[erscheint in: Poesie intermedial - Anselmo Fox

Mirjam Goller – 22
Die ferne Hand, die Spur, der Schleim, das Bild, das Gemälde
Der Aspekt der Erhabenheit ist ursprünglich im sakralen Kontext verortet, später auch in der
Anschauung gewaltiger Naturerscheinungen, die an Größe den Menschen stets geradezu
maßlos überragen.
Die Gebäude sakraler Provenienz auf den Schneckenhäusern sind dagegen klein und in
unsteuerbarer Bewegung. Zu diesem Moment der Autopoiesis, der Selbsterschaffung, die der
Künstler selbst nicht beeinflussen kann, 49 gehört auch das Moment der Acheiropoiesis, des
nicht von Menschenhand geschaffenen. In einer etwas erweiterten Begriffsbelegung ist der
poetische Aspekt des Nicht- von- Hand- Geschaffenen dem Aspekt des Vorgefundenen
verwandt, das als säkularisiertes Konzept einer sakral initiierten Ästhetik in der Tradition der
klassischen Avantgarde beheimatet ist. Von der Acheiropoiesis und Autopiesis ist es nicht
weit zum Ready made und zum objet trouvé.
Ob, wann, wohin und wie die Schnecken mit ihrer Überbauung über den Erdhügel kriechen,
oder ob sie sich in ihr doppeltes Haus zurückziehen, kann Anselmo Fox nicht beeinflussen.
Die Installation L №1 ist überdies saisonal gebunden: Schnecken halten Winterschlaf und
graben sich zu diesem Zweck ein, ohne die papierne Bebauung, die nach der Ausstellung
immer abgenommen wird und die Schnecken in die Freiheit entlassen.
Dieser Aspekt der fremden Verantwortlichkeit für ästhetische Produktion spielt auch eine
Rolle in der großformatigen Fotoserie. Wohin die Schnecken auf den zerschossenen
Häuserwänden kriechen, bleibt ihnen selbst überlassen. Fox ist lediglich Initiator dieser
kriechenden Erkundung, er macht sie möglich. Die Einschüsse in den Hauswänden stellen
eine weitere Entfernung von der lenkenden und formenden Hand des Künstlers dar.
Die Einschüsse sind eine vorgefundene bildhauerische Situation. Das, was ein Bildhauer
eigentlich tut, nämlich Material 'von Hand' zu bearbeiten, ist hier veräußert: Die Historie hat
die Formung des Steins übernommen. Der Bildhauer an sich bleibt außen vor, findet vor,
verarbeitet. Es ist aber nicht nur der Künstler, der sich aus seiner Arbeit entfernt oder der
andere Signaturen als die eigene in seiner Arbeit vorfindet und zulässt. Es ist auch der
Betrachter, dem etwas entrückt wird: Die Schnecken, mit ihren Überbauungen und in ihrer
Bewegung auf dem artfremden Untergrund zunächst Objekt des Blicks, verdecken diesen
Untergrund vor dem Blick des Betrachters. Die Einschüsse, durch Geschosse (wie Blicke) 50
behauene Steinwände, bleiben dem Blick temporär verborgen bzw. die Schneckensohle
49
Vgl. hierzu Dario Gamboni, "Acheiropoiesis, Autopoiesis und potentielle Bilder im 19. Jahrhundert",
in: Von selbst. Autopoietische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, hg. v .Friedrich Weltzien, Berlin
2006, 63-74.
50
Fox weist in seinem Text Geschoss und Engel auf die Parallele 'Blick-Projektil' hin. Fox, Geschoss und
Engel.