06.11.2013 Aufrufe

AG 18: Ausdruck und Verstehen

AG 18: Ausdruck und Verstehen

AG 18: Ausdruck und Verstehen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

28<br />

ausgelassen: das Ballspiel selbst wird zur analogen Symbolform der Mimesis an den Kosmos<br />

wie ein historisch anderes Beispiel zeigt 163 . Rituale <strong>und</strong> Spiele transponieren die dem Raum<br />

eingebildete Zeit in Bewegung, so dass sie aufs Neue inkarniert wird.<br />

Die Darstellung der Bewegungen des Universums, fand bis in die Gegenwart hinein ihren<br />

<strong>Ausdruck</strong> auch in Prozessionen. Der bei uns noch geläufige Laternenumzug der Kinder<br />

bewahrt noch etwas vom Sinn solcher Prozession auf. Das Lied, welches dazu gesungen wird,<br />

erinnert an seinen kosmologischen Ursprung: „Laterne, Laterne, Sonne, Mond <strong>und</strong> Sterne...“.<br />

Wie oben so unten.<br />

Die Ähnlichkeiten, welche diese Welt der frühen Hochkulturen herstellen, sind die zwischen<br />

Zeit <strong>und</strong> Raum, Himmel <strong>und</strong> Erde, Zahlen, Sinnesfeldern u.a. mehr. Ein solches System der<br />

‚Logik der Praxis‘ strukturiert die transmodal-pathische Tiefenschicht, verbindet sie mit der<br />

Sprache <strong>und</strong> schafft so ein soziales Band von Bewegungen <strong>und</strong> Bedeutungen, deren<br />

<strong>Verstehen</strong> dem Leib ‚eingeschrieben‘ ist. Was auf diesem Wege inkarniert wurde, ist der<br />

modus operandi, die Erzeugungsformel, aus der das opus operatum, die ‚Exkarnationen‘ aller<br />

‚Kunst‘ <strong>und</strong> ‚Künste‘ sich generieren <strong>und</strong> re-generieren.<br />

Vielleicht ist es dieser vergessene Zusammenhang, der V. v. Weizsäcker intuitiv für unsere<br />

Orientierung in der Stadt, in der wir leben den <strong>Ausdruck</strong> ‚Kunstwelt‘ finden ließ 164 .<br />

2. Gegenwart: Graffitti 165<br />

Anhand von Baudrillards Reflexionen über die New Yorker Graffiti: ‘Kool Killer oder der<br />

Aufstand der Zeichen’ 166 , möchte ich eine Deutung der Graffiti als Exkarnation inkarnierter<br />

medial vermittelter Lebenswelt vorschlagen. Zunächst befrage ich Baudrillards Text.<br />

Für Baudrillard ist an den Graffiti - neben einer Fülle semiotisch interessanter Fragen - ihre<br />

Nicht-Semantik, ihre “Leere”, das Entscheidende. „Ihre Botschaft ist gleich Null” 167 .<br />

Hinter oder unter dieser semantischen Leere taucht nun aber in seinem Text doch noch eine<br />

andere ‘Botschaft’ auf. Lesen wir eine Textpassage: „Das Graffiti läuft von einem Haus zum<br />

nächsten, von der Wand eines Wohnhauses zur nächsten, von der Wand über das Fenster<br />

oder die Tür oder über die Scheibe der U-Bahn, über den Bürgersteig, es greift übereinander,<br />

kotzt sich aus, überlagert sich” 168 .<br />

Jenseits des zeichentheoretischen Horizontes tauchen in diesem Text also ‘Botschaften’ auf,<br />

die der Text selbst nicht reflektiert. Die Art der Bewegung der Graffiti, ihre<br />

Bewegungsanmutung, ist ihre “Botschaft”. Sie ist selbst Bedeutung, auch wenn diese<br />

Bedeutung nicht als gelesenes Zeichen, sondern in transmodal-pathischer Wahrnehmung zu<br />

erschließen ist 169 . Als solche ist ihre Botschaft also keineswegs “gleich Null”. Graffitti als<br />

163 In der Kathedrale von Auxerre wurde am Ostertag ein Tanzspiel getanzt, verb<strong>und</strong>en mit einem sakralen<br />

Ballspiel, „auf dem Labyrinth, das im Mosaikwerk den Boden ziert. Nach der Weise <strong>und</strong> dem Takt der<br />

Ostersequenz Victimae paschale schreiten Bischof <strong>und</strong> Kleriker in schöner Tanzordnung über die Figuren <strong>und</strong><br />

werfen sich einen Ball zu - pilota, der lateinische Name dieser österlichen Sphaira [...] am Abend eines Tages,<br />

der die siegreiche Ostersonne gefeiert hat“ (Rahner, zit. in Goergen, A., Wiederbegegnung mit den Tänzen der<br />

Liturgie, 1991, 71).<br />

164 Weizsäcker nimmt dies als Beispiel für die Einordnung des Lebewesens in die Umwelt, für welche es als<br />

angepasst gilt. Er betont die aus den wiederholten Bewegungen, gewohnten Wegen, Zielen zu gewohnten<br />

Tageszeiten (im Gegensatz zur Kenntnis des Stadtplans) hervorgehende Orientierung. Dass diese Umgebung der<br />

Stadt selbst schon Orientierung im oben gezeigten Sinne ist, hat er allerdings nicht berücksichtigt (Weizsäcker,<br />

V. v., 1986, 97/98).<br />

165 Dieser Text ist die überarbeitete Fassung einer Vortrags-Passage (Vgl. Schnakenburg, 2004, 39/40)<br />

166<br />

Baudrillard, J., Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, in: Barck, K-H., Gente, P. u. A. (Hrsg.), 1998,<br />

Vgl. als Bilder z.B.: Gassen, W. R., (Red.) New York Graffitti , 1987<br />

167 Baudrillard, 228<br />

168 Baudrillard, 227, 225<br />

169 Dennoch ist diese Wahrnehmungsebene auch in der Sprache unverzichtbar, sowohl in der Alltagssprache als<br />

auch in poetischer Sprache. Das, was Baudrillard uns hier an ERLEBNISdichte der wahrgenommenen Graffiti<br />

mitteilt, ihr „Laufen, Hüpfen, Sich-Auskotzen“, ist in diskursiven, objektivierenden Sprachfiguren überhaupt

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!