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AG 18: Ausdruck und Verstehen

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3. Exkurs: Körper/Leib<br />

Krais <strong>und</strong> Gebauer kritisieren an den Übersetzungen Bourdieus „manche Gestelztheiten <strong>und</strong><br />

Absonderlichkeiten“ 64 der Sprache <strong>und</strong> führen dazu als Beispiel an, dass „das von Bourdieu<br />

verwendete Wort ‚corps‘ = ‚Körper‘ häufig mit ‚Leib‘ übersetzt“ wird 65 . Dazu ist jedoch<br />

anzumerken, dass es im Französischen keine solche Doppelung der Begriffe wie im<br />

Deutschen ‚Körper‘ <strong>und</strong> ‚Leib‘ gibt, um die es phänomenologischem Denken inhaltlich eben<br />

gerade geht. Merleau-Pontys Denken richtet sich ja gerade auf diesen Unterschied 66 .<br />

Für die Gedanken Bourdieus ist diese Übersetzung, etwa im Sinne von ‚phänomenalem Leib‘<br />

oder ‚corps vivant‘ sehr wohl sinnvoll. Wollte man schließlich Bourdieus Gedanken des<br />

Habitus auf die Begriffe Merleau-Ponty’s beziehen, so müsste man den im Spätwerk<br />

entworfenen Gedanken des ‚Fleisches‘ (la chair, nicht la viande) als kollektiver Dimension<br />

einbeziehen 67 . Der Begriff des Habitus wäre dann, je nach thematisierter bzw. verwendeter<br />

Erkenntnis-Perspektive, durchaus in diesen Begriffen unterscheidbar <strong>und</strong> würde<br />

darüberhinaus der Absicht Bourdieus, ‚Objektivität‘ <strong>und</strong> das sogenannte ‚Subjektive‘<br />

zusammenzudenken, entgegenkommen.<br />

Zur Lippe hat die Verluste, die mit der geschichtlichen Entwicklung ‚vom Leib zum Körper‘<br />

einhergehen, dargestellt 68 , <strong>und</strong> für Fuchs‘ phänomenologische Anthropologie ist die Polarität<br />

‚Körper-Leib’ als Doppelverhältnis konstitutiv 69 . Es ist in keiner Weise einzusehen, warum<br />

hinter solche begrifflichen Differenzierungen zurückgegangen werden sollte, denn anders als<br />

der objektivierbare ‚Körper‘ ist ‚Leib‘ ein relationaler Begriff.<br />

Schließlich sind die unausgesprochenen Bedeutungen von Körper <strong>und</strong> Leib mit Zeitkonzepten<br />

verknüpft. Die Zeit des Leibes ist nicht die des Körpers. Die Zeit des Körpers kann nicht die<br />

Funktion des Habitus als sozialem Band darstellen. Um diese genauer zu verstehen, muss die<br />

Zeit des Leibes betrachtet werden.<br />

4. Habitus - Zeit - Prolepsis<br />

Die ‚ontologische Komplizenschaft‘ von Leib <strong>und</strong> Welt zeigt sich als mehrfache Vermittlung<br />

von Leib <strong>und</strong> Zeit: „Als einverleibte, zur Natur gewordene Geschichte ist der Habitus<br />

wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat“ 70 . Dieses Ineinander von<br />

Vergangenheit <strong>und</strong> Gegenwart qua ‚Einverleibung‘, ‚Inkarnation‘, vermittelt sich durch Raum<br />

- <strong>und</strong> vor allem Zeitmuster: „Tatsächlich wird die praktische Meisterung der gr<strong>und</strong>legenden<br />

Schemata durch Handlungen im strukturierten Raum <strong>und</strong> in der strukturierten Zeit erworben,<br />

die sofort symbolisch eingeordnet werden <strong>und</strong> wie alle Strukturübungen fungieren. Die<br />

64 Gebauer, G., Krais, B., 2002, 7<br />

65 Gebauer, G., Krais, B., 2002, 84<br />

66 Übersetzt H. W. Arndt in „Das Auge <strong>und</strong> der Geist“ (1984) corps noch ausschließlich mit Körper, so nehmen<br />

Guiliani/Waldenfels in ‚Das Sichtbare <strong>und</strong> das Unsichtbare‘ sehr wohl eine Differenzierung vor, die den<br />

verschiedenen Bedeutungen, um die es Merleau-Ponty in der Unterscheidung von objektivem <strong>und</strong><br />

phänomenalem ‚Körper‘ geht, gerechter wird. Sie übersetzen sinnentsprechender mit „objektivem Körper <strong>und</strong><br />

phänomenalem Leib“ (Vgl. Merleau-Ponty, M., Das Sichtbare <strong>und</strong> das Unsichtbare, München 1986, <strong>18</strong>0).<br />

67 Zwei Zitate sollen diese Erkenntnisbewegung Merleau-Pontys im Spätwerk (Das Sichtbare <strong>und</strong> das<br />

Unsichtbare) andeuten: „Die Probleme, die ich in der Phänomenologie der Wahrnehmung gestellt habe, sind<br />

unlösbar, weil ich dort von der Unterscheidung ’Bewußtsein-Objekt’ ausgehe“ (Merleau-Ponty, 1986, 257). Die<br />

Lösung dieses Problems versucht er dann im Begriff des Fleisches zu denken: „Das Fleisch ist nicht Materie, es<br />

ist nicht Geist, nicht Substanz. Um es zu bezeichnen bedürfte es des alten Begriffs ‚Element‘ in dem Sinne, wie<br />

man ihn früher benutzt hat, um vom Wasser, von der Luft, von der Erde oder vom Feuer zu sprechen, d.h. im<br />

Sinne eines generellen Dinges, auf halbem Wege zwischen den raum-zeitlichen Individuen <strong>und</strong> der Idee, als eine<br />

Art inkarniertes Prinzip, das einen Seinsstil überall dort einführt, wo ein Teil davon zu finden ist. Das Fleisch in<br />

diesem Sinne ist Element des Seins“ (Merleau-Ponty, 1986, <strong>18</strong>3/4, Vgl. auch 193).<br />

68 Zur Lippe, R., Vom Leib zum Körper, Reinbek bei Hamburg 1988<br />

69 Vgl. Fuchs, Th. , Leib, Raum, Person, Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000<br />

70 Bourdieu, 1987 b, 105

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