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AG 18: Ausdruck und Verstehen

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V. ÄSTHETIK: INKARNATION UND EXKARNATION<br />

1. Ein Blick in die Geschichte früher Hochkulturen<br />

Der folgende Einblick in die Welt früher Hochkulturen soll zeigen, wie die vorfindliche<br />

‚Geschichte‘ sich als Zeit-Raum-Muster inkarniert, so dass die Herausbildung des Habitus<br />

noch einmal historisch unterlegt wird. Darüberhinaus deutet sich an, welche Rolle das<br />

Ästhetische im Sinne von Kult <strong>und</strong> Ritual für Sozialität hat. Diese Zusammenhänge müssen<br />

erinnert werden, will man die historische Gr<strong>und</strong>lage dessen, wovon eine Ästhetik der<br />

Sozialität zu sprechen hat, begreifen.<br />

Bestimmend für diese Zusammenhänge ist das Prinzip der Mimesis als ‚Darstellung‘ der<br />

‚Zeit‘ der Himmelsbewegungen. Sie werden im Medium des Raumes, der Architektur im<br />

weiteren <strong>und</strong> engeren Sinne, der Stadt <strong>und</strong> des Tempels, zur Erscheinung gebracht <strong>und</strong><br />

verbinden sich mit einer Fülle sozialer <strong>und</strong> symbolischer Bezüge.<br />

Der Tempel als Transmitter von Kosmos, sozialer Welt <strong>und</strong> Natur macht diesen Gedanken<br />

pars pro toto deutlich. Der dem „Sonnengott Amon-Ra geweihte Tempel in Karnak (Theben)<br />

in Oberägypten wurde beispielsweise so konstruiert, daß das Innenheiligtum genau einmal im<br />

Jahr - am Tag der Sommersonnenwende - von der Sonne durchflutet wurde, während er sonst<br />

immer in Dunkelheit gehüllt lag. Dieses sicherlich spektakuläre Ereignis war aber von weitaus<br />

größerer Bedeutung, als es der astronomische Ursprung vermuten läßt, denn um die Zeit der<br />

Sommersonnenwende begann auch der Nil alljährlich über die Ufer zu treten, ein Ereignis,<br />

das für Ägypten lebensnotwendig war“ 153 . So sind Tempel auch ‚Uhren‘. Ihren ‚Zeitanzeigen’<br />

folgen dann die erforderlichen symbolischen <strong>und</strong> praktischen Vorbereitungen für Aussaat,<br />

Ernte u. a. mehr. Durch Tempel <strong>und</strong> Priesterschaft wird Zeit zur Synchronisation<br />

gesellschaftlicher Produktion im Einklang mit den Vorgängen der Natur <strong>und</strong> des Kosmos.<br />

Mimesis fungiert hier als ‚Einbildung‘ der Bewegungen des Kosmos in die Struktur des<br />

Raumes, der Architektur. Aveni zeigt an einem anderen Beispiel, wie diese Funktion sich in<br />

die Landschaft als Kalendersystem erstreckt 154 . Stadt <strong>und</strong> Umgebung ist hier selbst Raum<br />

gewordene Zeit <strong>und</strong> wird zur Matrix der Symbolbildung 155 .<br />

Leroi-Gourhan zeigt dies am Beispiel der chinesischen Stadt: „Als Zentralpunkt des Himmels<br />

<strong>und</strong> der Erde ist sie in ein Universum integriert, dessen Bild sie reflektiert [...]. Ihr Westen<br />

<strong>und</strong> ihr Osten sind Westen <strong>und</strong> Osten schlechthin, denn sie bezeichnen den Eintritts- <strong>und</strong> den<br />

Austrittspunkt des Gestirns in einem vollkommen humanisierten <strong>und</strong> symbolischen<br />

Mikrokosmos, in dem ein elementares Netz räumlicher Korrespondenzen mitschwingt. Die<br />

153 Maor, E., Dem Unendlichen auf der Spur, Basel, Boston, Berlin, 1989, 2<strong>18</strong><br />

154 Aveni zeigt über diesen Aspekt des Tempels als Uhr hinaus am Beispiel von Cuzko, Hauptstadt der Inka, wie<br />

von diesem Zentrum ausgehend ein ganzes System von Richtungen als Zeit - Symbol- <strong>und</strong> - Handlungsachsen in<br />

die umgebende Landschaft hinein als Kalender fungierte. Er bestand aus spezifischen Sichtlinien, die auf<br />

markante Positionen der Sonnenbewegung am Horizont zuliefen <strong>und</strong> ein Tageszählersystem einschlossen. Der<br />

Name der Stadt Cuzco selbst verweist auf diese Orientierungsfunktion. Cuzco heißt in der Landessprache<br />

Tahuantinsuyu. Das bedeutet die vier Viertel - Orientierung an den Himmelsrichtungen (Aveni, A., 1991, 354).<br />

Gleichzeitig verknüpften sich mit diesem ‚Kalender‘ eine Fülle symbolischer Zuordnungen, in dem sich das<br />

gesamte Beziehungsgefüge, Sozialordnung, Arbeit <strong>und</strong> Opferhandlungen, in einen Zusammenhang mit solaren<br />

<strong>und</strong> lunaren Rhythmen brachten <strong>und</strong> mit den Vorstellungen des Himmelsgottes Virachocha <strong>und</strong> der Erdgöttin<br />

Pachamama verbanden. So war z. B. die obere Hälfte der Stadt den himmlischen Dingen <strong>und</strong> der männlichen<br />

Charakteristik zugeordnet, während der untere Teil der Stadt genealogisch zur Erde gehörte <strong>und</strong> weibliche<br />

Aspekte aufwies (Aveni, 360).<br />

155 Die symbolische Darstellung des Universums, „das in seinen großen Zügen in Amerika, China, Indien,<br />

Mesopotamien, Ägypten <strong>und</strong> überall, wo eine Kultur die Schwelle zur Schrift überschritten hat, überraschende<br />

Ähnlichkeiten aufweist [...], enthält zwei Momente: Die Fixierung der Hauptstadt am Kreuzungspunkte der<br />

wichtigsten Linien <strong>und</strong> die Konstruktion eines Korrespondenz-Codes, der nach <strong>und</strong> nach die ganze Schöpfung in<br />

sein Netz hereinzieht“ (Leroi-Gourhan, A., Hand <strong>und</strong> Wort, Die Evolution von Technik, Sprache <strong>und</strong> Kunst,<br />

Frankfurt/M., 1988, 405/6).

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