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Kritik - Forschung & Lehre

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394 SPRACHE UND WISSENSCHAFT <strong>Forschung</strong> & <strong>Lehre</strong> 6|10<br />

uniformierten Figuren seines Dramas<br />

„Andorra“ (1961) den Phrasen eine<br />

Bühnengestalt zu geben. Diese „Schwarzen“,<br />

die das angeblich so friedliebende<br />

Nachbarvolk überfallen, sind nichts anderes<br />

als die Konfiguration andorranischer<br />

Sprachfloskeln, die Verkörperung<br />

des tödlichen ethnischen Vorurteils, das<br />

die Andorraner pflegen und das sie<br />

durch Toleranz-Heuchelei zu kaschieren<br />

suchen. Sie zwingen Andri, der kein Jude<br />

ist, den aber alle für einen Juden halten,<br />

mit den leeren Worthülsen ihres<br />

Verstehens und ihres angeblichen Mitgefühls<br />

in die Rolle des Außenseiters, des<br />

Verfolgten, des Opfers. Sprache also hat<br />

es immer mit Verantwortung zu tun, sie<br />

ist (auch bei stimmenlosen Menschen)<br />

vom Sein des Menschen nicht zu trennen.<br />

Der Mensch hat Verantwortung für<br />

das, was er benennt und wie er es benennt,<br />

er trägt Verantwortung auch dafür,<br />

was sein Sprechen bewirkt, was es<br />

versteckt oder enthüllt. Denn aus dem<br />

Wort entsteht Welt (zumindest die Welt<br />

des Menschen) und der Zustand der<br />

Sprache ist der Zustand des Menschen.<br />

Das gilt für die Menschheit als ganze,<br />

das gilt für ihre in Sprache und Kultur<br />

unterschiedenen Völker und Gesellschaften,<br />

das gilt für alle sozialen<br />

Schichten einer Gesellschaft und für alle<br />

Individuen.<br />

Wir wissen nicht, wann menschliche<br />

Sprache entstanden ist. Die Schätzungen<br />

für das Alter sprachlicher Verständigungsweisen<br />

des Menschen differieren<br />

zwischen zwei Millionen und<br />

50 000 Jahren, doch ob der Neandertaler<br />

vor etwa 160 000 Jahren, der mit<br />

dem homo sapiens sapiens verwandt<br />

war, ohne zu seinen unmittelbaren Vorfahren<br />

zu gehören, nicht doch sprechen<br />

konnte, ist inzwischen umstritten, nachdem<br />

man lange angenommen hatte, er<br />

habe über keine Möglichkeit zur<br />

sprachlichen Verständigung verfügt.<br />

Sollte er allerdings nicht nur seine Toten<br />

bestattet, sondern auch Schminkmittel<br />

verwendet, also einen Sinn für<br />

das Schöne entwickelt haben, stünde er<br />

dem homo sapiens näher als bisher vermutet<br />

wurde. Seine Spur jedenfalls verliert<br />

sich vor rund 30 000 Jahren. Vermutlich<br />

ist die Entstehung der Sprache<br />

beim homo sapiens sapiens (der Evolutionsbiologe<br />

Ernst Mayr spricht von<br />

„echter Sprache“) noch in die Lebenszeit<br />

des Neandertalers zu datieren. Vielleicht<br />

ist sogar die Entwicklung einer<br />

kommunikativen und informationsfähigen<br />

Sprache der entscheidende Evolutionsvorteil<br />

des homo sapiens sapiens ge-<br />

wesen? Das Dunkel der Urgeschichte<br />

und damit auch das der Entstehung differenzierter<br />

Sprachen ist wegen der wenigen<br />

Skelettfunde, auf die wir dabei<br />

angewiesen sind, besetzt mit Theorien<br />

und Spekulationen statt mit wissenschaftlichen<br />

Ergebnissen. Zu bedenken<br />

ist, dass die Hälfte aller Menschen, die<br />

»Geht einmal euern Phrasen<br />

nach, bis zu dem Punkte, wo<br />

sie verkörpert werden.«<br />

jemals auf der Erde gelebt haben, innerhalb<br />

der letzten zwei Jahrtausende lebten,<br />

und es an ein Wunder grenzt, dass<br />

die kleine Schar von vielleicht 2 600<br />

Menschen, in der wir vor rund 160 000<br />

Jahren die Anfänge des modernen Menschen<br />

zu fassen meinen (homo sapiens<br />

idaltu), Krankheiten, Feinde, Klima,<br />

Naturkatastrophen überlebt und sich<br />

über die ganze Erde hin ausgebreitet<br />

hat. Vielleicht gab es sogar eine gemeinsame<br />

menschliche Ursprache, aus der<br />

alle anderen Sprachen entstanden sind.<br />

Anthropologen und Ethnolinguisten jedenfalls<br />

beginnen wieder, an die „Sprache<br />

Adams“ zu glauben.<br />

Geschichte<br />

Wer das Dunkel der Spekulation und<br />

der Geschichtslegenden verlässt und<br />

sich auf festeren Grund begibt, ist auf<br />

das Jungpaläolithikum verwiesen, das<br />

heißt auf die jüngere Altsteinzeit, in<br />

Europa beginnend vor etwa 35 000 bis<br />

40 000 Jahren und endend mit dem<br />

Pleistozän, das heißt vor rund 10 000<br />

Jahren. Dort kann (nach Karl Josef<br />

Narr) vermutlich der Anfang von<br />

menschlicher Sprachlichkeit erfasst<br />

werden, weil ohne Sprache die Errungenschaften<br />

des Jungpaläolithikums,<br />

Werkzeuge, Höhlenmalerei, die Überwindung<br />

erheblicher Blindstrecken auf<br />

dem Meer, Großwildjagd mit entsprechenden<br />

Fernwaffen etc., nicht zu denken<br />

sind. Seit diesem Erdzeitalter begegnen<br />

wir einer kulturellen Entwicklungsbeschleunigung,<br />

die nicht mehr<br />

von körperlicher Evolution begleitet<br />

wird, das heißt von Skelettänderungen<br />

weitestgehend unabhängig ist. Wir haben<br />

demnach den kulturellen Wandel<br />

und seine Beschleunigung von der langsamer<br />

voranschreitenden, ihn unterlagernden<br />

biologischen Evolution zu unterscheiden.<br />

Durch die in jüngerer Zeit<br />

zahlreicher werdenden Gräberfunde<br />

sind Bestattungen und Bestattungsriten<br />

bezeugt. Sie verweisen darauf, dass die<br />

Reflexion des Sterbens und der Sterblichkeit<br />

zu den stammesgeschichtlichen<br />

(phylogenetischen) Kennzeichen des<br />

Menschen gehört. Aus ihr entstand der<br />

Sinn für das Schöne, weil die mächtig<br />

anschwellende Klage, welche die der<br />

Sprache nun mächtige Menschheit über<br />

Vergänglichkeit und Tod an-<br />

stimmt, dessen Ursprung ist.<br />

Schön ist das Schöne nur, indem<br />

es vergeht. „Nänie“ (das heißt<br />

Trauergesang) hat Friedrich Schiller<br />

ein dafür beispielhaftes Gedicht<br />

überschrieben, in dem die<br />

Meeresgöttin den Tod ihres Sohnes<br />

Achill in der Schlacht um Troja beklagt:<br />

„Nicht errettet den göttlichen Held die<br />

unsterbliche Mutter,<br />

Wann er, am skäischen Tor fallend,<br />

sein Schicksal erfüllt.<br />

Aber sie steigt aus dem Meer mit allen<br />

Töchtern des Nereus,<br />

Und die Klage hebt an um den verherrlichten<br />

Sohn.<br />

Siehe! Da weinen die Götter, es weinen<br />

die Göttinnen alle,<br />

Dass das Schöne vergeht, dass das<br />

Vollkommene stirbt.<br />

Auch ein Klaglied zu sein im Mund der<br />

Geliebten ist herrlich,<br />

Denn das Gemeine geht klanglos<br />

zum Orkus hinab.“<br />

Reiner Kunze hat auf das gleiche<br />

Thema des Menschseins durch die Klage<br />

um den Verlust des Schönen nur<br />

zwei kurze Sätze, vier haikuartige Zeilen<br />

verwendet:<br />

„Wesen bis du unter wesen<br />

Nur daß du hängst am schönen<br />

und weißt, du mußt<br />

davon“.<br />

Die Auseinandersetzung, die Karl<br />

Kraus mit dem Nationalsozialismus, in<br />

der „Dritte Walpurgisnacht“ überschriebenen<br />

Polemik führte, ist demnach<br />

nicht zufällig um den Gegensatz zwischen<br />

dem vorsprachlichen und dem<br />

sprachlichen Zustand des Menschen<br />

konzentriert. Kraus hat die Nationalsozialisten<br />

als Troglodyten bezeichnet, das<br />

heißt als steinzeitliche Höhlenbewohner.<br />

Sie hätten jene Höhle bezogen, als<br />

welche die Flut des Geschwätzes die<br />

Phantasie des Menschen hinterlassen<br />

hat. Das ist eine psychoanalytische Auslegung<br />

dessen, was die Anhänger des<br />

Nationalsozialismus an ihrer Ideologie,<br />

die nichts ist als ein bloßes Konglome-

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