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V. ÄSTHETIK: INKARNATION UND EXKARNATION<br />
1. Ein Blick in die Geschichte früher Hochkulturen<br />
Der folgende Einblick in die Welt früher Hochkulturen soll zeigen, wie die vorfindliche<br />
‚Geschichte‘ sich als Zeit-Raum-Muster inkarniert, so dass die Herausbildung des Habitus<br />
noch einmal historisch unterlegt wird. Darüberhinaus deutet sich an, welche Rolle das<br />
Ästhetische im Sinne von Kult <strong>und</strong> Ritual für Sozialität hat. Diese Zusammenhänge müssen<br />
erinnert werden, will man die historische Gr<strong>und</strong>lage dessen, wovon eine Ästhetik der<br />
Sozialität zu sprechen hat, begreifen.<br />
Bestimmend für diese Zusammenhänge ist das Prinzip der Mimesis als ‚Darstellung‘ der<br />
‚Zeit‘ der Himmelsbewegungen. Sie werden im Medium des Raumes, der Architektur im<br />
weiteren <strong>und</strong> engeren Sinne, der Stadt <strong>und</strong> des Tempels, zur Erscheinung gebracht <strong>und</strong><br />
verbinden sich mit einer Fülle sozialer <strong>und</strong> symbolischer Bezüge.<br />
Der Tempel als Transmitter von Kosmos, sozialer Welt <strong>und</strong> Natur macht diesen Gedanken<br />
pars pro toto deutlich. Der dem „Sonnengott Amon-Ra geweihte Tempel in Karnak (Theben)<br />
in Oberägypten wurde beispielsweise so konstruiert, daß das Innenheiligtum genau einmal im<br />
Jahr - am Tag der Sommersonnenwende - von der Sonne durchflutet wurde, während er sonst<br />
immer in Dunkelheit gehüllt lag. Dieses sicherlich spektakuläre Ereignis war aber von weitaus<br />
größerer Bedeutung, als es der astronomische Ursprung vermuten läßt, denn um die Zeit der<br />
Sommersonnenwende begann auch der Nil alljährlich über die Ufer zu treten, ein Ereignis,<br />
das für Ägypten lebensnotwendig war“ 153 . So sind Tempel auch ‚Uhren‘. Ihren ‚Zeitanzeigen’<br />
folgen dann die erforderlichen symbolischen <strong>und</strong> praktischen Vorbereitungen für Aussaat,<br />
Ernte u. a. mehr. Durch Tempel <strong>und</strong> Priesterschaft wird Zeit zur Synchronisation<br />
gesellschaftlicher Produktion im Einklang mit den Vorgängen der Natur <strong>und</strong> des Kosmos.<br />
Mimesis fungiert hier als ‚Einbildung‘ der Bewegungen des Kosmos in die Struktur des<br />
Raumes, der Architektur. Aveni zeigt an einem anderen Beispiel, wie diese Funktion sich in<br />
die Landschaft als Kalendersystem erstreckt 154 . Stadt <strong>und</strong> Umgebung ist hier selbst Raum<br />
gewordene Zeit <strong>und</strong> wird zur Matrix der Symbolbildung 155 .<br />
Leroi-Gourhan zeigt dies am Beispiel der chinesischen Stadt: „Als Zentralpunkt des Himmels<br />
<strong>und</strong> der Erde ist sie in ein Universum integriert, dessen Bild sie reflektiert [...]. Ihr Westen<br />
<strong>und</strong> ihr Osten sind Westen <strong>und</strong> Osten schlechthin, denn sie bezeichnen den Eintritts- <strong>und</strong> den<br />
Austrittspunkt des Gestirns in einem vollkommen humanisierten <strong>und</strong> symbolischen<br />
Mikrokosmos, in dem ein elementares Netz räumlicher Korrespondenzen mitschwingt. Die<br />
153 Maor, E., Dem Unendlichen auf der Spur, Basel, Boston, Berlin, 1989, 2<strong>18</strong><br />
154 Aveni zeigt über diesen Aspekt des Tempels als Uhr hinaus am Beispiel von Cuzko, Hauptstadt der Inka, wie<br />
von diesem Zentrum ausgehend ein ganzes System von Richtungen als Zeit - Symbol- <strong>und</strong> - Handlungsachsen in<br />
die umgebende Landschaft hinein als Kalender fungierte. Er bestand aus spezifischen Sichtlinien, die auf<br />
markante Positionen der Sonnenbewegung am Horizont zuliefen <strong>und</strong> ein Tageszählersystem einschlossen. Der<br />
Name der Stadt Cuzco selbst verweist auf diese Orientierungsfunktion. Cuzco heißt in der Landessprache<br />
Tahuantinsuyu. Das bedeutet die vier Viertel - Orientierung an den Himmelsrichtungen (Aveni, A., 1991, 354).<br />
Gleichzeitig verknüpften sich mit diesem ‚Kalender‘ eine Fülle symbolischer Zuordnungen, in dem sich das<br />
gesamte Beziehungsgefüge, Sozialordnung, Arbeit <strong>und</strong> Opferhandlungen, in einen Zusammenhang mit solaren<br />
<strong>und</strong> lunaren Rhythmen brachten <strong>und</strong> mit den Vorstellungen des Himmelsgottes Virachocha <strong>und</strong> der Erdgöttin<br />
Pachamama verbanden. So war z. B. die obere Hälfte der Stadt den himmlischen Dingen <strong>und</strong> der männlichen<br />
Charakteristik zugeordnet, während der untere Teil der Stadt genealogisch zur Erde gehörte <strong>und</strong> weibliche<br />
Aspekte aufwies (Aveni, 360).<br />
155 Die symbolische Darstellung des Universums, „das in seinen großen Zügen in Amerika, China, Indien,<br />
Mesopotamien, Ägypten <strong>und</strong> überall, wo eine Kultur die Schwelle zur Schrift überschritten hat, überraschende<br />
Ähnlichkeiten aufweist [...], enthält zwei Momente: Die Fixierung der Hauptstadt am Kreuzungspunkte der<br />
wichtigsten Linien <strong>und</strong> die Konstruktion eines Korrespondenz-Codes, der nach <strong>und</strong> nach die ganze Schöpfung in<br />
sein Netz hereinzieht“ (Leroi-Gourhan, A., Hand <strong>und</strong> Wort, Die Evolution von Technik, Sprache <strong>und</strong> Kunst,<br />
Frankfurt/M., 1988, 405/6).