong>r zu einer<br />
gemeinsamen Plattform, zu einheitlichem Han<strong>de</strong>ln und einem großen sozialen Experiment führte. Es<br />
entstand eine Art libertärer Einheitsfront, die bewies, daß antiautoritäre I<strong>de</strong>en auch außerhalb <strong>de</strong>s<br />
Anarchismus eine Basis fan<strong>de</strong>n und – was entschei<strong>de</strong>nd war – in <strong>de</strong>r Arbeiterschaft lebhafte Resonanz<br />
hervorriefen. Der Staat machte Gramsci zum Sün<strong>de</strong>nbock <strong>de</strong>r Unruhen und ließ ihn büßen. Nach fast<br />
zehnjähriger Einzelhaft starb er im Gefängnis. Ihres kritischsten Kopfes beraubt, wur<strong>de</strong> die Sozialistische<br />
Partei schon im folgen<strong>de</strong>n Jahr zur leichten Beute <strong>de</strong>r moskauhörigen Kommunisten: Sie inszenierten<br />
eine Spaltung, aus <strong>de</strong>r 1921 die Kommunistische Partei Italiens hervorging.<br />
Bezeichnend für die politische Wirrnis jener Tage ist <strong>de</strong>r Versuch eines bolschewistischen Abgesandten,<br />
die Inhaftierung von Borghi und Malatesta zu nutzen, um die USI zu kaufen. Er bot 300.000 Lire an, falls<br />
die Anarchosyndikalisten ihren Vorsitzen<strong>de</strong>n abwählten und sich <strong>de</strong>m reformistischen Dachverband<br />
anschlössen. Lenin glaubte, auf diese Weise das anarchistische Element eindämmen und gleichzeitig über<br />
eine starke oppositionelle Fraktion im Zentralverband verfügen zu können, die er auf Moskauer Kurs zu<br />
trimmen hoffte. Zuvor nämlich war in Rußland <strong>de</strong>r Versuch gescheitert, die anarchosyndikalistische<br />
Internationale zu umwerben und vor <strong>de</strong>n eigenen Karren zu spannen. Sie sollte – angesichts <strong>de</strong>s<br />
weltweiten Mangels an kommunistischen Gewerkschaften – zum Beitritt in die "Rote<br />
Gewerkschaftsinternationale" bewegt wer<strong>de</strong>n, einem Konstrukt, an <strong>de</strong>m man in Moskau seit Jahren<br />
laborierte, um es international zum Werkzeug <strong>de</strong>r russischen Interessen zu machen. Die zahlreichen<br />
Anarchisten, die 1920 und 1921 als Delegierte in Rußland weilten, sahen sich jedoch kritisch um und<br />
brachten ernüchtern<strong>de</strong> Berichte nach Hause, die am wahren Charakter <strong>de</strong>r Bolschewiki keinen Zweifel<br />
ließen. Auch die USI ging nicht auf das Manöver ein.<br />
Europa<br />
Das Experiment <strong>de</strong>r italienischen Fabrikräte steht hier stellvertretend für das politische Klima <strong>de</strong>r<br />
Zwischenkriegszeit in Europa. Natürlich ist es nur ein Beispiel. Auch in an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn, ja sogar in<br />
Italien, kam es zu zahlreichen weiteren Gärungen, Experimenten, Erschütterungen. In allen zeigte sich die<br />
Hoffnung, mit <strong>de</strong>r die Zwischenkriegszeit begann. In Deutschland und Ungarn entstan<strong>de</strong>n Räterepubliken,<br />
Unruhen in Polen, Finnland und auf <strong>de</strong>m Balkan stan<strong>de</strong>n im Zeichen gesellschaftlicher Emanzipation, in<br />
Frankreich, Spanien<br />
291<br />
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und Portugal brachen soziale Konflikte auf und selbst in braven Gegen<strong>de</strong>n wie Großbritannien und<br />
Skandinavien machte sich eine zunehmen<strong>de</strong> Sympathie mit <strong>de</strong>n Bewegungen:, bemerkbar, die eine freie<br />
soziale Ordnung anstrebten.<br />
Was <strong>de</strong>n Anarchismus angeht, so stehen diese Jahre jenseits aller spektakulären Experimente für ein<br />
stetiges Anwachsen und die innere Festigung <strong>de</strong>r Bewegung. In vielen Län<strong>de</strong>rn können die Libertären<br />
jetzt legal auftreten und ihre I<strong>de</strong>en öffentlich verbreiten. Allenorts entstehen Gruppen, Zeitungen,<br />
Fö<strong>de</strong>rationen. In Bulgarien, Portugal, Österreich, Polen und <strong>de</strong>r Tschechoslowakei verschafft sich <strong>de</strong>r<br />
Anarchismus zunehmend Gehör. Und überall das gleiche Bild: Die erste Euphorie über die Russische<br />
Revolution verfliegt, gefolgt von einem Prozeß <strong>de</strong>r eigenen Konsolidierung, <strong>de</strong>r schon bald an die<br />
Grenzen stößt, die ein neuer Gegner diktiert: <strong>de</strong>r Faschismus. In einigen Län<strong>de</strong>rn stramm national geprägt,<br />
in an<strong>de</strong>ren eher rassistisch, sozialchauvinistisch, gewerkschaftlich o<strong>de</strong>r religiös, breitet er sich in <strong>de</strong>n<br />
zwanziger Jahren in ganz Europa aus. In einigen Län<strong>de</strong>rn kommt er sehr früh an die Macht, in an<strong>de</strong>ren<br />
verzögert sich seine Ausbreitung um viele Jahre. Das Gemeinsame aller faschistoi<strong>de</strong>n Spielarten ist, daß<br />
sie erklärte Gegner <strong>de</strong>r Freiheit sind und unversöhnliche Fein<strong>de</strong> einer selbstbewußten, kämpferischen<br />
Arbeiterschaft. Mithin wird <strong>de</strong>r Faschismus in Europa zum Gegner Nummer eins <strong>de</strong>r Anarchisten.<br />
Einer, <strong>de</strong>r diese Gefahr früh erkannte und schon 1920 auf eine Einheitsfront gegen Rechts hinzuwirken<br />
versuchte, war <strong>de</strong>r unermüdliche Malatesta. Als die antifaschistische Allianz 1922 endlich zustan<strong>de</strong> kam<br />
und einen Generalstreik proklamierte, waren Mussolinis Schwarzhem<strong>de</strong>n bereits zu stark. Ihr "Marsch auf<br />
Rom" war nicht mehr aufzuhalten, und <strong>de</strong>r Duce, auf <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Anarchist Anteo Zamboni 1926 ein<br />
erfolgloses Attentat verüben sollte, wur<strong>de</strong> zum ersten faschistischen Diktator. Dieser krankhafte<br />
Egomane, <strong>de</strong>r sich bis 1914 als Sozialist verstand und gelegentlich auch versucht hatte, sich bei<br />
Anarchisten anzubie<strong>de</strong>rn, war Malatesta übrigens 1913 persönlich begegnet. Das Urteil <strong>de</strong>s alten<br />
Anarchisten über <strong>de</strong>n damaligen Herausgeber <strong>de</strong>s Sozialistenblattes Avanti war ein<strong>de</strong>utig: "Ich habe mit<br />
diesem Menschen nichts gemein."<br />
Als Polizei und Faschisten 1922 <strong>de</strong>n Generalstreik blutig unterdrückten, wur<strong>de</strong> auch das Bild Malatestas<br />
öffentlich verbrannt. Der populäre Anarchist war <strong>de</strong>n neuen Machthabern ein rotes Tuch. Als er 1919<br />
sechsundsechzigjährig nach Italien zurückgekehrt war, jubelte ihm die Volksmenge zu, und <strong>de</strong>r liberale<br />
Corriere <strong>de</strong>lla Sera bezeichnete ihn als "eine <strong>de</strong>r größten Persönlichkeiten <strong>de</strong>s italienischen Lebens".<br />
Zusammen mit an<strong>de</strong>ren Oppositionellen wur<strong>de</strong> er jetzt erneut verhaftet, aber ohne Gerichtsverhandlung<br />
wie<strong>de</strong>r freigelassen. Mit siebzig Jahren nahm er seinen Beruf als Elektriker wie<strong>de</strong>r auf und lehnte es ab,<br />
ins Exil zu gehen. Bis zu seinem To<strong>de</strong> hielten ihn die Behör<strong>de</strong>n unter Hausarrest, wo er noch einige für<br />
die Programmatik <strong>de</strong>s Anarchismus be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Aufsätze verfaßte. Als er 1932 starb, trauerte die halbe<br />
Nation um <strong>de</strong>n unbeugsamen alten Mann. Der Hafen von Genua erstarb unter <strong>de</strong>m minutenlangen Heulen<br />
<strong>de</strong>r Schiffs- und Fabriksirenen.<br />
Ähnlich wie Emma Goldman ist Errico Malatesta oft und gerne als exemplarischer<br />
292<br />
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Anarchist dargestellt wor<strong>de</strong>n. Auch wenn stets etwas Verklärung mit im Spiel ist, wenn abenteuerliche<br />
Lebensläufe <strong>de</strong>n Hintergrund eines Menschen abgeben, so kann man diesem Kompliment kaum<br />
wi<strong>de</strong>rsprechen. Malatesta zeichnete sich in <strong>de</strong>r Tat durch eine hohe persönliche Integrität aus, die ihn zum<br />
Vorzeigeanarchisten gera<strong>de</strong>zu prä<strong>de</strong>stinierte. Obwohl er zu einer berühmten Figur wur<strong>de</strong>, hat er <strong>de</strong>n<br />
Rummel um Personen zutiefst gehaßt. Als er einmal als "Bakunist" bezeichnet wur<strong>de</strong>, entgegnete er<br />
gereizt: "Wir folgen I<strong>de</strong>en, nicht Männern." Im Gegensatz zu Bakunin o<strong>de</strong>r Kropotkin, die im Grun<strong>de</strong><br />
immer konvertierte Aristokraten blieben, lebte <strong>de</strong>r Bauernsohn Malatesta, <strong>de</strong>r "für die Revolution" sein<br />
Medizinstudium aufgab, ausschließlich von seiner Hän<strong>de</strong> Arbeit. Diese Revolution schürte er nach<br />
Kräften in Italien, England, Frankreich, Argentinien, Kuba, in <strong>de</strong>n USA, <strong>de</strong>r Schweiz und sogar in<br />
Ägypten. Er floh in einer als Nähmaschine <strong>de</strong>klarierten Stückgutkiste nach Buenos Aires und entwich in<br />
einem Ru<strong>de</strong>rboot von <strong>de</strong>r Gefängnisinsel Lampedusa. Mehr als zehn Jahre verbrachte er in<br />
Untersuchungshaft, ohne jemals rechtskräftig verurteilt zu wer<strong>de</strong>n. Seine klaren Analysen brachten
komplizierte Sachverhalte auf <strong>de</strong>n Punkt, und als Redner war er ebenso beliebt wie als Autor populär.<br />
Ganze Generationen einfacher Menschen fan<strong>de</strong>n durch seine wohlfeilen und leichtverständlichen<br />
Broschüren, in <strong>de</strong>nen die Arbeiter Carlo und Luigi o<strong>de</strong>r die Bauern Giorgio und Pepino im Zwiegespräch<br />
soziale Fragen erörtern, Zugang zur I<strong>de</strong>enwelt <strong>de</strong>s Anarchismus. Sie erschienen in allen möglichen<br />
Sprachen, erreichten Massenauflagen und sind noch heute ungetrübt genießbar.<br />
Große Sympathien heimste Malatesta auch durch seine politische Offenheit ein. Obgleich er sehr<br />
entschie<strong>de</strong>n Stellung beziehen konnte, hatte er für i<strong>de</strong>ologische Fraktionen nichts übrig. Wie wenige<br />
besaß er die Gabe, das Gemeinsame zu ent<strong>de</strong>cken und vermittelnd zu wirken. Sein Anarchismus war ein<br />
"Anarchismus ohne Adjektive*"; statt Formeln zu folgen, zog er es vor, sich sein eigenes kritisches Urteil<br />
zu bil<strong>de</strong>n und, wenn nötig, umzu<strong>de</strong>nken. Angesichts starrköpfiger Dogmatiker, wie sie auch im<br />
Anarchismus nicht selten vorkommen, hielt er es mit seinem Freund Saverio Merlino, <strong>de</strong>r geschrieben<br />
hatte: "Die Menschheit marschiert nicht auf einem einzigen Weg und nach <strong>de</strong>r Schulrute ihrem Ziele zu.<br />
Erwarten wir viele Überraschungen und vertrauen wir nicht zu sehr unserer eigenen Phraseologie."<br />
Exotica<br />
Unweit von Seoul befin<strong>de</strong>t sich das Museum <strong>de</strong>r Nationalen Unabhängigkeit. In <strong>de</strong>r großzügigen Anlage<br />
ist eine ganze Abteilung <strong>de</strong>m "heroischen Kampf <strong>de</strong>r Anarchisten in Korea" gewidmet, an <strong>de</strong>ren Eingang<br />
eine überlebensgroße Bronzestatue von Kim Jwa Jin steht, <strong>de</strong>m "koreanischen Machno". Dessen<br />
Bauernguerilla befreite in <strong>de</strong>n zwanziger Jahren die Hälfte <strong>de</strong>r mandschurischen Provinz Fu Kien, unter<br />
<strong>de</strong>ren 15 Millionen Einwohnern sie <strong>de</strong>n Aufbau eines dörflichen Gemeinwesens nach <strong>de</strong>n Prinzipien <strong>de</strong>r<br />
Koreanischen Anarchistischen Fö<strong>de</strong>ration vorantrieb. Der Befreier wur<strong>de</strong> 1930 von einem Agenten<br />
Stalins ermor<strong>de</strong>t; die Volksarmee ging im Wi<strong>de</strong>rstand gegen die japanische Invasion unter und mit ihr das<br />
libertäre Experiment.<br />
293<br />
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Der koreanische Anarchismus führt seine Wurzeln tief in die Traditionen <strong>de</strong>r eigenen Kultur zurück und<br />
datiert ihren Beginn auf das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Lee-Dynastie, als <strong>de</strong>r rationalistische Philosoph Yui Hyan Won<br />
Anfang <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts das egalitäre Kyun-Jeon System zur Landreform entwickelte, um damit das<br />
En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Feudalismus einzuläuten. Solche libertären Traditionen entstan<strong>de</strong>n völlig unabhängig vom<br />
abendländischen Denken o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n sozialen Kämpfen Europas. Erst nach <strong>de</strong>r Öffnung <strong>de</strong>r asiatischen<br />
Nationen kamen um die Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> die I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s westlichen Anarchismus nach Japan, China und<br />
Korea. Es han<strong>de</strong>lte sich dabei meist um Exportware: Zahlreiche Intellektuelle, die in Paris, London, Rom<br />
o<strong>de</strong>r Berlin studierten, wur<strong>de</strong>n zu begeisterten A<strong>de</strong>pten <strong>de</strong>r Lehre und versuchten nach ihrer Rückkehr<br />
eine - oftmals unkritische - Verpflanzung in ihre Heimat. So erlebte etwa Japan um 1905 einen<br />
regelrechten Kropotkin-Boom. Erst in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit eigenen freiheitlichen und rebellischen<br />
Traditionen kam es teilweise zu einer Synthese, die in manchen Län<strong>de</strong>rn zum Ausgangspunkt einer<br />
eigenständigen anarchistischen Bewegung wur<strong>de</strong>. Auffallend aber blieb stets <strong>de</strong>r Versuch, die nationale<br />
Variante in Analogie zur europäischen Entwicklung zu sehen. So wird beispielsweise <strong>de</strong>r koreanische<br />
Philosoph Chung Dasan (1760 - 1833), <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Yeo-Jeon System ein dörfliches<br />
Selbstverwaltungsmo<strong>de</strong>ll anarchokollektivistischen Zuschnitts entwickelte, gerne als <strong>de</strong>r "koreanische<br />
Godwin" bezeichnet. Und die Bauernrevolten, die zwischen 1867 und 1894 dreiundfünfzig Landkreise<br />
befreiten, in <strong>de</strong>nen die Hälfte <strong>de</strong>r Getrei<strong>de</strong>produktion <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s kollektivwirtschaftlich erbracht wur<strong>de</strong>,<br />
gilt unter koreanischen Libertären als Vorläufer <strong>de</strong>r Spanischen Revolution.<br />
Im Vergleich zum europäischen Anarchismus nehmen diese Bewegungen oft bizarre Formen an. Klare<br />
Grenzen zwischen nationaler Befreiung und konfuzianischem Hierarchie<strong>de</strong>nken lassen sich oftmals<br />
schwer erkennen. So fin<strong>de</strong>t sich im Shanghaier Exilkabinett <strong>de</strong>s späteren koreanischen Premierministers<br />
Syngman Rhee 1919 ein anarchistischer Minister namens Yu Rim, und 1946 spaltet sich aus <strong>de</strong>r<br />
libertären Bewegung gar eine "Anarchistische Partei" ab, die nach <strong>de</strong>n Wahlen fünf Abgeordnete ins<br />
Parlament bringt. Solche Indizien lassen auf einen recht starken Rückhalt <strong>de</strong>r koreanischen Anarchisten<br />
schließen, die seit <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> mit zahllosen Gruppen, Zeitungen und auffallend vielen
schwarzen Fahnen die gleiche plakative Propaganda betreiben, wie sie auch im Westen üblich ist. Das<br />
große Prestige aber, von <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r koreanische Anarchismus noch heute zehrt und <strong>de</strong>r ihm <strong>de</strong>n kuriosen<br />
Ehrenplatz im Nationalmuseum besehene, grün<strong>de</strong>t sich auf <strong>de</strong>r Rolle, die Anarchisten zwischen 1931 und<br />
1945 im Kampf gegen die japanischen Besatzer spielten. Im Mutterland ebenso wie im Exil organisierten<br />
sie einen empfindlichen Wi<strong>de</strong>rstand, <strong>de</strong>r von Guerillagruppen bis zu Attentaten auf japanische Generäle<br />
reichte.<br />
Hierzulan<strong>de</strong> ist <strong>de</strong>r koreanische Anarchismus selbst unter belesenen Libertären eine unbekannte Größe.<br />
Und Korea steht hier nur als Beispiel für an<strong>de</strong>re Län<strong>de</strong>r, die ähnliche Entwicklungen vorweisen können.<br />
Im Allgemeinen ist Anarchismus in Asien für westliche Anarchos eher ein Stück Exotik als ein<br />
ernstzunehmen<strong>de</strong>s Thema. Dabei könnte man über die Rolle <strong>de</strong>r japanischen Meji-Sozialisten im<br />
Spannungsfeld zwischen Sozial<strong>de</strong>mokratie<br />
294<br />
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und Anarchismus vor <strong>de</strong>m Ersten Weltkrieg ebenso trefflich disputieren wie über die<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen zwischen <strong>de</strong>n Libertären und Marxisten Europas in <strong>de</strong>r ersten o<strong>de</strong>r zweiten<br />
Internationale. Unser eurozentrisches* Weltbild jedoch verfährt recht gna<strong>de</strong>nlos mit solchen ›Exotica‹.<br />
Das führt leicht dazu, <strong>de</strong>n Einfluß zu übersehen, <strong>de</strong>n die libertären Bewegungen Asiens in <strong>de</strong>r<br />
Zwischenkriegszeit, beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>n Wirren <strong>de</strong>s chinesischen Bürgerkrieges und <strong>de</strong>r japanischen<br />
Aggressionen, ausübten. In China beispielsweise erschöpfte sich dieser Einfluß nicht in <strong>de</strong>m<br />
philosophischen Disput, <strong>de</strong>r die Kreise fortschrittlicher Intellektueller erfaßte, zu <strong>de</strong>nen übrigens auch <strong>de</strong>r<br />
junge Mao Tse-Tung zählte, <strong>de</strong>r vor seiner Karriere als Parteikommunist einer sogenannten "weichen<br />
Linie" <strong>de</strong>s chinesischen Anarchismus angehörte. Das Echo libertärer I<strong>de</strong>en reichte weiter und hinterließ<br />
auch dauerhaftere Spuren. So wur<strong>de</strong>n etliche Schriftsteller <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s zu veritablen Libertären, etwa <strong>de</strong>r<br />
große chinesische Literat Pa Chin. Die anarchistische Agitation erfaßte insbeson<strong>de</strong>re die Arbeiterschaft in<br />
<strong>de</strong>n Industriezentren; Schanghai wur<strong>de</strong> zeitweise zu einer Drehscheibe libertärer Aktivitäten. Aus<br />
Berichten von asiatischen Anarchistenkongressen jener Tage geht zum Beispiel hervor, daß die in<br />
libertären Kreisen weltweit propagierte Kunstsprache Esperanto damals unter <strong>de</strong>n Delegierten als gängige<br />
Verkehrssprache benutzt wur<strong>de</strong>. Selbst im ultraautoritären Japan schien <strong>de</strong>r Tennö-Staat die<br />
anarchistischen Umtriebe als Bedrohung empfun<strong>de</strong>n zu haben. So nutzte die Militärpolizei das Chaos<br />
nach <strong>de</strong>m großen Erdbeben von 1923, um mit <strong>de</strong>n militanten Libertärsozialisten abzurechnen, zu <strong>de</strong>nen<br />
übrigens zahlreiche koreanische ›Gastarbeiter‹ zählten. Sie inszenierte ein Massaker, bei <strong>de</strong>m auch die<br />
bekannte japanische Anarchistin Ito Noe und ihr Lebensgefährte Ösugi Sakae <strong>de</strong>n Tod fan<strong>de</strong>n. Dennoch<br />
sah sich die japanische Bewegung En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r zwanziger Jahre in <strong>de</strong>r Lage, große Mobilisationen gegen <strong>de</strong>n<br />
Militarismus o<strong>de</strong>r für Sacco und Vanzetti zu organisieren.<br />
Auch wenn <strong>de</strong>r chinesische Mao-Kommunismus, <strong>de</strong>r Imperialismus Japans und die folgen<strong>de</strong><br />
Amerikanisierung im pazifischen Raum <strong>de</strong>n libertären Aufbruch Asiens stoppten, konnten sie doch die<br />
Bewegung nicht ausrotten. Nur ein Jahr nach <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mokratischen Öffnung Koreas konnte die<br />
wie<strong>de</strong>rauferstan<strong>de</strong>ne Anarchistische Fö<strong>de</strong>ration <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s 1988 mit einem großen, internationalen<br />
Kongress <strong>de</strong>monstrieren, daß ihre I<strong>de</strong>en auch vierzig Jahre Illegalität überstehen konnten.<br />
Weniger exotisch aber ebenso unbekannt präsentiert sich die anarchistische Bewegung in Australien, die<br />
1986 zu einer fast offiziösen internationalen Geburtstagsparty einlud. Hun<strong>de</strong>rt Jahre zuvor war es in<br />
Melbourne als Reaktion auf <strong>de</strong>n Justizmord von Chicago zu Unruhen gekommen, in <strong>de</strong>ren Folge sich die<br />
ersten "Anarchist Clubs" bil<strong>de</strong>ten. Die Bewegung war <strong>de</strong>r Nordamerikas sehr ähnlich, obwohl in<br />
Australien – infolge <strong>de</strong>r Bindungen ans britische "Mutterland" – die Rolle <strong>de</strong>r Gewerkschaften und <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen Partei eher von europäischem Zuschnitt war. Die meisten Anarchisten entstammten <strong>de</strong>r<br />
Arbeiterbewegung und hatten einen soli<strong>de</strong>n sozialistischen Hintergrund. Anarchosyndikalistische Praxis<br />
verfing hier weit mehr als die reine anarchistische Philosophie. Während<br />
295
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<strong>de</strong>r ersten Jahrzehnte spielten die Libertären eine Art Oppositionsrolle in <strong>de</strong>n australischen<br />
Gewerkschaften, später bereichert durch <strong>de</strong>n Einfluß <strong>de</strong>r IWW, <strong>de</strong>r über die australischen Seehäfen auf<br />
<strong>de</strong>n fünften Kontinent gelangte. Die Bewegung brachte einige populäre Gestalten hervor, wie William<br />
Lerne, <strong>de</strong>r 1892 <strong>de</strong>n vielgelesenen Roman "Workingman's Paradise" schrieb o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n talentierten und<br />
wortgewaltigen Organisator J. W. Fleming. Beim Kriegseintritt Australiens 1914 bil<strong>de</strong>ten die Anarchisten<br />
die einzige ernstzunehmen<strong>de</strong> antimilitaristische Opposition, wobei das große Engagement von Frauen<br />
beson<strong>de</strong>rs auffällig war.<br />
Immer wie<strong>de</strong>r gab es auch libertäre Intellektuelle, von <strong>de</strong>nen sich einige anschickten, die freiheitlichen<br />
Wurzeln zu untersuchen, die die sanften Lebenszusammenhänge <strong>de</strong>r australischen Ureinwohner<br />
auszeichnen, <strong>de</strong>ren archaische Gesellschaft auf gegenseitiger Hilfe aufbaut und keine Herrscher kennt.<br />
Diese Aborigines rückten durch die Verfolgungen, <strong>de</strong>nen sie durch die weißen Eindringlinge ausgesetzt<br />
waren, zunehmend in <strong>de</strong>n Mittelpunkt <strong>de</strong>r Aufmerksamkeit und bil<strong>de</strong>n heute ein wichtiges Feld libertären<br />
Engagements. Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite bil<strong>de</strong>te auch <strong>de</strong>r traditionell-australische Habitus <strong>de</strong>s unabhängigen<br />
und obrigkeitsfeindlichen Outback-Pioniers, <strong>de</strong>r von jeher Elemente einer ebenso individualistischen wie<br />
rebellischen Dickköpfigkeit aufwies, einen guten Nährbo<strong>de</strong>n für libertäre I<strong>de</strong>en und begünstigte die<br />
Entwicklung <strong>de</strong>r Bewegung. Die I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>s weißen Australien entstand schließlich aus einer<br />
Strafkolonie! Das klassische Einwan<strong>de</strong>rungsland wur<strong>de</strong> seit <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> ungezählten<br />
Immigranten zur neuen Heimat, unter ihnen viele politisch Verfolgte, die sich eifrig in ihren jeweiligen<br />
Gruppen organisierten und zum Entstehen einer vielsprachigen libertären Presse beitrugen.<br />
Der australische Anarchismus führte - bedingt durch die geografische Isolation - ein recht unspektakuläres<br />
Eigenleben, das naturgemäß schwache Bindungen an die Bewegung im Westen entwickelte. Eine <strong>de</strong>r<br />
lan<strong>de</strong>stypischen Varianten, die ihn bis heute hervorhebt, ist sein reiches Repertoire an ländlichen<br />
Kommune- und Siedlungsexperimenten, was in einem solch großflächigen Land nicht erstaunt, in <strong>de</strong>m<br />
<strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n billig ist und die Regierung weit. Während anarchistische Gewerkschafter in <strong>de</strong>n großen<br />
Städten Streiks organisierten, gab es in Australien schon immer auch Individualisten, die in Gruppen aufs<br />
Land zogen, um auf irgen<strong>de</strong>iner Farm <strong>de</strong>s Hinterlan<strong>de</strong>s zu versuchen, das anarchistische I<strong>de</strong>al praktisch<br />
umzusetzen.<br />
Projektanarchismus<br />
Wir können unseren Querschnitt durch das politische Leben <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit nicht been<strong>de</strong>n, ohne<br />
einen Blick auf eine wichtige, aber schwer <strong>de</strong>finierbare libertäre Ten<strong>de</strong>nz geworfen zu haben, <strong>de</strong>ren<br />
Benennung schon <strong>de</strong>shalb schwerfällt, weil sie keinen eigenen Namen hat. Die Re<strong>de</strong> ist von <strong>de</strong>n vielen<br />
kleinen sozialen Exponenten, die uns bisher schon <strong>de</strong>s öfteren begegnet sind. Jenen Siedlungen und<br />
Kommunen, Selbsthilfegruppen und Kooperativen, Schulen, Farmen, Lä<strong>de</strong>n, Kneipen,<br />
Handwerksbetrieben und selbstverwalteten Kollektiven, die im libertären Sinne versuchen, als soziale<br />
Experimente schon hier und heute ein Stück vorweggenommener Utopie zu leben. Projekte, die<br />
unspektakulär und<br />
296<br />
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weitgehend legal ohne die Begleitumstän<strong>de</strong> von Revolten und Volkserhebungen geboren wer<strong>de</strong>n und<br />
vielleicht gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb die interessanteren Versuche sind. Es hat sie seit jeher gegeben, und sie haben<br />
<strong>de</strong>n Mainstream-Anarchismus zu allen Zeiten begleitet. Da sie aber nie selber "Mainstream" waren, lange<br />
Zeit keine eigene Theorie und viel weniger eine geschlossene Strategie entwickelten, kamen sie auch zu<br />
keinem historischen Namen. Angesichts <strong>de</strong>r holprigen Vokabel "Anarchosyndikalismus" mag man<br />
darüber sogar erfreut sein... In Ermangelung einer besseren Alternative möchte ich <strong>de</strong>n nicht weniger<br />
sprö<strong>de</strong>n Begriff "Projektanarchismus" verwen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sich in unseren Tagen einzubürgern beginnt.
Das Fehlen einer eigenen Theorie und Strategie ist zum einen daraus erklärbar, daß sich diese Strömung<br />
kaum je als Konkurrenzmo<strong>de</strong>ll zu an<strong>de</strong>ren libertären Richtungen verstan<strong>de</strong>n hat, son<strong>de</strong>rn eher als <strong>de</strong>ren<br />
Ergänzung o<strong>de</strong>r Umsetzung. Zum an<strong>de</strong>ren neigen praktisch veranlagte Menschen - und genau solche<br />
waren und sind die Promotoren* solcher Projekte - weniger zum Theoretisieren. Während manche<br />
Anarchisten ihr halbes Leben damit verbringen, die Frage zu erörtern, ob eine Revolution die<br />
Voraussetzung für ein an<strong>de</strong>res Leben ist o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>res Leben die Voraussetzung <strong>de</strong>r Revolution, pflegen<br />
die ›Pragmatiker‹ mit <strong>de</strong>n Schultern zu zucken und mit <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung zu beginnen. Sie sind<br />
gewöhnlich <strong>de</strong>r Auffassung, daß Revolution und Beginnen etwas miteinan<strong>de</strong>r zu tun haben und sich<br />
wechselseitig bedingen.<br />
"Beginnen" lautet auch <strong>de</strong>r Titel eines Buches von Gustav Landauer, das <strong>de</strong>ssen gesammelte Schriften<br />
zum Aufbau <strong>de</strong>s "Sozialistischen Bun<strong>de</strong>s" enthält. Der von <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie zum Anarchismus<br />
gekommene Landauer, Philosoph, Übersetzer und auf <strong>de</strong>r Suche nach einer Alternative zum<br />
Parteisozialismus einerseits und zur blin<strong>de</strong>n Militanz an<strong>de</strong>rerseits. Platte Propaganda überzeugte <strong>de</strong>n<br />
sanften Pazifisten ebensowenig wie dumpfe Massenbewegung. Er zählte auf die Initiative selbstbewußter,<br />
aktiver Individuen. Sein breit angelegtes Projekt, zwischen 1906 und 1915 konzipiert, sollte zu einer<br />
großen Siedlungsbewegung wer<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>r eine organisierte Welle von ›Aussteigern‹ <strong>de</strong>n Staat nicht<br />
zerschlägt, son<strong>de</strong>rn ihm von innen her die Kräfte entzieht. Gleichzeitig sollte sie eine blühen<strong>de</strong><br />
Alternative entwickeln, die attraktiv genug wäre, immer mehr Menschen dazu zu bringen, <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Gesellschaft einfach <strong>de</strong>n Rücken zu kehren. Je weiter ein solches Projekt gediehen sei,<br />
<strong>de</strong>sto schwerer wäre es zu bekämpfen o<strong>de</strong>r zu zerschlagen. Dem Titel seines Buches entsprechend, tat<br />
Landauer alles, um zu beginnen. Tatsächlich entstan<strong>de</strong>n im Vorkriegs<strong>de</strong>utschland einige<br />
vielversprechen<strong>de</strong> Ansätze. Es bil<strong>de</strong>ten sich Gruppen, und man begann Land zu kaufen, Höfe aufzubauen<br />
und Siedlungen zu grün<strong>de</strong>n. Bis 1914 entstand eine Grundstruktur <strong>de</strong>s Sozialistischen Bun<strong>de</strong>s, von <strong>de</strong>r<br />
einiges zu erwarten gewesen wäre. Der Krieg aber zerstörte das noch dünne Netz, und Landauer selbst,<br />
<strong>de</strong>r sich in <strong>de</strong>r Münchner Räterepublik als Volkskommissar für Bildung hervorgetan hatte, wur<strong>de</strong> 1918<br />
beim Einmarsch <strong>de</strong>r Regierungstruppen in einem Gefängnishof von johlen<strong>de</strong>n Soldaten gelyncht.<br />
Kaum einer von <strong>de</strong>nen, die sich in <strong>de</strong>r weltweiten Aufbruchbewegung <strong>de</strong>r sechziger Jahre auf die Suche<br />
nach alternativen Lebensformen begaben, die Landkommunen, Wagen-<br />
297<br />
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siedlungen, Wohngemeinschaften, Alternativbetriebe und Stadtteilprojekte aufbauten, hatte jemals seinen<br />
Namen gehört. Als nach <strong>de</strong>n Hippies und <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntenrevolte die "Alternativbewegung" zu einem Trend<br />
wur<strong>de</strong>, wur<strong>de</strong>n auch Landauers Schriften wie<strong>de</strong>r aufgelegt – von "Alternativverlagen", wie sich versteht.<br />
Viele, die damals glaubten, das "Aussteigertum" sei ihre eigene Erfindung, stellten mit Erstaunen fest, daß<br />
die "Alternatives" einen frühen Vorläufer hatten, <strong>de</strong>r zu<strong>de</strong>m noch viel weiter vorausgedacht hatte als sie<br />
selbst.<br />
Nicht nur das. Die Zwischenkriegszeit erlebte auch schon eine erste Blüte solcher Projekte, die wir heute<br />
"alternativ" nennen wür<strong>de</strong>n, die aber mittlerweile so gut wie vergessen sind. Deutschland erlebte während<br />
<strong>de</strong>r Weimarer Republik einen regelrechten Boom an sozialen, politischen, ökonomischen und<br />
lebensreformerischen Projekten und stand damit nicht allein. In vielen Län<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> begannen mehr<br />
Menschen <strong>de</strong>nn je, sozial zu experimentieren.<br />
Ein Schüler und enger Freund Landauers, <strong>de</strong>r libertär-religiöse Sozialphilosoph Martin Buber, emigriert<br />
1938, von <strong>de</strong>n Nationalsozialisten verfolgt, nach Palästina. Dort war im Schatten <strong>de</strong>r großen Politik seit<br />
vielen Jahrzehnten ein soziales Projekt im Gange, das weltweite Aufmerksamkeit erregen sollte. 1882<br />
kamen die ersten jüdischen Einwan<strong>de</strong>rer ins Land, um gemäß <strong>de</strong>r zionistischen I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>m Volk Israels<br />
wie<strong>de</strong>r eine Heimat zu schaffen. Die blutige Geschichte <strong>de</strong>s israelischen Staates und <strong>de</strong>r ethnisch*nationale<br />
Konflikt mit <strong>de</strong>m palästinensischen Volk wäre <strong>de</strong>n Menschen vermutlich erspart geblieben,<br />
wenn sich die libertäre Tradition <strong>de</strong>r jüdischen Sozialbewegung behauptet hätte, zu <strong>de</strong>ren Inspiratoren
Landauer und Buber zählten.<br />
Schon mit <strong>de</strong>r ersten Einwan<strong>de</strong>rungswelle von 1882 entstehen landwirtschaftliche Kolonien, die ab 1921<br />
zunehmend durch einen neuen Typ, die Moschawim, abgelöst wer<strong>de</strong>n: genossenschaftliche<br />
Siedlungsdörfer mit Gemeinbesitz an Bo<strong>de</strong>n und kollektiver Vermarktung, frei von Lohnarbeit, aber mit<br />
<strong>de</strong>r Pflicht zu gegenseitiger Hilfeleistung. Erste Kibbuzim folgen, Siedlungen, die neben <strong>de</strong>r<br />
Landwirtschaft auch Handwerk, Verarbeitung und Industrie betreiben, und in <strong>de</strong>nen alles allen gehört.<br />
Diese Kleindörfer erstreben eine weitgehen<strong>de</strong> Autarkie: Der Kibbuz ist allen Bedürfnissen seiner<br />
Mitglie<strong>de</strong>r verpflichtet, einschließlich Bildung, Gesundheit, Unterhaltung, Kin<strong>de</strong>r- und Altenpflege. Je<strong>de</strong>r<br />
Kibbuz ist autonom und beruht auf freiwilliger Mitgliedschaft. Zur Überraschung zahlreicher Skeptiker<br />
erweist sich diese Lebensform nicht nur für gestan<strong>de</strong>ne Linke als attraktiv. Sie entstehen in bunter<br />
Vielfalt: sozialistisch, libertär, religiös, atheistisch, apolitisch. Auch wirtschaftlich sind sie ausgesprochen<br />
erfolgreich und bil<strong>de</strong>n bald ein ebenso dichtes wie stabiles Netz. Das Entstehen dieser Bewegung ist auf<br />
<strong>de</strong>n Einzug fortschrittlicher I<strong>de</strong>en zurückzuführen, die mit <strong>de</strong>r zweiten und dritten Einwan<strong>de</strong>rungswelle<br />
ins Land kommen. Unter diesen überwiegend politisch motivierten Ju<strong>de</strong>n aus Rußland, Polen, Rumänien,<br />
Deutschland und <strong>de</strong>r Ukraine gab es neben Sozialisten auch Libertäre aller Couleur. Sie bringen die I<strong>de</strong>en<br />
von Kropotkin und Landauer mit und auch <strong>de</strong>n Mythos <strong>de</strong>r untergegangenen Machnotschina. Das bleibt<br />
nicht ohne Folgen. Auch in <strong>de</strong>n Arbeitervierteln<br />
298<br />
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<strong>de</strong>r Städte, im Gewerkschaftsverband Histadrut, in <strong>de</strong>r großen Kultur und im täglichen Leben, im<br />
Bildungswesen und in <strong>de</strong>n Medien wird <strong>de</strong>r libertäre Standpunkt zu einem festen Bestandteil <strong>de</strong>r<br />
öffentlichen Meinung. Und <strong>de</strong>r besagt mit fast prophetischer Weitsicht, daß die beabsichtigte Gründung<br />
eines Staates Israel ein verhängnisvoller Fehler wäre. Führen<strong>de</strong> Intellektuelle wie Buber plädierten<br />
statt<strong>de</strong>ssen für eine offene Fö<strong>de</strong>ration aller Volks- und Religionsgruppen auf <strong>de</strong>r Basis kommunaler<br />
Selbstverwaltung. Eine solche sanft-libertäre Lösung aber scheint nach <strong>de</strong>m Holocaust und <strong>de</strong>r politischen<br />
Polarisierung <strong>de</strong>r Lage während <strong>de</strong>r britischen Mandatsschaft in Palästina nicht mehr durchsetzbar.<br />
Mehrheitsfähig ist sie unter <strong>de</strong>n zahlreichen Neueinwan<strong>de</strong>rern auch nicht mehr. So bekommen die Ju<strong>de</strong>n<br />
schließlich ihren eigenen Nationalstaat, in <strong>de</strong>m sie am En<strong>de</strong> ihr einziges Heil erblickten. Mit ihm<br />
bekamen sie auch eine endlose Kette von Tragödien.<br />
Die Frage, wie die Entwicklung im Nahen Osten verlaufen wäre, wenn sich das libertäre Mo<strong>de</strong>ll hätte<br />
durchsetzen können, ist eine verlocken<strong>de</strong> Spekulation. Fesseln<strong>de</strong>r noch wäre die Frage nach <strong>de</strong>n<br />
Auswirkungen, die <strong>de</strong>r Triumph eines solchen, sagen wir ruhig "projektanarchistischen Ansatzes", für das<br />
Schicksal politischer Utopien allgemein hätte haben können. Martin Buber, Autor <strong>de</strong>s Buches "Pfa<strong>de</strong><br />
durch Utopia", hätte darauf gewiß eine Antwort gewußt.<br />
Die Palette libertärer Projekte erschöpft sich nicht im Sozialistischen Bund o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Kibbuzim in<br />
Palästina, und Gustav Landauer ist nur einer von vielen geistigen Paten. Die Eckwerte solcher<br />
Experimente fin<strong>de</strong>n sich in vielen praktischen Initiativen wie<strong>de</strong>r, die in <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit beson<strong>de</strong>rs<br />
stark sprossen: freies Leben, nachvollziehbare Beispielhaftigkeit, Einklang mit <strong>de</strong>r Natur, gemeinsames<br />
Wirtschaften, selbstbestimmte Arbeit, kreatives Lernen, solidarisches Verhalten, individueller Freiraum,<br />
aktive Aktion, passiver Wi<strong>de</strong>rstand, vielfältige Kultur, Offenheit und Respekt vor <strong>de</strong>r Einzigartigkeit<br />
je<strong>de</strong>s Menschen und natürlich auch <strong>de</strong>r Eigenheit von Frauen und Kin<strong>de</strong>rn. Die Größe solcher<br />
Unternehmungen war sehr unterschiedlich, ihre Qualitäten auch, genauso wie ihre Einbindung in die<br />
anarchistische Bewegung. Vor allem aber war sie stets offen für die unterschiedlichsten Impulse. Die<br />
britische Gartenstadtbewegung wirkte da ebenso inspirierend wie Leo Tolstois anarchopraktische<br />
Lebensweise, <strong>de</strong>r experimentelle Landbau <strong>de</strong>s Pioniers Bernhard Kampffmeyer, das ästhetisieren<strong>de</strong><br />
Kunsthandwerk eines William Morris o<strong>de</strong>r das Erziehungswerk von Francisco Ferrer und Sébastien<br />
Faure. Die atheistischen Frei<strong>de</strong>nker trugen zu diesem esprit libertaire bei, ebenso die Esperantisten,<br />
Nudisten*, Vegetarier, Freireligiöse o<strong>de</strong>r Rohköstler. In <strong>de</strong>r Tessiner Künstlerkolonie von Monte Veritä<br />
war dieser Geist zu Hause, gera<strong>de</strong>so wie in <strong>de</strong>r frühökologischen "Naturwarte" von Paul Robien, <strong>de</strong>n<br />
Marmorkooperativen von Carrara o<strong>de</strong>r jener genossenschaftlichen Glasfabrik, die CNT-Aktivisten 1926
im katalanischen Mataró grün<strong>de</strong>ten. Und natürlich auch in <strong>de</strong>r kleinen Münchner Mietwohnung, in <strong>de</strong>r<br />
Erich Mühsam mit seinen Bohemefreun<strong>de</strong>n einst versuchte, ein Projekt aufzuziehen, das sich mit <strong>de</strong>r<br />
Reparatur und <strong>de</strong>m Verkauf gebrauchter Schuhe befaßte, um so genug Geld für das Freibier zu<br />
erwirtschaften, das man<br />
299<br />
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<strong>de</strong>n Stadtstreichern auf anarchistischen Versammlungen spendierte. Mühsams Projekt scheiterte übrigens,<br />
während die Fabrik von Mataró bis heute existiert.<br />
Die Blüte <strong>de</strong>s Anarchismus in <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit war im gleichen Maße eine Blüte <strong>de</strong>s<br />
Projektanarchismus wie <strong>de</strong>s Syndikalismus, die genau genommen auch nicht voneinan<strong>de</strong>r zu trennen sind.<br />
Schließlich ist die anarchistische Gewerkschaftsi<strong>de</strong>e nichts weiter als ein auf die Arbeitswelt angewandter<br />
›projektanarchistischer‹ Ansatz. Allerdings war <strong>de</strong>r Projektanarchismus stets wenig spektakulär und daher<br />
kein Medienereignis. Das gilt auch für das große anarchosyndikalistische Experiment <strong>de</strong>r<br />
Zwischenkriegszeit und erklärt vielleicht, warum so viele Menschen immer wie<strong>de</strong>r die Spanische<br />
Revolution mit <strong>de</strong>m Spanischen Bürgerkrieg verwechseln: Der Krieg wur<strong>de</strong> zum Spektakel, die libertäre<br />
Revolution wur<strong>de</strong> kaum wahrgenommen. Sie war ein Prozeß von dreißig Jahren, <strong>de</strong>r zunächst auf leisen<br />
Sohlen daherkam, um dann in einem großen Knall zu kulminieren*. Nach ›projekt-anarchistischer‹<br />
Auffassung macht in<strong>de</strong>s nicht <strong>de</strong>r Knall die Revolution aus, son<strong>de</strong>rn all das zusammen: ›Projekte‹, soziale<br />
Bewegung, Krise, Revolte, Umsturz — volià, das einfachste Grundrezept für eine Revolution, die diesen<br />
Namen verdient.<br />
1936 sollte die Welt Zeuge einer solchen Revolution wer<strong>de</strong>n.<br />
Literatur: <strong>Horst</strong> Karasek (Hrsg.): Haymarket! Die <strong>de</strong>utschen Anarchisten von Chicago Berlin 1975,<br />
Wagenbach, 191 S., ill. / Pierre Ramus: Der Justizmord von Chicago Wien, Graz, Köln 1922, Erkenntnis<br />
und Befreiung, 175 S. / Jeremy Brecher: Amerikanische Arbeiterbewegung 1877-1970 Frankfurt/M.<br />
1975, Fischer, 282 S. / Gisela Bock: Die ›an<strong>de</strong>re‹ Arbeiterbewegung in <strong>de</strong>n USA von 1905-1922<br />
München 1976, Trikont, 197 S. / Louis Adamic: Dynamit! Geschichte <strong>de</strong>s Klassenkampfes in <strong>de</strong>n USA<br />
1880-1930 München 1974, Trikont, 412 S., ill. / Augustin Souchy: Schreckensherrschaft in Amerika<br />
Berlin o.J., Der Syndikalist, 144 S., ill. / Helmut Ortner: Der Justizmord: Sacco und Vametti Frankfurt/M.<br />
1988, Zambon, 287 S. / Emma Goldman; Gelebtes Leben (Memoiren, 3 B<strong>de</strong>.) Berlin 1978 - 1980, Karin<br />
Kramer, 1472 S., ill. / Alexan<strong>de</strong>r Berkman: Die Tat. Gefängniserinnerungen eines Anarchisten<br />
Frankfurt/M. 1976, Freie Gesellschaft, 370 S. / Walter Bittner: Gewerkschaften in Argentinien: Vom<br />
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Argentinische Geschichte im Überblick (28 S.), in: Dirk Bruns (Hrsg.): Argentinien Rie<strong>de</strong>n/Allg. 1988,<br />
Mundo, 4818., ill. / <strong>de</strong>rs.: Mör<strong>de</strong>r und Märtyrer (29 S., zu Argentinien), in: <strong>de</strong>rs.: Leben ohne Chef und<br />
Staat, vgl. Kap. 30! / <strong>de</strong>rs.: Das Erdbeben und <strong>de</strong>r frische Wind (29 S., zu Mexiko), ebda. / Dittmar<br />
Dahlmann: Land und Freiheit -Machnovscina und Zapatismo als Beispiele agrarrevolutionärer<br />
Bewegungen vg!, Kap. 30! / Sam Dolgoff: Leuchtfeuer in <strong>de</strong>r Karibik - eine libertäre Betrachtung <strong>de</strong>r<br />
kubanischen Revolution Berlin 1983, Libertad, 316 S. / Daniel Guerin: Der Anarchismus in <strong>de</strong>n<br />
italienischen Fabrikräten in: <strong>de</strong>rs.: Anarchismus vgl, Kap. 1! / Justus F. Wittkop: Ein exemplarischer*<br />
Anarchist (zu Malatesta) in; <strong>de</strong>rs,: Unter <strong>de</strong>r schwarzen Fahne, vgl, Kap. 1! / Klaus Haag: Anarchismus in<br />
China Meppen 1977, Ems-Kopp, 98 S., ill / N.N.: Anarchistische Bewegung in China lyoo -1972<br />
Karlsruhe o.J. (1977?), Laubfrosch, 50 S., ill. / Le Libertaire Group (Hrsg.): A Short History Of The<br />
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über <strong>de</strong>n Jungen Ösugi Sakae und <strong>de</strong>n Meifi-Sozialismus zwischen Sozial<strong>de</strong>mokratie und Anarchismus<br />
Hamburg 1981, Ges. f. Natur- und Volkskun<strong>de</strong>, 542 S. / Ito Noe: Wil<strong>de</strong> Blume auf unfreiem Feld<br />
-Feminismus und Anarchismus in Japan Berlin\1978, Karin Kramer, 183 S., ill. / Ha Ki-Rak: A History of<br />
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Anarchism in Australia - An Anthology Parkville 1986, Selbstverlag, 232 S. / Gustav Landauer: Beginnen<br />
Wetzlar 1977, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 134 S. / Siegbert Wolf: Martin Kuber zur Einführung Hamburg 1992,
Junius, 214 S. / N.N.; Martin Buber - Leben, Werk und Wirkung o.O. (Mannheim?) 1978, Ges. f.<br />
christlich-jüdische Zusammenarbeit, 144 S., ill. / Augustin Souchy: Im Lan<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Kibbuz in: <strong>de</strong>rs.:<br />
Vorsicht Anarchist! Darmstadt und Neuwied 1977, Luchterhand, 286 S.<br />
300<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Kapitel 34<br />
Der kurze Sommer <strong>de</strong>r Anarchie –<br />
Revolution in Spanien<br />
Durch seine Psychologie, sein Temperament und seine Reaktionen<br />
war <strong>de</strong>r Anarchismus <strong>de</strong>r spanischste Teil von ganz Spanien<br />
- Jose Peirats -<br />
EINE ALTE, VORNEHME UND SEHR KATHOLISCHE DAME aus Barcelona erzählte mir vor Jahren<br />
folgen<strong>de</strong>s aus ihrer Erinnerung: "Ja, ja, die Anarchisten. An die kann ich mich noch gut erinnern. Das<br />
waren ja wil<strong>de</strong> Gestalten. Aber eines muß man ihnen lassen: Die U-Bahn fuhr nie so pünktlich wie zu<br />
ihrer Zeit!"<br />
Die Zeit <strong>de</strong>r Anarchisten liegt lange zurück. Aber sie hat Spuren hinterlassen, Erinnerungen und mehr als<br />
das. Die Erfahrung <strong>de</strong>r alten Dame ist nicht ohne Symbolik. Anarchisten als Organisatoren? Pünktlichkeit<br />
als anarchistische Tugend? Das klingt <strong>de</strong>m Bürger paradox. In Spanien aber sind solche Assoziationen bis<br />
heute keine Seltenheit. Noch immer ist das iberische Land in gewisser Weise ein anarchistisches Reservat,<br />
in <strong>de</strong>m selbst vierzig Jahre Franco-Diktatur <strong>de</strong>n libertären I<strong>de</strong>en nicht <strong>de</strong>n Garaus machen konnten. Dabei<br />
ist es natürlich nicht abwegig, Anarchie mit Organisation und Ordnung in Verbindung zu bringen -<br />
Konstruktivität ist Ziel und Quintessenz je<strong>de</strong>r libertären Utopie. Das, und nicht etwa Zerstörung, ist das<br />
Wesen <strong>de</strong>s Anarchismus. Wie wir gesehen haben, hatten die Anarchisten in ihrer Geschichte wenig<br />
Gelegenheiten zu zeigen, daß sie hierzu fähig seien.<br />
In Spanien bot sich diese Gelegenheit im sonnigen Sommer <strong>de</strong>s Jahres 1936. Er führte zu <strong>de</strong>m bisher<br />
umfassendsten und erfolgreichsten Experiment, in <strong>de</strong>m eine ganze Gesellschaft anarchisch organisiert war<br />
- und funktionierte. Das Experiment war grandios und tragisch zugleich. Es scheiterte nicht an seinen<br />
beträchtlichen inneren Wi<strong>de</strong>rsprüchen, son<strong>de</strong>rn ganz banal durch militärische Nie<strong>de</strong>rlage: Im Kampf<br />
gegen eine libertäre Gesellschaft waren sich Faschisten und Stalinisten völlig einig.<br />
Die Spanische Revolution hat die radikale Utopie von <strong>de</strong>r großen Freiheit frech auf die Tagesordnung<br />
gesetzt. Sie hat funktioniert und ist gescheitert. Hans Magnus Enzensberger hat dieses tragische<br />
Experiment auf einen treffen<strong>de</strong>n Begriff reduziert: "Der kurze Sommer <strong>de</strong>r Anarchie".<br />
Eine Revolution mit Vorgeschichte<br />
In jenem Sommer 1936 putschten in Spanien faschistisch orientierte Generäle gegen die legale Regierung<br />
<strong>de</strong>r jungen Spanischen Republik. Aber <strong>de</strong>r Schuß ging nach hinten los.<br />
Erst im Februar war eine Volksfront, die Frente Popular, durch Wahlen an die Macht gekommen. Sie<br />
hatte eine bürgerliche Koalitionsregierung abgelöst, die durch Korruption, Mißwirtschaft und eine<br />
verfehlte Sozialpolitik gründlich abgewirtschaftet hatte. Die stärkste soziale Kraft Spaniens, die<br />
Anarchosyndikalisten, waren an <strong>de</strong>r Volksfront schon aus Prinzip nicht beteiligt, hatten ihre Wahl aber<br />
indirekt unterstützt. Ihre mächtige Gewerk-
301<br />
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schaft, die Confe<strong>de</strong>ración Nacional <strong>de</strong>l Trabajo, hielt nichts von Parlamentarismus und bürgerlicher<br />
Demokratie. Ihr Ziel war <strong>de</strong>r socialismo libertario, und <strong>de</strong>r sei nicht über die Wahlurnen, son<strong>de</strong>rn nur<br />
durch soziale Umwälzung zu erreichen. In diesem Sinne wirkte die CNT seit dreißig Jahren auf <strong>de</strong>r<br />
iberischen Halbinsel. Die I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Anarchosyndikalismus mit ihrer ausgeklügelten Balance<br />
zwischen kleinen Schritten und großem Ziel war wohl in keinem an<strong>de</strong>ren Land so konsequent und<br />
erfolgreich umgesetzt wor<strong>de</strong>n wie in Spanien. Dadurch wur<strong>de</strong> die Confe<strong>de</strong>ración nicht nur zur<br />
wichtigsten Gewerkschaft, son<strong>de</strong>rn gleichzeitig zu einem wirkungsvollen Verstärker <strong>de</strong>r seit langem<br />
vorhan<strong>de</strong>nen libertären Traditionen <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s. Libertäre Utopien einer an<strong>de</strong>ren Gesellschaft waren<br />
Bauern ebenso geläufig wie Intellektuellen, Technikern, Angestellten und vor allem <strong>de</strong>n Arbeitern. Dem<br />
kommunistischen Gesellschaftsentwurf <strong>de</strong>r Sowjetunion stand das spanische Proletariat ablehnend<br />
gegenüber - man wollte Sozialismus und Freiheit. Die Kommunistische Partei Spaniens zählte 1936 etwa<br />
30.000 Mitglie<strong>de</strong>r, die CNT an die zwei Millionen.<br />
Der spanische Anarchismus<br />
Der mo<strong>de</strong>rne spanische Anarchismus war das Produkt einer doppelten Entwicklung, die mit jener<br />
folgenreichen Reise begann, die Fanelli 1868 im Auftrage Bakunins nach Barcelona und Madrid führte:<br />
Im rückständigen ländlichen Spanien war <strong>de</strong>r agrarische Kollektivismus seit jeher eine eigenständige<br />
Größe gewesen - die Antwort <strong>de</strong>r Landarbeiter auf die Allmacht <strong>de</strong>r Latifundistas. In <strong>de</strong>n<br />
hochentwickelten Industriezentren <strong>de</strong>s Nor<strong>de</strong>ns hingegen war ein mo<strong>de</strong>rnes Proletariat entstan<strong>de</strong>n:<br />
selbstbewußt, kämpferisch und offen für neue I<strong>de</strong>en. An bei<strong>de</strong>n Orten fällt die Botschaft auf fruchtbaren<br />
Bo<strong>de</strong>n, und bald <strong>de</strong>cken die Syndikate <strong>de</strong>r CNT <strong>de</strong>n Agrarbereich ebenso ab wie Industrie und Handwerk.<br />
Bei <strong>de</strong>n Bauern in Andalusien, <strong>de</strong>r Levante, Aragon und Zaragoza rennt die CNT beinahe offene Türen<br />
ein. Hier ist die Tradition von gemein<strong>de</strong>eigenem Bo<strong>de</strong>n und kollektiver Wirtschaftsweise noch in Resten<br />
vorhan<strong>de</strong>n, hier ist die Auflehnung gegen Landbarone, Kirche und Obrigkeit ein Stück eigene I<strong>de</strong>ntität.<br />
Die kleinen volkstümlichen Broschüren eines Jose Sanchez Posa, die von Dorf zu Dorf ziehen<strong>de</strong>n<br />
anarchistischen ›Wan<strong>de</strong>rprediger‹, die vermehrten Streiks <strong>de</strong>r Tagelöhner – all das führte nach<br />
Jahrzehnten zu einer fast messianischen Heilserwartung. Für viele Bauern lag dieses Heil im comunismo<br />
libertario.<br />
Das Ziel <strong>de</strong>r Industriearbeiter trägt zwar <strong>de</strong>nselben Namen, dahinter verbergen sich allerdings etwas<br />
an<strong>de</strong>re Vorstellungen. Der Syndikalismus in <strong>de</strong>n großen Städten ist nicht nur weniger romantisch, er wird<br />
auch zunehmend praktischer. Die frühen apologetischen* Autoren kommen aus <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong> und machen<br />
einer neuen Generation von Theoretikern und Aktivisten Platz, die mit bei<strong>de</strong>n Beinen im zwanzigsten<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rt stehen. Während auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> das I<strong>de</strong>al einer selbstgenügsamen dörflichen Kommune à la<br />
Kropotkin das Leitbild bleibt, erfährt die syndikalistische Theorie in <strong>de</strong>n Industrieregionen eine<br />
Mo<strong>de</strong>rnisierung, die sich <strong>de</strong>r Wirklichkeit einer Massengesellschaft <strong>de</strong>s zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rts stellt.<br />
Barcelona o<strong>de</strong>r Madrid lassen sich nicht wie eine Landkommune verwalten, und die<br />
302<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Wirtschaft eines Lan<strong>de</strong>s ist weit komplexer als <strong>de</strong>r Austausch von Weizen und Wein zwischen zwei<br />
Dörfern. Eine solche Erneuerung be<strong>de</strong>utet eine Abkehr von idyllischen aber unverbindlichen Visionen<br />
und eine Hinwendung zum Praktischen und mün<strong>de</strong>t schließlich in handfesten Plänen, Strukturen und<br />
Programmen.<br />
Diese Mo<strong>de</strong>rnisierung führte im libertären Lager zu Spannungen - nicht nur zwischen Stadt und Land,<br />
son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>n Industriesyndikaten selbst. Die Ursachen lagen in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>likaten Balanceakt<br />
zwischen populärer Massenbewegung und revolutionärem Anspruch, die <strong>de</strong>m Anarchosyndikalismus
eigen ist; man könnte auch sagen: zwischen Pragmatik und Utopie. Als mögliche Lösung hierfür bot sich<br />
die 1927 gegrün<strong>de</strong>te Fe<strong>de</strong>racion Anarquista Iberica an, die ihre Aufgabe darin sah, "die Integrität <strong>de</strong>r<br />
anarchistischen Lehre zu vertreten und zu verteidigen". Die Rolle dieser FAI war von Anfang an<br />
Gegenstand heftiger Kontroversen. Von <strong>de</strong>n reformistischen Kräften wur<strong>de</strong> sie als politische Avantgar<strong>de</strong><br />
verspottet, vom revolutionären Flügel als notwendige Ergänzung zur reinen Gewerkschaftsarbeit<br />
enthusiastisch begrüßt. In Wirklichkeit war sie we<strong>de</strong>r von ihrer Struktur noch von ihrem Selbstverständnis<br />
her mit einer Leninschen Avantgar<strong>de</strong>partei vergleichbar. Sie war zwar eng mit <strong>de</strong>r CNT verbun<strong>de</strong>n,<br />
respektierte aber <strong>de</strong>ren Autonomie und befaßte sich mit Aufgaben, die jenseits <strong>de</strong>s gewerkschaftlichen<br />
Bereiches und oft auch außerhalb <strong>de</strong>r Legalität lagen. Im Grun<strong>de</strong> han<strong>de</strong>lte es sich um einen späten Aufguß<br />
<strong>de</strong>r Bakuninschen I<strong>de</strong>e, daß innerhalb einer sozialen Bewegung politisch entschlossene Menschen eine<br />
Art Katalysatorfunktion übernehmen müßten, wenn diese nicht im platten Reformismus versan<strong>de</strong>n sollte.<br />
Entsprechend Bakunins For<strong>de</strong>rung genossen die Aktivisten <strong>de</strong>r FAI we<strong>de</strong>r mehr Rechte o<strong>de</strong>r Privilegien,<br />
noch bil<strong>de</strong>ten sie eine Elite o<strong>de</strong>r Bürokratie.<br />
Es ist kaum von <strong>de</strong>r Hand zu weisen, daß die Rolle <strong>de</strong>r Anarchistischen Fö<strong>de</strong>ration in diesem Sinne<br />
för<strong>de</strong>rlich war. Ohne ihre Existenz hätte die CNT kaum die Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r gewaltsamen Verfolgung durch<br />
die pistoleros <strong>de</strong>s Unternehmerverban<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>n zwanziger Jahren überlebt, und 1936 sollte die FAI bei<br />
<strong>de</strong>r Organisierung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s gegen <strong>de</strong>n faschistischen Putsch eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielen.<br />
Man kann ihr auch schwerlich vorwerfen, daß sie die I<strong>de</strong>en einer abgehobenen Min<strong>de</strong>rheit vertrat - im<br />
Gegenteil. Die Mehrheit <strong>de</strong>r CNT stand hinter <strong>de</strong>m anarchistischen Ziel und verstand die FAI als eine Art<br />
verlängerten Arm <strong>de</strong>r Gewerkschaft. Der 1931 abgespaltene reformistische Flügel unter Angel Pestana,<br />
<strong>de</strong>r eine "Syndikalistische Partei" grün<strong>de</strong>te, blieb ohne Be<strong>de</strong>utung. Und kein Anarchist <strong>de</strong>r Geschichte<br />
dürfte je so populär gewesen sein wie <strong>de</strong>r Schlosser Buenaventura Durruti, <strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>rn und<br />
bekanntesten Aktivisten <strong>de</strong>r FAI gehörte. Als er 1936 zu Grabe getragen wur<strong>de</strong>, säumte eine halbe<br />
Million Trauern<strong>de</strong>r die Straßen Barcelonas.<br />
Jenseits aller inneren Konflikte bewies die CNT fast ständig, daß sie sich - auch ohne FAI - als<br />
revolutionäre Gewerkschaft verstand, insbeson<strong>de</strong>re in <strong>de</strong>n bewegten dreißiger Jahren. Nach<strong>de</strong>m die<br />
Monarchie abgewirtschaftet hatte und die Diktatur <strong>de</strong>s Mussolini-Bewun<strong>de</strong>rers Primo <strong>de</strong> Rivera mangels<br />
Masse bankrott ging, drängte die Basis <strong>de</strong>r Arbeiterschaft immer ungeduldiger auf einen sozialen<br />
Umsturz. Die wirtschaftliche Lage auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> war trostlos wie immer, und auch die Industriearbeiter<br />
spülten die Verelendung, die<br />
303<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
sie nach <strong>de</strong>n Jahren <strong>de</strong>s Booms befiel, <strong>de</strong>n Spanien als neutrales Land im Ersten Weltkrieg erlebt hatte.<br />
Der revolutionäre Generalstreik, die schärfste Waffe im syndikalistischen Arsenal, wur<strong>de</strong> nun auffallend<br />
oft eingesetzt und führte wie<strong>de</strong>rholt an <strong>de</strong>n Rand eines allgemeinen Umsturzes. Die Erhebung von Casas<br />
Viejas 1933 und <strong>de</strong>r Aufstand <strong>de</strong>r Minenarbeiter in Asturien 1934 zeigten, wie wichtig es war, für die<br />
Revolution gut vorbereitet zu sein.<br />
Was die Theorie anging, so hatte die CNT auf ihrem Kongreß von Zaragoza 1931 die nötige Vorarbeit<br />
geleistet und ein praktikables Programm verabschie<strong>de</strong>t. Namhafte Theoretiker und engagierte Praktiker<br />
hatten im Verein mit unzähligen Delegierten <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Industriezweige schon im Vorfeld dazu<br />
beigetragen, daß sich dieser Kongreß nicht in <strong>de</strong>r bloßen Bestätigung libertärer Ansichten erschöpfte,<br />
son<strong>de</strong>rn Vorschläge zu ihrer konkreten Umsetzung erarbeitete. So verabschie<strong>de</strong>ten die 649 Delegierten<br />
einen ziemlich klaren Abriß über wirtschaftliche Kooperation und die Strukturen einer direkten<br />
Demokratie. Mit einer bis dahin ungewohnten Genauigkeit wird das Funktionieren <strong>de</strong>r generalisierten<br />
Selbstverwaltung <strong>de</strong>finiert, von <strong>de</strong>r dörflichen Gemeinschaft über Stadtteilkomitees bis hin zu<br />
lan<strong>de</strong>sweiten Entscheidungen. Aufbauend auf <strong>de</strong>m vorhan<strong>de</strong>nen Netz <strong>de</strong>r Syndikate und <strong>de</strong>ren praktischer<br />
Erfahrung, sollte <strong>de</strong>r Wille <strong>de</strong>r Bevölkerung ebenso respektiert wer<strong>de</strong>n wie die Autonomie einer je<strong>de</strong>n<br />
Gemein<strong>de</strong>. So wird zwar ein Verrechnungs- und Tauschsystem zwischen Produzenten und Konsumenten<br />
entwickelt, aber die Teilnahme daran bleibt freiwillig; ebenso wird <strong>de</strong>n Kommunen die Möglichkeit<br />
eingeräumt, ganz auf das Prinzip <strong>de</strong>s Tauschs zu verzichten. Vor allem aber wer<strong>de</strong>n exakte Pläne
aufgestellt, wie die Schlüsselindustrien übernommen und in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Arbeiter funktionieren<br />
könnten.<br />
Die Anarchisten hatten ihre Hausaufgaben gemacht, jetzt brauchten sie nur noch auf einen günstigen<br />
Moment zu warten.<br />
Der 19. Juli 1936<br />
Dieser Moment kündigte sich im Sommer 1936 an. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Volksfrontregierung<br />
das Vertrauen <strong>de</strong>r unteren Schichten schon weitgehend verspielt. Man machte sich über die<br />
parlamentarischen Spielregeln lustig und begann ungefragt mit längst überfälligen sozialen Neuerungen.<br />
Die Zeichen <strong>de</strong>r Zeit stan<strong>de</strong>n schon vor <strong>de</strong>m Staatsstreich <strong>de</strong>r Generäle auf Soziale Revolution; er lieferte<br />
nur noch <strong>de</strong>n Anlaß, das Machtvakuum auszunutzen und die Initiative an sich zu reißen.<br />
Am 19. Juli bricht im ganzen Land ein generalstabsmäßig geplanter Putsch los, angezettelt von einer<br />
ultrarechten Koalition, in <strong>de</strong>r sich konservative Militärs, reaktionäre Klerikale, verunsicherte<br />
Grundbesitzer, Königstreue und vor allem Vertreter <strong>de</strong>r Falange wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r spanischen Variante<br />
<strong>de</strong>s Faschismus. Planung und Ausführung liegt bei hochrangigen Armeekomman<strong>de</strong>uren, die über große<br />
Teile <strong>de</strong>s Heeres und schwere Waffen verfügen. Als ihr Führer setzt sich schon bald <strong>de</strong>r in Spanisch-<br />
Marokko stationierte Oberst Francisco Franco Bahamon<strong>de</strong> durch.<br />
304<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Angesichts <strong>de</strong>s Militärputsches verharrt die Regierung in Ratlosigkeit und Untätigkeit. Sie zau<strong>de</strong>rt und<br />
hält die loyalen Truppen in <strong>de</strong>n Kasernen. Innerhalb weniger Stun<strong>de</strong>n aber stellt sich die organisierte<br />
Arbeiterschaft <strong>de</strong>n Putschisten entgegen und ruft lan<strong>de</strong>sweit <strong>de</strong>n Generalstreik aus. Als einzige ihrer<br />
Organisationen verfügt die CNT über Waffen, Erfahrungen und einen Aktionsplan; Arbeiter aller<br />
politischen Richtungen orientieren sich an ihrem Beispiel. Wichtige Gebäu<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n besetzt, Barrika<strong>de</strong>n<br />
errichtet, <strong>de</strong>r Sturm auf die; Kasernen beginnt. Die Kämpfe scheinen aussichtslos. Mit Flinten, Revolvern<br />
und alten Karabinern gehen anarchistische Stoßtrupps gegen die Festungen <strong>de</strong>r Putschisten vor. Ihre<br />
selbstgebastelten Handgranaten sind von so schlechter Qualität, daß sie von <strong>de</strong>n Leuten imparciales<br />
genannt wer<strong>de</strong>n - die "Unparteiischen", weil sie angeblich genausooft diesseits wie jenseits <strong>de</strong>r Barrika<strong>de</strong><br />
explodieren. Dennoch: Die Generäle wanken, ziehen sich zurück, igeln sich ein. Die Arbeiter setzen zum<br />
Sturm an, erbeuten erste schwere Waffen, Soldaten laufen über. In diesen Stun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s stirbt<br />
die Blüte <strong>de</strong>r jungen libertären Aktivisten im Feuer <strong>de</strong>r Maschinengewehre. Beson<strong>de</strong>rs hoch ist <strong>de</strong>r<br />
Blutzoll bei <strong>de</strong>r FAI.<br />
Am folgen<strong>de</strong>n Tag ist <strong>de</strong>r Staatsstreich in <strong>de</strong>n wichtigsten Regionen gestoppt und bricht auch in <strong>de</strong>n<br />
meisten großen Städten innerhalb von zwei, drei Tagen zusammen. Staat und Regierung aber haben ihr<br />
Prestige verspielt und sind nur noch eine Karikatur ihrer selbst. In Katalonien liegt die Macht <strong>de</strong> facto in<br />
<strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Volkes, und die Menschen wußten, was sie damit anzufangen hatten. Niemand hört mehr<br />
auf die Generalität <strong>de</strong> Catalunya*, die politische Initiative liegt in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s "Komitees <strong>de</strong>r<br />
antifaschistischen Milizen".<br />
Dies ist <strong>de</strong>r Beginn einer parallelen Entwicklung: einerseits <strong>de</strong>s Spanischen Bürgerkrieges, <strong>de</strong>r drei Jahre<br />
dauern sollte und dank <strong>de</strong>r Hilfe Hitlers und Mussolinis letztlich doch mit <strong>de</strong>m Sieg <strong>de</strong>s Putschgenerals<br />
Franco über die Spanische Republik en<strong>de</strong>te. Er war <strong>de</strong>r verzweifelte Versuch, <strong>de</strong>n aufkommen<strong>de</strong>n<br />
Faschismus noch vor Beginn <strong>de</strong>s Zweiten Weltkrieges zu schlagen.<br />
An<strong>de</strong>rerseits ist <strong>de</strong>r 19. Juli 1936 die Geburtsstun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s bisher größten und erfolgreichsten Experiments<br />
allgemeiner Selbstverwaltung. Denn während <strong>de</strong>r Krieg tobte, wur<strong>de</strong> im Hinterland eine soziale<br />
Revolution verwirklicht, die sich anschickte, libertäre Utopien für Millionen von Menschen in eine<br />
alltägliche Realität umzusetzen. Obgleich sie erstaunliche Erfolge und wertvolle Erfahrungen lieferte,
lieb dieses konstruktive Werk <strong>de</strong>s "panischen Anarchismus bis heute weitgehend unbekannt. Es stand im<br />
Schatten <strong>de</strong>s Krieges, <strong>de</strong>r das Interesse <strong>de</strong>r Weltöffentlichkeit mehr zu fesseln vermochte als<br />
Selbstverwaltung in Industrie o<strong>de</strong>r Landwirtschaft.<br />
Die Revolution<br />
Nun zahlte sich die systematische Vorbereitung, die die CNT jahrzehntelang betrieben hatte, aus. Überall<br />
dort, wo die Anarchosyndikalisten <strong>de</strong>n Ton angaben - in Aragon, <strong>de</strong>r Levante, Teilen Kastiliens,<br />
Andalusiens, Asturiens und <strong>de</strong>r Estremadura, vor allem aber im<br />
305<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
hochindustrialisierten Katalonien - entstand binnen kürzester Frist eine funktionieren<strong>de</strong><br />
Selbstverwaltungswirtschaft, die die Grundlage für freiheitliche Strukturen auch in Verwaltung, Kultur<br />
und sozialem Zusammenleben bil<strong>de</strong>te. Von <strong>de</strong>r Kriegsführung bis zur Milchwirtschaft funktionierte<br />
plötzlich ein halbes Land nach an-archischen Organisationsmo<strong>de</strong>llen. Zum Erstaunen zahlloser<br />
Ökonomen und Theoretiker brach nicht das Chaos aus - im Gegenteil: Die Selbstverwaltung erwies sich<br />
als funktionstüchtig und leistungsfähig. Mit Phantasie und Improvisationstalent wur<strong>de</strong>n die massenhaft<br />
auftreten<strong>de</strong>n Probleme angepackt, Mängel ausgeglichen, Rückschläge überwun<strong>de</strong>n. Trotz <strong>de</strong>r ungünstigen<br />
Konstellation, ›nebenbei‹ auch noch einen Krieg führen zu müssen, konnten durchweg die sozialen<br />
Bedingungen <strong>de</strong>r Arbeit verbessert und gleichzeitig die Produktion erhöht wer<strong>de</strong>n.<br />
Es fehlt hier <strong>de</strong>r Platz, eine genaue Analyse dieses großen Experiments zu leisten. Wir können lediglich<br />
einige wichtige Charakteristika hervorheben. Im Gegensatz zum Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r kommunistischen Staaten<br />
war die Spanische Revolution nicht zentralistisch, we<strong>de</strong>r befohlen noch erzwungen, son<strong>de</strong>rn<br />
basis<strong>de</strong>mokratisch. In Betriebs- o<strong>de</strong>r Ortsversammlungen, <strong>de</strong>n mitínes und asambleas, bestimmten die<br />
Betroffenen selbst die Richtlinien ihres Lebens. Gewählte Delegierte waren verpflichtet, diesen<br />
Volkswillen umzusetzen und wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Basis kontrolliert; Mandatsträger unterlagen in <strong>de</strong>r Regel<br />
einer Rotation. Regelmäßig fan<strong>de</strong>n Kongresse <strong>de</strong>r Bauern- o<strong>de</strong>r Industriesyndikate statt, auf <strong>de</strong>nen die<br />
allgemeine Richtung festgelegt wur<strong>de</strong>. Sie schufen auch brauchbare Strukturen zur praktischen<br />
Durchführung <strong>de</strong>r Vorhaben und sorgten für die nötige Koordinierung. Pro Industriezweig wur<strong>de</strong> ein<br />
"Generalrat" eingesetzt; die Feinabstimmung erfolgte auf <strong>de</strong>r Ebene von Orts-, Kantonais- und<br />
Regionalräten. Auf <strong>de</strong>r untersten Ebene gab es <strong>de</strong>n consejo <strong>de</strong>s Dorfes o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Stadtteils. Auf diese<br />
Weise wur<strong>de</strong> die Herausbildung einer Bürokratie vermie<strong>de</strong>n und eine hohe Motivation und Effektivität<br />
erreicht.<br />
Selbst große Industriebetriebe wur<strong>de</strong>n von einem Komitee geleitet, <strong>de</strong>m kaum mehr als 10-15 Personen<br />
angehörten. Die Struktur dieser ›horizontalen Gesellschaft funktionierte somit nach <strong>de</strong>m Prinzip einer<br />
Vernetzung, die sich auf die bestehen<strong>de</strong>n Einrichtungen <strong>de</strong>r Gewerkschaften stützen konnte. Sie geschah<br />
parallel nach wirtschaftlichen und geografischen Kriterien, wobei Verwaltung und Koordination lediglich<br />
dort eingerichtet wur<strong>de</strong>n, wo sie nötig waren - z.B. im Verkehrswesen, im Export, bei Rohstoffen o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>m Solidarausgleich zwischen reichen und armen Kollektiven. In aller Regel war die Teilnahme an<br />
diesen Experimenten freiwillig. Wer zum Beispiel auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Kollektiv nicht beitreten wollte,<br />
konnte auch als "individualista" weiterwirtschaften, durfte aber nicht mehr Land besitzen, als er bestellen<br />
konnte. Ausbeutung sollte vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Allerdings kam er auch nicht in <strong>de</strong>n Genuß <strong>de</strong>r<br />
weitreichen<strong>de</strong>n Errungenschaften <strong>de</strong>r Revolution. So waren Lebensmittel, Miete, Elektrizität,<br />
medizinische Versorgung, Rentenanspruch und Schulbildung kostenlos.<br />
Vor allem aber war diese Revolution vielfältig. Verschie<strong>de</strong>nste Mo<strong>de</strong>lle existierten einträchtig<br />
nebeneinan<strong>de</strong>r: In einigen Gegen<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong> das Geld abgeschafft, und je<strong>de</strong>r konnte nach seinen<br />
Bedürfnissen von <strong>de</strong>m, was es gab, nehmen; in an<strong>de</strong>ren Gegen<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong> es<br />
306
--------------------------------------------------------------------------------<br />
beibehalten, teilweise wur<strong>de</strong>n auch Tausch- und Arbeitsbons eingeführt. In <strong>de</strong>r Industrie existierten<br />
ebenfalls verschie<strong>de</strong>ne Typen <strong>de</strong>r Selbstverwaltung: Kollektivierung, Sozialisierung und<br />
Arbeiterkontrolle, in <strong>de</strong>n unterschiedlichsten Spielarten.<br />
Nur wenige Tage nach <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschlagung <strong>de</strong>s Rutsches begann die Sozialisierung <strong>de</strong>r Industrie. In<br />
Katalonien erfaßte sie siebzig Prozent aller Unternehmen. Wo die Firmenleitung sich kooperationsbereit<br />
zeigte, wur<strong>de</strong>n "Komitees <strong>de</strong>r Arbeiterkontrolle" eingesetzt, ansonsten übernahm die Belegschaft <strong>de</strong>n<br />
Betrieb. In manchen Industriezweigen war die Sozialisierung flächen<strong>de</strong>ckend, so daß sie von <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaft völlig umstrukturiert und geordnet wer<strong>de</strong>n konnte.<br />
Noch während die Barrika<strong>de</strong>nkämpfe tobten, kollektivierten am 21. Juli 1936 die katalanischen<br />
Eisenbahner die Bahnen, am 25. Juli folgten die städtischen Verkehrsbetriebe. Schließlich wur<strong>de</strong> das<br />
gesamte Kommunikationswesen - Schiene, Straßentransport, öffentlicher Verkehr, Taxis, Telefon, Radio<br />
sowie Teile <strong>de</strong>s Schiffs- und Luftverkehrs - in Selbstverwaltung betrieben. Die größten Anstrengungen<br />
galten hierbei <strong>de</strong>r Verteilung von Lebensmitteln und Konsumgütern sowie <strong>de</strong>m Transport von Industrieund<br />
Kriegsmaterial. Auch von <strong>de</strong>n zahlreichen kleinen Dienstleistungsbetrieben und<br />
Kleingewerbetreiben<strong>de</strong>n führten die meisten spontan und mit fast kindlichem Elan auf eigene Faust die<br />
Kollektivierung ein. Vom Cafe bis zum Friseursalon betrieben die ehemaligen Angestellten ihren Betrieb<br />
nun in eigener Regie, wie beseelt vom Gefühl sozialer Verantwortung. Aus feinen Restaurants wur<strong>de</strong>n<br />
öffentliche Volksküchen, kostenlose Kin<strong>de</strong>rgärten entstan<strong>de</strong>n, Kellner und Taxifahrer wiesen Trinkgel<strong>de</strong>r<br />
als Beleidigung ihrer Wür<strong>de</strong> zurück. Das mondäne Hotel Ritz bot ein ungewohntes Bild. Milizionärinnen,<br />
Arbeiter in blauen Overalls, diskutieren<strong>de</strong> Gewerkschafter nahmen hier inmitten einer Schar tollen<strong>de</strong>r<br />
Kin<strong>de</strong>r ihr Aben<strong>de</strong>ssen ein.<br />
Handwerksbetriebe, Manufakturen und Unternehmen unter hun<strong>de</strong>rt Beschäftigten wur<strong>de</strong>n - sofern sie<br />
nicht während <strong>de</strong>r Revolution bereits beschlagnahmt wor<strong>de</strong>n waren - auf Antrag von drei Vierteln <strong>de</strong>r<br />
Belegschaft sozialisiert. Dies geschah meist in Form von Genossenschaften o<strong>de</strong>r angeglie<strong>de</strong>rt an die<br />
Industriesyndikate. Nach <strong>de</strong>m Selbstverwaltungskongreß von Valencia im Dezember 1936 schufen die<br />
Gewerkschaften eine zentrale Ausgleichskasse zum Abbau von sozialem Gefälle und unnötiger<br />
Konkurrenz sowie für die immer dringen<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kriegsproduktion.<br />
An die Einrichtung einer Kriegsindustrie war zuvor nicht gedacht wor<strong>de</strong>n. Als die Nie<strong>de</strong>rwerfung <strong>de</strong>s<br />
Putsches ins Stocken kam, bil<strong>de</strong>ten sich Fronten und ein langwieriger Krieg begann. Wichtige<br />
Rüstungsbetriebe lagen auf <strong>de</strong>m Gebiet <strong>de</strong>r "Nationalen", die zu<strong>de</strong>m ausländische Waffenhilfe erhielten.<br />
Die "Republikaner" hingegen waren auf sich gestellt und mußten improvisieren. Viele Metallbetriebe<br />
widmeten sich notgedrungen <strong>de</strong>r Kriegsindustrie, und die Milizen an <strong>de</strong>r Front mel<strong>de</strong>ten ständig<br />
steigen<strong>de</strong>n Bedarf: von <strong>de</strong>r Gewehrpatrone bis zu gepanzerten Fahrzeugen. Die sozialisierte Industrie<br />
mußte so in einem Rüstungswettlauf mithalten, <strong>de</strong>n sie kaum gewinnen konnte.<br />
307<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> die ersehnte revolución libertaria meist positiv aufgenommen, bisweilen mit<br />
überschwänglicher Begeisterung und hohen Erwartungen. Die meisten Hacien<strong>de</strong>ros waren, ebenso wie<br />
viele Fabrikanten, rechtzeitig geflohen. In <strong>de</strong>n befreiten Teilen <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s schlössen sich neunzig Prozent<br />
<strong>de</strong>r Tagelöhner und Kleinbauern auf ehemaligen Latifundien in mehr als tausend freiwilligen Kollektiven<br />
zusammen. Die Agrarproduktion steigerte sich je nach Region um dreißig bis fünfzig Prozent. Vielerorts<br />
trat man mit <strong>de</strong>r kollektivierten Industrie in ein direktes Tauschverhältnis und konnte auf Zahlungsmittel,<br />
Tauschbons o<strong>de</strong>r Arbeitskarten ganz verzichten. In Dörfern, wo je<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>n kannte, war ein Mißbrauch<br />
dieser neuen Freiheit nicht zu befürchten. So manche Bäuerin bekam zum ersten Mal in ihrem Leben ein<br />
paar richtige Schuhe.
Zu <strong>de</strong>n großen Leistungen <strong>de</strong>r libertären Selbstverwaltung in Spanien gehörte die ausreichen<strong>de</strong><br />
Versorgung <strong>de</strong>r Bevölkerung unter Kriegsbedingungen. Wie die gesamte Selbstverwaltungsökonomie, so<br />
hatte auch die Versorgungswirtschaft mit Engpässen und Problemen zu kämpfen. Einige davon waren auf<br />
typische Umstellungsprobleme zurückzuführen, die meisten allerdings waren kriegsbedingt. Sie trafen<br />
alle Regionen Spaniens auf bei<strong>de</strong>n Seiten <strong>de</strong>r Front und können daher nicht <strong>de</strong>r<br />
Selbstverwaltungswirtschaft angelastet wer<strong>de</strong>n. Trotz Rohstoffknappheit und fehlen<strong>de</strong>r traditioneller<br />
Absatzmärkte zeitigte sie unterm Strich gute Ergebnisse. Die berüchtigten Hungerjahre trafen Spanien<br />
erst nach Francos Sieg 1939 und dauerten bis 1944 an.<br />
In vielen Dörfern bil<strong>de</strong>ten sich während <strong>de</strong>r Revolution sogenannte "Libertäre Gemein<strong>de</strong>n", in <strong>de</strong>nen<br />
Handwerk, Dienstleistung, Landwirtschaft und lokale Industrie zusammengefaßt waren. Komitees <strong>de</strong>r<br />
Landarbeiter und <strong>de</strong>s Transportsyndikats arbeiteten bei <strong>de</strong>r Produktion und Verteilung <strong>de</strong>r Nahrungsmittel<br />
Hand in Hand. In sogenannten "Kollektivlä<strong>de</strong>n" wur<strong>de</strong>n die Güter <strong>de</strong>s täglichen Bedarfs in <strong>de</strong>r Regel<br />
kostenlos abgegeben - ein erster Schritt in Richtung solidarischer Bedarfswirtschaft. Auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong><br />
wur<strong>de</strong>n die Lä<strong>de</strong>n und Lager häufig in <strong>de</strong>r Kirche untergebracht, <strong>de</strong>m einzigen soli<strong>de</strong>n Gebäu<strong>de</strong> in vielen<br />
Dörfern.<br />
Trotz Krieg und radikaler Umwälzung <strong>de</strong>r Wirtschaft erlebte das republikanische Spanien einen<br />
unerhörten Aufschwung <strong>de</strong>r Kultur. Literatur, Presse, Ausstellungen, Film und Theater drangen bis in die<br />
entlegensten Dörfer vor. Mit fortschreiten<strong>de</strong>r Alphabetisierung auch <strong>de</strong>r Erwachsenen wur<strong>de</strong>n zahllose<br />
"Volksbibliotheken" eingerichtet und Kurse angeboten, die regen Zulauf erzielten. Sogar die meisten<br />
Schauspieler waren gewerkschaftlich organisiert; viele Theater und fast die gesamte Filmindustrie<br />
funktionierten in freier Selbstverwaltung. In Barcelona schuf <strong>de</strong>r "Rat <strong>de</strong>r Escuela Nueva Unificada" in<br />
<strong>de</strong>n ersten fünf Monaten <strong>de</strong>r Revolution über einhun<strong>de</strong>rt neue Schulen, in <strong>de</strong>nen 20.000 Kin<strong>de</strong>r mehr<br />
unterrichtet wur<strong>de</strong>n als zuvor. Auch die Landbevölkerung kam nun zum ersten Mal in <strong>de</strong>n Genuß eines<br />
flächen<strong>de</strong>cken<strong>de</strong>n Unterrichtssystems. Der strengkatholische ›Schulmeister‹ und die bigotten Nonnen<br />
verschwan<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Schulwesen. Francisco Feuers libertäres Erziehungsmo<strong>de</strong>ll erlebte hier praktisch<br />
seinen ersten großen Feldversuch. In <strong>de</strong>n Erinnerungen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r jener Generation bekommen die<br />
escuelas libres übrigens durchweg hervorragen<strong>de</strong> Noten ausgestellt.<br />
308<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Typisch für die Spanische Revolution war, daß sich - im Gegensatz etwa zu Rußland - die Angehörigen<br />
<strong>de</strong>r sogenannten ›gehobenen Berufe‹ wie Techniker, Ingenieure und Arzte in großer Zahl <strong>de</strong>r Bewegung<br />
anschlössen und sie unterstützten, obwohl sie durchaus wirtschaftliche Einbußen hinnehmen mußten. So<br />
konnte innerhalb kürzester Zeit das gesamte Gesundheitswesen neu gestaltet wer<strong>de</strong>n. Medizinische<br />
Betreuung war nicht länger ein Privileg <strong>de</strong>r Reichen.<br />
Das Straßenbild <strong>de</strong>r Millionenstadt Barcelona war völlig verwan<strong>de</strong>lt, die Metropole schien wie in einem<br />
Taumel zu leben. Das katalanische Sinfonieorchester gab auf Freiluftkonzerten die etwas pathetischen<br />
Anarchohymnen zum Besten, und Zigtausen<strong>de</strong> hörten zu. Frauen konnten sich plötzlich in <strong>de</strong>r<br />
Öffentlichkeit frei bewegen und lebten ihre neue Freiheit, selbstbewußt aus. Sie organisierten sich, etwa<br />
in <strong>de</strong>n Mujeres Libres, und begannen im öffentlichen Leben eine zunehmend prägen<strong>de</strong> Rolle zu spielen.<br />
Sogar in <strong>de</strong>n Milizen waren sie vertreten.<br />
Die mo<strong>de</strong>bewußten Katalanen kürten <strong>de</strong>n blauen Overall, die Kleidung <strong>de</strong>r Milizionäre und Malocher,<br />
zum Hit <strong>de</strong>r Saison, <strong>de</strong>n sie mit <strong>de</strong>rselben Eleganz zu tragen verstan<strong>de</strong>n wie Zweireiher und Kostüm.<br />
Natürlich war auch Anpassung im Spiel, bisweilen Tarnung und ein Gutteil Mitläufertum. Es ist albern zu<br />
glauben, Millionen Menschen wären über Nacht zu Anarchisten gewor<strong>de</strong>n. Aber mehr als je zuvor<br />
begannen, sich für <strong>de</strong>n anarquismo zu interessieren und ihn zu begreifen. Bei <strong>de</strong>n meisten war es ein<br />
heiteres Mitlaufen, nicht diese dumpfe Angst wie in Stalins Rußland. Anarchie war zum ›Zeitgeist‹<br />
gewor<strong>de</strong>n.<br />
Die Spanische Revolution war keine Zwangsbeglückung, keine Diktatur, son<strong>de</strong>rn ein buntes,
wi<strong>de</strong>rsprüchliches, lebendiges Experimentierfeld. Wie je<strong>de</strong>s System hatte es Schwächen,<br />
Reibungsverluste, Konflikte und Unzulänglichkeiten. Es entwickelte aber erstaunliche Kraft, sich zu<br />
perfektionieren und Fehler auszugleichen. Es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, daß die generalisierte<br />
Selbstverwaltung in Spanien sich zu einem funktionieren<strong>de</strong>n wirtschaftlich- sozialen System eingespielt<br />
hätte, einer ›gelebten Anarchie‹, wenn man ihr die Möglichkeit einer ungestörten Entwicklung gegeben<br />
hätte. Diese Chance war ihr nicht vergönnt.<br />
Krieg, Gewalt, Lei<strong>de</strong>nschaft<br />
Man hat <strong>de</strong>n Spanischen Bürgerkrieg als <strong>de</strong>n Friedhof <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ale bezeichnet. Das locker-libertäre Leben<br />
auf Barcelonas Ramblas, die ausgelassene fiesta, die <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschlagung <strong>de</strong>s Putsches folgte, darf nicht<br />
darüber hinwegtäuschen, daß aus <strong>de</strong>m Volksfest ein Schlachtfest wur<strong>de</strong>. Die Generäle waren eben nicht<br />
überall besiegt. Sie rüsteten zur "Rückeroberung <strong>de</strong>s Vaterlan<strong>de</strong>s", und sie machten einen Kreuzzug<br />
daraus - Franco hat das wörtlich so genannt.<br />
Es wur<strong>de</strong> ein Kreuzzug gegen das eigene Volk, und er wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Nationalisten sehr sauer. Was sie als<br />
einen triumphalen Spaziergang nach Madrid geplant hatten, zog sich drei Jahre lang als mo<strong>de</strong>rner<br />
Vernichtungskrieg hin. Hermann Göring hatte reichlich Gelegen-<br />
309<br />
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heit, seine neue Luftwaffe für <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Weltkrieg zu testen. Die Junkers 52 und Heinkel 111 von<br />
Hitlers "Legion Condor" bombardierten die Metropolen und legten das baskische Provinzstädtchen<br />
Guernica in Schutt und Asche: das erste Flächenbombar<strong>de</strong>ment <strong>de</strong>r Geschichte, und die westlichen<br />
Großmächte schauten diskret weg.<br />
Zunächst waren die Milizen an die Orte geeilt, wo die Faschisten gesiegt hatten. Einige konnten sie<br />
entsetzen, an an<strong>de</strong>ren bissen sie sich fest. Die republikanische Armee wur<strong>de</strong> reorganisiert, loyale<br />
Polizeitruppen kamen hinzu und immer mehr Freiwillige mel<strong>de</strong>ten sich zu <strong>de</strong>n Waffen. Die aber waren<br />
knapp und wur<strong>de</strong>n zunehmend zum Erpressungsinstrument im Kampf um politischen Einfluß. Auf <strong>de</strong>r<br />
an<strong>de</strong>ren Seite kämpften neben wehrpflichtigen Spaniern die für ihre Grausamkeit bekannten Moros,<br />
Francos marokkanische Söldnertruppen, unter spanischen Offizieren fürs christliche Abendland. Weit<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r aber sollte die Hilfe wer<strong>de</strong>n, die Hitler und Mussolini schickten: zwei hochmo<strong>de</strong>rne<br />
Invasionsarmeen mit Marine, Luftwaffe, Infanterie und Panzern. Die rechtmäßige republikanische<br />
Regierung <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s hingegen konnte im westlichen Ausland nicht einmal Waffen kaufen. England,<br />
Frankreich und Amerika wollten ›neutral‹ bleiben und vertraten eine Politik <strong>de</strong>r ›Nichteinmischung‹.<br />
Offizielle Linie war, Hitler nicht zu reizen, um ihn friedlich zu halten. So glaubte man, <strong>de</strong>n Zweiten<br />
Weltkrieg zu verhin<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Einverleibung Österreichs, <strong>de</strong>m Einmarsch in die Tschechoslowakei<br />
und <strong>de</strong>r Intervention in Spanien doch schon längst begonnen hatte. Waffenhilfe erhielt die Republik nur<br />
aus Mexiko, die naturgemäß eher symbolischen Wert hatte, und - sehr spät - aus Rußland. Stalin ließ sich<br />
seine "proletarische Solidarität" übrigens mit <strong>de</strong>n Goldreserven <strong>de</strong>r Spanischen Nationalbank bar<br />
bezahlen.<br />
Das wechseln<strong>de</strong> Kriegsglück kann hier nicht nachgezeichnet wer<strong>de</strong>n. Militärgeschichte ist nicht unser<br />
Thema. Verschie<strong>de</strong>ne Regierungen versuchten verschie<strong>de</strong>ne Strategien, Internationale Briga<strong>de</strong>n von<br />
Freiwilligen kamen ins Land, diverse Militärreformen führten zu zweifelhaften Ergebnissen, aber nichts<br />
von alle<strong>de</strong>m führte zum militärischen Durchbruch. Die Antifaschistischen Milizen waren per Dekret<br />
militärischem Kommando unterstellt wor<strong>de</strong>n, mußten nun Dienstgra<strong>de</strong>, Hierarchie und Kommißton<br />
akzeptieren und wur<strong>de</strong>n Teil <strong>de</strong>r regulären Armee. Das nahm <strong>de</strong>n Arbeitern viel von ihrer Motivation und<br />
Kampfbegeisterung und diente in keiner Weise <strong>de</strong>r militärischen Effizienz. Das republikanische<br />
Territorium schmolz trotz einiger erfolgreicher Offensiven stetig dahin. Daran konnte auch die<br />
dramatische Rettung <strong>de</strong>r im November 1936 von seiner Regierung bereits verlassenen Hauptstadt nichts<br />
mehr än<strong>de</strong>rn - Milizen und Internationale Briga<strong>de</strong>n brachten hier ein im En<strong>de</strong>ffekt vergebliches Blutopfer.
Im März 1939 hielt Franco, inzwischen zum "Generalissimus" avanciert, einen pompösen Einzug in<br />
Madrid. Kurz zuvor war Barcelona gefallen. Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong> flüchteten über die verschneiten Pässe <strong>de</strong>r<br />
Pyrenäen o<strong>de</strong>r versuchten, sich über das Meer zu retten. Francos Rache wur<strong>de</strong> fürchterlich. To<strong>de</strong>surteile<br />
in fünfstelliger Höhe, ungezählte Konzentrationslager und auf Jahrzehnte überfüllte Zuchthäuser sollten<br />
<strong>de</strong>r spanischen Arbeiterbewegung für alle Zeiten ein En<strong>de</strong> machen.<br />
310<br />
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Gestorben aber wur<strong>de</strong> nicht nur an <strong>de</strong>r Front und unter <strong>de</strong>n Bomben <strong>de</strong>r Flugzeuge. Der Bürgerkrieg<br />
entfesselte mit fanatischer Lei<strong>de</strong>nschaft die tiefsitzen<strong>de</strong>n sozialen Konflikte <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s; i<strong>de</strong>ologische<br />
Differenzen wur<strong>de</strong>n mit einer Inbrunst ausgetragen, die in ihren provozieren<strong>de</strong>n Details an<br />
Religionskriege erinnert. Anarchomilizionäre veranstalteten ihre Schießübungen auf die monumentalen<br />
Christusstandbil<strong>de</strong>r, und aus <strong>de</strong>n Krypten <strong>de</strong>r Klöster holte man die mumifizierten Gebeine heiliger<br />
Männer und Frauen, um sie aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Volksaufklärung öffentlich zur Schau zu stellen. Es blieb<br />
aber nicht bei Bil<strong>de</strong>rstürmerei und provokanter Symbolik - die sozialen Spannungen schlugen in Haß um.<br />
In Spanien schoß buchstäblich <strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Bru<strong>de</strong>r. Das galt hinter <strong>de</strong>r Front zwischen Stalinisten<br />
und Anarchisten ebenso wie für <strong>de</strong>n Kampf zwischen "Faschisten" und "Roten", wie bei<strong>de</strong> Seiten sich<br />
gegenseitig nannten.<br />
In Zaragoza, wo die Putschgeneräle nach tagelangen Kämpfen schließlich die Oberhand gewannen,<br />
mußten die Miliztruppen auf <strong>de</strong>n gegenüberliegen<strong>de</strong>n Bergen schon im Sommer 1936 hilflos mit ansehen,<br />
wie mehrere tausend Arbeiter füsiliert wur<strong>de</strong>n. Wo immer die Nationalen in <strong>de</strong>r Folgezeit<br />
einmarschierten, wur<strong>de</strong> blutig "gesäubert". Prominente "rojos" wur<strong>de</strong>n ebenso erschossen wie Mitläufer,<br />
aktive Gewerkschafter und gefangene Milizionäre, sogar reguläre republikanische Soldaten und Offiziere<br />
stellte man oftmals nach <strong>de</strong>m Verhör an die Wand.<br />
Auch wenn die Geschichtsschreibung Eskalation, Exzesse und Übergewicht <strong>de</strong>r Greuel ein<strong>de</strong>utig auf<br />
Seiten <strong>de</strong>r Nationalen festgestellt hat, so ist doch die Unschuld <strong>de</strong>r Republik ein propagandistisches<br />
Märchen. Das gilt auch für die Anarchisten. Es ist eine Tatsache, daß e" auch auf Seiten <strong>de</strong>r Revolution<br />
Ausschreitungen gab. So mancher tatsächliche o<strong>de</strong>r angebliche "Faschist" wur<strong>de</strong> von selbsternannten<br />
Rächern erschossen, und an etlichen Orten wur<strong>de</strong> ohne viel Aufhebens <strong>de</strong>r Pfarrer gelyncht. Die Kirche<br />
stand in <strong>de</strong>r Tat ein<strong>de</strong>utig auf Seiten <strong>de</strong>s "Klerikalfaschisten" Franco, und in manchen Gotteshäusern<br />
fan<strong>de</strong>n sich geheime Waffenlager <strong>de</strong>r Falange. Daran aber gibt es nichts zu beschönigen: Das Töten<br />
gefangener Gegner wi<strong>de</strong>rsprach ein<strong>de</strong>utig <strong>de</strong>m libertären I<strong>de</strong>al, das spanische Anarchisten seit<br />
Generationen gepredigt hatten.<br />
So wi<strong>de</strong>rwärtig ein Aufrechnen und Abwägen von Mor<strong>de</strong>n auch ist, darf doch ein wesentlicher<br />
Unterschied nicht verkannt wer<strong>de</strong>n: Auf <strong>de</strong>r faschistischen Seite war Terror durch Töten ein System und<br />
gehörte zur Strategie. Er wur<strong>de</strong> angeordnet und gezielt betrieben. Nicht ohne Grund lautete <strong>de</strong>r irrsinnige<br />
Wahlspruch <strong>de</strong>r Falangisten viva la muerte!*. Auf Seiten <strong>de</strong>r Revolution hingegen kam es zu Übergriffen,<br />
und als solche wur<strong>de</strong>n sie auch betrachtet. Die Milizen, die Gewerkschaften, die Komitees taten alles, um<br />
solche Exzesse zu unterbin<strong>de</strong>n. Sie sparten dabei nicht mit Drohungen, Anordnungen, selbstkritischen<br />
Reflexionen und Appellen an die "revolutionäre Ehre". Der Dorfpfarrer Moisés Arnal bestätigt dies als<br />
glaubhafter Zeuge. In seinen Memoiren berichtet er, wie Durruti ihn davor bewahrte, von aufgebrachten<br />
Bauern erschossen zu wer<strong>de</strong>n. Während einer folgen<strong>de</strong>n Tätigkeit als Sekretär im Stab <strong>de</strong>r Milizen hatte<br />
er reichlich Gelegenheit zu beobachten, daß <strong>de</strong>r berüchtigte "Anarchistenhäuptling" alles an<strong>de</strong>re als ein<br />
blut-<br />
311<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
rünstiger Rächer war. Disciplina! war damals eine <strong>de</strong>r meistgebrauchten Losungen bei <strong>de</strong>n Anarchisten.
Der <strong>de</strong>utsche Zeitzeuge Augustin Souchy, ein vor <strong>de</strong>n Konzentrationslagern rechtzeitig geflohener<br />
Anarchosyndikalist, erzählt von seinem Besuch in einem von <strong>de</strong>n Anarchisten betriebenen<br />
Internierungslager für gefangene Faschisten. Zu seinem Erstaunen bekamen Bewacher und Bewachte<br />
gleiche Kleidung, gleiche Kost und gleiche Unterbringung. Nach <strong>de</strong>r Arbeit hatten die Gefangenen<br />
Anrecht auf <strong>de</strong>n Besuch ihrer Frauen und Freundinnen, die über Nacht bei <strong>de</strong>n Männern bleiben durften.<br />
Die offizielle Linie <strong>de</strong>r spanischen Libertären je<strong>de</strong>nfalls folgte - trotz aller spontanen Übergriffe in <strong>de</strong>n<br />
Tagen unmittelbar nach <strong>de</strong>m Putsch - <strong>de</strong>r Überzeugung Bakunins und Kropotkins, daß we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Kriminelle noch <strong>de</strong>r politische Gegner ein zu bestrafen<strong>de</strong>r Feind sei.<br />
Politik<br />
Die Spanische Revolution scheiterte mit <strong>de</strong>m Sieg <strong>de</strong>s Faschismus über die Spanische Republik. Aber das<br />
ist nur die halbe Wahrheit. Die an<strong>de</strong>re Hälfte ist ebenso tragisch wie lehrreich.<br />
Anarchisten haben ein gebrochenes Verhältnis zur Macht; sie sind bis zur Naivität unfähig zur politischen<br />
Intrige. Das macht sie zwar sehr sympathisch, aber auch zur leichten Beute <strong>de</strong>r Politik. In ihren<br />
spanischen Hochburgen gingen sie davon aus, daß sie mit <strong>de</strong>r Eroberung <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Macht und<br />
<strong>de</strong>s kulturellen Alltags auf <strong>de</strong>n Staat pfeifen könnten. Sie versäumten es - bedingt auch durch die<br />
Tatsache, daß sie in manchen Gegen<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rheit waren -, konsequent die staatlichen Strukturen<br />
abzuschaffen. Im Glauben an die Loyalität <strong>de</strong>r Volksfront im Kampf gegen <strong>de</strong>n gemeinsamen<br />
faschistischen Feind suchten sie das breite Bündnis, unterschätzten die Kraft <strong>de</strong>r verbliebenen<br />
Regierungen und ließen <strong>de</strong>ren Apparat weitgehend unangetastet. Das war, im nachhinein betrachtet, ein<br />
Fehler, <strong>de</strong>ssen Konsequenzen sie auf Dauer nicht gewachsen waren. Sie begaben sich damit nämlich<br />
schrittweise in ein Intrigenspiel, in <strong>de</strong>m sie am En<strong>de</strong> kaltgestellt wur<strong>de</strong>n.<br />
Beson<strong>de</strong>rs verhängnisvoll erwies sich hierbei die Erpressungspolitik Rußlands, das durch die<br />
Waffenlieferungen über ein starkes Druckmittel verfügte. Die russischen Interessen spielten eine ständig<br />
wachsen<strong>de</strong> Rolle, <strong>de</strong>r sich am En<strong>de</strong> auch die republikanische Regierung unterordnete. Stalins Botschafter<br />
trat hinter <strong>de</strong>n Kulissen wie ein Regierungschef auf, und im Hinterland begann die russische<br />
Geheimpolizei zu agieren wie bei sich daheim. Die Erpressungspolitik zwang die Libertären am En<strong>de</strong><br />
sogar, in die Regierung einzutreten. Die republikanische Administration erhoffte sich dadurch eine<br />
bessere Kontrolle <strong>de</strong>r Anarchisten, während die CNT sich davon die Zuteilung von Waffen für die<br />
libertären Milizen versprach. Das Bild "anarchistischer Minister" führte zu heftigem Protest an <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaftsbasis, die darin nicht nur ein peinliches Paradox, son<strong>de</strong>rn einen Verrat an <strong>de</strong>r Revolution<br />
erblickte. Trotz dieses Zugeständnisses gingen die Waffen schließlich an linientreue kommunistische<br />
Regimenter.<br />
So begann im republikanischen Lager ein Bru<strong>de</strong>rkampf, ein Bürgerkrieg im Bürgerkrieg, <strong>de</strong>r die<br />
anarchistische Position zunehmend isolierte und <strong>de</strong>r Kommunistischen Partei großen Zulauf aus <strong>de</strong>r<br />
Mittelschicht und <strong>de</strong>m Kleinbürgertum einbrachte. Die Parole <strong>de</strong>r KP<br />
312<br />
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und damit <strong>de</strong>r Regierung war bewußt auf diese Zielgruppe zugeschnitten. Sie lautete: Keine Revolution!<br />
Erst <strong>de</strong>n Krieg gewinnen, dann die parlamentarische Demokratie festigen! Während Zehntausen<strong>de</strong><br />
libertäre Milizionäre unzureichend bewaffnet an <strong>de</strong>r Front kämpften und starben, begann im Hinterland<br />
bereits die stalinistische "Säuberung gegen Trotzkisten und Anarchisten". Es kam wie<strong>de</strong>rholt zu<br />
Erhebungen, Barrika<strong>de</strong>n und Straßenkämpfen in Barcelona und Madrid - Arbeiter schössen auf Arbeiter.<br />
Dieser Strategie fielen auch – noch während <strong>de</strong>s Bürgerkrieges – die meisten Errungenschaften <strong>de</strong>r<br />
Selbstverwaltung "um Opfer. Stalin hatte natürlich zuallerletzt Interesse an einer libertären Revolution.<br />
Zunächst hatte die Regierung angesichts <strong>de</strong>r Tatsachen die Kollektivierung anerkannt und per Dekret<br />
juristisch abgesichert. Selbstverwaltung war mithin staatlich sanktioniert. Mit <strong>de</strong>r Verschiebung <strong>de</strong>r<br />
Kräfte wur<strong>de</strong>n die selbstverwalteten Betriebe und Kollektive aber schon bald systematisch schikaniert, an
<strong>de</strong>n Rand gedrängt und teilweise sogar ›verboten‹. Überall dort, wo das wirtschaftliche Netz dünn war,<br />
gelang das recht einfach durch <strong>de</strong>n Entzug von Krediten. Die Revolutionäre <strong>de</strong>s 19. Juli hatten we<strong>de</strong>r eine<br />
eigene Genossenschaftsbank einleuchtet noch die Staatsbank entmachtet. In gutem Glauben waren ihre<br />
bewaffneten Kräfte an die Front gezogen und nun nicht mehr in <strong>de</strong>r Lage, ihre Errungenschaften zu<br />
verteidigen.<br />
In einem schleichen<strong>de</strong>n Prozeß hatte das Volk die Macht, die es erobert hatte, wie<strong>de</strong>r an du zähe und<br />
anpassungsfähige Prinzip <strong>de</strong>r Staatlichkeit verloren.<br />
Nekrolog<br />
Das, was in jenen paar Jahren in Spanien geschah, ist keine Nostalgie für <strong>de</strong>n Misthaufen <strong>de</strong>r Geschichte.<br />
Die vielschichtigen Erfahrungen <strong>de</strong>r Spanischen Revolution eignen sich nicht fürs Museale, <strong>de</strong>nn ihre<br />
Lehren sind zeitlos. Seither hat es kein soziales Experiment von solcher Radikalität und Brisanz mehr<br />
gegeben; alles, was uns in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten politisch in Atem hielt, ist im Hinblick auf eine<br />
Befreiung <strong>de</strong>r Menschheit von weit geringerer Relevanz und schon längst verblaßte Tagespolitik. Mit<br />
Sicherheit wäre die Menschheit einen an<strong>de</strong>ren Weg gegangen, wenn eine ganze Gesellschaft <strong>de</strong>n<br />
lebendigen Beweis geliefert hätte, daß ein Gemeinwesen ohne Staat auch auf Dauer lebensfähig ist. Aber<br />
diesen Beweis hat es nicht geben dürfen. Auch die Politik <strong>de</strong>s zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rts wäre ohne Frage<br />
eine an<strong>de</strong>re gewesen, wenn <strong>de</strong>r internationale Faschismus in Spanien schon 1936 besiegt wor<strong>de</strong>n wäre.<br />
Aber diesen Sieg haben die westlichen Demokratien nicht zugelassen.<br />
Der kurze Sommer <strong>de</strong>r Anarchie wur<strong>de</strong> so zu einer Randnotiz <strong>de</strong>r Geschichte.<br />
Literatur: Gerald Brenan: Die Geschichte Spaniens Berlin 1978, Karin Kramer, 396 S., ill. / Pierre Broué,<br />
Èmile Témime: Revolution und Krieg in Spanien (2 B<strong>de</strong>.) Frankfurt/M. 1972, Suhrkamp, 721 S. / Gaston<br />
Leval: Das libertäre Spanien Hamburg 1976, Association, 352 S. / Augustin Souchy: Nacht über Spanien<br />
1936-1939 Berlin 1974, Karin Kramer 236 S. / Walther L. Bernecker: Kollektivismus und Freiheit.<br />
Quellen zur Geschichte <strong>de</strong>r soz. Rev. i. Spanien 1936-1939 München 1980, dtv, 502 S. / Camillo Berneri:<br />
Klassenkrieg in Spanien Hamburg 1974, MaD, 58 S. / Abel Paz: Durruti - Leben und To<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />
spanischen Anarchisten Hamburg 1984, Nautilus, 816 S., ill. / Hans Magnus Enzensberger: Der kurze<br />
Sommer <strong>de</strong>r Anarchie Frankfurt/M. 1972, Suhrkamp, 300 S. / George Orwell: Mein Katalonien Zürich<br />
1975, Diogenes, 287 S. / Carlos Semprún-Maura: Revolution und Konterrevolution in Katalonien<br />
Hamburg 1983, Nautilus, 284 S., ill. / Thomas Kleinspehn, Gottfried Mergner (Hrsg.): Mythen <strong>de</strong>s<br />
Spanischen Bürgerkrieges Grafenau 1989, Trotz<strong>de</strong>m, 169 S.<br />
313<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Kapitel 35<br />
Das hoffnungsvolle Stiefkind: Anarchismus in Deutschland<br />
Die Deutschen sind ein Volk, das in hohem Maße<br />
von <strong>de</strong>r Staatsi<strong>de</strong>e durchdrungen ist.<br />
- Michail Bakunin -<br />
DEUTSCHLAND WAR NIEMALS EIN LAND, in <strong>de</strong>m libertäre I<strong>de</strong>en eine wichtige Rolle gespielt<br />
haben, und ohne Zweifel stimmt grosso modo die Sichtweise von einem eher angepaßten und staatstreuen<br />
Volk mit einem ausgeprägten Anlehnungsbedürfnis an die jeweils angesagten Autoritäten. Aber eben nur<br />
grob gesehen. Eine verfeinerte Optik offenbart Deutschland als ein Land, in <strong>de</strong>m es einige erstaunliche<br />
Ent<strong>de</strong>ckungen zu machen gibt. Ein Land, das zwar Stiefkind <strong>de</strong>r libertären Bewegung blieb, aber allemal<br />
gut ist für die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Überraschung.
Wie zum Beispiel jene syndikalistischen Bergarbeiter aus Dortmund und Umgebung, die am 20. Januar<br />
1919 als Welturaufführung <strong>de</strong>n Sechsstun<strong>de</strong>ntag einführen. Sie besetzen die Zeche "Minister Achenbach",<br />
bil<strong>de</strong>n einen Zechenrat, sozialisieren <strong>de</strong>n Betrieb und fahren nur noch die Sechsstun<strong>de</strong>nschicht. Ihr<br />
Beispiel funktioniert zur allgemeinen Zufrie<strong>de</strong>nheit außer <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Unternehmer und macht in kürzester<br />
Zeit Schule: Vierzig weitere Zechen schließen sich an, und im Februar steht <strong>de</strong>r größte Teil <strong>de</strong>s<br />
Ruhrbergbaus unter <strong>de</strong>r Kontrolle <strong>de</strong>r Arbeiter. An<strong>de</strong>re Industriezweige verfahren nach <strong>de</strong>m gleichen<br />
Muster: selbst han<strong>de</strong>ln, direkt agieren, nur noch sechs Stun<strong>de</strong>n arbeiten. Das Herz <strong>de</strong>r Schwerindustrie in<br />
<strong>de</strong>r Hand von Syndikalisten, <strong>de</strong>r Bergbau als Experimentierfeld <strong>de</strong>r direkten Aktion? Das erstaunt selbst<br />
Historiker, und kaum jemand wür<strong>de</strong> so etwas ausgerechnet in Deutschland vermuten, gelten doch<br />
<strong>de</strong>utsche Arbeiter bis heute als lammfromm und fest im Griff <strong>de</strong>r sozial<strong>de</strong>mokratischen Gewerkschaften.<br />
Eben diese aber hatten damals durch ihre Paktiererei mit <strong>de</strong>r kaiserlichen Kriegswirtschaft viel an<br />
Glaubwürdigkeit verloren und waren bei <strong>de</strong>n Kumpels unten durch. Auch die staatliche Autorität war<br />
durch <strong>de</strong>n verlorenen Krieg und die Novemberrevolution bis in ihre Fundamente erschüttert. So blieb ihr<br />
nichts an<strong>de</strong>res übrig, als sich zurückzuhalten.<br />
Eine <strong>de</strong>utsche Revolution<br />
Drei Monate zuvor war durch das Deutsche Reich eine Welle <strong>de</strong>s Umsturzes gegangen, in <strong>de</strong>r Arbeiterund<br />
Soldatenräte <strong>de</strong>m alten Regime die Machtfrage gestellt hatten. Kriegsmü<strong>de</strong> Matrosen und Landser*,<br />
hungern<strong>de</strong> Frauen und Kin<strong>de</strong>r, die ausgemergelten Arbeiterinnen und Arbeiter <strong>de</strong>r kriegswichtigen<br />
Industrien hatten die soziale Revolution auf die Tagesordnung gesetzt. Auslöser dieser<br />
"Novemberrevolution" waren Meutereien <strong>de</strong>r kaiserlichen Matrosen in Wilhelmshaven und Kiel, <strong>de</strong>ren<br />
Beispiel - gera<strong>de</strong> so wie ein Jahr zuvor in Rußland – wie ein Lauffeuer das ganze Land erfaßte. Vielerorts<br />
übernahmen die "A+S – Räte" faktisch die Macht, "Räterepubliken" entstan<strong>de</strong>n von Ostfriesland bis nach<br />
314<br />
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München. Die Räte fühlten <strong>de</strong>n Sturz <strong>de</strong>s Kaisers herbei, verjagten die fürstlichen Dynastien in <strong>de</strong>n<br />
einzelnen Län<strong>de</strong>rn und begannen sofort mit <strong>de</strong>r Organisation <strong>de</strong>s sozialen Lebens. Ganz oben auf <strong>de</strong>r<br />
Tagesordnung stan<strong>de</strong>n Probleme: Hunger, Kälte und die Kriegsfolgen. Politisches Nahziel war das En<strong>de</strong><br />
von Preußentum, Militarismus und Klassenstaat, als Endziel schwebte ihnen ein freies Deutschland vor,<br />
sozialistisch in <strong>de</strong>m Sinne, daß die einfachen Leute jetzt das Sagen haben sollten. Der A<strong>de</strong>l müsse<br />
enteignet, die Industrie sozialisiert, <strong>de</strong>r Obrigkeitsstaat durch einen Volksstaat ersetzt wer<strong>de</strong>n. Auf je<strong>de</strong>n<br />
Fall sollten die Räte zur Grundstruktur wer<strong>de</strong>n, auf keinen Fall wollte man sich mit <strong>de</strong>r bloßen<br />
Einführung einer parlamentarischen Demokratie zufrie<strong>de</strong>ngeben. Das Mo<strong>de</strong>ll eines "Räte<strong>de</strong>utschland"<br />
sollte internationalistisch sein, in friedlichem Miteinan<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren europäischen Völkern, von<br />
<strong>de</strong>nen man ebenfalls eine "proletarische Revolution" erhoffte.<br />
Unterstützung fand diese Bewegung jenseits <strong>de</strong>r noch unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n anarchistischen Zirkel vor allem in<br />
Kreisen sozial<strong>de</strong>mokratischer Oppositioneller, die während <strong>de</strong>s großen Völkermor<strong>de</strong>ns zu Kriegsgegnern<br />
gewor<strong>de</strong>n waren - namentlich <strong>de</strong>r Unabhängigen Sozial<strong>de</strong>mokratischen Partei Deutschlands und <strong>de</strong>m<br />
Spartakusbund. Inzwischen aber hatte das untergehen<strong>de</strong> Kaiserreich "loyale‹ Sozial<strong>de</strong>mokraten vom alten<br />
Schlag in die Regierung gehievt und so einen Rettungsanker zurückgelassen, mit <strong>de</strong>ssen Hilfe sich die<br />
konservativbürgerlichen Kräfte in Deutschland behaupten sollten. Hurra-Patrioten aus Kaiser Wilhelms<br />
Kriegskabinett wie Friedrich Ebert, Gustav Noske und Philipp Schei<strong>de</strong>mann bil<strong>de</strong>ten 1918 eine neue,<br />
SPD-geführte Regierung, die aber weitgehend im Leeren regierte. Die "Arbeitermassen" waren weit<br />
radikaler als ihre traditionellen Führer; sie wollten mehr als einen sozial<strong>de</strong>mokratischen Kanzler – sie<br />
wollten das, was seit fünfzig Jahren angeblich das Ziel <strong>de</strong>r SPD war: eine Revolution.<br />
So lief <strong>de</strong>nn im Winter 1918/1919 alles auf ein Ringen zwischen SPD und Rätebewegung hinaus,<br />
zwischen Restauration und Revolution, zugespitzt in <strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Frage: Verfassungsgeben<strong>de</strong><br />
Nationalversammlung o<strong>de</strong>r Räte<strong>de</strong>mokratie. In Berlin fiel zum Jahresbeginn die Entscheidung, und sie<br />
fiel nach klassischer Manier durch die Macht <strong>de</strong>r Waffen. Sozial<strong>de</strong>mokratische Politiker scheuten sich<br />
nicht, mit Artillerie und Minenwerfern gegen Arbeiterviertel vorzugehen. Rosa Luxemburg und Karl
Liebknecht, die Führerfiguren <strong>de</strong>s "Spartakus", wur<strong>de</strong>n ermor<strong>de</strong>t. Rechtsnationale "Freikorps"-Truppen<br />
stellten das wie<strong>de</strong>r her, was Ebert unter Ordnung verstand.<br />
Die <strong>de</strong>utsche Revolution von 1918 blieb eine unvollen<strong>de</strong>te Revolution. In ihr setzte das konservative<br />
Deutschland die schärfste Waffe ein, die sie noch in Hän<strong>de</strong>n hielt: die <strong>de</strong>utsche Sozial<strong>de</strong>mokratie. Sie war<br />
seit <strong>de</strong>n Tagen <strong>de</strong>r Ersten Internationale beharrlich <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>s Parlamentarismus gegangen und<br />
folgerichtig von einer revolutionären Bewegung zu einer staatstragen<strong>de</strong>n, ja patriotischen Partei<br />
gewor<strong>de</strong>n. Aber noch konnte niemand so recht an diese Ungeheuerlichkeit glauben. Die Arbeiter am<br />
allerwenigsten. Als sie sahen, daß ›ihre Partei" mit <strong>de</strong>n alten Kräften <strong>de</strong>s untergegangenen Reiches<br />
gleiche Sache machte, wandten sich viele von ihr ab. So leicht wollten sie ihr Ziel einer sozialen<br />
Umwälzung nicht aufgeben,<br />
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und die Gelegenheit hierfür schien günstiger <strong>de</strong>nn je. Die Regierung <strong>de</strong>s frischgebackenen Reichskanzlers<br />
Ebert saß alles an<strong>de</strong>re als fest im Sattel.<br />
Eine <strong>de</strong>utsche "Commune"<br />
In diesem Klima fan<strong>de</strong>n jene Zechenbesetzungen im Ruhrgebiet statt, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Sechsstun<strong>de</strong>ntag<br />
›erfun<strong>de</strong>n‹ wur<strong>de</strong>. Ein günstiges Klima für entschlossenes Han<strong>de</strong>ln und direkte Aktionen: Wertekrise und<br />
Machtvakuum. Die in Gang gesetzte Bewegung konnte sich recht unbehelligt entwickeln – <strong>de</strong>r<br />
verunsicherte Staat hielt sich raus, und die Betriebsräte stellten die Grubenbesitzer vor mehr o<strong>de</strong>r weniger<br />
vollen<strong>de</strong>te Tatsachen. Die SPD mauerte und bereitete sich ganz behutsam darauf vor, die Lage wie<strong>de</strong>r in<br />
<strong>de</strong>n Griff zu kriegen.<br />
Unter<strong>de</strong>ssen übten sich die Kumpel in <strong>de</strong>r schwierigen Kunst <strong>de</strong>r Selbstverwaltung. Sie waren praktisch<br />
über Nacht in <strong>de</strong>n Besitz <strong>de</strong>r Bergwerke gekommen und betraten Neuland. Unter ihnen gab es nur wenige<br />
Fachleute o<strong>de</strong>r Arbeiter mit entsprechen<strong>de</strong>r Vorbildung. So mußten sie sich ganz überwiegend darauf<br />
beschränken, Verwaltung, Wirtschaft und Bürokratie <strong>de</strong>r Zeche zu kontrollieren. Die generalisierte<br />
Selbstverwaltung, die ihnen vorschwebte, auch tatsächlich durchzuführen, darauf waren sie nicht<br />
vorbereitet. Wann hätten sie dies in <strong>de</strong>n langen Kriegsjahren auch lernen sollen?<br />
Aber sie machten Ernst mit ihrer Vision von <strong>de</strong>r Sozialisierung. Zunächst erstellten sie einen Arbeitsplan<br />
und fühlten das neue Schichtsystem ein. Dadurch erreichten sie für die ausgehungerten Bergleute<br />
menschlich verkraftbare Arbeitszeiten, stellten die För<strong>de</strong>rung sicher und erhöhten sogar die Produktion.<br />
Dann zwangen sie die Verwaltung zur Einstellung neuer Arbeitskräfte, womit sie viele Arbeitslose und<br />
<strong>de</strong>ren Familien satt machten. Sie schmissen beson<strong>de</strong>rs verhaßte Schin<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n Betrieben, organisierten<br />
<strong>de</strong>n Vertrieb <strong>de</strong>r Kohle, tauschten teilweise direkt mit Bauern aus <strong>de</strong>r Umgebung und wachten über eine<br />
gerechte Verteilung <strong>de</strong>r Güter. Sie setzten das um, was sie in ihrem selbstverfaßten Manifest so<br />
ausgedrückt hatten: "Die Bergarbeiter verschaffen sich selbst mehr Freiheit und ein einigermaßen<br />
erträgliches Dasein."<br />
Der an<strong>de</strong>re Teil ihres Programm war weit schwieriger zu erreichen: "Die Sozialisierung <strong>de</strong>s Bergbaues im<br />
Sinne <strong>de</strong>r Enteignung <strong>de</strong>s privaten Kapitals, die Übernahme <strong>de</strong>r Kohlenschätze und <strong>de</strong>r Produktionsmittel<br />
in <strong>de</strong>n Besitz <strong>de</strong>r Gesamtheit und die Verwaltung <strong>de</strong>s Bergbaues durch die Bergarbeiter." Hierzu fehlte es<br />
an einer entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Vorbedingung, die Der Syndikalist später etwas pathetisch aber treffend<br />
formulierte: Der <strong>de</strong>utsche Arbeiter müsse erst "körperlich und geistig reif für die soziale Revolution"<br />
wer<strong>de</strong>n. Er war an vielen Orten dazu bereit, aber nicht vorbereitet. Die Dortmun<strong>de</strong>r Syndikalisten wußten,<br />
was sie wollten, aber nicht genau, wie. Eines jedoch war klar: die Bewegung konnte nur dann erfolgreich<br />
sein, wenn sie auf ganz Deutschland übergriff. Der öffentliche Druck müßte stark genug sein, das<br />
Eingreifen <strong>de</strong>s Staates zu verhin<strong>de</strong>rn, hinauszuzögern o<strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>nd zu schwächen. Die Bergleute<br />
wußten, daß sie Vorreiter waren und <strong>de</strong>n Menschen nicht davongaloppieren durften. Sie suchten<br />
Verbün<strong>de</strong>te und fan<strong>de</strong>n sie in Spartakus und USPD. Gemeinsam organisierte man riesige
Demonstrationen und Massenkundgebungen,<br />
316<br />
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auf <strong>de</strong>nen rüberkam, was im Ruhrpott Sache war: Man wollte soziale Verbesserungen. Man wollte Taten<br />
statt Worte. Und man wollte die Übernahme <strong>de</strong>r Produktionsmittel durch "die Gesamtheit" – das Wort<br />
Staat fiel nicht. Verstaatlichung war für die Arbeiter <strong>de</strong>s Jahres 1919 kein Thema.<br />
Als En<strong>de</strong> März in Witten Angehörige eines Freikorps in eine Demonstration schossen und mehrere<br />
Arbeiter töteten, kam es zu spontanen Arbeitsnie<strong>de</strong>rlegungen, die sich rasch zu einem Generalstreik<br />
ausweiteten. Weitreichen<strong>de</strong> politische For<strong>de</strong>rungen wur<strong>de</strong>n laut. Das war für die Reichsregierung <strong>de</strong>r<br />
willkommene Anlaß, durchzugreifen und <strong>de</strong>n Belagerungszustand zu verhängen. Damit galt automatisch<br />
das Kriegsrecht. Die Macht lag nun in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Generalleutnants Freiherr von Watter, eines<br />
preußischen Bil<strong>de</strong>rbuchmilitärs, und <strong>de</strong>r machte ganze Arbeit. Die "führen<strong>de</strong>n Agitatoren" wan<strong>de</strong>rten in<br />
Schutzhaft, Versammlungen und Publikationen außer <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r SPD wur<strong>de</strong>n verboten. Deren<br />
Gewerkschaften übernahmen nun taktisch geschickt die For<strong>de</strong>rung nach <strong>de</strong>m Sechsstun<strong>de</strong>ntag und<br />
verkün<strong>de</strong>ten nach kurzen Verhandlungen stolz <strong>de</strong>n errungenen Sieg: siebeneinhalb Stun<strong>de</strong>n und<br />
Schmalzstullen für alle!<br />
Der erste große autonome Bergarbeiterkampf <strong>de</strong>s Ruhrgebietes stand plötzlich ohne Kopf da. Dennoch<br />
hielt <strong>de</strong>r Streik, nahm sogar an Intensität noch zu. In etlichen Betrieben verhin<strong>de</strong>rten die Arbeiter nun<br />
auch sogenannte ›Notschichten‹, die die Anlagen vor größeren Schä<strong>de</strong>n bewahren sollten. Bei Hoesch ließ<br />
man einen Hochofen in aller Ruhe ausglühen und ruinierte ihn so für min<strong>de</strong>stens ein Jahr. Unternehmer<br />
und Sozial<strong>de</strong>mokraten waren entsetzt - sowas hatten <strong>de</strong>utsche Arbeiter noch nie getan! Vierzig Tage hielt<br />
<strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand an, erst dann begann die Streikfront zu bröckeln. Die SPD propagierte Vernunft und<br />
stellte "die Behandlung <strong>de</strong>r Sozialisierungsfrage im Reichstag" in Aussicht. Die erste Kraftprobe war<br />
verloren, aber die Arbeiter hatten viel gelernt. Von einigen Zechen ist belegt, daß sie noch ein volles Jahr<br />
lang <strong>de</strong>n Sechsstun<strong>de</strong>ntag beibehielten.<br />
Der Moment, aus diesen Lehren Konsequenzen zu ziehen, sollte schon bald kommen: Am 13. März 1920<br />
putscht <strong>de</strong>r rechtsradikale Politiker Wolfgang Kapp gegen die Reichsregierung in Berlin. Unterstützt wird<br />
er von <strong>de</strong>m Reichswehrgeneral von Lüttwitz und <strong>de</strong>r Marinebriga<strong>de</strong> Ehrhardt, <strong>de</strong>m ersten Freikorps, das<br />
Hakenkreuze an <strong>de</strong>n Stahlhelmen trägt. Die Regierung flieht aus Berlin, die Faschisten marschieren auf<br />
die Hauptstadt und - aufs Ruhrgebiet. Die Reichswehr ist gespalten: Ein Teil schließt sich Kapp an, ein<br />
Teil zögert, weil sie Kapp nicht für voll nimmt und stellt sich später auf die Seite <strong>de</strong>r Regierung. Wer<br />
nicht zögert, sind die Proleten. Im ganzen Reich wird <strong>de</strong>r Generalstreik ausgerufen und fast vollständig<br />
befolgt. Am weitesten jedoch gehen die Kumpels an <strong>de</strong>r Ruhr. Hier hat man nicht vergessen, was ein Jahr<br />
vorher geschehen war. Die Arbeiter bewaffnen sich, stellen eine "Rote Ruhr Armee" auf und begegnen<br />
<strong>de</strong>m Putsch auf eigene Faust. Es entsteht eine regelrechte Front quer durchs Ruhrgebiet bis ins<br />
Münsterland hinein.<br />
Der militärische Kampf war kurz. Nach nur fünf Tagen bricht <strong>de</strong>r rechte Putsch zusammen. Kapp und<br />
seine Drahtzieher fliehen. Generalstreik, Reichswehr und Rote Ruhr Armee hatten <strong>de</strong>n ersten<br />
faschistischen Spuk verjagt. Nach Meinung <strong>de</strong>r Regierung war nun<br />
317<br />
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alles wie<strong>de</strong>r normal. Den Arbeitern wur<strong>de</strong> artig gedankt, und sie sollten doch, bitte schön, nun die Waffen<br />
abliefern und wie<strong>de</strong>r arbeiten gehen. Die aber sahen das an<strong>de</strong>rs. Sie hielten die Macht in Hän<strong>de</strong>n – warum<br />
sollten sie diese Errungenschaft wie<strong>de</strong>r aufgeben? Die Lehren <strong>de</strong>s vergangenen Frühjahrs waren noch
frisch, und die alten For<strong>de</strong>rungen keineswegs erfüllt; viele sahen die Chance, <strong>de</strong>n verpaßten Umsturz jetzt<br />
zu vollen<strong>de</strong>n. Die Rote Ruhr Armee blieb unter Waffen, und so wur<strong>de</strong> am 17. März die Front <strong>de</strong>r Arbeiter<br />
gegen Kapp zu einer Front <strong>de</strong>r Reichswehr gegen die Arbeiter.<br />
Achtzehn Tage dauerte <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand gegen das Militär, achtzehn Tage, in <strong>de</strong>nen im ›Hinterland‹ viel<br />
geschah. Schon zu Beginn <strong>de</strong>s Putsches hatte man die Gefängnisse gestürmt und "die Genossen befreit".<br />
In je<strong>de</strong>r Stadt und Gemein<strong>de</strong> bil<strong>de</strong>ten sich sogenannte "Vollzugsausschüsse", die sich <strong>de</strong>r Organisation<br />
<strong>de</strong>s täglichen Lebens annahmen. Die staatlichen Organisationen hatten sich als unfähig erwiesen und<br />
wur<strong>de</strong>n einfach ignoriert. Beson<strong>de</strong>rs im Dortmun<strong>de</strong>r Raum versuchte man, mit <strong>de</strong>r Selbstverwaltung ernst<br />
zu machen. In <strong>de</strong>n Betrieben hielt man Wahlen ab, und alles, was <strong>de</strong>r Staat seit April 1919 schrittweise<br />
abgeschafft hatte, wur<strong>de</strong> nun wie<strong>de</strong>r eingefühlt. Diesmal ging man sogar noch weiter.<br />
Die Versorgung <strong>de</strong>r Bevölkerung lag nun in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Räte. Der Austausch mit <strong>de</strong>n Bauern wur<strong>de</strong><br />
organisiert, Preise wur<strong>de</strong>n festgesetzt, Transport und Verteilung geregelt. Die wenigen erhaltenen<br />
Dokumente jener Tage zeigen, daß man sich auch mit <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Alltags befaßte, etwa, was die<br />
Regelung von Alkoholkonsum auf Festlichkeiten, die Schlichtung von Streit zwischen Nachbarn und<br />
Kollegen o<strong>de</strong>r die Entschädigung aufgebrachter La<strong>de</strong>nbesitzer anging, bei <strong>de</strong>nen man Waren für die<br />
Armee requiriert hatte. Auch die Empfehlung, freiwillig das Backen von Kuchen einzuschränken, weil<br />
dafür zuviel Eier und Zucker verwen<strong>de</strong>t wür<strong>de</strong>n, zeigt durchaus ein Gespür für die Wichtigkeit von<br />
Details.<br />
Dabei ging es natürlich um Größeres. Die gleichen For<strong>de</strong>rungen, die schon die Resolution <strong>de</strong>s<br />
Generalstreiks vom Vorjahr enthielt, kamen jetzt wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Tisch: allgemeine Anerkennung <strong>de</strong>s<br />
Rätesystems, Bildung einer revolutionären "Arbeiterwehr", Freilassung <strong>de</strong>r politischen Gefangenen,<br />
generelle Einführung <strong>de</strong>s Sechsstun<strong>de</strong>ntages, 25-prozentige Lohnanhebung, Entwaffnung <strong>de</strong>r Polizei im<br />
Revier und Auflösung <strong>de</strong>r Freikorps. Was immer möglich war, wur<strong>de</strong> nun versucht, umzusetzen. Aber<br />
nur knapp drei Wochen dauerte das Machtvakuum, in <strong>de</strong>m die Syndikalisten die Geschicke einer großen<br />
Stadt, ja, einer ganzen Region in Hän<strong>de</strong>n hielten. Zu wenig Zeit, um große Erfolge zu erzielen.<br />
Achtzehn Tage nach Beginn <strong>de</strong>s Aufstan<strong>de</strong>s schließt das Gros <strong>de</strong>r arg bedrängten Roten Ruhr Armee mit<br />
<strong>de</strong>r Reichswehr einen Frie<strong>de</strong>nsvertrag. Dieses "Bielefel<strong>de</strong>r Abkommen" aber wird vom Militär kaum<br />
eingehalten. Die besten Kämpfer und die fähigsten Organisatoren sterben unter <strong>de</strong>n Kugeln <strong>de</strong>r<br />
vorrücken<strong>de</strong>n Truppe. Der Traum von Selbstverwaltung und Räte<strong>de</strong>mokratie wird zerschlagen, die<br />
Generale räumen auf. Im April 1920 stirbt im Ruhrgebiet <strong>de</strong>r letzte Rest <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Revolution vom<br />
November 1918.<br />
318<br />
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Man kann das, was sich in jenen Wochen in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Bergbaumetropole abspielte, ohne<br />
Übertreibung die ›Commune von Dortmund‹ nennen. Die Ähnlichkeit mit <strong>de</strong>n Ereignissen von Paris,<br />
Kronstadt, Buenos Aires o<strong>de</strong>r Barcelona fällt gera<strong>de</strong>zu ins Auge. Niemand hat ihr je diesen Namen<br />
gegeben, aber <strong>de</strong>nnoch hat sie existiert. Daß es diesen Namen nicht gibt, daß in Deutschland diese<br />
Ereignisse so gut wie unbekannt blieben, hat viel mit Geschichtsschreibung und Parteilichkeit zu tun.<br />
Denn die Träger dieser Bewegung waren Anarchosyndikalisten, und die passen überhaupt nicht ins Bild<br />
gängiger <strong>de</strong>utscher Geschichtsraster.<br />
Der <strong>de</strong>utsche Anarchosyndikalismus<br />
Sechzig Prozent <strong>de</strong>r aktiven Kämpfer <strong>de</strong>r Region trugen, ebenso wie zwölftausend Arbeiter allein im<br />
Raum Groß-Dortmund, ein kleines grünes Mitgliedsbuch mit <strong>de</strong>m Aufdruck F.A.U.D, in <strong>de</strong>r Tasche.<br />
Dabei hatte sich die Freie Arbeiter Union Deutschlands erst im September 1919 gegrün<strong>de</strong>t. Ihr Vorläufer<br />
war die Freie Vereinigung <strong>de</strong>utscher Gewerkschaften, ein 1897 gegrün<strong>de</strong>ter Oppositionsverband, <strong>de</strong>r seit<br />
1904 anarchosyndikalistische Positionen vertrat und bei Kriegsbeginn gera<strong>de</strong> mal achttausend Mitglie<strong>de</strong>r<br />
zählte. Trotz massivster Behin<strong>de</strong>rung und blutiger Verfolgung während <strong>de</strong>s Krieges steht diese kleine
Gruppe nach <strong>de</strong>m Umsturz von 1918 plötzlich auf <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>r Zeit und stellt sich <strong>de</strong>r Herausfor<strong>de</strong>rung.<br />
Nicht zuletzt wegen ihrer konsequenten Haltung gegen <strong>de</strong>n Krieg und ihrer klaren Vorstellungen zur<br />
Sozialisierung <strong>de</strong>r Industrie laufen ihr nun diejenigen Arbeiter zu, die zwischen sozial<strong>de</strong>mokratischer<br />
Regierung und kommunistischer Diktatur eine Alternative suchen. Im Sommer 1919 zählt sie bereits<br />
sechzigtausend Mitglie<strong>de</strong>r. Aus <strong>de</strong>n Kämpfen im Ruhrgebiet waren zahlreiche autonome<br />
Gewerkschaftsgruppen hervorgegangen; weitere sechzigtausend Arbeiter, die sich nun mit <strong>de</strong>r Freien<br />
Vereinigung zur anarchosyndikalistischen FAUD verbin<strong>de</strong>n. Jetzt gibt es auch in Deutschland eine<br />
libertäre Arbeiterbewegung mit einer festen Organisation und einem konkreten Programm.<br />
Die <strong>de</strong>utschen Anarchisten, seit über vierzig Jahren stets im Schatten <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie, waren<br />
sozusagen über Nacht zu politischen ›Trendsettern‹ gewor<strong>de</strong>n. Im Ruhrgebiet willen sie sogar die<br />
dominieren<strong>de</strong> Kraft. Hervorgegangen aus kleinen, illegalen Grüppchen Gleichgesinnter entstehen im<br />
Revier innerhalb weniger Monate ganze Gewerkschaftszweige. Allein im Dortmun<strong>de</strong>r Raum sind 1921 an<br />
die zwanzigtausend ›Malocher‹ in <strong>de</strong>r anarchistischen Gewerkschaft organisiert. Auch im restlichen<br />
Deutschland wächst die Anhängerschaft <strong>de</strong>r FAUD, die 1925, auf <strong>de</strong>m Höhepunkt ihrer Entwicklung,<br />
hun<strong>de</strong>rtfünfzigtausend betragen wird. An<strong>de</strong>re syndikalistische Organisationen wie die Allgemeine<br />
Arbeiter Union bringen es ebenfalls auf fast hun<strong>de</strong>rttausend Mitglie<strong>de</strong>r.<br />
In diesem Umfeld ge<strong>de</strong>iht ein breites Spektrum an Presse und Literatur, und zum ersten Male gelangt<br />
auch in Deutschland anarchistisches Gedankengut zu Massenauflagen und einer gewisscn Popularität. Die<br />
Wochenzeitung <strong>de</strong>r FAUD, Der Syndikalist, erreicht trotz zahlreicher Verbote eine Leserschaft von<br />
Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong>n, und in Düsseldorf erscheint gar eine anarchistische Tageszeitung, die <strong>de</strong>n vielsagen<strong>de</strong>n<br />
Titel Die Schöpfung trägt. Unter<br />
319<br />
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<strong>de</strong>r Regie <strong>de</strong>s alten Gewerkschafters und Anarchoverlegers Fritz Kater entsteht eine Büchergil<strong>de</strong>, die<br />
leichtverständliche Broschüren, anspruchsvolle Literatur und preiswerte Anarchoklassiker unters Volk<br />
bringt und gleichzeitig <strong>de</strong>n Vertrieb zahlreicher libertärer Zeitschriften besorgt. Diese entstehen nun in<br />
großer Zahl und widmen sich, sofern sie nicht regional o<strong>de</strong>r branchenspezifisch ausgerichtet sind, <strong>de</strong>n<br />
unterschiedlichsten Zielgruppen und Themen: Frauen, Antimilitarismus, Kin<strong>de</strong>r, Kultur, Jugend, Theorie,<br />
Individualismus, Satire, Atheismus und Literatur.<br />
Im Windschatten <strong>de</strong>r FAUD ge<strong>de</strong>iht eine rege libertäre Bewegung, von <strong>de</strong>r sich Teile in einer<br />
Anarchistischen Fö<strong>de</strong>ration, einer Jugendorganisation, einem Frauenbund organisieren. Eine solch bunte,<br />
libertäre Alltagskultur war Deutschland bisher fremd. Vom strammen Gewerkschafter über die<br />
Künstlerboheme bis zur Kommunesiedlung fin<strong>de</strong>t sich hier so ziemlich das ganze Spektrum wie<strong>de</strong>r. In<br />
Berlin grün<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r anarchistische Frie<strong>de</strong>nsaktivist Ernst Friedrich das erste - und bis heute einzige -<br />
Antikriegsmuseum <strong>de</strong>r Welt.<br />
Was die rein syndikalistische Bewegung angeht, so wur<strong>de</strong> sie in gewisser Weise Opfer ihres eigenen<br />
Anfangserfolges. Seit ihrer Gründung litt sie unter <strong>de</strong>m kometenhaften Aufstieg, mit <strong>de</strong>m sie auf die<br />
politische Bühne gestolpert war. Massen von Arbeitern waren ihr urplötzlich zugeströmt, Menschen, die<br />
gewohnt waren, daß die Gewerkschaft für sie han<strong>de</strong>lt. Die Vermittlung libertärer Eigenständigkeit, das<br />
Erlernen autonomen Han<strong>de</strong>lns ist jedoch ein langer Prozeß. In Spanien, Argentinien, Italien gab es hierzu<br />
Gelegenheit, die FAUD aber war zu schnell gewachsen. Sie selbst beklagte stets einen gewissen "Mangel<br />
an Reife" ihrer Mitgliedschaft und tat in <strong>de</strong>r Folgezeit alles, um dieses Defizit auszugleichen. Mit diesem<br />
Defizit aber stand sie von <strong>de</strong>r ersten Stun<strong>de</strong> an inmitten heftigster sozialer Kämpfe wie <strong>de</strong>m an <strong>de</strong>r Ruhr.<br />
Kämpfe, in <strong>de</strong>nen sie Hervorragen<strong>de</strong>s leistete, die sie aber nicht ›gewinnen‹ konnte.<br />
Zwar gelang es <strong>de</strong>r FAUD, in einigen Branchen und verschie<strong>de</strong>nen Regionen Fuß zu fassen und soli<strong>de</strong><br />
Organisationsarbeit zu leisten, aber sie konnte sich lan<strong>de</strong>sweit nie als Alternative durchsetzen. In <strong>de</strong>r<br />
Arbeiterschaft wur<strong>de</strong> sie zunehmend als eine Protestgewerkschaft empfun<strong>de</strong>n. Ähnliches galt für ihr<br />
konsequentes Programm sowie ihre richtungsweisen<strong>de</strong>n Standpunkte zu <strong>de</strong>n politischen Fragen <strong>de</strong>r Zeit:
Sie wur<strong>de</strong>n oft mit Beifall aufgenommen, aber nicht befolgt. Ein so brillanter Kopfe wie <strong>de</strong>r FAUD-<br />
Organisator und Vor<strong>de</strong>nker Rudolf Rocker war zwar ein vielgelesener Autor und gern gela<strong>de</strong>ner<br />
Vortragsredner, aber in <strong>de</strong>r atemlosen Alltagspolitik dominierten längst an<strong>de</strong>re Schlagworte. Es wur<strong>de</strong><br />
wie<strong>de</strong>r kürzer gedacht, wenn überhaupt, <strong>de</strong>nn zwischen zwei ›Alternativen‹, die sich glichen wie ein Ei<br />
<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren, blieb nicht viel Platz zum Denken: Nazis und Stalinisten polarisierten zunehmend die<br />
Politik <strong>de</strong>r Weimarer Republik, im Hintergrund eine unschlüssige SPD und die rechtslastige bürgerliche<br />
Mitte. NSDAP und KPD bombardierten die Arbeiterschaft mit aufpeitschen<strong>de</strong>n Parolen, und bei<strong>de</strong><br />
versprachen einen starken, genialen Führer, <strong>de</strong>r alles lösen könnte. Sie verfügten über riesige Geldmittel<br />
für Organisation und Propaganda und zögerten nicht, <strong>de</strong>m politischen Gegner mit <strong>de</strong>m Schlagring zu<br />
antworten. Da blieb für eine kleine und finanzschwache Bewegung, die<br />
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eigenständiges Denken und autonomes Han<strong>de</strong>ln zum Inhalt hatte, auf Dauer kein Platz. Im Grun<strong>de</strong> hatte<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Anarchosyndikalismus nie eine wirkliche Chance.<br />
Dennoch hat die FAUD ihre Rolle mit Bravour gespielt. Die ständigen Verbote ihrer Zeitung belegen, wie<br />
oft ihre Kritik <strong>de</strong>n Nerv <strong>de</strong>r Zeit traf. Mit einer Klarheit, die damals beim Durchschnittsbürger nur<br />
Kopfschütteln erregte, wies sie darauf hin, daß Denkstruktur und Handlungsmuster von Faschismus und<br />
Stalinismus i<strong>de</strong>ntisch seien und sich nur durch ihre i<strong>de</strong>ologische Tünche voneinan<strong>de</strong>r unterschie<strong>de</strong>n. Es<br />
ist schon fast von symbolhafter Ironie, daß die Veröffentlichung von Rudolf Rockers tiefgründigem Werk<br />
über <strong>de</strong>n Gegensatz von Nationalismus und Kultur ausgerechnet durch die Machtübernahme <strong>de</strong>r Nazis<br />
verbin<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>. Es erschien erst 1949 unter <strong>de</strong>m Titel "Die Entscheidung, <strong>de</strong>s Abendlan<strong>de</strong>s". Da wur<strong>de</strong><br />
es zwar von Albert Einstein, Thomas Mann und Bertrand Russell sehr gelobt, aber die Zeit, in <strong>de</strong>r es unter<br />
<strong>de</strong>n Menschen etwas hätte bewirken können, war längst vorbei.<br />
Als 1933 die FAUD zusammen mit allen an<strong>de</strong>ren linken Organisationen zerschlagen wur<strong>de</strong>, gaben jedoch<br />
nicht alle Syndikalisten <strong>de</strong>n Kampf gegen Hitler auf. Der Wi<strong>de</strong>rstand in Deutschland, <strong>de</strong>r hauptsächlich<br />
von Exilierten aus <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>n unterstützt wur<strong>de</strong>, kostete vielen Libertären Freiheit und Leben.<br />
Viele von <strong>de</strong>nen, die damals ins Ausland fliehen konnten, fin<strong>de</strong>n wir 1936 in Spanien wie<strong>de</strong>r, wo sie eine<br />
eigene Kampfgruppe <strong>de</strong>utscher Anarchosyndikalisten gegen <strong>de</strong>n Faschismus aufstellten. Ihre Zeitung Die<br />
Soziale Revolution legt Zeugnis ab von <strong>de</strong>r letzten Bastion einer libertären Gewerkschaft, die bei <strong>de</strong>r<br />
Geburt <strong>de</strong>r ersten <strong>de</strong>utschen Republik ein Hoffnungsträger für große Teile <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Arbeiterschaft<br />
war, und die mit dieser Republik unterging.<br />
Importiertes Saatgut<br />
Der verhängnisvolle Fehlstart <strong>de</strong>r FAUD hat natürlich auch damit zu tun, daß es vor 1918 m Deutschland<br />
keine wirklich lebendige anarchistische Bewegung gab, und libertäre I<strong>de</strong>en nicht annähernd so verbreitet<br />
waren wie etwa in Spanien, Frankreich o<strong>de</strong>r Italien. Hierfür gibt es eine Reihe von Grün<strong>de</strong>n, und die<br />
weisen stets auf die merkwürdigen Ursprünge <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Anarchismus.<br />
Alle Wurzeln libertären Denkens in Deutschland führen ins Ausland. Es han<strong>de</strong>lte sich durchweg um<br />
Importware, die in gedruckter Form über die Grenzen kam, und wenn man einmal von Foignys<br />
"Südlandreise" absieht, die 1704 in <strong>de</strong>utscher Übersetzung erschien und weitgehend folgenlos blieb, so<br />
eröffnete Proudhon <strong>de</strong>n Reigen libertärer Denker, <strong>de</strong>ren I<strong>de</strong>en in Deutschland ein gewisses Echo fan<strong>de</strong>n.<br />
1844 erschien in Bern die erste <strong>de</strong>utsche Übersetzung seiner Schrift über das Eigentum, 1865 lagen von<br />
ihm bereits 20 Bän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>utscher Sprache vor und wirkten still vor sich hin. Dies geschah in erster Linie<br />
geistesgeschichtlich das heißt, in Kreisen sogenannter gebil<strong>de</strong>ter Leute, die mehr o<strong>de</strong>r weniger<br />
philosophisch, ökonomisch o<strong>de</strong>r klassenkämpferisch interessiert waren. Daß hieraus keine anarchistsiche<br />
Bewegung entstand, hat, abgesehen von <strong>de</strong>m Mißtrauen, mit <strong>de</strong>m fremdländische Gedanken in<br />
Deutschland traditionell zu kämpfen haben, im wesentlichen zwei Ursachen.<br />
321
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Die erste ist in jener beson<strong>de</strong>ren Form <strong>de</strong>s i<strong>de</strong>ologischen Papsttums zu suchen, mit <strong>de</strong>m Marx und Engels<br />
von Anfang an die Herausbildung <strong>de</strong>s Sozialismus überzogen. Gera<strong>de</strong> in Deutschland dominierten sie aus<br />
ihren starken Schlüsselpositionen heraus die Debatte und je<strong>de</strong> weitere Entwicklung. So gingen sie in<br />
scharfer Polemik gegen abweichen<strong>de</strong> Meinungen vor und versuchten nacheinan<strong>de</strong>r Feuerbach, Bauer,<br />
Stirner, Proudhon, Bakunin, Weitung, Grün, Heß und Dühring "abzumurksen", wie Engels sich<br />
ausdrückte. Auf diese Weise mangelte es <strong>de</strong>r sozialistischen Bewegung von vornherein an Vielfalt;<br />
Gegenpositionen gelangten gar nicht erst unter die Leute.<br />
Die zweite Ursache ist mit <strong>de</strong>r ersten eng verwandt, sie liefert in gewisser Weise sogar die Erklärung für<br />
das ›Phänomen Marx/Engels‹ und ihre staatstriefen<strong>de</strong> Vision vom Sozialismus. Die Deutschen sind das<br />
Produkt einer allgegenwärtigen staatlichen Erziehung und Durchdringung. Relativ spät zur Nation<br />
gewor<strong>de</strong>n, wur<strong>de</strong> ihnen nichts mehr ans Herz gelegt, als zu nationalem Ruhm und vaterländischer Größe<br />
zu streben. Fast einhun<strong>de</strong>rt Jahre lang wur<strong>de</strong> die Energie eines ganzen Volkes auf wirtschaftliche Macht,<br />
Aus<strong>de</strong>hnung, Militär und Kolonien vergeu<strong>de</strong>t. Deutschland war <strong>de</strong>r klassische "Obrigkeitsstaat". Die<br />
entsprechen<strong>de</strong>n Tugen<strong>de</strong>n waren je<strong>de</strong>m ›guten Deutschem so in die Wiege gelegt, daß er sich nichts<br />
Würdiges, Diszipliniertes und Funktionieren<strong>de</strong>s ohne Gehorsam und Staat vorstellen konnte. Das hat auch<br />
auf die <strong>de</strong>utschen Sozialisten abgefärbt. Nichts hat sie je so hart getroffen wie Bismarcks Vorwurf, sie<br />
seien "vaterlandslose Gesellen". Nicht zufällig war daher die sozialistische Bewegung in Deutschland<br />
immer in erster Linie eine autoritäre. Die staatstragen<strong>de</strong> <strong>de</strong>utsche Sozial<strong>de</strong>mokratie, erst marxistisch, dann<br />
revisionistisch*, dann opportunistisch*, war und ist bis heute weltweit das leuchten<strong>de</strong> Vorbild aller<br />
Durchschnittssozialisten.<br />
Das war kein guter Acker für die Anarchie, und so dauerte es lange, bis das importierte Saatgut aufging<br />
und libertäre Keime trieb. Ab 1874 wer<strong>de</strong>n erste anarchistische Gruppen bekannt, vornehmlich in <strong>de</strong>n<br />
größeren Städten. Es han<strong>de</strong>lt sich durchweg um sozialistische Arbeiter, für die die anarchistischen I<strong>de</strong>en<br />
einfach die ehrlichere Form <strong>de</strong>s Sozialismus sind. Sie wer<strong>de</strong>n immer wie<strong>de</strong>r polizeilich verfolgt und<br />
haben es schwer genug, ihre bloße Existenz als Gruppe zu behaupten. Ein französischer Anarchist, Victor<br />
Dave, leistet dabei wichtige organisatorische Hilfestellung. Ab 1876 erscheint in Bern die vom<br />
unermüdlichen Paul Brousse vierzehntägig herausgegebene "Arbeiterzeitung", die auch in Deutschland<br />
und Österreich verbreitet wird. Sie steht unter starkem Einfluß <strong>de</strong>r italienischen Fö<strong>de</strong>ration, die <strong>de</strong>n<br />
kommunistischen Anarchismus und <strong>de</strong>n revolutionären Aufstand predigt.<br />
1878 dienen die Attentatsversuche <strong>de</strong>r Nicht-Anarchisten Hö<strong>de</strong>l und Nobiling auf <strong>de</strong>n Kaiser zum<br />
Vorwand für das "Sozialistengesetz", das die gesamte Linksopposition verbietet. Während <strong>de</strong>r Illegalität<br />
hängen die versprengten <strong>de</strong>utschen Anarchisten erneut am Tropf <strong>de</strong>s Auslan<strong>de</strong>s: Die seit 1879 von Johann<br />
Most in London herausgegebene Freiheit, eigentlich ein sozial<strong>de</strong>mokratisches Blatt, wird zur populärsten<br />
sozialistischen Zeitung <strong>de</strong>utscher Sprache und wen<strong>de</strong>t sich zunehmend anarchistischen Positionen zu.<br />
Zum Entsetzen <strong>de</strong>r nach Zürich emigrierten Parteileitung schwingt sich das respektlose Blatt aus <strong>de</strong>r<br />
322<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
miesen Stimmung, die die Parteibasis in Deutschland befallen hatte, zu ungeahnter Popularität auf. Schon<br />
damals muckte das Fußvolk vernehmlich gegen <strong>de</strong>n Anpassungskurs <strong>de</strong>r SPD und ließ sich in<br />
gepfefferten Tira<strong>de</strong>n über Selbstherrlichkeit, Vetternwirtschaft und Professorendünkel <strong>de</strong>r Parteibeamten<br />
aus. Die legendäre Freiheit wur<strong>de</strong> auf extradünnem Papier gedruckt und auf abenteuerlichen Wegen nach<br />
Deutschland geschmuggelt. In Österreich, wo die preußischen Gesetze nicht galten, konnte das Blatt<br />
relativ offen vertrieben wer<strong>de</strong>n. Hier war es Anarchisten unter <strong>de</strong>m Einfluß von Josef Peukert gelungen,<br />
in einigen sozial<strong>de</strong>mokratischen Hochburgen Fuß zu fassen.<br />
1881 nehmen <strong>de</strong>utsche Vertreter am anarchistischen Kongreß in London teil, <strong>de</strong>ssen Absegnung <strong>de</strong>r<br />
"Propaganda <strong>de</strong>r Tat" auch unter <strong>de</strong>n marginalisierten <strong>de</strong>utschen Anarchisten ihr Echo fin<strong>de</strong>t. 1883 plant
eine Gruppe um August Reinsdorf, bei <strong>de</strong>r Einweihung <strong>de</strong>s vaterländischen Nie<strong>de</strong>rwald-Denkmals <strong>de</strong>n<br />
Kaiser mitsamt <strong>de</strong>n dort versammelten <strong>de</strong>utschen Fürsten und Bischöfen in die Luft zu sprengen. Das<br />
Attentat mißlingt, Reinsdorf wird 1885 zusammen mit seinem Gesinnungsgenossen Küchler in Leipzig<br />
enthauptet. Im gleichen Jahr ersticht Julius Lieske aus Rache <strong>de</strong>n Polizeikommissar Rumpf, <strong>de</strong>r sich bei<br />
fast allen Anarchistenverfolgungen beson<strong>de</strong>rs hervorgetan hatte. Als 1885 auch Lieske in Kassel<br />
hingerichtet wird, geht die kurze Phase <strong>de</strong>s individuellen Terrors im <strong>de</strong>utschen Anarchismus zu En<strong>de</strong>.<br />
Von einer anarchistischen Bewegung im eigentlichen Sinne aber kann noch immer keine Re<strong>de</strong> sein.<br />
Dennoch hat es in Deutschland schon vorher eine mächtige Strömung gegeben, die an-archisch war, ohne<br />
es zu ahnen. Sie steht in ihrer ganzen Wi<strong>de</strong>rsinnigkeit für die verfahrene politische Situation, in <strong>de</strong>r sich<br />
die Spätgeburt <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Anarchismus abspielte.<br />
Johann Most, anarchoi<strong>de</strong>r Volkstribun <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie<br />
Der populärste Mann, <strong>de</strong>n die Sozial<strong>de</strong>mokratische Partei jemals an <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r Arbeiterschaft hatte,<br />
hieß Johann Most. Mit fünfundzwanzig Jahren saß er als einer <strong>de</strong>r jüngsten Parlamentarier Deutschlands<br />
im Reichstag, <strong>de</strong>n er aber überhaupt nicht ernst nahm. Das "Reichskasperletheater", wie er es<br />
<strong>de</strong>spektierlich* taufte, diente ihm lediglich als Plattform, um <strong>de</strong>n Parlamentarismus in einer Weise<br />
lächerlich zu machen, die wir heute "Spaßguerilla" nennen wür<strong>de</strong>n. Nicht zuletzt <strong>de</strong>swegen war er bei <strong>de</strong>n<br />
sozial<strong>de</strong>mokratischen Arbeitern überaus beliebt. Die wählten ihn - sehr zum Verdruß <strong>de</strong>r Parteifürsten -<br />
immer wie<strong>de</strong>r und rissen sich in verschie<strong>de</strong>nen Städten gera<strong>de</strong>zu um seine Kandidatur. Seinen letzten<br />
Wahlkampf bestritt er aus einer Gefängniszelle in Plötzensee und schlug seinen bürgerlichen<br />
Gegenkandidaten im fernen Chemnitz mit vierzehntausend zu zehntausend Stimmen - und das, obwohl<br />
dieser das Gerücht ausgestreut hatte, Most habe sich im Gefängnis erhängt, und je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r ihn nicht wähle,<br />
erhalte zum Dank "Dünnbier, saure Gurken und Speck". Der gelernte Buchbin<strong>de</strong>r brachte aber nicht nur<br />
glänzen<strong>de</strong> Wahlergebnisse ein, er war auch anerkannter Spezialist für Mobilisation. Wo immer er<br />
auftauchte, sorgte er für überfüllte Vortragssäle, hochschnellen<strong>de</strong> Zeitungsauflagen, steigen<strong>de</strong><br />
Mitgliedszahlen und die tollsten<br />
323<br />
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Demonstrationen, die das Kaiserreich je erlebte. Wenn Most zum Aufmarsch rief, gab es keine ö<strong>de</strong>n<br />
Trauermärsche, son<strong>de</strong>rn provokante Happenings, kunstvoll inszeniert, mit peinlichen Fallen für<br />
Gendarmen und Bürger. Berüchtigt war die ironische Schärfe und die anschauliche, einfache Sprache, die<br />
er in seinen Re<strong>de</strong>n und Schriften pflegte. Als Redakteur <strong>de</strong>r Chemnitzer Freien Presse, <strong>de</strong>r Berliner Freien<br />
Presse und <strong>de</strong>r Süd<strong>de</strong>utschen Volksstimme war er ein ebenso populärer Verbreiter subversiver I<strong>de</strong>en wie<br />
als Verfasser kleiner Agitationsbroschüren, die so provozieren<strong>de</strong> Titel trugen wie "Die Gottespest* o<strong>de</strong>r<br />
"Die Eigentumsbestie". Sie erreichten Massenauflagen, gera<strong>de</strong>so wie das im Gefängnis verfaßte Büchlein<br />
"Kapital und Arbeit", in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r ehemalige Handwerksgeselle <strong>de</strong>n Inhalt von Marxens unverdaulichem<br />
werk "Das Kapital" in die Sprache <strong>de</strong>r einfachen Leute übertrug.<br />
All das geschah in <strong>de</strong>n siebziger Jahren, vor <strong>de</strong>m Sozialistengesetz. Most war damals kein Anarchist,<br />
son<strong>de</strong>rn Sozial<strong>de</strong>mokrat. Er war es genau <strong>de</strong>shalb, weil es in Deutschland fast überall Sozial<strong>de</strong>mokraten<br />
gab und so gut wie keine Anarchisten. Von seinem Temperament jedoch, ebenso wie von seinen<br />
Ansichten und seinem rebellischen Lebenslauf her scheint er <strong>de</strong>r geborene Anarcho gewesen zu sein.<br />
Aber we<strong>de</strong>r ahnte er, daß dieses passen<strong>de</strong> Wort für seine Einstellung existierte, noch, daß es eine<br />
dazugehörige Bewegung gab. Über dreißig Jahre sollte es dauern, bis er diese Ent<strong>de</strong>ckung machte. In<br />
seinen Memoiren erinnert er sich, daß er zwar schon 1867 im Schweizer Jura "bakunistische Arbeiter"<br />
kennenlernte, aber auch die nannten sich damals noch schlicht "Sozialisten". Deren Ansichten allerdings<br />
gaben seinem Sozialismus die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Prägung. ›Anarchisten‹ aber, so schreibt er, habe er damals<br />
we<strong>de</strong>r in Österreich noch in Deutschland jemals getroffen. Das wirft ein bezeichnen<strong>de</strong>s Licht auf <strong>de</strong>n<br />
<strong>de</strong>solaten Zustand <strong>de</strong>r vereinzelten libertären Grüppchen und darauf, wie fest die Sozial<strong>de</strong>mokratie <strong>de</strong>n<br />
politischen Zeitgeist im Griff hatte.
Interessant an dieser ganzen Geschichte ist aber nicht sosehr das Schicksal eines verirrten linksradikalen<br />
Agitationstalentes, son<strong>de</strong>rn das enorme Echo, das ausgerechnet einer wie Most in <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie<br />
fand. Wenn ein begabter Agitator wie ein Anarcho auftritt und damit zum populärsten Sozi wird, wenn<br />
jemand mit antiparlamentarischer Veralberung parlamentarische Triumphe erzielt, wenn sich Arbeiter für<br />
Aktionen begeistern, die so gar nicht ins Konzept <strong>de</strong>r seriösen Arbeiterpartei passen, dann kann einiges<br />
von <strong>de</strong>m, was zu offiziellen Wahrheiten <strong>de</strong>r Sozialgeschichte gewor<strong>de</strong>n ist, nicht recht stimmen. Zum<br />
Beispiel, daß <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Arbeiter stets bie<strong>de</strong>r und mo<strong>de</strong>rat gewesen sei, Ruhe und Ordnung liebend und<br />
für Revolutionen nicht zu haben. Mosts sagenhafte Popularität läßt da an<strong>de</strong>re Schlüsse zu. Wenn unterm<br />
Strich am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r angepaßte Arbeitnehmer herausgekommen ist <strong>de</strong>n wir alle kennen, dann ist die<br />
Sozial<strong>de</strong>mokratie für diesen Saldo verantwortlich. Sie hat sich systematisch genau die Arbeiterschaft<br />
herangezüchtet, die sie brauchte: Wählerpotential. Daß die <strong>de</strong>utschen Proletarier 1914 lammfromm<br />
in <strong>de</strong>n Krieg marschierten o<strong>de</strong>r 1935 nicht gegen Hitler aufstan<strong>de</strong>n, hat die "Führerin <strong>de</strong>r Arbeiterklasse"<br />
nicht nur zu vertreten, sie hat es so gewollt.<br />
Das, was Johann Most unter ›Sozialismus‹ verstand, war zu seiner Zeit in <strong>de</strong>r SPD so normal wie nur<br />
irgen<strong>de</strong>twas. So wie er fühlte, sprach und han<strong>de</strong>lte, so dachten damals<br />
324<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Millionen sozial<strong>de</strong>mokratischer Arbeiter. Bis zum Sozialistengesetz war dies, bringt man die<br />
Manipulationen <strong>de</strong>r Parteileitung in Anrechnung, vielleicht sogar die Mehrheitsmeinung in <strong>de</strong>r SPD. Für<br />
die Partei aber war das Sozialistengesetz eine willkommene Gelegenheit, sich ihres lästigen linken<br />
Flügels zu entledigen. Nach Aufhebung <strong>de</strong>s Verbots war die SPD geläutert und reif für eine staatstragen<strong>de</strong><br />
Rolle.<br />
Als Johann Most sich um 1880 <strong>de</strong>finitiv zum Anarchisten wan<strong>de</strong>lte, lebte er bereits im Exil und hatte<br />
kaum noch direkten Einfluß auf die <strong>de</strong>utsche Arbeiterbewegung. Als sich die Anarchisten schließlich zu<br />
einem Standpunkt bequemten, <strong>de</strong>r für Most und seine Anhänger von 1875 attraktiv gewesen wäre, war<br />
dieser bereits tot - ebenso wie die kämpferische <strong>de</strong>utsche Arbeiterschaft, in <strong>de</strong>r er sich einst bewegte. So<br />
wur<strong>de</strong> er als Sozialist zu spät und als Anarchist zu früh geboren. Wäre <strong>de</strong>r Anarchismus in Deutschland<br />
etwas zeitiger aus <strong>de</strong>n Startlöchern gekommen, hätte jemand wie Most ihm womöglich die Popularität<br />
verschaffen können, die stets so bitter fehlte. An Sympathien in <strong>de</strong>r Arbeiterschaft hätte es je<strong>de</strong>nfalls nicht<br />
gemangelt.<br />
Gustav Landauer: tiefsinnige Konsequenzen<br />
Als 1890 das Sozialistengesetz fiel, feierte die SPD ihre Auferstehung, hinreichend angepaßt m<br />
sozialreformerischen Stimmviehpartei. Zwar war sie auch jetzt noch nicht von innerer Opposition befreit,<br />
<strong>de</strong>nn eine neue politische Generation war herangewachsen, die mit Kritik nicht sparte. Aber diesmal war<br />
es eine Min<strong>de</strong>rheit, mit <strong>de</strong>r man kurzen Prozeß machen konnte. Auf <strong>de</strong>m Kongreß von Erfurt wird<br />
praktisch die gesamte linke Opposition aus <strong>de</strong>r Partei entfernt. Diese Gruppe, im Parteijargon<br />
bezeichnen<strong>de</strong>rweise "Die Jungen" genannt, zieht es jedoch vor, sich zu organisieren: 1891 grün<strong>de</strong>n sie<br />
<strong>de</strong>n "Verein unabhängiger Sozialisten". Aus dieser Dissi<strong>de</strong>ntenbewegung <strong>de</strong>r "Jungen" regeneriert sich<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Anarchismus zu seinem zweiten Anlauf, aus <strong>de</strong>m in <strong>de</strong>r Weimarer Republik dann seine erste<br />
Blüte hervorging. Rudolf Rocker hat hier seine politischen Wurzeln, und er gehört 1897 zu <strong>de</strong>n<br />
Gründungsmitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r "Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften", <strong>de</strong>m Vorläufer <strong>de</strong>r FAUD.<br />
Seine Person steht für eine Fortführung <strong>de</strong>r klassischen anarchistischen Position, die eng mit <strong>de</strong>r<br />
Arbeiterschaft verbun<strong>de</strong>n bleibt und <strong>de</strong>ren Fa<strong>de</strong>n uns direkt zu <strong>de</strong>n Dortmun<strong>de</strong>r Ereignissen von 1919<br />
führt. In diesem Umfeld entstehen noch vor <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> die ersten größeren libertären<br />
Zeitungen Deutschlands, die nicht vom Ausland abhängen: Die Einheit, Neues Leben, Der Freie Arbeiter.<br />
Ansonsten war man überwiegend auf die Mostsche Freiheit angewiesen, die nun aus <strong>de</strong>n USA kam, viel<br />
gelesen wur<strong>de</strong> und bis 1910 erschien. Mit einer Ausnahme, <strong>de</strong>r allerdings wenig Beachtung geschenkt<br />
wur<strong>de</strong>:
Die jungen SPD-Dissi<strong>de</strong>nten hatten bereits 1891, unmittelbar nach ihrem Bruch mit <strong>de</strong>r Partei, ein<br />
unscheinbares Blatt namens Der Sozialist gegrün<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>ssen Schriftleitung wenig später ein<br />
zweiundzwanzigjähriger Anarchist übernimmt: Gustav Landauer.<br />
Der ehemalige Philosophie- und Germanistikstu<strong>de</strong>nt profiliert sich als brillanter Autor und macht die<br />
kleine Zeitung zu einer vielbeachteten Tribüne sozialistischer Diskussion<br />
325<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
und anarchistischer Erneuerung. Dabei geht er einen an<strong>de</strong>ren Weg als Rocker. Landauer ist nicht <strong>de</strong>r<br />
populäre Massenorganisator, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r sensible Denker. Ihm liegt die Gemeinschaft geistig gefestigter,<br />
selbständig han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Individuen näher als die kollektive Anonymität <strong>de</strong>r Gewerkschaften. Ausgehend<br />
vom Versagen <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie entwickelt er in <strong>de</strong>n nächsten zwanzig Jahren ein eigenständiges<br />
anarchistisches Gedankengebäu<strong>de</strong>, das die Grenzen <strong>de</strong>r Arbeiterbewegung erkennt, die Gefahren<br />
i<strong>de</strong>ologischer Vereinnahmung benennt und eine strenge Trennungslinie zwischen Gesellschaft und Staat<br />
zieht. Seine Kritik richtet sich gegen das geistlose wilhelminische Deutschland ebenso wie gegen <strong>de</strong>ssen<br />
Sozial<strong>de</strong>mokraten, spart aber auch die Anarchisten nicht aus. Landauer entwickelt einen ethischen<br />
Sozialismus, an <strong>de</strong>ssen Beginn das "Ich" stehen müsse, das erst "durch Abson<strong>de</strong>rung zur Gemeinschaft<br />
fin<strong>de</strong>n" könne. Solidarisches Han<strong>de</strong>ln setze eine kritische Selbstreflexion voraus, erst dann könne ein<br />
kommunitäres Miteinan<strong>de</strong>r angegangen wer<strong>de</strong>n, wobei auch kleine Verän<strong>de</strong>rungen im Lebensbereich <strong>de</strong>s<br />
Einzelnen ihre Wichtigkeit hätten. Einfacher ausgedrückt be<strong>de</strong>utet das, daß Menschen, die sich selbst<br />
nicht än<strong>de</strong>rn, auch keine ›Revolution machen‹ können, und daß diese Verän<strong>de</strong>rung sofort beginnen kann<br />
und muß. Es scheint fast so, als hätte Landauer die ›Reifeprobleme‹, die die FAUD in <strong>de</strong>n zwanziger<br />
Jahren beklagen wird, genau vorausgesehen.<br />
Landauer ist nicht nur <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Schwäche <strong>de</strong>s zeitgenössischen Anarchismus die<br />
weitreichendsten Konsequenzen zog, in<strong>de</strong>m er ihre tieferen Ursachen analysierte; er ist wohl auch <strong>de</strong>r<br />
tiefgreifendste anarchistische Philosoph, <strong>de</strong>n Deutschland je hervorgebracht hat. Die Bandbreite seines<br />
Schaffens geht weit über das bei Anarchisten übliche Maß hinaus. Neben sachlich gehaltenen<br />
programmatischen Schriften wie "Ein Weg zur Befreiung <strong>de</strong>r Arbeiterklasse", "Die Revolution" o<strong>de</strong>r<br />
"Aufruf zum Sozialismus" widmet sich Landauer auch <strong>de</strong>r Belletristik, <strong>de</strong>r Literaturwissenschaft und<br />
einem kritischem Mystizismus. Die Wege <strong>de</strong>r Erkenntnis und Mittel <strong>de</strong>r Verbreitung sind bei ihm<br />
vielfältig: er schreibt Romane, übersetzt Shakespeare, beschäftigt sich mit jüdischer und mittelalterlicher<br />
Mystik, Erkenntnistheorie und Sprachkritik. Dennoch wird er nicht zum abgehobenen Schöngeist,<br />
son<strong>de</strong>rn bleibt in erster Linie Praktiker, <strong>de</strong>r etwas verän<strong>de</strong>rn will. Seinen ›projektanarchistischen‹ Beitrag,<br />
<strong>de</strong>n Sozialistischen Bund, haben wir bereits vorgestellt1; in einem zweiten praktischen Experiment, <strong>de</strong>m<br />
sich <strong>de</strong>r sanfte Anarchist mit aller Konsequenz verschrieb, sollte er einen tragischen Tod fin<strong>de</strong>n.<br />
Die Münchner Räterepublik<br />
Die Novemberrevolution stürzte in Bayern die Dynastie <strong>de</strong>s Hauses Wittelsbach und machte das<br />
Königreich zum Freistaat. Zum Ministerpräsi<strong>de</strong>nten wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Vorsitzen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Arbeiter- und<br />
Soldatenrates, Kurt Eisner, gewählt - ein aufrechter Sozialist, Kriegsgegner und Mitglied <strong>de</strong>r USPD.<br />
Eisner stand libertären I<strong>de</strong>en mit Sympathie gegenüber und war mit einigen bekannten Anarchisten<br />
befreun<strong>de</strong>t. Sein politisches Programm sah ein behutsames Übergangsmo<strong>de</strong>ll aus Räte<strong>de</strong>mokratie und<br />
Parlament vor, das vor allem <strong>de</strong>m starken<br />
1) Siehe Kapitel 33!<br />
326
--------------------------------------------------------------------------------<br />
politischen Gefälle zwischen <strong>de</strong>n großen Städten und <strong>de</strong>m flachen Land Rechnung tragen sollte. Er<br />
mißtraute <strong>de</strong>m plötzlichen Stimmungsumschwung und <strong>de</strong>r vergänglichen Euphorie revolutionärer<br />
Massen‹. So versuchte er alles, um im Freistaat eine sozialistische Entwicklung in Gang zu setzen, die auf<br />
möglichst breiter Basis stehen sollte. Zu diesem Aufbauwerk gelang es Eisner, einige bekannte Libertäre<br />
zu gewinnen, so <strong>de</strong>n Alternativökonomen Silvio Gesell und Gustav Landauer. Die recht aktive Szene <strong>de</strong>r<br />
Münchner Anarchisten und Linkssozialisten hatte ohnehin aktiv am Umsturz teilgenommen und war<br />
bereits in <strong>de</strong>n diversen Räten und Ausschüssen vertreten. Zu ihnen zählten neben Erich Mühsam auch <strong>de</strong>r<br />
später unter <strong>de</strong>m Pseudonym B. Traven berühmt gewor<strong>de</strong>ne Schriftsteller Ret Marut sowie <strong>de</strong>r<br />
Dramatiker Ernst Toller.<br />
Landauer, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>m unblutigen Verlauf <strong>de</strong>r Revolution in München begeistert war, stellte sich voller<br />
Elan seiner neuen Aufgabe, die Eisner etwas blumig als "rednerische Betätigung an <strong>de</strong>r Umbildung <strong>de</strong>r<br />
Seelen" umschrieb. Den Umsturz in Süd<strong>de</strong>utschland hielt Landauer für tiefgreifen<strong>de</strong>r als an<strong>de</strong>rswo und<br />
sah gute Chancen zu einer Umgestaltung im libertären Sinne. Schon 1911 hatte er in seinem Pamphlet<br />
"Abschaffung <strong>de</strong>s Krieges durch die Selbstbestimmung <strong>de</strong>s Volkes" geschrieben: "We<strong>de</strong>r Regierungen<br />
noch Partei-Bürokraten sollten für das Volk sprechen und <strong>de</strong>nken. Die wahren Schlachten <strong>de</strong>r Völker<br />
wer<strong>de</strong>n im Unsichtbaren geschlagen; nicht Haß und Gewalt schlagen sie, son<strong>de</strong>rn Liebe und Arbeit." Dies<br />
umzusetzen schien ihm nun möglich, und er nutzte die wenigen Monate, die <strong>de</strong>m revolutionären Freistaat<br />
vergönnt waren, zu emsiger Tätigkeit. Sein Hauptaugenmerk war dabei auf die Stärkung einer<br />
<strong>de</strong>mokratischen Rätekultur gerichtet, die eine direkte Beteiligung möglichst vieler Menschen<br />
gewährleisten sollte. Seinem Wirkungskreis entsprechend knüpfte Landauer hierbei die Kontakte, die ihn<br />
dann in <strong>de</strong>r Räterepublik zur Übernahme <strong>de</strong>s Kulturressorts prä<strong>de</strong>stinierten*.<br />
Vor allem mußte die junge Bewegung versuchen, ihre soziale Basis zu erweitern. Die war außerhalb<br />
Münchens, Ingolstadts, Nürnbergs und Augsburgs sehr schwach. Selbst in <strong>de</strong>r Hauptstadt konnte sie sich<br />
neben einigen bekannten Intellektuellen nur auf die radikalisierten Soldaten und die Arbeiterschaft stützen<br />
- und selbst die war gespalten. Die SPD <strong>de</strong>s rechten Flügels trat zwar <strong>de</strong>r Regierung bei, aber nur, um von<br />
dieser Position aus je<strong>de</strong> revolutionäre Verän<strong>de</strong>rung zu hintertreiben. Wie überall im Reich agitierte sie in<br />
<strong>de</strong>n Fabriken gegen die Räte und torpedierte alle Initiativen <strong>de</strong>r Regierung Eisner, <strong>de</strong>r sie selbst<br />
angehörte. Die Unternehmerschaft polemisierte gegen Sozialisierungsvorhaben, rechte Professoren und<br />
national gesinnte Stu<strong>de</strong>nten wi<strong>de</strong>rsetzten sich <strong>de</strong>r Hochschulreform, die bürgerliche Presse rief zum<br />
Wi<strong>de</strong>rstand. Die Reaktion begann sich zu sammeln und bereitete sich darauf vor, die Ereignisse<br />
zurückzudrehen. Im Hintergrund drehte die SPD fleißig mit. Es gärte. Stimmen wur<strong>de</strong>n laut, die<br />
Revolution endlich zu vollen<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n Freistaat in eine echte Räterepublik zu verwan<strong>de</strong>ln; an<strong>de</strong>re<br />
plädierten dafür, die Ziele <strong>de</strong>r Bewegung besser zu vermitteln und verstärkt für sie zu werben. Das ging<br />
aber kaum in wenigen Wochen, <strong>de</strong>nn für <strong>de</strong>n 12. Januar waren allgemeine Wahlen angesetzt.<br />
Erwartungsgemäß siegten SPD und Bürgerliche im bayerischen Lan<strong>de</strong>sdurchschnitt mit klarer Mehrheit.<br />
327<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Am 21. Februar wird Kurt Eisner auf <strong>de</strong>m Weg in <strong>de</strong>n Landtag, wo er seinen Rücktritt bekanntgeben<br />
wollte, von einem rechtsnationalen Offizier ermor<strong>de</strong>t. Es kommt zu Tumulten, das Parlament löst sich<br />
auf, ein provisorischer Zentralrat wird gebil<strong>de</strong>t. Die Frage, die sich <strong>de</strong>n revolutionären Kräften nun stellt,<br />
heißt: aufgeben o<strong>de</strong>r durchstarten? In München scheint die Selbstverwaltung nach wie vor populär - in<br />
Bayern aber, das weiß man nun, sind ihre Anhänger hoffnungslos in <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rheit. Die Räte stellen<br />
diese Frage auf einer öffentlichen Massenversammlung zur Entscheidung. Die Proklamation einer<br />
Räterepublik wird beschlossen, und zwar als "notwendige Bedingung zur Weiterführung <strong>de</strong>r Revolution".<br />
Nach zähen Verhandlungen zwischen SPD, USPD, Bauernbund, <strong>de</strong>r Armee, <strong>de</strong>n revolutionären<br />
Körperschaften und <strong>de</strong>r neugegrün<strong>de</strong>ten KPD um die künftige Struktur wird am 7. April die Räterepublik<br />
ausgerufen. Im Proklamationsmanifest, mit <strong>de</strong>ssen Formulierung Landauer und Mühsam beauftragt<br />
wur<strong>de</strong>n, heißt es unter an<strong>de</strong>rem: "Baiern ist Räterepublik. Das werktätige Volk ist Herr seines Geschickes.
Die revolutionäre Arbeiterschaft und Bauernschaft Baierns, durch keine Parteigegensätze mehr getrennt,<br />
sind sich einig, daß von nun an jegliche Ausbeutung und Unterdrückung ein En<strong>de</strong> haben muß."<br />
Angestrebt wer<strong>de</strong> "die Verwirklichung eines wahrhaft sozialistischen Gemeinwesens, in <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r<br />
arbeiten<strong>de</strong> Mensch sich am öffentlichen Leben beteiligen soll".<br />
Das "En<strong>de</strong> jeglicher Unterdrückung" jedoch blieb ein frommer Wunsch. In Bamberg habe sich bereits<br />
eine konservative Gegenregierung gebil<strong>de</strong>t, die auf Eberts Unterstützung rechnen konnte. Der allzeit<br />
bereite Noske drängte auf die ›Befreiung‹ Münchens. Die Bayerische Republik und das Reich lösten ihre<br />
diplomatischen Beziehungen.<br />
Die wenigen Wochen, die <strong>de</strong>m Experiment noch blieben, zeugen von atemloser Betriebsamkeit - alles,<br />
was bisher versäumt wur<strong>de</strong>, sollte nun angepackt wer<strong>de</strong>n: Die ausländischen Kriegsgefangenen wur<strong>de</strong>n<br />
befreit, die Banken besetzt, Presse und Bergbau sozialisiert, die Lebensmittelverteilung kontrolliert, die<br />
Polizei entwaffnet und eine Verteidigungsarmee aufgestellt. Man beschlagnahmte die zahlreichen<br />
Spekulationsgrundstücke zum Zwecke <strong>de</strong>s Wohnungsbaus und quartierte kin<strong>de</strong>rreiche Arbeiterfamilien in<br />
Industriellenvillen ein. Sogar ein "Revolutionstribunal" wur<strong>de</strong> eingerichtet. Die meisten vor ihm<br />
verhan<strong>de</strong>lten Fälle en<strong>de</strong>ten übrigens mit Freispruch, das härteste Urteil lautete auf zwei Jahre Gefängnis.<br />
Silvio Gesell war nun "Volksbeauftragter für Finanzen" gewor<strong>de</strong>n und begann eine Wirtschaftsreform auf<br />
<strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>s Freigel<strong>de</strong>s1. Das Bankgeheimnis wur<strong>de</strong> aufgehoben, Abhebungen eingeschränkt und<br />
Bestimmungen zur Sozialisierung <strong>de</strong>r Geldinstitute erarbeitet. Gustav Landauer übernahm als<br />
"Volksbeauftragter für Volksaufklärung" die Arbeit <strong>de</strong>s ehemaligen Kultusministeriums. Im Schulwesen,<br />
im Theater, an <strong>de</strong>n Hochschulen, in <strong>de</strong>r bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Kunst, <strong>de</strong>n Bibliotheken und <strong>de</strong>r Architektur brachte er<br />
Projekte auf <strong>de</strong>n Weg, die nicht einfach vom Ministerium angeordnet, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>n<br />
Selbstverwaltungskörperschaften gestaltet wer<strong>de</strong>n sollten. Er wur<strong>de</strong> damit vermutlich zum Vater <strong>de</strong>r<br />
ersten bayerischen Behör<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>zentralem Arbeitsstil.<br />
All das hört sich gewiß gut an, aber dieses sympathische Experiment stand wie auf einer<br />
1) Vergleiche Kapitel 14!<br />
328<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
schmelzen<strong>de</strong>n Eisscholle. Die Wahlen hatten gezeigt, daß man <strong>de</strong>m Willen <strong>de</strong>r schweigen<strong>de</strong>n Mehrheit<br />
zuwi<strong>de</strong>rhan<strong>de</strong>lte. Deshalb hofften die Revolutionäre, durch das praktische Beispiel zu überzeugen. Aber<br />
selbst unter ihnen herrschte Uneinigkeit. Der KPD war diese "Scheinräterepublik" nicht proletarisch<br />
genug, und sie verweigerte die Mitarbeit - vermutlich, weil ihre Partei nicht die Führungsrolle spielte. Das<br />
än<strong>de</strong>rte sich, als am 13. April ein blutiger Putsch <strong>de</strong>r Bamberger Gegenregierung nie<strong>de</strong>rgeschlagen wird.<br />
Nun übernimmt die KPD die Macht, und unter Eugen Levine als Zentralratsvorsitzen<strong>de</strong>m beginnt die<br />
zweite und letzte Phase <strong>de</strong>r Räterepublik. Ihre Losung lautet "Diktatur <strong>de</strong>s Proletariats", ihre Aktivitäten<br />
erschöpfen sich in einem Generalstreik, <strong>de</strong>r Entwaffnung <strong>de</strong>s Bürgertums und <strong>de</strong>m Versuch, die<br />
militärische Verteidigung zu organisieren. Aber die fünfzehntausend Münchner "Rotarmisten" hatten<br />
gegen die fünfundvierzigtausend Reichswehr- und Freikorpssoldaten keine Chance. Am 3. Mai fällt die<br />
Lan<strong>de</strong>shauptstadt. Mit <strong>de</strong>r Räterepublik sterben fast tausend ihrer Anhänger. Unter ihnen befin<strong>de</strong>t sich<br />
auch Gustav Landauer. Er en<strong>de</strong>t am 2. Mai 1919 im Hof <strong>de</strong>s Gefängnisses Sta<strong>de</strong>lheim unter <strong>de</strong>n<br />
Fußtritten und Kolbenschlägen <strong>de</strong>r siegestrunkenen Soldateska.<br />
Erich Mühsam: das En<strong>de</strong><br />
Mit <strong>de</strong>rselben Amnestie, die <strong>de</strong>n vorbestraften österreichischen Putschisten Adolf Hitler in Freiheit setzte,<br />
wur<strong>de</strong> 1924 auch Erich Mühsam aus <strong>de</strong>r Festungshaft entlassen. Genau zehn Jahre später war Hitler<br />
Reichskanzler und Mühsam eine Leiche in einem "Konzentrationslager". Ein neues Wort, das die Welt<br />
noch zu lernen hatte.
Nach <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschlagung <strong>de</strong>r Räterepublik war Mühsam zu einer Freiheitsstrafe von fünfzehn Jahren<br />
verurteilt wor<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>n wenigen Jahren, die er noch zu leben hatte, wur<strong>de</strong> dieser rothaarige<br />
Wuschelkopf zum bekanntesten und beliebtesten Anarchisten <strong>de</strong>r Weimarer Republik. Zu seiner<br />
Popularität trugen neben <strong>de</strong>r Standhaftigkeit, mit <strong>de</strong>r er zu seiner Überzeugung stand, vor allem seine<br />
einprägsamen Couplets, Gedichte und Gassenhauer bei. Der vielseitige Apothekersohn, <strong>de</strong>n man getrost<br />
als Bohemien, Revolutionär, Organisator, Verleger, Redakteur, Theoretiker, Zeichner, Komponist,<br />
Satiriker o<strong>de</strong>r Agitationsredner bezeichnen durfte, war nämlich vor allem an<strong>de</strong>ren Dichter.<br />
1905 kommt <strong>de</strong>r anarchisierend umherschweifen<strong>de</strong> Mühsam in Berlin mit Gustav Landauer zusammen,<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Kaffeehaussozialisten zum überzeugten Anarchisten macht. Zuvor hatte er die Wochenschrift Der<br />
arme Teufel herausgegeben, nun schreibt er mit zunehmend spitzer Fe<strong>de</strong>r und satirischem Zungenschlag<br />
in größeren Publikumszeitschriften: Welt am Montag, Gesellschaft, Jugend und <strong>de</strong>m Simplicissimus. Als<br />
er sich vor <strong>de</strong>m Ersten Weltkrieg für Landauers "Sozialistischen Bund" engagiert, hat er sich bereits einen<br />
Namen gemacht, ohne sich jedoch wie ein arrivierter Schriftsteller zu gebär<strong>de</strong>n. Seine beschei<strong>de</strong>nen<br />
Honorare fließen in eine Zeitschrift von beachtlichem Niveau: <strong>de</strong>n 1911 gegrün<strong>de</strong>ten Kain,<br />
avantgardistische Tribüne für Kultur und Politik mit <strong>de</strong>m bezeichnen<strong>de</strong>n Untertitel "Zeitschrift für<br />
Menschlichkeit". Unter <strong>de</strong>m Eindruck <strong>de</strong>s Weltkrieges stellt er das Blatt ein, nur, um es im November<br />
1918 sofort wie<strong>de</strong>r aufleben zu lassen, als ihn die Revolution<br />
329<br />
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aus <strong>de</strong>m Gefängnis befreite. Dort saß <strong>de</strong>r inzwischen zu konsequenter Antikriegsaktion tendieren<strong>de</strong><br />
Mühsam ein, weil er im Frühjahr einen Streik <strong>de</strong>r Munitionsarbeiter unterstützt hatte. Der Kain, nunmehr<br />
im Großformat und mit hoher Auflage, begleitete Mühsams kurze aber prägen<strong>de</strong> Rolle während <strong>de</strong>r<br />
Räterepublik und vermittelte <strong>de</strong>n Standpunkt <strong>de</strong>r beteiligten Anarchisten.<br />
Nach <strong>de</strong>r Haftentlassung im Jahre 1924 läßt sich Mühsam in Berlin nie<strong>de</strong>r und engagiert sich als Redner<br />
<strong>de</strong>r "Roten Hilfe" für das Los <strong>de</strong>r politischen Gefangenen. Als Folge seiner Isolation in <strong>de</strong>r Festung<br />
Landsberg fin<strong>de</strong>t er sich zunächst nur schwer in <strong>de</strong>r verän<strong>de</strong>rten politischen Welt zurecht. Länger als<br />
an<strong>de</strong>re Anarchisten liebäugelt er mit Rußland und <strong>de</strong>r KPD. 1926 kehrt er, politisch wie publizistisch, zu<br />
seinen Wurzeln zurück und grün<strong>de</strong>t die Monatsschrift Fanal. Sie knüpft an die Tradition <strong>de</strong>s Kain an,<br />
wird aber zunehmend zum Sprachrohr gegen <strong>de</strong>n anwachsen<strong>de</strong>n Faschismus. Mühsam, <strong>de</strong>r vor allem bei<br />
<strong>de</strong>r libertären Jugend Anklang fin<strong>de</strong>t, sieht zunehmend <strong>de</strong>n Untergang von Kultur und Freiheit - und<br />
damit seinen eigenen - voraus. Neben seinem literarischen Schaffen dominiert fortan die politische<br />
Analyse: Reflexionen, Appelle, Aufrufe, zunehmend warnen<strong>de</strong>r und verzweifelter, aber auch nie ohne Biß<br />
und Ironie. Bis zuletzt hoffte Mühsam auf eine Einheitsfront im Kampf gegen <strong>de</strong>n geistlosen und<br />
gefühllosen Faschismus, <strong>de</strong>r in Deutschland unter <strong>de</strong>m bigotten* Etikett "Nationalsozialismus" auftrat.<br />
Als die Nazis 1933 <strong>de</strong>n Weimarer Staat aus <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n seiner Repräsentanten übernehmen, gehört Erich<br />
Mühsam zu <strong>de</strong>nen, die mit <strong>de</strong>r ersten Verhaftungswelle die neu eingerichteten Konzentrationslager füllen.<br />
Vollbärtiger, linksradikaler Ju<strong>de</strong>, Intellektueller und Brillenträger, Münchner "Novemberverbrecher" -<br />
Mühsam ist die leben<strong>de</strong> Karikatur aller Feindbil<strong>de</strong>r von SA und SS. Man schlägt, tritt, bespuckt und<br />
verhöhnt ihn, bricht ihm die Daumen, zertritt seine Brille. In <strong>de</strong>r Nacht zum 10. Juli 1934 zerren ihn die<br />
Wachleute von seiner Pritsche, fesseln ihn und hängen ihn an einem Balken <strong>de</strong>r Latrine <strong>de</strong>s<br />
Konzentrationslagers Oranienburg auf.<br />
Literatur: Ulrich Linse: Organisierter Anarchismus im Deutschen Kaiserreich Berlin 1969, Duncker &<br />
Humboldt, 410 S. / <strong>Horst</strong> Karasek: Belagerungszustand! Reformisten und Radikale unter <strong>de</strong>m<br />
Sozialistengesetz Berlin 1978, Wagenbach, 158 S., ill./ <strong>de</strong>rs.; Propaganda und Tat Frankfurt/M. o.J., Freie<br />
Gesellschaft, 148 S. /Johann Most: Schriften (3 B<strong>de</strong>., hrsg. v. Volker Szmula) Grafenau 1988-92,<br />
Trotz<strong>de</strong>m, 761 S. / Rudolf Rocker: Johann Most: das Leben eines Rebellen Berlin 1984, P}8, 508 S. /<br />
<strong>de</strong>rs.; Aus <strong>de</strong>n Memoiren eines <strong>de</strong>utschen Anarchisten Frankfurt/M. 1974, Suhrkamp, 401 S. / <strong>de</strong>rs.: Die<br />
Entscheidung <strong>de</strong>s Abendlan<strong>de</strong>s (2 B<strong>de</strong>.) Hamburg 1949, Hammonia, 749 S, / Peter Wienand: Rudolf<br />
Rocker - Der 'geborene' Rebell Berlin 1981, Karin Kramer, 471 S. / <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: November iyi8
Wetzlar 1979, An-Arehia, 7} S., ill. / <strong>de</strong>rs.: Sechs Stun<strong>de</strong>n Arbeit (29 S., zu ›Dortmund‹) in; Leben ohne<br />
Chefund Staat, vgl. Kap. 50! / <strong>de</strong>rs.; Der Plüschsessel (23 S., zu Most), ebda. / Hans M. Bock: Geschichte<br />
<strong>de</strong>s 'Linken Radikalismus^ in Deutschland Frankfurt/M. 1976, Suhrkamp, 370 S. / Angela Vogel: Der<br />
<strong>de</strong>utsche Anarchosyndikalismus Berlin 1977, Karin Kramer, 312 S. / Hartmut Rübner: Freiheit und Brot -<br />
die FA U D Berlin 1994, Libertad, 317 S. / Ulrich Klemm, Dieter Nelles: Es lebt noch eine Flamme<br />
Grafenau 1986, Trotz<strong>de</strong>m, 368 S. / Ernst Friedrich; Vom Frie<strong>de</strong>nsmuseum zur Hitlerkaserne Berlin 1978,<br />
Libertad, 237 S., ill./ <strong>de</strong>rs.: Krieg <strong>de</strong>m Kriege! Frankfurt/M. 1980, Zweitausen<strong>de</strong>ins, 252 S., ill. / Arno<br />
Maierbrugger: Die Presse <strong>de</strong>r [dt.] Anarchisten 1890 - 1933 Grafenau 1991, Trotz<strong>de</strong>m, 214 S., ill, /<br />
Gustav Landauer: Auch die Vergangenheit ist Zukunft (Essays, hrsg. v. Siegbert Wolf) Frankfurt/M.<br />
1989, Luchterhand, 301 S. / Ulrich Linse: Gustav Landauer und die Revolutionszeit Berlin 1974, Karin<br />
Kramer, 298 S. / Günter Hillmann (Hrsg.): Die Rätebewegung (2B<strong>de</strong>.) Reinbek 1971/72, Rowohlt, 250 u.<br />
219 S. / Michael Seligmann: Aufstand <strong>de</strong>r Räte (2 B<strong>de</strong>.) Grafenau 1989, Trotz<strong>de</strong>m, 711 S. / Kurt Eisner:<br />
Die halbe Macht <strong>de</strong>n Räten Köln 1969, Hegner, 292 S. / Erich Mühsam; Ich bin verdammt zu warten in<br />
einem Bürgergarten (Literarische u. politische Aufsätze, Hrsg. v. Wolfgang Haug, 2 B<strong>de</strong>.) Darmstadt<br />
1983 , Luchterhand, 197 u. 183 S. / Wolfgang Haug: Erich Mühsam - Schriftsteller und Revolutionär<br />
Reutlingen 1979, Trotz<strong>de</strong>m, 204 S.<br />
330<br />
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Kapitel 36<br />
Neubeginn auf Trümmern<br />
Wollen wir an 1933 anschließen? Nein!<br />
Nachahmung o<strong>de</strong>r Neugestaltung,<br />
das ist das Problem.<br />
- Otto Reimers, 1945 -<br />
DER ZWEITE WELTKRIEG HINTERLIESS einen unermeßlichen Trümmerhaufen. Das ist ebenso<br />
wörtlich wie bildlich zu nehmen. Der Faschismus, <strong>de</strong>r Europa fast eine Generation lang geistig umnachtet<br />
und die halbe Welt mit einem mör<strong>de</strong>rischen Krieg überzogen hatte, trat nicht ohne finale furioso von <strong>de</strong>r<br />
politischen Bühne. Zerstörte Län<strong>de</strong>r, verbrannte Er<strong>de</strong>, Hunger und soziale Verödung. Die umständliche<br />
Technik, mit <strong>de</strong>r die Nazis 1934 <strong>de</strong>n KZ-Häftling Erich Mühsam ermor<strong>de</strong>t hatten, war von <strong>de</strong>utschen<br />
Technokraten industrialisiert wor<strong>de</strong>n. Das Wort "Auschwitz" wur<strong>de</strong> zum Synonym für das<br />
Unaussprechbare, das Un<strong>de</strong>nkbare.<br />
Für viele Menschen ging 1945 eine dunkle Nacht zu En<strong>de</strong>; für <strong>de</strong>n Anarchismus sah es eher so aus, als ob<br />
auch die Zukunft düster bleiben wür<strong>de</strong>. Ohne Frage gehörte die libertäre Kultur zu <strong>de</strong>n Opfern <strong>de</strong>r<br />
faschistischen Ära. Sie war fast überall zwischen die Mühlsteine <strong>de</strong>r großen Politik geraten, pulverisiert<br />
und fortgeblasen. Nach <strong>de</strong>m Krieg waren nicht nur die meisten ihrer Strukturen zerschlagen, auch das<br />
Klima, das sie einst hervorgebracht hatte, gab es nicht mehr.<br />
1945 zementierte sich im Osten <strong>de</strong>r Spätstalinismus im Wohlgefühl seines militärischen Triumphes über<br />
Hitler. Die UdSSR war jetzt eine allseits anerkannte Großmacht, die an ihrem Westrand ein halbes<br />
Dutzend Län<strong>de</strong>r geschluckt hatte. Der Marxismus-Leninismus war zu seiner übelsten Stufe pervertiert<br />
und wur<strong>de</strong> nun <strong>de</strong>n slawischen Volkern und halb Deutschland aufgezwungen. Die neuen Parteidiktaturen<br />
ließen nicht <strong>de</strong>n kleinsten Freiraum übrig, und selbstverständlich wur<strong>de</strong>n alle libertären Organisationen<br />
zerstört, oft genug auch die Menschen, die sie trugen.<br />
Der Westen verfiel für mehr als zwanzig Jahre <strong>de</strong>m Aufbaurausch. Wirtschaftliches Wachstum,<br />
Anpassung, Konsum und eine weitverbreitete geistige Hohlheit kennzeichnen die Mainstream-<br />
Gesellschaft <strong>de</strong>r Nachkriegs-Generation. Mit <strong>de</strong>m amerikanischen Kapital kam auch <strong>de</strong>r lifestyle
Amerikas. Und <strong>de</strong>r führte zu einem neuen <strong>de</strong>utsch-amerikanischen Zeitgeist aus Egoismus, Konkurrenz<br />
und <strong>de</strong>m Glauben an die unbeschränkten Möglichkeiten, die je<strong>de</strong>r im blühen<strong>de</strong>n Kapitalismus habe. Man<br />
mußte smart sein, kritiklos, clever und sich unterordnen können. Der Kapitalismus blühte, und Millionen<br />
Menschen fühlten sich wohl wie die Ma<strong>de</strong> im Speck. In ganz Europa wur<strong>de</strong> das - verständlicherweise -<br />
nun sehr genossen. Alles wur<strong>de</strong> jetzt gut, <strong>de</strong>r Wohlstand kam, die Welt wur<strong>de</strong> immer perfekter. Kein<br />
Problem schien mehr unlösbar, und es wür<strong>de</strong> immer, immer so weitergehen: Fortschrittsglaube wur<strong>de</strong> bis<br />
in die sechziger Jahre zur ungebrochenen Religion <strong>de</strong>s Westens. Der kalte Krieg zwischen West und Ost<br />
gab all <strong>de</strong>m noch eine beson<strong>de</strong>re Plattheit. Auf bei<strong>de</strong>n Seiten <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ologischen Grenze, die die Welt<br />
331<br />
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in gut und böse teilte, wur<strong>de</strong> fortan nur noch schwarzweiß gedacht. Im Westen be<strong>de</strong>utete das die<br />
Diskriminierung für je<strong>de</strong> Art von kritischem Denken, das auch nur entfernt als ›links‹ einzuordnen war.<br />
Ernüchtern<strong>de</strong> Bestandsaufnahme<br />
Der Anarchismus als Bewegung war so gut wie tot, und die neue gesellschaftliche Situation bot wenig<br />
Ansätze für einen neuen Anfang. In manchen Län<strong>de</strong>rn gab es zwischen <strong>de</strong>n Trümmern libertärer Kultur<br />
noch Reste, die von ehemaliger Größe zeugten. Niemand aber interessierte sich noch für irgendwelche<br />
Dinge, die vor <strong>de</strong>m Krieg geschehen waren; die Leute schauten voraus und in die Lohntüte. Ein kritischer<br />
Neuanfang und soziale Utopien waren zwar unmittelbar nach <strong>de</strong>m Krieg weit verbreitete Themen<br />
gewesen, kamen aber rasch aus <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong> und galten schon bald als verdächtig. Vor allem aber schienen<br />
im sozialen Klima <strong>de</strong>r Nachkriegszeit die Themen obsolet gewor<strong>de</strong>n zu sein, die die Menschen <strong>de</strong>r<br />
Vorkriegszeit und damit <strong>de</strong>n klassischen Anarchismus bewegt hatten. Damit waren auch seine<br />
Aktionsformen und Organisationsmo<strong>de</strong>lle zu La<strong>de</strong>nhütern gewor<strong>de</strong>n. Selbst die klassenkämpferische<br />
Sprache <strong>de</strong>r alten Zeit schien niemand mehr zu verstehen. Es war, als ob zwischen 1933 und 1945 ein<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rt läge.<br />
In vielen Län<strong>de</strong>rn kam hinzu, daß die Bewegung regelrecht vernichtet wor<strong>de</strong>n war. Verfolgung,<br />
Vertreibung, Deportation, Gefängnis, Hinrichtungen und die hohen Opfer im Wi<strong>de</strong>rstand hatten die Zahl<br />
aktiver Anarchisten dahinschmelzen lassen. Viele <strong>de</strong>r Überleben<strong>de</strong>n hatten einfach resigniert. In<br />
Deutschland besaßen in dieser trostlosen Zeit vielleicht noch ein paar hun<strong>de</strong>rt überleben<strong>de</strong> Libertäre <strong>de</strong>n<br />
Mut und die Kraft, an ihren alten I<strong>de</strong>alen festzuhalten und einen Neuanfang zu versuchen.<br />
Man kann ohne Übertreibung sagen, daß es dreiundzwanzig Nachkriegsjahre lang eine anarchistische<br />
Agonie* gab. Sie war gekennzeichnet von <strong>de</strong>r Unmöglichkeit, sich in neuen sozialen Wirkungsfel<strong>de</strong>rn zu<br />
verankern und <strong>de</strong>r Unfähigkeit, zu einer geistigen Erneuerung zu fin<strong>de</strong>n. Zum ersten Mal in seiner<br />
Geschichte war <strong>de</strong>r Anarchismus rückwärtsgewandt. Da in <strong>de</strong>r Gegenwart Ratlosigkeit herrschte und die<br />
Zukunft düster aussah, verlegte sich das Gros <strong>de</strong>r Libertären weltweit auf Nostalgie. Die Publikationen<br />
jener Zeit sind voll von Klassikern und Erinnerungen an die diversen anarchistischen Revolutionen. Einer<br />
solchen ›Bewegung‹ ging natürlich <strong>de</strong>r Nachwuchs aus. Die Restinseln libertärer Gruppen,<br />
Organisationen und Freun<strong>de</strong>skreise begannen zu vergreisen, ja, sie drohten ganz auszusterben.<br />
Im Grun<strong>de</strong> gab es nur eine Perspektive, und die lautete: durchhalten, überleben, die I<strong>de</strong>en hinüberretten in<br />
bessere Zeiten.<br />
Dies ist ein düsteres Bild und hat nur Gültigkeit für die allgemeine Ten<strong>de</strong>nz jener Jahrzehnte. Insofern ist<br />
es ein grobes Bild, eine Vereinfachung. In <strong>de</strong>r Bilanz aber stimmt diese Skizze, und die Rechnung ging<br />
auf: Als 1968 eine Welle <strong>de</strong>s antiautoritären Protests um die Welt ging, gab es jene libertäre Inseln noch,<br />
auf <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Anarchismus überwintert hatte. Es kam zu einer gegenseitigen Befruchtung, aus <strong>de</strong>r eine<br />
neue Bewegung entstand. Deshalb lohnt ein Blick in jene Nischen, in <strong>de</strong>nen eine längst totgeglaubte I<strong>de</strong>e<br />
überleben konnte.
332<br />
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Inseln <strong>de</strong>r Hoffnung<br />
Eines <strong>de</strong>r vitalsten Nester saß in Südwestfrankreich. Dorthin hatten sich einige Zehntausend Überleben<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>r Spanischen Revolution gerettet, die zunächst in Konzentrationslagern interniert wor<strong>de</strong>n waren. Nicht<br />
zuletzt wegen ihrer hervorragen<strong>de</strong>n Rolle in <strong>de</strong>r Resistance gegen die <strong>de</strong>utschen Besatzer hatten sie sich<br />
in Frankreich ein Bleiberecht erkämpft. Auch im Exil blieb die CNT nach ihren alten<br />
Gewerkschaftsstrukturen organisiert und übte jahrzehntelang einen starken Einfluß auf die arg<br />
geschwächte französische Bewegung aus. Von hier starteten unmittelbar nach <strong>de</strong>m Krieg erste Versuche<br />
einer internationalen Reorganisation, zu <strong>de</strong>nen auch verschie<strong>de</strong>ne syndikalistische Kongresse gehörten.<br />
Obwohl dabei nicht viel mehr als <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>r Bewegung konstatiert wer<strong>de</strong>n konnte, hielt die<br />
Mehrheit an einer Fortführung <strong>de</strong>r alten Strategie fest. Zu Streit und Spaltungen kam es immer wie<strong>de</strong>r bei<br />
<strong>de</strong>r Frage, wie die Franco-Diktatur zu bekämpfen sei. 1945 waren nämlich nicht alle Faschistenregime<br />
gefallen - in Portugal und Spanien blieben die dienstältesten Klerikalfaschos, Salazar und Franco, noch<br />
jahrzehntelang unbehelligt im Amt. Es gehört zu <strong>de</strong>n beeindruckendsten Leistungen <strong>de</strong>r Exil-CNT, daß<br />
sie fast vierzig Jahre lang in Spanien ein Untergrundnetz unterhielt, Wi<strong>de</strong>rstands- und Sabotageaktionen<br />
durchführte, Streiks unterstützte und unverzagt Propaganda trieb. In <strong>de</strong>n sechziger Jahren begann die<br />
jüngere Generation mit empfindlichen Aktionen gegen <strong>de</strong>n Tourismus, unterhielt eine rege Stadtguerilla<br />
und versuchte einige erfolglose Attentate auf <strong>de</strong>n Diktator. Als <strong>de</strong>r greise Generalissimus 1976 starb,<br />
zählte die unermüdliche spanische Exil- CNT noch immer knapp dreißigtausend Mitglie<strong>de</strong>r.<br />
Viele spanische Anarchosyndikalisten hatten sich 1936 nach Nordafrika abgesetzt, wo sie ebenfalls kleine<br />
Anarchoenklaven unterhielten, die aber nur in Ausnahmefällen ihre kulturelle Isolation durchbrechen<br />
konnten. Ähnlich erging es <strong>de</strong>n zahllosen Spaniern, die sich nach Australien retten konnten. Besser hatten<br />
es da schon die CNTler, die in Lateinamerika Asyl fan<strong>de</strong>n. In Mexiko, Kuba, Venezuela, Argentinien und<br />
Uruguay faßten sie schnell Fuß und integrierten sich mühelos in eine Kultur, die ihnen politisch und<br />
sprachlich geläufig war. In diesen Län<strong>de</strong>rn aber war - vielleicht mit Ausnahme Kubas - <strong>de</strong>r Anarchismus<br />
ebenfalls in vollem Nie<strong>de</strong>rgang begriffen. Selbst dort, wo die Libertären nicht, wie in Argentinien, von<br />
<strong>de</strong>n Militärs mit Gewalt ausgeschaltet wur<strong>de</strong>n, kam bei <strong>de</strong>r kritischen Jugend und <strong>de</strong>r kämpferischen<br />
Arbeiterschaft zunehmend <strong>de</strong>r Kommunismus in Mo<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r seit <strong>de</strong>n fünfziger Jahren enorme Geldmittel<br />
in die Infiltration* <strong>de</strong>r Dritten Welt fließen ließ.<br />
Das einzige Land, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Syndikalismus - allerdings in einer etwas zahmeren Variante - relativ<br />
unbescha<strong>de</strong>t überlebt hatte, war Schwe<strong>de</strong>n. Hier saß die 1910 gegrün<strong>de</strong>te Sveriges Arbetares<br />
Centralorganisation mit etwa dreißigtausend Mitglie<strong>de</strong>rn in einigen Wirtschaftsbereichen fest im Sattel,<br />
ihre zwei Tageszeitungen konnten ungestört libertäres Gedankengut verbreiten. Schwe<strong>de</strong>n war während<br />
<strong>de</strong>r faschistischen Ära in vielerlei Hinsicht eine wichtige Drehscheibe gewesen. 1936 organisierte die<br />
SAC <strong>de</strong>n Import von Produkten aus <strong>de</strong>n spanischen Kollektiven und unterstützte die Revolution nach<br />
Kräften,<br />
333<br />
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während <strong>de</strong>s Krieges bot das Land vielen Nazigegnern Asyl und diente als Stützpunkt im Wi<strong>de</strong>rstand.<br />
Nun organisierten die schwedischen Syndikalisten die Hilfe für ihre notlei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Genossen. Von<br />
Lebensmittelpaketen bis hin zum Drucken von Propaganda taten sie, was in ihren Kräften stand. 1951<br />
verlegte die immer noch existieren<strong>de</strong> IAA ihren Sitz nach Stockholm. Aus <strong>de</strong>n spezifischen Erfahrungen<br />
in Schwe<strong>de</strong>n gingen auch einige <strong>de</strong>r wenigen Innovationsvorschläge <strong>de</strong>r Nachkriegszeit hervor, die <strong>de</strong>m<br />
Syndikalismus einen neu <strong>de</strong>finierten Platz in <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen Wohlfahrtsstaaten weisen wollten. An ihnen<br />
waren auch <strong>de</strong>utsche Anarchosyndikalisten wie Helmut Rüdiger beteiligt. Seine Schriften wur<strong>de</strong>n auch in<br />
Deutschland gedruckt, fan<strong>de</strong>n aber im traditionellen Anarchismus wenig Echo.
In Italien hatten die Anarchisten <strong>de</strong>n Faschismus Mussolinis vergleichsweise besser überlebt als ihre<br />
Genossen in Deutschland die rigorosere Verfolgung durch die Nazis. Durch ihre exponierte Stellung im<br />
Partisanenkampf genossen sie nach <strong>de</strong>r Befreiung in manchen Regionen ein gewisses Prestige. Dennoch<br />
blieb die Bewegung isoliert und unbe<strong>de</strong>utend - sie kehrte rasch zu <strong>de</strong>n Fraktionierungen <strong>de</strong>s Vorkrieges<br />
zurück und versuchte erfolglos, die seit über 20 Jahren verbotenen Organisationen wie<strong>de</strong>rzubeleben.<br />
Beson<strong>de</strong>rs krass zeigte sich in diesem Land, wie sich das Kräfteverhältnis in <strong>de</strong>r Linken verschoben hatte.<br />
Ähnlich wie in Lateinamerika wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Kommunismus zur beherrschen<strong>de</strong>n Kraft im linken Spektrum.<br />
Entschei<strong>de</strong>nd kam hinzu, daß sich im Zeitalter <strong>de</strong>s kalten Krieges mit seinen großangelegten<br />
Medienkampagnen marginale Gruppen kaum Gehör verschaffen konnten. In <strong>de</strong>n Materialschlachten<br />
weltanschaulicher Propaganda, die die Nachkriegszeit prägten, hatten nur die Bewegungen eine Chance,<br />
hinter <strong>de</strong>nen Geldgeber stan<strong>de</strong>n. Dem Anarchismus leistete kein Land finanzielle und logistische Hilfe;<br />
hinter <strong>de</strong>n kommunistischen Parteien aber stan<strong>de</strong>n die Sowjetunion und Dutzen<strong>de</strong> an<strong>de</strong>rer Staaten <strong>de</strong>s<br />
sogenannten "sozialistischen Lagers". Das schien im Westen ›<strong>de</strong>n Kommunismus‹ zur einzig real<br />
existieren<strong>de</strong>n Alternative zu machen, <strong>de</strong>r viele kritische Leute in seinen Bann zu schlagen vermochte.<br />
Dies erklärt zu einem großen Teil die Schwäche <strong>de</strong>r libertären Position, beson<strong>de</strong>rs in Italien und<br />
Frankreich.<br />
Deutschland<br />
Das war auch in Deutschland ähnlich, wenngleich die Kommunistische Partei in <strong>de</strong>r Westzone nie eine<br />
vergleichbare Stärke erreichte. Beson<strong>de</strong>rs nach<strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r wahre Charakter <strong>de</strong>s Ostzonenregimes<br />
offenbarte, ließ auch <strong>de</strong>r zeitweilige Zulauf zur West-KPD schlagartig nach. Im sowjetisch besetzten Teil<br />
Deutschlands hatte sich nämlich eine perfekte Schauinszenierung stalinistischer Staatskunst vollzogen:<br />
die angebliche Vereinigung von SPD und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, die später<br />
die Deutsche Demokratische Republik aus <strong>de</strong>r Taufe heben sollte. Alle diese Konstrukte waren schöner<br />
Schein. Hinter ihr stand <strong>de</strong>r phantasielose, verknöcherte und unterwürfige Rest <strong>de</strong>r Vorkriegska<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
KPD, die als Jasager das Exil in Moskau überlebt hatten. Was nun als Stalins Werkzeug zurückkehrte,<br />
waren wohl die schleimigsten Büromenschen, die die <strong>de</strong>utsche Linke jemals hervorgebracht hat. Von<br />
Sozialismus war in <strong>de</strong>ren Köpfen außer schema-<br />
334<br />
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tischen Formeln nichts übriggeblieben, ihr Leben hatten sie <strong>de</strong>n Parteidirektiven geweiht. Es gehört zu<br />
<strong>de</strong>n traurigsten Fehlleistungen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Nachkriegsgeschichte, wie diese Riege tumber, grauer<br />
"Apparatschiks" in weniger als zehn Jahren all das vergeigte, was in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Bevölkerung nach<br />
1945 an Bereitschaft zu radikaler Erneuerung steckte.<br />
Die allgemeine Skizze <strong>de</strong>s geistigen Nachkriegsklimas vom Anfang <strong>de</strong>s Kapitels stimmt nämlich auf die<br />
ersten Jahre bezogen nur bedingt. Zunächst nämlich herrschte nach <strong>de</strong>m Krieg überall<br />
Aufbruchstimmung. Der Hunger nach Neuem stand <strong>de</strong>m nach Speck und Kartoffeln auch in Deutschland<br />
in nichts nach. Die Jahre nach 1945 brachten einen wahren Ansturm auf Kultur und Bildung, die<br />
tiefgreifen<strong>de</strong> Verunsicherung begünstigte eine breite Diskussion über die Zukunft. Im Westen en<strong>de</strong>te<br />
diese Phase erst mit <strong>de</strong>r Währungsreform in <strong>de</strong>r Buttercremeära <strong>de</strong>r A<strong>de</strong>nauerzeit. Vorher waren weite<br />
Kreise offen für einen Neuanfang: ohne Armee und Machtspielchen, bereit zu tiefgreifen<strong>de</strong>n<br />
Verän<strong>de</strong>rungen. Der gefühlsmäßige Trend zu einer ›sozialistischen‹ Alternative war so stark, daß selbst<br />
die CDU in ihr erstes Programm die Sozialisierung <strong>de</strong>r Schlüsselindustrien und <strong>de</strong>s Großkapitals aufnahm<br />
- For<strong>de</strong>rungen für <strong>de</strong>ren Wie<strong>de</strong>rholung sie zehn Jahre später Menschen verfolgen ließ.<br />
Dieser allgemeine Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit war nach zwölf Jahren Diktatur für die meisten<br />
Menschen allerdings mit einem ebenso allgemeinen Wunsch nach ›Freiheit‹ verbun<strong>de</strong>n. Diesem<br />
doppelten Bedürfnis konnten die klassischen Parteien mit ihren aufgewärmten und hastig umgebauten<br />
I<strong>de</strong>ologien in West und Ost nicht gerecht wer<strong>de</strong>n. Die West-SPD verabschie<strong>de</strong>te sich endgütig von<br />
jeglicher Vision und wan<strong>de</strong>lte sich mit aller Kraft zum sozialen Gewissen <strong>de</strong>s Kapitalismus; die Ost-KPD<br />
blieb auch als SED so stockautoritär wie eh und je. Dabei hätte sie theoretisch je<strong>de</strong> Chance gehabt, einen
einigermaßen menschengerechten Sozialismus zu verwirklichen, <strong>de</strong>nn Millionen waren in <strong>de</strong>n ersten<br />
Jahren aufrichtig bereit, mit Begeisterung und Elan ihr Opfer für einen Neubeginn zu bringen. Aber <strong>de</strong>r<br />
Wunsch zu einer freiheitlichen Entwicklung war we<strong>de</strong>r in Moskau noch in Pankow vorhan<strong>de</strong>n. Der DDR-<br />
Sozialismus glich schon bald einem Kasernenregime, das <strong>de</strong>n Menschen nicht das Min<strong>de</strong>ste zutraute. So<br />
wur<strong>de</strong> die schöpferische Kraft <strong>de</strong>r frühen Jahre verspielt; sie en<strong>de</strong>te in Resignation und <strong>de</strong>r<br />
Hervorbringung eines neuen SED-Untertanenmenschen. Das Gros <strong>de</strong>r Bevölkerung aber wandte sich ab.<br />
Der sogenannte "Arbeiter- und Bauernstaat" erhielt am 17. Juni 1953 von seinen Arbeitern und Bauern<br />
hierfür eine erste Quittung: Generalstreik, Schmähung <strong>de</strong>r Partei, Ruf nach Freiheit. Als Antwort<br />
schickten die Betonsozialisten ihre Panzer.<br />
Die Anarchisten versuchten trotz ihrer Schwäche, die kleinen Chancen zu nutzen, die im Nachkriegs-<br />
Neubeginn lagen. Sie bauten kleine Gruppen auf, gaben unter großen Entbehrungen schon 1945 wie<strong>de</strong>r<br />
kleine Zeitschriften heraus, versuchten auch, untereinan<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Kontakt zu organisieren. In <strong>de</strong>r DDR<br />
allerdings war das schon bald nicht mehr möglich: Viele Libertäre verschwan<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>nselben<br />
Haftanstalten und Lagern, in <strong>de</strong>nen sie schon unter <strong>de</strong>n Nazis gesessen hatten. Bei aller Verfolgung<br />
mangelte es aber in erster Linie an neuen I<strong>de</strong>en und einer aktuellen Strategie. Nur zu oft erschöpften sich<br />
die Anarchisten in <strong>de</strong>n alten Argumenten und <strong>de</strong>m Hinweis, daß sie - wie immer - mit ihrer<br />
335<br />
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Kritik Recht behalten hätten. Viele von ihnen waren mittlerweile auch in linke Parteien o<strong>de</strong>r Verbän<strong>de</strong><br />
eingetreten - teils aus Resignation, teils aus gewan<strong>de</strong>lter Überzeugung. Nur wenige Libertäre betrieben<br />
eine Neuorientierung wie <strong>de</strong>r Hamburger Otto Reimers, <strong>de</strong>r ein breiteres linkes Bündnis suchte o<strong>de</strong>r<br />
Rudolf Rocker und Augustin Souchy, die vom Ausland her für ein Engagement <strong>de</strong>r Anarchisten auf <strong>de</strong>r<br />
Ebene kommunaler Vernetzung plädierten. Statt <strong>de</strong>r Gründung eigener Organisationen empfahlen sie <strong>de</strong>n<br />
Eintritt in Gewerkschaften und Genossenschaften. Anarchisten sollten durch ihr Beispiel wirken und sich<br />
ansonsten eher kulturell profilieren. Manche Initiativen führten kurzfristig auch zu einer Bün<strong>de</strong>lung <strong>de</strong>r<br />
Kräfte, die in <strong>de</strong>n fünfziger Jahren die Fö<strong>de</strong>ration Freiheitlicher Sozialisten hervorbrachte, die einzige<br />
libertäre Organisation im Nachkriegs<strong>de</strong>utschland, die ein gewisses Echo hervorrief. Ihre Zeitschrift Die<br />
freie Gesellschaft und ihr reger Buchverlag erzielten einige Achtungserfolge, und obwohl Aktivisten wie<br />
Gretel Leinau, Anni und Georg Hepp o<strong>de</strong>r Hans Spaltenstein noch dreißig Jahre und länger durchhielten,<br />
mangelte es <strong>de</strong>r kleinen Bewegung insgesamt an Durchschlagskraft. Daran konnte auch das unermüdliche<br />
Engagement <strong>de</strong>s vielsprachigen und weltläufigen Altanarchisten Souchy nichts än<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>r ebenfalls bis<br />
ins hohe Alter unermüdlich Vorträge in überfüllten Sälen hielt und für <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen<br />
Nachkriegsanarchismus so etwas wie eine personifizierte Überlebenshilfe war. Sein altersweiser und<br />
mo<strong>de</strong>rater Anarchismus fand zu<strong>de</strong>m nicht überall Zustimmung. Inzwischen lebten auch alte Streitigkeiten<br />
zwischen Fraktionen und Fraktiönchen aus Weimarer Tagen wie<strong>de</strong>r auf, als wäre nichts geschehen.<br />
In dieser schwierigen Zeit fiel jenen Län<strong>de</strong>rn, die vorher eher zu <strong>de</strong>n anarchistischen Mauerblümchen<br />
gehört hatten, eine wichtige Rolle zu. In Großbritannien, <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Schweiz, <strong>de</strong>n USA und,<br />
wie wir gesehen haben, in Schwe<strong>de</strong>n, waren die Libertären relativ unbehelligt geblieben. Obgleich sie<br />
dort in <strong>de</strong>r Regel schwach waren, erfüllten sie nun eine nicht zu unterschätzen<strong>de</strong> Entwicklungs- und<br />
Aufbauhilfe für <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Anarchismus. Das galt vor allem für <strong>de</strong>n Druck von Propagandamaterial,<br />
aber auch für direkte materielle Hilfe und die Kontinuität <strong>de</strong>r internationalen libertären Diskussion. Viele<br />
<strong>de</strong>utsche Anarchoblätter jener Jahre, als die Besatzungskommandanten die begehrten Drucklizenzen<br />
vergaben, tragen im Impressum einen ausländischen Erscheinungsort.<br />
Klimaverbesserungen<br />
Während <strong>de</strong>r klassische Anarchismus sich so auf <strong>de</strong>m absteigen<strong>de</strong>n Weg von <strong>de</strong>r Bewegung zur Sekte<br />
befand, erfuhr die libertäre I<strong>de</strong>e einige Klimaverbesserungen, die sich in jener Durststrecke <strong>de</strong>s<br />
Überlebens einer freiheitlichen Weltanschauung vielleicht als lebensrettend erwiesen.<br />
Allem voran ist hier <strong>de</strong>r Triumph eines pazifistischen Libertären zu nennen, <strong>de</strong>ssen vielbelächelter
gewaltfreier Wi<strong>de</strong>rstand schließlich eine Weltmacht nie<strong>de</strong>rrang: Mahatma Gandhi, Symbolfigur <strong>de</strong>s<br />
indischen Unabhängigkeitskampfes. Er hatte es fertiggebracht, in mehr als vierzig Jahren konsequent<br />
pazifistischer Aktionen eine Massenbewegung aufzubauen, die mit passiver Verweigerung und zivilem<br />
Ungehorsam die englische Kolonialmacht<br />
336<br />
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dazu brachte, ihre wertvollste Kolonie aufzugeben und sich aus Indien zurückzuziehen. Das riesige Land<br />
wird am 15. August 1947 eine eigene Nation.<br />
Gandhi, Sohn eines indischen Getrei<strong>de</strong>händlers, kommt schon als junger Stu<strong>de</strong>nt in London mit<br />
Kriegsdienstverweigerern, Atheisten, Theosophen und Anarchisten zusammen, die wie er im Vegetarier-<br />
Club verkehren. Beson<strong>de</strong>rs beeindrucken ihn die I<strong>de</strong>en von Leo Tolstoi, Henry David Thoreau, John<br />
Ruskin und Peter Kropotkin. In Südafrika, wo er als frischgebackener Rechtsanwalt zum Wortführer und<br />
Organisator seiner unterdrückten indischen Landsleute wird, erprobt er zum Schrecken <strong>de</strong>s britischen<br />
Gouverneurs eine neue und ganz ungewöhnliche Taktik: protestieren, boykottieren, nicht kooperieren und<br />
dabei immer freundlich und korrekt bleiben. Als er 1914 nach Indien zurückkehrt, wird er zum Inspirator<br />
einer gewaltlosen Volksbewegung, die durch eine endlose Kette von Streiks, direkten Aktionen und<br />
massenhaften Gesetzesübertretungen die Obrigkeit langsam zermürbt und das Selbstbewußtsein <strong>de</strong>s<br />
indischen Volkes stärkt.<br />
Obwohl Gandhi sich gelegentlich auch als "Anarchist" bezeichnete, ist seine spezifisch indische Variante<br />
einer libertären Ethik <strong>de</strong>utlich weiter gefaßt als <strong>de</strong>r europäisch geprägte Mainstream-Anarchismus. In ihr<br />
fließen spirituelle, sozialistische, religiöse, anarchistische und intuitive Elemente zusammen, die weit<br />
mehr in <strong>de</strong>r indischen Kultur als in <strong>de</strong>r europäischen Arbeiterbewegung verwurzelt sind. Gandhi verachtet<br />
<strong>de</strong>n Staat ebenso wie die Gewalt, sein Gesellschaftsi<strong>de</strong>al beruht auf Toleranz, Gleichheit und Harmonie.<br />
In <strong>de</strong>r <strong>de</strong>zentralen Fö<strong>de</strong>ration autarker dörflicher Gemein<strong>de</strong>n sieht er das Rückgrat einer freien<br />
Gesellschaft.<br />
Als er im Januar 1948 von einem radikalen Hindu ermor<strong>de</strong>t wird, avanciert <strong>de</strong>r bereits zu Lebzeiten<br />
ungemein populäre sanfte Rebell weltweit zum Idol einer ganzen Generation. Noch heute sind viele<br />
Anarchisten <strong>de</strong>r Meinung, Gandhi sei <strong>de</strong>r erfolgreichste libertäre Revolutionär <strong>de</strong>r Geschichte gewesen<br />
und seine Weltanschauung <strong>de</strong>r konsequenteste Ausdruck anarchistischer Philosophie. Gandhis Triumph<br />
<strong>de</strong>s gewaltfreien Umsturzes wur<strong>de</strong> lei<strong>de</strong>r nicht von seiner Vision einer libertären Gesellschaft gekrönt.<br />
Indien wur<strong>de</strong> ein Staat, in <strong>de</strong>m er selbst kein Regierungsamt übernehmen mochte. "Das unabhängige<br />
Indien", schrieb Bertrand Russell, "hat Gandhi zu einem Heiligen gemacht und alle seine Lehren<br />
ignoriert." Die Nation, die er hinterließ, wur<strong>de</strong> eine von sozialem Elend und ethnischen Unruhen<br />
geschüttelte Großmacht, die mit ihren inneren Konflikten ebenso autoritär verfuhr wie je<strong>de</strong>r beliebige<br />
Staat. Gandhis Beispiel aber sollte Schule machen und zum klassischen Vorbild für die<br />
Bürgerrechtsbewegungen und sozialen Kämpfe <strong>de</strong>r westlichen Nationen wer<strong>de</strong>n.<br />
Ganz an<strong>de</strong>rer Art war ein Experiment, das ab 1950 in Jugoslawien begann. Hier hatte eine<br />
Partisanenarmee unter Josip Broz Tito die <strong>de</strong>utsche Wehrmacht bekämpft und nach <strong>de</strong>ren Nie<strong>de</strong>rlage eine<br />
sozialistische Regierung installiert, die aber schon 1949 mit Stalin brach und einen eigenständigen Kurs<br />
steuerte. Die jugoslawischen Kommunisten waren undogmatischer als ihre moskauhörigen Genossen, und<br />
Tito brüstete sich, <strong>de</strong>n wahren Kommunismus getreu <strong>de</strong>n Schriften von Karl Marx zu verwirklichen. Aber<br />
auch hier<br />
337<br />
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gelang die Quadratur <strong>de</strong>s Kreises nicht: Die Partei überzog das Land mit einer lähmen<strong>de</strong>n Bürokratie, <strong>de</strong>r<br />
Elan <strong>de</strong>r Menschen versiegte, die wirtschaftliche Lage war bedrückend. In dieser Situation schlug ein<br />
enger Kampfgefährte Titos, Milovan Djilas, als Gegengift die ›freie Assoziation <strong>de</strong>r Produzenten‹ vor, mit<br />
an<strong>de</strong>ren Worten: die Selbstverwaltung <strong>de</strong>r Industrie durch die Arbeiter selbst. So wur<strong>de</strong> das<br />
"jugoslawische Selbstverwaltungsmo<strong>de</strong>ll" geboren: per staatlichem Dekret als Bun<strong>de</strong>sgesetz.<br />
Djilas selbst, <strong>de</strong>r ebenso von Marx wie von Proudhon beeinflußt war, schwebte sicher etwas an<strong>de</strong>res vor<br />
als das, was fortan in <strong>de</strong>m Balkanstaat praktiziert wur<strong>de</strong>. Es entstand so etwas wie ein erweitertes<br />
Mitbestimmungsmo<strong>de</strong>ll. Zwar hatten die Gemein<strong>de</strong>n und die Arbeiter ein erhöhtes Mitspracherecht, nach<br />
wie vor aber blieben staatliche Direktoren und bürokratische Planung. Auch gingen die Fabriken nicht in<br />
<strong>de</strong>n Besitz <strong>de</strong>r Belegschaften über. Auf die generelle Wirtschaftspolitik <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s konnten sie<br />
ebensowenig Einfluß nehmen wie es ihnen erlaubt war, in freie Han<strong>de</strong>ls- und Tauschbeziehungen zu<br />
an<strong>de</strong>ren Gemein<strong>de</strong>n zu treten. Für die Partei schien diese wohldosierte Selbstverwaltung nichts weiter als<br />
eine vorübergehen<strong>de</strong> Medizin zu sein, um Menschen zu motivieren, Bürokratie einzusparen und die<br />
Wirtschaft anzukurbeln. All das ist in gewissem Maße auch eingetreten. Für die Libertären aber war es ein<br />
eindrucksvolles Beispiel dafür, daß Freiheit nicht von oben verordnet wer<strong>de</strong>n kann. Selbstverwaltung<br />
allein als eine bessere Form <strong>de</strong>s Industriemanagements taugt nicht dazu, aus einem autoritären Staat ein<br />
libertäres Gemeinwesen zu machen - eine Erfahrung, die sich wenig später auch im<br />
Selbstverwaltungsexperiment <strong>de</strong>r jungen Nation Algerien wie<strong>de</strong>rholen sollte.<br />
Djilas, einst Minister und Vizepräsi<strong>de</strong>nt, versuchte vergebens, die halbherzige Reform in eine<br />
authentische Selbstverwaltung zu verwan<strong>de</strong>ln. Wegen seiner wie<strong>de</strong>rholten Kritiken fiel er schließlich in<br />
Ungna<strong>de</strong> und verbrachte lange Jahre im Gefängnis.<br />
Beson<strong>de</strong>rs hilfreich erwies sich schließlich <strong>de</strong>r Einfluß einiger prominenter Intellektueller, die einen<br />
Beitrag zur Kontinuität libertären Denkens jener Jahre leisteten, als libertäres Han<strong>de</strong>ln nicht auf <strong>de</strong>r<br />
Tagesordnung stand.<br />
George Orwell, <strong>de</strong>r schon im Spanischen Bürgerkrieg auf Tuchfühlung zu <strong>de</strong>n Anarchisten gegangen war,<br />
lieferte mit seiner beißen<strong>de</strong>n Parabel "Farm <strong>de</strong>r Tiere" und <strong>de</strong>m zum Kultbuch gewor<strong>de</strong>nen Roman<br />
"1984" eine zeitlose Kritik am staatlichen Totalitarismus mo<strong>de</strong>rner Massengesellschaften. Seine Bücher,<br />
in <strong>de</strong>nen die Absurdität i<strong>de</strong>ologischer Rechtfertigungsmuster ebenso thematisiert wer<strong>de</strong>n wie <strong>de</strong>r<br />
elektronische Überwachungsstaat und die Macht <strong>de</strong>r Massenmedien, gehörten jahrzehntelang zur<br />
Standardlektüre kritischer Menschen.<br />
Zu <strong>de</strong>n libertär gestrickten Geistern jener Jahre zählte auch <strong>de</strong>r hochangesehene britische Philosoph und<br />
Nobelpreisträger Bertrand Russell, ein überzeugter Pazifist und nimmermü<strong>de</strong>r Organisator <strong>de</strong>s zivilen<br />
Ungehorsams. Sein Engagement für Abrüstung und Menschenrechte machte ihn zum Vorläufer <strong>de</strong>r neuen<br />
sozialen Bewegungen, und er gilt <strong>de</strong>n Ostermarschierern ebenso als geistiger Vater wie <strong>de</strong>r<br />
Frie<strong>de</strong>nsbewegung o<strong>de</strong>r Amnesty International. In gewisser Weise verkörperte Russell in Europa das Ver-<br />
338<br />
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mächtnis Gandhis, <strong>de</strong>m er sehr nahe stand.<br />
Ähnlich dachte auch Albert Einstein, was bei einem führen<strong>de</strong>n Mitarbeiter <strong>de</strong>s amerikanischen<br />
Atombombenprojekts paradox erscheinen mag. Die inneren Konflikte eines überzeugten Pazifisten<br />
freiheitlich-jüdischer Gesinnung, sich <strong>de</strong>m Bau einer Atombombe zu verschreiben, um damit Hitler<br />
zuvorzukommen, dürften sich auf <strong>de</strong>r Höhe einer griechischen Tragödie bewegt haben. Einstein, <strong>de</strong>r stark<br />
von Gandhi, Russell und Rocker beeindruckt war und kaum politische Literatur verfaßte, wirkte vor allem<br />
durch Interviews und provokante Lebensart. Die breite Sympathie, die sein antiautoritär-respektloses<br />
Verhalten allseits erregte, ist ebenso ein Indiz für <strong>de</strong>n latent vorhan<strong>de</strong>nen libertären Geist jener Zeit, wie<br />
die fast epi<strong>de</strong>mische Anhängerschaft, die ein junger Amerikaner namens Garry Davis fand. Der ehemalige<br />
US-Soldat kam 1948 auf die provozieren<strong>de</strong> I<strong>de</strong>e, sich als "Weltbürger" zu fühlen und die Staatsgrenzen
einfach zu ignorieren. In Paris verbrannte er öffentlich seinen Paß und spielte jahrelang mit <strong>de</strong>n Behör<strong>de</strong>n<br />
Katz und Maus. Die "Weltbürgerbewegung" schwoll in kürzester Zeit auf Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong> Anhänger an,<br />
die überall die staatliche Autorität ins Lächerliche zogen und in spektakulären direkten Aktionen die<br />
Aufhebung aller Grenzen for<strong>de</strong>rten. Einer ihrer Anhänger war Albert Camus, <strong>de</strong>r<br />
Literaturnobelpreisträger <strong>de</strong>s Jahres 1957. Der im Wi<strong>de</strong>rstand gegen die Deutschen politisierte<br />
Schriftsteller, <strong>de</strong>r in seinen Romanen zur gewaltfreien Revolte gegen <strong>de</strong>n gesamten Irrsinn <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />
Staatlichkeitskultur aufrief, faszinierte die kritische Jugend <strong>de</strong>r frühen sechziger Jahre nicht nur in<br />
Europa. Von allen sogenannten "existentialistischen" Autoren stand er <strong>de</strong>n Anarchisten am nächsten.<br />
Mit <strong>de</strong>n französischen "Existentialisten*", die einen nachhaltigen Einfluß auf Philosophie, Politik, Kunst<br />
und jugendliche Subkultur <strong>de</strong>r sechziger Jahre ausübten, beginnt das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r selbstzufrie<strong>de</strong>nen, satten<br />
Nachkriegsära. Eine neue Generation ist herangewachsen, die angesichts <strong>de</strong>r staatlichen Heuchelei einen<br />
zunehmen<strong>de</strong>n Gesellschaftsekel empfin<strong>de</strong>t und artikuliert*. Die gängigen I<strong>de</strong>ologien wer<strong>de</strong>n zunehmend<br />
in Frage gestellt, und politischer Wi<strong>de</strong>rstand beginnt sich zu formieren. "Entkolonialisierung" wird hierbei<br />
zum zentralen Thema. In Algerien und Indochina toben blutige Kriege, im Nahen Osten, Lateinamerika<br />
und Schwarzafrika geraten alte Werte ins Wanken, kolonialisierte Völker erwachen und Alternativen<br />
scheinen sich anzubieten. Ein neues Thema beginnt, die alte Ausrichtung <strong>de</strong>r europäischen Linken am<br />
Klassenkampf zu verdrängen: die "Dritte Welt".<br />
Literatur:<br />
/ Günther Bartsch: Anarchismus in Deutschland, Bd. I 1945-1965 Hannover 1971, Fackelträger, 314 S.,<br />
ill.<br />
/ Rudolf Rocker: Die Möglichkeit einer anarchistischen und syndikalistischen Bewegung - eine<br />
Einschätzung <strong>de</strong>r Lage in Deutschland Frankfurt 1978 (1947), Freie Gesellschaft, 36 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Gefahren <strong>de</strong>r Revolution (3 Aufs.) Hannover 1980 (1952), Die Freie Gesellschaft, 34 S.<br />
/ Carl Langer: Fö<strong>de</strong>ralismus und Freier Sozialismus London, New York, Paris 1948, 16 S.<br />
/ Willy Huppenz: Kapitalismus o<strong>de</strong>r Gemeinschaft freier Menschen Köln o.J., 19 S.<br />
/ Thomas Schmidt: Anarchistische Versuche einer politischen Neuordnung nach <strong>de</strong>m 2. Weltkrieg und in<br />
<strong>de</strong>n 50er Jahren in West<strong>de</strong>utschland Gießen 1987, unveröfftl. Magisterarbeit, 110 S.<br />
/ <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: Eine unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Sache (22 S., zu Anni und Georg Hepp) in: <strong>Horst</strong> Scharnagl<br />
(Hrsg.): Das hört nie auf Frankfurt 1983, AZ, 1918., ill.<br />
/ Helmut Rüdiger: Sozialismus in Freiheit vgl. Kap. 32!<br />
/ George Woodcock: Leben und Wirken Mahatma Gandhis Kassel 1980, Weber, Zucht & Co, 123 S.<br />
/ Gandhi Informationszentrum (Hrsg.): Das Leben und Wirken von M. K. Gandhi Kassel 1988, Weber,<br />
Zucht & Co, 304 S., ill.<br />
/ Augustin Souchy: Jugoslawiens revisionistischer Kommunismus in: Vorsicht Anarchist! vgl. Kap. 33!<br />
/ Hans Jürgen Degen: Wir wollen keine Sklaven sein! Der Aufstand <strong>de</strong>s 17. Juni 1953 Berlin 1988,<br />
Libertad, 46 S.<br />
/ Garry Davis: Die obige Einschränkung ist hiermit aufgehoben Basel 1977, Lenos, 266 S.<br />
339<br />
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Kapitel 37<br />
Mai '68<br />
Unter <strong>de</strong>m Pflaster liegt <strong>de</strong>r Strand!<br />
– Straßenparole, anonym –<br />
IM SPÄTSOMMER 1968 ROCH ES IM QUARTIER LATIN stark nach Teer. Die Stadtverwaltung ließ<br />
in vielen Straßen <strong>de</strong>s alten Stu<strong>de</strong>ntenviertels das Kopfsteinpflaster mit Asphalt überziehen. Diese<br />
Maßnahme diente nicht <strong>de</strong>r Verkehrsberuhigung, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Vermeidung künftigen Aufruhrs. Erst<br />
wenige Wochen zuvor, am 10. Mai, waren die Pflastersteine zu Barrika<strong>de</strong>n emporgewachsen o<strong>de</strong>r in die
Reihen <strong>de</strong>r vorrücken<strong>de</strong>n Bereitschaftspolizei geschleu<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n. Drei Tage später, am 13. Mai, ziehen<br />
eine Million Menschen – Stu<strong>de</strong>nten, Arbeiter, Schüler – <strong>de</strong>monstrierend durch Paris. Der Generalstreik<br />
wird ausgerufen. Ab <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>n Tag beginnt eine Serie von Fabrikbesetzungen. Die Arbeiter han<strong>de</strong>ln<br />
jetzt auf eigene Faust, sie for<strong>de</strong>rn die autogestion: Selbstverwaltung ...<br />
Ganz Frankreich befin<strong>de</strong>t sich im Aufruhr, und die Hauptstadt durchlebt einen Taumel revolutionärer<br />
Begeisterung. Während die Stu<strong>de</strong>nten auf <strong>de</strong>n Straßen Schlachten schlagen und Feste feiern, steht die<br />
Regierung am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Abgrunds. Ratlos muß sie feststellen, daß die Stu<strong>de</strong>nten keine<br />
Universitätsreform und die Arbeiter keine Lohnerhöhung for<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn la revolution. Was soll man<br />
dazu sagen? Seit 1871 ruhten die Pflastersteine fest im Bo<strong>de</strong>n. Nun hat die junge Generation sie erneut<br />
herausgerissen und festgestellt, daß unter <strong>de</strong>m Pflaster <strong>de</strong>r Strand liegt. Ein symbolischer Satz, <strong>de</strong>r zum<br />
geflügelten Wort jener Tage wur<strong>de</strong> und um die ganze Welt ging.<br />
Die Revolte <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>nten<br />
Berkeley, Berlin, Paris, Tokio, Madrid, Warschau, Rom, Prag, Buenos Aires, London, Chicago und kein<br />
En<strong>de</strong>... Die Medien können gar nicht so schnell nachkommen, wie die Revolte <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>nten um sich<br />
greift. Sie erfaßt die gesamte westliche Welt und schwappt über <strong>de</strong>ren Rand hinaus. Sie verläßt <strong>de</strong>n<br />
Campus <strong>de</strong>r Universitäten und ergreift Lehrlinge und Schüler, Arbeiter und Intellektuelle. Frauen treten<br />
selbstbewußt aus ihrem sozialen Schattendasein heraus, und sogar Kin<strong>de</strong>r benehmen sich frech und frei.<br />
Wie konnte das in einer selbstzufrie<strong>de</strong>nen Wohlstandswelt passieren?<br />
Es war nicht allzuweit her mit Wohlstand und Zufrie<strong>de</strong>nheit. Unter <strong>de</strong>r ruhigen Oberfläche bro<strong>de</strong>lte es<br />
seit geraumer Zeit. Beson<strong>de</strong>rs die Jugend fühlte sich nicht wohl im belanglosen Zeitgeist <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaftswun<strong>de</strong>rjahre und hatte seit langem ihre eigenen Protestformen entwickelt: Rockmusik,<br />
Motorradgangs, Haartracht, Kleidung und provozieren<strong>de</strong>s Benehmen prägte die unangepaßte proletarische<br />
Jugend <strong>de</strong>r Industriestädte. Aus <strong>de</strong>n USA kam die sanftere Variante <strong>de</strong>r "Hippies" hinzu: Mit Blumen,<br />
Liebe, weichen Drogen und wallen<strong>de</strong>m Haar gaben sie ihrer Suche nach kommunitärer Geborgenheit und<br />
menschlicher Wärme Ausdruck. An <strong>de</strong>n Universitäten verband sich "existentialistische Philosophie" mit<br />
"antikolonialer Solidarität" zu einem brisanten Tatendrang, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r<br />
340<br />
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traditionell eher konservativen Stu<strong>de</strong>ntenschaft die Speerspitze einer Bewegung machte, die bereit war,<br />
auf Anpassung und Karriere zu pfeifen. Statt<strong>de</strong>ssen gingen nun junge Aka<strong>de</strong>miker auf die Straße, um für<br />
die Befreiung <strong>de</strong>r Lohnarbeiter o<strong>de</strong>r gegen <strong>de</strong>n Krieg in Vietnam zu <strong>de</strong>monstrieren, wobei sie fast lustvoll<br />
in Kauf nahmen, dafür fürchterlich verprügelt zu wer<strong>de</strong>n.<br />
All das war die logische Konsequenz jener geist- und prinzipienlosen Nachkriegsära und insofern<br />
natürlich auch ein Protest <strong>de</strong>r Jugend gegen die angepaßte Generation <strong>de</strong>r Eltern. Das gesellschaftliche<br />
Pen<strong>de</strong>l schwang in die an<strong>de</strong>re Richtung zurück, eine Richtung in <strong>de</strong>r die entgegengesetzten Werte<br />
vermutet wur<strong>de</strong>n: Gemeinschaft statt Isolation, Solidarität statt Egoismus, Gerechtigkeit statt Zynismus.<br />
Eine kollektive Sinnsuche hatte eingesetzt, und ihre Protagonisten waren zum Erstaunen aller Soziologen<br />
nicht die verelen<strong>de</strong>ten Proletarier, son<strong>de</strong>rn die privilegierten Stu<strong>de</strong>nten.<br />
Die Eskalation* lief stets nach <strong>de</strong>m gleichen Muster ab. Relativ kleine Proteste aus oft nichtigem Anlaß<br />
wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Obrigkeit mit einer Mischung aus ungeschickter Hektik und brutaler Gewalt beantwortet.<br />
Die Demonstranten erleben das direkte Zusammenspiel staatlicher, wirtschaftlicher, medienpolitischer<br />
und i<strong>de</strong>ologischer Macht und erfahren auf diese Weise hautnah politische Realitäten, die sie bisher nur<br />
aus Lehrbüchern kannten. Sie solidarisieren, politisieren und radikalisieren sich. In Frankreich geben sie<br />
sich <strong>de</strong>n Namen enragés - die Wüten<strong>de</strong>n.<br />
Diese Wut steckte das ganze Land an und zeigte, wie zerbrechlich das soziale und politische
Gleichgewicht war. Aber auch die Unzufrie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Arbeiter war größer als es das Gere<strong>de</strong> von<br />
Wohlstand und Sozialpartnerschaft vermuten ließ. Als sich das alles für kurze Zeit verband, glaubten<br />
viele, die Revolution in einer <strong>de</strong>r mächtigsten und mo<strong>de</strong>rnsten Industrienationen sei zum Greifen nahe.<br />
In <strong>de</strong>r Tat wankte die Regierung <strong>de</strong>s General <strong>de</strong> Gaulle. Der Präsi<strong>de</strong>nt verließ <strong>de</strong>n Elysée-Palast, um sich<br />
in Deutschland mit hohen französischen Offizieren zu beraten, aber am En<strong>de</strong> schaffte er es, daß alles bei<br />
einer Staatskrise blieb. Die linken Parteien und Gewerkschaften zau<strong>de</strong>rn, verhan<strong>de</strong>ln, schlagen ein paar<br />
Verbesserungen heraus und stellen sich hinter die Staatsmacht. Sie rufen ihre Mitglie<strong>de</strong>r zur Ordnung,<br />
verurteilen die Fabrikbesetzungen und dul<strong>de</strong>n, daß die Polizei in die Betriebe einrückt, um die Ordnung<br />
wie<strong>de</strong>rherzustellen. Die verkalkten Altlinken hatten diese Erhebung nicht verstan<strong>de</strong>n und sie - mit gutem<br />
Grund -intuitiv gefürchtet. Die enrages paßten nicht in ihre Schubla<strong>de</strong>n; sie waren we<strong>de</strong>r zu zähmen noch<br />
zu beherrschen. Also waren sie eine Bedrohung. Im Grun<strong>de</strong> dachten die linken Funktionäre genau wie <strong>de</strong><br />
Gaulle, <strong>de</strong>r gesagt hatte: "Reformen ja, Mummenschanz nein". Dieser "Mummenschanz" zielte in <strong>de</strong>r Tat<br />
mit naiver Frische und anarchischer Direktheit auf das gesamte System. Er war spontan, radikal,<br />
antiautoritär und schöpferisch.<br />
Anarchistische Renaissance<br />
Es war kein Zufall, daß in dieser Revolte die schwarze Fahne, das alte Symbol anarchistischen Protests,<br />
wie<strong>de</strong>r auftauchte, <strong>de</strong>nn es war ein libertärer Geist, <strong>de</strong>r da durch die Köpfe<br />
341<br />
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pfiff und nun die Straßen und Plätze erfüllte. Die Bewegung war im übrigen nicht ganz so vom Himmel<br />
gefallen, wie es <strong>de</strong>n Anschein hatte. Eine ihrer Wurzeln führte nach Straßburg, wo die anarchophile<br />
Stu<strong>de</strong>ntengruppe Internationale Situationiste im Jahr zuvor mit radikalen Thesen und direkten Aktionen<br />
für einigen Wirbel gesorgt hatte, <strong>de</strong>r noch lange durch die Universitäten echote. In jüngster Zeit hatten<br />
auch im anarchistischen Milieu Frankreichs endlich Debatten begonnen, die auf einem hohen Niveau nach<br />
Wegen <strong>de</strong>r Erneuerung suchten. Zeitungen wie Noir et Rouge, Socialisme ou Barbarie und Recherches<br />
Libertaires waren zu Wegbereitern <strong>de</strong>s Mai '68 gewor<strong>de</strong>n. Aus dieser Ecke stammten auch die Brü<strong>de</strong>r<br />
Gabriel und Daniel Cohn-Bendit, die zu einer Art Sprecher- und Propagandistenteam <strong>de</strong>r Mairevolte<br />
wur<strong>de</strong>n. Beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r "rote Dany", wie die Zeitungen <strong>de</strong>n jüngeren <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n nannten, wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n<br />
Medien zu einem Star <strong>de</strong>r enrages aufgebaut. Sein plötzlich ent<strong>de</strong>cktes Talent für Improvisation und<br />
Mobilisation und seine verblüffend neue Art, so einfach zu re<strong>de</strong>n, daß ihn min<strong>de</strong>stens die halbe Nation<br />
sympathisch fand, machte ihn zu einem gefährlichen Mann. De Gaulle schob <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschstämmigen<br />
Halbju<strong>de</strong>n <strong>de</strong>shalb bei erster Gelegenheit als "unerwünschten Auslän<strong>de</strong>r" nach Deutschland ab. In<br />
Frankfurt nahmen ihn die, aus <strong>de</strong>nen bald die "Spontis" wer<strong>de</strong>n sollten, als willkommene Verstärkung mit<br />
offenen Armen auf. Die Zeitung, <strong>de</strong>ren Herausgeber er später wur<strong>de</strong>, trug <strong>de</strong>n beziehungsreichen Namen<br />
Pflasterstrand.<br />
Auch nach<strong>de</strong>m an <strong>de</strong>r Seine <strong>de</strong>r Asphalt getrocknet und <strong>de</strong>r gefährliche Agitator außer Lan<strong>de</strong>s war, kehrte<br />
noch keine Ruhe ein. Die Regierung wur<strong>de</strong> nicht gestürzt, und noch viel weniger war ›die Revolution<br />
ausgebrochen‹. Aber eine neue Zeit hatte begonnen. Die Menschen stellten jetzt vieles in Frage, und man<br />
war nicht mehr angepaßt. Autoritär war out, Verän<strong>de</strong>rung war in. Gewiß war bei all<strong>de</strong>m auch Mo<strong>de</strong> im<br />
Spiel, aber seit <strong>de</strong>r Vorkriegszeit hatten es noch nie so viele Menschen so ernst gemeint, wenn sie das<br />
Wort "Revolution" in <strong>de</strong>n Mund nahmen. Und das taten jetzt immer mehr. Der Mai 68 war eine<br />
antiautoritäre Revolte, die Millionen Menschen erreichte, und er war ein Medienereignis. Das konnte<br />
nicht ohne Auswirkungen auf <strong>de</strong>n Anarchismus bleiben.<br />
Im Gefolge <strong>de</strong>s Pariser Mai kam es zu einer regelrechten anarchistischen Renaissance. Es schien, als wäre<br />
er von einer wil<strong>de</strong>n Fee mal eben wachgeküßt wor<strong>de</strong>n. Schwarze Fahnen und anarchische Plakate gehören<br />
nun zum Straßenbild, libertäre Slogans und Symbole wer<strong>de</strong>n populär, anarchistische Zeitungen, Bücher,<br />
Gruppen sprießen allenthalben. Auch die klassischen anarchistischen Organisationen, die die<br />
Stu<strong>de</strong>ntenrevolte eher mißtrauisch beäugt hatten, spüren <strong>de</strong>n Aufwind. Die bärtigen Klassiker Proudhon,
Kropotkin und Bakunin, in <strong>de</strong>n kleinen anarchistischen Buchlä<strong>de</strong>n längst zu La<strong>de</strong>nhütern gewor<strong>de</strong>n,<br />
fin<strong>de</strong>n plötzlich eine interessierte Lesergemein<strong>de</strong> und erleben in <strong>de</strong>n großen Verlagen als Taschenbücher<br />
hohe Auflagen. Berühmte Leitartikler schreiben in gewählten Worten weise Kolumnen über <strong>de</strong>n<br />
schöpferischen Geist <strong>de</strong>r Anarchie. Nicht nur Frankreich erlebt diesen Boom, er erfaßt auch Län<strong>de</strong>r, in<br />
<strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Anarchismus schon im Dämmerzustand darnie<strong>de</strong>rlag. Mal sofort, mal langsam diffundierend,<br />
geht diese Wie<strong>de</strong>rgeburt in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahren einmal rund um <strong>de</strong>n Globus.<br />
342<br />
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Ab 1968 gibt es wie<strong>de</strong>r eine wachsen<strong>de</strong> libertäre Bewegung. Sie ist aber auch eine neue Bewegung, in<br />
vielem kaum noch mit <strong>de</strong>r alten zu vergleichen. In manchem mußte sie völlig von vorne beginnen. Das<br />
war schwer, aber darin lag auch eine große Chance.<br />
APO und Establishment<br />
In Deutschland war die Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckung anarchistischer Traditionen zunächst kein Thema. Viele von<br />
<strong>de</strong>nen, die 1968 in Osnabrück o<strong>de</strong>r Lü<strong>de</strong>nscheid mit einer schwarzen Fahne auf eine Stu<strong>de</strong>nten<strong>de</strong>mo<br />
gingen, hatten das <strong>de</strong>n Illustrierten abgeguckt und dachten, sie trügen eine Trauerfahne. Bei <strong>de</strong>utschen<br />
Demonstranten war zunächst noch Rot angesagt, Disziplin und die korrekte soziologische Analyse. Der<br />
kritische <strong>de</strong>utsche Stu<strong>de</strong>nt hatte seinen SDS, und <strong>de</strong>r war or<strong>de</strong>ntlich sozialistisch.<br />
Dieses Bild sollte sich aber bald än<strong>de</strong>rn. Der akkurate Kurzhaarstu<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>s Sozialistischen Deutschen<br />
Stu<strong>de</strong>ntenbun<strong>de</strong>s mit Kassenbrille und Nyltesthemd macht binnen Monaten eine Wandlung durch, die die<br />
Medien entzückt. Er paart sich - bildlich gesprochen - mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Variante <strong>de</strong>s Großstadthippies,<br />
<strong>de</strong>m sogenannten "Gammler". Und er sucht die Nähe zum Proletariat. Ein im Kasten<strong>de</strong>nken <strong>de</strong>r<br />
A<strong>de</strong>nauer-Ära unerhörter Kontakt fin<strong>de</strong>t statt: Der kritische Jungarbeiter und <strong>de</strong>r progressive Aka<strong>de</strong>miker<br />
begegnen einan<strong>de</strong>r mit bewun<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>m Staunen. Heraus kommt ein philosophieren<strong>de</strong>r Alltagsaktivist, <strong>de</strong>r<br />
leben will und die Welt verän<strong>de</strong>rn. Er verschwistert und verbrü<strong>de</strong>rt sich mit Schülern und Lehrlingen<br />
bei<strong>de</strong>rlei Geschlechts zu kleinen, virulenten Zellen: "Rote Zelle Germanistik" etwa o<strong>de</strong>r<br />
"Schulungsgruppe materialistische Geschichtsphilosophie", aber auch "Zentralrat <strong>de</strong>r umherschweifen<strong>de</strong>n<br />
Haschrebellen" o<strong>de</strong>r schlicht "Kommune I", gefolgt von Nummer 2 und 5. Man liest, diskutiert und<br />
missioniert. Man agiert, agitiert, experimentiert munter drauflos. Alles ist hier und sofort zu verän<strong>de</strong>rn.<br />
Wer irgend kann, lebt jetzt in einer "Kommune". In <strong>de</strong>r Phantasie <strong>de</strong>r Bild-Zeitung sind dies die Tatorte<br />
von wil<strong>de</strong>m "Gruppensex" und "Haschorgien". In Wahrheit wür<strong>de</strong>n wir sie heute eher als schlichte<br />
Wohngemeinschaften einstufen. Nur ganz wenige widmen sich <strong>de</strong>m Extremexperiment einer radikalen<br />
Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Gegenstän<strong>de</strong>, Gefühle und Aktionen und wer<strong>de</strong>n so berühmt wie die Berliner "K<br />
1". Die meisten hingegen bleiben beschei<strong>de</strong>ne Inseln kreativer Selbstverwirklichung, in die sich<br />
langhaarige Jugendliche vor <strong>de</strong>m allgemeinen Mief retten. In <strong>de</strong>n moralinsauren und prü<strong>de</strong>n Sechzigern<br />
aber war schon das Teilen von Wohnung, Brot und Auto für die öffentliche Meinung ein ungeheurer Akt<br />
<strong>de</strong>r Subversion; für die Beteiligten jedoch oft ein realer Akt alltäglicher Befreiung. Genauso wie das<br />
nächtelange Diskutieren bei Lambrusco aus <strong>de</strong>m "Konsum", die Tramptour nach Griechenland und immer<br />
wie<strong>de</strong>r die Demonstrationen... Gegen <strong>de</strong>n Vietnamkrieg und für freie Liebe in <strong>de</strong>n Schulen, gegen die<br />
Notstandsgesetze und für <strong>de</strong>n Prager Frühling, gegen <strong>de</strong>n Schah von Persien und für Ché Guevara.<br />
All das nannte sich nicht zufällig die Außerparlamentarische Opposition. Das Kürzel "APO" wur<strong>de</strong> zum<br />
Markenzeichen, und es war kein schlechtes: Man war gegen diese Gesellschaft, man wollte eine an<strong>de</strong>re,<br />
und man mißtraute <strong>de</strong>r bürgerlichen Politik.<br />
343<br />
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Die APO kreierte nicht nur einen neuen Lebensstil, son<strong>de</strong>rn auch neue Aktionsformen und eigene<br />
Strukturen, was wie<strong>de</strong>rum einen neuen Jargon hervorbrachte. In einem Mischprozeß entstan<strong>de</strong>n aus<br />
Soziologenchinesisch, Proletarier<strong>de</strong>utsch, Scene-Slang und vielen Anglizismen* für neue Phänomene<br />
neue Wörter, die damals je<strong>de</strong>r kennen mußte, insbeson<strong>de</strong>re die Zeitungs- und Fernsehkommentatoren.<br />
Besetzungen wur<strong>de</strong>n zu go-ins, Sitzblocka<strong>de</strong>n zu sit-ins, Propagandaveranstaltungen zu teach-ins. Als<br />
schlimmstes Schimpfwort galt "autoritär", <strong>de</strong>nn die APO versuchte, mit Hirn und Herz "antiautoritär" zu<br />
sein. Daß die systemimmanenten Wi<strong>de</strong>rsprüche <strong>de</strong>s Spätkapitalismus nur in emanzipatorisch-negativer<br />
Dialektik entlarvt wer<strong>de</strong>n konnten, war 1969 je<strong>de</strong>m Stu<strong>de</strong>nten, <strong>de</strong>r es mit <strong>de</strong>r K(ritik) d(er) b(ürgerlichen)<br />
W(issenschaft) ernst nahm, nicht nur geläufig - es kam ihm auch ohne Holpern über die Lippen. Solche<br />
Dinge wie die KdbW wur<strong>de</strong>n dann meist auf <strong>de</strong>r VV ausdiskutiert - worunter eine Vollversammlung zu<br />
verstehen war. Beliebter aber waren die happenings - phantasievolle Aktionen von meist symbolischem<br />
Wert mit einem kräftigen Schuß direkter Aktion. Die anarchischen Provokationsspäße <strong>de</strong>r K1-Mitglie<strong>de</strong>r<br />
Rainer Langhans und Fritz Teufel, die mit Mut, Witz und entlarven<strong>de</strong>r Groteske die staatliche Autorität<br />
bloßstellten, zogen seinerzeit in Deutschland Millionen von Lachern vom Millowitsch-Theater zur<br />
Tagesschau ab. Bei<strong>de</strong>s, Millowitsch und Tagesschau, gehörte übrigens ein<strong>de</strong>utig zum Establishment, <strong>de</strong>r<br />
damaligen Lieblingsvokabel, für die es in <strong>de</strong>r Tat kein passen<strong>de</strong>s <strong>de</strong>utsches Wort gibt. Gemeint war die<br />
verkrustete, selbstzufrie<strong>de</strong>ne etablierte Gesellschaft mit all ihren Institutionen direkter und indirekter<br />
Herrschaft.<br />
Genau das war <strong>de</strong>r Gegner <strong>de</strong>r APO. Die antiautoritäre Revolte zielte nicht mehr gegen einzelne<br />
Mißstän<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn gegen das ganze "verlogene System".<br />
Breitenwirkung<br />
Was aus <strong>de</strong>m zeitlichem Abstand heraus so sehr zur leicht ironischen Schil<strong>de</strong>rung verlockt, war in<br />
Wirklichkeit eine tiefgreifen<strong>de</strong> soziale Umorientierung. Für die Protagonisten, die "Generation <strong>de</strong>r<br />
Achtundsechziger", han<strong>de</strong>lte es sich um eine ernste Angelegenheit, die tief in ihr Leben einschnitt. Und<br />
diese Generation, Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong>, wirkte auf <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>r Deutschen, die angepaßten Millionen. Die<br />
wil<strong>de</strong>n Jahre verloren mit <strong>de</strong>r Zeit natürlich an Wildheit. Was damals entstand, wan<strong>de</strong>lte sich, wur<strong>de</strong> zu<br />
Trends, Bewegungen, Experimenten; vieles schlief auch wie<strong>de</strong>r ein. Aber die Gesellschaft <strong>de</strong>r<br />
Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland trat in einen Wandlungsprozeß, aus <strong>de</strong>m nach einigen Jahren ein an<strong>de</strong>res<br />
Land hervorging.<br />
Diese Breitenwirkung ist vermutlich das, was an <strong>de</strong>r APO am meisten verkannt wird. Legionen von<br />
Sozialwissenschaftlern haben sich <strong>de</strong>r Spurenverfolgung sozialer Bewegungen und politischer Theorien<br />
verschrieben, aber die augenfälligste Bresche, die die Achtundsechziger hinterlassen haben, wird kaum<br />
wahrgenommen. Dabei kann sich ein <strong>de</strong>utscher Mensch, <strong>de</strong>r nach 1970 geboren wur<strong>de</strong>, kaum vorstellen,<br />
wie das Leben in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik vor 1968 aussah. Strammstehen vor <strong>de</strong>m Lehrer, tiefe Diener und<br />
braver Knicks waren normales "gutes Benehmen". An Gymnasien waren "Nietenhosen"* und<br />
344<br />
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Parkas* per Erlaß verboten, und in einer sauberen Gegend gingen Buben und Mä<strong>de</strong>l selbstverständlich in<br />
getrennte "Oberschulen". Über Sexualität zu sprechen, war unanständig, Küssen unter freiem Himmel ein<br />
Skandal. Frauen, die in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit rauchten o<strong>de</strong>r alleine eine Gaststätte aufsuchten, wur<strong>de</strong>n als<br />
Huren betrachtet. Anständige Frauen gehörten in die Wohnung, bekamen vom Mann das abgezählte<br />
Haushaltsgeld und zogen ihm abends die Pantoffeln an. Ein geschirrspülen<strong>de</strong>r Mann gab sich <strong>de</strong>r<br />
Lächerlichkeit preis, und wenn eine Frau irgendwo hinging, ohne in Begleitung ihres Ehemannes zu sein,<br />
dann "stimmte mit <strong>de</strong>r Ehe irgendwas nicht". Im Betrieb war <strong>de</strong>r Meister ein Vorgesetzter und <strong>de</strong>r Chef<br />
eine gottähnliche Respektsperson. In einer Zeit, als <strong>de</strong>r Verzehr einer Pizza ein exotischer Genuß und die<br />
Fahrt im VW-Käfer an <strong>de</strong>n Gardasee ein prickeln<strong>de</strong>s Fernabenteuer war, galt ein Einwohner Mailands <strong>de</strong>n<br />
meisten Deutschen noch als "dreckiger Makkaronifresser". Kin<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Schule o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Straße zu<br />
verprügeln, wur<strong>de</strong> als gute Erziehung angesehen, und Amtspersonen hatten mit "Oberamtmann"<br />
angesprochen zu wer<strong>de</strong>n, auch wenn es sich um eine Frau han<strong>de</strong>ln sollte, was aber wie<strong>de</strong>rum sehr selten
<strong>de</strong>r Fall war. Selbst die Bun<strong>de</strong>spolitiker, die nicht mehr Respekt verdienten als die heutigen, rangierten im<br />
Bewußtsein <strong>de</strong>r meisten Deutschen als unnahbare Respektspersonen, göttergleich und klug.<br />
Gewiß, all das kommt in an<strong>de</strong>rer Form auch heute noch vor. Kin<strong>de</strong>smißhandlung, Sexismus und<br />
Frem<strong>de</strong>nfeindlichkeit sind ja beileibe nicht ausgestorben. Bis 1968 aber bestimmte all das <strong>de</strong>n<br />
Normalzustand <strong>de</strong>r Mainstream-Gesellschaft. Es wur<strong>de</strong> we<strong>de</strong>r hinterfragt noch kritisiert noch geän<strong>de</strong>rt.<br />
Nach 1968 aber hatte sich <strong>de</strong>r Blickwinkel verschoben. Auch bei <strong>de</strong>n Millionen Menschen, die von <strong>de</strong>r<br />
APO nichts hielten und sie belächelten o<strong>de</strong>r beschimpften. Autorität war plötzlich etwas Negatives<br />
gewor<strong>de</strong>n, zumin<strong>de</strong>st etwas Suspektes. Kritik war nicht nur erlaubt, sie wur<strong>de</strong> zur Normalität. Die<br />
folgen<strong>de</strong>n Jahrzehnte erleben <strong>de</strong>n Zweifel am Wirtschaftswun<strong>de</strong>r, an Amerika, am Krieg, an <strong>de</strong>r<br />
Überlegenheit <strong>de</strong>s Mannes, <strong>de</strong>r Unfehlbarkeit <strong>de</strong>r Politiker, <strong>de</strong>r Genialität <strong>de</strong>r Atomkraft und <strong>de</strong>r<br />
Unendlichkeit <strong>de</strong>s Wachstums. Fortschrittsglaube, Arbeiterklasse und kalter Krieg stehen zur Disposition,<br />
Prügelpädagogik, Ehesklaverei und Gottesfurcht kommen aus <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>. Menschen trauen sich nicht nur,<br />
Autoritäten zu wi<strong>de</strong>rsprechen, son<strong>de</strong>rn auch, gegen sie zu han<strong>de</strong>ln. Dritte Welt, Ökologie, Frie<strong>de</strong>n und<br />
Selbstverwirklichung wer<strong>de</strong>n zu Themen, die die breite Masse zu interessieren beginnen.<br />
All das ist nicht etwa das Produkt sozialliberaler Reformen unter <strong>de</strong>r Kanzlerschaft Willy Brandts, es sind<br />
die Spätfolgen jener Breitenwirkung, die die vielbelächelten Achtundsechziger erzielten. Das Kabinett<br />
Brandt konnte auf diesen neuen Zeitgeist nur reagieren.<br />
Politik, Aktion und Leben<br />
Das zu erreichen, war natürlich nicht Ziel <strong>de</strong>r APO. Die machte ›Politik‹, wollte ›die Revolution und hätte<br />
all das wahrscheinlich als ›reaktionär‹ verworfen. Fraglos waren diese Än<strong>de</strong>rungen we<strong>de</strong>r einschnei<strong>de</strong>nd<br />
noch führten sie zu einer libertären Umwälzung <strong>de</strong>r Gesellschaft. Sie läuteten eher eine Trendwen<strong>de</strong> ein,<br />
die zwanzig Jahre lang vorhielt. Erst<br />
345<br />
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in <strong>de</strong>n Neunzigern begann das gesellschaftliche Pen<strong>de</strong>l wie<strong>de</strong>r spürbar nach ›rechts‹ zurückzuschwingen.<br />
Kohls Konservativismus, geklont mit <strong>de</strong>r Yuppie- Attitü<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Haargelgeneration kennzeichnen dieses<br />
neue Ellenbogenzeitalter, passend ergänzt von <strong>de</strong>n durch nazistischen Urschlamm trampeln<strong>de</strong>n<br />
Springerstiefelträgern.<br />
Eine solche Vorausschau aber war <strong>de</strong>n Akteuren <strong>de</strong>r APO, die 1968 auf die Straße gingen, nicht vergönnt.<br />
Die antiautoritäre Revolte war auch in Deutschland in erster Linie eine Stu<strong>de</strong>ntenbewegung. Entsprechend<br />
kurzlebig war auch das konkrete Phänomen APO, <strong>de</strong>nn Stu<strong>de</strong>nt ist man nur für kurze Zeit. Sie hat im<br />
Ganzen kaum drei Jahre existiert, <strong>de</strong>r SDS büßte seine Motorfunktion schon viel früher ein. Der Ausstieg<br />
aus <strong>de</strong>r Aktion, <strong>de</strong>n man schon bald fand, entsprach dann auch <strong>de</strong>n Bedürfnissen angehen<strong>de</strong>r<br />
Führungskräfte: "Der lange Marsch durch die Institutionen" wur<strong>de</strong> proklamiert, was nichts an<strong>de</strong>rs<br />
be<strong>de</strong>utete, als daß möglichst viele Linke sich in Führungspositionen schmuggeln sollten, um dort<br />
revolutionär zu wirken. Er geriet - trotz klug formuliertem "theoretischen Überbau" - <strong>de</strong>n meisten eher zu<br />
einem raschen Galopp in Anpassung und Karriere.<br />
Zunächst aber war die APO im klassischen Sinne politisch. Universitätsreform und Protest gegen <strong>de</strong>n<br />
Imperialismus waren ihre Themen, Besetzungen und Demonstrationen ihre Formen. Schon bald aber<br />
sprengt die Bewegung diesen Rahmen. Veranstaltungen wie <strong>de</strong>r "Vietnam-Kongreß" geraten zu<br />
Massenhearings, auf <strong>de</strong>nen auch <strong>de</strong>r Umsturz in Deutschland zum Thema wird, ständig begleitet von <strong>de</strong>n<br />
Haßtira<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Zeitungen aus <strong>de</strong>m Hause Springer. Die Erschießung <strong>de</strong>s Demonstranten Benno Ohnesorg<br />
durch die Polizei zeigt, daß das "Establishment" ernst macht und <strong>de</strong>r Staat ein gewaltbereiter Gegner ist.<br />
Das Attentat auf Rudi Dutschke, Wortführer <strong>de</strong>s SDS und Lieblingsfeind <strong>de</strong>r Bildzeitung, führt zur <strong>de</strong>r<br />
Erkenntnis, daß das System komplex ist und viele Gesichter hat: Der Protest wird zur direkten Aktion, <strong>de</strong>r
Springer-Verlag zum verhaßten Ziel. Die ersten west<strong>de</strong>utschen Linken radikalisieren und bewaffnen sich.<br />
Es kommt zu Debatten, Richtungskämpfen, Fraktionierungen und immer neuen Theorien. Stu<strong>de</strong>nten<br />
grün<strong>de</strong>n Parteien, Sekten und Zirkel, die sich in <strong>de</strong>n siebziger Jahren zu einer kräftigen linken Scheinblüte<br />
entfalten, um sich dann in Nichts aufzulösen. Es war gewiß nicht dieser Heißluftballon, <strong>de</strong>r das soziokulturelle<br />
Leben unseres Lan<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r geschil<strong>de</strong>rten Weise verän<strong>de</strong>rte.<br />
Parallel zu Politik und Aktion war nämlich ein dritter Sektor entstan<strong>de</strong>n, zwar eng mit bei<strong>de</strong>m verknüpft<br />
und nicht genau zu trennen, aber doch mit einem klar an<strong>de</strong>ren Ansatz. Während die ›ernsthaften<br />
Revolutionäre‹ zuerst auf die Revolution warten wollten, die, je nach Fraktionszugehörigkeit, von <strong>de</strong>r<br />
Reife <strong>de</strong>r Arbeiterklasse o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Anzahl <strong>de</strong>r Gewehre abhängen sollte, fingen an<strong>de</strong>re einfach an, das<br />
Leben zu verän<strong>de</strong>rn. Menschen, die von <strong>de</strong>n paradiesischen Aussichten, die die Theoretiker versprachen,<br />
schon jetzt etwas haben wollten, die wohl auch jenen Theoretikern, die nicht einmal ihr eigenes Leben zu<br />
verän<strong>de</strong>rn begannen, mißtrauten: Empörte Frauen schubsen die Chefgockel <strong>de</strong>s SDS vom Rednerpult und<br />
organisieren sich in "Weiberräten" und Frauengruppen. In sogenannten "Kin<strong>de</strong>rlä<strong>de</strong>n" versuchen sich die<br />
APO-Eltern in <strong>de</strong>r antiautoritären Aufzucht ihres Nachwuchses. In<br />
346<br />
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Bürgerinitiativen, bei Streiks o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Ghettos <strong>de</strong>r Gastarbeiter kommt es zu spannen<strong>de</strong>n Begegnungen<br />
mit <strong>de</strong>r Alltagswelt <strong>de</strong>r "Normales", was in vielfältige praktische Projekte mün<strong>de</strong>t. Die ersten Leute<br />
grün<strong>de</strong>n "Kollektivbetriebe": Unternehmen ohne Chef, häufig auch ohne Geld und Fachwissen, aber mit<br />
umso mehr Elan. Kneipen und Buchlä<strong>de</strong>n zumeist, aber auch schon Handwerk und vereinzelt<br />
Landwirtschaft. Jugendzentren, Wohngemeinschaften und Freizeitgruppen run<strong>de</strong>n das Panorama ab.<br />
So entstehen schon in <strong>de</strong>n Sechzigern erste Aktionen und Projekte, aus <strong>de</strong>nen sich in <strong>de</strong>n Siebzigern die<br />
neuen sozialen Bewegungen und die sogenannte "Alternativszene" entwickeln wer<strong>de</strong>n. Diese bunte<br />
Alltagskultur wur<strong>de</strong> für die Wie<strong>de</strong>rgeburt <strong>de</strong>s Anarchismus in Deutschland zu einer Quelle, die wohl<br />
genauso wichtig war wie die Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckung anarchistischer Theorien, die im Gefolge <strong>de</strong>s<br />
antiautoritären Phänomens <strong>de</strong>r APO praktisch unvermeidlich war.<br />
Neuer Anfang<br />
Die wenigen alten Anarchisten, die 1968 in Deutschland noch das schwarze Banner hochhielten,<br />
bestaunten das Phänomen <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntenrevolte mit einer Mischung aus Freu<strong>de</strong> und Mißtrauen. Vielen<br />
waren die I<strong>de</strong>en nicht ein<strong>de</strong>utig genug anarchistisch und Stu<strong>de</strong>nten sowieso suspekt; an<strong>de</strong>re sahen voller<br />
Begeisterung riesenhafte Chancen. Der alte Anarchoprolet Willy Huppertz, <strong>de</strong>r dreißig Jahre lang in<br />
Mühlheim an <strong>de</strong>r Ruhr als einsamer Rufer das Agitationsblatt Befreiung herausgegeben hatte, blieb<br />
skeptisch, <strong>de</strong>r frankophile Physiker Rudolf Krell jedoch öffnete sein Herz für die jungen Langhaarigen<br />
und war geneigt, in Daniel Cohn-Bendit <strong>de</strong>n Bakunin <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts zu erblicken. Auf <strong>de</strong>m<br />
internationalen Anarchistenkongreß in Cararra mußte er 1968 aber erleben, wie die spanische<br />
Anarchoveteranin Fe<strong>de</strong>rica Montseny nur mit Mühe davon abgehalten wer<strong>de</strong>n konnte, <strong>de</strong>m roten Dany<br />
wegen flegelhaften Benehmens eine Ohrfeige zu verpassen.<br />
Die jungen <strong>de</strong>utschen Antiautoritären hatten inzwischen mit Erstaunen die Ent<strong>de</strong>ckung gemacht, daß es<br />
eine Philosophie und Bewegung mit <strong>de</strong>m Namen "Anarchismus" gab - entsprechend begeistert stürzten<br />
sie sich auf die "Altgenossen". Wenn auch die gegenseitige Euphorie hier und da bald erkaltete und sich<br />
Generationskonflikte auftaten, so kam es doch auch zu ergiebiger Zusammenarbeit. Die "Befreiung" etwa<br />
avancierte in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n junger Kölner Anarchos bald zum führen<strong>de</strong>n Blatt <strong>de</strong>r Szene, und in Frankfurt<br />
wur<strong>de</strong>n die siechen Reste <strong>de</strong>s Verlags <strong>de</strong>r "Freien Gesellschaft" mit frischen Kräften reanimiert. Die<br />
jungen <strong>de</strong>utschen Anarchos aber fühlten sich, als hätten sie eine neue Welt ent<strong>de</strong>ckt. Und diese<br />
Anarchowelt lag voll im Trend <strong>de</strong>r APO. So etwas wie ein "Kronstadt-Kongreß" wür<strong>de</strong> heute vielleicht<br />
ein knappes Dutzend Historiker auf ein Symposium locken - 1971 konnte das Audimax <strong>de</strong>r Freien<br />
Universität Berlin die Zuhörer kaum fassen. Selbst die tonangeben<strong>de</strong>n APO-Linken paßten ins Bild: Der<br />
aufrechte Marxist Dutschke etwa hatte die Lektüre anarchistischer Klassiker empfohlen, und von <strong>de</strong>n
großen Theoretikern <strong>de</strong>r APO - Adorno, Horkheimer, Habermas und Krahl - gehörte keiner zur Sorte <strong>de</strong>r<br />
tumben Marxologen. Eher schon stan<strong>de</strong>n sie, wie insbeson<strong>de</strong>re Herbert Marcuse, einer<br />
347<br />
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Synthese aus marxistischer Ökonomie und libertärer Ethik nahe. Eine staunen<strong>de</strong> Neugier war geweckt.<br />
Die ersten Jahre <strong>de</strong>s neuen Anarchismus stan<strong>de</strong>n - wann immer die pausenlosen Aktionen <strong>de</strong>r APO Zeit<br />
übrig ließen - unter <strong>de</strong>r Überschrift "Nachholbedarf". Überall rotierten die Walzen <strong>de</strong>r billigen<br />
Kleinoffsetmaschinen und spuckten schlecht lesbare Anarchozeitungen aus. Raubdrucke anarchistischer<br />
Klassiker gingen weg wie warme Semmeln, bis Rowohlt, Suhrkamp und Ullstein diesen lukrativen Markt<br />
besetzten.<br />
Mit <strong>de</strong>m Pariser Mai, <strong>de</strong>r eine ganz eigene Ästhetik von Graffitis, Plakaten und Spontangrafik<br />
hervorgebracht hatte, setzten sich auch zwei neue, aus <strong>de</strong>n USA eingesickerte Agit-Medien durch, die nun<br />
das Erscheinungsbild <strong>de</strong>r Straßen, Jacken und Autos eroberten: Aufkleber und Buttons*. Auf ihnen<br />
tauchte nun immer häufiger ein aus Italien stammen<strong>de</strong>s Symbol auf, das bald zum meistgedruckten und<br />
-gesprayten Politsymbol <strong>de</strong>r Welt wer<strong>de</strong>n sollte: das A im Kreis.<br />
Literatur: J. Sauvageot, A. Geismar, D. Cohn-Bendit: Aufstand in Paris Reinbek 1968, Rowohlt, 108 S. /<br />
N.M.: La Chienlit - Dokumente zur französischen Mai- Revolte Darmstadt 1969, Melzer, 470 S. / Henri<br />
Levfebvre: Aufstand in Frankreich Berlin 1969, Ed. Voltaire, 144 S. / Situationistische Internationale:<br />
Über das Elend im Stu<strong>de</strong>ntenmilieu Hamburg 1977, Nautilus, 66 S. / Gabriel und Daniel Cohn-Bendit:<br />
Linksradikalismus - Gewaltkur gegen die Alterskrankheit <strong>de</strong>s Kommunismus Reinbek 1968, Rowohlt,<br />
278 S. / Daniel Cohn-Bendit: Der große Basar München 1975, Trikont, 174 S. / Rudi Dutschke:<br />
Bibliographie <strong>de</strong>s revolutionären Sozialismus Hannover 1969, Druck- u. Verlagskooperative, 49 S. / Rolf<br />
R. Bigler: Enteignet Deutschland! Wien, München Zürich 1968, Mol<strong>de</strong>n, 227 S. / Günther Bansch:<br />
Anarchismus m Deutschland, Bd. II i96;-if7j 423 S., vgl. Kap. 36! / Wolfgang Dreßen: Antiautoritäres<br />
Lager und Anarchismus Berlin 1971, Wagenbach, 153 S. / Gert Holzapfel: Vom schönen Traum <strong>de</strong>r<br />
Anarchie - Zur Wie<strong>de</strong>raneignung und Neuformulierung <strong>de</strong>s Anarchismus in <strong>de</strong>r Neuen Linken Berlin<br />
1984, Argument, 389 S. / Heinrich Böll, Rudi Dutschke, Erich Fried u.a.: Die Ermordung <strong>de</strong>s Georg von<br />
Rauch Berlin 1976, Wagenbach, 152 S. / Rainer Langhans, Fritz tmtd: Klau mich München o.J., Trikont,<br />
212 S., ill. / ›Bommi‹ Baumann: Wie alles anfing München 1975, Trikont, 141 S.<br />
Kapitel 38<br />
Anarchismus heute: von <strong>de</strong>r Organisation zum Wurzelwerk<br />
Anarchie ist machbar, Herr Nachbar!<br />
- Slogan, anonym -<br />
ES GAB VIELE FEUCHTE AUGEN in jener kalten Dezemberwoche 1979, als sich in Madrid über 800<br />
Delegierte zum fünften Kongreß <strong>de</strong>r CNT einfan<strong>de</strong>n. Sie vertraten 267 Syndikate mit nahezu 500.000<br />
Mitglie<strong>de</strong>rn und hatten sich versammelt, um <strong>de</strong>n neuen Kurs <strong>de</strong>r Gewerkschaft festzulegen. Aber das war<br />
nicht <strong>de</strong>r Anlaß für die Tränen. Die flossen aus zweierlei Grün<strong>de</strong>n.<br />
Viele <strong>de</strong>r alten Kämpfer waren ganz einfach <strong>de</strong>n Emotionen nicht gewachsen. Nach vierzig Jahren Exil,<br />
Illegalität und Verfolgung traf man sich nun in <strong>de</strong>r Heimat wie<strong>de</strong>r.<br />
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Anarchisten, die als junge Menschen geflohen waren und nun als Greise erhobenen Hauptes<br />
zurückkehrten, fielen einan<strong>de</strong>r in die Arme. Ihre I<strong>de</strong>en, so schien es, waren lebendig wie eh und je. Kaum<br />
drei Jahre, daß <strong>de</strong>r Diktator gestorben war und nur einige Monate, seit die Gewerkschaften wie<strong>de</strong>r frei<br />
agieren konnten, und schon stand ihre gute alte CNT wie<strong>de</strong>r voll im Saft. War es nicht erhebend, wie die<br />
Arbeiter zu Zehntausen<strong>de</strong>n in die Syndikate strömten? Hatten nicht erst vor kurzem eine Viertelmillion<br />
Menschen auf einem Meeting im Stadtpark von Barcelona <strong>de</strong>r alten Fe<strong>de</strong>rica Montseny zugejubelt? War<br />
das nicht ein Beweis für die zeitlose Richtigkeit <strong>de</strong>r syndikalistischen Theorie? Als alle vereint unter <strong>de</strong>m<br />
schwarzroten Banner die alte Anarchohymne Hijos <strong>de</strong>l pueblo sangen, hatte es ganz <strong>de</strong>n Anschein. Dabei<br />
war es zweiundvierzig Jahre her, seit diese Theorie zuletzt aktualisiert wor<strong>de</strong>n war...<br />
In <strong>de</strong>n letzten Tagen <strong>de</strong>s Kongresses gab es wie<strong>de</strong>r Tränen. Sie stan<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Augen vieler Delegierter<br />
aus <strong>de</strong>n großen Industriebetrieben, und es waren Tränen <strong>de</strong>r Wut und Enttäuschung. Wut darüber, daß es<br />
auf diesem Kongreß nicht zu einer wirklich freien Debatte kam und so die Gelegenheit zu einer aktuellen<br />
Neufassung <strong>de</strong>s Anarchosyndikalismus verpaßt wur<strong>de</strong>. Enttäuschung darüber, daß damit die historische<br />
Chance verspielt schien, in <strong>de</strong>r selbstbewußten, jungen Arbeiterschaft Fuß zu fassen und eine Rolle im<br />
mo<strong>de</strong>rnen Spanien zu spielen. Statt<strong>de</strong>ssen geriet <strong>de</strong>r Kongreß zu einem Ort mißtrauischer<br />
Fraktionskämpfe und verbissener Abwehrschlachten zur Rettung <strong>de</strong>r traditionellen Doktrin. Er en<strong>de</strong>te in<br />
einem Fiasko und zog die Spaltung <strong>de</strong>r CNT nach sich. Die "Traditionalisten" behielten <strong>de</strong>n historischen<br />
Namen samt <strong>de</strong>r historischen Strategie, die "Erneuerer" suchen inzwischen unter <strong>de</strong>m Kürzel CGT nach<br />
pragmatischeren Wegen. Die einen beschimpfen die an<strong>de</strong>ren als Verräter an <strong>de</strong>n anarchistischen I<strong>de</strong>alen,<br />
die an<strong>de</strong>ren werfen jenen ihr antiquiertes Sektierertum vor. Mittlerweile sind bei<strong>de</strong> Organisationen wie<strong>de</strong>r<br />
in relative Be<strong>de</strong>utungslosigkeit zurückgefallen.<br />
Wenn <strong>de</strong>r Streit auch vor<strong>de</strong>rgründig an <strong>de</strong>r Frage entbrannte, ob sich Anarchosyndikalisten an<br />
Betriebsratswahlen beteiligen dürfen o<strong>de</strong>r nicht, stand doch dahinter <strong>de</strong>r Zusammenprall zweier<br />
Denkwelten, in die sich die anarchistische Bewegung inzwischen zerlegt hatte: Prinzipientreue o<strong>de</strong>r<br />
Experiment.<br />
Szenenwechsel: Venedig, Herbst 1984. Eine Mischung aus Volksfest und Versammlung liegt in <strong>de</strong>r Luft,<br />
offen und herzlich. Lachen<strong>de</strong>, re<strong>de</strong>n<strong>de</strong>, gestikulieren<strong>de</strong> Menschen, Neugier. Anarchisten von überallher<br />
sind in die Stadt gekommen. Aus allen Erdteilen reisten sie an, zwischen drei- und fünftausend schätzt die<br />
Presse, niemand hat sie gezählt. Die Stadtverwaltung überließ ihnen zwei Plätze und die halbe Universität<br />
für Spaß, Politik, und Kultur. Die mil<strong>de</strong> Sonne, italienisches Essen und guter Wein (eine<br />
Spezialabfüllung!) ließ eine täglich wachsen<strong>de</strong> Zahl von Touristen dazukommen, die nach kurzer Zeit<br />
ebenso neugierig wur<strong>de</strong>n, mit aßen, diskutierten und tanzten.<br />
Es ging um nichts weniger als die theoretische und praktische Standortbestimmung eines mo<strong>de</strong>rnen<br />
Anarchismus.<br />
349<br />
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Ein lange vernachlässigtes Thema, das mehr und mehr Anarchisten in aller Welt unter <strong>de</strong>n Nägeln<br />
brannte. Das Gefühl, ständig mit Konzepten von gestern die strategischen Sackgassen von morgen zu<br />
produzieren, hatte sich zu einem allgemein spürbaren Unwohlsein verdichtet. Daher hatten einige<br />
italienische Gruppen um die Zeitschrift Rivista A das "Convegno Anarchko" organisiert und dafür mit<br />
Bedacht das "Orwell-Jahr" 1984 ausgesucht.<br />
Diese Suche nach neuen Analysen <strong>de</strong>r Gesellschaft von heute und <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>s Anarchismus in ihr<br />
war bewußt nicht als Kongreß konzipiert. Niemand vertrat hier irgendwen, es waren keine<br />
Organisationen, son<strong>de</strong>rn Menschen die sprachen, und je<strong>de</strong>r sprach mit seiner Stimme. Es gab ein riesiges<br />
Programm: Ausstellungen, Vorträge, Theater, Diskussionsrun<strong>de</strong>n, Musik, Podien und Kreise, Filme,<br />
Happenings, Streitgespräche, Spiele. Es gab ein Forum, simultane Übersetzung und viel bedrucktes
Papier. Aber es gab keine Tagesordnung mit Arbeitszielen, kein Gerangel um Verfahrensfragen, keine<br />
Abstimmungen und Fraktionsintrigen. Je<strong>de</strong>r durfte kommen.<br />
In Venedig wur<strong>de</strong>n keine neuen Organisationen gegrün<strong>de</strong>t und keine alten bestätigt, und am En<strong>de</strong> stand<br />
keine neue "Prinzipienerklärung". Trotz<strong>de</strong>m wur<strong>de</strong> das Convegno zu einem <strong>de</strong>r erfolgreichsten<br />
anarchistischen Treffen <strong>de</strong>r Nachkriegszeit, <strong>de</strong>nn die vielen neuen I<strong>de</strong>en und Erfahrungen führten zu<br />
einem intensiven Austausch. Heraus kamen Kontakte zwischen Menschen und mehrere Bän<strong>de</strong> voll mit<br />
Anregungen. Genug Stoff für die nächsten Jahre - Impulse, aus <strong>de</strong>nen eine Menge entstand.<br />
Strukturwan<strong>de</strong>l<br />
Die bei<strong>de</strong>n beschriebenen Treffen können als Beispiele gelten für <strong>de</strong>n Strukturwan<strong>de</strong>l, <strong>de</strong>n die libertäre<br />
Bewegung seit ihrer achtundsechziger Renaissance durchlebt. Dieser Wan<strong>de</strong>l entspricht verschie<strong>de</strong>nen<br />
Trends und mün<strong>de</strong>t unterm Strich in <strong>de</strong>r Erkenntnis, daß <strong>de</strong>r Anarchismus von heute sich nicht mehr so<br />
sehr als Rammbock versteht, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n staatlichen Bunker zermalmen will, son<strong>de</strong>rn eher als ein<br />
Wurzelgeflecht, das in <strong>de</strong>n Beton eindringt, um ihn zu zerbröseln.<br />
Der alten Rammbockfunktion entsprach die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s direkten Frontalangriffs. In ihren besten Zeiten<br />
brachte die Bewegung hierfür große, spezifische Organisationen hervor. Ihre Kraft bezogen sie aus <strong>de</strong>r<br />
Arbeiterbewegung, ihren Schwung aus Klassenkämpfen. Die spanische CNT ist die letzte große<br />
Vertreterin dieser Generation; die CGT versucht heute eine Synthese aus solch klassischer Organisation<br />
und <strong>de</strong>m, was <strong>de</strong>n Wurzelwerk-Anarchismus statt<strong>de</strong>ssen auszeichnet: soziale Präsenz. Anwesend sein in<br />
sozialen Bewegungen und Kämpfen, katalysatorisch wirken, zur Selbstorganisation anregen,<br />
Gegenmo<strong>de</strong>lle schaffen. Unterwan<strong>de</strong>rung statt Frontalangriff- Landauer statt Bakunin. Dazu gehört <strong>de</strong>r<br />
Aufbau einer konkreten Gegengesellschaft durch konkrete Gegenprojekte und eine Rückeroberung <strong>de</strong>s<br />
Alltags. Dabei sind starre Mitgliedsorganisationen eher hin<strong>de</strong>rlich.<br />
Dieser Strukturwan<strong>de</strong>l hat nichts mit <strong>de</strong>r Frage zu tun, ob <strong>de</strong>r Anarchismus sich revolutionär o<strong>de</strong>r<br />
reformerisch gibt, militant o<strong>de</strong>r friedlich auftritt, klug o<strong>de</strong>r dumm agiert. Es geht im Grun<strong>de</strong> um <strong>de</strong>n<br />
Einsatz <strong>de</strong>r Kräfte, und wie diese am besten zur Wirkung<br />
350<br />
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gebracht wer<strong>de</strong>n können. Organisation be<strong>de</strong>utet ihre Bün<strong>de</strong>lung zur Konfrontation, Wurzelwerk ihre<br />
Diffusion* zur Infiltration.<br />
Die Entwicklung <strong>de</strong>r libertären Bewegung seit 1968 geht ein<strong>de</strong>utig in Richtung dieses subversiven<br />
Einsickerns: Libertäre Aktivisten organisieren sich nicht mehr nur unter ihresgleichen, son<strong>de</strong>rn verstehen<br />
sich zunehmend als wirken<strong>de</strong>r Teil einer sozialen Gruppe o<strong>de</strong>r Bewegung; sie diffundieren. Hinter diesem<br />
Trend steht allerdings noch immer eher die allgemeine Ratlosigkeit als ein schlüssiges Konzept. Zwar ist<br />
in <strong>de</strong>n letzten dreißig Jahren zweifellos ein Wurzelwerk entstan<strong>de</strong>n, aber die meisten Wurzeln wachsen<br />
richtungslos vor sich hin. Sie knacken mal hier ein Steinchen, treiben mal dort eine Blüte, am Fundament<br />
<strong>de</strong>s Bunkers sind sie jedoch noch nicht angelangt. So wird Diffusion leicht zur folgenlosen Beliebigkeit<br />
und <strong>de</strong>r Anarchismus zu einem willkommenen Korrektiv in einer Gesellschaft, die kritische Ansätze nur<br />
zu gerne vereinnahmt.<br />
In diesem Spannungsfeld zwischen Organisation und Wurzelwerk, zwischen traditioneller Lehre und<br />
innovativem* Experiment spielt sich die Entfaltung <strong>de</strong>s jüngeren Anarchismus ab. Diese Spannung ist<br />
Ausdruck eines tiefen Umbruchs, <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>r dreißiger Jahre und <strong>de</strong>m völligen<br />
Neubeginn <strong>de</strong>r sechziger nicht erstaunen kann. Nach drei Jahrzehnten Leerlauf kann man nicht einfach so<br />
weitermachen wie bisher. Eine Neuorientierung aber kann durchaus auch als Chance gesehen wer<strong>de</strong>n.<br />
Der neue Anarchismus ist reich an Initiativen, Kämpfen, Projekten, Experimenten und arm an großen
Ereignissen. Seit über fünfzig Jahren keine glorreichen Schlachten, gestürzte Regierungen befreite Län<strong>de</strong>r<br />
mehr, statt<strong>de</strong>ssen besetzte Häuser, selbstverwaltete Freiräume, renitente* Verweigerung. Ein<br />
Anarchismus <strong>de</strong>r kleinen Schritte. Nicht, weil die Libertären plötzlich <strong>de</strong>m Reformismus verfallen wären,<br />
son<strong>de</strong>rn weil ihnen die großen Konzepte fehlen, um diese kleinen Schritte zu einer subversiven Kraft zu<br />
bün<strong>de</strong>ln. Dennoch eine reiche Bewegung, die in vielen Län<strong>de</strong>rn ein brauchbares Fundament geschaffen<br />
hat, auf <strong>de</strong>m neue Konzepte reifen und greifen könnten.<br />
Trends<br />
Verläßliche Angaben über diese Bewegung zu machen, ist schwierig. Es liegt im Wesen von<br />
Wurzelgeflechten, daß es im Gegensatz zu Organisationen kaum Statistiken o<strong>de</strong>r gar Angaben zur<br />
Mitgliedsstärke gibt, weil die meisten Basisbewegungen einen Mitgliedsstatus nicht kennen. Dennoch ist<br />
allgemein ein stetiges Wachstum <strong>de</strong>r libertären Bewegung leicht nachzuweisen. Das bezieht sich auf die<br />
Anzahl <strong>de</strong>r in ihr agieren<strong>de</strong>n Menschen wie auf die Stärke <strong>de</strong>s Engagements. In manchen Län<strong>de</strong>rn kam es<br />
zu Einbußen, rückläufigen Ten<strong>de</strong>nzen o<strong>de</strong>r starken Schwankungen, <strong>de</strong>r allgemeine Trend jedoch zeigt seit<br />
zweieinhalb Jahrzehnten jenseits aller Mo<strong>de</strong>erscheinungen ein langsames, soli<strong>de</strong>s Wachstum an. Das sagt<br />
nichts über die Qualität aus und auch nichts über die Fluktuation, die in libertären Gruppen erschreckend<br />
hoch ist. Bezeichnen<strong>de</strong>rweise ist <strong>de</strong>r Anarchismus offenbar überwiegend für junge Menschen attraktiv.<br />
I<strong>de</strong>e und Aktion üben eine Zeit lang eine gewisse Faszination aus, aber das Fehlen einer umfassen<strong>de</strong>n<br />
libertären Alltagskultur jenseits <strong>de</strong>r<br />
351<br />
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politischen Aktion führt nach einigen Jahren oft zu einem Gefühl sozialer Heimatlosigkeit. Elternschaft,<br />
Berufstätigkeit o<strong>de</strong>r Studienabschluß sind klassische Bruchstellen. Die Menschen verlassen dann oftmals<br />
"die Bewegung", obwohl sie <strong>de</strong>ren I<strong>de</strong>en nach wie vor teilen. So stellen sich viele anarchistische<br />
Gruppierungen als wahre Durchgangsschleusen dar, die in eine Leere führen, wo eigentlich libertäres<br />
Leben blühen sollte. Daß <strong>de</strong>nnoch die Zahl <strong>de</strong>r Libertären zugenommen hat, zeigt nur, wie groß das<br />
Potential ist und wie schlecht es genutzt wird.<br />
Trotz solcher Schwächen ist <strong>de</strong>r Anarchismus heute, mit Ausnahme Chinas und Kubas, wie<strong>de</strong>r weltweit<br />
dort präsent, wo er auch in <strong>de</strong>r Vorkriegszeit vertreten war. Nach <strong>de</strong>m Zusammenbruch <strong>de</strong>s<br />
Sowjetimperiums schössen auch in Osteuropa zahlreiche anarchistische Gruppen aus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, die<br />
jedoch im Vergleich zur westlichen Bewegung überwiegend in sehr traditionellen<br />
Organisationsvorstellungen verfangen sind und einem recht starren, historischen Politikbegriff anhängen.<br />
Der Hang zum Historisieren ist aber keineswegs ein Privileg <strong>de</strong>s Ostens, <strong>de</strong>m immerhin eine<br />
jahrzehntelange Isolation in einer politisch eindimensionalen Welt zugutegehalten wer<strong>de</strong>n muß. Auch im<br />
Westen hat es nach 1968 zahlreiche Wie<strong>de</strong>rbelebungsversuche alter Organisationen gegeben, die auf <strong>de</strong>m<br />
Papier fast alle erfolgreich waren, in <strong>de</strong>r sozialen Realität jedoch kaum spürbar sind. Die<br />
Organisationsproblematik <strong>de</strong>s ›offiziellen‹ Anarchismus unserer Tage mit seinem Hang zur geistigen<br />
Starre und seiner Ten<strong>de</strong>nz zum Traditionsverein haben wir bereits kennengelernt. Seine meist plakative<br />
Propaganda stößt in <strong>de</strong>r Gesellschaft auf wenig Echo, und selbst bei politischen Kampagnen erreichen<br />
informelle libertäre Gruppen meist einen höheren Grad an Mobilisierung. All das dokumentiert nur <strong>de</strong>n<br />
schwierigen Prozeß einer Abnabelung vom Anarchismus vergangener Zeiten. Die interessanteren<br />
Erfahrungen wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>nn auch eher an<strong>de</strong>rswo gemacht.<br />
Frühe Beispiele<br />
Zu <strong>de</strong>n frühen Vertretern libertärer Diffusion gehört das britische Commitee of 100, das in <strong>de</strong>n sechziger<br />
Jahren die großen Ostermärsche <strong>de</strong>r Abrüstungs- und Frie<strong>de</strong>nsbewegung sehr erfolgreich ergänzte durch<br />
<strong>de</strong>zentrales Han<strong>de</strong>ln in kleinen, lokal verankerten Gruppen. Einzelne Anarchisten brachten hierbei bewußt<br />
die I<strong>de</strong>e gewaltfrei-libertären Alltagsverhaltens und beispielhafter direkter Aktionen in eine Bewegung<br />
ein, in <strong>de</strong>r sie selbst aktiv waren. Erst als sich die Formen bewährten, wur<strong>de</strong>n auch libertäre I<strong>de</strong>en
interessant und ihre Muster weitgehend angenommen. Unschwer erkennen wir hier einen Vorläufer für<br />
das Wirken heutiger Gruppen wie etwa die "Gewaltfreie Aktion" in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Frie<strong>de</strong>nsbewegung.<br />
Die libertäre Szene unserer Tage schöpft aber ebensosehr aus <strong>de</strong>m reichen Reservoir an Erfahrungen, das<br />
in <strong>de</strong>r nordamerikanischen Bürgerrechts-, Anti- Vietnam- und Kommunebewegung entstand. Ein sehr<br />
breites Spektrum, das von gospelsingen<strong>de</strong>n Evangelisten über Alternativlandwirte bis zu <strong>de</strong>n<br />
ultraschrillen Yippies reicht, einer radikalen Jugend-<br />
1) Vergleiche Kapitel 16!<br />
352<br />
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bewegung, die in <strong>de</strong>n Siebzigern mit militanter Provokation das saubere, weiße Amerika aufmischte. In<br />
all diesen Bereichen reagierten die Betroffen selbst, brachten sich unmittelbar ein und agierten direkt. Sie<br />
vermie<strong>de</strong>n Zentralisation, praktizierten eine direkte Basis<strong>de</strong>mokratie und packten die Ursachen meist sehr<br />
radikal bei <strong>de</strong>r Wurzel, wobei sie sich früher o<strong>de</strong>r später unausweichlich auch mit <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>s Staates<br />
auseinan<strong>de</strong>rsetzen mußten. Nicht selten entstan<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Protest selbstorganisierte Alternativen<br />
jenseits staatlicher Strukturen. Auch hier gab es direkte Verbindungen zu libertären Gruppen,<br />
Persönlichkeiten und Traditionen, die bis zur IWW <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit zurückreichten.<br />
Bei <strong>de</strong>n Kabouters im Amsterdam <strong>de</strong>r sechziger Jahre läßt sich <strong>de</strong>r Rückgriff auf <strong>de</strong>n Anarchismus -<br />
insbeson<strong>de</strong>re auf Kropotkin - ebenfalls leicht auf<strong>de</strong>cken. Diese frühe Stadtteil- und Ökobewegung, die mit<br />
ihren weißen Fahrrä<strong>de</strong>rn angetreten war, um die Innenstadt autofrei zu kriegen, besetzte die ersten Häuser,<br />
organisierte sozial Schwache und wur<strong>de</strong>, obwohl sie sich ständig mit <strong>de</strong>r Polizei Straßenschlachten<br />
lieferte, auf Anhieb in <strong>de</strong>n Stadtrat gewählt. An ihr inspirierten sich später die Hausbesetzer ebenso wie<br />
Bürgerinitiativen, grüne Kommunalpolitiker, Ökoaktivisten, Stadtindianer o<strong>de</strong>r Murray Bookchins<br />
libertarian municipalism.<br />
Diese drei frühen Beispiele, allesamt vor und unabhängig von <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntenrevolte entstan<strong>de</strong>n, mögen<br />
genügen, um die Ursprünge jenes Wurzelwerk- Trends zu illustrieren, <strong>de</strong>r für die neuere libertäre<br />
Bewegung typisch ist. Es han<strong>de</strong>lt sich dabei nicht um eine neue inhaltliche Richtung, son<strong>de</strong>rn um eine<br />
an<strong>de</strong>re Struktur. Deshalb gab und gibt es in dieser Bewegung auch durchaus Unterschie<strong>de</strong>, sich<br />
wi<strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong> Konzepte, verschie<strong>de</strong>ne Vorgehensweisen und Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen um richtige und<br />
falsche Wege. Militant, gewaltfrei, propagandistisch, projektorientiert. Wi<strong>de</strong>rstand leistend o<strong>de</strong>r<br />
aufbauend -- alles ist in <strong>de</strong>n Wurzelgeflechten libertärer Aktivisten zu fin<strong>de</strong>n. Allen gemeinsam ist <strong>de</strong>r<br />
Ansatz, beispielgebend zu wirken und eine Bewegung nicht durch ein politisches Etikett zu<br />
vereinnahmen.<br />
Eine Ökologiebewegung als organisatorisches Anhängsel einer anarchistischen Fö<strong>de</strong>ration wäre auch<br />
wohl eine etwas lächerliche Vorstellung.<br />
In <strong>de</strong>n siebziger Jahren kommt es zu einer solchen Vervielfachung von Initiativen, Bewegungen und<br />
Projekten, daß wir sie unmöglich abhan<strong>de</strong>ln können. Es sind nicht nur zu viele, je<strong>de</strong> einzelne stellt sich<br />
auch als ebenso interessant wie komplex dar. Und alles ist irgendwie an<strong>de</strong>rs als früher:<br />
Als in Besancon die Arbeiterschaft <strong>de</strong>r Uhrenfabrik LIP ihren Betrieb besetzt und in Selbstverwaltung<br />
weiterführt, tut sie das nicht namens einer Gewerkschaft o<strong>de</strong>r Organisation, son<strong>de</strong>rn aus eigener Initiative<br />
- ebenso wie ihre Kollegen in Norditalien, die während wil<strong>de</strong>r Streiks die Fließbän<strong>de</strong>r bei FIAT<br />
<strong>de</strong>molieren. In <strong>de</strong>n USA konstituieren sich die Yippies als ›Partei‹ und nehmen an <strong>de</strong>n Wahlen teil. Nach<br />
ihrer Nie<strong>de</strong>rlage töten sie ihren Präsi<strong>de</strong>ntschaftsbewerber und essen ihn auf: Sie hatten nämlich ein<br />
leben<strong>de</strong>s Schwein nominiert - mit <strong>de</strong>m Slogan "Wählt, was ihr wollt. Ihr wählt immer unseren<br />
Kandidaten".
353<br />
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Wur<strong>de</strong> früher die politische Botschaft auf proletarischen Massenversammlungen in kämpferischen Re<strong>de</strong>n<br />
verbreitet, so kommt die Message jetzt mit vielfach größerer Besucherzahl auf Open-Air-Konzerten rüber,<br />
wie etwa im legendären Woodstock-Festival. War es noch vor zwei Generationen eine anarchistische<br />
Todsün<strong>de</strong>, sich an Wahlen zu beteiligen o<strong>de</strong>r unternehmerisch tätig zu sein, so beteiligen sich die<br />
libertären Bookchin-Anhänger heute ganz bewußt an kommunalen Vertretungsmo<strong>de</strong>llen, und überall in<br />
<strong>de</strong>r Welt besetzen selbstverwaltete Betriebe ökonomische Nischen.<br />
Beschränken wir uns angesichts dieses verwirren<strong>de</strong>n Kaleidoskops auf das überschaubarere Beispiel<br />
Deutschland. Nicht nur, weil es uns bekannter sein dürfte - es ist auch von allem etwas dabei.<br />
Deutschland<br />
Nach<strong>de</strong>m die <strong>de</strong>monstrieren<strong>de</strong> stu<strong>de</strong>ntische Jugend wie<strong>de</strong>r zu einer studieren<strong>de</strong>n stu<strong>de</strong>ntischen Jugend<br />
gewor<strong>de</strong>n war, hatte sie eine Erbmasse hinterlassen, aus <strong>de</strong>r Mannigfaltiges entsproß. Das Gros <strong>de</strong>r<br />
stramm linken Stu<strong>de</strong>nten ent<strong>de</strong>ckte die ehernen Prinzipien proletarischer Organisation und folgte Marx',<br />
Lenins, Trotzkis, Stalins o<strong>de</strong>r Maos Anweisungen. Da alle darauf hinausliefen, die Partei <strong>de</strong>s Proletariats<br />
aufzubauen, grün<strong>de</strong>te je<strong>de</strong> Fraktion im Laufe <strong>de</strong>r Zeit ihre eigene ›Partei‹, zwar ohne Proletariat, dafür<br />
aber eine je<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>r anerkannt richtigen Linie. Diese sogenannten "K-Gruppen", die alle mit <strong>de</strong>m<br />
Adjektiv "kommunistisch" begannen, beherrschten eine Zeit lang das linke Spektrum und das<br />
Medieninteresse, bevor sie sich recht unspektakulär im San<strong>de</strong> verliefen. Interessant dabei war, daß sie<br />
zwar alle strikt die Konzepte straffer Massenorganisation vertraten, in Wirklichkeit jedoch versuchten, in<br />
<strong>de</strong>n aufkommen<strong>de</strong>n sozialen Bewegungen Fuß zu fassen. Im Gegensatz aber zu <strong>de</strong>n ›katalysieren<strong>de</strong>n‹<br />
Libertären, die als Teil jener Bewegungen mit <strong>de</strong>m Beispiel wirkten, versuchten die ›agitieren<strong>de</strong>n‹<br />
Kommunisten in <strong>de</strong>r Regel, die i<strong>de</strong>ologische Führung zu erobern. Aber wer läßt sich schon gern von<br />
kommunistischen Stu<strong>de</strong>nten belehren?<br />
Was das libertäre Spektrum angeht, so hat es diese Phase recht gut überstan<strong>de</strong>n. Zwar gab es unter <strong>de</strong>m<br />
Eindruck <strong>de</strong>s marxistischen Übergewichts für einige Jahre die Ten<strong>de</strong>nz, eine Synthese zwischen<br />
Anarchismus und Marxismus herbeizuführen, aber da es sich überwiegend um ein theoretisches Thema<br />
han<strong>de</strong>lte, blieb es praktisch ohne Auswirkung. Begonnen als Suche nach <strong>de</strong>n libertären Spuren bei Marx<br />
und im Marxismus, geriet es teilweise zum peinlichen Versuch mancher Libertärer, nachzuweisen, daß<br />
Anarchisten eigentlich die besseren Marxisten seien.<br />
Neben diesen "Anarchomarxisten", die Karl Korsch, die holländischen Rätekommunisten und Rosa<br />
Luxemburg schätzten, gab es auf <strong>de</strong>m "proletarischen Flügel" <strong>de</strong>r Libertären etliche Gruppen, die sich auf<br />
die "autonomen Klassenkämpfe" in Italien und Frankreich beriefen und Betriebs-, Stadtteil- und<br />
Emigrantenarbeit betrieben. Eine von ihnen hieß "Wir Wollen Alles!". Ihr Weg führte über die ersten<br />
"Häuserkämpfe" Deutschlands zu <strong>de</strong>n "Spontis", die mit ihren – wie schon <strong>de</strong>r Name sagt –<br />
"spontaneistischen" Aktionen und<br />
354<br />
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Lebenskulturen die späten siebziger Jahre prägten. Parallel dazu entwickelten sich die "subkulturellen"<br />
Anarchos. Bei ihnen stand <strong>de</strong>r Joint* höher im Kurs als alle Theorie, und ihre Devise lautete: "Leb' jetzt!"<br />
Mit dieser Lebenseinstellung infizierten sie auf Jahre hinaus die Jugendzentren zwischen Garmisch und<br />
Schleswig; man träumte meist von <strong>de</strong>r Kommune auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong>, von <strong>de</strong>nen damals eine Menge<br />
entstan<strong>de</strong>n.
Ganz an<strong>de</strong>rs drauf war die "Stadtguerillafraktion". Ihre Anhänger kamen meist aus <strong>de</strong>n Großstädten und<br />
hingen <strong>de</strong>n Befreiungsbewegungen <strong>de</strong>r Dritten Welt an, <strong>de</strong>ren Strategien darauf hinausliefen, <strong>de</strong>n "Krieg<br />
in die Metropolen zu tragen", um "die Bestie im Herzen zu treffen". Ab 1972 kam es zu ersten Aktionen.<br />
Die als Baa<strong>de</strong>r-Meinhof-Ban<strong>de</strong> titulierte "Rote Armee Fraktion" sorgte mit ihren Banküberfällen und<br />
Bombenanschlägen für Schlagzeilen. Zwar ging aus ihren in schau<strong>de</strong>rhaftem Linksjargon verfaßten<br />
Traktaten ein<strong>de</strong>utig hervor, daß sie <strong>de</strong>n Anarchismus verabscheuten und sich als "revolutionäre<br />
Marxisten-Leninisten" verstan<strong>de</strong>n, aber <strong>de</strong>nnoch waren sie für Medien und Staatsanwaltschaft fortan<br />
"Anarchistische Gewalttäter". Auf Jahre hinaus war die Gleichsetzung Anarchismus = RAF ein<br />
Totschlagargument, das <strong>de</strong>n Libertären das Leben sauer machte und viele von ihnen <strong>de</strong>r Verfolgung<br />
aussetzte. Die "Gewalt<strong>de</strong>batte" beherrschte nun die Linke und bald die ganze Gesellschaft. Auch unter<br />
<strong>de</strong>n Anarchos fand die Guerilla Befürworter. Die "Bewegung 2. Juni" etwa unternahm <strong>de</strong>n Versuch,<br />
militante Aktionen und Basisbewegung zu verbin<strong>de</strong>n, um so eine Stadtguerilla zu kreieren, die nicht so<br />
menschenverachtend und abgehoben sein sollte wie die RAF. Das durchaus komplexe Scheitern dieser<br />
Politik <strong>de</strong>r Gewalt brachte die gescheiteren Köpfe zurück zu <strong>de</strong>n Wurzeln. Sie trugen ihre Bereitschaft,<br />
sich zur Wehr zu setzen, lieber in die Wi<strong>de</strong>rstandsaktionen von Gorleben, Wackersdorf und <strong>de</strong>r<br />
Frankfurter Flughafenerweiterung. Statt Zeitbomben zu <strong>de</strong>ponieren, wur<strong>de</strong> jetzt an Strommasten gesägt.<br />
Die Parole jener Säger in jenen Tagen: "Legal? Illegal? Scheißegal!"<br />
Die meisten Anarchos <strong>de</strong>r Nach-APO-Zeit aber agierten in kleinen, meist informellen Gruppen und<br />
engagierten sich in allem, was ihnen über <strong>de</strong>n Weg lief. Anfang <strong>de</strong>r Siebziger schätzte man ein- bis<br />
zweitausend Libertäre, was etwa einem Hun<strong>de</strong>rtstel <strong>de</strong>r Stärke <strong>de</strong>r Vorkriegszeit entsprach, während die<br />
Aktionsfel<strong>de</strong>r, in <strong>de</strong>nen diese Handvoll Menschen drinsteckten, um ein Zehnfaches höher lag. 1971 betrug<br />
nach einer zwar nicht sehr zuverlässigen aber im Trend wohl richtigen Selbstauskunft das<br />
Durchschnittsalter 21 Jahre. 28 Prozent <strong>de</strong>r befragten Libertären waren Schüler, 24 % Stu<strong>de</strong>nten, 22 %<br />
Lehrlinge, 19 % Arbeiter und 7 % Angestellte, Freiberufler und Sonstiges. Bei aller Tagesaktivität leistete<br />
diese kleine Bewegung auch noch eine ungemein rege, wenngleich meist sehr seichte Propagandatätigkeit.<br />
Ab 1968 begann mit Hun<strong>de</strong>rten kleiner anarchistischer Zeitungen eine allgemeine Verbreitung libertärer<br />
I<strong>de</strong>en und Standpunkte, die im Laufe <strong>de</strong>r Jahre zu einem papiernen Wasserkopf zweifelhafter Qualität<br />
anwuchs. Die meist plakative Propaganda richtete sich überwiegend an die linke Jugend. Von 500<br />
untersuchten Anarchoblättern haben ganze drei jemals bewußt versucht, die "Normalbevölkerung"<br />
anzusprechen. Die einzelnen Gruppen gehörten keiner Organisation an und stan<strong>de</strong>n - wenn überhaupt -<br />
nur<br />
355<br />
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in einer lockeren Koordinierung zueinan<strong>de</strong>r. Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß diese überaus schwache und<br />
unglaublich vielseitige Bewegung ihre Wirkung nur entfalten konnte, in<strong>de</strong>m sie sich als Katalysator in die<br />
sozialen Bewegungen ihrer Zeit einbrachte.<br />
Anfang <strong>de</strong>r achtziger Jahre lagen die Schätzungen <strong>de</strong>r aktiven Libertären schon bei zehn- bis<br />
zwanzigtausend.<br />
Dennoch entsprach die politische Kultur <strong>de</strong>r linken Szene weitgehend <strong>de</strong>r eines politischen Ghettos, und<br />
die libertären Kreise bil<strong>de</strong>ten hierbei keine Ausnahme. Auftreten, Sprache, Habitus und Zielrichtung von<br />
Aktionen und Projekten waren meist auf geschlossene soziale Gruppen ausgerichtet. Sie signalisierten<br />
Abgrenzung. Provozieren<strong>de</strong> Attitü<strong>de</strong> stand höher im Kurs als gesellschaftliche Wirkung. Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r nicht<br />
dazugehörte, war Teil <strong>de</strong>r "bürgerlichen Schweinewelt". Eine hermetische Bewegung ohne Zugänge und<br />
bar je<strong>de</strong>r Attraktivität.<br />
Daran begann sich erst gegen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Siebziger etwas zu än<strong>de</strong>rn, als die Bun<strong>de</strong>srepublik von breiten<br />
politischen Diskussionen erfaßt wur<strong>de</strong>. Es begann mit <strong>de</strong>m Atomprogramm <strong>de</strong>r Regierung, das<br />
Deutschland in eine Art Nuklearpark verwan<strong>de</strong>ln sollte. Die ökologische, technologische und<br />
wirtschaftliche Blindheit, die hinter diesem Plan steckte, stieß in breiten Schichten <strong>de</strong>r Bevölkerung auf<br />
Angst und Ablehnung. Der Fortschrittsglaube <strong>de</strong>r fünfziger und sechziger Jahre war einer zunehmen<strong>de</strong>n
Kritikfähigkeit gewichen, und die Menschen verfügten seit <strong>de</strong>r achtundsechziger Wen<strong>de</strong> über<br />
Erfahrungen und Instrumentarien, diese Kritik auch umzusetzen. Die Aktionen gegen die verschie<strong>de</strong>nen<br />
Atomprojekte mobilisierten Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong> und wur<strong>de</strong>n von Millionen unterstützt. Wyhl, Brokdorf,<br />
Kalkar, Gorleben und Wackersdorf waren Stationen eines Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r mit sehr unterschiedlichen<br />
Mitteln geführt wur<strong>de</strong>. Gewaltfreier Wi<strong>de</strong>rstand, öffentlicher Druck, militante Demonstrationen, direkte<br />
Einzelaktionen und immer wie<strong>de</strong>r Platzbesetzungen. "Wi<strong>de</strong>rstandsdörfer" auf Bauplätzen wur<strong>de</strong>n zu einer<br />
neuen und sehr wirksamen Form <strong>de</strong>s Protests. Am Kaiserstuhl, im Wendland o<strong>de</strong>r in Oberfranken wur<strong>de</strong>n<br />
ganze Regionen rebellisch und brachten eine örtliche Wi<strong>de</strong>rstandskultur mit zahlreichen Projekten hervor.<br />
In Kalkar verhin<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>r Protest <strong>de</strong>n Einstieg in die Technologie <strong>de</strong>s "Schnellen Brüters", in Wackersdorf<br />
wur<strong>de</strong>n die Aufbereitungspläne durchkreuzt, Österreich mußte sogar ganz auf sein Atomprogramm<br />
verzichten. Von einem Sieg <strong>de</strong>r Bewegung konnte <strong>de</strong>nnoch nicht gesprochen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn die Atomkraft<br />
wur<strong>de</strong> nicht gestoppt, nur reduziert. Ein Um<strong>de</strong>nken war jedoch in Gang gekommen: Viele Menschen<br />
hatten ihre Erfahrungen mit <strong>de</strong>r staatlichen Gewalt gemacht und einiges über die Mechanismen <strong>de</strong>r Macht<br />
gelernt. Auch hatten sie die Kraft <strong>de</strong>s solidarischen Han<strong>de</strong>lns gespürt. Dieses Han<strong>de</strong>ln entsprang einer<br />
Basisbewegung, die in wesentlichen Punkten zunehmend libertären Handlungsmustern folgte. Solche<br />
Muster wur<strong>de</strong>n oft von kleinen, katalysatorisch wirken<strong>de</strong>n Gruppen eingebracht und vorgelebt. Vor allem<br />
aber begann in <strong>de</strong>n Menschen ein kritisches, ökologisches Bewußtsein zu dämmern, das zunehmend auch<br />
die globalen Wechselwirkungen erfaßte. Der Zusammenhang zwischen Umweltzerstörung, Wirtschaft<br />
und Staat wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik zum Thema.<br />
356<br />
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Das blieb nicht auf die Atomkraft beschränkt und hatte weitreichen<strong>de</strong> Folgen. Aus einer Protestbewegung<br />
von Bürgerinitiativen entstan<strong>de</strong>n die "neuen sozialen Bewegungen" mit einem breiten Themenspektrum,<br />
die aber untereinan<strong>de</strong>r eng verwoben waren. An ihrer Basis waren zum Beispiel Frie<strong>de</strong>nsbewegung,<br />
Antiatombewegung, Antimilitarismus, Frauenbewegung, Ostermärsche und Ökologiebewegung kaum zu<br />
trennen. In einzelnen Aktionen o<strong>de</strong>r Projekten wie <strong>de</strong>m Wi<strong>de</strong>rstand gegen die Frankfurter Startbahn West,<br />
<strong>de</strong>n Haus- und Instandbesetzungen, Frauenzentren, Infolä<strong>de</strong>n, Kulturinitiativen, Stadtteilprojekten und<br />
Wohngemeinschaften entstand eine neue Alltags-, Lebens- und Wi<strong>de</strong>rstandskultur - bis hin zum Biola<strong>de</strong>n<br />
um die Ecke. Sie ließ sich nicht mehr auf ein einzelnes Thema beschränken, son<strong>de</strong>rn stand für <strong>de</strong>n<br />
Wunsch nach umfassen<strong>de</strong>r gesellschaftlicher Verän<strong>de</strong>rung. Ihr Motto war, Rechte nicht nur zu for<strong>de</strong>rn,<br />
son<strong>de</strong>rn sie zu nehmen. Dies geschah freilich auf sehr verschie<strong>de</strong>ne Weise und erzeugte recht<br />
unterschiedliche Bewegungen, die sich zum Teil vehement zerstritten.<br />
Grüne, Autonome, Graswurzler<br />
Schon bald propagierten gemäßigte Kreise die I<strong>de</strong>e einer ökologischen Partei. Sie sollte angeblich ein<br />
getreues Abbild <strong>de</strong>r radikalen Basisbewegungen sein und nichts weiter, als <strong>de</strong>ren verlängerter Arm im<br />
Parlament. Nur dort könne wirklich etwas Dauerhaftes erreicht wer<strong>de</strong>n. Die Skepsis eben jener Basis aber<br />
war groß: Man fürchtete, daß eine Verlagerung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s ins Parlament <strong>de</strong>r Bewegung nicht nur<br />
ihre Schlagkraft nehmen wür<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn sich dort auch leicht vereinnahmen ließe. Aus <strong>de</strong>m direkten<br />
Wi<strong>de</strong>rstand wür<strong>de</strong> ein indirekter, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n bürokratischen Mühlen <strong>de</strong>s Parlamentarismus mit<br />
Leichtigkeit beschäftigt, neutralisiert und kaltgestellt wer<strong>de</strong>n könnte. Vor allem aber fürchtete man, daß<br />
von <strong>de</strong>n ökologischen Zielen im Gekungel von Regierungen und Koalitionen nichts weiter übrig bliebe<br />
als halbherzige Kosmetik, die an<strong>de</strong>re Parteien ebensogut fertigbrächten. Wenn aber das Leben auf<br />
unserem Planeten gerettet wer<strong>de</strong>n solle, könne man nicht "ein bißchen Ökologie" betreiben.<br />
Als sich schließlich mit großem Bauchweh 1980 die Partei <strong>de</strong>r Grünen grün<strong>de</strong>te und sich zunächst etwas<br />
oberhalb <strong>de</strong>r Fünfprozentmarke einpen<strong>de</strong>lte, bewahrheiteten sich diese Be<strong>de</strong>nken. Die einen feierten <strong>de</strong>n<br />
Einzug ins Parlament als großen Sieg, die an<strong>de</strong>ren stellten nach drei, vier Jahren fest, daß von <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e<br />
eines "verlängerten Armes im Parlament" nicht viel mehr übriggeblieben war als eine koalitionsfähige<br />
Parlamentspartei, die sich nebenbei ein Standbein auf <strong>de</strong>r Straße hielt. Bis hinunter in <strong>de</strong>n kleinsten<br />
Ortsverband waren nun die wenigen verbliebenen Aktiven mit <strong>de</strong>m Studium von Akten und<br />
Sitzungsprotokollen bestens ausgelastet. Die radikaleren Geister schlagen sich seither in endlosen
Fraktionskämpfen innerhalb und außerhalb <strong>de</strong>r Partei wacker um die Bewahrung eines libertär-radikalen<br />
Erbes <strong>de</strong>r Grünen, das längst verloren ist. Statt<strong>de</strong>ssen erweitert die Partei geschickt und zielstrebig ihren<br />
Marktwert als Koalitionspartner, <strong>de</strong>r inzwischen auf annähernd zehn Prozent geklettert ist. Eine<br />
beachtliche Leistung vom Standpunkt eines Parteistrategen, eine eher be<strong>de</strong>nkliche Entwicklung vom<br />
ökologischen Standpunkt aus gesehen - vom Anliegen einer libertären Umgestaltung einmal ganz<br />
abgesehen.<br />
357<br />
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Auf <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Extrem bil<strong>de</strong>te sich aus <strong>de</strong>n Bewegungen <strong>de</strong>r Siebziger ein merkwürdiges Phänomen,<br />
das unter <strong>de</strong>m etwas unpassen<strong>de</strong>n Namen Autonome auftritt. Deren Wurzeln sind vielfältig. Die bie<strong>de</strong>rtheoretische<br />
Zeitschrift Autonomie, die <strong>de</strong>r Bewegung ihren Namen gab, verschwand schon vor über<br />
einem Jahrzehnt und ist vergessen. Militante Anarchos aus <strong>de</strong>m "Schwarzen Block" <strong>de</strong>r Startbahn West<br />
verquirlten sich mit <strong>de</strong>n dogmatischen Resten <strong>de</strong>r maoistischen K-Gruppen <strong>de</strong>r Siebziger, <strong>de</strong>n<br />
Anarchopunks <strong>de</strong>r Hausbesetzerszene, radikalisierten Kämpfern <strong>de</strong>r Antiatombewegung und Anhängern<br />
<strong>de</strong>r RAF zu einem Phänomen, das beson<strong>de</strong>rs durch die Uniformität seiner Kleidung und ein<br />
provozieren<strong>de</strong>s Auftreten zu <strong>de</strong>n Lieblingen <strong>de</strong>r Medien wur<strong>de</strong>. Die punktuelle Gewaltbereitschaft <strong>de</strong>r<br />
Autonomen wirkte hierbei als leistungsfähiger Verstärker. Schwarzvermummte Stoßtrupps aus <strong>de</strong>r<br />
Hamburger Hafenstraße o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Autonomen-Hochburg Berlin Kreuzberg lieferten über Jahre hinweg die<br />
schaurig-schönen Bil<strong>de</strong>r, die <strong>de</strong>n Bürgern das Gruseln lehrten. Abgesehen von <strong>de</strong>r autonomen Folklore,<br />
die im Grun<strong>de</strong> nichts weiter ist als <strong>de</strong>r Ausdruck eines beson<strong>de</strong>rs extremen sozialen Ghettos, scheint <strong>de</strong>r<br />
Blick durch <strong>de</strong>n Sehschlitz <strong>de</strong>r "Haßmütze" auch <strong>de</strong>n politischen Horizont einzuengen. Inhaltlich vertritt<br />
die autonome Bewegung ein recht starres Gemisch aus altkommunistischem Avantgar<strong>de</strong>-Anspruch und<br />
einem anarcho-spontaneistischen Kult <strong>de</strong>r direkten Aktion. Angereichert wird das Ganze durch einen<br />
umgemo<strong>de</strong>lten Klassenstandpunkt, <strong>de</strong>r auf die Kraft eines neuen Subproletariats baut, das sich aus<br />
Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern rekrutiert. Von <strong>de</strong>r Stoßrichtung her han<strong>de</strong>lt es sich um eine<br />
Bewegung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s, von ihrer Struktur her um relativ hermetische Gruppen, in <strong>de</strong>nen es zwar<br />
keine institutionelle, aber eine sehr starke praktische Hierarchie gibt. Der Kult <strong>de</strong>r Militanz, <strong>de</strong>r bis zu<br />
bizarren Formen eines neuen, kämpferischen Hel<strong>de</strong>ntums führt, spielt hierbei eine große Rolle, ebenso<br />
wie das "korrekte" szenespezifische Verhalten. Für eine tatsächliche "Autonomie" <strong>de</strong>r Menschen bleibt da<br />
natürlich wenig Platz. Die Entwicklung <strong>de</strong>r Autonomen zeigt einen <strong>de</strong>utlichen Trend weg von <strong>de</strong>n<br />
Basisbewegungen, hin zu einer geschlossenen Elite kämpfen<strong>de</strong>r Ka<strong>de</strong>r. Insofern stehen sie für eine<br />
lupenreine ›Rammbock-Strategie‹. Ihre Aktivitäten konzentrieren sich <strong>de</strong>rzeit auf <strong>de</strong>n Kampf gegen <strong>de</strong>n<br />
Neofaschismus. "Faschos" und "Antifas" prallen hierbei auf <strong>de</strong>r Ebene einer Gewalt aufeinan<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>ren<br />
Unterschie<strong>de</strong> kaum mehr auszumachen sind. Was die Herausbildung einer eigenen, sozialen Kultur und<br />
die Fähigkeit zur konstruktiven Alternative <strong>de</strong>r Autonomen angeht, so ist ihre Geschichte - etwa im<br />
Bereich <strong>de</strong>r Hausbesetzerszene - eine Geschichte verpaßter Chancen.<br />
Die Gruppierung, die die Herausbildung eines Wurzelwerks am konsequentesten vorangetrieben hat und<br />
zugleich <strong>de</strong>r anarchistischen Ethik am nächsten kommt, ist die "Gewaltfreie Aktion". Nicht zufällig trägt<br />
ihre recht verbreitete Zeitung <strong>de</strong>n Namen Graswurzel-Revolution. Überhaupt tauchen im Anarchismus <strong>de</strong>r<br />
achtziger und neunziger Jahre vermehrt Namen wie Rhizom*, Wurzelwerk, Netzwerk o<strong>de</strong>r Grassroot*<br />
auf und dokumentieren dadurch indirekt <strong>de</strong>n Prozeß <strong>de</strong>s Um<strong>de</strong>nkens in Sachen Struktur und<br />
Organisationsform.<br />
Die "Graswurzler", die eine lose Fö<strong>de</strong>ration Gewaltfreier Aktionsgruppen bil<strong>de</strong>n, sind sämtlich mit <strong>de</strong>n<br />
Bewegungen, in <strong>de</strong>nen sie agieren, großgewor<strong>de</strong>n. Ihr Entstehen Anfang<br />
358<br />
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<strong>de</strong>r siebziger Jahre läßt sich ziemlich leicht auf die antimilitaristische Bewegung in England und <strong>de</strong>n USA
zurückverfolgen, wo Gandhis Instrumentarium im Kampf gegen die Atombombe o<strong>de</strong>r für die<br />
Bürgerrechte eine stetige Weiterentwicklung erfahren hatte. Die FÖGA stellt sich heute als ein breites<br />
Sammelbecken dar, in <strong>de</strong>m antimilitaristische, ökologische, anarchafeministische und projektorientierte<br />
Ansätze gleichwertig vertreten sind. Historisch bezieht sie sich auf eine eindrucksvolle Ahnengalerie, in<br />
<strong>de</strong>r so unterschiedliche Köpfe wie Mahatma Gandhi, Erich Mühsam, Emma Goldman, Martin Luther<br />
King, Ernst Frie<strong>de</strong>rich, Clara Wichmann, Rudolf Rocker, Leo Tolstoi o<strong>de</strong>r Louis Lecoin zu fin<strong>de</strong>n sind.<br />
Gemeinsamer Nenner dieser Vielfalt, in <strong>de</strong>r sich auch viele Nicht-Anarchisten wohl fühlen, ist das<br />
Bekenntnis zur Gewaltfreiheit. Das schließt empfindliche direkte Aktionsformen wie Besetzungen,<br />
Blocka<strong>de</strong>n, Hungerstreiks und Boykotts durchaus mit ein. Die spezifischen Aktionsfel<strong>de</strong>r reichen vom<br />
Kampf gegen Krieg, Waffenhan<strong>de</strong>l und Armee über Antiatombewegung bis hin zu alternativen Projekten<br />
und <strong>de</strong>r Totalverweigerung von Kriegsund Ersatzdienst, <strong>de</strong>r als Teil <strong>de</strong>r militärischen Gesamtstrategie<br />
verstan<strong>de</strong>n und abgelehnt wird. Dieser einzigen in Deutschland funktionieren<strong>de</strong>n libertären Fö<strong>de</strong>ration<br />
scheint eine gelungene Synthese aus spezifischer Organisation und langsamer Diffusion innerhalb sozialer<br />
Bewegungen gelungen zu sein. Libertäre Handlungsmuster wur<strong>de</strong>n so in weiten Bereichen <strong>de</strong>r<br />
Basisbewegungen zu einem selbstverständlichen Instrumentarium. Eine solche Struktur dürfte auch in <strong>de</strong>r<br />
konservativen Ära Kohl in <strong>de</strong>r Lage sein, <strong>de</strong>n allgemeinen Rückgang sozialen Engagements zu überleben.<br />
Anarchismus in <strong>de</strong>r Ära Kohl<br />
Der kalte neonationale Wind <strong>de</strong>r achtziger und neunziger Jahre brachte <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik ein<br />
verschärftes soziales Klima, in <strong>de</strong>m Massenarbeitslosigkeit, Neonazismus und patriotische<br />
Großmannssucht <strong>de</strong>r Regieren<strong>de</strong>n das Gespenst eines neuen Faschismus heraufbeschwören. Der<br />
bürgerliche Staat versucht, diesen Trend durch einen Rechtsruck aufzufangen, <strong>de</strong>r sich - quer durch alle<br />
Parteien - zu einem Rechtskurs stabilisiert hat. Das wirkt sich auf das gesamte Leben aus und damit auch<br />
auf die gesellschaftlichen Kämpfe. Die Menschen bangen um Wohlstand und Sicherheit, das Interesse an<br />
sozialen Themen erlahmt, die entsprechen<strong>de</strong>n Bewegungen schrumpfen auf Restgrößen zusammen, die<br />
sich nur noch gelegentlich aktivieren. In gewisser Weise ist es <strong>de</strong>m Staat gelungen, das politische<br />
Aufbruchklima, das die Achtundsechziger losgetreten hatten und das die Republik bis in die Mitte <strong>de</strong>r<br />
achtziger Jahre bewegte, zurückzurollen. Diese Zeit eines unwirtlichen politischen Winters blieb nicht<br />
ohne Auswirkungen auf die anarchistische Bewegung.<br />
Der Wust an Aktionsfel<strong>de</strong>rn, in die sich die Anarchisten <strong>de</strong>r Nach-APO-Zeit gestürzt hatten, ist zugunsten<br />
einer kontinuierlicheren Arbeit zusammengeschmolzen. Das begünstigte die Herausbildung einiger<br />
vergleichsweise stabiler Projekte, die sich innerhalb <strong>de</strong>r spezifisch anarchistischen Bewegung einrichten<br />
konnten. Das hektische Panorama <strong>de</strong>r libertären Presse hat sich auf ein halbes Dutzend stabiler<br />
Zeitschriften eingepen<strong>de</strong>lt, flankiert von einer Anzahl kleiner Blätter, die sich Lokalem, Aktuellem o<strong>de</strong>r<br />
beson<strong>de</strong>ren<br />
359<br />
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Themen widmen. Die in <strong>de</strong>n siebziger und achtziger Jahren epi<strong>de</strong>misch entstan<strong>de</strong>nen Lokal- und<br />
Stadtzeitungen mit ihrem Anspruch einer regionalen "Gegeninformation" konnten sich in <strong>de</strong>r Regel nicht<br />
halten. Sie sind zum Teil zu professionellen Stadtmagazinen mutiert, in <strong>de</strong>nen Gesellschaftskritik nur<br />
noch am Ran<strong>de</strong> vorkommt. Die so entstan<strong>de</strong>ne Lücke eines kritischen Lokaljournalismus wird<br />
ansatzweise von <strong>de</strong>n sogenannten "Fanzines" ausgefüllt, kleinen fotokopierten Info-Collagen, die die<br />
Aufgabe einer Gegeninformation aber nur sehr mangelhaft erfüllen können - schon <strong>de</strong>shalb, weil sie sich,<br />
wie schon ihr Name verrät, ausschließlich an ihre eigene Fan-Gemein<strong>de</strong> wen<strong>de</strong>n. Neben <strong>de</strong>r "Graswurzel-<br />
Revolution" konnten sich die eher theoretischen Magazine Schwarzer Fa<strong>de</strong>n und Trafik etablieren, die<br />
stark libertär gefärbte Zeitung Contraste widmet sich <strong>de</strong>m Thema Selbstverwaltung und die Direkte<br />
Aktion versteht sich als anarchosyndikalistisches Organ. Sie ist das Sprachrohr <strong>de</strong>r Freien Arbeiterinnen<br />
Union, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sektion <strong>de</strong>r syndikalistischen IAA. Die FAU ist in<strong>de</strong>s nicht, wie zu vermuten wäre,<br />
eine Gewerkschaft, son<strong>de</strong>rn muß sich mangels Basis in <strong>de</strong>n Betrieben mit <strong>de</strong>r Rolle eines<br />
Propagandaverban<strong>de</strong>s begnügen, <strong>de</strong>r die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Anarchosyndikalismus vertritt. Die FAU-Gruppen und<br />
ihre lebendig-kämpferische Zeitung ersetzen in gewisser Weise eine Anarchistische Fö<strong>de</strong>ration, die es in
Deutschland ebensowenig gibt wie eine anarchistische Publikumszeitschrift. Allen Libertären<br />
gleichermaßen zu Diensten ist das knappe Dutzend anarchistisch orientierter Verlage. Dem<br />
unermüdlichen Publikationseifer <strong>de</strong>r Altachtundsechziger Karin und Bernd Kramer kommt dabei wohl<br />
das größte Verdienst um die Verbreitung libertärer I<strong>de</strong>en zu. Abgerun<strong>de</strong>t wird dieses Panorama durch<br />
einige mehr o<strong>de</strong>r weniger kontinuierliche Projekte wie Mediengruppen, Archive, Taschenkalen<strong>de</strong>r,<br />
Arbeitskreise, Kongresse und <strong>de</strong>rgleichen.<br />
Kritik<br />
Diese spezifisch anarchistischen Strukturen sind nicht viel mehr als das Röntgenbild einer kleinen,<br />
weltanschaulich geprägten Gemein<strong>de</strong>. Ohne die geschil<strong>de</strong>rte Diffusion in soziale Bewegungen und ihre<br />
Wurzelwerk-Funktion könnte man das auch getrost als das Diagramm einer Sekte abtun. Aus dieser<br />
Perspektive stellt sich <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Mainstream-Anarchismus unserer Tage in <strong>de</strong>r Tat als eine etwas<br />
skurrile Glaubensgemeinschaft dar. Er ist in seinem eigenen sozialen Ghetto verfangen, an <strong>de</strong>ssen<br />
Grenzbefestigungen vielerorts munter weiter gemauert wird. Oft genügt sich dieser Insi<strong>de</strong>rkreis als eigene<br />
Zielgruppe und betreibt einen geistigen Inzest, für <strong>de</strong>n das Fehlen einer Publikumszeitschrift bei<br />
gleichzeitiger Existenz von mehreren Theorieblättern nur ein bezeichnen<strong>de</strong>s Indiz ist. Sprache, Habitus<br />
und szenespezifische Dauerthemen signalisieren eine Abgrenzung, die für je<strong>de</strong>n ›normalen‹ Menschen<br />
körperlich erlebbar ist, und das Überschreiten <strong>de</strong>r Schwelle eines autonomen Infola<strong>de</strong>ns erfolgreich<br />
verhin<strong>de</strong>rt. Das Eindringen etwa in die Kneipe eines besetzten Hauses wird selbst für einen Anarchisten<br />
im falschen outfit zu einem exotischen Abenteuer. Blicke, Körpersprache und Verhalten signalisieren<br />
<strong>de</strong>utlich: "Verpiß dich, das ist unser Ghetto!" Dieses Einigeln in hermetischen Nischen gilt für<br />
Anarchopunks gera<strong>de</strong>so wie für ›Müslis‹ o<strong>de</strong>r politische Theoriesilos. In manchen Kreisen herrscht<br />
unausgesprochen die<br />
360<br />
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Ansicht vor, daß alle Menschen außerhalb <strong>de</strong>r eigenen Szene Gegner seien, zumin<strong>de</strong>st aber dumme<br />
Spießer mit <strong>de</strong>m falschen Bewußtsein. Selbst wenn das zuträfe, könnte man <strong>de</strong>n einschlägigen Scenes <strong>de</strong>n<br />
Vorwurf nicht ersparen, daß sie es größtenteils aufgegeben haben, dieses Bewußtsein zu än<strong>de</strong>rn. Mit ihrer<br />
eigenen, wasserdicht abgeschotteten Anti-Kultur geben sie auch nicht gera<strong>de</strong> ein überzeugen<strong>de</strong>s<br />
Gegenbeispiel ab. So machen viele aus <strong>de</strong>r Not eine Tugend und ziehen sich trotzig in <strong>de</strong>n Schmollwinkel<br />
zurück, wo sie sich nicht selten bequem und auf Dauer einzurichten verstehen.<br />
Der harte Kern <strong>de</strong>r anarchistischen Großfamilie, ständig verwickelt in i<strong>de</strong>ologisch begrün<strong>de</strong>te<br />
Dauerstreits, gefällt sich vor allem in <strong>de</strong>r Rolle eines Suchers nach endgültigen Wahrheiten und richtiger<br />
Erkenntnis. Es wird gedacht und analysiert, in die Kreuz und in die Quer. Anarchisten haben stets die<br />
Antwort parat, die korrekte Analyse ausgearbeitet und sowieso schon immer alles vorher und besser<br />
gewußt. Das wi<strong>de</strong>rspruchsfreie, konsequente Verhalten eines je<strong>de</strong>n anarchistischen Menschen in je<strong>de</strong>r<br />
Frage und zu je<strong>de</strong>m Zeitpunkt steht höher im Kurs als die Suche nach Mo<strong>de</strong>llen zur Umsetzung libertärer<br />
Ziele in <strong>de</strong>r Gesellschaft. Natürlich kann über das richtige Verhalten niemals Einigkeit erzielt wer<strong>de</strong>n,<br />
ebensowenig wie irgendjemand in <strong>de</strong>r Lage wäre, wirklich konsequent zu leben. Ein einheitliches,<br />
allgemeinverbindliches und makelloses Verhalten - die sogenannte political correctness - entspräche im<br />
übrigen auch kaum <strong>de</strong>r Ethik eines libertären Gesellschaftsbil<strong>de</strong>s. Großangelegte<br />
Diskussionsveranstaltungen wie die Frankfurter Libertären Tage zeigen <strong>de</strong>utlich, wie sehr sich die<br />
meisten <strong>de</strong>utschen Anarchisten als Standpunktesucher verstehen. Hier fin<strong>de</strong>n Elfenbeinturm,<br />
Schmollwinkel, modische Attitü<strong>de</strong> und linke Scholastik zueinan<strong>de</strong>r. Eine politische Strömung aber, die<br />
ihre Energie auf eine ebenso endlose wie folgenlose Suche nach <strong>de</strong>m richtigen Standpunkt konzentriert,<br />
mag ja ein antiseptisches* Weltbild hervorbringen, bleibt aber folgerichtig auch gesellschaftlich steril.<br />
Dann wäre sie in <strong>de</strong>r Tat einer Sekte näher als einer Bewegung.<br />
Die Sterilität <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Anarchismus hat aber noch eine weitere Ursache, und die gilt zum größten<br />
Teil auch für diejenigen Bereiche, die sich erfolgreich mit sozialen Bewegungen verwoben haben. Die<br />
Re<strong>de</strong> ist vom Übergewicht <strong>de</strong>r Anti-Haltung. Wohlverstan<strong>de</strong>ner Anarchismus erschöpft sich nicht in <strong>de</strong>r
Denunziation <strong>de</strong>s Schlechten, son<strong>de</strong>rn steht für die Utopie <strong>de</strong>s Besseren. Der größte Teil aller sozialen<br />
Kämpfe und Bewegungen <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik aber bestand aus Wi<strong>de</strong>rstand. Das be<strong>de</strong>utet nichts an<strong>de</strong>res<br />
als re-agieren statt agieren. Das mag jenen paradox erscheinen, die glauben, je mehr "Äktschn", <strong>de</strong>sto<br />
revolutionärer, <strong>de</strong>sto schöpferischer. Eine ungeschönte Analyse aber wirkt ernüchternd: Kämpfe wer<strong>de</strong>n<br />
geführt, damit nicht noch mehr Atomkraftwerke gebaut, noch mehr Natur zerstört, noch mehr Freiheiten<br />
weggenommen wer<strong>de</strong>n: ein ständiges Hinterherlaufen hinter Ereignissen, <strong>de</strong>ren Inhalt, Rhythmus und<br />
Qualität stets <strong>de</strong>r Gegner diktiert. Es läuft immer auf dasselbe hinaus: Attacken wer<strong>de</strong>n pariert und<br />
schlimme Zustän<strong>de</strong> repariert. Das ist, bei aller zur Schau gestellten Militanz, keineswegs radikal. Alle<br />
diese Kämpfe, so unumgänglich sie auch sein mögen, bleiben in ihrer Struktur <strong>de</strong>fensiv und in ihrer<br />
Qualität beschränkt. Das politische Endziel ist allenfalls das fünfte Rad am Wagen. Für viele liegt<br />
361<br />
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bei Kämpfen, die ten<strong>de</strong>nziell nicht auf eine neue Gesellschaft zielen, son<strong>de</strong>rn darauf, daß die alte<br />
Gesellschaft nicht noch schlimmer wird. Diese Feststellung gilt für alle Anti-Bewegungen, gleichgültig,<br />
wie schrill o<strong>de</strong>r mit wieviel Militanz sie daherkommen: Letztendlich bringen sie nichts Neues hervor,<br />
son<strong>de</strong>rn verteidigen das bißchen Gute im Alten.<br />
Gewiß will auch ein Anti-Atom-Aktivist eine ökologische Gesellschaft und hat dazu vielleicht auch eine<br />
Vison parat, aber die bleibt in seinem Kopf, solange nur <strong>de</strong>r Bauzaun bestürmt und nicht konkret damit<br />
begonnen wird, jene Gesellschaft auch praktisch aufzubauen. Kein Zweifel: Auch <strong>de</strong>r militante<br />
Hausbesetzer träumt von einer an<strong>de</strong>ren Welt <strong>de</strong>s lustvollen Han<strong>de</strong>lns und solidarischen Lebens. Wenn<br />
aber <strong>de</strong>r Zauber <strong>de</strong>r Vision in <strong>de</strong>m Moment verfliegt, wo die Äktschn vorbei ist und sich die<br />
Reizgasschwa<strong>de</strong>n verflüchtigt haben, wenn die Utopie dann schlappmacht, wo es daran geht, neue<br />
Lebensformen zum Alltag und damit öffentlich erfahrbar zu machen, dann kommt bei all<strong>de</strong>m nichts<br />
weiter heraus als revolutionäres Straßentheater zur Erbauung <strong>de</strong>r Medien. Bestenfalls die Verhin<strong>de</strong>rung<br />
schlimmer Exzesse. Und das ist, mit Verlaub, Reformismus pur.<br />
So bewegt sich dieser Gegenwartsanarchismus seit über zwanzig Jahren im Wesentlichen zwischen<br />
Schreibtisch und Straßenschlacht. Diese Einsicht be<strong>de</strong>utet nach Meinung <strong>de</strong>r Kritiker nicht, daß<br />
Wi<strong>de</strong>rstand per se falsch, sinnlos o<strong>de</strong>r überflüssig wäre. Im Gegenteil: man müsse sich selbstverständlich<br />
wehren. Protest sei überlebenswichtig und genauso unentbehrlich wie die theoretische Standortsuche o<strong>de</strong>r<br />
die Verbreitung libertärer I<strong>de</strong>en. Aber eine banale Erkenntnis müsse man aus <strong>de</strong>r langen Geschichte <strong>de</strong>s<br />
Anarchismus und seines Scheiterns zwingend ziehen: daß diese Dinge allein nicht reichten. Anarchie<br />
könne nur dann ge<strong>de</strong>ihen, wenn sie auch konstruktiv begonnen, entwickelt und aufgebaut wer<strong>de</strong>.<br />
Anarchisten stimmen darin überein, daß positive Anarchie in <strong>de</strong>r gegenwärtigen Gesellschaft nicht<br />
erreicht wer<strong>de</strong>n kann. Als Pseudoradikalen Unsinn jedoch betrachten immer mehr Libertäre die These,<br />
daß <strong>de</strong>shalb auch nicht hier und heute damit begonnen wer<strong>de</strong>n dürfe. Und dieses Beginnen müsse<br />
entgegen landläufiger Anarchomeinung auch keineswegs angepaßt und reformistisch sein.<br />
Projektanarchismus, die Zweite<br />
Seit Anfang <strong>de</strong>r achtziger Jahre zeichnet sich weltweit eine Ten<strong>de</strong>nz im Anarchismus ab, <strong>de</strong>r wir mit<br />
Gustav Landauer schon im dreiunddreißigsten Kapitel begegnet sind: <strong>de</strong>r ›Projektanarchismus‹. Dieser<br />
Ansatz ist in <strong>de</strong>r Bewegung seit seinen Anfängen her mit einem eigenen Entwicklungsstrang vertreten, <strong>de</strong>r<br />
zeitweise als Bestandteil <strong>de</strong>s anarcho-syndikalistischen Konzepts auftrat. Seit <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntenrevolte erlebte<br />
er eine bemerkenswerte Renaissance mit einer Unzahl praktischer Experimente.<br />
Motivation und Zielrichtung waren fast immer gleich: <strong>de</strong>r Dauerfrust üblicher ›politischer‹ Aktivitäten,<br />
<strong>de</strong>ren notwendige Begrenztheit auf nur einen Sektor <strong>de</strong>s Lebens und ihre offensichtliche Fruchtlosigkeit.<br />
Alle schönen anarchistischen Weisheiten, all die Flug-
362<br />
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blätter, Plattformen, Kritiken, Analysen und Manifeste, so spürten die Anarchos <strong>de</strong>r neuen Generation,<br />
wür<strong>de</strong>n so lange Makulatur bleiben, wie es ihnen selbst nicht gelänge, ihre Utopien im realen Alltag<br />
vorzuleben und zugänglich zu machen. Dem sollte mit einem Konzept begegnet wer<strong>de</strong>n, das endlich<br />
wie<strong>de</strong>r die Chance zu einer breiten Gesellschaftsverän<strong>de</strong>rung enthielte. Ähnlich wie beim Syndikalismus<br />
<strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> war eine Lösung gefragt, die <strong>de</strong>n Alltag mit <strong>de</strong>r Utopie verbin<strong>de</strong>n und einen<br />
gangbaren Weg aus <strong>de</strong>r Isolation zeigen könnte. Es ist daher kein Zufall, daß <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne<br />
Projektanarchismus in seiner Struktur <strong>de</strong>m Syndikalismus gleicht. Er baut zwar nicht auf Gewerkschaften<br />
und Klassenkampf auf, aber er versucht, <strong>de</strong>n wirtschaftlichen Bereich mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Politik und <strong>de</strong>r<br />
alltäglichen Lebenskultur zu einem Instrument praktischer Umsetzung zu verbin<strong>de</strong>n, das auf Dauer<br />
subversiv wirken könnte - bis hin zu einer gesellschaftlichen Revolutionierung. Insofern entspricht die<br />
Theorie dieses neuen Trends einer Synthese aus <strong>de</strong>r syndikalistischen Denkstruktur und <strong>de</strong>r Aktionsform<br />
<strong>de</strong>s Wurzelwerks. Die Diffusion <strong>de</strong>r einzelnen Projekte ist allerdings nicht mehr nur auf eine einzelne<br />
soziale Bewegung zugeschnitten, son<strong>de</strong>rn direkt inmitten <strong>de</strong>s ganz normalen, alltäglichen<br />
gesellschaftlichen Lebens angesie<strong>de</strong>lt.<br />
Was das praktisch be<strong>de</strong>uten könnte, wird vielleicht am Beispiel eines <strong>de</strong>utschen Vertreters dieser<br />
Denkrichtung <strong>de</strong>utlich, <strong>de</strong>m Projekt A.<br />
Auch hier geht es um <strong>de</strong>n Aufbau funktionieren<strong>de</strong>r sozialer Gebil<strong>de</strong> im Alltag, die nach libertären<br />
Grundsätzen funktionieren sollen. Das können Lä<strong>de</strong>n, Kin<strong>de</strong>rgärten, Werkstätten, Wohngemeinschaften,<br />
Kulturprojekte, Kneipen, Bildungseinrichtungen, Manufakturen, Bibliotheken, Kommunen, Bauernhöfe,<br />
Verlage, Freizeitinitiativen, politische Gruppen, Dienstleistungsunternehmen, Aktionskomitees,<br />
Gesundheitseinrichtungen, Kooperativen, Freun<strong>de</strong>skreise, Altenprojekte, Nachbarschaftshilfen sein und<br />
vieles mehr. Ein je<strong>de</strong>s soll von einer gemeinschaftlich arbeiten<strong>de</strong>n Gruppe getragen wer<strong>de</strong>n, die sich<br />
selbstbestimmt in freier Vereinbarung organisiert und sich darum bemüht, hierarchische o<strong>de</strong>r entfrem<strong>de</strong>te<br />
Strukturen abzubauen. Getreu <strong>de</strong>m Credo <strong>de</strong>s Projekts A wursteln solche "selbstverwalteten Kollektive"<br />
nicht einzeln vor sich hin, son<strong>de</strong>rn vernetzen sich miteinan<strong>de</strong>r im Sinne gegenseitiger Hilfe. Diese<br />
Vernetzung geschähe an einem Ort o<strong>de</strong>r in einer überschaubar kleinen Region, wobei darauf geachtet<br />
wer<strong>de</strong>n müsse, daß die einzelnen Projekte über das gesamte Stadtgebiet o<strong>de</strong>r die Region verteilt sind.<br />
Zum Teil käme es dabei zu personellen Überschneidungen o<strong>de</strong>r zu Zusammenschlüssen in Doppel- und<br />
Mehrfachprojekten, bei <strong>de</strong>nen die wirtschaftlich stärkeren die schwächeren subventionierten. So könne<br />
etwa ein florieren<strong>de</strong>s La<strong>de</strong>ngeschäft zum Sponsor einer politischen Initiative wer<strong>de</strong>n, bei<strong>de</strong> getragen von<br />
<strong>de</strong>nselben Menschen. Die Gesamtheit solcher Kleinkollektive bil<strong>de</strong>ten eine Verflechtung, die nach innen<br />
als "Netz", nach außen als "Wurzelwerk" wirkten. Sie wären – neben <strong>de</strong>n zahllosen Kontakten <strong>de</strong>s<br />
sozialen Alltags – durch ein System von Versammlungen, Ausschüssen und Gremien in einer<br />
räteähnlichen Struktur miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n. Eine gemeinsame Kasse, die sich aus Überschüssen speist,<br />
soll neue Projekte<br />
363<br />
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för<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n bestehen<strong>de</strong>n in Krisenzeiten helfen. Ab einer gewissen Größe könnten alternative<br />
Wirtschaftsbeziehungen experimentiert wer<strong>de</strong>n, um Geldwirtschaft durch Tausch und später durch an<strong>de</strong>re<br />
Mo<strong>de</strong>lle zu verdrängen.<br />
In einem solchen Projekt, so die Initiatoren, müßten die drei Bereiche ›Ökonomie‹, ›Leben‹ und ›Politik‹<br />
nicht mehr, wie bisher, zeitlich, räumlich und personell voneinan<strong>de</strong>r getrennt sein. Sie wären als<br />
gleichberechtigt anerkannt und je<strong>de</strong> Motivation, sich einem solchen Projekt anzuschließen, sei <strong>de</strong>shalb<br />
gleich legitim: Ob nun jemand seinen persönlichen Schwerpunkt auf selbstbestimmtes Arbeiten lege, auf<br />
politische Außenwirkung o<strong>de</strong>r auf lustvolleres Leben sei relativ unwichtig, solange diese verschie<strong>de</strong>nen
Initiativen miteinan<strong>de</strong>r verquickt blieben und als Ganzes in <strong>de</strong>r Gesellschaft wirkten. Das be<strong>de</strong>utete zum<br />
einen, daß in einem solchen Verbund alles ›politisch‹ sei, o<strong>de</strong>r, was auf dasselbe herauskäme, daß<br />
explizite ›Politik‹ zunehmend überflüssig wür<strong>de</strong>. Zum an<strong>de</strong>ren befriedigte ein solches Projekt nicht nur<br />
irgendwelche Ambitionen, son<strong>de</strong>rn böte für alle Bedürfnisse <strong>de</strong>s Lebens eine Lösung an. Auf diese Art<br />
entstün<strong>de</strong> eine gemeinsame Wirklichkeit, in <strong>de</strong>r sich die künstlichen Trennungen zwischen ›Politik‹,<br />
›Geldverdienen‹ und ›Spaß‹ allmählich verwischten: Eine soziale Heimat zum Leben. Grundsätzliche<br />
Freiwilligkeit soll garantieren, daß diese Mini-Gesellschaft nicht in Zwangsbeglückung ausartet. Es bliebe<br />
immer bei Angeboten, und je<strong>de</strong>r Mensch könne selbst entschei<strong>de</strong>n, wie weit er sich einlassen will o<strong>de</strong>r ob<br />
er etwa wie<strong>de</strong>r aussteigen mag. Verbindliche Verpflichtungen sollen in <strong>de</strong>r Regel nur im Einzelkollektiv<br />
eingegangen wer<strong>de</strong>n, und je<strong>de</strong>s Einzelkollektiv bliebe in seinen eigenen Entscheidungen autonom. Die<br />
Regeln <strong>de</strong>s Zusammenwirkens wären <strong>de</strong>mnach nicht starr, unterlägen keinem Dogma und blieben so<br />
Gegenstand eines ständigen Lern- und Entwicklungsprozesses.<br />
Der Projekt-A-I<strong>de</strong>e zufolge sichert all dies eine Vielfalt an Lebens-, Arbeits- und Kommunikationsformen<br />
- unabdingbare Voraussetzung für eine libertäre Gesellschaft. Je<strong>de</strong>r Mensch lebte gemäß seinen<br />
Wünschen und seinem Geschmack und täte das, sofern er mag, auch mit an<strong>de</strong>ren gemeinsam. Demnach<br />
wäre ein solches soziales Gebil<strong>de</strong> das Abbild einer libertären Mini-Gesellschaft, ein ›soziales<br />
Laboratorium‹. Die anarchistischen Essentials wür<strong>de</strong>n dabei nicht blind übernommen, son<strong>de</strong>rn kritisch<br />
ausprobiert. Sie stün<strong>de</strong>n sozusagen je<strong>de</strong>n Tag auf <strong>de</strong>m Prüfstand. Haben sie im Leben keinen Bestand,<br />
können sie Än<strong>de</strong>rungen erfahren. In einem solchen Klima wür<strong>de</strong>n die ›libertären Grundtugen<strong>de</strong>n‹<br />
praktisch eingeübt und mit <strong>de</strong>r Zeit zu neuen sozialen Verhaltensnormen führen. Das sei umso wichtiger,<br />
da entgegen weitverbreiteter Meinung eine freiheitliche Ethik nicht einfach so vom revolutionären<br />
Himmel falle. Ihr Erlernen, so die Projektanhänger, sei ein langer Prozeß, <strong>de</strong>r schwierig und auch<br />
schmerzhaft sein könne. Lust und Frust lägen in solchen Projekten dicht beisammen - gera<strong>de</strong>so, wie im<br />
›richtigen Leben‹...<br />
Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß in einem solchen Projekt anarchistische Dogmatiker fehl am Platze sind.<br />
Ebenso wie Syndikalismus ist Projektanarchismus etwas für Praktiker und nichts für Puristen. Bei einem<br />
solchen Experiment dürfen politische Überzeugungen nicht zur Voraussetzung gemacht wer<strong>de</strong>n – sie<br />
können Ergebnis sein. Ein soziales Gebil<strong>de</strong> vom<br />
364<br />
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Projekt-A-Typ wäre <strong>de</strong>mnach auch keine anarchistische Gruppe, son<strong>de</strong>rn ein Zusammenhang von<br />
Menschen, die nach libertären Strukturen zu leben versuchten. Ihr Antrieb wäre nicht eine gemeinsame<br />
weltanschauliche Überzeugung, son<strong>de</strong>rn das freiheitliche Leben als Experiment. Das be<strong>de</strong>utet natürlich,<br />
daß nicht nach Glaubensbekenntnissen gefragt wird, son<strong>de</strong>rn danach, ob jemand so leben, arbeiten und<br />
agieren möchte. Ein Mo<strong>de</strong>ll also, das auch für ›unpolitische‹ Menschen offen wäre und durchaus attraktiv<br />
sein könnte.<br />
Was aber ist daran politisch o<strong>de</strong>r gar subversiv? Han<strong>de</strong>lt es sich nicht eher um einen Rückzug in die<br />
private Glückseligkeit?<br />
Die politische Brisanz solcher Projekte ist, wie bei allen sozialen Strategien, spekulativ. Ihre Stärke<br />
könnte aber gera<strong>de</strong> darin liegen, daß das ›private Glück‹ eben nicht mehr als etwas Verwerfliches<br />
angesehen wird. Nebenbei bemerkt und um Illusionen vorzubeugen: Der selbstverwaltet-libertäre Alltag<br />
in solchen Projekten ist we<strong>de</strong>r ein Paradies noch die zuckersüße Harmonie, son<strong>de</strong>rn allenfalls eine an<strong>de</strong>re,<br />
menschlichere Art mit Problemen umzugehen, als in hierarchischen Gesellschaften üblich. Trotz<strong>de</strong>m<br />
bleibt <strong>de</strong>r Anspruch bestehen, daß es legitim sei, hier und heute selbst schon etwas von <strong>de</strong>n schönen<br />
Utopien <strong>de</strong>s Übermorgen haben zu wollen. Alle Vertröstungsi<strong>de</strong>ologien, die <strong>de</strong>n selbstlosen, asketischen<br />
Revolutionär zum Vorbild haben, wer<strong>de</strong>n im Grun<strong>de</strong> als verlogen empfun<strong>de</strong>n. Das hat natürlich zur<br />
Folge, daß man nach außen offen, erlebbar, und attraktiv auftreten kann. Es bestün<strong>de</strong> <strong>de</strong>mnach die<br />
Chance, im sozialen Alltag Tausen<strong>de</strong> von ›normalen‹ Menschen zu erreichen und ihnen ganz simple<br />
Zugänge zum Verständnis an-archischen Lebens zu schaffen. Die Menschen am Ort könnten hautnah
erleben, daß eine Firma ohne Chef, ein Zusammenleben ohne Unterdrückung, eine Kultur ohne Staat<br />
möglich sind. Eine Überwindung <strong>de</strong>s ›Ghettos‹ ist bei solchen Projekten also schon gleich mit eingebaut,<br />
wobei ihre Betreiber natürlich auf <strong>de</strong>n Einsatz klassischer Informationsmedien keinesfalls verzichten<br />
müssen. Da Beispiele aber meist überzeugen<strong>de</strong>r sind als Papier, wür<strong>de</strong> das Leben hier zur <strong>de</strong>nkbar besten<br />
Form von ›Propaganda‹.<br />
Tatsächlich könnte ein solches Mo<strong>de</strong>ll in einer Zeit, in <strong>de</strong>r die staatliche Gesellschaft in je<strong>de</strong>r Hinsicht<br />
immer weniger zu bieten hat, durchaus sinngebend wirken, und zwar sozial, menschlich, wirtschaftlich,<br />
kreativ und emotional. Das dürfte sie für viele Menschen attraktiv machen - vorausgesetzt, sie<br />
funktioniert. Als mittelfristiges Ziel peilt die Projekt-A-Strategie eine Vernetzung vieler solcher Orte und<br />
Regionen an - über Län<strong>de</strong>rgrenzen hinaus zu einer immer stabiler wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n, virulenten<br />
Gegengesellschaft. Diese könnte zunehmend auch zu einem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen<br />
Faktor wer<strong>de</strong>n: zu einem langsam zusammenwachsen<strong>de</strong>n ›Archipel libertärer Inseln‹ in einer autoritären<br />
Welt, <strong>de</strong>r langsam aus seinen gesellschaftlichen Nischen ausbricht. Dort entstün<strong>de</strong>n zugleich die<br />
konkreten Urformen einer neuen Gesellschaft. Mit zunehmen<strong>de</strong>r Kraft könnte sich ein solches Projekt<br />
auch zunehmend aktiv und kämpferisch in die sozialen Konflikte <strong>de</strong>r ›alten‹ Gesellschaft einmischen.<br />
Solche Gedanken stehen ganz in <strong>de</strong>r Tradition von Landauers Revolutionskonzept.<br />
Gestan<strong>de</strong>ne Projekt-A-Strategen sehen am En<strong>de</strong> sogar ein Szenario für eine weltweite<br />
365<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
und ziemlich friedfertige Umwälzung: In <strong>de</strong>n Projekten wüchse eine neue Generation heran, die mit einer<br />
libertären Handlungsroutine groß wür<strong>de</strong>. Eine solche Generation ›selbstverständlicher Libertären könnte<br />
über entsprechen<strong>de</strong> Kenntnisse und das nötige Instrumentarium zur Transformation <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
verfügen und sich diese Aufgabe auch zutrauen. Gleichzeitig wäre für die Menschen außerhalb <strong>de</strong>s<br />
›Archipels‹ die libertäre Alternative nichts Exotisches und Angsteinflößen<strong>de</strong>s mehr, son<strong>de</strong>rn ein ganz<br />
›normaler‹ Bereich ihres Erfahrungshorizonts. Eine Einstellung positiver Toleranz könne so entstehen, ein<br />
soziales Klima, das die Chance böte, in einer Krisensituation diesen Teil <strong>de</strong>r Bevölkerung für die breite<br />
Umsetzung einer libertären Alternative zu gewinnen.<br />
Für ein solches Konzept spricht die historische Erfahrung daß Revolutionen nicht von Revolutionären<br />
gewonnen wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn von erdrutschartigen Verschiebungen <strong>de</strong>r öffentlichen Meinung, ausgelöst<br />
durch die Masse sympathisieren<strong>de</strong>r Mitläufer. Eine solche Sympathisantenschicht hat <strong>de</strong>r Anarchismus<br />
seit 1936 nicht mehr gekannt.<br />
Allerdings ist <strong>de</strong>r Einwand nicht von <strong>de</strong>r Hand zu weisen, daß <strong>de</strong>r Staat diesem Treiben nicht tatenlos<br />
zusehen dürfte und das ganze Archipel unter Wasser setzen könnte. Diese Gefahr aber müssen<br />
ausnahmslos alle sozialen Strategien gewärtigen. Dabei ist <strong>de</strong>r Projektanarchismus noch vergleichsweise<br />
im Vorteil, da seine Struktur schwieriger zu kriminalisieren ist als eine politische Gruppe, Organisation<br />
o<strong>de</strong>r Gewerkschaft. Im Grun<strong>de</strong> han<strong>de</strong>lt es sich um ein Wettrennen, <strong>de</strong>nn nach <strong>de</strong>r inneren Logik solcher<br />
Projekte steht ihr Wachstum in direktem Verhältnis zur Schwächung <strong>de</strong>s Staates, da die Ausbreitung <strong>de</strong>s<br />
›Archipels‹ zugleich <strong>de</strong>n Staat im Bewußtsein <strong>de</strong>r Bevölkerung zersetze. Er verliere so an Be<strong>de</strong>utung,<br />
Prestige, Vertrauen, Glanz und Macht und schließlich auch die Fähigkeit, die Menschen in seinem Bann<br />
zu halten. Tatsächlich bestätigt auch Gandhis Beispiel, daß ab einem bestimmten Moment dieses<br />
Verhältnis kippt - und zwar lange vor einem tatsächlichen Gleichgewicht <strong>de</strong>r Kräfte. Genau dann, wenn<br />
die ›Mitläufer‹ Zünglein an <strong>de</strong>r Waage wer<strong>de</strong>n. Wenn aber administrative Schikanen und juristische<br />
Verfolgung nicht mehr verfangen, ist es meist auch für die brutale Tour zu spät. Die gigantischen Militärund<br />
Polizeiapparate <strong>de</strong>s Deutschen Kaisers, <strong>de</strong>s sowjetischen Imperiums o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r DDR fielen urplötzlich<br />
in sich zusammen, als das Prestige <strong>de</strong>r Machthaber auf Null stand, das Volk verzweifelt war und die<br />
Soldaten nicht mehr gehorchen wollten. Dabei hatte hinter keinem dieser Umstürze eine konstruktivsubversive<br />
Bewegung gestan<strong>de</strong>n, als <strong>de</strong>ren Katalysator sich <strong>de</strong>r Projektanarchismus heute versteht.<br />
Es leuchtet ein, daß eine Revolution solchen Typs wahrscheinlich diejenige wäre, die am wenigsten
Blutvergießen verursachen wür<strong>de</strong>. Gandhi könnte sein leises Lächeln aufsetzen, und selbst ein Durruti<br />
dürfte befriedigt grinsen.<br />
Wie gesagt, all das ist bisher nur eine I<strong>de</strong>e.<br />
Tatsache hingegen ist, daß projektanarchistische Ansätze seit <strong>de</strong>n achtziger Jahren zu <strong>de</strong>n innovativen<br />
Trendsettern <strong>de</strong>r anarchistischen Theorie und Praxis zählen. Die internationalen Treffen von Venedig,<br />
Melbourne, Chicago, Seoul o<strong>de</strong>r Barcelona zeigen dies ebenso wie Literatur und Presse o<strong>de</strong>r die<br />
hochkarätigen Seminare, die etwa in Mailand, Madrid<br />
366<br />
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o<strong>de</strong>r Lausanne veranstaltet wer<strong>de</strong>n. Vor allem aber spiegelt sich diese Entwicklung in realen Projekten,<br />
die recht unspektakulär begonnen haben und seit Jahren in vielen Län<strong>de</strong>rn ge<strong>de</strong>ihen. Sie alle eint noch<br />
keineswegs ein gemeinsamer Konsens, ja nicht einmal das Bewußtsein einer gemeinsamen Strategie –<br />
insofern han<strong>de</strong>lt es sich noch eher um eine Ten<strong>de</strong>nz als um eine Bewegung. Trotz<strong>de</strong>m wur<strong>de</strong> hier in <strong>de</strong>n<br />
letzten Jahrzehnten eine beachtliche Aufbauarbeit vollbracht, die eines Tages eine wertvolle Basis<br />
abgeben könnte.<br />
Selbst Deutschland kann hierbei auf eine kurze aber interessante Entwicklung zurückblicken. Noch<br />
während <strong>de</strong>r APO-Zeit entstan<strong>de</strong>n, zum Beispiel mit <strong>de</strong>n Kölner Heinzelmenschen, erste<br />
projektanarchistische Ansätze, die intuitiv die Richtung anpeilten, die heute in <strong>de</strong>r Diskussion ist. Die<br />
meisten von ihnen gingen in jener diffusen, undogmatischen linken Szene auf, die sich ab Mitte <strong>de</strong>r<br />
siebziger Jahre herausbil<strong>de</strong>te. Die war zwar in ihrem Alltag unentwirrbar mit allen aktuellen Politkämpfen<br />
verwoben, aber konkrete Projekte haben ihre eigene Dynamik, ganz beson<strong>de</strong>rs die wirtschaftlichen. So<br />
entstand in Deutschland relativ früh und relativ stark eine Selbstverwaltungsbewegung, die trotz aller<br />
Krisen und Rückschläge zu einer festen Größe gewor<strong>de</strong>n ist. Heute gibt es einige Zigtausend<br />
Arbeitsplätze in selbstverwalteten Initiativen und Betrieben mit unterschiedlichstem weltanschaulichen<br />
Hintergrund. Ein großer Teil steht in einer libertären Tradition, die wie<strong>de</strong>rum in <strong>de</strong>m verwurzelt ist, was<br />
vor fünfzehn Jahren etwas spöttisch als "die Alternativen" bezeichnet wur<strong>de</strong>. Das war jene Zeit, als<br />
unheimlich bewußte Frauen und Männer irgendwie unheimlich betroffen waren, sich mit Vorliebe in<br />
Latzhosen klei<strong>de</strong>ten und <strong>de</strong>n Friseur mie<strong>de</strong>n. Trotz aller Süffisanz, die diesen Leuten vor allem in <strong>de</strong>n<br />
Medien wi<strong>de</strong>rfuhr, war dieser Trend so lachhaft nicht, wie sein heutiges Image vermuten läßt. Es waren<br />
zehn bewegte Jahre intensiver Erfahrungen und schwierigen Lernens. Aus i<strong>de</strong>alistischen Schwärmern<br />
wur<strong>de</strong>n kritische Realisten, aus Dilettanten Profis, und vielen ging ihre Utopie dabei nicht verloren.<br />
Aus diesem Reservoir schöpfte die neue projektanarchistische Richtung, die seit Mitte <strong>de</strong>r achtziger Jahre<br />
von sich re<strong>de</strong>n macht, auf diesen Erfahrungen konnte sie aufbauen. Mittlerweile sind erste Projekte<br />
entstan<strong>de</strong>n und aus <strong>de</strong>m Mauerblümchendasein herausgetreten. Sie bringen, bildlich gesprochen, hier und<br />
da einen grünen Trieb hervor. Das "grün" darf dabei übrigens insofern wörtlich genommen wer<strong>de</strong>n, als in<br />
<strong>de</strong>n konkreten Projekten Ökologie ganz groß geschrieben wird. Ein selbstverwalteter Arbeitsplatz bietet ja<br />
nicht nur die Möglichkeit, Entfremdung und Hierarchie abzubauen, son<strong>de</strong>rn auch, Produkte und<br />
Arbeitsweisen selbst zu bestimmen. Deshalb sind gera<strong>de</strong> diese kleinen Betriebe heute oft die Pioniere<br />
ökologischer Innovation und umweltkritischen Bewußtseins.<br />
Der Alltag solcher Projekte sieht in<strong>de</strong>s weniger rosig aus, als die schöne I<strong>de</strong>e suggeriert. Bisher allerdings<br />
haben sich die meisten Projekte we<strong>de</strong>r durch wirtschaftliche Schwierigkeiten noch durch internen Streit<br />
von ihrem Ziel abbringen lassen - auch nicht von <strong>de</strong>r ungeheuren Menge Arbeit, die ein solches<br />
Unternehmen in <strong>de</strong>r Startphase seinen Mitmachern abverlangt. Eines von ihnen, das vor wenigen Jahren<br />
in einer <strong>de</strong>utschen Provinzstadt begann, hat <strong>de</strong>r Bevölkerung die Eckwerte seiner Alltagsphilosophie mit<br />
drei knappen Worten vorgestellt: "selbstverwaltet, ökologisch, libertär".<br />
367
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Fazit<br />
Nüchtern betrachtet stellt sich <strong>de</strong>r weltanschauliche Anarchismus heute als ein Zwitter dar, <strong>de</strong>r sich<br />
zwischen Sekte und Bewegung nicht recht entschei<strong>de</strong>n kann. Als Sekte wäre er, individuell gesehen,<br />
vielleicht die kuschelige Heimat für einige radikale Nonkonformisten und sozial gesehen eine<br />
be<strong>de</strong>utungslose Randnotiz in <strong>de</strong>n Annalen einer Menschheit in Agonie. Als Bewegung hätte er –<br />
vielleicht – die Chance, die Agonie abzuwen<strong>de</strong>n. Aber das ist eine reine Vermutung.<br />
Tatsache ist hingegen, daß die anarchistische Bewegung von heute folgen<strong>de</strong> Funktionen erfüllt: Sie ist<br />
Bewahrerin einer libertären Tradition und I<strong>de</strong>engeschichte. Sie ist eine gescheite aber sterile Kritikerin <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft mit einem Hang zu rechthaberischem Schmollen. Sie propagiert ihre I<strong>de</strong>en mit großer<br />
Vitalität, entfaltet in begrenztem Rahmen eigene Initiativen und steht gelegentlich mit sozialen<br />
Bewegungen in wechselseitiger Beziehung. Sie ist nur in Ausnahmefällen sozial verankert, entwickelt<br />
jedoch pragmatische, Projekte, die konstruktiv und subversiv zugleich sind. Sie verfügt <strong>de</strong>rzeit über keine<br />
zeitgemäße, innovative Strategie, die allgemein akzeptiert wäre.<br />
Das ist wirklich nicht sehr viel. Das ist, etwas bissig ausgedrückt, die Feststellung, daß <strong>de</strong>r Anarchismus<br />
unserer Tage eine im Dissens gefestigte Glaubensgemeinschaft ist, die sich um ihren Bestand im<br />
Augenblick keine Sorgen zu machen braucht. Die eigentlich wichtige Frage aber ist, ob sich<br />
anarchistische Bewegung und libertäre Ten<strong>de</strong>nzen in <strong>de</strong>r Gesellschaft zueinan<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r auseinan<strong>de</strong>r<br />
entwickeln. Vielleicht ist ja eine weltanschauliche Bewegung wie <strong>de</strong>r "Anarchismus" gar nicht <strong>de</strong>r<br />
Weisheit letzter Schluß o<strong>de</strong>r schlicht unzeitgemäß gewor<strong>de</strong>n? An<strong>de</strong>rerseits wäre ihr reicher Fundus an<br />
Erfahrungen, wie wir ihn bis hier kennengelernt haben, zu scha<strong>de</strong> für <strong>de</strong>n Müllschlucker.<br />
Es hängt nicht zuletzt von Phantasie und Weisheit <strong>de</strong>r Anarchas und Anarchos ab, wie diese Frage<br />
beantwortet wird. Und die waren schon immer für Überraschungen gut.<br />
Wenn die Menschheit eine Zukunft hat, dann wohl nur in einer an<strong>de</strong>ren Art von Gesellschaft. Bei <strong>de</strong>r<br />
Suche nach dieser Gesellschaft darf man von <strong>de</strong>r anarchistischen I<strong>de</strong>e und ihren Strukturen einiges<br />
erwarten. Ob dazu die anarchistische Bewegung einen Beitrag leisten kann, ist fraglich. Falls sie sich<br />
darauf besinnt, in diesem Prozeß eine Rolle zu spielen, muß sie sich wan<strong>de</strong>ln und Mo<strong>de</strong>lle entwickeln, die<br />
im kommen<strong>de</strong>n Jahrtausend taugen. Dann bestün<strong>de</strong> eine reelle Chance, die anarchistischen Essentials in<br />
<strong>de</strong>r grundlegen<strong>de</strong>n Grammatik <strong>de</strong>s sozialen Lebens zu verankern. Das, und nichts an<strong>de</strong>res, müßte zum<br />
Ziel <strong>de</strong>r anarchistischen Bewegung wer<strong>de</strong>n, wenn sie nicht als Sekte verkümmern will.<br />
Literatur:<br />
/ Hans-Jürgen Degen (Hrsg.): Anarchismus heute – Positionen Berlin 1991, Schwarzer Nachtschatten,<br />
182 S.<br />
/ Hans-Jürgen Degen, Jochen Schmück u.a.: Denk' ich an Deutschland – Beitrage zu einer libertären<br />
Positionsbestimmung Berlin 1990, Guhl, 59 S.<br />
/ Ralf G. Landmesser: Wat Nu? Libertäre Perspektiven 2000 Berlin 1993, Schwarzrotbuch, 22 S.<br />
/ Holger Jenrich: Anarchistische Presse in Deutschland Grafenau 1988, 273 S., ill.<br />
/ Yerry Rubin: We are everywhere Wetzlar 1978, Büchse <strong>de</strong>r Pandora, 316 S., ill.<br />
/ N.N.: Der Blues – Gesammelte Texte <strong>de</strong>r Bewegung 2. Juni 2 B<strong>de</strong>., Berlin o.J., 926 S.<br />
/ <strong>Horst</strong> <strong>Stowasser</strong>: Das Projekt A Wetzlar 1985, An-Archia, 97 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Wege aus <strong>de</strong>m Ghetto Neustadt/W. 1990, An-Archia, 26 S.<br />
/ <strong>de</strong>rs.: Das Projekt A, vorwärts und rückwärts Neustadt/W. 1992, 16 S.<br />
368<br />
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Kapitel 39
Ist <strong>de</strong>r Anarchismus noch zu retten?<br />
Ihr Fickschweine !!!<br />
Leistet Wie<strong>de</strong>rstand !<br />
Deutschland verecke !<br />
Fachos an die Wand !<br />
– Anarchosprayereien, En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s XX. Jh. –<br />
UNSER LANGER MARSCH DURCH DIE NIEDERUNGEN anarchistischer Aktion und die Höhen<br />
libertären Sinnierens dürfte gewisse Leser zu Tränen gerührt haben. Ganz im Ernst: Gera<strong>de</strong> im Umfeld<br />
<strong>de</strong>r hartgesottensten Anarcho-Fans steht die romantische Geste <strong>de</strong>s heroischen Scheiterns ungebrochen in<br />
hohem Ansehen. Recht gehabt zu haben und auf verlorenem Posten unterzugehen, scheint für viele die<br />
typische anarchistische Tugend zu sein. Der standhafte, von romantischer Tragik umwehte ›lachen<strong>de</strong><br />
Verlierer‹ bietet Stoff für Legen<strong>de</strong>n und je<strong>de</strong> Menge schwarzroter Mythen. Das rührt <strong>de</strong>n stärksten<br />
Genossen an und sorgt für feuchte Augen. In diesem verklärten Winkel <strong>de</strong>r Nostalgie haben sich viele<br />
Anarchos unserer Tage gemütlich und auf Dauer eingerichtet.<br />
An<strong>de</strong>re Leser wer<strong>de</strong>n die Lektüre ganz an<strong>de</strong>res erlebt haben: "Seitenweise Klassenkampfgesülze und<br />
Verzweiflungstaten irgendwelcher Desperados! Ein paar Leute, die glaubten, das Ru<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Menschheit<br />
herumreißen zu können ... Zeitungen in Zehntausen<strong>de</strong>r-Auflage, angetreten gegen die Verführungen<br />
elektronischer Massenmedien?! Generalstreik, Alternativprojekte, Solidarität, Tyrannenmord und die<br />
Eroberung <strong>de</strong>s Brotes – das ist doch alles Schnee von gestern, kaum mehr als das Psychogramm einer<br />
romantischen Sekte."<br />
Abschied vom Schmollwinkel<br />
Nun, die Menschen, <strong>de</strong>nen wir auf unserer Vergangenheitsreise begegnet sind, hatten mit Romantik nichts<br />
am Hut. Keine Revolte <strong>de</strong>r Geschichte wur<strong>de</strong> je mit <strong>de</strong>r Absicht begonnen, auf <strong>de</strong>r Bühne sozialer<br />
Dramen tragisch zu scheitern. Nostalgische Verklärung stellt sich erst durch die zeitliche Distanz her, und<br />
so manche Anarchoaktion unserer Tage, die heute selbst ihren Urhebern trivial* erscheinen mag, dürfte<br />
schon übermorgen <strong>de</strong>n Stoff für neue Mythen liefern. Je älter eine Banalität ist, <strong>de</strong>sto leichter wird sie zur<br />
Legen<strong>de</strong>.<br />
Die han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Menschen jedoch waren sich <strong>de</strong>r Begrenztheit ihres Tuns meist sehr wohl bewußt.<br />
Dennoch haben sie gehan<strong>de</strong>lt, und oft haben sie – trotz ihres objektiven Scheiterns – etwas bewegt. Auch<br />
die Summe kleiner, unspektakulärer Schritte wirkt auf die Gesellschaft und ihren Zeitgeist. Angesichts<br />
<strong>de</strong>r eigenen Schwäche nicht zu resignieren und<br />
369<br />
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trotz<strong>de</strong>m gehan<strong>de</strong>lt zu haben - darin liegen Wirkung und Größe <strong>de</strong>r anarchistischen Aktion. Die<br />
Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n waren aufgestan<strong>de</strong>n, weil sie das Dasein unerträglich, ö<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r verlogen fan<strong>de</strong>n und so nicht<br />
weiterleben mochten. Ihr Ziel war dabei nicht die "schöne Geste", son<strong>de</strong>rn tatsächlich eine an<strong>de</strong>re<br />
Gesellschaft.<br />
Das alles aber heißt für eine politische Bewegung, die diesen Namen verdient und sich selbst ernst nimmt,<br />
nichts an<strong>de</strong>res als <strong>de</strong>n Abschied von rückwärtsgewandter Revolutionsromantik. Im Schmollwinkel liegt<br />
keine Zukunft. Wer eine an<strong>de</strong>re, eine freie und solidarische Gesellschaft wirklich erreichen will, darf sich<br />
nicht darauf beschränken, ein Leben lang Emma Goldman, Durruti o<strong>de</strong>r Gandhi zu verehren. Auch sie<br />
waren keine Götter, son<strong>de</strong>rn simple Menschen, die in ihrer Zeit ihr Möglichstes taten, in<strong>de</strong>m sie<br />
begannen. Sie waren ebensooft unsicher, einsam und verzweifelt wie je<strong>de</strong>r x-beliebige Anarchomensch
unserer Tage. Sie alle dürften das beklemmen<strong>de</strong> Gefühl gekannt haben, kein Land mehr zu sehen, und <strong>de</strong>n<br />
Zweifel, ob <strong>de</strong>r Kampf <strong>de</strong>r Schwachen gegen die mächtige Macht <strong>de</strong>r Starken überhaupt einen Sinn hätte.<br />
Irgendwelchen Vorbil<strong>de</strong>rn nachzueifern, macht nur dann einen Sinn, wenn die Strukturen ihres Han<strong>de</strong>lns<br />
verstan<strong>de</strong>n und auf unsere Zeit angewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. Die wirklich interessanten Beispiele <strong>de</strong>r<br />
anarchistischen Sozialgeschichte aber waren diejenigen, die <strong>de</strong>n Schritt ins Praktische wagten.<br />
Politische Verwirklichung beginnt dort, wo soziale I<strong>de</strong>en Millionen von Menschen bewegen, nicht ein<br />
paar Tausend. Die meisten libertären Experimente sind nichts weiter als – Experimente: Versuche im<br />
Kleinen, Lerngruppen, Revolutionsetü<strong>de</strong>n, bestenfalls kleine Inseln für die beteiligten Menschen. Das<br />
aber ist noch lange nicht die Verwirklichung einer libertären Gesellschaft. Zu gesellschaftlich relevanter<br />
Wirklichkeit wird ein Experiment erst, wenn es beginnt, die Vorstellungskraft <strong>de</strong>r Menschen außerhalb<br />
dieser Inseln zu beflügeln und sich zu Handlung verdichtet. Alle libertären Ansätze, die dieses Bin<strong>de</strong>glied<br />
zwischen <strong>de</strong>m kleinen Häuflein Aufrechter und <strong>de</strong>m Alltag <strong>de</strong>r Millionen nicht fin<strong>de</strong>n, sind dazu<br />
verurteilt, fruchtlose Sekte zu bleiben. Sie wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r langen Geschichte anarchistischen Scheiterns ein<br />
paar neue Anekdoten hinzufügen. Bewegungen ohne offene Zugänge zur Außenwelt können nur in ihrer<br />
Innenwelt verkümmern und verblö<strong>de</strong>n. Darum ist das nächtliche Sprayen trotziger Slogans eher ein<br />
Zeichen für die politische Schwäche einer Bewegung als für ihre Lebendigkeit.<br />
Die anarchistische Bewegung war in ihrer Geschichte selten auf <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>r Zeit. Zwei-, dreimal haben<br />
ihre I<strong>de</strong>en es vermocht, im Gleichtakt mit <strong>de</strong>m Puls <strong>de</strong>r Menschen zu schlagen und Millionen zu erfassen.<br />
Das waren die wenigen Momente, in <strong>de</strong>nen die Chance zur Verwirklichung <strong>de</strong>r libertären Utopie im<br />
realen Leben gegeben war. Ein einziges Mal ist diese Verwirklichung so weit gediehen, daß ihr<br />
dauerhafter Erfolg nur sehr knapp verfehlt wur<strong>de</strong>, und das ist über fünfzig Jahre her.<br />
Eine düstere Bilanz. Ist also <strong>de</strong>r Anarchismus noch zu retten?<br />
Wenn er das Ziel einer libertären Gesellschaft nicht aufgegeben hat, so muß er nach neuen<br />
370<br />
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Wege suchen, solche Chancen wie<strong>de</strong>r herzustellen. Dazu hat er aus seiner Geschichte ein paar nüchterne<br />
Lehren zu ziehen. Das geht nicht, ohne sich von einigen liebgewor<strong>de</strong>nen Anarchomythen zu<br />
verabschie<strong>de</strong>n.<br />
Der Traum vom perfekten Menschen<br />
Zu <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>rs hartnäckigen Mythen gehört die Vorstellung, die libertäre Gesellschaft müsse eine<br />
Gemeinschaft Gleichgesinnter sein, quasi ein Zusammenschluß von Überzeugungstätern. Nur wenn<br />
Menschen ein hohes Niveau gemeinsamer libertärer Standpunkte erreicht hätten, könnten sie auch mit<br />
libertären Strukturen zurechtkommen.<br />
Dieser Auffassung liegt eine sehr primitive Vision <strong>de</strong>s Anarchismus zugrun<strong>de</strong>, nämlich die, daß es nur<br />
eine große, umfassen<strong>de</strong> Gesellschaft gäbe, mit einer für alle gleichen Ethik und Struktur. Demnach<br />
müßten sich alle Menschen auf eine verbindliche Norm einigen und diesen Standard kollektiv erreichen.<br />
Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Sie müßten sich gleichmachen. Diese Ansicht unterschei<strong>de</strong>t sich strukturell in nichts<br />
von <strong>de</strong>r staatlichen Doktrin, die in einem geographischen Raum nur einen Gesellschaftstyp zuläßt. Sie
müßte enorme moralische Anfor<strong>de</strong>rungen an die Mitglie<strong>de</strong>r einer solchen Gesellschaft stellen, setzt sie<br />
doch faktisch einen neuen, einen ›besseren‹ Menschen voraus. Je<strong>de</strong>r Gesellschaftstyp aber, <strong>de</strong>r nicht für<br />
<strong>de</strong>n Menschen taugt, so wie er ist, und zu seinem Funktionieren erst eine Neuschöpfung <strong>de</strong>s Homo<br />
sapiens* braucht, bleibt ein reines Gedankenspiel und ist daher praktisch untauglich. Es sei <strong>de</strong>nn, <strong>de</strong>r<br />
Mensch wird zwangsweise umerzogen. Das haben die kommunistischen Systeme einige Generationen<br />
lang versucht und sind daran gescheitert - ein Scheitern, <strong>de</strong>ssen tiefere Lehren von vielen Anarchisten bis<br />
heute nicht verstan<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n sind.<br />
Selbstverständlich dürfen Menschen in einer an-archischen Gesellschaft aneinan<strong>de</strong>r hohe Ansprüche,<br />
Erwartungen und For<strong>de</strong>rungen stellen, sie sollen es sogar. Mo<strong>de</strong>rner anarchistischer Organisationstheorie<br />
zufolge aber ist das Erreichen solcher Ansprüche Lernziel und nicht Voraussetzung gesellschaftlichen<br />
Lebens. Sie beträfen zu<strong>de</strong>m nur die Mitglie<strong>de</strong>r eines jener kleinen sozial-vernetzten Gebil<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nen man<br />
sich anschließen kann o<strong>de</strong>r auch nicht. In verschie<strong>de</strong>nen sozialen Gebil<strong>de</strong>n können sie verschie<strong>de</strong>n<br />
aussehen. Wenn sie in irgen<strong>de</strong>iner sozialen Gruppe zur Voraussetzung gemacht wür<strong>de</strong>n, dann nur<br />
aufgrund <strong>de</strong>r freien Vereinbarung <strong>de</strong>r beteiligten Menschen und nur für diese gültig.<br />
Wer Anarchie daher als eine ethische Glaubensgemeinschaft versteht, verwechselt ganz einfach die<br />
Mosaiksteinchen, aus <strong>de</strong>nen sich eine an-archische Gesellschaft zusammensetzt, mit <strong>de</strong>m Gesamtmosaik.<br />
In je<strong>de</strong>m ›Steinchen‹ schließen sich Menschen nach ihren Neigungen und Bedürfnissen zusammen. Dabei<br />
dürfen sie so anspruchsvoll o<strong>de</strong>r anspruchslos sein, wie ihnen beliebt: die satt- und kraftlose Zweckgruppe<br />
o<strong>de</strong>r die hochmotivierte Glaubensgemeinschaft nichtrauchen<strong>de</strong>r, frie<strong>de</strong>nsbewegter, antipatriarchaler und<br />
sitzpinkeln<strong>de</strong>r VeganerInnen* – alles ist <strong>de</strong>nkbar. Die Interaktion* zwischen <strong>de</strong>n Mosaiksteinchen<br />
geschieht durch Beispiel, Erfahrung und Überzeugungskraft, nicht durch Zwang. Sobald aber rauchen<strong>de</strong><br />
und nichtrauchen<strong>de</strong>, stehpinkeln<strong>de</strong> und sitzpinkeln<strong>de</strong>, fleisch-<br />
371<br />
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essen<strong>de</strong> und pflanzenessen<strong>de</strong>, schrille und fa<strong>de</strong>, aggressive und pazifische, rationale und esoterische, laute<br />
und leise, epikuräische und asketische, individualistische und kollektivistische Menschen gegenseitig<br />
voneinan<strong>de</strong>r verlangen, so und nicht an<strong>de</strong>rs zu leben, weil es so und nicht an<strong>de</strong>rs ›richtig‹ sei, kann eine<br />
an-archische Gesellschaft nicht funktionieren. Solche Menschen haben das Wesen <strong>de</strong>r Anarchie nicht<br />
begriffen, und selbstverständlich brauchten sie überhaupt keine libertäre Struktur. Zur Durchsetzung einer<br />
kollektiven Ethik sind Philosophie und Struktur <strong>de</strong>s Staates viel besser geeignet.<br />
Anarchie als Gesellschaftsstruktur besteht im Grun<strong>de</strong> nur darin, <strong>de</strong>m Zusammenleben eine an<strong>de</strong>re<br />
Grammatik zu geben. Das setzt nicht voraus, daß die Menschen in ihr ›Anarchisten‹ sind! Das setzt nur<br />
voraus, daß die geän<strong>de</strong>rten Spielregeln allgemein akzeptiert wer<strong>de</strong>n. Der Grundkonsens einer libertären<br />
Gesellschaft besteht also nicht in Überzeugung, Anschauung, Lebensentwurf, persönlicher Konsequenz<br />
o<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ologie, son<strong>de</strong>rn in libertären Essentials. Und die sagen nichts weiter aus, als daß die Menschen<br />
selbst entschei<strong>de</strong>n, sich horizontal vernetzen und <strong>de</strong>zentral organisieren. Eine an-archische Gesellschaft<br />
existiert von <strong>de</strong>m Moment an, wo Menschen beginnen, das soziale Leben in großem Maßstab so zu<br />
organisieren.<br />
Es ist erschreckend, wie wenig verbreitet <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Anarchismusbegriff in <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />
anarchistischen Bewegung ist. Dort scheint noch immer die Meinung vorzuherrschen, Anarchie sei nur<br />
mit ›anarchistischen Menschen‹ und einer perfekten Weltanschauung machbar. Das ist ein Grund dafür,<br />
weshalb sich diese Bewegung so schwer tut, Aktionsmo<strong>de</strong>lle zu fin<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen auch <strong>de</strong>r unperfekte<br />
Menschentyp <strong>de</strong>s Mitläufers einen Platz fän<strong>de</strong>. Statt<strong>de</strong>ssen entwickelt sie eine beharrliche Ten<strong>de</strong>nz zum<br />
E<strong>de</strong>lghetto, in <strong>de</strong>m man auf <strong>de</strong>r Suche nach seiner eigenen Vere<strong>de</strong>lung leicht sein ganzes Leben<br />
verbringen kann. Der Mensch ist aber we<strong>de</strong>r e<strong>de</strong>l noch heilig, und wenn Anarchie ein Ding nach
menschlichem Maß sein soll, sollte sie die Vervollkommnung <strong>de</strong>s Menschen zwar för<strong>de</strong>rn, sich aber<br />
davor hüten, Vollkommenheit zur Voraussetzung zu machen.<br />
Worauf es bei <strong>de</strong>r praktischen Verwirklichung ankommt, ist letztlich die Frage, ob es sich in einer<br />
libertären Struktur gut leben läßt. Das ist aber keine Frage eines Glaubensbekenntnisses. Wir leben heute<br />
in <strong>de</strong>r Struktur <strong>de</strong>r parlamentarischen Demokratie. Milliar<strong>de</strong>n Menschen tun das, aber nur wenige<br />
verstehen sich als überzeugte Demokraten o<strong>de</strong>r engagieren sich gar in <strong>de</strong>mokratischen Strukturen.<br />
Zweifellos aber ist hier die Beteiligung <strong>de</strong>r Menschen größer als noch im Absolutismus, und es ist gut<br />
möglich, daß sie in <strong>de</strong>r Anarchie be<strong>de</strong>utend höher wäre als in <strong>de</strong>r Demokratie. Der springen<strong>de</strong> Punkt bei<br />
all<strong>de</strong>m ist jedoch, daß in <strong>de</strong>r Demokratie Menschen passabel leben können und dürfen, die keine<br />
Demokraten sind. Anarchisten sind überzeugt davon, daß ihre Struktur weit besser ist als die <strong>de</strong>r<br />
Demokratie. Das wird sich aber erst dann zeigen, wenn die Menschen auch in solchen Strukturen leben<br />
wollen, ohne daß sie <strong>de</strong>shalb zuvor zu überzeugten Anarchisten wer<strong>de</strong>n müßten.<br />
Soll das heißen, daß Anarchisten sich nicht um persönliche Konsequenz bemühen sollten? Immerhin<br />
wur<strong>de</strong> im dritten Kapitel das Gegenteil behauptet.<br />
372<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Konsequenz als Fetisch<br />
Selbstverständlich ist <strong>de</strong>r Versuch, das, was man vertritt, auch selbst umzusetzen, die einzig glaubwürdige<br />
Nagelprobe <strong>de</strong>r Ernsthaftigkeit. Wie weit die persönliche Konsequenz dabei geht, hängt vom Charakter<br />
<strong>de</strong>s einzelnen Menschen ebenso ab wie von <strong>de</strong>n äußeren Bedingungen und <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>ssen, worin man<br />
konsequent sein möchte. Es kann zum Beispiel sein, daß Konsequenz einen Menschen überfor<strong>de</strong>rt. Auch<br />
kann das Objekt <strong>de</strong>r Konsequenz zweifelhaft sein. Möglicherweise setzt konsequentes Han<strong>de</strong>ln auch zu<br />
früh ein. Herrschaftsfreies Verhalten beispielsweise setzt ein tiefgreifen<strong>de</strong>s Um<strong>de</strong>nken und lange Übung<br />
voraus. Wer sich vornimmt, das sofort ›zu können‹, ohne sich zunächst mit herrschaftsärmerem Verhalten<br />
zu begnügen, verzweifelt schnell. Die Meinungen über solch alltägliche menschliche Regungen wie etwa<br />
Wut o<strong>de</strong>r Eifersucht gehen – nicht nur bei Anarchisten – weit auseinan<strong>de</strong>r. Denkbar wäre, daß <strong>de</strong>r<br />
konsequente Versuch, immer freundlich zu sein o<strong>de</strong>r keine Eifersucht zuzulassen überhaupt nicht richtig<br />
ist und <strong>de</strong>shalb zu bloßer Gefühlsunterdrückung führt, die nieman<strong>de</strong>m nützt. Und wenn Anarchisten, die<br />
beispielsweise für die Abschaffung <strong>de</strong>r Geldwirtschaft eintreten, so konsequent sind, hier und heute ihr<br />
Geld auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen, wäre das sicher ein hübscher symbolischer Akt, aber eine<br />
unsinnige ›Konsequenz‹ zum falschen Zeitpunkt.<br />
Zwischen Ernsthaftigkeit, Konsequenz und Fanatismus bestehen fließen<strong>de</strong> Grenzen. Je<strong>de</strong>r Mensch, <strong>de</strong>r es<br />
mit <strong>de</strong>n libertären Essentials ernst nimmt, muß im eigenen Leben selbst seine Fähigkeiten ausloten und<br />
die Sinnhaftigkeit seines Han<strong>de</strong>lns testen. An<strong>de</strong>renfalls gerät ›Konsequenz‹ leicht zur lächerlichen<br />
Groteske.<br />
Eine Bewegung aber, die konsequentes Verhalten zur Voraussetzung ihrer sozialen Mo<strong>de</strong>lle macht, hat<br />
schon verloren. Bei <strong>de</strong>n allermeisten Menschen gehen Verän<strong>de</strong>rungen in kleinen Schritten vor sich, und<br />
nur wenigen erhabenen Charakteren ist die innere Stärke eigen, sich zwischen Hirn und Bauch so<br />
erfolgreich kurzzuschließen, daß sich ihr Han<strong>de</strong>ln makellos wi<strong>de</strong>rspruchsfrei an ihren Überzeugungen<br />
ausrichtet.<br />
Form und Inhalt
Unter Anarchisten gibt es auffallend viele Menschen, die meinen, nur das persönliche konsequente<br />
Verhalten führe zur angestrebten gesellschaftlichen Verän<strong>de</strong>rung. Diese Annahme stimmt in zweierlei<br />
Hinsicht nicht.<br />
Erstens reicht das persönliche Beispiel nicht aus. Eine rein persönliche Konsequenz stört nicht weiter und<br />
än<strong>de</strong>rt zunächst auch nichts an <strong>de</strong>n Ursachen. Ist das Niveau <strong>de</strong>r eigenen Konsequenz sehr hoch<br />
angesie<strong>de</strong>lt, kann es sogar zur Abschreckung führen. "So was könnt' ich nie!", <strong>de</strong>nkt <strong>de</strong>r Normalbürger<br />
und ist damit angenehmerweise von <strong>de</strong>r Versuchung entbun<strong>de</strong>n, seine eigenen Verhaltensweisen in etwas<br />
weniger spektakulärer Weise zu än<strong>de</strong>rn. Ein gutes Mo<strong>de</strong>ll muß auch inkonsequenten Menschen Zugänge<br />
schaffen und ihnen die Möglichkeit geben, sich in Verän<strong>de</strong>rungsprozesse einzubringen, die nicht nach <strong>de</strong>n<br />
Qualitäten von Heiligen verlangen.<br />
373<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Zweitens verän<strong>de</strong>rn auch inkonsequente Menschen die Gesellschaft. Ohne Frage hätte es größere soziale<br />
Auswirkungen, wenn 30 Millionen inkonsequente Kraftfahrzeugbesitzer täglich mit Bus und Bahn zur<br />
Arbeit führen, als wenn dreitausend konsequente Ökoaktivisten ihr Auto ganz abschafften. Und die<br />
Handlungen eines Landwirtes, <strong>de</strong>r sich auf einem Bio-Bauernhof etwa für biologischen Anbau,<br />
selbstverwaltetes Arbeiten und gesun<strong>de</strong> Ernährung einsetzt, behalten ihre Wirkung auf die Gesellschaft<br />
auch dann, wenn dieser Mensch etwa so inkonsequent ist, daß er lieber Bier mit Korn statt Kräutertee<br />
trinkt. Vielleicht wirkt er auf einige weniger glaubwürdig, auf viele aber mit Sicherheit sehr menschlich.<br />
Entsprechen<strong>de</strong>r Streit aber gehört in anarchistischen Zirkeln zum Alltag. Der Disput um das richtige,<br />
konsequente und ultimativ-korrekte Verhalten scheint manche Anarchas und Anarchos pausenlos zu<br />
beschäftigen; es beherrscht überregionale Treffen und füllt die Spalten vieler Szeneblätter. Das geht von<br />
Ernährungsgewohnheiten über Sexualpräferenzen, Kosmetika, Urinierverhalten und Klei<strong>de</strong>rordnung bis<br />
zur jeweils gängigen Szene-Sprache. Die völlig legitime Suche nach einer eigenen I<strong>de</strong>ntität gerät dabei<br />
nur allzuoft zu einem Spießertum mit umgekehrtem Vorzeichen, das von außen betrachtet befrem<strong>de</strong>nd<br />
wirkt, wenn nicht lächerlich. Auch in <strong>de</strong>r Anarchoszene gibt es ein ritualisiertes* "das tut man nicht" –<br />
nur wird es an<strong>de</strong>rs ausgedrückt...<br />
Dahinter steckt eine merkwürdige und sehr hartnäckige Gleichsetzung von Form und Inhalt. In <strong>de</strong>n<br />
meisten Fällen fügt dabei <strong>de</strong>r übersteigerte Formalismus <strong>de</strong>m inhaltlichen Anliegen schweren Scha<strong>de</strong>n zu.<br />
Nichts hat wohl <strong>de</strong>m Anliegen <strong>de</strong>r Arbeiterbewegung jemals mehr gescha<strong>de</strong>t, als <strong>de</strong>r idiotische<br />
"Proletkult", mit <strong>de</strong>m die kommunistische I<strong>de</strong>ologie <strong>de</strong>r Welt<br />
beweisen wollte, daß <strong>de</strong>r arbeiten<strong>de</strong> Mensch <strong>de</strong>r bessere Mensch sei. Arbeiterbewußtsein,<br />
Arbeitersprache, Arbeiterlie<strong>de</strong>r, Arbeiterkultur, Arbeiterwitze und Arbeiterkitsch wur<strong>de</strong>n als Errettung<br />
aus bürgerlicher Deka<strong>de</strong>nz hoch in <strong>de</strong>n blauen Himmel <strong>de</strong>r diversen Arbeiterparadiese gejubelt. Alles war<br />
per Definition gut und e<strong>de</strong>l, sofern es nur vom Proleten kam. Selbst als dieser Mythos im Ostblock längst<br />
eingeschlafen war, feierte er in <strong>de</strong>r ›Neuen Linken‹ als Szene- Mo<strong>de</strong> fröhliche Auferstehung. Nun waren<br />
es west<strong>de</strong>utsche Stu<strong>de</strong>nten, die <strong>de</strong>m Kult <strong>de</strong>r "werktätigen Massen" fröhnten, und in <strong>de</strong>ren Kampfblättern<br />
man lesen konnte, daß "über zweitausend Menschen und Werktätige" an einer Demonstration<br />
teilgenommen hatten.<br />
Heute wird hingegen zwischen Menschen und Frauen unterschie<strong>de</strong>n. Mit <strong>de</strong>r gleichen Akribie wie<br />
seinerzeit <strong>de</strong>r "Klassenstandpunkt", wird <strong>de</strong>rzeit <strong>de</strong>r "Frauenstandpunkt" durchgesetzt. Damals war die<br />
"Frauenfrage" ein "Nebenwi<strong>de</strong>rspruch <strong>de</strong>s Klassenkampfes", heute ist je<strong>de</strong>s Problem ein Ergebnis <strong>de</strong>s<br />
"Geschlechterkrieges". In <strong>de</strong>n einschlägigen Insi<strong>de</strong>rInnenblättern erfährt die erstaunte LeserInnenschaft
etwa, daß die Beteiligung <strong>de</strong>r AntifaschistInnen aus <strong>de</strong>m Spektrum <strong>de</strong>r HausbesetzerInnen bei <strong>de</strong>n<br />
Aktionen <strong>de</strong>r betroffenen Leute aus <strong>de</strong>n autonomen Frauen- und Lesben-Männer/Schwulen-<br />
Zusammenhängen<br />
374<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
zu inhaltlicher Kritik am sexistischen Sprachverhalten einiger Typen geführt hat, die die For<strong>de</strong>rung nach<br />
einer getrennten Frauen/Lesben-Küche lächerlich gemacht haben, weil man/frau die Vermittlung eines<br />
spezifisch femistischen Standpunkts in dieser Frage vernachlässigt hat, da niemensch mit solchem<br />
Chauviverhalten rechnen konnte.<br />
Je<strong>de</strong>R, <strong>de</strong>r/die sowas liest und nicht zur entsprechen<strong>de</strong>n Szene gehört, wird sich angesichts solch<br />
Orwell'schem Neusprech* die Frage stellen: "Haben die sonst keine Sorgen?". Vorausgesetzt, <strong>de</strong>r Inhalt<br />
dieses Satzes wur<strong>de</strong> überhaupt verstan<strong>de</strong>n.<br />
Das fragen sich auch jene selbstbewußten und durchaus emanzipierten Frauen, die eine solche sprachliche<br />
Liturgie* ablehnen und sich dagegen verwahren, daß das Anliegen <strong>de</strong>r Frauen auf diese Weise von einer<br />
skurrilen Szene zum formalen Mo<strong>de</strong>thema verwurstet wird. Es han<strong>de</strong>lt sich ja nicht, wie gern behauptet,<br />
um eine Reinigung <strong>de</strong>r Sprache von männerbestimmter I<strong>de</strong>ologie, son<strong>de</strong>rn um eine Befrachtung <strong>de</strong>r<br />
Sprache mit einem permanenten Bewußtseinsbekenntnis. Sie wird dadurch nicht nur auf schau<strong>de</strong>rhafte<br />
Weise un-sprechbar, un-lesbar und un-verständlich, son<strong>de</strong>rn wirkt auf neunundneunzig Prozent aller<br />
Menschen so grotesk wie alle I<strong>de</strong>ologie-Jargons. Die politischen Folgen sind verheerend. So wie ein<br />
frommer Katholik nicht "Maria" sagen kann, ohne "die Du bist gebene<strong>de</strong>it unter <strong>de</strong>n Weibern"<br />
anzuhängen, damit sprachlich dokumentiert bleibt, daß ihm die beson<strong>de</strong>re Rolle <strong>de</strong>r Heiligen Jungfrau<br />
stets und ständig bewußt ist, so dokumentiert auch <strong>de</strong>r trendbewußte Linksmensch in je<strong>de</strong>m Satz seine<br />
tiefe Betroffenheit: Er weiß, daß es eine Unterdrückung <strong>de</strong>r Frau und ein Patriarchat gibt und er zeigt, daß<br />
er dieses Problem allzeit ernst nimmt und nie vergißt. Der gläubige Mohammedaner muß in seinen<br />
Nebensätzen ständig betonen, daß Allah <strong>de</strong>r Einzige und Erhabene Gott ist und Mohammed Sein Prophet.<br />
Der gläubige Marxist flicht mit seinen proletarischen Sprachschlenkern in je<strong>de</strong>n Satz das Bekenntnis zum<br />
"Klassenstandpunkt" ein. Dem "Frauenstandpunkt" wi<strong>de</strong>rfährt lei<strong>de</strong>r kein besseres Schicksal.<br />
Es han<strong>de</strong>lt sich mithin um ein semantisches* Glaubensbekenntnis, das gleichzeitig als szene-typisches<br />
I<strong>de</strong>ntifizierungssignal funktioniert. Dieser Jargon wird in zwanzig Jahren auf diejenigen, die ihn heute<br />
anwen<strong>de</strong>n, nicht weniger peinlich wirken als heutigentags die Proletkult-überfrachtete Agitationssprache<br />
<strong>de</strong>s SDS auf die alten Achtundsechziger. Die Auswirkungen solcher Sprachghettos auf das eigentliche<br />
Thema sind immer negativ - gleichgültig, wie gut, berechtigt und wichtig das Anliegen auch sein mag. Je<br />
intensiver sprachliche Überzeugungs- und Unterwerfungsrituale gepflegt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>sto weniger wer<strong>de</strong>n<br />
sie geglaubt. Der formalistische Neofeminismus als <strong>de</strong>rzeitiges Mo<strong>de</strong>thema einiger linker "Scenes" wird<br />
<strong>de</strong>m Anliegen <strong>de</strong>r Frauen einen hohen Preis abverlangen.<br />
Dabei steht er hier nur als ein Beispiel für viele linke Zeitgeisterscheinungen, bei <strong>de</strong>ren kultischer<br />
Erhöhung stets Form und Inhalt verwechselt wer<strong>de</strong>n.<br />
Erinnern wir uns, wer in letzter Zeit neben Proletariern und Frauen nicht schon alles als Hoffnungsträger<br />
und Übermensch gehan<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>: <strong>de</strong>r Vietkong, <strong>de</strong>r Tatmensch Che Guevara o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Guerillero an und<br />
für sich, <strong>de</strong>ssen im Kampf gestählte Güte zum leuchten<strong>de</strong>n Menschheitsvorbild wur<strong>de</strong>. Der liebesvolle<br />
Hippie, <strong>de</strong>r durch halluzinogene Drogen in seinem Bewußtsein<br />
375
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erweiterte Erkenntnismensch, <strong>de</strong>r Schamane. Ebenso <strong>de</strong>r entkolonialisierte Drittweltmensch, die Indianer<br />
schlechthin, aber auch <strong>de</strong>r zivilisationsfeindliche gute Wil<strong>de</strong>. Buddhistische Mönche, Gurus, Visionäre,<br />
Menschen mit <strong>de</strong>m Dritten Auge und esoterisch Erleuchtete aller Schattierungen bis hin zu Ätherleibern<br />
und außerirdischen Heerscharen, die mit ihren UFOs zur Rettung <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> angetreten sind. In größerer<br />
Heimatnähe dann noch <strong>de</strong>n allseitig betroffenen Öko- und Frie<strong>de</strong>nsaktivisten, <strong>de</strong>n sanften<br />
Naturmenschen, <strong>de</strong>n Bewußtseinskün<strong>de</strong>r. Nicht zu vergessen die sagenhaften Rückzugsgefil<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />
kleinen Hobbit.<br />
Hinter diesen Dingen stecken meist legitime, zumin<strong>de</strong>st interessante Bereiche. In<strong>de</strong>m ein je<strong>de</strong>s dieser<br />
Themen aber zu <strong>de</strong>m Thema schlechthin gemacht wird, verwan<strong>de</strong>lt sich <strong>de</strong>r Inhalt eines Anliegens in<br />
starre, äußerliche Form. In <strong>de</strong>r Regel wer<strong>de</strong>n alle Heilserwartungen auf <strong>de</strong>n neuen, perfekten Menschen<br />
projiziert, <strong>de</strong>r dort angeblich schlummere und nun ent<strong>de</strong>ckt wor<strong>de</strong>n sei. Diesem Hoffnungsträger wird mit<br />
<strong>de</strong>n neu entstan<strong>de</strong>nen Formalien gehuldigt. Solche Formalien tendieren zu Isolation und stoßen auf<br />
Unverständnis. Die ultrasofte Müsliszene wirkt mit ihren Ritualen auf Außenstehen<strong>de</strong> natürlich genauso<br />
grotesk wie die knallharten Autonomen o<strong>de</strong>r die antisexistisch festgebissenen "Frauen/Lesben-<br />
Zusammenhänge".<br />
Auf die gleiche Weise entstand aus <strong>de</strong>m Rebellenfreak Jesus eine katholische Kirche, aus <strong>de</strong>m Kampf <strong>de</strong>r<br />
unterdrückten Arbeiter ein Proletkult, aus <strong>de</strong>m Kampf <strong>de</strong>r unterdrückten Frauen ein neuer Frauenkult.<br />
Dem Menschen weiblichen Geschlechts wer<strong>de</strong>n heute sämtliche ersehnten Tugen<strong>de</strong>n aufgebuckelt. Aber<br />
auch die heftigsten Rituale wer<strong>de</strong>n all die Nicht-Gläubigen bei<strong>de</strong>rlei Geschlechts kaum von <strong>de</strong>r<br />
Überzeugung abbringen können, daß eine Frau auch bloß ein Mensch ist.<br />
Monokausale Fallgruben<br />
Das gemeinsame Muster dieser nicht nur bei Anarchisten weit verbreiteten Neigung ist immer die Suche<br />
nach einer Ursache, mit <strong>de</strong>r alles erklärbar ist und lösbar wäre. Diese Suche nach <strong>de</strong>m allumfassen<strong>de</strong>n<br />
Weltgesetz ist ein altes, tiefsitzen<strong>de</strong>s Erbe. Es spiegelt sich im göttlichen Weltbild <strong>de</strong>s Christentums<br />
ebenso wi<strong>de</strong>r wie in <strong>de</strong>r naturwissenschaftlich geprägten Tradition <strong>de</strong>r Aufklärung. In <strong>de</strong>r Philosophie<br />
wird diese Art zu <strong>de</strong>nken monokausal* genannt. Manche Feministinnen haben übrigens dieses<br />
Denkmuster mit guten Argumenten als ein eher männliches Schema beschrieben.<br />
Anhand <strong>de</strong>r Chaostheorie haben wir gesehen, daß monokausale Zusammenhänge zwischen Ursache und<br />
Wirkung fast nur im Labor, das heißt, in <strong>de</strong>r Theorie existieren. Leben aber ist praktisch. Hier haben wir<br />
es stets mit komplexen Zusammenhängen zu tun, bei <strong>de</strong>nen mannigfaltige Wechselwirkungen zwischen<br />
verschie<strong>de</strong>nen Ursachen zum Tragen kommen. Monokausales Denken ist verlockend einfach und <strong>de</strong>shalb<br />
auf <strong>de</strong>m Markt sozialer Theorien eine Ware, die immer wie<strong>de</strong>r gerne genommen wird. Das ist zwar<br />
verständlich, weil menschlich, aber nicht gera<strong>de</strong> hilfreich. Der frühe Rustikalanarchismus Bakuninscher<br />
Prägung etwa ist ein klassisches Beispiel monokausalen Denkens, <strong>de</strong>nn er<br />
376<br />
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sieht im Staat die Wurzel fast allen Übels und in seiner Beiseitigung <strong>de</strong>n Schlüssel zum Glück. Nicht<br />
ohne Grund wur<strong>de</strong> eingangs so viel Wert auf die Feststellung gelegt, daß ›<strong>de</strong>r Staat an sich‹ nicht ›das<br />
Grundübel‹ <strong>de</strong>r Menschheit sei und daß sich <strong>de</strong>r Anarchismus keineswegs in seiner Abschaffung<br />
erschöpfe.
Wer monokausal <strong>de</strong>nkt, neigt dazu, von mehreren Alternativen immer nur eine gelten zu lassen und alle<br />
an<strong>de</strong>ren völlig auszuschließen. Das führt auch bei Anarchisten zu verhängnisvollen Fallgruben <strong>de</strong>s<br />
Denkens, die immer wie<strong>de</strong>r in Dogmen en<strong>de</strong>n.<br />
Zum Beispiel das Dogma <strong>de</strong>s Kollektivismus. Der Glaube, kollektives Arbeiten, kollektive<br />
Entscheidungen und kollektives Leben seien in je<strong>de</strong>m Falle gut und stün<strong>de</strong>n für die libertäre<br />
Lebenseinstellung schlechthin, ist in <strong>de</strong>r heutigen Anarchobewegung hartnäckig verbreitet. All das ist<br />
natürlich höherer Blödsinn, <strong>de</strong>nn Kollektive können ebensogut schlechte Arbeit leisten, dumme<br />
Entscheidungen treffen o<strong>de</strong>r das Leben zur Hölle machen. Die Tatsache, daß in unseren Gesellschaften<br />
das soziale Zusammenwirken von Menschen mittels Hierarchie und Vereinzelung <strong>de</strong>nkbar schlecht<br />
organisiert ist, hat dazu gefühlt, daß <strong>de</strong>r Anarchismus kollektive Mo<strong>de</strong>lle entwickelte, die möglicherweise<br />
besser sind. Das be<strong>de</strong>utet aber nicht, daß auf einmal alles kollektiv zu geschehen habe. Praktische<br />
Kollektivmo<strong>de</strong>lle können hervorragen<strong>de</strong> Lösungen bieten, dogmatische Kollektivi<strong>de</strong>ologie aber ist das<br />
En<strong>de</strong> von Freiheit und Vielfalt. Formalisiertes Kollektivhan<strong>de</strong>ln führt leicht zum Tod individueller<br />
Kreativität und würgt je<strong>de</strong> Art persönlichen Genies ab. Heraus kommt das graue Einheits- Mittelmaß.<br />
Wer aber hat <strong>de</strong>nn gesagt, daß man sich entschei<strong>de</strong>n müsse zwischen entwe<strong>de</strong>r kollektiv o<strong>de</strong>r individuell?<br />
Das kann nur <strong>de</strong>r kleine monokausale Virus im Hinterkopf gewesen sein!<br />
Ähnliche Überlegungen gelten auch für die große Glaubensfrage, die die Linke hun<strong>de</strong>rtfünfzig Jahre lang<br />
in Atem hielt: ob <strong>de</strong>nn die Arbeiterbewegung auf einer materialistischen* o<strong>de</strong>r i<strong>de</strong>alistischen*<br />
Philosophie aufbaue. Bestimmt nun das Sein das Bewußtsein o<strong>de</strong>r umgekehrt das Bewußtsein das Sein? -<br />
ohne diese spannen<strong>de</strong> Frage konnte nach 1968 überhaupt kein ernsthaftes Gespräch unter politisch<br />
bewegten Menschen begonnen wer<strong>de</strong>n! Es han<strong>de</strong>lt sich hierbei zweifellos um ein sehr interessantes<br />
Thema, und das sei ohne Ironie gesagt. Aber für die Frage, ob ein Mensch willens und in <strong>de</strong>r Lage ist,<br />
ohne Hierarchie zu leben, ist es ohne Belang. Tatsächlich scheint bei<strong>de</strong>s zuzutreffen, und <strong>de</strong>r<br />
Anarchismus hat das praktisch auch nie an<strong>de</strong>rs gesehen. Es liegt ja auf <strong>de</strong>r Hand, daß <strong>de</strong>r Mensch durch<br />
seine soziale Umwelt geformt ist und so <strong>de</strong>nkt, wie er geprägt wur<strong>de</strong>. Genauso ein<strong>de</strong>utig aber ist die<br />
Beobachtung, daß <strong>de</strong>r Mensch auch kraft <strong>de</strong>s eigenen Willens diesen Zustand än<strong>de</strong>rn kann. Ein typisches<br />
Beispiel also für Wechselwirkung, und ein seltenes Beispiel für die Überwindung monokausalen<br />
Denkens, <strong>de</strong>nn diese Frage scheint heute nieman<strong>de</strong>n mehr son<strong>de</strong>rlich zu interessieren.<br />
Auch die überaus schwache Differenzierung, die in Anarchokreisen zwischen Begriffen wie "Autorität",<br />
"Herrschaft", "Unterdrückung" und "Hierarchie" gepflegt wird, ist Ausdruck monokausalen Denkens. Das<br />
führt dann dazu, daß man meint, Freiheit zu<br />
377<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
erreichen, in<strong>de</strong>m man je<strong>de</strong> Überlegenheit eines Menschen weghobelt. Egal, ob es sich nun um Wissen,<br />
Talent, beson<strong>de</strong>re Fähigkeiten o<strong>de</strong>r ausgefallene charakterliche Züge han<strong>de</strong>lt - alles steht im Verdacht,<br />
"autoritär" zu sein. Gleichheit soll erzielt wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m alle Menschen mit ihren vielfältigen<br />
Eigenschaften durch <strong>de</strong>n Wolf gedreht wer<strong>de</strong>n, bis sie sich auf einem gleichen Nenner wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r<br />
zumeist das niedrigste gemeinsame Niveau ist. In <strong>de</strong>r Tat gibt es dann keine "Hierarchie" mehr, aber eben<br />
auch nichts Besseres. Es gibt keinen entlarven<strong>de</strong>ren Ausdruck für diese schematische Manie, von allem<br />
was wir als schlecht empfin<strong>de</strong>n immer ganz genau gera<strong>de</strong> das Gegenteil anzustreben, als das<br />
problematische Wörtchen "antiautoritär". Dieses Verhalten, die sogenannte antithetische Bindung, hat<br />
immer wie<strong>de</strong>r zu groteskem Unsinn geführt und ist mit schuld daran, daß sich Anarchisten öfter durch die<br />
Hervorbringung irgendwelcher nervtöten<strong>de</strong>r Platitü<strong>de</strong>n* hervorgetan haben als durch die Entwicklung<br />
praktischer Mo<strong>de</strong>lle.<br />
Kirche o<strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>?
Genug geschimpft! Die Frage lautete, ob <strong>de</strong>r Anarchismus noch zu retten sei. Ob sich also die<br />
anarchistische Bewegung, so wie sie sich heute darstellt, totläuft, o<strong>de</strong>r einen hilfreichen Beitrag dazu<br />
leisten kann, daß sich die Menschheit an-archische Strukturen gibt. Hierzu war es lei<strong>de</strong>r nötig, Themen<br />
anzusprechen, die sich vielleicht nur politischen Insi<strong>de</strong>rn ganz erschließen. Deshalb möchte ich mit einer<br />
leicht nachvollziehbaren Analogie en<strong>de</strong>n, die auch Außenstehen<strong>de</strong>n klar machen dürfte, an welchem<br />
Punkt sich diese relativ junge Bewegung heute befin<strong>de</strong>t.<br />
Vergleichen wir sie einmal - ganz formal gesehen, versteht sich, und keineswegs inhaltlich - mit <strong>de</strong>m<br />
Christentum. Einer I<strong>de</strong>e also, die zu einer Bewegung wur<strong>de</strong>. Diese Bewegung stand irgendwann an einem<br />
wichtigen Schei<strong>de</strong>weg. Sie mußte sich <strong>de</strong>r Frage stellen: Puritanismus o<strong>de</strong>r Lebendigkeit? Hinter dieser<br />
Alternative stan<strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>ne Denkweisen: Hier <strong>de</strong>r Wunsch nach perfekter Vollendung, Hingabe,<br />
Konsequenz; dort <strong>de</strong>r Wunsch nach praktischer Umsetzung einer Lebenseinstellung im freien<br />
Experiment. Hier zählten feste Glaubensgrundsätze, ein<strong>de</strong>utige Strukturen, effektiver Apparat; dort<br />
zählten zwischenmenschlicher Austausch, Alltagsstrukturen und Spontaneität. Hier das Kloster mit seinen<br />
heiligen Mönchen, dort die Bewegung mit ihren suchen<strong>de</strong>n Menschen. All das läßt sich zusammenfassen<br />
in <strong>de</strong>r historischen Entscheidung, die das Christentum zwischen Kirche und Gemein<strong>de</strong> zu treffen hatte<br />
und bekanntlich zugunsten <strong>de</strong>r Kirche getroffen hat. Es war <strong>de</strong>r Triumph <strong>de</strong>s Puritanismus und <strong>de</strong>r Tod<br />
<strong>de</strong>r Lebendigkeit, die Geburt eines Apparates und das En<strong>de</strong> einer I<strong>de</strong>e.<br />
Meines Erachtens steht <strong>de</strong>r Anarchismus heute an einem vergleichbaren Punkt. Perfektioniert er die I<strong>de</strong>e<br />
<strong>de</strong>r Freiheit in immer sophistischeren* Theorien, in <strong>de</strong>r Weiterentwicklung symbolischer Riten und<br />
immer konsequenterer Verhaltensmuster? Schafft er eine anarchistische Elite, die sich in <strong>de</strong>r Auslegung<br />
<strong>de</strong>r Klassiker übt, über die Reinhaltung <strong>de</strong>r Lehre wacht und die Menschheit ermahnend zum Ziele führen<br />
will? Bringt er eine Avantgar<strong>de</strong> hervor, die für <strong>de</strong>n Triumph <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ale kämpft? Schafft er sich die dazu<br />
378<br />
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notwendigen Organisationen, eine eigene Sprache und die passen<strong>de</strong> Dienstkleidung? Und pflegt er all dies<br />
in <strong>de</strong>r sterilen Abgeschie<strong>de</strong>nheit geschlossener Kreise?<br />
Dann wäre dies das anarchistische Kloster, mit <strong>de</strong>n Autonomen als Jesuiten, <strong>de</strong>m Theoretiker als<br />
erleuchtetem Eremiten und einem je<strong>de</strong>n Anarchisten in seinem entsprechen<strong>de</strong>n Or<strong>de</strong>n mit eigener<br />
Liturgie. Meiner Meinung nach könnten aus dieser klösterlichen Anarchokultur durchaus köstliche<br />
Anregungen an <strong>de</strong>n menschlichen Geist entspringen, so wie dies bei <strong>de</strong>n christlichen Abteien ja auch <strong>de</strong>r<br />
Fall war. Zur Durchsetzung <strong>de</strong>s christlichen Geistes in <strong>de</strong>r Menschheit aber haben es alle Zisterzienser,<br />
Dominikaner, Karmeliter, Kapuziner und Jesuiten nicht gebracht. Die Durchsetzung <strong>de</strong>s libertären Geistes<br />
in <strong>de</strong>r Menschheit wird vermutlich auch all jenen geschlossenen Zirkeln nicht gelingen, die langsam aber<br />
stetig in eine libertär-klösterliche Kultur abdriften.<br />
Noch aber ist die Entscheidung nicht gefallen. Die Anarchisten stehen seit Jahren unverän<strong>de</strong>rt vor <strong>de</strong>m<br />
Schei<strong>de</strong>weg. Solange es Libertäre gibt, die statt <strong>de</strong>m Prinzip Kloster das Prinzip Gemein<strong>de</strong> vorantreiben,<br />
bleibt Hoffnung.<br />
Kapitel 40 Von <strong>de</strong>r Demokratie zur Akratie<br />
"Nichts ist wi<strong>de</strong>rwärtiger als die Majorität, <strong>de</strong>nn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus<br />
Schelmen, die sich akkomodieren, aus Schwachen, die<br />
sich assimilieren, und <strong>de</strong>r Masse, die nachtrollt, ohne nur im min<strong>de</strong>sten zu wissen, was sie will."
- Johann Wolfgang von Goethe -<br />
EINEN MENSCHEN, DER VOR DREIHUNDERT JAHREN behauptet hätte, daß <strong>de</strong>reinst ein Volk<br />
nicht mehr vom gottgewollten König regiert wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, hätte man glatt für verrückt erklärt. Die<br />
Vorstellung, alle paar Jahre ein paar hun<strong>de</strong>rt Leute auszuwählen, die sich zusammenhockten, diskutierten<br />
und statt <strong>de</strong>s Monarchen regierten, wäre absurd erschienen. Weil es gegen die Natur <strong>de</strong>s Menschen<br />
verstoße und gegen die bewährte Ordnung <strong>de</strong>r Dinge. Man hätte die Verkün<strong>de</strong>r solcher I<strong>de</strong>en als<br />
gefährliche Aufwiegler verfolgt o<strong>de</strong>r bestenfalls als Utopisten ausgelacht.<br />
Tatsächlich ist all das ja auch geschehen.<br />
Heute in<strong>de</strong>s leben wir nach genau diesem Muster, nennen es "Demokratie" und fin<strong>de</strong>n es völlig normal.<br />
Wer heute die Rückkehr zur Monarchie for<strong>de</strong>rt, gilt als Idiot.<br />
Wandlung ist möglich<br />
Politische Herrschaft ist nicht Ausdruck <strong>de</strong>s Bösen, son<strong>de</strong>rn eine Form von Verwaltung. Diese<br />
Verwaltung kann besser o<strong>de</strong>r schlechter organisiert sein. Was dabei ›gut‹ o<strong>de</strong>r<br />
379<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
›schlecht‹ ist, hängt von <strong>de</strong>r Perspektive ab, das heißt, von <strong>de</strong>r Frage: für wen gut o<strong>de</strong>r schlecht.<br />
Untersuchen wir die Frage vom Standpunkt <strong>de</strong>rer, die man allgemein ›das Volk‹ nennt, also unserem: Wie<br />
stark kommen wir in <strong>de</strong>r Verwaltung vor?<br />
Früher herrschte ein Einzelner im Namen einer I<strong>de</strong>e, die sich auf einen Einzelnen berief. Der "einzige<br />
Herrscher", <strong>de</strong>r Monarch, betrieb als Vasall, Herzog o<strong>de</strong>r König sein Verwaltungsgeschäft im Namen <strong>de</strong>s<br />
"einzigen Gottes". Die uneingeschränkte Herrschaft eines Einzelnen nennen wir Autokratie. Sie brachte<br />
Fremdverwaltung hervor.<br />
Heute herrschen viele im Namen einer I<strong>de</strong>e, die sich auf das ganze Volk beruft. Die "vielen Herrscher",<br />
Polyarchen, betreiben als Abgeordnete, Minister, Regierungschefs ihr Verwaltungsgeschäft im Namen <strong>de</strong>r<br />
Gesamtheit <strong>de</strong>r "mündigen Wahlbürger". Die eingeschränkte Herrschaft vieler im Namen aller nennen wir<br />
Demokratie. Sie bringt eine Stellvertreterverwaltung hervor.<br />
Gemäß <strong>de</strong>r anarchistischen I<strong>de</strong>e, die heute noch im Rang einer Utopie steht, herrscht morgen je<strong>de</strong>r über<br />
sich selbst o<strong>de</strong>r, was dasselbe ist, niemand mehr über an<strong>de</strong>re. Die Gesamtheit nicht-herrschen<strong>de</strong>r<br />
Menschen, Anarchen, betreiben als autonome Individuen ihre Verwaltungsgeschäfte in <strong>de</strong>zentralen<br />
Strukturen im Namen ihrer selbst. "Herrschaft" wird durch "Selbstorganisation" ersetzt, einen Zustand,<br />
<strong>de</strong>n wir Akratie nennen. Sie wür<strong>de</strong> Selbstverwaltung hervorbringen.<br />
Somit wäre ein gesellschaftlicher Zustand <strong>de</strong>r Akratie mit <strong>de</strong>r Organisationsstruktur Selbstverwaltung <strong>de</strong>r<br />
für das Interesse aller Menschen am weitesten fortgeschrittene Entwicklungszustand.<br />
Es ist verlockend, in solchen Entwicklungssträngen zu <strong>de</strong>nken. Demzufolge gäbe es eine stetige<br />
gesellschaftliche Verän<strong>de</strong>rung, die sich im theoretischen Denkbild von <strong>de</strong>r Autokratie über die<br />
Demokratie zur Akratie entwickelte. Das entspräche in <strong>de</strong>n politischen Formen einer Umwandlung von
<strong>de</strong>r Monarchie über die Polyarchie zur Anarchie. Die gesellschaftlichen Strukturen wechselten von <strong>de</strong>r<br />
Fremdverwaltung über Stellvertreterverwaltung zur Selbstverwaltung. Aber das sind nur Theorien -<br />
Mo<strong>de</strong>llvorstellungen, die zur Orientierung dienen können. Wir wissen, daß es kaum jemals eine ›reine‹<br />
Monarchie gab, und daß auch unsere ›Demokratie‹ ihrer eigenen I<strong>de</strong>e von ›Volksherrschaft‹ nicht gerecht<br />
wird.<br />
Solche Denkmo<strong>de</strong>lle können die Perspektive erweitern und unser Hirn auflockern. Deshalb sind sie aber<br />
noch lange nicht Realität, und sie entwickeln sich auch nicht in irgen<strong>de</strong>iner Weise ›automatisch‹. Kein<br />
okkultes* Weltgesetz - we<strong>de</strong>r ein göttliches, ein aufklärerisches, marxistisches o<strong>de</strong>r ein ökologisches -<br />
lenkt die Schritte <strong>de</strong>r Menschheit automatisch einem höheren Endziel zu - und natürlich auch kein<br />
anarchistisches. Der Entwicklungsstrang Autokratie- Demokratie-Akratie ist eine Möglichkeit, die sich<br />
aufzeigt. Damit Möglichkeiten zu Wirklichkeiten wer<strong>de</strong>n, braucht es ein Ziel, einen allgemeinen Wunsch,<br />
das Ziel zu erreichen und schließlich das Han<strong>de</strong>ln von Menschen, um sich diesem Ziel zu nähern.<br />
380<br />
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Alles, was wir aus <strong>de</strong>r Tatsache folgern dürfen, daß das Gros <strong>de</strong>r Menschheit sich von <strong>de</strong>r Autokratie zur<br />
Demokratie bewegt hat, ist, daß Wandlung möglich ist. Wie ›absurd‹ die Zielvorstellungen solch einer<br />
Wandlung von <strong>de</strong>n Zeitgenossen wahrgenommen wer<strong>de</strong>n, ist unerheblich, weil sich auch die politischen,<br />
moralischen und gesellschaftlichen Ansichten wan<strong>de</strong>ln können. Nichts ist unbeständiger als <strong>de</strong>r Zeitgeist.<br />
Für überzeugte Libertäre be<strong>de</strong>utet dies, sofern sie in solchen Prozessen überhaupt noch eine Rolle spielen<br />
wollen, zweierlei: Sie dürfen erstens nicht nur auf das Endziel starren, son<strong>de</strong>rn müssen die Krisen <strong>de</strong>r<br />
heutigen Herrschaftsform als Strukturprobleme einer verfehlten Verwaltungsphilosophie verstehen.<br />
Zweitens dürfen sie nicht auf die automatische Erfüllung solcher Entwicklungsstränge hoffen; sie müssen<br />
etwas dafür tun. Das heißt, nach Wegen, Ansätzen und Chancen zu suchen, sich mit besseren Strukturen<br />
dort einzubringen, wo die schlechteren Strukturen versagen. Ein Aufspüren von Krisen also, das jedoch<br />
nur dann Sinn macht, wenn die Libertären außer Kritik auch Alternativen im Gepäck haben.<br />
Mit einem Wort: Die Libertären müßten lernen, strategisch zu <strong>de</strong>nken.<br />
Mehrheit, Min<strong>de</strong>rheit, Freiheit<br />
Eines <strong>de</strong>r Strukturprobleme hat <strong>de</strong>r alte Goethe in seinem launischen Eingangszitat angesprochen: Den<br />
Fetisch <strong>de</strong>r "Mehrheit". In <strong>de</strong>r Organisationsform "Demokratie" führt er zu einer endlosen Kette von<br />
Funktionsstörungen, die auf <strong>de</strong>r falschen Verwaltungsphilosophie beruhen, Verwaltung mit Herrschaft<br />
gleichzusetzen. Diese Gleichsetzung ergibt sich aus <strong>de</strong>r Vorgabe, daß an einem Ort nur eine Gesellschaft<br />
bestehen dürfe, und daß diese Gesellschaft möglichst groß sein sollte. Eine solche Gesellschaft muß dann<br />
folgerichtig für Souveränität, Zentralisierung, Entscheidungshierarchie, Autorität und Nivellierung <strong>de</strong>s<br />
Großen Ganzen sorgen. Dieses "Große Ganze" nennen wir Staat. Und <strong>de</strong>r Staat kann gar nicht an<strong>de</strong>rs sein<br />
als er ist. Kleinheit und Vielfalt sind für je<strong>de</strong>n Staat eine Bedrohung. Am besten funktioniert er in Größe<br />
und Einfalt. Da er überall alles für alle gleich bestimmen soll, muß er ten<strong>de</strong>nziell alle Menschen<br />
gleichmachen.<br />
Gleichmacherei aber scheint irgendwie nicht <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>s Menschen zu entsprechen. Je<strong>de</strong>nfalls hat er<br />
sich immer dagegen aufgelehnt. Das hat Verän<strong>de</strong>rungen bewirkt. Diesen Verän<strong>de</strong>rungen trug die<br />
Verschiebung <strong>de</strong>r Macht vom König auf das Parlament Rechnung, betraf aber nur die formalen<br />
Rahmenbedingungen. Sie war sozusagen eine Lockerung <strong>de</strong>r Strukturen, hinter <strong>de</strong>r nach wie vor dieselbe
I<strong>de</strong>e stand: die I<strong>de</strong>e großer Einheiten.<br />
Wenn diese I<strong>de</strong>e Grundlage <strong>de</strong>r sozialen Organisation ist, dann ist es nur konsequent, sich die dazu<br />
passen<strong>de</strong>n Strukturen zu geben. Demokratie wäre dazu eher ungeeignet. Eine wohlwollen<strong>de</strong> Monarchie,<br />
eine Diktatur o<strong>de</strong>r Tyrannei mit ›guten Absichten wäre ihr dann eigentlich vorzuziehen. Gegen die aber<br />
haben sich die Menschen immer wie<strong>de</strong>r aufgelehnt. Offenbar wer<strong>de</strong>n Vereinheitlichung, Zentralismus,<br />
Kontrolle, Befehl und Unterdrückung als unangenehm empfun<strong>de</strong>n.<br />
Es stellt sich also die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Frage, ob die I<strong>de</strong>e großer Einheiten überhaupt eine<br />
381<br />
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<strong>de</strong>m Menschen angemessene I<strong>de</strong>e ist. Ist <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Nationalstaat nicht ein Anachronismus und die<br />
Herausbildung von Supermächten vielleicht seine schwachsinnigste Krönung?<br />
Im Grun<strong>de</strong> sind mo<strong>de</strong>rne Demokratien verkorkste Zwitter. In ihr stimmen I<strong>de</strong>e und Struktur nicht überein.<br />
Entwe<strong>de</strong>r ist die große Einheit das <strong>de</strong>m Menschen gemäße I<strong>de</strong>al, dann ist <strong>de</strong>r parlamentarische<br />
Pluralismus* nicht mehr die richtige Form, weil er zu frei ist. O<strong>de</strong>r aber die Vielfalt kleinerer Einheiten<br />
entspricht <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>s Menschen, dann ist die heutige Demokratie noch nicht die richtige Form,<br />
weil sie zu unfrei ist. Sie steht in ihrer Philosophie zwischen Bevormundung und Autonomie, in ihrer<br />
Struktur zwischen Zentralismus und Fö<strong>de</strong>ration, in ihrer Verwaltung zwischen Befehl und<br />
Selbstorganisation.<br />
Anarchisten gehen an<strong>de</strong>rs vor: Sie setzen Verwaltung nicht mit Herrschaft gleich und vermuten, daß eine<br />
Selbstverwaltung ohne Fremdbestimmung motivierend wirkt. Dem Problem <strong>de</strong>r Konsensfindung in <strong>de</strong>r<br />
Vielfalt begegnen sie mit einer Entflechtung <strong>de</strong>r Gesellschaft. Einen möglichen Effektivitätsverlust bei<br />
Wegfall von Hierarchie wollen sie durch eine leistungsfähige horizontale Vernetzung ausgleichen, die auf<br />
freiwilliger Autorität beruht. Die meisten sozialen Steuerungsprobleme halten sie für hausgemacht, weil<br />
staatliche Gesellschaften angesichts ihrer Größe und ihres Anspruches nicht auf die Mechanismen einer<br />
Selbststeuerung von Systemen vertrauen dürfen. Deshalb ist <strong>de</strong>r gesamte anarchistische<br />
Gesellschaftsentwurf darauf ausgerichtet, diese Selbststeuerung möglich zu machen, in<strong>de</strong>m sie Größe und<br />
Struktur <strong>de</strong>r Gesellschaft(en) verän<strong>de</strong>rt. Wie aber geht die staatliche Gesellschaft mit diesem Dilemma<br />
um? Mit <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>r Mehrheiten - einem <strong>de</strong>nkbar faulen Kompromiß, <strong>de</strong>r haargenau da steht, wo<br />
auch die mo<strong>de</strong>rne Demokratie steht: zwischen Bevormundung und Autonomie. Ganz ohne Zweifel ist<br />
Mehrheitsherrschaft keine saubere Lösung. Sie ist in <strong>de</strong>r Praxis gewiß weniger schlecht und weniger<br />
willkürlich als die Despotie eines Einzelnen - aber natürlich wird auch eine falsche Entscheidung nicht<br />
dadurch richtiger, daß viele Trottel sie durchgesetzt haben. Selbstverständlich gibt es in riesigen<br />
Gesellschaften auch immer riesige Min<strong>de</strong>rheiten, <strong>de</strong>ren Interessen unter <strong>de</strong>n Tisch fallen. Und wie Goethe<br />
so treffend beobachtet hat, führt das Regiment <strong>de</strong>r Majorität ja nicht etwa dazu, daß es keine einzelnen<br />
Herrscher mehr gäbe. Die gibt es nach wie vor, nur sind sie jetzt gezwungen, ihre persönlichen Interessen<br />
mit <strong>de</strong>r Hilfe von Mehrheiten durchsetzen. Daß sie diese Mehrheiten vor allem auch aus <strong>de</strong>r dumpfen,<br />
i<strong>de</strong>enlosen Masse rekrutieren, brauchen wir nicht erst beim <strong>de</strong>utschen Dichterfürsten nachzulesen, das<br />
kennen wir aus eigener Anschauung zur Genüge.<br />
Auf diese Schwächen <strong>de</strong>r Mehrheitsherrschaft gibt es grundsätzlich zwei Antworten. Die elitistische*<br />
Antwort verachtet die Mehrheit, pfeift auf die Masse und for<strong>de</strong>rt die Herrschaft <strong>de</strong>r Klugen, Starken,<br />
Guten, Erleuchteten o<strong>de</strong>r sittlich Reifen. Die anarchistische Antwort macht Mehrheiten überflüssig, pfeift<br />
auf die Herrschaft und for<strong>de</strong>rt die Chance von Klugheit, Stärke, Güte, Erkenntnis und sittlicher Reife für
alle. Demokraten haben keine Antwort, sie improvisieren.<br />
382<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Wie aber kann das Gewicht <strong>de</strong>r Mehrheit überflüssig wer<strong>de</strong>n?<br />
In<strong>de</strong>m die Strukturen abgelöst wer<strong>de</strong>n, die Mehrheitsentscheidungen erfor<strong>de</strong>rn. Wie das im Detail<br />
funktionieren soll, haben wir bereits erfahren. An dieser Stelle sollen uns nur folgen<strong>de</strong> Überlegungen<br />
interessieren:<br />
Was eine ›richtige‹ und eine ›falsche‹ Entscheidung ist, darüber gehen die Meinungen <strong>de</strong>r Menschen stets<br />
auseinan<strong>de</strong>r. Je größer eine Gesellschaft ist, <strong>de</strong>sto mehr Menschen, <strong>de</strong>sto mehr Meinungen, <strong>de</strong>sto<br />
schwieriger ein Konsens, <strong>de</strong>sto größer die unterdrückten Min<strong>de</strong>rheiten, <strong>de</strong>sto schwieriger das individuelle<br />
Ausweichen vor einer als ›falsch‹ empfun<strong>de</strong>nen Entscheidung. Je vielfältiger eine Gesellschaft ist, je<br />
kleiner und autonomer ihre Einheiten, <strong>de</strong>sto einfacher ein Konsens, <strong>de</strong>sto geringer die unterdrückten<br />
Min<strong>de</strong>rheiten, <strong>de</strong>sto leichter, sich zu entziehen und sich einer an<strong>de</strong>ren Gesellschaft anzuschließen, <strong>de</strong>ren<br />
Entscheidungen als ›richtig‹ empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Die allermeisten politischen Konflikte, mit <strong>de</strong>nen sich<br />
heute das parlamentarische Krisenmanagement herumschlagen muß, erwachsen überhaupt erst aus <strong>de</strong>m<br />
merkwürdigen Anspruch, daß wenige Menschen für alle Menschen entschei<strong>de</strong>n müssen. Dies ergibt sich<br />
direkt aus <strong>de</strong>m Absolutheitsanspruch je<strong>de</strong>r Staatsphilosophie. Die Folge ist Herrschaft, ihre notwendige<br />
Konsequenz Konzentration. Entflechtung hingegen baut die Notwendigkeit <strong>de</strong>r Herrschaft ab und löst<br />
neunzig Prozent aller Fragen <strong>de</strong>zentral, auf <strong>de</strong>r jeweils untersten Ebene. Es verbleibt eine Restgröße.<br />
Diese Restprobleme aber, für die überregionale und allgemeinverbindliche Entscheidungen nötig bleiben,<br />
sind weniger als man gemeinhin glaubt. Auch zu <strong>de</strong>ren Entscheidung haben wir hierarchieärmere Mo<strong>de</strong>lle<br />
kennengelernt, die eine befriedigen<strong>de</strong> Lösungsfindung versprechen. Auch in ihnen kann es in letzter<br />
Konsequenz durchaus einmal zu einem Mehrheitsentscheid kommen. Der bliebe jedoch die Ausnahme<br />
und wäre nicht mehr mit <strong>de</strong>r gleichmacherischen Abstimmungsroutine unserer heutigen<br />
Parlamentsmaschinerie zu vergleichen. Deren Mehrheiten sind von Parteitaktik bestimmt, während es sich<br />
hier um die direkte Entscheidung <strong>de</strong>r Menschen han<strong>de</strong>lte, die sich zuvor ausführlich mit einem Problem<br />
auseinan<strong>de</strong>rgesetzt hätten.<br />
Ein Blick auf die Gesetzesvorlagen in National- o<strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>rparlamenten zeigt, wie viele Dinge in <strong>de</strong>n<br />
Zentren <strong>de</strong>r Macht behan<strong>de</strong>lt und entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, die eigentlich nicht dort hingehören. Zu dieser<br />
Einsicht braucht man gar nicht erst in <strong>de</strong>n Dschungel <strong>de</strong>r Brüsseler Europabürokratie mit ihren<br />
kontinentalen Weichkäseverordnungen und Bananenmaßvorschriften vorzudringen: Überall führt <strong>de</strong>r<br />
Souveränitätsanspruch politischer Großgebil<strong>de</strong> dazu, sich <strong>de</strong>m Aufbau eines endlosen Regelwerks zu<br />
widmen, das bei autonomen Kleingebil<strong>de</strong>n gar nicht nötig wäre. In diesem Fall ist es in <strong>de</strong>r Politik wie in<br />
<strong>de</strong>r Natur: Je<strong>de</strong>s zentrale Eingreifen – sei es nun ›Regieren‹ o<strong>de</strong>r ›Umweltmanagement‹ – verhin<strong>de</strong>rt auf<br />
Dauer die Herausbildung <strong>de</strong>r Mechanismen einer Selbststeuerung, die in allen kleinen, organischen<br />
Einheiten angelegt sind.<br />
Wir Europäer sind <strong>de</strong>rzeit Zeugen für <strong>de</strong>n grandiosen Unfug, <strong>de</strong>r in dieser Hinsicht getrieben wird: Dem<br />
rückwärtsgewandten Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n Supermacht Europa. Nichts wur<strong>de</strong> offenbar aus <strong>de</strong>m<br />
Kollaps <strong>de</strong>r Supermacht Sowjetunion gelernt. Die Dauer-<br />
383
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krise <strong>de</strong>r Supermacht USA wird beharrlich ignoriert. Das regelmäßige Versagen von Steuermechanismen<br />
in zentralen Großgebil<strong>de</strong>n ist mittlerweile das beherrschen<strong>de</strong> Thema von Ökonomie, Physik, Philosophie,<br />
Ökologie und Gesellschaftswissenschaften. Nur bei <strong>de</strong>n Politikern hat sich das noch nicht<br />
herumgesprochen. Die versuchen nach wie vor, die Wohlstandsfestung Europa mit <strong>de</strong>m Instrumentarium<br />
von vorgestern gegen die Herausfor<strong>de</strong>rungen von morgen abzuschotten. Die Massen, die man für die<br />
entsprechen<strong>de</strong>n Mehrheitsentscheidungen braucht, lassen sich noch allemal leicht mit <strong>de</strong>m Hinweis<br />
darauf kö<strong>de</strong>rn, daß nun in Europa endlich die Grenzen fallen... Während allüberall das bürokratische<br />
Regelwerk wächst und rundherum ein Festungswall entsteht.<br />
Den Hebel ansetzen<br />
Soviel zum Knirschen im Getriebe <strong>de</strong>r heute üblichen Herrschaftsform. Es kommt also von <strong>de</strong>n<br />
Strukturproblemen, die eine falsche Verwaltungsphilosophie mit sich bringt? Na schön. Aber das<br />
Getriebe funktioniert trotz<strong>de</strong>m. Was ist also mit <strong>de</strong>n genannten Krisen? Könnten Menschen, die an<strong>de</strong>re<br />
Strukturen wollen, hier irgendwo <strong>de</strong>n Hebel ansetzen?<br />
Da wir schon von Hebeln re<strong>de</strong>n, bietet sich zu dieser Frage das anschauliche Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Pen<strong>de</strong>ls an: Die<br />
sozialen Wünsche, die die Verschiebung <strong>de</strong>r Gesellschaft von <strong>de</strong>r Autokratie zur Demokratie bewirkt<br />
haben, sind diffus, aber benennbar: Selbstwertgefühl, Freiheit, Wohlstand, Selbstbestimmung, soziale<br />
Gerechtigkeit, Eigenverantwortung, Individualität, Gemeinschaftsgefühl. Diese Kräfte sind offenbar in<br />
<strong>de</strong>r Menschheit stets vorhan<strong>de</strong>n. Sie lassen sich politisch, religiös o<strong>de</strong>r weltanschaulich nicht ein<strong>de</strong>utig<br />
zuordnen. Sie sind allesamt aber auch Bestandteile einer libertären Ethik, und nach wie vor sind sie<br />
wirksam. Ihnen gegenüber gibt es <strong>de</strong>n Wunsch nach Anpassung, Herrschaft, Privilegien, Hierarchie,<br />
Unterordnung, Befehl und Gehorsam. Auch diese Kräfte scheinen ständig präsent zu sein. Sie lassen sich<br />
politisch, religiös und weltanschaulich schon eher zuordnen und gehören selbstverständlich nicht zur<br />
libertären Philosophie. Ihr Wirken in <strong>de</strong>r Gesellschaft ist viel stärker an eine Interessenlage von<br />
Menschengruppen gebun<strong>de</strong>n, die Vorteile aus ihnen ziehen. Zeitweise gelingt es <strong>de</strong>n Herrschen<strong>de</strong>n, die<br />
Beherrschten glauben zu machen, solche Zustän<strong>de</strong> wären auch zu ihrem Besten.<br />
In <strong>de</strong>r Menschheit gibt es <strong>de</strong>mnach ein freiheitliches Potential, angetrieben von spezifischen<br />
Wunschkräften. Diese liegen im Wi<strong>de</strong>rstreit mit autoritären Wunschkräften. Zwischen diesen Kräftepolen<br />
bewegt sich die Gesellschaft mitsamt ihren sozialen Strukturen. Dabei sind Pen<strong>de</strong>lbewegungen zu<br />
beobachten, aber auch Verschiebungen. In Deutschland war die Entwicklung vom Kaiserreich zur<br />
Demokratie eine klare Verschiebung, <strong>de</strong>r Übergang von <strong>de</strong>r Ära A<strong>de</strong>nauer zur Ära Brandt und zurück zur<br />
Ära Kohl waren eher Pen<strong>de</strong>lschwingungen. Soziale Bewegungen versuchen dabei, <strong>de</strong>n Pen<strong>de</strong>lschwung in<br />
eine dauerhafte Verschiebung zu verwan<strong>de</strong>ln. Dabei können sie die Kraft <strong>de</strong>s Pen<strong>de</strong>ls ausnutzen, um das<br />
Feld ihrer Wunschkräfte zu verstärken.<br />
384<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
Solche ›Wunschkräfte‹ sind nicht angeboren und schneien nicht vom Himmel; sie haben überwiegend<br />
gesellschaftliche Ursachen. Das be<strong>de</strong>utet, sie sind verän<strong>de</strong>rbar beziehungsweise mobilisierbar.<br />
Freiheitliche Sozialbewegungen können also grundsätzlich Einfluß auf das freiheitliche Potential nehmen.<br />
Für solch eine Einflußnahme gibt es günstige und weniger günstige Phasen. Sie wer<strong>de</strong>n bestimmt vom<br />
Grad <strong>de</strong>r allgemeinen Verunsicherung, von <strong>de</strong>r Qualität <strong>de</strong>r Alternative und von <strong>de</strong>r momentanen
Schwäche <strong>de</strong>r Gegenkräfte. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Wenn die Menschen unzufrie<strong>de</strong>n sind, die freiheitlichen<br />
Gegenmo<strong>de</strong>lle weit entwickelt und <strong>de</strong>r Staat eine Machtkrise zeigt, ist die Situation günstig für eine<br />
soziale Verschiebung. Wir kennen das bereits - für <strong>de</strong>n Sommer 1936 hatten wir das "Revolution"<br />
genannt.<br />
Ein Szenario<br />
Man darf wohl sagen, daß in <strong>de</strong>r Ersten Welt* und ganz beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik die allermeisten<br />
Menschen gut versorgt sind. Sie sind satt und beklei<strong>de</strong>t, dürfen sich äußern, frei bewegen, können überall<br />
Ablenkung und Unterhaltung kaufen und auf Teufelkommraus konsumieren. Dennoch sind nur wenige<br />
Menschen zufrie<strong>de</strong>n. Wohl kaum, weil sie <strong>de</strong>n Drang verspüren, noch mehr zu konsumieren - oft sogar<br />
aus <strong>de</strong>m gegenteiligen Gefühl heraus: <strong>de</strong>m Überdruß am Überfluß. Es gibt einen Ekel an <strong>de</strong>r Gesellschaft,<br />
eine Abscheu vor <strong>de</strong>r inhaltsleeren Einö<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Alltags. Das Leben gleicht einer gigantischen<br />
Arbeitsmaschine, alles Wichtige ist bereits entschie<strong>de</strong>n, alles Wesentliche bereits geregelt. Und selbst die<br />
Ersatzfreu<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n immer kostspieliger und bieten immer weniger Befriedigung. Enttäuschen<strong>de</strong>r<br />
Schrott und vorfabrizierte Abenteuer stehen zum Verkauf, alle mit <strong>de</strong>m schalen Nachgeschmack <strong>de</strong>s<br />
Massenhaften, Künstlichen und Falschen.<br />
Ein solcher Hintergrund ist für die Schwankungen <strong>de</strong>s Gesellschaftspen<strong>de</strong>ls genauso brisant wie es<br />
Hunger und Elend <strong>de</strong>r Arbeiter im neunzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rt waren.<br />
Im Moment schlägt dieses Pen<strong>de</strong>l in die rechte Ecke aus: neokonservativ bis nationalchauvinistisch. Links<br />
ist lächerlich, Utopien sind obsolet, Alternativler, Ökos und Müslis absolut out. Das irritiert viele<br />
Libertäre und macht sie mutlos. Viele treibt es gar in zweifelhafte Nachhol-Karrieren, die <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>altypus<br />
<strong>de</strong>r jetzigen Mainstream-Gesellschaft besser entsprechen: <strong>de</strong>m erfolgreichen Yuppie. Aber auch <strong>de</strong>r<br />
entpuppt sich rasch als ein leerer Mo<strong>de</strong>trend.<br />
So entmutigend dies alles klingen mag: es gibt für die Libertären zur Resignation eigentlich keinen<br />
Grund. Gewiß, sie sind tatsächlich im Moment keine Trendsetter, sie sind sozusagen völlig ›unmo<strong>de</strong>rn‹.<br />
Aber was be<strong>de</strong>utet das? Sind sie die belächelten Fossilien von vorgestern o<strong>de</strong>r schon die Vorboten <strong>de</strong>s<br />
Trends von übermorgen?<br />
Denken wir zurück an <strong>de</strong>n Pariser Mai und betrachten ihn durch die Brille <strong>de</strong>r ›Pen<strong>de</strong>ltheorie‹: Die<br />
vierziger und fünfziger Jahre waren von ähnlichen I<strong>de</strong>alen geprägt wie die achtziger und die neunziger:<br />
Fleißig, karrierebewußt und angepaßt wur<strong>de</strong> damals <strong>de</strong>r ›Aufbau‹ betrieben. Heraus kamen<br />
gesellschaftliche Verödung, städtebauliche Kata-<br />
385<br />
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strophen, kulturelle Verarmung und ein allgemeines Unbehagen, gegen das auch <strong>de</strong>r gesteigerte Konsum<br />
nicht mehr lange half. Am En<strong>de</strong> stan<strong>de</strong>n relativ wohlhaben<strong>de</strong> Menschen, die an ihrer Gesellschaft zu<br />
zweifeln begannen - bis hin zum kulturellen Ekel. Das Pen<strong>de</strong>l schwang um. Die 60er und frühen<br />
70erJahre bescherten uns eine diffuse Suche nach Gruppe, Gemeinschaft, Geborgenheit, Solidarität –<br />
kurz: nach Alternativen. Die Hippie- und Stu<strong>de</strong>ntenbewegung waren Ausdruck dieser<br />
gesamtgesellschaftlichen Suche, die Millionen von Menschen erfaßte und nirgendwo eine Antwort fand.<br />
Nur Anhänger einer mechanistischen Geschichtsauffassung wer<strong>de</strong>n glauben, daß sich nun alles genauso<br />
wie<strong>de</strong>rholen wür<strong>de</strong>. Aber es spricht einiges dafür, daß die Schicht von Menschen, die <strong>de</strong>rzeit noch <strong>de</strong>m<br />
konservativen Zeitgeisti<strong>de</strong>al anhängt, auch nicht auf ewig von ihrer Illusion wird zehren können. Gera<strong>de</strong><br />
die Yuppie-Generation ist größtenteils hochqualifiziert und durchaus intelligent. Irgendwann wer<strong>de</strong>n<br />
immer mehr von ihnen feststellen, daß das Leben doch wohl noch mehr zu bieten haben müßte. Daß es<br />
keinen Sinn macht, sich jahrelang für ein schnelles Auto zu verschul<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>m man dann täglich im<br />
Stau steht... Daß das, was man für die Zahlen auf <strong>de</strong>m Kontoauszug kriegt, immer weniger wert ist... Daß
das Dasein im Urlaubssilo sich nur noch durchs Klima vom Dasein im Silo ›daheim‹ unterschei<strong>de</strong>t... Daß<br />
das durchorganisierte und vorstrukturierte Leben keine Abenteuer gleich welcher Art mehr bietet..., und<br />
so weiter. Kurz: daß alles doch recht eigentlich total ö<strong>de</strong> und hübsch sinnlos ist. Der Geruch von Karriere,<br />
Freiheit und coolness könnte sich am En<strong>de</strong> als eine Illusion herausstellen, die die Werbeindustrie<br />
erfolgreich und massenhaft zu verkaufen wußte: Krawattenna<strong>de</strong>l, Parfüm und Haargel. Solche Prozesse<br />
kollektiver Ernüchterung können generationsbedingt leicht mit <strong>de</strong>r individuellen Midlife-crisis eines<br />
je<strong>de</strong>n Einzelnen zusammenfallen, was die allgemeine Wirkung nur verstärken dürfte und ihr Auftreten in<br />
<strong>de</strong>n nächsten zehn, zwanzig Jahren wahrscheinlich macht.<br />
Nun braucht eine solche Sinnkrise nur noch mit massiven Erschütterungen in Weltpolitik und -ökonomie<br />
zusammentreffen - und schon wür<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m persönlichen Weltschmerz urplötzlich ein tiefer Zweifel am<br />
gesamten System. Ganze Bevölkerungsschichten dürften dann in bo<strong>de</strong>nlose Wertekrisen hineinpurzeln,<br />
ihre nutzlosen Kreditkarten in Hän<strong>de</strong>n halten und staunen. Niemand kann solche Ereignisse voraussagen,<br />
und wir haben im geschichtlichen Teil gesehen, daß Krisensituationen meistens kommen, ohne sich<br />
vorher anzumel<strong>de</strong>n. Aber solche Konstellationen sind passiert, passieren heute und wer<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r<br />
passieren. Spekulative Szenarien dieser Art gibt es viele: etwa ein internationaler "Dominoeffekt" unter<br />
Banken nach <strong>de</strong>m von Fachleuten erwarteten Bankrott <strong>de</strong>r US-Sparkassen o<strong>de</strong>r die Verschärfung <strong>de</strong>s<br />
Nord-Süd-Konflikts. Vielleicht die Zinsverweigerung eines quasi-bankrotten Drittweltlan<strong>de</strong>s, die forcierte<br />
Massenflucht <strong>de</strong>r Armen in die Metropolen <strong>de</strong>r Reichen o<strong>de</strong>r ein Scheitern <strong>de</strong>s kapitalistischen Umbaus<br />
<strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Ostens.<br />
Gewiß ist das alles Spekulation. Es han<strong>de</strong>lt sich bei diesem Szenario we<strong>de</strong>r um die Geburtsstun<strong>de</strong> einer<br />
Klassentheorie <strong>de</strong>r Yuppies, noch um eine jener zweischneidigen "Katastrophentheorien". Seine Aussage<br />
ist viel beschei<strong>de</strong>ner: Unsere Gesellschaft wird nicht so bleiben wie sie ist, sie wird Erschütterungen<br />
erleben. Unser ›Wohlstand‹ ist hohl,<br />
386<br />
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unsere ›Sicherheit‹ in je<strong>de</strong>r Hinsicht erlogen und unser Sozialsystem auf Schul<strong>de</strong>n gegrün<strong>de</strong>t. Das Pen<strong>de</strong>l<br />
wird zurückschwingen, und es gibt Dutzen<strong>de</strong> möglicher Konstellationen, die eintreten können, um einen<br />
solchen Prozeß auszulösen und zu beschleunigen.<br />
Was aber wür<strong>de</strong> dann passieren?<br />
Es ist bekannt, daß das System flexibel und klug auf Krisen zu reagieren versteht und ungeahnte<br />
Integrationskräfte freisetzen kann. Aber je tiefer die Krise, <strong>de</strong>sto schwieriger eine Gegensteuerung, <strong>de</strong>sto<br />
größer die Chance, Alternativen durchzusetzen. Viele Libertäre glauben jedoch, daß eine solche Krise<br />
quasi automatisch zu emanzipatorischen Mo<strong>de</strong>llen führen wür<strong>de</strong>. Das ist nicht anzunehmen. Ebensogut<br />
kann sie in Resignation o<strong>de</strong>r einen Krieg mün<strong>de</strong>n, zu einer neuen Religion wer<strong>de</strong>n, zu esoterischem<br />
Tralala, zu einer vermarktbaren Mo<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r zu einer zeitgemäßen Spielart <strong>de</strong>s Faschismus. Dafür, daß sie<br />
im libertären Sinne befreiend wür<strong>de</strong>, müßte vorher eine Menge passieren. Automatisch geschieht das<br />
nicht.<br />
In <strong>de</strong>m Moment, wo sich eine "schweigen<strong>de</strong> Mehrheit" verunsichert nach Alternativen umschaut, müßten<br />
auch welche da sein. Nicht in Köpfen o<strong>de</strong>r Büchern, son<strong>de</strong>rn im realen Leben. Alternativen, die nicht erst<br />
in diesem Moment aus <strong>de</strong>m Hut gezaubert wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn schon lange existieren und sich bewährt<br />
haben. Sie müßten <strong>de</strong>n Menschen geläufig sein und ein gewisses Vertrauen erwecken. Nur dann bestün<strong>de</strong><br />
die Chance, daß sich Millionen von Menschen - und nicht nur die Min<strong>de</strong>rheiten in <strong>de</strong>n Nischen - plötzlich<br />
solchen Alternativen zuwen<strong>de</strong>n und sich ihnen anschließen. Und sei es auch ohne glühen<strong>de</strong> Überzeugung,<br />
als Mitläufer o<strong>de</strong>r aus purer Verzweiflung.<br />
Das wäre die große Stun<strong>de</strong> von Strukturen, wie wir sie im mo<strong>de</strong>rnen Projektanarchismus kennengelernt<br />
haben - <strong>de</strong>r Augenblick, wo sich seine Wurzelwerke zu bewähren hätten und sich auch aktiv han<strong>de</strong>lnd als<br />
revolutionieren<strong>de</strong> Kraft einbringen könnten.
Es könnte also sein, daß die Libertären nicht die Fossilien von vorgestern sind, son<strong>de</strong>rn Vorreiter <strong>de</strong>s<br />
Trends von übermorgen. Aber Halt, das war ein Szenario, keine Realität! Stün<strong>de</strong>n die Libertären in ihrem<br />
heutigen Zustand einer solchen Gesellschaftskrise gegenüber, wären sie vermutlich genauso hilflos wie<br />
1989 beim Bankrott <strong>de</strong>r DDR. Der war eine jener unvorhergesehenen, plötzlichen und großen<br />
Möglichkeiten, zu <strong>de</strong>ren Nutzung aber we<strong>de</strong>r ein Konzept noch Strukturen noch irgendwelche<br />
nennenswerten Alternativen zur Hand waren. Alles, was die Libertären damals bieten konnten, waren ein<br />
paar launische Kommentare in ihrer Presse, die außer ihnen kaum jemand liest.<br />
Wie gesagt: Es gibt Gelegenheiten, <strong>de</strong>n Hebel anzusetzen. Man müßte nur einen Hebel haben!<br />
Im Grun<strong>de</strong> steht <strong>de</strong>r Anarchismus heute wie<strong>de</strong>r da, wo er zu Beginn <strong>de</strong>s zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rts schon<br />
einmal stand. Während sich das Gros <strong>de</strong>r Bewegung in perspektivlose Abwehrkämpfe verhed<strong>de</strong>rt,<br />
entwickelt sich zaghaft eine konstruktiv-subversive Alternative, die aber noch keineswegs akzeptiert,<br />
vermutlich noch nicht einmal gänzlich verstan<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>. Ohne solche Alternativmo<strong>de</strong>lle jedoch ist ein<br />
Übergang von <strong>de</strong>r Demokratie zur Akratie kaum vorstellbar.<br />
387<br />
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Kapitel 41 Ist die Zukunft an-archisch?<br />
Der eine fragt: Was kommt danach? Der andre fragt nur: Ist es recht?<br />
Und also unterschei<strong>de</strong>t sich Der Freie von <strong>de</strong>m Knecht.<br />
Theodor Storm<br />
NEHMEN SIE EINMAL IHREN GLOBUS ZUR HAND und legen Sie ein Blatt Papier darauf. Jetzt<br />
wissen Sie, wie dick die Luftschicht ist, in <strong>de</strong>r Menschen atmen können. Schauen Sie sich nun an, auf<br />
welchen Teilen <strong>de</strong>r Erdoberfläche menschliches Leben möglich ist. Wenn Sie alle Meere, Wüsten,<br />
Polarregionen, Karststeppen und Hochgebirgslandschaften schwarz einfärben wür<strong>de</strong>n, blieben nurmehr<br />
lächerlich schmale Randgebiete in grün und braun übrig. Stellen Sie sich als nächstes vor, daß sich auf<br />
diesem bißchen Platz ein Lebewesen namens Mensch <strong>de</strong>rart zügig vermehrt, daß es alle paar<br />
Generationen seinen Bestand verdoppelt. Es frißt <strong>de</strong>n Pflanzenbewuchs und <strong>de</strong>n Tierbestand, reißt <strong>de</strong>n<br />
Bo<strong>de</strong>n auf, verbrennt alles was brennbar ist und erzeugt dabei enorme Mengen giftiger Gase. Schon jetzt<br />
bekommt es Schwierigkeiten beim Luftholen. Dieses Lebewesen hat die Gabe zu <strong>de</strong>nken, aber es <strong>de</strong>nkt<br />
falsch. Seine wichtigste Philosophie scheint in einem Wort zu bestehen: Wachstum. Es ist dabei, sich auf<br />
dieselbe Art und Weise zu vernichten wie eine wildwuchern<strong>de</strong> Bakterienkultur in <strong>de</strong>r Nährlösung eines<br />
abgeschlossenen Glastiegels.<br />
Legen Sie nun einen Bleistift auf Ihren Globus. Wür<strong>de</strong> um diese Weltkugel ein Satellit kreisen, müßte er<br />
in <strong>de</strong>n Stift hineinrasen. Nun haben Sie einen Begriff von <strong>de</strong>n Dimensionen, die <strong>de</strong>r Mensch als "Vorstoß<br />
in <strong>de</strong>n Weltraum" bezeichnet. Vielleicht besitzen Sie einen Leuchtglobus? Betrachten Sie ihn einmal in<br />
<strong>de</strong>r Nacht aus so großer Entfernung, daß Sie ihn nur noch als kleinen, leuchten<strong>de</strong>n Punkt wahrnehmen.<br />
Nehmen Sie sich ruhig Zeit, und schauen Sie genau hin.<br />
Nach all diesen Übungen haben Sie vielleicht die richtige Perspektive, um über die wichtigen Dinge <strong>de</strong>s<br />
Lebens nachzu<strong>de</strong>nken.<br />
Eine Frage <strong>de</strong>r Perspektive<br />
Macht es aus dieser Perspektive eigentlich noch Sinn, sich mit <strong>de</strong>r Frage zu beschäftigen, wie diese sechs<br />
Milliar<strong>de</strong>n vermehrungssüchtiger Kreaturen ihr soziales Leben organisieren? Ob sie sich nun gegenseitig<br />
beherrschen o<strong>de</strong>r nicht - was macht das für einen Unterschied? Ob horizontal und <strong>de</strong>zentral vernetzt o<strong>de</strong>r<br />
hierarchisch-autoritär unterjocht - ist das nicht egal?
Die Antwort auf bei<strong>de</strong> Fragen lautet: Es macht Sinn, sich mit <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r sozialen Organisation zu<br />
beschäftigen, und es macht einen Unterschied, wie diese Organisation aussieht. Denn die Ursache <strong>de</strong>r<br />
katastrophalen Wirkungen jenes Lebewesens liegt in seinem Sozialverhalten. Und man weiß, daß es ist in<br />
<strong>de</strong>r Lage ist, sein Sozialverhalten zu verän<strong>de</strong>rn.<br />
388<br />
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All das ist eine Frage <strong>de</strong>r Perspektive.<br />
Wir betrachten schließlich keine Bakterienkultur im Glas, son<strong>de</strong>rn uns selbst auf <strong>de</strong>m real existieren<strong>de</strong>n<br />
Globus, <strong>de</strong>m einzigen, <strong>de</strong>n wir haben. Wir gehören zu dieser Spezies, und wir wür<strong>de</strong>n gerne weiterleben -<br />
als Individuum und als Gattung. Diese Perspektive <strong>de</strong>r unentrinnbar Betroffenen sollte Grund genug sein,<br />
<strong>de</strong>r Frage nachzugehen, ob ein an<strong>de</strong>res Sozialverhalten die Möglichkeit böte, <strong>de</strong>m kollektiven Selbstmord<br />
zu entgehen.<br />
Sanftes Chaos, brutales Chaos<br />
Das Überleben <strong>de</strong>r Menschheit hängt gewiß nicht davon ab, wie weit sie einer politischen Bewegung<br />
Gehör schenkt, die die soziale Tradition <strong>de</strong>s Anarchismus vertritt. Es geht um Wichtigeres, nämlich um<br />
die Grundregeln sozialen Verhaltens und die Steuermechanismen, nach <strong>de</strong>nen komplexe Zusammenhänge<br />
funktionieren. Deshalb lautete unsere Ausgangsfrage, ob die Zukunft an-archisch sei - nicht anarchistisch.<br />
Ohne in die Gefahr i<strong>de</strong>ologischer Argumentation zu geraten, darf wohl gesagt wer<strong>de</strong>n, daß in <strong>de</strong>r Natur<br />
überall Mechanismen <strong>de</strong>r Selbststeuerung am Werk sind. In ihr scheint sich alles, man möchte fast sagen,<br />
"von alleine" zu regeln. Diese etwas hilflose Art, uns auszudrücken, zeigt, daß wir nicht genau wissen,<br />
wie sich diese Natur selbst reguliert. Es fällt uns nicht ins Auge, weil wir keinen Blick dafür haben. Unser<br />
Blick ist geschärft fürs Große, Augenfällige; er erkennt simple Strukturen, die uns geläufig sind;<br />
auffällige Zentren etwa, ein<strong>de</strong>utig hierarchische Beziehungen wie Ursache und Wirkung, Befehl und<br />
Gehorsam. Natur aber scheint so simpel nicht aufgebaut zu sein.<br />
Wenn hier von "Natur" die Re<strong>de</strong> ist, dann gilt das für die Gesamtheit <strong>de</strong>s Planeten ebenso wie für die<br />
Interaktion zwischen verschie<strong>de</strong>nen Arten, innerhalb einer Art, zwischen einzelnen Populationen* und<br />
innerhalb einer je<strong>de</strong>n Population. Also auch für das soziale Zusammenleben in Gruppen. Seit <strong>de</strong>n<br />
aufsehenerregen<strong>de</strong>n Erkenntnissen <strong>de</strong>s Biosphärenforschers James Lovelock o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Mikrobiologin Lynn<br />
Margulis sind wir um die überaus interessante "Gaia-Hypothese" bereichert, die das Zusammenwirken<br />
"interaktiver Netzwerke" selbst zwischen organischer und anorganischer Natur erforscht. Das sind<br />
Zusammenhänge, die wir noch viel weniger verstehen.<br />
Was immer <strong>de</strong>r Mensch nicht recht versteht, nennt er Chaos.<br />
Relativ leicht zu verstehen aber ist diese simple Tatsache: Nirgendwo in <strong>de</strong>r Natur gibt es einen<br />
Zentralismus großer Einheiten. Kein Tier und keine Gattung wirkt über <strong>de</strong>n Kreis hinaus, in <strong>de</strong>m es lebt.<br />
Selbst die Hierarchien im Tierreich sind räumlich eng begrenzt und "erworben": durch tatsächlich<br />
anerkannte Autorität, das heißt, an<strong>de</strong>ren überlegene Fähigkeiten und Kräfte. Kein Tier "herrscht", weil es<br />
von edler Geburt ist, reich, o<strong>de</strong>r gestützt von Lobbies, Medien, Rhetorik o<strong>de</strong>r Polizei. Kein Tier besitzt<br />
Autorität außerhalb seiner eigenen überschaubaren sozialen Welt. We<strong>de</strong>r ein Tier noch eine Tiergruppe<br />
noch eine biologische Art ist "angetreten, um zu herrschen". Kein Tier greift steuernd in <strong>de</strong>n<br />
Gesamtmechanismus <strong>de</strong>r Natur ein, konzentriert Macht, zentralisiert Strukturen o<strong>de</strong>r strebt eine wie auch<br />
immer geartete Gesamtautorität über alles an<strong>de</strong>re an. Ausgenommen <strong>de</strong>r Mensch.
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Die Natur kennt all das: Kooperation und Konkurrenz, Tausch, Diebstahl und Geschenk,<br />
Verdrängungskampf und gegenseitige Hilfe, Hierarchie, Solidarität und Freiräume - und all das steht<br />
miteinan<strong>de</strong>r in irgendwelchen für uns schwer verständlichen Wechselbeziehungen. Natur ist dabei nicht<br />
zentralistisch, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>zentral. Natur ist nicht durch Hierarchien verbun<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn interaktiv vernetzt.<br />
Sie gehorcht keinem Weltgesetz, sie regelt sich selbst, und zwar mit großem Erfolg. Sie funktioniert trotz<br />
ihrer Größe, Vielfalt und organischer Abhängigkeit hervorragend.<br />
Eine "Unordnung", die so komplex ist, daß wir sie nicht verstehen, aber <strong>de</strong>nnoch gut funktioniert, hatten<br />
wir sanftes Chaos getauft.<br />
Die soziale Organisation, die sich <strong>de</strong>r Mensch gegeben hat, ist, wie wir wissen, an<strong>de</strong>rs strukturiert. In ihr<br />
sind zwar auch alle wi<strong>de</strong>rstreiten<strong>de</strong>n Kräfte von Hierarchie und Anarchie angelegt, aber bisher haben sich<br />
stets die ersteren durchgesetzt. Das Lebewesen Mensch ist gesellschaftlich völlig an<strong>de</strong>rs gestrickt als die<br />
Natur. Seine Strukturen streben nach Vereinheitlichung, Konzentration, Zentralisierung, Souveränität,<br />
Hierarchie und Macht. Alles wird ten<strong>de</strong>nziell einem Prinzip untergeordnet, o<strong>de</strong>r, biblischer ausgedrückt:<br />
Der Mensch macht sich die Er<strong>de</strong> untenan. Dabei macht er sie kaputt.<br />
Hierarchisch-zentralistische Organisationsstrukturen sind zerstörerisch. Ihr Interaktionsprinzip zwischen<br />
Individuen und Gruppen ist Kampf und Unterwerfung, im Extremfall Tötung; ihre I<strong>de</strong>ologie ist<br />
Expansion, ihr Ziel Gesamtherrschaft. Bitte, es geht hier nicht um <strong>de</strong>n Brunftkampf zweier Hirsche o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>n Kampf um Nahrung zwischen zwei Ru<strong>de</strong>ln Wölfe. Das entspräche <strong>de</strong>m Degenduell zweier<br />
eifersüchtiger Männer o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Hungerrevolten andalusischer Tagelöhner von 1840. Es geht um das<br />
Prinzip, das <strong>de</strong>r menschlichen Organisation und seinem Sozialverhalten zugrun<strong>de</strong> liegt. Und hierbei hat<br />
sich unterm Strich beim Menschen recht ungebremst das Herrschaftsprinzip durchgesetzt.<br />
Dieses herrschaftsgeprägte, hierarchisch organisierte Sozialverhalten macht sich mit all seinen<br />
Auswirkungen massiv auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> bemerkbar. Es dringt in die Kreisläufe <strong>de</strong>r Natur ein, zerstört die<br />
unverstan<strong>de</strong>nen Mechanismen <strong>de</strong>r Selbstregulierung und versagt mit schrecklichen Folgen auch innerhalb<br />
<strong>de</strong>r eigenen Gattung. We<strong>de</strong>r ist <strong>de</strong>r Mensch unter seinesgleichen mit sich selbst zufrie<strong>de</strong>n, noch könnte<br />
die Natur, wäre sie ein <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>s Wesen, zufrie<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Menschen sein. Das System, nach <strong>de</strong>m die<br />
Menschheit lebt, funktioniert einfach nicht gut.<br />
Eine "Unordnung" die Fehlfunktionen und Katastrophen erzeugt, also schlecht funktioniert, hatten wir als<br />
brutales Chaos bezeichnet.<br />
Diese Überlegungen stützen die Annahme, daß die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Herrschaft über die Natur und die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r<br />
Herrschaft über <strong>de</strong>n Menschen gleiche Wurzeln<br />
haben. Irgendwo sind da die Weichen falsch gestellt wor<strong>de</strong>n. Aber vergleichen wir da nicht Birnen und<br />
Äpfel? "Natur" und "menschliche Gesellschaft" sind doch nicht dasselbe.<br />
Das stimmt. Deshalb wäre es erstens falsch zu sagen, Menschen müßten sich benehmen wie die Piranhas<br />
o<strong>de</strong>r organisieren wie die Ameisen. Schließlich kann <strong>de</strong>r Mensch <strong>de</strong>nken,
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reflektieren, han<strong>de</strong>ln und sich än<strong>de</strong>rn. Viel weniger als ein Tier ist er Sklave seiner Instinkte und Triebe -<br />
übrigens ist vielleicht gera<strong>de</strong> das sein Problem: daß er mit dieser Freiheit noch nicht umgehen kann.<br />
Deshalb kann zweitens Natur sehr wohl an-archisch sein, nicht aber anarchistisch, <strong>de</strong>nn das ist eine<br />
Lebensphilosophie aus <strong>de</strong>n Köpfen von Menschen. Dennoch haben menschliche Gesellschaft und Natur<br />
etwas miteinan<strong>de</strong>r zu tun: Gesellschaft fin<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r Natur statt, sie ist Teil von ihr, bei<strong>de</strong> bedingen sich<br />
gegenseitig.<br />
Wenn aber Natur gut funktioniert und menschliche Gesellschaft schlecht funktioniert, kann es nicht falsch<br />
sein, Vergleiche anzustellen und hieraus Schlüsse zu ziehen.<br />
Der naheliegendste Schluß wäre, daß <strong>de</strong>r Mensch sich endlich bemühte, die Funktionsweisen <strong>de</strong>s sanften<br />
Chaos zu verstehen und von diesen Strukturen soviel zu lernen, daß sie auf soziale Systeme anwendbar<br />
wür<strong>de</strong>n. Hierarchisch gesteuerte Systeme müßten durch an-archisch gesteuerte Systeme ersetzt wer<strong>de</strong>n -<br />
sonst steht zu vermuten, daß das Gesamtsystem zusammenbricht. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Der Mensch ist<br />
dazu verurteilt, im Einklang mit <strong>de</strong>r Natur leben zu lernen - an<strong>de</strong>rnfalls wird er nicht überleben. Das ist<br />
kein Umweltschutz, son<strong>de</strong>rn eine Revolution <strong>de</strong>s Denkens.<br />
Welche Auswirkungen hätte das auf das gesellschaftliche und politische Leben <strong>de</strong>s Menschen?<br />
Vom ›System Natur‹ zum ›System Gesellschaft‹<br />
Natur und Gesellschaft sind nicht gleichzusetzen. Der Mensch braucht "die Natur" auch nicht zu<br />
romantisieren o<strong>de</strong>r betend vor ihr nie<strong>de</strong>rzuknien. Es wäre schon genug, wenn er versuchte, ganz nüchtern<br />
und sachlich von <strong>de</strong>n Strukturen <strong>de</strong>r Natur zu profitieren.<br />
Was nun die gesellschaftspolitischen Systeme angeht, zu <strong>de</strong>nen ja auch <strong>de</strong>r Anarchismus zählt, so gibt es<br />
in diesem Zusammenhang eine erstaunliche Beobachtung zu machen. Freiheitliche Bewegungen sind ja<br />
nicht aus <strong>de</strong>m Konflikt Mensch/Natur entstan<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>m Konflikt Mensch/Mensch.<br />
Anarchismus kam nicht als Ökophilosophie auf die Welt, son<strong>de</strong>rn als Schrei nach sozialer Gerechtigkeit<br />
und Befreiung: Es ging um Brot, Arbeit und weniger Prügel. Am Anfang war <strong>de</strong>r Zorn - Ziel und<br />
Triebkraft aber wur<strong>de</strong> die Suche nach Freiheit. Sie, und nicht Natur, ist <strong>de</strong>r anarchistische Zentralbegriff.<br />
Auf <strong>de</strong>r Suche nach konkreten Formen <strong>de</strong>r Freiheit hat <strong>de</strong>r Anarchismus in hun<strong>de</strong>rt-fünfzig Jahren<br />
Mo<strong>de</strong>lle entwickelt, die diesem Ziel gerecht wer<strong>de</strong>n sollen. Gewisse Strukturen wur<strong>de</strong>n dabei als<br />
untauglich verworfen, an<strong>de</strong>re haben sich als tauglicher erwiesen. Wenn man sich nun diese<br />
›freiheitstauglichen‹ Strukturen genauer ansieht und benennt, ergibt sich eine frappieren<strong>de</strong><br />
Übereinstimmung mit jenen, die die mo<strong>de</strong>rne Wissenschaft und Philosophie heute als ›naturtauglich‹<br />
erkannt hat. Diese Analogie ist uns schon wie<strong>de</strong>rholt begegnet: Dezentralität, Vernetzung, Interaktion,<br />
Horizontalität, Selbstregulierung, kleine Einheiten, gegenseitige Hilfe, natürliche Autorität, Kollektivität -<br />
all das sind Strukturbegriffe und Organisationsformen, die sowohl auf die Natur als auch auf die von<br />
Anarchisten favorisierte soziale Organisation anwendbar sind.<br />
Das be<strong>de</strong>utet nicht, Anarchie und Natur seien i<strong>de</strong>ntisch. Man ist lediglich mit zwei
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verschie<strong>de</strong>nen Arbeitshypothesen* zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Wenn sich solche Strukturen<br />
aber auf dieser Er<strong>de</strong> im ›System Natur‹ bekanntermaßen als wirksam, leistungsfähig und anpassungsaktiv<br />
erwiesen haben, so dürfen diese Erwartungen auch an analoge* Strukturen im ›System Gesellschaft<br />
gestellt wer<strong>de</strong>n.<br />
Allein <strong>de</strong>swegen ist Anarchie aber noch nicht ›ökologisch‹. Ohne Frage könnte man auch in<br />
hierarchiefreier Selbstverwaltung die Natur zerstören. Erst, wenn diese Strukturen konkret umgesetzt<br />
wären, ergäbe sich eine Gesellschaftsform, die ökologischen Notwendigkeiten weit mehr entspräche als<br />
die gegenwärtigen. Zum Tragen kämen sie erst, wenn sie mit einer entsprechen<strong>de</strong>n Ethik ausgestattet<br />
global wirken könnten. Anarchie ist <strong>de</strong>mnach nicht Ökologie, son<strong>de</strong>rn schafft günstige Voraussetzungen<br />
zu <strong>de</strong>ren Anwendung.<br />
Anarchie: mehr als Überleben<br />
Der Zustand <strong>de</strong>r Menschheit auf diesem Planeten ist so bedrohlich gewor<strong>de</strong>n, daß je<strong>de</strong> Panikmache falsch<br />
wäre. Panik wird <strong>de</strong>m Ernst <strong>de</strong>r Situation nicht gerecht; besonnenes Han<strong>de</strong>ln schon eher.<br />
Für die Menschheit geht es ums Überleben. Dafür braucht sie ganz offensichtlich an<strong>de</strong>re Strukturen.<br />
We<strong>de</strong>r Umweltschutz, noch seine Extremform ›Ökodiktatur‹ sind auf Dauer mit <strong>de</strong>r Natur kompatibel,<br />
weil sie <strong>de</strong>ren Formen nicht begriffen haben und ihr nicht entsprechen.<br />
Der Anarchismus aber will mehr als das bloße Überleben. Er hat sich nie mit <strong>de</strong>r Sicherung <strong>de</strong>r<br />
physischen Existenz <strong>de</strong>s Menschen zufrie<strong>de</strong>ngegeben, <strong>de</strong>shalb ist er ja entstan<strong>de</strong>n. Er wollte stets ein<br />
besseres Leben: frei, erfüllt, autonom, selbstbestimmt, lustvoll und menschenwürdig.<br />
Diese bei<strong>de</strong>n Interessen könnten angesichts <strong>de</strong>r ökologischen und ökonomischen Sackgassen, in <strong>de</strong>nen<br />
wir uns befin<strong>de</strong>n, zusammenkommen. Die Menschheit braucht praktikable Überlebensstrategien: eine<br />
an<strong>de</strong>re Art <strong>de</strong>s Wirtschaftens, <strong>de</strong>r Arbeitsteilung und <strong>de</strong>r Arbeitsethik. Eine an<strong>de</strong>re gesellschaftliche<br />
Organisationsstruktur, ein an<strong>de</strong>res Sozialverhalten. Und vor allem eine an<strong>de</strong>re Ethik. Aber kaum jemand<br />
hat über radikal an<strong>de</strong>re Mo<strong>de</strong>lle nachgedacht. Zum Beispiel, wie in einer Vollbeschäftigungsgesellschaft<br />
weniger statt mehr gearbeitet wer<strong>de</strong>n könnte o<strong>de</strong>r wie eine Wirtschaft aussehen müßte, die Schrumpfen<br />
statt Wachstum anstrebt und die Natur am Leben läßt.<br />
Die anarchistische Gesellschaftstheorie wäre in <strong>de</strong>r Lage, hierfür Mo<strong>de</strong>lle anzubieten. Ihr überaus reicher<br />
Fundus an I<strong>de</strong>en, Experimenten und Erfahrungen ist eigentlich zu scha<strong>de</strong>, um fruchtlos zu verstauben.<br />
Eine Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckung dieses vielfältigen Wissens um die Formen <strong>de</strong>r Freiheit müßte in<strong>de</strong>s nicht aus<br />
purer Liebe zum Anarchismus geschehen. Sollte es eine anarchistische Renaissance geben, dann wohl<br />
kaum, weil diese I<strong>de</strong>en so perfekt, ihre Vertreter so toll und ihre Bewegung so faszinierend wären. Schon<br />
eher, weil seine Inhalte aus purer Not gebraucht wür<strong>de</strong>n. Zu ent<strong>de</strong>cken wäre ein wertvoller Beitrag, <strong>de</strong>r<br />
beim Überleben und beim Verbessern helfen könnte. Möglich, daß die Menschheit auch ohne ›<strong>de</strong>n<br />
Anarchismus‹ auf ähnliche Strukturen kommt. Aber je länger das dauert, <strong>de</strong>sto eher<br />
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wird es zu spät sein. Möglich auch, daß zwar die Strukturen ent<strong>de</strong>ckt wer<strong>de</strong>n, nicht aber die dazu<br />
passen<strong>de</strong> Ethik. Das ist sogar sehr wahrscheinlich. Freiheitstaugliche Strukturen ohne Freiheit sichern<br />
vielleicht das nackte Überleben, bringen jedoch keine bessere Lebensqualität. Wer wollte das schon?<br />
Anarchisten je<strong>de</strong>nfalls nicht.<br />
Ob nun die Zukunft an-archisch sein wird? Gewiß, <strong>de</strong>nn die Natur wird weiter bestehen. Die Frage ist, ob<br />
<strong>de</strong>r Mensch dann noch dabei ist. Falls ja, dann hat er die Chance, aus <strong>de</strong>r an-archischen Struktur eine<br />
anarchistische Gesellschaft zu machen. Das wäre ihm sehr zu wünschen, <strong>de</strong>nn er ist ein Lebewesen, das<br />
durchaus in <strong>de</strong>r Lage ist, Freiheit zu genießen.<br />
E n d e<br />
PS: Vergessen Sie nicht, das Licht in Ihrem Globus auszuknipsen!