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Keine Macht für niemand!<br />
Ton-Steine-Scherben<br />
ES GIBT VIELE GUTE GRÜNDE, weshalb Anarchisten es immer vermie<strong>de</strong>n haben, verbindliche<br />
Programme für eine künftige Gesellschaft aufzustellen; <strong>de</strong>r Mangel an I<strong>de</strong>en gehört mit Sicherheit nicht<br />
dazu. Eher das Gegenteil: die Überzeugung, daß eine an-archische Gesellschaft sich aus vielen<br />
unterschiedlichen Gesellschaften, Formen und sozialen Organismen zusammensetzen wird, hat sie seit<br />
jeher davon abgehalten, schon jetzt die Utopie von morgen in das Korsett programmatischer Vorschriften<br />
zu zwängen.<br />
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Kein starres Programm<br />
Eine Gesellschaft nach <strong>de</strong>m Geschmack <strong>de</strong>r Anarchisten ist kein starres Gebil<strong>de</strong>, Anarchie wird nicht<br />
eines schönen Tages ›erreicht‹ sein. Niemand an<strong>de</strong>res als die an ihm beteiligten Menschen wer<strong>de</strong>n<br />
festlegen, wie sie leben und sich organisieren wollen, und <strong>de</strong>ren Vorstellungen wer<strong>de</strong>n vermutlich<br />
unterschiedlich sein. Deshalb müssen wir uns ›die Anarchie‹ als ein Gebil<strong>de</strong> vorstellen, das in einem<br />
bestimmten geografischen Raum nicht etwa nur eine Lebensform, eine Ethik, eine Art sozialer<br />
Organisation kennt, son<strong>de</strong>rn zur gleichen Zeit viele verschie<strong>de</strong>ne nebeneinan<strong>de</strong>r, die sich je nach<br />
Interessen, Neigung, Notwendigkeiten und Bedürfnissen frei verbin<strong>de</strong>n.<br />
Zugegebenermaßen eine schwierige Vorstellung für uns, die wir gewohnt sind, daß <strong>de</strong>r Staat auf seinem<br />
exakt <strong>de</strong>finierten Territorium eifersüchtig darüber wacht, daß alle seine Bürger einer Norm - <strong>de</strong>r<br />
staatlichen - gleichermaßen unterworfen sind. Wir kennen nichts an<strong>de</strong>res; entsprechend exotisch kommt<br />
uns die anarchistische Gesellschafts- und Organisationstheorie vor. Ihre Struktur wird oft als ein<br />
Netzwerk beschrieben, und aus <strong>de</strong>r Biologie wird das Bild <strong>de</strong>s Mycels bemüht - jener chaotischen<br />
Pilzgeflechte, die extrem vital und überlebensfähig sind. All das mag an dieser Stelle eher verwirrend als<br />
erklärend wirken - wir wer<strong>de</strong>n darauf noch eingehen.<br />
Im Augenblick soll uns genügen, daß auch bei <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>r anarchistischen Zielvorstellung <strong>de</strong>r<br />
Wunsch nach Vielfalt eine ein<strong>de</strong>utige o<strong>de</strong>r gar eine dogmatische Antwort verhin<strong>de</strong>rt.<br />
Ein weiterer Grund gegen eine anarchistische Programmatik sei noch genannt, auf <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>rs Bakunin<br />
hingewiesen hat. Für ihn kann eine völlig neue Gesellschaft nur aus <strong>de</strong>r völligen Überwindung <strong>de</strong>r alten<br />
Gesellschaft entstehen. Heutige Menschen, autoritär geprägt und staatlich geformt, seien kaum in <strong>de</strong>r<br />
Lage, wirklich neue I<strong>de</strong>en hervorzubringen; in all ihren Entwürfen schlummere <strong>de</strong>r Keim <strong>de</strong>s Alten, <strong>de</strong>r<br />
früher o<strong>de</strong>r später wie<strong>de</strong>r hervorbrechen müßte. Eine neue Gesellschaft, so Bakunin, könne nur aus<br />
Amorphismus entstehen, das heißt, aus <strong>de</strong>r Zerstörung <strong>de</strong>r alten. Der Vorwurf, Bakunin wolle erst alles<br />
›kaputtschlagen‹, um etwas Neues aufbauen zu können, tut ihm sicherlich unrecht. Mit <strong>de</strong>m Begriff<br />
›Zerstörung‹ verband er nicht, Städte o<strong>de</strong>r Fabriken in die Luft zu sprengen – ihm ging es um die<br />
Zerschlagung von Institutionen und Herrschaftsmechanismen. An<strong>de</strong>rerseits bleibt <strong>de</strong>r radikale Denker<br />
eine plausible Antwort darauf schuldig, wie er die Lücke zwischen Amorphie und neuer Gesellschaft zu<br />
schließen ge<strong>de</strong>nkt - wann und wo also neue ›Tugen<strong>de</strong>n‹ und Einrichtungen entstehen sollen. Spontaneität<br />
und Phantasie allein dürften dazu kaum ausreichen. Spätere anarchistische Denker haben diese Frage<br />
schlüssiger beantwortet; hier soll im Moment nur interessieren, daß <strong>de</strong>r von Bakunin eingebrachte<br />
Vorbehalt nichteinfach abgetan wer<strong>de</strong>n kann: daß nämlich Konzepte und Programme, die <strong>de</strong>r unfreien<br />
Atmosphäre einer autoritären Gesellschaft entstammen mit Sicherheit nicht so frei, kühn, souverän und<br />
visionär* sein können wie die I<strong>de</strong>en, die Menschen womöglich in einer befreiten Gesellschaft entwickeln<br />
könnten. Daher braucht <strong>de</strong>r Anarchismus weniger Programme und Regeln einer künftigen Gesellschaft,<br />
als vielmehr ein allgemeines Mo<strong>de</strong>ll wan<strong>de</strong>lbarer Strukturen.<br />
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