Otto Emersleben
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“Ach, wissen Sie, verehrte gnädige Frau”, entgegnete ich, “im Grunde sind das<br />
doch alles Stammesfehden. Serben, Montenegriner, Bosniaken, Albaner, Kreter,<br />
Mazedonier - alle wollen den Türken raus haben und gönnen einander dann keinen<br />
Fußbreit des verfügbar gewordenen Bodens. Daraufhin schreiten die Großmächte<br />
ein mit ihren eigenen, höchst egoistischen Ansprüchen. Nun wird geteilt, Grenzen<br />
werden verschoben, oft nur um wenige Kilometer. Die Bewohner der strittigen<br />
Streifen fragt niemand. Veilmehr veranstaltet man Konferenzen und, wenn deren<br />
Lösungen nicht befriedigen, neue Kriege. Es steht zu vermuten, daß dies noch eine<br />
Zeitlang so weitergeht. Da ist immer von Balkanisierung die Rede. Mir kommt es<br />
hingegen vor wie ein Streit um Indianerland.”<br />
“Aber ich bitte Sie! Immerhin hat sich das mit Rußland verbündete Serbien mit<br />
Bulgarien und Griechenland gegen die Türkei verständigt! Diese neue<br />
Blocksituation beunruhigt Sie nicht? Ich selbst finde nachts kaum noch Schlaf.<br />
Und Sie sagen: Stammesfehden!”<br />
“Man darf, denke ich, nicht immer nur die Symptome zu heilen suchen, sondern<br />
muß die Ursachen zu derlei Konflikten ein für allemal aus der Welt schaffen.”<br />
“Wie wollen Sie das denn erreichen?”<br />
“Sie, liebe Baronin, haben der Welt die ersten Grundgedanken zur Entwicklung des<br />
Edelmenschen geschenkt. Dort, denke ich, liegt der Ansatz.”<br />
“Aber Herr May! Ganz offensichtlich läuft das eben geschaffene Bündnis auf<br />
einen Krieg um neue Grenzziehungen auf Kosten des jetzigen Besitzstandes der<br />
Türkei hinaus, und---”<br />
“Also doch: Stammesfehden! Und zwar um Jagdgründe und Schürfrechte, ganz<br />
wie gehabt.”<br />
“Unsinn! Ein Krieg auf dem Balkan kann die Weltlage über Nacht aus den Angeln<br />
heben. Wir dürfen nicht nachlassen, dem dummen Waffenhoch!-Rummel hartnäckig<br />
unseren Ruf Die Waffen nieder! entgegenzuhalten.” In diesem Augenblick ging die<br />
Tür auf und eine streng in Schwarz gekleidete Dame betrat das Zimmer. Baronin<br />
von Suttner wandte sich sogleich lächelnd der Fremden zu.<br />
“Die Fürstin Kropotkin”, stellte sie mir die Unbekannte vor. “Eine liebe Freundin.<br />
Sie hat bei mir Schutz gesucht vor den Schergen des Zaren.” Die Damen flüsterten<br />
kurz miteinander, worauf sich die Fürstin wieder empfahl.<br />
”Bei uns in Österreich gibt es Kreise, die Serbien keinen Quadratmeter mehr an<br />
Land zugestehen wollen”, nahm die Baronin erneut unser Gespräch auf. “Ja, die<br />
am liebsten ein für allemal mit Serbien aufräumen möchten. Serbien muß sterbien,<br />
geifern sie unentwegt.”<br />
“Sie meinen den Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Umgebung?”<br />
“Gewiß. Aber auch andere Zirkel. Der Falken sind viele, nicht nur bei uns. Wenn<br />
Rußland sich hinter Serbien stellt - und mit Rußland ist schließlich Frankreich<br />
verbündet -, ist eine Konfrontation der Großmächte unvermeidbar. Denn dann<br />
wird sich Kaiser Wilhelm des großen Wortes von der Nibelungentreue entsinnen