[erscheint in: Poesie intermedial - Anselmo Fox
[erscheint in: Poesie intermedial - Anselmo Fox
[erscheint in: Poesie intermedial - Anselmo Fox
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
[<strong>ersche<strong>in</strong>t</strong> <strong>in</strong>: <strong>Poesie</strong> <strong>in</strong>termedial. Hg. von Jeanette Fabian. Frankfurt/M. 2009]<br />
Mirjam Goller – 1<br />
Verdichtung.<br />
Wie <strong>in</strong> der Kunst des Bildhauers <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong> das Poetische gedreht,<br />
gewendet und zugespitzt wird<br />
Mirjam Goller (Berl<strong>in</strong>)<br />
In den harten Stoff gegraben, ziehen die Rillen, Falten und<br />
Streifen dah<strong>in</strong> und behaupten sich, während, auf die<br />
Mutterflächen gereiht, die Vorsprünge, Dornen und Buckel sich<br />
stufen, e<strong>in</strong>ander W<strong>in</strong>dung für W<strong>in</strong>dung entsprechen und die<br />
umlaufenden Rampen <strong>in</strong> gleichen Abständen zerteilen. Der<br />
Wechsel dieser „Verzierungen“ verwischt nicht den steten<br />
Ablauf der Hauptwendung der Form, sondern veranschaulicht<br />
ihn. Die wechselnde Anmut verdirbt nicht, sondern bereichert<br />
das Grundmotiv der sich voranschraubenden Spirale.<br />
Paul Valéry: Der Mensch und die Muschel 1<br />
Die Frage nach der <strong>Poesie</strong> und dem Poetischen, die dem vorliegenden Band zu Grunde liegt,<br />
birgt jenseits e<strong>in</strong>er geradezu ontologischen Frage, was denn das Poetische eigentlich sei, auch<br />
die nach se<strong>in</strong>em aktuellen Status. Die wohl abgeschlossene Epoche der Postmoderne def<strong>in</strong>iert<br />
sich schlagwortartig über das Lyotardsche Zitat des Endes der großen Erzählungen und durch<br />
e<strong>in</strong> ästhetisch vorgeführtes Nichterzählen, durch e<strong>in</strong>e Ästhetik des Hässlichen und durch den<br />
'Tod des Autors' als schöpferischer Instanz. Die drei genannten Aspekte s<strong>in</strong>d – <strong>in</strong> ihrer<br />
positiven Wendung – sämtlich dem vagen Begriff des Poetischen zugehörig: Die Poiesis <strong>in</strong><br />
der aristotelischen Begriffsverwendung zielt ab auf e<strong>in</strong> Ergebnis orientiertes Schaffen. Sie ist<br />
damit ke<strong>in</strong>eswegs auf die Gattung Literatur bzw. Kunst allgeme<strong>in</strong> orientiert, wie es erst für<br />
die Moderne charakteristisch ist. E<strong>in</strong>e Befragung anderer Kunstgattungen bietet sich an.<br />
In se<strong>in</strong>er ungeklärten Verwandtschaft zur Kategorie des Ästhetischen s<strong>in</strong>d dem Poetischen<br />
auch Aspekte des Schönen, des Erhabenen, möglicherweise des Unheimlichen eigen. Und<br />
schließlich wird – als für die Moderne typische Deutung – der Begriff des Poetischen vor<br />
allem für die Gattung Lyrik e<strong>in</strong>gesetzt, die eben nicht erzählt. 2 Die Frage nach dem<br />
Poetischen stellt damit die Frage nach dem Standort Lyrik – am Ende e<strong>in</strong>er Epoche, die zwar<br />
1 Paul Valéry, "Der Mensch und die Muschel", <strong>in</strong> : ders. : Werke. Band 4: Zur Philosophie und<br />
Wissenschaft, hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt. Frankfurt 1989, 156-180, hier 158 [Hervorhebung orig<strong>in</strong>al].
Mirjam Goller – 2<br />
explizit nicht erzählt, sich aber gerade diesem Nicht-Erzählen <strong>in</strong> der Gattung Prosa widmet,<br />
und eben nicht <strong>in</strong> der Lyrik – als Existenzfrage, aber auch nach deren Erneuerung.<br />
Möglicherweise bietet sich der Begriff des Poetischen aber für jede Frage der Erneuerung im<br />
ästhetischen Bereich besonders an und betrifft damit jede Kunstgattung.<br />
Im folgenden geht es um den Versuch e<strong>in</strong>er Begriffsbestimmung e<strong>in</strong>es neuen Poetischen (der<br />
natürlich vorläufig bleiben muss). Dies erfolgt <strong>in</strong> Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Arbeiten des<br />
Schweizer Bildhauers <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong>, 3 der, ohne den Begriff des Poetischen verbal selbst zu<br />
formulieren, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en jüngeren Arbeiten e<strong>in</strong>e Version des Poetischen und Ästhetischen<br />
entwirft, die brisant se<strong>in</strong> könnte für die zeitgenössische Diskussion um das Poetische.<br />
<strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong> wurde bereits an anderer Stelle <strong>in</strong> den Kontext e<strong>in</strong>er neuen Ästhetik<br />
e<strong>in</strong>geordnet. 4<br />
Der Entwurf, den <strong>Fox</strong> selbst vorlegt, ist nicht nur e<strong>in</strong>e Motivation, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Text über das<br />
neue Poetische die <strong>in</strong>zwischen angestammte Gattung des Poetischen, die Literatur, zu<br />
verlassen, sondern bietet aus dem Bereich des Skulpturalen und Plastischen e<strong>in</strong>e Erneuerung<br />
des Begriffs an.<br />
Es muss gerade bei der Frage nach e<strong>in</strong>em neuen Poetischen auch nach anderen<br />
Kunstgattungen gefragt werden, die, gerade <strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit außerliterarischen<br />
Diskursen und der Kategorie des Aisthetischen, andere sensorische Modelle anbieten.<br />
Die prom<strong>in</strong>ente Bestimmung, die Roman Jakobson <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Kommunikationsmodell<br />
vornimmt und die die poetische Funktion der Sprache def<strong>in</strong>iert als die Fokussierung e<strong>in</strong>er<br />
Äußerung auf die Botschaft selbst (und eben nicht auf referentiell auf den Kontext, expressiv<br />
auf den Sender, konativ auf den Empfänger, phatisch auf den Informationskanal oder<br />
metal<strong>in</strong>guistisch auf den Code), muss damit angesichts der Fragestellung <strong>Poesie</strong> <strong>in</strong>termedial<br />
als schematisch zurücktreten:<br />
Denn es stellt sich die Frage, <strong>in</strong>wiefern sich e<strong>in</strong>e zeitgenössische Def<strong>in</strong>ition des Poetischen<br />
wie des Ästhetischen dabei e<strong>in</strong>er Interpretation oder Diskursanalyse entzieht, wie sie aktuell<br />
durch den kulturwissenschaftlichen E<strong>in</strong>fluss auf die Literatur- und Kunstwissenschaften<br />
durchaus üblich <strong>ersche<strong>in</strong>t</strong>, oder diese gerade aufnimmt und sich damit verb<strong>in</strong>det. E<strong>in</strong><br />
zeitgenössisches Poetisches macht möglicherweise gerade jene z.B. durch Diskursanalyse<br />
2<br />
Die Verwendungen der Begriffe Lyrik und <strong>Poesie</strong> unterscheiden sich von Sprache zu Sprache. Die<br />
slawischen Sprachen setzen die <strong>Poesie</strong> als Gattungsbegriff, ebenso das Englische und Französische, das<br />
Deutsche verwendet dafür den Begriff der Lyrik .<br />
3<br />
Farbansichten der hier vorgestellten Arbeiten von <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong> und weitere Informationen zu <strong>Anselmo</strong><br />
<strong>Fox</strong>, <strong>in</strong>: www.anselmofox.eu.<br />
4<br />
Hartmut Böhme, "Erkundungen der Mundhöhle – Zur Kunst von <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong>", <strong>in</strong>: Neue Ästhetik. Das<br />
Atmosphärische und die Kunst. Festschrift für Gernot Böhme., hg. v. Ziad Mahayni, München 2002, 15-33,<br />
auch <strong>in</strong>: http://www.culture.hu-berl<strong>in</strong>.de/hb/static/archiv/volltexte/pdf/Mundhoehle.pdf vgl. hierzu Thomas
Mirjam Goller – 3<br />
auff<strong>in</strong>dbare Intertextualität und E<strong>in</strong>flussgeschichte außerästhetischer Diskurse, die häufig als<br />
Grenzmarkierung zwischen Literatur- und Kulturwissenschaft formuliert wird und als<br />
Standortbestimmung gilt, als solche unbrauchbar. Und e<strong>in</strong> zeitgenössisches Poetisches macht<br />
möglicherweise jene strenge Beschränkung auf e<strong>in</strong>en formalen literatur- und kunst<strong>in</strong>ternen<br />
Diskurs und dessen Erneuerung obsolet. Wenn hier Arbeiten aus der bildenden Kunst<br />
herangezogen werden, dann deshalb, weil gerade <strong>in</strong> diesen Arbeiten der Begriff des<br />
Poetischen auf e<strong>in</strong>e neue Weise verhandelt wird.<br />
Die Herkunft der hier verhandelten ästhetischen Arbeiten aus der bildenden Kunst ist also<br />
weniger e<strong>in</strong>er Verortung e<strong>in</strong>es <strong>in</strong> der Literatur etablierten Themas <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen<br />
Kunstgattung geschuldet, sondern dem Beitrag dieser Arbeiten zu e<strong>in</strong>er übergreifenden Frage:<br />
Was hier herausgearbeitet wird, kann auch für die Literaturwissenschaft von Belang se<strong>in</strong>, wie<br />
für jede Wissenschaft, die sich mit Ästhetischem – und künftig wohl auch wieder Poetischem<br />
– ause<strong>in</strong>andersetzt. Das zeigt sich – spielerisch und als produktiver Nebeneffekt – schon <strong>in</strong><br />
der Wahl des Materials der Skulpturen und Plastiken: <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong> arbeitet mit Schnecken<br />
und Schneckenhäusern. 5<br />
Form der Schnecke: Spirale, W<strong>in</strong>dung, Wendung, Vers, Imag<strong>in</strong>ation<br />
Schnecke und Schneckenhaus weisen e<strong>in</strong>e eigene Kulturgeschichte der ästhetischen<br />
Inspiration auf. Sie stehen seit der Antike allegorisch für ästhetische Produktion, und ihre<br />
Mythologie zeugt von e<strong>in</strong>er Ätiologie e<strong>in</strong>es Entstehungsprozesses. 6 Die Geburt der Venus aus<br />
e<strong>in</strong>er Muschelschale oder e<strong>in</strong>em Schneckenhaus ist gleichzeitig Geburtstunde e<strong>in</strong>er<br />
Jahrhunderte überdauernden Tradition von symbolischen Akten und Formen, die die<br />
Entstehung von Kunst zum Thema hat.<br />
In heidnischen wie christlichen Mythologien tritt die Schnecke als Wiedergeburts- und<br />
Auferstehungssymbol auf, bis <strong>in</strong>s Mittelalter h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> als geradezu maternitäre Form der<br />
Imag<strong>in</strong>ation, wie Gaston Bachelard im Kapitel Die Muschel <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Poetik des Raumes<br />
ausweist. 7 Offenbar beziehen sich die zahlreichen Schneckenabbildungen auf<br />
mittelalterlichen Marienbildern auf e<strong>in</strong>en auf Aristoteles zurückgehenden Volksglauben, dass<br />
Macho,"von <strong>in</strong>nen (für <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong>). Text zur Ausstellung im Künstlerhaus Bethanien Berl<strong>in</strong>", Berl<strong>in</strong> 2001, <strong>in</strong>:<br />
www.anselmofox.eu .<br />
5 Hier erübrigt sich die <strong>in</strong> der Kunstgeschichte etablierte Trennung zwischen Skulptur und Plastik bzw.<br />
die beiden Begriffe lassen sich nicht trennscharf anwenden: Plastik als etwas konvex Aufgebautes, Skulptur als<br />
etwas konkav Herausgehöhltes bleiben angesichts der Schnecken und Schneckenhäuser begrifflich unscharf.<br />
6 Vgl. hierzu grundlegend Jurgis Baltrušaitis, Das phantastische Mittelalter. Antike und exotische<br />
Elemente der Kunst der Gotik,. Berl<strong>in</strong> 1997 [dt. 1985], v.a. Kap. II "Wunderlichkeiten von antiken Siegeln und<br />
Münzen", 75-88.<br />
7 Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, Frankfurt/M. 1997, hier bes. Kap. "Die Muschel", 117-143.
Mirjam Goller – 4<br />
die Schnecke ohne Zeugung aus Lehm entstehe. 8 Der Sprung zur Jungfrauengeburt ist nicht<br />
weit, ebenso nah liegt aber die Metaphorisierung als maternitäre Form und Symbol der<br />
Autopoiesis. Die Schnecke – oder <strong>in</strong> manchen Texten, vor allem französischer Provenienz,<br />
auch Muschel 9 – ist als Gegenstand und auch als Metafigur kulturellen Denkens nicht neu.<br />
Auch aus der römischen Antike s<strong>in</strong>d Schriften bekannt, die sich u.a. mit der Schnecke<br />
beschäftigen und dabei die Eigenart dieser Tiere hervorheben, e<strong>in</strong> Haus zu bewohnen, das sie<br />
selbst erzeugen, e<strong>in</strong>e Spur zu h<strong>in</strong>terlassen, auch an vertikal aufragenden Gegenständen zu<br />
haften und damit ke<strong>in</strong>eswegs an den Boden gebunden zu se<strong>in</strong>. 10<br />
Die Schnecke spielt als Metafigur der abendländischen Kulturgeschichte im folgenden e<strong>in</strong>e<br />
doppelte Rolle: als Gegenstand zahlreicher Arbeiten von <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong>, mit denen er auch die<br />
Kunst und ihre Geschichte umspielt, und als Figur e<strong>in</strong>er Theorie des Poetischen. Diese<br />
Wendung ist – gerade im H<strong>in</strong>blick auf die Prom<strong>in</strong>enz der Schnecke als mäeutische und<br />
maternitäre Urform und als Metafigur – natürlich nicht neu. Gerade diese Position <strong>in</strong> der<br />
abendländischen Kulturgeschichte macht sie aber wiederum geeignet für e<strong>in</strong>e Figur der<br />
Theoriebildung, die Phänomene und Entwicklungen beschreibbar macht, die weder geradl<strong>in</strong>ig<br />
verlaufen noch zyklisch, sondern e<strong>in</strong>e Bewegung der sich zuspitzenden Wendung vollziehen,<br />
ohne dabei e<strong>in</strong>e Fortsetzung der Entwicklung auszuschließen. Die Zuspitzung kann immer<br />
weiter vorangetrieben werden. Dies ist e<strong>in</strong>e geradezu biologische Perspektive, die entworfen<br />
wird. Und <strong>in</strong> der Tat ist es so, dass angesichts der Vermischung und Nivellierung von<br />
Ästhetiken und auch Wissen, die mit der Postmoderne e<strong>in</strong>hergegangen s<strong>in</strong>d, auch im<br />
Zusammenhang mit dem Poetischen Diskurse befragt werden müssen, die auf den ersten<br />
Blick außerhalb dieses spätestens seit Jakobson als re<strong>in</strong> selbstrefentiell verstandenen Sphäre<br />
stehen.<br />
E<strong>in</strong> Schneckenhaus ist spiralförmig gewunden. Die Reihe "Spirale, W<strong>in</strong>dung, (sprachliche)<br />
Wendung, Vers" ist kaum zufällig. 11 Das Schneckenhaus ist Bild gebend für jene sprachliche<br />
Form, die als kunstvoll und ästhetisch gilt: gebundene Rede, Dichtung, <strong>Poesie</strong>. Dabei ist die<br />
W<strong>in</strong>dung des Schneckenhauses nicht nur metaphorisch zu sehen für den sprachlichen Vers.<br />
Wie im oben angeführten Zitat des Dichters Paul Valéry; <strong>in</strong>spiriert die immer neu und anders<br />
gestaltete W<strong>in</strong>dung des Schneckenhauses zu sprachlicher Formgebung, die additiv oder<br />
8<br />
Ulla-B. Kuechen, "Wechselbeziehungen zwischen allegorischer Naturdeutung und der naturkundlichen<br />
Kenntnis von Muschel, Schnecke und Nautilus", <strong>in</strong>: Formen und Funktionen der Allegorie., hg. v. Walter Haug,<br />
Stuttgart 1979, 478-514, hier 479.<br />
9<br />
Das französische Wort coquille bezeichnet alle Weichtiere, die sich mit e<strong>in</strong>er Schale umgeben<br />
(Konchylien), also Muscheln und auch Schnecken.<br />
10<br />
Vgl. u.a. C. Pl<strong>in</strong>ius secundus d.Ä., Naturkunde. Late<strong>in</strong>isch-deutsch. Buch VIII. Zoologie: Landtiere,.<br />
Kempten 1976, 105.<br />
11<br />
Vgl. zu e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die kulturelle Symbolik der Spiralform Ingrid Riedel, Kreis, Kreuz,<br />
Dreieck, Quadrat, Spirale, Stuttgart 1985, bes. 113-146.
Mirjam Goller – 5<br />
kumulativ auf e<strong>in</strong>e Spitze (Akme) zuläuft. Auch hier ist sie maternitäre Urform. Paul Valéry<br />
und auch Gaston Bachelard verweisen <strong>in</strong> ihren Schriften zur Kunst und zur Poetik des<br />
Raumes darauf, dass Spirale und Schneckenhaus nicht nur als poetologische Beschreibung<br />
e<strong>in</strong>gesetzt werden kann, sondern vor allem als poietische und autopoietische. Nicht<br />
nachträglich, sondern vorgängig.<br />
Der litauische Kunsthistoriker Jurgis Baltrušaitis verweist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch Das phantastische<br />
Mittelalter 12 auf zahlreiche antike Gemmen, auf denen Tiere, Säugetiere, abgebildet s<strong>in</strong>d, die<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schneckenhaus stecken oder aus e<strong>in</strong>em solchen hervorkriechen. 13<br />
Abb. 1: Baltrušaitis: Antike 14<br />
Im Mittelalter werden diese Darstellungen um die Hervorbr<strong>in</strong>gung menschlicher Gestalten<br />
erweitert:<br />
12<br />
Jurgis Baltrušaitis, Das phantastische Mittelalter. Antike und exotische Elemente der Kunst der Gotik,<br />
Berl<strong>in</strong> 1997 [dt. 1985].<br />
13<br />
Baltrušaitis, Das phantastische Mittelalter, 75.<br />
14<br />
Baltrušaitis, Antike Darstellungen von aus Schneckenhäusern schlüpfenden Tieren, <strong>in</strong>: ders.: Das<br />
phantastische Mittelalter, 76.
Abb. 2: Baltrušaitis: Mittelalter 15<br />
Mirjam Goller – 6<br />
Auch <strong>in</strong> den Wissenschaften spielen Schnecke und Schneckenhaus e<strong>in</strong>e Rolle. Das Bildliche<br />
und das Maß s<strong>in</strong>d dabei konkret. Es s<strong>in</strong>d die ans Visuelle gebundenen Ästhetiken und<br />
Wissenschaften, die sich auf die Schnecke als Form und Formel berufen. Es geht dabei stets<br />
um Sichtbarmachung oder wenigstens um Sichtbarkeit von etwas bereits Bestehendem. E<strong>in</strong>e<br />
abstrahierende Wendung der Interpretation der Schneckenhausspirale zur sprachlichen<br />
Wendung und zum lyrischen Vers ist als theoretisches Beschreibungsmodell deutlicher<br />
weniger präsent. 16 Dass heißt, Schnecke bzw. Schneckenhaus werden hier vor allem als<br />
Modell und Beschreibungsformel für beobachtete Phänomene e<strong>in</strong>gesetzt, dies aber nur im<br />
15<br />
Baltrušaitis, Gotische Darstellungen von aus Schneckenhäusern schlüpfenden Menschen und Tieren, <strong>in</strong>:<br />
ders. : Das phantastische Mittelalter, 80.
Mirjam Goller – 7<br />
Zusammenhang mit empirisch-naturwissenschaftlichen oder mathematischen Phänomenen. In<br />
der Mathematik spielt sie als natürliche Anschauung e<strong>in</strong>er Spiralform e<strong>in</strong>e Rolle, wie z.B.<br />
Albrecht Dürer sie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Unterweysung zur Messung 17 untersucht hat.<br />
Wie der Begriff des Poetischen Bestandteil aller Künste se<strong>in</strong> kann, besiedelt die Schnecke<br />
diverse Diskurse.<br />
Es geht im folgenden um e<strong>in</strong>e aktuelle Denkversion des Poetischen, das hier an der Bildenden<br />
Kunst gezeigt wird und das aber weniger gattungsspezifisch als epochenspezifisch zu<br />
verstehen ist. Die Arbeiten, um die es hier geht, könnten und können zu ke<strong>in</strong>em anderen<br />
Zeitpunkt als dem gegenwärtigen entstanden se<strong>in</strong>, setzen sie doch ästhetiktheoretisches,<br />
kunsthistorisches und kulturwissenschaftliches Wissen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kulm<strong>in</strong>ierenden Wendung<br />
voraus. 18 In den angesprochenen Bereichen – Ästhetik, Kunst- und Baugeschichte und<br />
Kulturwissenschaft, <strong>in</strong> Anklängen auch Zoologie – s<strong>in</strong>d bereits Bereiche angesprochen, die<br />
auf e<strong>in</strong>e diskursive Sammlung schließen lassen. Die Sammlung – oder eben Verdichtung, um<br />
die räumliche Vorstellung von 'Viel an e<strong>in</strong>em Ort' <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Wort zu fassen – von diversem<br />
Wissen spielt im folgenden noch e<strong>in</strong>e Rolle.<br />
In <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong>' Arbeiten bündelt sich Vergangenes, türmt sich zu Gegenwärtigem und wird<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er überraschenden Wendung zu e<strong>in</strong>er neuen Spitze getrieben.<br />
Ort der Schnecke: Schädel, Schiff, Kern, Knochen, Kalk<br />
Schnecken wären wohl auch für Michel Foucault 'Imag<strong>in</strong>ationsarsenale', Heterotope, als deren<br />
eigentliche Form er Schiffe bezeichnet, Orte ohne Orte bzw. Orte ohne Anb<strong>in</strong>dung, aus deren<br />
paradoxer Verb<strong>in</strong>dung von Geschlossenheit und Bewegung Imag<strong>in</strong>ation entsteht. 19 Und damit<br />
ist Jurgis Baltrušaitis recht gegeben, der die phantastischen Schiffe auf mittelalterlichen<br />
Gemälden als Fortsetzung der antiken Schneckenmetaphorik sieht. 20 Anders als all jene, die<br />
sich vor allem mit der Wendelung und Spiralform und der hervorbr<strong>in</strong>genden Öffnung des<br />
Schneckenhauses beschäftigten, tritt bei Foucault die Bewegung h<strong>in</strong>zu, die den euklidischen<br />
16 Die metaphorische Verwendung der Spirale durch Jacques Lacan <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er psychoanalytischen<br />
Transformation von Freuds Verdichtung gehört ebenfalls <strong>in</strong> den Kanon der visuellen und wissenschaftlichen<br />
Beschreibungen.<br />
17 Albrecht Dürer, Unterweysung der Messung. Um e<strong>in</strong>iges gekürzt und neuerem Sprachgebrauch<br />
angepasst, herausgegeben sowie mit e<strong>in</strong>em Nachwort versehen von Alfred Pelzer, München 1908.<br />
18 Inwiefern sich das Poetische vom Ästhetischen als Qualität und Eigenart von Kunst unterscheidet,<br />
bleibt als Frage im folgenden durchaus präsent, tritt aber h<strong>in</strong>ter die Frage nach dem neuen Poetischen als<br />
spezifische Eigenart der Gegenwart(skunst) und vor allem der Kunst von <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong> zurück.<br />
19 Michel Foucault, "Andere Räume", <strong>in</strong>: Aisthesis. Wahrnehmung oder Perspektiven e<strong>in</strong>er anderen<br />
Ästhetik, hg. v. Karlhe<strong>in</strong>z Barck. u.a., Leipzig 1990, 34-46<br />
20 Baltrušaitis, Das phantastische Mittelalter, 85-89.
Mirjam Goller – 8<br />
Raum auflöst, der unser Raumdenken immer noch kategorial bestimmt. Die Schnecke gerät<br />
explizit <strong>in</strong> Bewegung.<br />
Diese Verb<strong>in</strong>dung aus Stationärem und Flexiblem wiederum beschäftigt auch den<br />
Kunstphilosophen Georges Didi-Huberman, sogar <strong>in</strong> direktem Zusammenhang mit dem<br />
Phänomen der Schnecke. Er widmet ihr mit Schnecke se<strong>in</strong> e<strong>in</strong> eigenes Kapitel se<strong>in</strong>es Buches<br />
Schädel se<strong>in</strong> 21 Zwar geht es Didi-Huberman <strong>in</strong> Anlehnung an Dürers Unterweysung<br />
wiederum vor allem um das Schneckenhaus und dessen bildnerische Grundlegung für e<strong>in</strong>e<br />
Zeichnung des menschlichen Schädels, er betrachtet den Schädel aber als e<strong>in</strong>e<br />
Durchgangsstelle für jedwede Imag<strong>in</strong>ation und Bildwerdung überhaupt. Schnecke und<br />
Schädel s<strong>in</strong>d sich ähnlich bzw. das Schneckenhaus dient zur zeichnerischen<br />
Kenntlichmachung der Eigenart e<strong>in</strong>es menschlichen Schädels, und aus oder <strong>in</strong> beiden entsteht<br />
Imag<strong>in</strong>ation. Bzw. der Schädel ist Durchgangsstelle von Imag<strong>in</strong>ation. Ihm liegt, wie Didi-<br />
Huberman an Dürers Text und Zeichnung aufzeigt, als Grundriss e<strong>in</strong>e – sich letztlich als<br />
anthropomorph im eigentlichen S<strong>in</strong>ne erweisende – Spirale zugrunde. Der Schädel zeichnet<br />
die Spiralform nach oder entsteht auf und aus e<strong>in</strong>er Spiralform. Diese ist aber nicht nur<br />
Grundriss, sondern gleichzeitig auch Vorschrift und Abbild dessen, was im Schädel vor sich<br />
geht: Denken und Imag<strong>in</strong>ation. Die Form kann nicht aus sich heraus.<br />
Didi-Huberman begnügt sich nicht mit der Schnecke als Anschauungsobjekt und<br />
Beschreibungsoption für kreative Prozesse. Er versetzt die Schnecke an jenen Ort, an dem und<br />
durch den Denken und Imag<strong>in</strong>ation stattf<strong>in</strong>den: <strong>in</strong>s menschliche Zentrum. Die Schnecke der<br />
Schädelbasis ist bei Didi-Huberman (wie <strong>in</strong> der griechischen Antike bei Aristoteles oder<br />
später <strong>in</strong> sentimentalen Diskursen das Herz) physiologische Urform aller Anschauung.<br />
Es ist nicht auszumachen, was zuerst da war, die F<strong>in</strong>dung der Schädelform <strong>in</strong> der<br />
Schneckenhausform oder die Schneckenhausform, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong> Schädel erblickt wird. Die<br />
Korrespondenz zweier kulturgeschichtlich präsenter und brisanter Formen macht die<br />
Schnecke jedenfalls auch für die Frage nach dem aktuellen Stand des Ästhetischen und<br />
Poetischen <strong>in</strong>teressant.<br />
Didi-Huberman stellt dabei e<strong>in</strong>e sowohl ontologische wie auch poetische und<br />
kunsttheoretische Frage:<br />
Noch vor dem Schädel als Zeichen, noch vor dem Schädel als Objekt, gibt es also den<br />
Schädel als Ort – den, der das Denken beunruhigt und es doch verortet, es e<strong>in</strong>hüllt, berührt<br />
und entfaltet. […] Die Ausdrucksweise unserer natürlichen Sprache ist nicht weniger<br />
21<br />
Georges Didi-Huberman, Schädel se<strong>in</strong>. Ort, Kontakt, Denken, Skulptur,. Zürich/Berl<strong>in</strong> 2008, hier bes.<br />
Kap. "Schnecke se<strong>in</strong>", 21-28.
Mirjam Goller – 9<br />
vielfältig, als ob Schädel und Hirn aus dieser Geographie von Se<strong>in</strong>sorten bestünden, etwa die<br />
'"Kalotte", die "Fontäne", der "Kamm", der "Fels", die "Tafeln", "Gruben", "Höhlen",<br />
"Nähte", "Löcher", "Kanäle" und das "Gewölbe" (was den Schädelknochen betrifft), dann die<br />
"Hemisphäre", der "Aquädukt", die "Zisterne", den "Pyramidenhöcker", den "Isthmus", die<br />
"Pfeile" oder der "Pons" (was das Gehirn selbst betrifft).<br />
Und von welcher Art s<strong>in</strong>d diese Orte? Welches Schicksal bereiten sie unserer<br />
Raumvorstellung? Das ist die ganze Frage. Vielleicht muß man, um zu erfassen, um was es<br />
geht, auf das anachronistische Wort aître zurückgreifen, das im Französischen die<br />
phonetische Eigenart hat, e<strong>in</strong>en Orts-Begriff auf e<strong>in</strong>en Se<strong>in</strong>s-Begriff zurückzubeziehen. Das<br />
Wort hat zunächst e<strong>in</strong>en offenen Ort bedeutet, e<strong>in</strong>en Vorbau, e<strong>in</strong>en Durchgang, e<strong>in</strong>en äußeren<br />
Vorhof (die Etymologie verweist auf das late<strong>in</strong>ische extera); man gebrauchte es gleichfalls,<br />
um e<strong>in</strong> freies Gelände zu bezeichnen, das als Massengrab oder Friedhof dient; geme<strong>in</strong>t se<strong>in</strong><br />
konnte auch die <strong>in</strong>nere Disposition der verschiedenen Teile e<strong>in</strong>es Wohnhauses; schließlich<br />
stand es für die Innerlichkeit e<strong>in</strong>es Wesens, ja den Abgrund se<strong>in</strong>es Denkens. Wenn Henri<br />
Mald<strong>in</strong>ey von den "aîtres der Sprache" und den "Wohnstätten des Denkens" spricht, dann ist<br />
es die S<strong>in</strong>gularität e<strong>in</strong>es "Werdezustandes" der Sprache oder des Denkens, worauf er vor<br />
allem Bezug nimmt – jene S<strong>in</strong>gularität, die das Gedicht, das Kunstwerk jeweils<br />
aussprechen. 22<br />
Die Nähe zu Foucaults historischen Beispielen für Heterotope – Friedhöfe, Krankenhäuser,<br />
Bordelle, Gefängnisse – ist unverkennbar: Auch bei ihnen handelt es sich um Orte der<br />
Transition, des Überganges oder des Durchganges, die letztendlich unsere Erzählungen<br />
auslösen und für Imag<strong>in</strong>ation zuständig s<strong>in</strong>d. Hier geht es immer um die Entstehung von<br />
Bildern oder e<strong>in</strong>er Reihe von Bildern, die schließlich e<strong>in</strong>e Erzählung ergeben.<br />
Die Schnecke ist – bei Dürer, bei Didi-Huberman, bei Valéry, bei Bachelard, bei Baltrušaitis<br />
– e<strong>in</strong>e Metafigur: Ihr Haus zeigt sich als Form werdende Formgebung, die über die eigene,<br />
gewundene, sich drechselnde und zuspitzende Form h<strong>in</strong>ausgeht. Ihre Bewegung trägt mit dem<br />
Haus e<strong>in</strong>en Ort von Ort zu Ort, durchquert dabei e<strong>in</strong>en Raum mit e<strong>in</strong>er Motivation, die uns<br />
unzugänglich ist, wie uns auch das Innere ihres Hauses und gerade jener Teil des Raumes, den<br />
ihre Sohle <strong>in</strong> der Bewegung bedeckt, unzugänglich s<strong>in</strong>d. Ihr Haus br<strong>in</strong>gt andere Formen,<br />
andere Wesen hervor. Ihre Form gibt e<strong>in</strong>er anderen Form statt (oder eben – räumlich gedacht<br />
– Statt). Dieses Statt geben und diese Stätte ist – und hier greift e<strong>in</strong> mediz<strong>in</strong>ischer Diskurs <strong>in</strong><br />
den ästhetisch-poetischen, kunstwissenschaftlichen, phänomenologischen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, genau jener<br />
Körperteil, der der <strong>in</strong>tellektuellen Mythologie am wichtigsten ist: der Kopf. Der Kopf ohne<br />
Fleisch, Haut und Haar, schierer Knochen, das Wesentliche. 23<br />
Auf der Schädelbasis, die der Form e<strong>in</strong>es Schneckenhauses folgt, entsteht e<strong>in</strong>e<br />
dreidimensionale Welt, die – im Deutschen wie im Französischen – mit topographischen<br />
Begriffen belegt s<strong>in</strong>d. Die Basis ist überbaut mit e<strong>in</strong>er Landschaft, die wir mit Begriffen<br />
22 Didi-Huberman, Schädel se<strong>in</strong>, 34f.<br />
23 Didi-Huberman weist auf den Zusammenhang zwischen Schädel und Kreuzigung h<strong>in</strong> und stellt das<br />
Christentum auf das Fundament des Schädelberges, der, weitergedacht, als Schneckenberg Zeichen für e<strong>in</strong>e sich<br />
selbst hervorbr<strong>in</strong>genden Dauerimag<strong>in</strong>ation sei könnte. Didi- Huberman, Schädel se<strong>in</strong>, 31.
Mirjam Goller – 10<br />
belegen, die wir aus der äußeren Anschauung der gewölbten Welt kennen und die wir<br />
<strong>in</strong>ternalisieren. Der Schädel ist Raum, ist Landschaft und kann sich nur als solches über se<strong>in</strong>er<br />
Basis erheben, weil <strong>in</strong> ihm e<strong>in</strong>e sich erhebende spiralige Form angelegt ist.<br />
Auch Didi-Huberman kann sich dem Spiel mit der sprachlichen Wendung, 24 dem Vers, nicht<br />
entziehen, wie auch se<strong>in</strong> Zitat und se<strong>in</strong>e Bezugnahme auf das Homophon être/aître zeigt. Die<br />
sich zuspitzende W<strong>in</strong>dung des Schneckenhauses vollzieht schließlich das, was <strong>in</strong> komplexen<br />
Texten – komplexen ästhetischen Arbeiten jeder Art – geschieht: Man könnte es 'Verdichtung'<br />
nennen. 25 Verdichtung wiederum als Spiel mit der Korrespondenz der Gattung der Lyrik, dem<br />
Poetischen, aber auch als eigentlicher Vorgang, als Performanz des Materials und der Form<br />
der Schnecke.<br />
Wenn <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong> mit Schnecken und Schneckenhäusern arbeitet, so trifft er nur zum<br />
Sche<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Materialwahl, die dem klassischen Kanon der Bildhauermaterialien widerspricht<br />
(und damit aber der Bildhauertradition des 20. Jahrhunderts entspricht, die sich stets für<br />
sogenannt unedle Materialien entschieden hat). Mit der Wahl der Schnecke, die – folgt man<br />
Didi-Huberman – den Schädel und die Stätte des Denkens repräsentiert, trifft er <strong>in</strong>s Zentrum,<br />
<strong>in</strong>s Herz, des <strong>in</strong>tellektuellen, philosophischen und ästhetischen Diskurses und damit die<br />
edelste Wahl: Kalk ist Schädelbe<strong>in</strong>, Schneckenhaus ist knochenharter Ort des Denkens und<br />
der Imag<strong>in</strong>ation. Hier entsteht alles: Produktion und Rezeption.<br />
Geheimnis der Schnecke: Innen und außen, unsichtbar und sichtbar<br />
<strong>Fox</strong> setzt Schnecken auf unterschiedliche Weise e<strong>in</strong>: In der performativen Installation L № 1<br />
(Luzern 2007) 26 kriechen 25 lebende We<strong>in</strong>bergschnecken, deren Häuser mit leichten<br />
Papiermodellen überbaut s<strong>in</strong>d, 27 auf e<strong>in</strong>em Komposthaufen. Die Papiermodelle stellen<br />
w<strong>in</strong>zige Repräsentationen kulturgeschichtlich relevanter Gebäude dar. Das Baptisterium von<br />
Pisa, das Theoderich-Grab <strong>in</strong> Ravenna, die Synagoge von Dresden, das Newton-Kenotaph<br />
24 Dieses Spiel ist so sehr Markenzeichen der französischen Philosophie seit den 1960er Jahren, dass sie<br />
kaum auf Georges Didi-Huberman zugespitzt werden kann.<br />
25 Das Modell der Verdichtung und Verschiebung aus Freuds Traumdeutung an, das <strong>in</strong> der<br />
Traumverdichtung e<strong>in</strong>e Aufhäufung von Bedeutungs<strong>in</strong>halten sieht. Die Überdeterm<strong>in</strong>iertheit des Traum<strong>in</strong>halts,<br />
die damit e<strong>in</strong>hergeht, ist aus der Analyse von Tropen, Figuren des uneigentlichen Sprechens, <strong>in</strong> der Lyrikanalyse<br />
auch h<strong>in</strong>reichend bekannt. Die Verwandtschaft von Verdichtung und Verschiebung zu Metapher und Metonymie<br />
als den bekanntesten Tropen ist auch h<strong>in</strong>länglich bekannt.<br />
Dieses räumliche Verständnis von 'Viel an e<strong>in</strong>em Ort' trifft auch für die Begriffsverwendung hier zu.<br />
26 Vgl. auch <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong>, L N°3. Video, 8 m<strong>in</strong>, <strong>in</strong>:<br />
http://www.anselmofox.eu/de/arbeiten_videofilm_01.html. Materialien zur gleichnamigen Ausstellung auch<br />
unter: http://www.anselmofox.eu/de/arbeiten_fotografie_01.html,<br />
http://www.anselmofox.eu/de/arbeiten_im_raum_05.html,<br />
http://www.anselmofox.eu/de/arbeiten_videofilm_01.html.<br />
27 Maximal acht Gramm schwer.
Mirjam Goller – 11<br />
oder die Ibn Tulum-Moschee <strong>in</strong> Kairo werden ihren angestammten Verortungen nicht nur<br />
entrückt, sondern bef<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> stetiger wandernder Bewegung. Heterotopisch und<br />
imag<strong>in</strong>ationsfördernd wie Schiffe, wandern und schaukeln die Schnecken mit ihrer Last über<br />
den Humusberg und verrottende Früchte. Auf ihren Häusern tragen sie wiederum andere<br />
Häuser, Form. Die natürliche Form wird von der kulturerzeugten Form bedeckt, aber nicht<br />
überdeckt. Die verme<strong>in</strong>tlich natürliche Form (das Schneckenhaus) trägt auf ihrer Spitze oder<br />
als neue Spitze e<strong>in</strong> Pendant ihrer selbst. Dabei ist das Verhältnis paradox: Die natürliche Form<br />
ist e<strong>in</strong>e, die schon lange Allegorie der Kulturerzeugung ist. Hier werden nicht Seiten verkehrt,<br />
sondern Kultur- und Kunsterzeugung im wahrsten S<strong>in</strong>ne des Wortes auf die Spitze getrieben.<br />
Abb. 3: <strong>Fox</strong>: L №1 28<br />
Anders als auf den antiken Gemmen und mittelalterlichen Gemälden bei Baltrušaitis und<br />
anders als <strong>in</strong> den kunstphilosophischen Überlegungen von Didi-Huberman, <strong>in</strong> denen etwas<br />
aus der natürlichen Öffnung des Schneckenhauses hervorgebracht wird, zeigt <strong>Fox</strong> die
Mirjam Goller – 12<br />
Schnecke als ‚Imag<strong>in</strong>ationsarsenal’, als Medium von Kulturproduktion. Er baut auf der<br />
Schnecke auf. Die Wahl, wiederum Gebäude auf die Häuser der Schnecken aufzusetzen, heißt<br />
e<strong>in</strong>erseits metaphorische Formgebung im S<strong>in</strong>ne von Kunst als Form, zeigt andererseits e<strong>in</strong><br />
reflexives und steigerndes Moment auf: Die Schnecke br<strong>in</strong>gt hervor, ist Kunsterzeuger<strong>in</strong> par<br />
excellence, Kunst als selbstreflexives System br<strong>in</strong>gt wiederum sich selbst hervor. Die<br />
Gebäude auf den Rücken der Schnecken s<strong>in</strong>d – ebenso natürlich wie unnatürlich – Varianten<br />
ihrer selbst, s<strong>in</strong>d Überbau im eigentlichen S<strong>in</strong>ne.<br />
Dass Kunst jeder Gattung wiederum auf sich selbst verweist und sich <strong>in</strong> Zitatspielen und<br />
Allusionsketten ergeht, ist Theoriebestand des späten 20. Jahrhunderts. Kunst als Verfahren<br />
und die anschließende Entblößung dieser Verfahren ist theoretische Erkenntnis der russischen<br />
Formalisten zu Zeiten der Avantgarde. Entblößung dieser Entblößung ist wiederum Bestand<br />
postpostmoderner Bef<strong>in</strong>dlichkeit. 29<br />
Kunst macht sich und ihre Entstehung sichtbar. Sie zeigt sich selbst. Sie zeigt auch den<br />
Grund, auf dem sie gedeiht. In L №1 s<strong>in</strong>d zunächst sämtliche Formen sichtbar, und eben auch<br />
der Grund, auf dem die Schnecken kriechen, der bergartig aufgeschichtete, runde<br />
Komposthaufen, ist deutlich ausgestellt.<br />
Dass sie dabei mäandernd oder ohne ersichtliches Ziel und auch sche<strong>in</strong>bar zeitlos auf e<strong>in</strong>em<br />
Humushaufen herumwandern, ist hier ebenfalls sichtbar. Dabei spielt die Natur nur noch die<br />
Rolle e<strong>in</strong>er Metapher von Humus und Vergangenheit.<br />
In <strong>Fox</strong>’ Videoarbeit L №3 – Malevičs Schnecke (ebenfalls Luzern 2007) br<strong>in</strong>gt die Schnecke<br />
nur sich selbst hervor: In e<strong>in</strong>er Ecke des Ausstellungsraumes ist <strong>in</strong> etwa drei Metern Höhe e<strong>in</strong><br />
schwarzer Kubus aus Gummistreifen angebracht, <strong>in</strong> den der Betrachter über e<strong>in</strong>e Leiter<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>klettern und dort e<strong>in</strong> Video ansehen kann.<br />
28<br />
<strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong>, L №1, lebende mit Papiermodellen überbaute We<strong>in</strong>bergschnecken, Komposthaufen, 6m,<br />
Kunstpanorama Luzern 2007.<br />
29<br />
Vgl. hierzu Mirjam Goller, "Flüssige Körper. Verortungen und Verformungen des Anthropomorphen<br />
(Literatur und Literaturtheorie)", <strong>in</strong>: K<strong>in</strong>etographien, hg. v. Inke Arns u.a., Bielefeld 2004, 251-284.
Mirjam Goller – 13<br />
Abb. 4: <strong>Fox</strong>: L № 3 – Malevičs Schnecke 30<br />
In diesem Video wird gezeigt, wie e<strong>in</strong>e Schnecke, die sich noch <strong>in</strong> ihr Haus zurückgezogen<br />
hat, von e<strong>in</strong>em F<strong>in</strong>ger hervorgekitzelt wird und sich schließlich an den kitzelnden F<strong>in</strong>ger<br />
anschmiegt und ansaugt.<br />
Das tastende Auge, der bl<strong>in</strong>de F<strong>in</strong>ger<br />
Abb. 5: <strong>Fox</strong>: L № 3 – Malevičs Schnecke<br />
Anders als bei den We<strong>in</strong>bergschnecken, die auf dem Komposthaufen kriechen, wird hier<br />
gezeigt, wie etwas verborgen ist (im schwarzen Würfel) und entborgen wird (die Schnecke,<br />
die durch den F<strong>in</strong>ger des Künstlers hervorgekitzelt wird). Gezeigt wird, diesmal als Prozess <strong>in</strong><br />
30 <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong>, Malevičs Schnecke, 2007. Teil der Ausstellung Im Tal der Mollusken. Video (16 m<strong>in</strong>.,<br />
loop), Gummi, Projektionsfolie, Leiter, <strong>in</strong>: http://www.anselmofox.eu/de/arbeiten_im_raum_04.html.
Mirjam Goller – 14<br />
der Zeitkunst Video, der Vorgang der Selbsthervorbr<strong>in</strong>gung ebenso wie der Vorgang der<br />
Sichtbarmachung. Dies alles spielt sich ab im Rahmen des Verborgenen und im Rahmen e<strong>in</strong>es<br />
Kunstzitats, Malevičs schwarzem Quadrat, jener ungerahmten Ikone der 1920er Jahre, die<br />
hier zum schwarzen Würfel weitergedacht ist, zum plastischen Gebilde, aber ebenso im<br />
Ikonenw<strong>in</strong>kel hängen mag und damit e<strong>in</strong> sakrales Kunstdiktat abgibt. Kunst birgt Kunst und<br />
br<strong>in</strong>gt Kunst hervor. Dies bleibt aber nicht bei sich selbst – auch nicht <strong>in</strong> der Gummizelle des<br />
Vorführraums des Schneckenvideos –, sondern ist aufgeladen (und beladen) mit Kulturgut<br />
und Kulturballast und vor allem Wissen über Kunst. Vom Dunkel e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>ovorführsaals bis<br />
zum pornographischen Blick und der Reduktion auf das Geschlechtliche: Verschiedene<br />
Konditionierungen des Sehens s<strong>in</strong>d hier enthalten und sie werden vom Unsichtbaren <strong>in</strong>s<br />
Sichtbare gelockt.<br />
Und dies sche<strong>in</strong>t der Punkt zu se<strong>in</strong>, an dem die Epoche der Postmoderne aufhört und nicht<br />
mehr weiter kann: Sie hat gezeigt, wie es (alles) gemacht ist und gemacht wird und stellt dies<br />
aus. Die Postmoderne ist die Epoche der Oberfläche, des Sichtbaren und der Entblößung. 31<br />
Die Geschichte der Schnecke als Metafigur der Imag<strong>in</strong>ation bezieht sich ebenfalls aufs<br />
Sichtbare und als Bild auf die Sichtbarmachung der Hervorbr<strong>in</strong>gung.<br />
<strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong> hört hier jedoch ke<strong>in</strong>eswegs auf.<br />
Hat die performative Installation L №1 offen gezeigt, auf welchem – buchstäblichen und<br />
metaphorischem – Grund und Boden Kunst entsteht, zieht sich Malevičs Schnecke schon <strong>in</strong>s<br />
Dunkel e<strong>in</strong>es Gummigehäuses zurück. Der Betrachter wird gerade von jenem angezogen, was<br />
er nicht sieht, und wird zum Sehen e<strong>in</strong>geladen. Er sieht, wie etwas, der weiche Körper der<br />
Schnecke, der aus se<strong>in</strong>em kalkigen Gehäuse hervorkriecht, sichtbar wird. Der Betrachter wird<br />
Zeuge und Enträtsler e<strong>in</strong>es doppelten Geheimnisses: Er lüftet den Gummivorhang und kann<br />
sehen, wie die Kunstmetapher Schnecke von e<strong>in</strong>er geschickten Hand aus ihrem Gehäuse<br />
hervorgelockt wird. Es ist gerade die Unsichtbarkeit, die dem Betrachter se<strong>in</strong>e Bl<strong>in</strong>dheit zeigt<br />
und damit Sehen fördert. Und so ist auch die Unsichtbarkeit e<strong>in</strong> Thema, das <strong>in</strong> <strong>Fox</strong>' Arbeiten<br />
immer wieder zu f<strong>in</strong>den ist. 32 Das Unsichtbare der Schnecke ist nicht nur das unergründliche<br />
Innere ihres Kalkhauses, sondern auch alles, was sich unter ihrer kriechenden Sohle verbirgt.<br />
Das Latente als das Eigentliche zu betrachten und als wertvoller als das Manifeste, ist e<strong>in</strong>e<br />
Denkfigur der klassischen Moderne, die als e<strong>in</strong>e Epoche der Tiefe der Postmoderne erst den<br />
31<br />
Vgl. zur Entblößung der Entblößung als postmodernistisches Verfahren Mirjam Goller, "Flüssige<br />
Körper.“<br />
32<br />
Vgl. hierzu auch <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong>, "Geschoss und Engel. Blick <strong>in</strong> die Geometrie e<strong>in</strong>es Tötungsdeliktes.<br />
Fotografisch dokumentierte plastische Arbeit und Aufsatz", <strong>in</strong>: böse – Plurale. Zeitschrift für Denkversionen 3<br />
(2003), 291-204.
Mirjam Goller – 15<br />
Grund für das Fest der Oberfläche lieferte. Es bleibt aber Grundmotiv jeder Erzählung, gerade<br />
das wissen und sehen zu wollen, was sich verbirgt.<br />
Konsequent hat <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong> e<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>er Schneckenanschauungen dem gewidmet, was nicht<br />
zu sehen ist: der Welt unter der Sohle. In e<strong>in</strong>er großformatigen Fotoserie, die den Titel Im Tal<br />
der Mollusken trägt, 33 zeigt er wiederum mit Architekturen bebaute lebendige Schnecken, die<br />
diesmal aber nicht auf Erde und Pflanzen kriechen, sondern auf Berl<strong>in</strong>er Hauswänden.<br />
Abb.6: <strong>Fox</strong>: Im Tal der Mollusken<br />
Diese Hauswände zeichnen sich sämtlich dadurch aus, dass sie noch E<strong>in</strong>schussspuren aus dem<br />
Zweiten Weltkrieg zeigen. Die E<strong>in</strong>schüsse s<strong>in</strong>d historisch kontam<strong>in</strong>iert und werden auch als<br />
solche wahrgenommen und behandelt: Entweder als Kriegsschäden registriert, ignoriert oder<br />
saniert. Mit der Kontextualisierung durch die überbauten Schnecken, wird diese re<strong>in</strong><br />
historische und e<strong>in</strong> Defizit privilegierende Wahrnehmung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e räumliche und auch<br />
ästhetische überführt.<br />
Die Aushöhlung des Mauerwerks ist durchaus durch Projektile entstanden, <strong>in</strong>teressanter als<br />
die historische Bezugnahme ist aber, dass sie der Blickachse des Betrachters entsprechen. Die<br />
Schlagkraft, mit der die Projektile auf die Wände treffen, verändert die plane Oberfläche und<br />
erzeugt e<strong>in</strong>e neue Form, erzeugt e<strong>in</strong>e Höhlung. Die Höhlungen, skulpturale Tiefen und<br />
33 <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong>, Im Tal der Mollusken I, Pigmentdruck SW, 2007; Edition: 5 Motive à 10 Stck., Größe:<br />
65 x 90 cm. Auch <strong>in</strong>: http://www.anselmofox.eu/de/arbeiten_fotografie_01.html
Mirjam Goller – 16<br />
Untiefen, die nicht durch die Hand des Bildhauers entstanden s<strong>in</strong>d, blicken leer und bl<strong>in</strong>d<br />
zurück: Hier ist e<strong>in</strong> Pendant zur Augenhöhle entstanden – und e<strong>in</strong> Pendant zur Schädeltiefe –,<br />
die Didi-Huberman wiederum <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen Text thematisiert: Was wir sehen, blickt uns<br />
an. 34 Die unausweichliche Spaltung des Sehens ist Grundthese. Er spricht weiter davon, dass<br />
"Sehen letztlich nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Tast-Erfahrung gedacht und empfunden werden kann, was mit<br />
e<strong>in</strong>er Zurückweisung und ironischen Umkehrung uralter metaphysischer, ja mystischer<br />
Lehrsätze verbunden ist." 35 Er bezieht sich dabei auf Merleau-Pontys Phänomenologie und<br />
dessen Grundsatz, "das jedes Sichtbare aus dem Berührbaren geschnitzt ist" 36 <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong>'<br />
Mollusken-Arbeit bezieht das Taktile konsequent mit e<strong>in</strong>: Gerade das, was zu sehen ist oder<br />
se<strong>in</strong> könnte – die Höhlung und Vertiefung – wird durch die kriechende Schnecke gewölbt<br />
zugedeckt, und das, was den Betrachter anblickt – wiederum die Höhlung und Vertiefung –<br />
ebenfalls. Die Schnecken erzeugen durch ihr Kriechen aber nicht nur e<strong>in</strong>e gleichsam doppelte<br />
Erbl<strong>in</strong>dung, sondern sie ertasten die Höhlungen haptisch. Die Schneckensohle übernimmt die<br />
Funktion des tastendes Auges und wird gerade jener Orte ansichtig, die sich dem auf Distanz<br />
bef<strong>in</strong>dlichen Menschenauge verschließen. Raumerfahrung wird hier sowohl durch die<br />
Thematisierung des Distanzs<strong>in</strong>ns Sehen wie auch des Nahs<strong>in</strong>ns der Taktilität erzeugt. Über<br />
das Spiel mit Nähe und Ferne h<strong>in</strong>aus, die zwei unterschiedliche S<strong>in</strong>ne bedienen, die sich<br />
gegenseitig eigentlich ausschließen und <strong>in</strong> der Theorie von Didi-Huberman aber zu e<strong>in</strong>em<br />
ästhetischen (und möglicherweise poetischen) Effekt zusammentun, geht es hier auch um das<br />
Spiel mit Wissen und Nicht-Wissen. Die narrative Gier, die uns durch Erzählungen leitet, bis<br />
wir wissen, was sich h<strong>in</strong>ter der E<strong>in</strong>gangskonstellation verbirgt, wird hier lustvoll nicht<br />
bedient. Der ewige Aufschub, den Jacques Derrida <strong>in</strong> der Dekonstruktion zur e<strong>in</strong>zigen<br />
Möglichkeit zu genießen erklärt hat, ist hier ke<strong>in</strong> zeitlicher, sondern e<strong>in</strong> räumlicher bzw. e<strong>in</strong>e<br />
räumliche Verschiebung, der man als Betrachter nicht entkommt. Indem die Schnecken<br />
während ihrer langsamen Wanderung über die gezeichnete Hauswand stets den Ort freigeben,<br />
den sie gerade verborgen haben, besetzen sie e<strong>in</strong>en neuen und erzeugen neue Bl<strong>in</strong>dheit. Diese<br />
ist, da sich der Betrachter <strong>in</strong> sehender Distanz bef<strong>in</strong>det, immer ersichtlich. Sehen und<br />
Bl<strong>in</strong>dheit, tastende Erkenntnis und taktile Fühllosigkeit s<strong>in</strong>d gleichzeitig möglich, ebenso wie<br />
Wissen und Nicht-Wissen. Die Schnecken übernehmen stellvertretend die Tasterfahrung, der<br />
Betrachter ist geradezu amputiert und bleibt dieser direkten Erfahrung verlustig. Zur Bl<strong>in</strong>dheit<br />
tritt die taktile Taubheit.<br />
34<br />
Georges Didi-Huberman, Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999,<br />
vor allem das Kap. „Die unausweichliche Spaltung des Sehens“, 11-19.<br />
35<br />
Didi-Huberman, Was wir sehen, 13.<br />
36<br />
Maurice Mereleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, 177, gemäß Georges<br />
Didi-Huberman, Was wir sehen, 13.
Mirjam Goller – 17<br />
Dabei s<strong>in</strong>d die Fotografien Negative, d.h. die eigentlich dunklen Löcher der E<strong>in</strong>schüsse, die<br />
sich <strong>in</strong>s Verborgene entziehen, strahlen hell und gleichsam als Lichtquellen aus der dunkleren<br />
Wand heraus. Die Schnecken mit ihren – jetzt negativ <strong>in</strong>s Schwarze verkehrten –<br />
Architekturen kriechen <strong>in</strong>s Licht und bedecken es. Es ist ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Tiefe, die nur<br />
ausgeleuchtet werden muss, um ihr Geheimnis preiszugeben. Es ist ke<strong>in</strong> komplex<br />
e<strong>in</strong>gefaltetes Gebilde, das zu se<strong>in</strong>er Enträtselung nur entfaltet werden muss. Wissen spielt hier<br />
ke<strong>in</strong>e Rolle. Die Aufklärung mit ihrer Lichtmetaphorik sche<strong>in</strong>t ausgedient zu haben. Die<br />
Moderne als Feier der Latenz ist nur noch hohle Höhle, und die Postmoderne hat sich <strong>in</strong> ihren<br />
Entblößungen zu Tode gezeigt. Hier zeigt sich, wie e<strong>in</strong> Geheimnis gemacht und gleichzeitig<br />
verborgen wird. Und hier zeigt sich, und das ist wohl e<strong>in</strong>e der traditionell unverrückbarsten<br />
Eigenschaft des Poetischen, dass Sehen nicht gleich Wissen und Erkennen ist. Man sieht<br />
etwas und weiß doch nichts, und man weiß etwas und sieht doch nichts. Es gibt hier ke<strong>in</strong><br />
neues Sehen im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Verfremdungsästhetik, die <strong>in</strong> formalistischen und<br />
strukturalistischen Ansätzen zur Bestimmung des Poetischen herhalten muss. Das Poetische<br />
ist hier dem Körper nahe gerückt.<br />
Die Verkehrung vom positiven Blick <strong>in</strong>s fotografische Negativ kann natürlich als<br />
Verfremdung verstanden werden. Mehr noch als e<strong>in</strong>e ästhetische Erfahrung durch e<strong>in</strong> neues<br />
Sehen, wie es die Literatur- und Kunsttheorie der russischen Avantgarde proklamierte, 37 geht<br />
es hier um e<strong>in</strong>e Erfahrung und Thematisierung des Nicht-Sehens, der Bl<strong>in</strong>dheit, die durch e<strong>in</strong>e<br />
haptische und damit anderskörperliche ästhetische Erfahrung ersetzt wird. Mag das neue<br />
Sehen der russischen Avantgarde auch e<strong>in</strong> metaphorisches Sehen se<strong>in</strong>, das e<strong>in</strong>e andere<br />
Sensorik möglicherweise nicht ausschließt, so ist sie doch an das visuelle (und damit<br />
traditionell <strong>in</strong>tellektuelle) Pr<strong>in</strong>zip gebunden.<br />
Körper ohne Grenzen<br />
Die auch bei Didi-Huberman <strong>in</strong> phänomenologischer Tradition angesprochene haptische<br />
Erfahrung, die dem Sehen vorausgeht, dem Erkennen somit e<strong>in</strong> Begreifen voranstellt,<br />
privilegiert die Kunstgattung der Skulptur und der Plastik. Das Dreidimensionale erhebt sich<br />
über die re<strong>in</strong>e Fläche. Diese Erweiterung der Fläche <strong>in</strong> den Raum zeigt auch der schwarze<br />
Kubus Malevičs Schnecke: Beiden Arbeiten ist geme<strong>in</strong>, dass sie den Betrachter explizit<br />
<strong>in</strong>volvieren und – im Falle des schwarzen Würfels augenfälliger – geradezu zur Gänze <strong>in</strong> sich<br />
37 Vgl. hierzu maßgeblich Viktor Šklovskij, "Kunst als Verfahren", <strong>in</strong>: Russischer Formalismus. Texte zur<br />
allgeme<strong>in</strong>en Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, hg. v. Jurij Striedter, München 1969, 5-35.
Mirjam Goller – 18<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ziehen. Die Eigenheit des Spiels mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, ist darüber h<strong>in</strong>aus<br />
e<strong>in</strong>e weitere geme<strong>in</strong>same Größe.<br />
Die unscharfe Grenze zwischen Betrachter und Objekt – prom<strong>in</strong>enter Gegenstand der<br />
transdiszipl<strong>in</strong>ären Theoriediskussion des 20. Jh. 38 – ist auch Gegenstand e<strong>in</strong>es Entwurfs e<strong>in</strong>er<br />
neueren Ästhetik des Philosophen Gernot Böhme. Böhme zieht dazu den Begriff der<br />
Atmosphäre heran, die er als unabd<strong>in</strong>gbar für die Auslotung e<strong>in</strong>er nicht mehr klassischen<br />
Ästhetik sieht. 39 Die klassische Ästhetik bzw. die Ästhetik seit dem 18. Jahrhundert ist für ihn<br />
e<strong>in</strong>e "Theorie des Beurteilens von Kunstwerken […]. Sie ist e<strong>in</strong>e Sache des Intellekts und des<br />
Redens, nicht aber des Empf<strong>in</strong>dens" 40 . E<strong>in</strong>e neue Ästhetik muss für Böhme e<strong>in</strong>e der<br />
s<strong>in</strong>nlichen Wahrnehmung se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Aisthesis, e<strong>in</strong>e, die sich von der klassischen Ästhetik<br />
absetzen kann, weil diese weder als Beschreibungsoption, noch als Erfahrungsoption, noch als<br />
Produktionsoption mehr tauglich ist. Ähnlich wie bei Didi-Huberman f<strong>in</strong>det sich auch hier<br />
e<strong>in</strong>e sensorische Erweiterung der ans Visuelle geknüpften Ästhetik, ohne dass Böhme dies<br />
konkret am Körper oder genauer, an e<strong>in</strong>em bestimmten Körperteil und der damit verbundenen<br />
Wahrnehmungsspezifik, festmacht. Es wird nicht bestimmt, ob diese sensorische Erweiterung<br />
e<strong>in</strong>e haptische ist (wie bei Didi-Huberman durch skupturale Erfahrung motiviert) oder e<strong>in</strong>e<br />
akustische etc. Böhme arbeitet mit dem Begriff der Synästhesie und zieht für diese Kategorie,<br />
die gerade auf die Verunschärfung sensorischer und dann auch analytischer und deskriptiver<br />
Bereiche abhebt, Beispiele heran, die aus Musik, Architektur und auch der Warenästhetik<br />
stammen. 41 Es geht ihm, gerade im Gegenteil, um e<strong>in</strong>e Erweiterung, die jede s<strong>in</strong>nliche<br />
Wahrnehmung ermöglicht. Und anders als Didi-Huberman steht die <strong>in</strong>tellektuelle<br />
Wahrnehmung dabei der s<strong>in</strong>nlichen entgegen, während Didi-Huberman ke<strong>in</strong>en expliziten<br />
Unterschied zwischen e<strong>in</strong>er s<strong>in</strong>nlichen und e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>telligiblen Wahrnehmung aufbaut. Im<br />
Gegenteil: Dass <strong>in</strong> Schädel se<strong>in</strong> ästhetische Wahrnehmung <strong>in</strong> der „Schädelschnecke“<br />
angesiedelt wird, zielt zwar auf e<strong>in</strong> das S<strong>in</strong>nliche und das Intelligible homogenisierendes<br />
Konzept, nicht aber auf e<strong>in</strong>e Lust an der Verunschärfung, die den Text von Böhme<br />
durchzieht. Während Didi-Huberman se<strong>in</strong>e neue Ästhetik im Genuss e<strong>in</strong>er Verb<strong>in</strong>dung aus –<br />
<strong>in</strong> traditionellen Kategorien gedacht – Körper und Geist sieht, die er vor allem <strong>in</strong> der Skulptur<br />
und daraus abgeleiteten Beschreibungskategorien sieht, 42 trifft Böhme se<strong>in</strong>e Entscheidung für<br />
e<strong>in</strong>e neue Ästhetik aus e<strong>in</strong>er Erweiterung des Körpers durch e<strong>in</strong>en Kontext. Böhme siedelt<br />
38<br />
Vgl. hierzu das Themenheft Beobachter – Plurale. Zeitschrift für Denkversionen 6 (2006).<br />
39<br />
Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt/M. 1995.<br />
40<br />
Böhme, Atmosphäre, 15.<br />
41<br />
Böhme, Atmosphäre, vgl. bes. Kapitel "Synästhesien", 85- 98.<br />
42<br />
Die grundlegende Überlegung für se<strong>in</strong>en wohl bekanntesten Text Was wir sehen, blickt uns an, ist aus<br />
e<strong>in</strong>er skulpturalen Erfahrung heraus entstanden: Die basale Höhlung, die für alle weitere Wahrnehmung
Mirjam Goller – 19<br />
e<strong>in</strong>e neue ästhetische Erfahrung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em atmosphärischen und auratischen Raum oder<br />
Erlebnis an, 43 der sowohl das gemachte D<strong>in</strong>g umfasst (und es ist dabei gleichgültig, ob es aus<br />
e<strong>in</strong>er alltäglichen Warenwelt heraustritt oder als Kunstgegenstand <strong>ersche<strong>in</strong>t</strong>), als auch die<br />
Möglichkeit der s<strong>in</strong>nlichen Wahrnehmung des D<strong>in</strong>gs (also die Leiblichkeit, den Körper), als<br />
auch die Beschreibbarkeit. In der Alltagspraxis und auch <strong>in</strong> der Kunst sieht er das sehr wohl<br />
schon erreicht. 44<br />
Unabd<strong>in</strong>gbar für diese räumliche und zeitliche Aura (diesen Begriff entlehnt er von<br />
Benjam<strong>in</strong>), die wiederum konstitutiv ist für die Atmosphäre, ist aber die Aufhebung der<br />
Trennung von Subjekt und Objekt. Diese gibt es auch bei Didi-Huberman, allerd<strong>in</strong>gs nicht als<br />
situative Verschmelzung von Subjekt und Kontext, sondern als dialogische Struktur zwischen<br />
Wahrnehmendem und Wahrgenommenem mit stetigem Wechsel der Position: Da das, was<br />
wir ansehen, uns anblickt, werden wir selbst zum wahrgenommenem Objekt. Die Begriffe<br />
Subjekt und Objekt werden austauschbar und damit obsolet.<br />
Für die Diskussion des zeitgenössischem Poetischen ist diese Aufhebung klassischer<br />
Positionen dann von Belang, wenn Böhme z.B. von Stimmung und Gestimmtheit spricht, 45<br />
die er als Effekt e<strong>in</strong>er Atmosphäre, e<strong>in</strong>er Ekstase, e<strong>in</strong>er Aura sieht und vor allem <strong>in</strong> der<br />
Gebrauchskunst (Schaufenstergestaltung, Bühnenbildnerei, E<strong>in</strong>satz von Musik zur Erzeugung<br />
e<strong>in</strong>er verkaufsgünstigen Stimmung) verwirklicht sieht (und eben nicht <strong>in</strong> den analytischen<br />
getrennten Kategorien ästhetischer Theorie). An diesem Punkt ist Böhme der Argumentation<br />
vom Wechsel des Materials vom verme<strong>in</strong>tlich Erhabenen zu Materialien des Alltags der<br />
Geschichte der Plastik und Skulptur im 20. Jahrhundert durchaus nahe, ohne sie explizit zu<br />
machen. 46<br />
Für die Diskussion des zeitgenössisch Ästhetischen und mehr noch Poetischen bieten sich die<br />
Begriffe der Atmosphäre und des gespaltenen Sehens <strong>in</strong>sofern an, als dass beide e<strong>in</strong>en<br />
Kippmoment des Übergangs und der Unschärfe beschreiben, der zu e<strong>in</strong>em vagen Moment des<br />
Nicht-Wissens, der Orientierungslosigkeit oder des Unbewussten führen. Die Öffnung (und<br />
ausschlaggebend ist, e<strong>in</strong>e Körperhöhlung ist: die Augenhöhle. Didi-Huberman hebt die Spaltung zwischen<br />
Subjekt und Objekt auf und spaltet diese Situation auf <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Ansehen und e<strong>in</strong> Gesehenwerden.<br />
43<br />
Die Kantianischen Grundanschauungen der Zeit und des Raumes s<strong>in</strong>d dabei wiederum verunschärft<br />
und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s gesetzt.<br />
44<br />
Gernot Böhmes Bestimmung e<strong>in</strong>er neuen Ästhetik durch das Atmosphärische ist ertragreich für den<br />
Begriff des Poetischen, umgekehrt könnte man aber auch fragen, ob der Begriff des Poetischen für se<strong>in</strong>e<br />
Ausführung nicht vielleicht sogar passender wäre.<br />
45<br />
Böhme, Atmosphäre, 87.<br />
46<br />
E<strong>in</strong>e Bemerkung aus slawistischer Perspektive sei hier gestattet: Dies ist etwas, was die russischen<br />
Philosophie der Moderne lange e<strong>in</strong>gefordert und schreibend praktiziert hat und was z.B. tragend ist für die<br />
Musikphilosophie Aleksej Losevs, die Kunsttheorie Pavel Florenskijs oder die Erkenntnistheorie Nikolaj<br />
Bugaevs. Und diese – allerd<strong>in</strong>gs sprachlich motiviert – Untrennbarkeit zwischen Beschreibungssprache und<br />
Objekt ist natürlich auch Bestandteil postmoderner Theorie. Außerdem betrifft dieser Aspekt der Teilhabe auch<br />
jüngere Theorien zum Phänomen des Beobachters.
Mirjam Goller – 20<br />
damit das Ende) des Subjekts führt zu e<strong>in</strong>em Moment, <strong>in</strong> dem nicht zwischen e<strong>in</strong>er<br />
Übersensibilisierung durch Öffnung (und Tod) und Fühllosigkeit entschieden werden kann.<br />
Es ist e<strong>in</strong> Moment zwischen Ästhetik und Anästhesie. 47 Es ist e<strong>in</strong> Moment, <strong>in</strong> dem zwischen<br />
s<strong>in</strong>nlich und <strong>in</strong>telligibel nicht unterschieden werden kann. Es ist möglicherweise gerade dieser<br />
Moment, der für das Poetische ausschlaggebend ist. Dieser Moment enthebt den Betrachter<br />
oder den Leser durchaus se<strong>in</strong>er fest umrissenen Position und br<strong>in</strong>gt ihn <strong>in</strong>s Schwanken. Diese<br />
Enthobenheit ist Aspekt der klassischen Ästhetik und br<strong>in</strong>gt die Kategorie des Erhabenen <strong>in</strong>s<br />
Spiel.<br />
Diese ist L №1 als Zitat und Umkehrung <strong>in</strong> den Überbauungen der Schneckenhäuser präsent.<br />
Wenn <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong>’ überbaute Schnecken auf e<strong>in</strong>em Komposthaufen umherkriechen, werden<br />
nicht nur die sakralen Bauten <strong>in</strong> Bewegung gebracht, sondern auch der Betrachter entwurzelt.<br />
Das doppelte Schwanken widerspricht den Bauten, die als erhabene Gebäude mit<br />
Ewigkeitsbezug e<strong>in</strong>deutig verortbar s<strong>in</strong>d, es widerspricht aber auch dem Konzept des<br />
Erhabenen überhaupt.<br />
Es herrscht hier e<strong>in</strong>e Gleichzeitigkeit von Erhabenheit und Verkehrung von Erhabenheit, die<br />
nicht dem modernistischen umgekehrten Erhabenen entspricht. Man kann angesichts der<br />
w<strong>in</strong>zigen Papiermodelle auch nicht von Kle<strong>in</strong>heit oder Niedlichkeit sprechen, denn der<br />
historische H<strong>in</strong>tergrund des e<strong>in</strong>geschossenen Mauerwerks ist zu groß, zu erhaben. Die<br />
Erhabenheit des historischen Kontextes wiederum funktioniert angesichts der W<strong>in</strong>zigkeit der<br />
Papiermodelle nicht, so dass hier e<strong>in</strong>e Gleichzeitigkeit von Unheimlichem und Vertrautem,<br />
möglicherweise sogar Harmlosem auftritt, die der Kulturwissenschaftler Thomas Macho im<br />
Zusammenhang mit e<strong>in</strong>er anderen Arbeit bereits als e<strong>in</strong>e Konstituente für die Kunst von <strong>Fox</strong><br />
ausgemacht hat. 48<br />
Der Aspekt der Größe, der für die klassische Begriffsbelegung des Erhabenen konstitutiv ist,<br />
wird hier verkehrt.<br />
Es gibt noch e<strong>in</strong>e zweite Doppelung, mit der <strong>Fox</strong> hier spielt. Sämtliche der ausgewählten<br />
Gebäude verweisen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en konkreten oder übertragenen Himmel. Die doppelte Anwesenheit<br />
von Konkretem und Übertragenem, Realem und Trope, Urgrund und Getragenem zeigt e<strong>in</strong>e<br />
andere Grenzauflösung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ganz neue Atmosphäre.<br />
Die Begegnung mit solchen Bauwerken <strong>in</strong> ihrer realen Größe versetzt den Betrachter <strong>in</strong><br />
Staunen und Verharren. Diese Bewegungslosigkeit angesichts von erhabener Größe, sei sie<br />
übertragen, sei sie konkret im Vergleich mit Menschenmaß, ist jedoch gerade das, was die<br />
47 Vgl. hierzu Cornelia Wild, "Unempf<strong>in</strong>dliche Zustände. Zur Unverfügbarkeit des Wissens <strong>in</strong> der<br />
Anästhesie", <strong>in</strong>: Betäubung – Plurale. Zeitschrift für Denkversionen 8 (2009) [<strong>in</strong> Vorbereitung]<br />
48 Vgl. hierzu Thomas Macho, "Von <strong>in</strong>nen (für <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong>). Text zur Ausstellung im Künstlerhaus<br />
Bethanien", Berl<strong>in</strong> 2001, <strong>in</strong> : http://www.anselmofox.eu/de/schriften_anderetexte.html
Mirjam Goller – 21<br />
Molluskenarbeit nicht erzeugt. Im Gegenteil: Die Umkehrung des Größenverhältnisses und<br />
die Aufhebung der Stillständigkeit der Baudenkmäler stürzen den Betrachter <strong>in</strong> doppelte<br />
Unsicherheit:<br />
Wenn bei Didi-Huberman der Schädel <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Basis als Durchgangsstation für Denken und<br />
Anschauung gilt, wird dabei nicht gesagt, ob der Schädel als solcher beweglich ist. Das<br />
Bewegliche bei Didi-Huberman ist e<strong>in</strong>mal die gewölbte Schädellandschaft, die aus der<br />
Wendung der Schädelbasis entsteht, andererseits die Gedanken- und Bilderflut, die durch den<br />
Schädel h<strong>in</strong>durchfließt. <strong>Fox</strong> br<strong>in</strong>gt sowohl Betrachter als auch Objekt <strong>in</strong> Bewegung. Die<br />
Umkehrung funktioniert e<strong>in</strong>erseits über die W<strong>in</strong>zigkeit der entwurzelten Gebäude, aus der e<strong>in</strong><br />
übergroßer Betrachter erwächst, andererseits über die Größe des Erdkegels, der den<br />
Betrachter eben nicht zur Stillständigkeit zw<strong>in</strong>gt, sondern ihn <strong>in</strong> Bewegung rund um den<br />
Komposthaufen br<strong>in</strong>gt.<br />
Die Entwürfe Didi-Hubermans und Böhmes (wobei nur der von Böhme sich explizit zum<br />
Nachdenken über e<strong>in</strong>e neue Ästhetik als Kategorie bekennt) s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ihrer Orientierung auf den<br />
Körper anti<strong>in</strong>tellektualistische Entwürfe, die die S<strong>in</strong>nlichkeit dem <strong>in</strong>telligiblen Erkennen an<br />
die Seite stellen oder es sogar privilegieren. Böhme ist dabei forscher als Didi-Huberman.<br />
Dieser platziert se<strong>in</strong> ästhetisches und poetisches Empf<strong>in</strong>den <strong>in</strong> der schneckenhausförmigem<br />
Schädelbasis, die nicht nur heterotopische und metaphorische Durchgangsstelle ist, sondern<br />
auch den Übergang vom Kopf zum Körper bildet. Bei Didi-Huberman ist das Ästhetische und<br />
Poetische als Ort der Transition zu denken, der sowohl den Ort des Geistes berührt, als auch<br />
den des Körpers. Die Schnecke ist eigentlicher Ursprungsort und Ereignisort des Poetischen<br />
und Ästhetischen.<br />
Erhabenheit als e<strong>in</strong> Aspekt der klassischen Ästhetik wird aber nicht unbed<strong>in</strong>gt mit der<br />
unscharf konturierten Kategorie des Poetischen <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht, könnte<br />
möglicherweise sogar als Abgrenzungsmerkmal zwischen Ästhetischem und Poetischem<br />
dienen. Im oben angesprochenen Kippmoment zwischen Ästhetik und Anästhesie werden<br />
aber Merkmale des Erhabenen sichtbar, die das Poetische auch als das „kle<strong>in</strong>e Erhabene“<br />
charakterisierbar machen.<br />
Anders als die klassische Moderne, die mit der Umkehrung des Erhabenen operiert, <strong>in</strong>dem<br />
semantische Aspekte des Erhabenen <strong>in</strong> ihr Gegenteil verkehrt werden und so e<strong>in</strong>e neue<br />
Ästhetik, e<strong>in</strong>e Ästhetik des Hässlichen, des Unbrauchbaren und des Alltäglichen, erzeugt<br />
wird, werden hier Aspekte der Wahrnehmung verkehrt und zum Gegenstand gemacht.
Mirjam Goller – 22<br />
Die ferne Hand, die Spur, der Schleim, das Bild, das Gemälde<br />
Der Aspekt der Erhabenheit ist ursprünglich im sakralen Kontext verortet, später auch <strong>in</strong> der<br />
Anschauung gewaltiger Naturersche<strong>in</strong>ungen, die an Größe den Menschen stets geradezu<br />
maßlos überragen.<br />
Die Gebäude sakraler Provenienz auf den Schneckenhäusern s<strong>in</strong>d dagegen kle<strong>in</strong> und <strong>in</strong><br />
unsteuerbarer Bewegung. Zu diesem Moment der Autopoiesis, der Selbsterschaffung, die der<br />
Künstler selbst nicht bee<strong>in</strong>flussen kann, 49 gehört auch das Moment der Acheiropoiesis, des<br />
nicht von Menschenhand geschaffenen. In e<strong>in</strong>er etwas erweiterten Begriffsbelegung ist der<br />
poetische Aspekt des Nicht- von- Hand- Geschaffenen dem Aspekt des Vorgefundenen<br />
verwandt, das als säkularisiertes Konzept e<strong>in</strong>er sakral <strong>in</strong>itiierten Ästhetik <strong>in</strong> der Tradition der<br />
klassischen Avantgarde beheimatet ist. Von der Acheiropoiesis und Autopiesis ist es nicht<br />
weit zum Ready made und zum objet trouvé.<br />
Ob, wann, woh<strong>in</strong> und wie die Schnecken mit ihrer Überbauung über den Erdhügel kriechen,<br />
oder ob sie sich <strong>in</strong> ihr doppeltes Haus zurückziehen, kann <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong> nicht bee<strong>in</strong>flussen.<br />
Die Installation L №1 ist überdies saisonal gebunden: Schnecken halten W<strong>in</strong>terschlaf und<br />
graben sich zu diesem Zweck e<strong>in</strong>, ohne die papierne Bebauung, die nach der Ausstellung<br />
immer abgenommen wird und die Schnecken <strong>in</strong> die Freiheit entlassen.<br />
Dieser Aspekt der fremden Verantwortlichkeit für ästhetische Produktion spielt auch e<strong>in</strong>e<br />
Rolle <strong>in</strong> der großformatigen Fotoserie. Woh<strong>in</strong> die Schnecken auf den zerschossenen<br />
Häuserwänden kriechen, bleibt ihnen selbst überlassen. <strong>Fox</strong> ist lediglich Initiator dieser<br />
kriechenden Erkundung, er macht sie möglich. Die E<strong>in</strong>schüsse <strong>in</strong> den Hauswänden stellen<br />
e<strong>in</strong>e weitere Entfernung von der lenkenden und formenden Hand des Künstlers dar.<br />
Die E<strong>in</strong>schüsse s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e vorgefundene bildhauerische Situation. Das, was e<strong>in</strong> Bildhauer<br />
eigentlich tut, nämlich Material 'von Hand' zu bearbeiten, ist hier veräußert: Die Historie hat<br />
die Formung des Ste<strong>in</strong>s übernommen. Der Bildhauer an sich bleibt außen vor, f<strong>in</strong>det vor,<br />
verarbeitet. Es ist aber nicht nur der Künstler, der sich aus se<strong>in</strong>er Arbeit entfernt oder der<br />
andere Signaturen als die eigene <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Arbeit vorf<strong>in</strong>det und zulässt. Es ist auch der<br />
Betrachter, dem etwas entrückt wird: Die Schnecken, mit ihren Überbauungen und <strong>in</strong> ihrer<br />
Bewegung auf dem artfremden Untergrund zunächst Objekt des Blicks, verdecken diesen<br />
Untergrund vor dem Blick des Betrachters. Die E<strong>in</strong>schüsse, durch Geschosse (wie Blicke) 50<br />
behauene Ste<strong>in</strong>wände, bleiben dem Blick temporär verborgen bzw. die Schneckensohle<br />
49<br />
Vgl. hierzu Dario Gamboni, "Acheiropoiesis, Autopoiesis und potentielle Bilder im 19. Jahrhundert",<br />
<strong>in</strong>: Von selbst. Autopoietische Verfahren <strong>in</strong> der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, hg. v .Friedrich Weltzien, Berl<strong>in</strong><br />
2006, 63-74.<br />
50<br />
<strong>Fox</strong> weist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Text Geschoss und Engel auf die Parallele 'Blick-Projektil' h<strong>in</strong>. <strong>Fox</strong>, Geschoss und<br />
Engel.
Mirjam Goller – 23<br />
übernimmt als tastendes Auge die taktile Naherfahrung. In der Wahrnehmung e<strong>in</strong>e<br />
skulpturaler und plastischer Arbeiten ist die Hand stets Gegenüber des Auges. Die Hand (des<br />
Künstlers) bleibt hier fern, das Auge (des Betrachters) wird ersetzt durch e<strong>in</strong> anderes<br />
tastendes Organ, das <strong>in</strong> der Kunst aber ke<strong>in</strong>eswegs neu ist, sondern – im Gegenteil, ihr<br />
allegorischer Ursprung ist. Sowohl Hand als auch Auge werden durch die Schnecke ersetzt.<br />
Sie ist als Metafigur omnipotent und schließt Schaffensakt wie Akt der Wahrnehmung <strong>in</strong> sich<br />
e<strong>in</strong>.<br />
Wenn die Schneckenarbeiten sowohl als performative Installation wie auch als Fotoarbeit den<br />
autopoietischen und acheiropoietischen Prozess der Entstehung und Wahrnehmung e<strong>in</strong>er<br />
künstlerischen Arbeit ausstellen und e<strong>in</strong>en produktionsästhetischen wie rezeptionsästhetischen<br />
Aspekt aufzeigen, zeigt e<strong>in</strong>e andere Arbeit das, was bleibt. In White Cube – Anatomie e<strong>in</strong>es<br />
Kriechgangs 51 (2007) ist zunächst nichts zu identifizieren, Sehen ist hier wiederum nicht<br />
Erkennen. Es handelt sich bei dem violett e<strong>in</strong>gefärbten Farbwulst auf hellem Karton um die<br />
Schleimspur e<strong>in</strong>er Schnecke, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weißen Papierkubus umher gekrochen war, der<br />
anschließend aufgeklappt wurde und ihre Spur zeigt. Dabei ist zu sehen, dass sich die<br />
Unterseite der Schnecke, die sogenannte Schneckensohle, je nach Ort, an dem sich die<br />
Schnecke bef<strong>in</strong>det und damit eben auch je nach Situation der Schwerkraft, verändert und<br />
unterschiedlich breit ist.<br />
51 <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong>, White Cube. Anatomie e<strong>in</strong>es Kriechgangs, Anatomie Papier, 2007, Privatbesitz,<br />
<strong>in</strong>: http://www.anselmofox.eu/de/arbeiten_papier_10.html.
Abb. 7 <strong>Fox</strong>: White Cube – Anatomie e<strong>in</strong>e Kriechganges<br />
Mirjam Goller – 24<br />
Diese Arbeit spielt mit der Tradition des White Cube als privilegiertem Ausstellungsraum des<br />
20. Jahrhunderts. 52 Sie spielt aber auch mit dem Aspekt der Abstraktion – das Verhältnis von<br />
Abstraktion und Poetischem ist ebenfalls noch klärungsbedürftig, kann hier aber nur implizit<br />
besprochen werden – und der Malerei als Komplementärgattung zur Bildhauerei. Abstraktion<br />
kommt hier <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em m<strong>in</strong>destens doppelten S<strong>in</strong>ne zum Tragen. Abstraktion braucht stets<br />
e<strong>in</strong>en Gegenstand, von dem abstrahiert werden kann. Die Schneckenspur abstrahiert als<br />
zeitgenössisches Acheiropoieton und Autopoieton e<strong>in</strong>erseits vom Begriff des Künstlers als<br />
Schöpfer, wie es der romantische und modernistische Künstlermythos vorschlägt, und schließt<br />
an die Ready made- und objet trouvé- Spiele der Avantgarde an. Andererseits verschließt<br />
White Cube wiederum das Auge des Betrachters , <strong>in</strong>dem die Kriechspur ohne Anschauung im<br />
verschlossenen Kubus gelegt wird, stellt diesen schließlich vor vollendete Tatsache, vor e<strong>in</strong>e<br />
sich wulstig über die Faltkanten des geöffneten Kubus' h<strong>in</strong>ziehende Spur. Hand und Auge<br />
s<strong>in</strong>d wie <strong>in</strong> den Mollusken-Fotografien wieder entfernt. Zu sehen ist schließlich nur die<br />
ehemalige Präsenz der Schnecke. Als Hervorbr<strong>in</strong>ger<strong>in</strong> von Kultur bleibt sie unsichtbar.<br />
Schließlich wird der Betrachter e<strong>in</strong>er neuen Präsenz ansichtig, die sich von e<strong>in</strong>er<br />
dreidimensionalen Skulptur zu e<strong>in</strong>em zweidimensionalen Bild gewandelt hat. Wo Skulptur<br />
war, ist Bild geworden. Die Schneckenspur er<strong>in</strong>nert an den P<strong>in</strong>selstrich e<strong>in</strong>es Malers und<br />
52 Vgl. hierzu auch Brian O’Doherty, White Cube. In der weißen Zelle, Berl<strong>in</strong> 1996.
Mirjam Goller – 25<br />
stellt mit der Reduktion des Bildes auf den P<strong>in</strong>selduktus Malerei <strong>in</strong> nuce vor. Hier wird<br />
Position bezogen: Die Skulptur geht dem Bild voraus, ist se<strong>in</strong>e Grundlage. Die<br />
dreidimensionale Raum wird durch Auffaltung des Papierkubus’ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e zweidimensionale<br />
Bildfläche e<strong>in</strong>gefaltet. Der Ausstellungsraum des White cube f<strong>in</strong>det im Bild selbst statt, er ist<br />
geradezu e<strong>in</strong>gefaltet und ihm wird Statt gegeben. 53 Die dreidimensionale Höhlung, die bei<br />
Didi-Huberman Ursprung aller ästhetischen Erfahrung ist, wird zur Fläche abstrahiert.<br />
Als moderne Acheiropoieta und Autopoieta verhandeln die Arbeiten von <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong> nicht<br />
nur e<strong>in</strong>en zeitgenössischen Begriff des Ästhetischen und Poetischen, sondern sie machen auch<br />
den Status des Künstlers zum Gegenstand. Man könnte e<strong>in</strong>e chronologische L<strong>in</strong>ie herstellen,<br />
die von der sakralen Tradition der vera ikon, des Mandylion und der Ikone über die klassische<br />
Erhabenheitsästhetik, die modernistische semantische Umkehrung des Erhabenen, die<br />
avantgardistische Tradition des objet trouvé und des Ready mades und den<br />
postmodernistischen Begriff des Autors und Künstlers als e<strong>in</strong>er diskursiven Durchgangsstelle<br />
zu e<strong>in</strong>er neuen Positionierung gelangen: Der Künstler schafft, <strong>in</strong>dem er Diskurse komb<strong>in</strong>iert,<br />
sie sich auflädt und neu ordnet. Dass Ästhetik dabei außer Kontrolle gerät, wird e<strong>in</strong>gerechnet<br />
und ist geplant. Die schaffende Hand des Künstlers bleibt im Spiel, aber nicht ungebrochen<br />
als übergeordnete Regent<strong>in</strong> des plastischen und bildnerischen Geschehens, sondern, wie der<br />
Ausstellungsraum, als kunst<strong>in</strong>ternes Moment. Der Betrachter wird e<strong>in</strong>geschlossen: In<br />
Malevičs Schnecke wird er e<strong>in</strong>geladen (<strong>in</strong> den schwarzen Kubus) und gleichzeitig negiert<br />
(se<strong>in</strong> Blick bleibt außen vor) und wird ersetzt; durch die Installation L №1 wird er <strong>in</strong><br />
Bewegung gebracht und vor den Fotografien wird er se<strong>in</strong>es Gesichts<strong>in</strong>ns und Tasts<strong>in</strong>ns<br />
beraubt, er wird durch die Schnecke ersetzt, die gleichzeitig Hervorbr<strong>in</strong>ger<strong>in</strong> und<br />
Vollzieher<strong>in</strong>, Produzent<strong>in</strong> und Rezipient<strong>in</strong> ist, anästhetisiert.<br />
<strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong> macht die Verb<strong>in</strong>dung von Hand und Kunst, von Hand und Kunst<br />
hervorbr<strong>in</strong>gendem Schneckenhaus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Arbeit explizit: e<strong>in</strong>wachsen 54<br />
E<strong>in</strong>e lebensgroße, abgeformte Hand mit Arm aus Wachs weist mit dem Zeigef<strong>in</strong>ger <strong>in</strong>s Innere<br />
e<strong>in</strong>es Schneckenhauses. Die F<strong>in</strong>gerkuppe verschw<strong>in</strong>det dar<strong>in</strong>. Der Zeigef<strong>in</strong>ger aber ist<br />
abgerissen und mit der Hand unverbunden.<br />
53 Vgl. zum mäeutischen Raum des Statt Gebens Jaques Derrida, Chōra, Wien 1990.<br />
54 <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong>, e<strong>in</strong>wachsen,. Schneckenhaus, Wachs, lebensgroß, 2007.
Abb. 8: <strong>Fox</strong>: e<strong>in</strong>wachsen<br />
Mirjam Goller – 26<br />
Vielleicht ist gerade diese Arbeit die Ausschlag gebende für e<strong>in</strong>e Antwort auf e<strong>in</strong>e aktuelle<br />
Frage nach dem Stand des Poetischen. Hier ist noch e<strong>in</strong>mal die gestaltende Hand<br />
angesprochen, die <strong>in</strong> der sakralen Ästhetik nur e<strong>in</strong>e göttliche Hand se<strong>in</strong> konnte. Die Hand mit<br />
dem ausgestreckten und leicht gekrümmten Zeigef<strong>in</strong>ger spielt auch deutlich auf<br />
Michelangelos Erschaffung Adams aus dem Deckengemälde der Sixt<strong>in</strong>ischen Kapelle an.<br />
Nur ist der Zeigef<strong>in</strong>ger, der bei Michelangelo Adam Leben e<strong>in</strong>gibt, von der Hand abgetrennt,<br />
und die Spitze des Zeigef<strong>in</strong>ger verschw<strong>in</strong>det <strong>in</strong> der Öffnung e<strong>in</strong>es Schneckenhauses. Fraktur<br />
e<strong>in</strong>erseits, Zugabe andererseits. Der Zeigef<strong>in</strong>ger gehört <strong>in</strong> der neuen Ordnung eher zum<br />
Schneckenhaus – entspricht <strong>in</strong> der Länge ja auch dem Körper e<strong>in</strong>er kriechenden Schnecke,<br />
und die h<strong>in</strong>terlässt bekanntlich Spuren – als zur Hand. Die Schneckenspur von White Cube<br />
wäre <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne jene Spur, die der Schneckenf<strong>in</strong>ger h<strong>in</strong>terlassen hat. Die Schnecke als<br />
Repräsentation des zeichnenden, malenden F<strong>in</strong>gers, der F<strong>in</strong>ger als Repräsentation der Kunst<br />
gewordenen Schnecke. Diese gegenseitige Verweisung hebt die Repräsentation als solche auf<br />
und verdoppelt sie gleichzeitig, und dies ist e<strong>in</strong> klassisch dekonstruktiver Vorgang.
Mirjam Goller – 27<br />
Dass hier auch mit diesem Teil der jüngeren Theoriegeschichte gespielt wird, wird nicht nur<br />
<strong>in</strong> der Allusion auf die Erschaffung Adams deutlich. Der Zeigef<strong>in</strong>ger, der <strong>in</strong> der<br />
mediz<strong>in</strong>ischen Term<strong>in</strong>ologie Index heißt, steht für Signifikation und Bedeutungszuweisung.<br />
In der Peirceschen Semiotik def<strong>in</strong>iert sich e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dexikalisches Zeichen durch se<strong>in</strong>e Beziehung<br />
zum Objekt, nicht durch Ähnlichkeit. E<strong>in</strong> Index verweist, deutet auf etwas h<strong>in</strong>, ist Symptom<br />
für etwas anderes. Hier gehört der abgetrennte Zeigef<strong>in</strong>ger zum Schneckenhaus, nicht zur<br />
Hand.<br />
Semiotisch gesprochen verweist der Zeigef<strong>in</strong>ger auf Bedeutungszuweisung. Diese ist aber<br />
nicht mehr verbunden mit e<strong>in</strong>er gestaltenden Hand, sondern angebunden an e<strong>in</strong><br />
Schneckenhaus, das wiederum symbolisch und allegorisch für die Hervorbr<strong>in</strong>gung von Kunst<br />
steht. Natürlich ist dies auch e<strong>in</strong> phallisches und penetratives Moment, das sich allzu leicht als<br />
Akt der Zeugung sehen ließe und damit an den Mythos der Geburt der Kunst aus e<strong>in</strong>em<br />
Schneckenhaus fortschreibt. Das Zusammentreffen von abgelöstem Index und Schneckenhaus<br />
lässt sich aber auch als e<strong>in</strong> gewaltsamer Zusammenprall zweier nicht immer mit e<strong>in</strong>ander<br />
vere<strong>in</strong>barer Bereiche lesen, von Kunst und von Wissenschaft. Letztere lebt von der<br />
Bezeichnung. Der Index, die Signifikation (die, wie die Dekonstruktion vorführt, sowieso<br />
nicht gel<strong>in</strong>gt) stopft der Schnecke geradezu das Maul. Heißt: Kunst ist nicht. Jedenfalls nicht<br />
dann, wenn man ihr mit zugespitzten E<strong>in</strong>deutigkeiten zu nahe kommt. Und das, obwohl sich<br />
die gestaltende Hand mit ausgestrecktem Zeigef<strong>in</strong>ger nur zu gerne wie e<strong>in</strong>e sich vom<br />
muskulösen Unterarm über die filigrane Hand zum Zeigef<strong>in</strong>ger verjüngende Schlange <strong>in</strong> die<br />
W<strong>in</strong>dungen des Schneckenhauses h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>krümmen würde.<br />
Es s<strong>in</strong>d noch zwei andere Bereiche, die hier aufe<strong>in</strong>anderprallen: Hand und Kopf oder Körper<br />
und Geist. Die Schnecke als skulpturale Metapher für Kopf, Hirn und Geist 55 prallt auf Hand<br />
und Arm. Kopf und Hand weisen nicht <strong>in</strong> dieselbe Richtung. Es ist aber offensichtlich gerade<br />
diese Begegnung, wie sie auch bei Didi-Huberman <strong>in</strong> der Dürerschen Schädelschnecke<br />
angelegt ist und von Gernot Böhme e<strong>in</strong>gefordert wird, die e<strong>in</strong>e neue Ästhetik oder eben e<strong>in</strong><br />
zeitgenössischen Poetisches ausmachen kann und muss.<br />
Sog der Schnecke. Ke<strong>in</strong> Ende <strong>in</strong> Sicht. Xenophora und Elysia<br />
<strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong> spielt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Schneckenarbeiten traditionelle Positionen des Ästhetischen und<br />
Poetischen gegene<strong>in</strong>ander aus und komb<strong>in</strong>iert sie mit Aspekten, die <strong>in</strong> Diskussion um das<br />
Poetische, das vorrangig als selbstreferentiell gehandelt wird, nicht unbed<strong>in</strong>gt vorkommen.<br />
55<br />
In Michelangelos Erschaffung Adams ist das Gewand Gottes <strong>in</strong> Falten gelegt, die an die W<strong>in</strong>dungen<br />
e<strong>in</strong>es Gehirns er<strong>in</strong>nern.
Mirjam Goller – 28<br />
Die Wiederkehr des Körpers <strong>in</strong> die Wahrnehmung von Kunst muss die Diskussion um die<br />
Autoreferentialität zwangsläufig öffnen. Die Verunschärfung der Grenze zwischen Betrachter<br />
und Objekt, die zu e<strong>in</strong>er Verrückung der S<strong>in</strong>ne und zu partiellem Funktionsausfall der<br />
angesprochenen Sensorik führt, macht nicht nur die notwendige Beteiligung des S<strong>in</strong>nlichen<br />
deutlich, sondern br<strong>in</strong>gt auch die dichotomen Sphären des Wissens und des Fühlens auf den<br />
Plan. In den Arbeiten von <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong> spielt beides e<strong>in</strong>e Rolle. Dieses Poetische funktioniert<br />
nicht ohne Wissen, aber auch nicht ohne s<strong>in</strong>nliche Erfahrung.<br />
<strong>Fox</strong> entwirft hier e<strong>in</strong>e eigene Theorie des Ästhetischen und Poetischen und stellt sie im<br />
wahrsten S<strong>in</strong>ne des Wortes aus. Die Bewegung, die er zeigt, ist die e<strong>in</strong>es Schneckenhauses. Er<br />
wendet und dreht Theorie<strong>in</strong>ventar unterschiedlicher Epochen, setzt sie – wiederum im<br />
wahrsten S<strong>in</strong>ne des Wortes – <strong>in</strong> Bewegung und spitzt sie letztlich zu. Er spr<strong>in</strong>gt durch die<br />
Kunstgeschichte, fängt mit der Antike an, <strong>in</strong>dem er die Schnecke als mythologische Figur<br />
bemüht, und lässt diese Figur durch prom<strong>in</strong>ente Stationen der Kulturgeschichte laufen. Er lädt<br />
der Schnecke das Erhabene ebenso auf wie das objet trouvé der Avantgarde. Er zeigt, dass er<br />
die Hand im Spiel hat, und entfernt diese Hand ebenso spielerisch, <strong>in</strong>dem er die Schnecken<br />
unkontrolliert laufen lässt. Er verkehrt die Funktionen von sehendem Auge und tastender<br />
Hand und setzt so gerade jene S<strong>in</strong>nesorgane außer Kraft, die auch term<strong>in</strong>ologisch für e<strong>in</strong>en<br />
Zugang zur Welt stehen, für Erklärung und Begriff. Er lässt Körper und Geist aufe<strong>in</strong>ander los<br />
und setzt dem göttlichen Index aus Michelangelos Erschaffung Adams statt e<strong>in</strong>es Adams e<strong>in</strong><br />
Schneckenhaus vor. Er zeigt mit Kunst, dass Kunst nicht funktioniert, dass sie sich – e<strong>in</strong>mal<br />
mehr <strong>in</strong> der Kunstgeschichte – der genauen Bezeichnung und Bezifferung verweigert und<br />
versetzt sie damit gleichzeitig <strong>in</strong> den Status des Sakralen.<br />
Und selbst für diese Bestückung e<strong>in</strong>es Diskurses mit anderen Diskursen, so wie <strong>Fox</strong> es<br />
handhabt, hält die Schneckenkunde e<strong>in</strong>e Figur bereit. Die Zoologie kennt e<strong>in</strong>e<br />
Meeresschneckenart, die auf ihr kunstvoll gewundenes Haus zusätzlich Material auflädt:<br />
Ste<strong>in</strong>e, Muscheln, Pflanzenteile. Sie heißt Xenophora, Fremdträger<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>e andere<br />
Schneckenart verleibt sich das Fremde e<strong>in</strong> und macht es sich zu eigen: Sie übernimmt<br />
genetische Anteile von Algen, die sie e<strong>in</strong>mal frisst, und lebt anschließend von der<br />
Photosynthese, die sie nunmehr selbst betreiben kann. Diese Schneckenart trägt den Namen<br />
Elysia, nach der Insel der Seligen <strong>in</strong> der griechigen Mythologie, und damit wiederum e<strong>in</strong>en<br />
sehr kulturnahen und geradezu paradiesischen Namen.