Nr. 36, Januar - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter
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NACHDENKLICHES<br />
Geistige Behinderung als Chance<br />
für eine behinderte Welt?<br />
Rüdiger Dahlke<br />
E<br />
s geschieht, was du willst oder etwas<br />
Besseres, sagt eine Spruchweisheit<br />
des Ostens. Kinder sind Gottesgeschenke,<br />
weiß der fromme Volksmund bei<br />
uns. Die Trisomie 21 ist einer der Testfälle<br />
für solche und andere so genannte<br />
Lebensweisheiten. Bei Geschenken geht<br />
es eigentlich nicht darum, sie abzulehnen,<br />
umzumodeln oder auch nur Bedingungen<br />
daran zu knüpfen. Einem geschenkten<br />
Gaul schaut man nicht ins<br />
Maul, wüsste diesbezüglich das Sprichwort.<br />
Geschenke hat man einfach anzunehmen,<br />
auch wenn sie nicht dem eigenen<br />
Geschmack entsprechen, lernt<br />
schon das kleine Kind. Bei behinderten<br />
Kindern ist es offenbar besonders<br />
schwer, sie – so wie sie sind – als Gottesgeschenke<br />
anzunehmen, obwohl sie<br />
– wenn man sie dann angenommen hat<br />
– mehr noch als andere Kinder zeigen,<br />
wie sehr das Sprichwort Recht hat.<br />
Sollte es aber gerade bei einem Geschenk<br />
Gottes mit dem Annehmen anders<br />
sein als bei den profanen Geschenken<br />
des täglichen Lebens? An behinderten<br />
Kindern versuchen wir als Mitglieder<br />
einer Gesellschaft, die generell mit<br />
allen Behinderungen auf Kriegsfuß<br />
steht, besonders viel zu verbessern und<br />
umzuarbeiten – alles mit dem Ziel, sie so<br />
normal wie möglich hinzubekommen.<br />
Kaum irgendwo anders wird so viel<br />
„herumgedoktert“.<br />
Obwohl meine Frau und mich eine<br />
Philosophie verbindet, die dem Annehmen<br />
und Geschehenlassen einen hohen<br />
Stellenwert einräumt, ganz im Sinne des<br />
christlichen „Dein Wille geschehe“, haben<br />
wir anfangs fast automatisch so reagiert<br />
wie in dieser Gesellschaft üblich.<br />
Das Motto war, wenn wir schon ein<br />
<strong>Down</strong>-Kind bekommen, dann werden<br />
wir – unter Aufbietung all unserer Möglichkeiten<br />
– alles versuchen, um ihm ein<br />
möglichst normales Leben zu ermöglichen.<br />
Auffällig aber war von Anfang an,<br />
dass unsere Tochter Naomi bei diesem<br />
Versuch nicht etwa mit uns an einem<br />
Strang zog, sondern sich von vornherein<br />
sehr entschieden fast jeder Frühförde-<br />
6 Leben mit <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> <strong>Nr</strong>. <strong>36</strong>, Jan. 2001<br />
rungsmaßnahme verweigerte. So brachte<br />
sie uns allmählich immer mehr auf jenen<br />
Stand zurück, der sowieso unserem<br />
Weltbild entspricht.<br />
Obwohl ein ausgesprochen friedfertiges<br />
Wesen, das kaum weinte und praktisch<br />
nie schrie, ließ sie keinen Zweifel<br />
an ihrer Abneigung gegen die allermeisten<br />
Therapeut(inn)en und überhaupt all<br />
jene, die sich ihr in pädagogischer Absicht<br />
näherten. Schon als Baby machte<br />
sie beim Betreten des Hauses der Krankengymnastin<br />
ein solches für sie völlig<br />
untypisches Theater, dass wir die Maßnahme<br />
immer wieder zurückstellten<br />
und dann an dieser Stelle aufgaben.<br />
Anfangs dachten wir, dass es vielleicht<br />
an dieser Therapeutin oder ihrer<br />
Methode läge, bis wir von Naomi sehr<br />
klar gezeigt bekamen, dass es eine<br />
grundsätzliche Sache war, die alle Therapeuten<br />
und Methoden einschloss. Die<br />
einzige Ausnahme bis heute sind Menschen,<br />
die Naomi ausgesprochen sympathisch<br />
sind. Dann nimmt sie deren<br />
Therapeutensein sozusagen in Kauf,<br />
geht hin und spielt auch mit, aber sicher<br />
nur so weit, wie es nicht als Einsteigen<br />
auf die jeweilige Therapie missverstanden<br />
werden könnte. Seit Jahren achtet<br />
sie etwa darauf, dass sie bei dem von ihr<br />
sehr geschätzten Logopäden nicht einmal<br />
zufällig eines ihrer wenigen Worte<br />
fallen lässt. Andererseits trinkt sie aber<br />
gerne mit ihm Tee und lässt sich von<br />
ihm „bespielen“.<br />
Vor Jahren hatten wir einmal die<br />
Idee einer Musik- bzw. Rhythmustherapie,<br />
weil Naomi schon früh eine Vorliebe<br />
für Tanzen und Singen zeigte. Wir luden<br />
eine Rhythmustherapeutin ein, mit<br />
uns für einige Wochen nach Afrika ins<br />
Land der Trommeln zu reisen, an einen<br />
Platz, den Naomi liebt, um dort gezielt<br />
mit ihr zu „arbeiten“. Das war noch in<br />
unserer naiven Phase, wo wir noch<br />
nicht wussten, dass sie nicht daran<br />
denkt zu arbeiten und schon gar nicht<br />
an ihrer Normalisierung. Sie ließ die<br />
sympathische Trommellehrerin also<br />
gänzlich unbeachtet in ihrer jeweiligen<br />
Stunde, fand es aber durchaus anregend,<br />
am Abend mit uns allen mitzusingen<br />
und zu trommeln. Sobald es aber<br />
um sie ging, schließlich war die Therapeutin<br />
flexibel genug, auch am Abend<br />
eine Therapieeinheit mit ihr zu machen,<br />
war es sofort wieder vorbei. Wir gaben<br />
schließlich auf, um ihr die Musik nicht<br />
zu verleiden, und machten gemeinsam<br />
Urlaub – ab diesem Moment war Naomi<br />
dann bei der Sache und hatte gar nichts<br />
mehr gegen die Musiktherapeutin. Sie<br />
hat auch nichts dagegen, im Mittelpunkt<br />
zu stehen, im Gegenteil, es darf nur keine<br />
therapeutischen und pädagogischen<br />
Formen annehmen.<br />
Naomi freut sich so lediglich auf eine<br />
einzige verbliebene Therapeutin,<br />
Frau Hoffmann, die sie nun schon über<br />
lange Zeit akzeptiert, einfach weil sie sie<br />
wohl für eine Freundin hält, die einmal<br />
die Woche kommt und immer wieder<br />
gute Spielideen mitbringt. Wenn es<br />
dann wieder reicht und anspruchsvollere<br />
Dinge auf dem Spielplan stehen,<br />
bringt sie aber auch Frau Hoffmann<br />
schon mal den Mantel als eindeutige<br />
Aufforderung, jetzt doch lieber zu gehen.<br />
Solch kompromisslose und manchmal<br />
auch kompromittierende Direktheit<br />
ist überhaupt eines ihrer „Markenzeichen“,<br />
und so kann sie auch schon einmal<br />
dem Chef eines größeren Verlages,<br />
kaum dass er sich nach mehrstündiger<br />
Reise bei uns auf dem Sofa niedergelassen<br />
hat, den Mantel mit eindeutigem<br />
Aufforderungscharakter bringen. Naomi<br />
weiß sehr genau, wen oder was sie<br />
nicht will. Und eigentlich ist ihr alles,<br />
was unsere Dreisamkeit arbeitsmäßig<br />
in Frage stellen könnte, suspekt.<br />
Nachdem wir, ihre Eltern, beide<br />
Therapeuten sind und mit vielen Möglichkeiten<br />
auch in alternativen Bereichen<br />
vertraut, hätte es so viele Ansätze<br />
gegeben, mit denen wir ihre Situation<br />
gern gebessert, erleichtert, gefördert,<br />
entwickelt hätten oder wie Therapeuten<br />
das eben so nennen. Allein, es kam nicht<br />
gut an, die besten und nettesten Cranio-