[erscheint in: Poesie intermedial - Anselmo Fox
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Mirjam Goller – 19<br />
e<strong>in</strong>e neue ästhetische Erfahrung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em atmosphärischen und auratischen Raum oder<br />
Erlebnis an, 43 der sowohl das gemachte D<strong>in</strong>g umfasst (und es ist dabei gleichgültig, ob es aus<br />
e<strong>in</strong>er alltäglichen Warenwelt heraustritt oder als Kunstgegenstand <strong>ersche<strong>in</strong>t</strong>), als auch die<br />
Möglichkeit der s<strong>in</strong>nlichen Wahrnehmung des D<strong>in</strong>gs (also die Leiblichkeit, den Körper), als<br />
auch die Beschreibbarkeit. In der Alltagspraxis und auch <strong>in</strong> der Kunst sieht er das sehr wohl<br />
schon erreicht. 44<br />
Unabd<strong>in</strong>gbar für diese räumliche und zeitliche Aura (diesen Begriff entlehnt er von<br />
Benjam<strong>in</strong>), die wiederum konstitutiv ist für die Atmosphäre, ist aber die Aufhebung der<br />
Trennung von Subjekt und Objekt. Diese gibt es auch bei Didi-Huberman, allerd<strong>in</strong>gs nicht als<br />
situative Verschmelzung von Subjekt und Kontext, sondern als dialogische Struktur zwischen<br />
Wahrnehmendem und Wahrgenommenem mit stetigem Wechsel der Position: Da das, was<br />
wir ansehen, uns anblickt, werden wir selbst zum wahrgenommenem Objekt. Die Begriffe<br />
Subjekt und Objekt werden austauschbar und damit obsolet.<br />
Für die Diskussion des zeitgenössischem Poetischen ist diese Aufhebung klassischer<br />
Positionen dann von Belang, wenn Böhme z.B. von Stimmung und Gestimmtheit spricht, 45<br />
die er als Effekt e<strong>in</strong>er Atmosphäre, e<strong>in</strong>er Ekstase, e<strong>in</strong>er Aura sieht und vor allem <strong>in</strong> der<br />
Gebrauchskunst (Schaufenstergestaltung, Bühnenbildnerei, E<strong>in</strong>satz von Musik zur Erzeugung<br />
e<strong>in</strong>er verkaufsgünstigen Stimmung) verwirklicht sieht (und eben nicht <strong>in</strong> den analytischen<br />
getrennten Kategorien ästhetischer Theorie). An diesem Punkt ist Böhme der Argumentation<br />
vom Wechsel des Materials vom verme<strong>in</strong>tlich Erhabenen zu Materialien des Alltags der<br />
Geschichte der Plastik und Skulptur im 20. Jahrhundert durchaus nahe, ohne sie explizit zu<br />
machen. 46<br />
Für die Diskussion des zeitgenössisch Ästhetischen und mehr noch Poetischen bieten sich die<br />
Begriffe der Atmosphäre und des gespaltenen Sehens <strong>in</strong>sofern an, als dass beide e<strong>in</strong>en<br />
Kippmoment des Übergangs und der Unschärfe beschreiben, der zu e<strong>in</strong>em vagen Moment des<br />
Nicht-Wissens, der Orientierungslosigkeit oder des Unbewussten führen. Die Öffnung (und<br />
ausschlaggebend ist, e<strong>in</strong>e Körperhöhlung ist: die Augenhöhle. Didi-Huberman hebt die Spaltung zwischen<br />
Subjekt und Objekt auf und spaltet diese Situation auf <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Ansehen und e<strong>in</strong> Gesehenwerden.<br />
43<br />
Die Kantianischen Grundanschauungen der Zeit und des Raumes s<strong>in</strong>d dabei wiederum verunschärft<br />
und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s gesetzt.<br />
44<br />
Gernot Böhmes Bestimmung e<strong>in</strong>er neuen Ästhetik durch das Atmosphärische ist ertragreich für den<br />
Begriff des Poetischen, umgekehrt könnte man aber auch fragen, ob der Begriff des Poetischen für se<strong>in</strong>e<br />
Ausführung nicht vielleicht sogar passender wäre.<br />
45<br />
Böhme, Atmosphäre, 87.<br />
46<br />
E<strong>in</strong>e Bemerkung aus slawistischer Perspektive sei hier gestattet: Dies ist etwas, was die russischen<br />
Philosophie der Moderne lange e<strong>in</strong>gefordert und schreibend praktiziert hat und was z.B. tragend ist für die<br />
Musikphilosophie Aleksej Losevs, die Kunsttheorie Pavel Florenskijs oder die Erkenntnistheorie Nikolaj<br />
Bugaevs. Und diese – allerd<strong>in</strong>gs sprachlich motiviert – Untrennbarkeit zwischen Beschreibungssprache und<br />
Objekt ist natürlich auch Bestandteil postmoderner Theorie. Außerdem betrifft dieser Aspekt der Teilhabe auch<br />
jüngere Theorien zum Phänomen des Beobachters.