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ausgelassen: das Ballspiel selbst wird zur analogen Symbolform der Mimesis an den Kosmos<br />
wie ein historisch anderes Beispiel zeigt 163 . Rituale <strong>und</strong> Spiele transponieren die dem Raum<br />
eingebildete Zeit in Bewegung, so dass sie aufs Neue inkarniert wird.<br />
Die Darstellung der Bewegungen des Universums, fand bis in die Gegenwart hinein ihren<br />
<strong>Ausdruck</strong> auch in Prozessionen. Der bei uns noch geläufige Laternenumzug der Kinder<br />
bewahrt noch etwas vom Sinn solcher Prozession auf. Das Lied, welches dazu gesungen wird,<br />
erinnert an seinen kosmologischen Ursprung: „Laterne, Laterne, Sonne, Mond <strong>und</strong> Sterne...“.<br />
Wie oben so unten.<br />
Die Ähnlichkeiten, welche diese Welt der frühen Hochkulturen herstellen, sind die zwischen<br />
Zeit <strong>und</strong> Raum, Himmel <strong>und</strong> Erde, Zahlen, Sinnesfeldern u.a. mehr. Ein solches System der<br />
‚Logik der Praxis‘ strukturiert die transmodal-pathische Tiefenschicht, verbindet sie mit der<br />
Sprache <strong>und</strong> schafft so ein soziales Band von Bewegungen <strong>und</strong> Bedeutungen, deren<br />
<strong>Verstehen</strong> dem Leib ‚eingeschrieben‘ ist. Was auf diesem Wege inkarniert wurde, ist der<br />
modus operandi, die Erzeugungsformel, aus der das opus operatum, die ‚Exkarnationen‘ aller<br />
‚Kunst‘ <strong>und</strong> ‚Künste‘ sich generieren <strong>und</strong> re-generieren.<br />
Vielleicht ist es dieser vergessene Zusammenhang, der V. v. Weizsäcker intuitiv für unsere<br />
Orientierung in der Stadt, in der wir leben den <strong>Ausdruck</strong> ‚Kunstwelt‘ finden ließ 164 .<br />
2. Gegenwart: Graffitti 165<br />
Anhand von Baudrillards Reflexionen über die New Yorker Graffiti: ‘Kool Killer oder der<br />
Aufstand der Zeichen’ 166 , möchte ich eine Deutung der Graffiti als Exkarnation inkarnierter<br />
medial vermittelter Lebenswelt vorschlagen. Zunächst befrage ich Baudrillards Text.<br />
Für Baudrillard ist an den Graffiti - neben einer Fülle semiotisch interessanter Fragen - ihre<br />
Nicht-Semantik, ihre “Leere”, das Entscheidende. „Ihre Botschaft ist gleich Null” 167 .<br />
Hinter oder unter dieser semantischen Leere taucht nun aber in seinem Text doch noch eine<br />
andere ‘Botschaft’ auf. Lesen wir eine Textpassage: „Das Graffiti läuft von einem Haus zum<br />
nächsten, von der Wand eines Wohnhauses zur nächsten, von der Wand über das Fenster<br />
oder die Tür oder über die Scheibe der U-Bahn, über den Bürgersteig, es greift übereinander,<br />
kotzt sich aus, überlagert sich” 168 .<br />
Jenseits des zeichentheoretischen Horizontes tauchen in diesem Text also ‘Botschaften’ auf,<br />
die der Text selbst nicht reflektiert. Die Art der Bewegung der Graffiti, ihre<br />
Bewegungsanmutung, ist ihre “Botschaft”. Sie ist selbst Bedeutung, auch wenn diese<br />
Bedeutung nicht als gelesenes Zeichen, sondern in transmodal-pathischer Wahrnehmung zu<br />
erschließen ist 169 . Als solche ist ihre Botschaft also keineswegs “gleich Null”. Graffitti als<br />
163 In der Kathedrale von Auxerre wurde am Ostertag ein Tanzspiel getanzt, verb<strong>und</strong>en mit einem sakralen<br />
Ballspiel, „auf dem Labyrinth, das im Mosaikwerk den Boden ziert. Nach der Weise <strong>und</strong> dem Takt der<br />
Ostersequenz Victimae paschale schreiten Bischof <strong>und</strong> Kleriker in schöner Tanzordnung über die Figuren <strong>und</strong><br />
werfen sich einen Ball zu - pilota, der lateinische Name dieser österlichen Sphaira [...] am Abend eines Tages,<br />
der die siegreiche Ostersonne gefeiert hat“ (Rahner, zit. in Goergen, A., Wiederbegegnung mit den Tänzen der<br />
Liturgie, 1991, 71).<br />
164 Weizsäcker nimmt dies als Beispiel für die Einordnung des Lebewesens in die Umwelt, für welche es als<br />
angepasst gilt. Er betont die aus den wiederholten Bewegungen, gewohnten Wegen, Zielen zu gewohnten<br />
Tageszeiten (im Gegensatz zur Kenntnis des Stadtplans) hervorgehende Orientierung. Dass diese Umgebung der<br />
Stadt selbst schon Orientierung im oben gezeigten Sinne ist, hat er allerdings nicht berücksichtigt (Weizsäcker,<br />
V. v., 1986, 97/98).<br />
165 Dieser Text ist die überarbeitete Fassung einer Vortrags-Passage (Vgl. Schnakenburg, 2004, 39/40)<br />
166<br />
Baudrillard, J., Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, in: Barck, K-H., Gente, P. u. A. (Hrsg.), 1998,<br />
Vgl. als Bilder z.B.: Gassen, W. R., (Red.) New York Graffitti , 1987<br />
167 Baudrillard, 228<br />
168 Baudrillard, 227, 225<br />
169 Dennoch ist diese Wahrnehmungsebene auch in der Sprache unverzichtbar, sowohl in der Alltagssprache als<br />
auch in poetischer Sprache. Das, was Baudrillard uns hier an ERLEBNISdichte der wahrgenommenen Graffiti<br />
mitteilt, ihr „Laufen, Hüpfen, Sich-Auskotzen“, ist in diskursiven, objektivierenden Sprachfiguren überhaupt