[erscheint in: Poesie intermedial - Anselmo Fox

Mirjam Goller – 10
belegen, die wir aus der äußeren Anschauung der gewölbten Welt kennen und die wir
internalisieren. Der Schädel ist Raum, ist Landschaft und kann sich nur als solches über seiner
Basis erheben, weil in ihm eine sich erhebende spiralige Form angelegt ist.
Auch Didi-Huberman kann sich dem Spiel mit der sprachlichen Wendung, 24 dem Vers, nicht
entziehen, wie auch sein Zitat und seine Bezugnahme auf das Homophon être/aître zeigt. Die
sich zuspitzende Windung des Schneckenhauses vollzieht schließlich das, was in komplexen
Texten – komplexen ästhetischen Arbeiten jeder Art – geschieht: Man könnte es 'Verdichtung'
nennen. 25 Verdichtung wiederum als Spiel mit der Korrespondenz der Gattung der Lyrik, dem
Poetischen, aber auch als eigentlicher Vorgang, als Performanz des Materials und der Form
der Schnecke.
Wenn Anselmo Fox mit Schnecken und Schneckenhäusern arbeitet, so trifft er nur zum
Schein eine Materialwahl, die dem klassischen Kanon der Bildhauermaterialien widerspricht
(und damit aber der Bildhauertradition des 20. Jahrhunderts entspricht, die sich stets für
sogenannt unedle Materialien entschieden hat). Mit der Wahl der Schnecke, die – folgt man
Didi-Huberman – den Schädel und die Stätte des Denkens repräsentiert, trifft er ins Zentrum,
ins Herz, des intellektuellen, philosophischen und ästhetischen Diskurses und damit die
edelste Wahl: Kalk ist Schädelbein, Schneckenhaus ist knochenharter Ort des Denkens und
der Imagination. Hier entsteht alles: Produktion und Rezeption.
Geheimnis der Schnecke: Innen und außen, unsichtbar und sichtbar
Fox setzt Schnecken auf unterschiedliche Weise ein: In der performativen Installation L № 1
(Luzern 2007) 26 kriechen 25 lebende Weinbergschnecken, deren Häuser mit leichten
Papiermodellen überbaut sind, 27 auf einem Komposthaufen. Die Papiermodelle stellen
winzige Repräsentationen kulturgeschichtlich relevanter Gebäude dar. Das Baptisterium von
Pisa, das Theoderich-Grab in Ravenna, die Synagoge von Dresden, das Newton-Kenotaph
24 Dieses Spiel ist so sehr Markenzeichen der französischen Philosophie seit den 1960er Jahren, dass sie
kaum auf Georges Didi-Huberman zugespitzt werden kann.
25 Das Modell der Verdichtung und Verschiebung aus Freuds Traumdeutung an, das in der
Traumverdichtung eine Aufhäufung von Bedeutungsinhalten sieht. Die Überdeterminiertheit des Trauminhalts,
die damit einhergeht, ist aus der Analyse von Tropen, Figuren des uneigentlichen Sprechens, in der Lyrikanalyse
auch hinreichend bekannt. Die Verwandtschaft von Verdichtung und Verschiebung zu Metapher und Metonymie
als den bekanntesten Tropen ist auch hinlänglich bekannt.
Dieses räumliche Verständnis von 'Viel an einem Ort' trifft auch für die Begriffsverwendung hier zu.
26 Vgl. auch Anselmo Fox, L N°3. Video, 8 min, in:
http://www.anselmofox.eu/de/arbeiten_videofilm_01.html. Materialien zur gleichnamigen Ausstellung auch
unter: http://www.anselmofox.eu/de/arbeiten_fotografie_01.html,
http://www.anselmofox.eu/de/arbeiten_im_raum_05.html,
http://www.anselmofox.eu/de/arbeiten_videofilm_01.html.
27 Maximal acht Gramm schwer.