[erscheint in: Poesie intermedial - Anselmo Fox
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Mirjam Goller – 8<br />
Raum auflöst, der unser Raumdenken immer noch kategorial bestimmt. Die Schnecke gerät<br />
explizit <strong>in</strong> Bewegung.<br />
Diese Verb<strong>in</strong>dung aus Stationärem und Flexiblem wiederum beschäftigt auch den<br />
Kunstphilosophen Georges Didi-Huberman, sogar <strong>in</strong> direktem Zusammenhang mit dem<br />
Phänomen der Schnecke. Er widmet ihr mit Schnecke se<strong>in</strong> e<strong>in</strong> eigenes Kapitel se<strong>in</strong>es Buches<br />
Schädel se<strong>in</strong> 21 Zwar geht es Didi-Huberman <strong>in</strong> Anlehnung an Dürers Unterweysung<br />
wiederum vor allem um das Schneckenhaus und dessen bildnerische Grundlegung für e<strong>in</strong>e<br />
Zeichnung des menschlichen Schädels, er betrachtet den Schädel aber als e<strong>in</strong>e<br />
Durchgangsstelle für jedwede Imag<strong>in</strong>ation und Bildwerdung überhaupt. Schnecke und<br />
Schädel s<strong>in</strong>d sich ähnlich bzw. das Schneckenhaus dient zur zeichnerischen<br />
Kenntlichmachung der Eigenart e<strong>in</strong>es menschlichen Schädels, und aus oder <strong>in</strong> beiden entsteht<br />
Imag<strong>in</strong>ation. Bzw. der Schädel ist Durchgangsstelle von Imag<strong>in</strong>ation. Ihm liegt, wie Didi-<br />
Huberman an Dürers Text und Zeichnung aufzeigt, als Grundriss e<strong>in</strong>e – sich letztlich als<br />
anthropomorph im eigentlichen S<strong>in</strong>ne erweisende – Spirale zugrunde. Der Schädel zeichnet<br />
die Spiralform nach oder entsteht auf und aus e<strong>in</strong>er Spiralform. Diese ist aber nicht nur<br />
Grundriss, sondern gleichzeitig auch Vorschrift und Abbild dessen, was im Schädel vor sich<br />
geht: Denken und Imag<strong>in</strong>ation. Die Form kann nicht aus sich heraus.<br />
Didi-Huberman begnügt sich nicht mit der Schnecke als Anschauungsobjekt und<br />
Beschreibungsoption für kreative Prozesse. Er versetzt die Schnecke an jenen Ort, an dem und<br />
durch den Denken und Imag<strong>in</strong>ation stattf<strong>in</strong>den: <strong>in</strong>s menschliche Zentrum. Die Schnecke der<br />
Schädelbasis ist bei Didi-Huberman (wie <strong>in</strong> der griechischen Antike bei Aristoteles oder<br />
später <strong>in</strong> sentimentalen Diskursen das Herz) physiologische Urform aller Anschauung.<br />
Es ist nicht auszumachen, was zuerst da war, die F<strong>in</strong>dung der Schädelform <strong>in</strong> der<br />
Schneckenhausform oder die Schneckenhausform, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong> Schädel erblickt wird. Die<br />
Korrespondenz zweier kulturgeschichtlich präsenter und brisanter Formen macht die<br />
Schnecke jedenfalls auch für die Frage nach dem aktuellen Stand des Ästhetischen und<br />
Poetischen <strong>in</strong>teressant.<br />
Didi-Huberman stellt dabei e<strong>in</strong>e sowohl ontologische wie auch poetische und<br />
kunsttheoretische Frage:<br />
Noch vor dem Schädel als Zeichen, noch vor dem Schädel als Objekt, gibt es also den<br />
Schädel als Ort – den, der das Denken beunruhigt und es doch verortet, es e<strong>in</strong>hüllt, berührt<br />
und entfaltet. […] Die Ausdrucksweise unserer natürlichen Sprache ist nicht weniger<br />
21<br />
Georges Didi-Huberman, Schädel se<strong>in</strong>. Ort, Kontakt, Denken, Skulptur,. Zürich/Berl<strong>in</strong> 2008, hier bes.<br />
Kap. "Schnecke se<strong>in</strong>", 21-28.