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Fachtagung 25 Jahre Wildwasser

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<strong>Wildwasser</strong> e.V.<br />

zum einen offen für ihre Selbstdeutungen sein, zum anderen aber auch deren Verflochtenheit mit<br />

den jeweils anderen Dimensionen sehen, um es den Frauen zu ermöglichen ihren<br />

Interpretationsraum zu erweitern, damit sie sich aus möglicherweise inadäquaten psychischen<br />

Fixierungen lösen können. Das setzt allerdings voraus, dass man über verschiedene<br />

Interpretationsebenen verfügt.<br />

Das erfordert ein spezifisches Wissen über die Lebensbedingungen von Migrantinnen hier in<br />

Deutschland, über Folgen von Flucht und Migration sowie über die psychosozialen Folgen von<br />

Diskriminierung und Rassismus. Ein solches Wissen ist bei Kolleginnen mit Migrationshintergrund<br />

aller Wahrscheinlichkeit nach eher gegeben, wenngleich auch sie jeweils auch nur einen<br />

umgrenzten und spezifischen Erfahrungszugang haben. Solange diese Erfahrungen jedoch nicht<br />

als anerkanntes Wissen in den etablierten Wissenskanon dieser Gesellschaft aufgenommen<br />

worden sind und über Medien, Belletristik und Lehrbücher verbreitet werden, zumindest solange<br />

sind wir auch auf ihre persönlichen Erfahrungen angewiesen. So war dies auch bei den<br />

Erfahrungen der vom sexuellen Missbrauch betroffenen Frauen der Fall. Ihre Erfahrungen wurden<br />

erst nach langen Kämpfen in das Archiv gesellschaftlichen Wissens aufgenommen.<br />

Betroffenheit spielt insofern vor allem dann auch eine unersetzliche Rolle, wenn die Erfahrungen<br />

der Betroffenen sich nicht oder nur sehr verzerrt im allgemeinen Wissen niederschlagen. Wie hätte<br />

damals zur Zeit der Gründung von <strong>Wildwasser</strong> eine Sozialarbeiterin kompetent sein können, wenn<br />

sie in ihrer Ausbildung nichts vom sexuellem Missbrauch oder nur akademischen Mythen von ihm<br />

als Produkt kindlicher Wunschphantasien, gehört hatte. Die Erfahrungen der Betroffenen mussten<br />

dem entgegen gesetzt werden, um der Wirklichkeit zu ihrem Recht zu verhelfen und sie überhaupt<br />

ins allgemeine Bewusstsein zu heben.<br />

In einer analogen Situation befinden wir uns derzeit in Bezug auf die Erfahrungen von<br />

EinwanderInnen nach Deutschland. Diese werden in der akademischen Literatur kaum zur<br />

Kenntnis genommen, geschweige denn die dabei stattfinden psychodynamischen Prozesse<br />

genauer betrachtet und analysiert. Insofern ist es unabdingbar auf die persönlichen Erfahrungen<br />

der „Betroffenen“ zu rekurrieren und damit auch an dem gesellschaftlich Prozess ihrer<br />

Sichtbarmachung und Veröffentlichung teil zu haben und ihn zu unterstützen.<br />

Warum dies Wissen in der täglichen Arbeit so wichtig ist, zeigt eindrücklich eine Untersuchung<br />

über die Kommunikationspraxen in der deutschen Jugendhilfe von Claus Melter (2006). Er hat<br />

migrantische Jugendliche und ihre deutschen pädagogischen Berater darüber befragt, worüber sie<br />

im Laufe der Betreuung sprechen und welche Themen nicht angesprochen werden. Dabei stellte<br />

sich heraus, dass so gut wie keiner der deutschen Sozialarbeiter Rassismuserfahrungen oder<br />

Belastungen durch rechtliche Regelungen von sich aus angesprochen hat mit dem Resultat, dass<br />

die Jugendlichen diese Erfahrungsbereich auch ausgeklammert haben. So hatte ein kurdischer<br />

Jugendlicher, dessen Familie über <strong>Jahre</strong> von Abschiebung bedroht war, mit seinem<br />

Bewährungshelfer, zu dem er sonst eine vertrauensvolle Beziehung hatte, darüber nie<br />

gesprochen. Als er jedoch nicht mehr ein noch aus wusste, weil seine Eltern schon seit Wochen in<br />

einem Versteck waren und sein Bruder im Abschiebegefängnis saß, hörte er auf zur Schule zu<br />

gehen und kämpfte gegen alles und alle an: Nach dem Motto, wenn ihr mich schon rauswerft,<br />

dann will ich es euch noch richtig zeigen. Der Bewährungshelfer, der von diesem Hintergrund<br />

nichts wusste interpretierte seine Straffälligkeit als Folge familialer Gewalt. Als dieser<br />

Bewährungshelfer den Jugendlichen in einer gemeinsamen Sitzung mit dem Forscher dann fragte,<br />

warum hast du mir denn davon nichts gesagt, meinte dieser, du hast mich doch nicht danach<br />

gefragt. D.h. Offenheit alleine genügt nicht, es bedarf auch des Wissens und Gewahrseins<br />

spezifischer Umstände, um sie von sich aus auch ansprechen zu können.<br />

Melter resümiert seine Untersuchung dahingehend, dass die deutschen Sozialarbeiter/innen und<br />

PädagogInnen in ihrer Arbeit Rassismuserfahrungen nicht ansprechen und auch nicht ansprechen<br />

wollen und zwar weil sie sich dabei selbst schnell angegriffen fühlen. Das spüren die Jugendlichen<br />

und sparen deshalb diese Erfahrungen aus. D.h. es geht auch darum sich darüber klar zu werden,<br />

welche Widerstände von Seiten der Fachkräfte vorhanden sind. Oder wie es eine Mitarbeiterin von

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