[erscheint in: Poesie intermedial - Anselmo Fox
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Mirjam Goller – 16<br />
Untiefen, die nicht durch die Hand des Bildhauers entstanden s<strong>in</strong>d, blicken leer und bl<strong>in</strong>d<br />
zurück: Hier ist e<strong>in</strong> Pendant zur Augenhöhle entstanden – und e<strong>in</strong> Pendant zur Schädeltiefe –,<br />
die Didi-Huberman wiederum <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen Text thematisiert: Was wir sehen, blickt uns<br />
an. 34 Die unausweichliche Spaltung des Sehens ist Grundthese. Er spricht weiter davon, dass<br />
"Sehen letztlich nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Tast-Erfahrung gedacht und empfunden werden kann, was mit<br />
e<strong>in</strong>er Zurückweisung und ironischen Umkehrung uralter metaphysischer, ja mystischer<br />
Lehrsätze verbunden ist." 35 Er bezieht sich dabei auf Merleau-Pontys Phänomenologie und<br />
dessen Grundsatz, "das jedes Sichtbare aus dem Berührbaren geschnitzt ist" 36 <strong>Anselmo</strong> <strong>Fox</strong>'<br />
Mollusken-Arbeit bezieht das Taktile konsequent mit e<strong>in</strong>: Gerade das, was zu sehen ist oder<br />
se<strong>in</strong> könnte – die Höhlung und Vertiefung – wird durch die kriechende Schnecke gewölbt<br />
zugedeckt, und das, was den Betrachter anblickt – wiederum die Höhlung und Vertiefung –<br />
ebenfalls. Die Schnecken erzeugen durch ihr Kriechen aber nicht nur e<strong>in</strong>e gleichsam doppelte<br />
Erbl<strong>in</strong>dung, sondern sie ertasten die Höhlungen haptisch. Die Schneckensohle übernimmt die<br />
Funktion des tastendes Auges und wird gerade jener Orte ansichtig, die sich dem auf Distanz<br />
bef<strong>in</strong>dlichen Menschenauge verschließen. Raumerfahrung wird hier sowohl durch die<br />
Thematisierung des Distanzs<strong>in</strong>ns Sehen wie auch des Nahs<strong>in</strong>ns der Taktilität erzeugt. Über<br />
das Spiel mit Nähe und Ferne h<strong>in</strong>aus, die zwei unterschiedliche S<strong>in</strong>ne bedienen, die sich<br />
gegenseitig eigentlich ausschließen und <strong>in</strong> der Theorie von Didi-Huberman aber zu e<strong>in</strong>em<br />
ästhetischen (und möglicherweise poetischen) Effekt zusammentun, geht es hier auch um das<br />
Spiel mit Wissen und Nicht-Wissen. Die narrative Gier, die uns durch Erzählungen leitet, bis<br />
wir wissen, was sich h<strong>in</strong>ter der E<strong>in</strong>gangskonstellation verbirgt, wird hier lustvoll nicht<br />
bedient. Der ewige Aufschub, den Jacques Derrida <strong>in</strong> der Dekonstruktion zur e<strong>in</strong>zigen<br />
Möglichkeit zu genießen erklärt hat, ist hier ke<strong>in</strong> zeitlicher, sondern e<strong>in</strong> räumlicher bzw. e<strong>in</strong>e<br />
räumliche Verschiebung, der man als Betrachter nicht entkommt. Indem die Schnecken<br />
während ihrer langsamen Wanderung über die gezeichnete Hauswand stets den Ort freigeben,<br />
den sie gerade verborgen haben, besetzen sie e<strong>in</strong>en neuen und erzeugen neue Bl<strong>in</strong>dheit. Diese<br />
ist, da sich der Betrachter <strong>in</strong> sehender Distanz bef<strong>in</strong>det, immer ersichtlich. Sehen und<br />
Bl<strong>in</strong>dheit, tastende Erkenntnis und taktile Fühllosigkeit s<strong>in</strong>d gleichzeitig möglich, ebenso wie<br />
Wissen und Nicht-Wissen. Die Schnecken übernehmen stellvertretend die Tasterfahrung, der<br />
Betrachter ist geradezu amputiert und bleibt dieser direkten Erfahrung verlustig. Zur Bl<strong>in</strong>dheit<br />
tritt die taktile Taubheit.<br />
34<br />
Georges Didi-Huberman, Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999,<br />
vor allem das Kap. „Die unausweichliche Spaltung des Sehens“, 11-19.<br />
35<br />
Didi-Huberman, Was wir sehen, 13.<br />
36<br />
Maurice Mereleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, 177, gemäß Georges<br />
Didi-Huberman, Was wir sehen, 13.