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Kritik - Forschung & Lehre

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6|10 <strong>Forschung</strong> & <strong>Lehre</strong> SPRACHE UND WISSENSCHAFT 393<br />

chen Sprache zu trennender Bereich.<br />

Tierlaute, auch wenn sie uns (etwa bei<br />

Haustieren, mit denen wir lange zusammenleben)<br />

noch so vertraut erscheinen,<br />

sind keine Vorläufer von menschlicher<br />

Sprache. Sie entsprechen menschlichen<br />

Affektlauten (oder besser: menschliche<br />

Affektlaute entsprechen denen des Tieres).<br />

So ist auch die Mimik etwa der<br />

großen Menschenaffen dem Mienenspiel<br />

des Menschen erstaunlich ähnlich.<br />

Wir blicken fasziniert in die Gesichter<br />

dieser Tiere wie in einen Spiegel. Aber<br />

nicht weil sie Bewusstsein hätten, sondern<br />

weil wir von gemeinsamen Vorfahren<br />

vor Millionen von Jahren eine ge-<br />

meinsame Mimik geerbt haben. Dort,<br />

wo menschliches Sprechen einsetzt, wo<br />

nicht nur Affektlaute erscheinen, kann<br />

Mimik und Gestik auch sehr bewusst<br />

(also linksseitig) verwendet werden.<br />

Und jeder Schauspieler, jede Schauspielerin<br />

weiß ein Lied davon zu singen,<br />

was es bedeutet, gegen die eigene Mimik<br />

und Gestik die einer anderen Person<br />

einzuüben.<br />

Aus der Beobachtung blinder Menschen<br />

wurde geschlossen, dass es im<br />

Gestenrepertoire des Menschen nur geringe<br />

sprach- und kulturgebundene Anteile<br />

gibt. Solche Gesten sind meist ritueller<br />

Natur, zum Beispiel unterschiedliche<br />

Grußformen, die Fixierung unterschiedlicher<br />

Schamzonen oder kulturell<br />

differierende Sympathiebezeugungen.<br />

Der Großteil seines Gestenrepertoires<br />

aber ist dem Menschen angeboren. Johannes<br />

Dichgans sagt, es sei „transkulturell<br />

identisch, nicht erlernt und daher<br />

auch bei Blinden vorhanden“. Die Gestensprache<br />

der Taubstummen wurde<br />

aus der stammesgeschichtlichen und<br />

der funktionellen Nähe von Gestik und<br />

Sprache entwickelt, wobei interessant<br />

ist, dass taubstumme Menschen für ihre<br />

systematisch erlernte und geübte Gestensprache<br />

eine Dominanz in der linken<br />

Gehirnhälfte entwickeln.<br />

Vorgeschichte<br />

Diese wenigen Schlaglichter auf neurobiologische<br />

Aspekte der menschlichen<br />

Kommunikation sollten darauf verweisen,<br />

dass die aristotelische Formel vom<br />

Menschen als dem „Sprachtier“ evolutionstheoretisch<br />

und evolutionsgeschichtlich<br />

einige Plausibilität hat. Wir<br />

wissen nur ungefähr, „wann im Hominidenstamm<br />

das Leben menschlich wurde“<br />

(K. J. Narr), aber die Sprache ist da-<br />

für ein guter Indikator. Sie hat zur<br />

Menschwerdung des Menschen entschieden<br />

beigetragen. „Die Etablierung<br />

des menschlichen Bewusstseins ausfindig<br />

zu machen“, sagt George Steiner in<br />

Foto: picture-alliance<br />

»Wir blicken fasziniert in die<br />

Gesichter dieser Tiere wie in<br />

einen Spiegel.«<br />

der „Grammatik der Schöpfung“<br />

(2001), „heißt die Geburt der Sprache<br />

zu erkunden.“ Ohne ein Du nämlich<br />

wird das Ich sich seiner selbst nicht bewusst.<br />

Subjektivität und damit ein Bewusstsein<br />

von uns selbst, so ist in einem<br />

Aufsatz von Simone Schütz-Bosbach zu<br />

lesen, entstehe durch „soziale Spiegel“.<br />

Wir erleben uns „Nicht (nur) als Selbst<br />

durch uns selbst, sondern (auch) durch<br />

die Erfahrung mit anderen, im Sinne einer<br />

körperlichen Resonanz. Eine Vielzahl<br />

von Studien belegt, dass wir offenbar<br />

beobachtete Handlungen anderer<br />

unter Rückgriff auf unser motorisches<br />

System und unsere motorischen Fähigkeiten<br />

mental simulieren“. Auf die Frage,<br />

ob das Selbstbewusstsein (im Sinne<br />

von Bewusstsein meiner selbst) demnach<br />

stärker „ein Konstrukt subjektiver<br />

oder inter-subjektiver Erfahrung“ ist,<br />

gibt es noch keine schlüssige Antwort;<br />

vermutlich sind beide Erfahrungen notwendig<br />

daran beteiligt. Jedenfalls geschieht<br />

diese Konstruktion teilweise<br />

durch Sprache, nicht vor allem durch<br />

Sprache und sprachlich geformtes Denken,<br />

aber doch auch durch Sprache.<br />

Wir erschließen uns die Welt durch<br />

Wort und Sprache, doch wir bemächtigen<br />

uns ihrer dabei distanziert und „dezent“<br />

oder besser: wir schaffen Welt<br />

durch Sprache, weil das Zeichen und<br />

das Bezeichnete nie in eins fallen. Dort<br />

also, wo Sprache reduziert wird auf Affektlaute,<br />

Befehle und Flüche, aber<br />

auch dort, wo sie im Schwall des Geschwätzes<br />

erstickt, entschwindet das<br />

Humanum, in archaischen Zeiten ebenso<br />

wie in der Moderne.<br />

Die sprachkritischen Dichter der<br />

Moderne haben dies früh erkannt. Das<br />

berühmte Wort des österreichischen Satirikers<br />

Karl Kraus (1933), dass die nationalsozialistische<br />

Diktatur alles beherrsche<br />

„außer der Sprache“, wurzelt in<br />

diesem Wissen. Als das Urbild der <strong>Kritik</strong><br />

politischer Phraseologie gilt dabei Georg<br />

Büchners Drama „Dantons Tod“ (1835),<br />

in dem es heißt: „Geht einmal euern<br />

Phrasen nach, bis zu dem Punkte, wo sie<br />

verkörpert werden. Blickt um<br />

euch, das Alles habt ihr gesprochen,<br />

es ist eine mimische<br />

Übersetzung eurer Worte.“<br />

Nicht zufällig beziehen sich die<br />

Sprachskeptiker des 20. Jahrhunderts<br />

häufig auf dieses klassisch<br />

gewordene Wort des jung gestorbenen<br />

Dramatikers. Der Schweizer Romancier<br />

und Dramatiker Max Frisch hat<br />

sogar versucht, in den stumm ihren Mörderdienst<br />

verrichtenden und schwarz

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