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AG 18: Ausdruck und Verstehen

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20<br />

Die Bedeutung der Dauer solch impliziten kollektiven Gedächtnisses macht ein ganz anderes<br />

Beispiel deutlich. Imhoff zeigt im historischen Vergleich zweier Orte, wie sich traumatische<br />

Geschichte des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts (Pest, Hunger <strong>und</strong> Krieg) als Existenzbedrohung der<br />

gesamten Gemeinschaft, im unterschiedlichen Lebenstil als ‚Haltung‘ zu den gr<strong>und</strong>legenden<br />

Vorgängen des Lebens niedergeschlagen hat 113 . Sie sind „in Fleisch <strong>und</strong> Blut aller<br />

Bewohner“, ins „kollektive Nicht-Bewusste“ übergegangen <strong>und</strong> wirkten bis zum Ende des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, ja bis in die erste Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts nach.<br />

3. Mimesis: Neurophysiologie<br />

Ohne dass der Begriff Mimesis fällt, kann man das mimetische Vermögen auch mit den<br />

Forschungen Galleses 114 neurophysiologisch darstellen. Seine Forschungen an Halbaffen<br />

zeigen, dass sowohl bei einer ausgeführten als auch einer nur wahrgenommenen Handlung die<br />

gleichen Neuronen ‚feuern‘, <strong>und</strong> das gilt offensichtlich auch für menschliches Verhalten. So<br />

werden beim Beobachten von Schmerz genau die Nervenzellnetzwerke aktiv, die auch beim<br />

selbst erlebten Schmerz feuern. Hier zeigt sich Mimesis als innerer Mitvollzug, als<br />

‚Einbildung‘ des Verhaltens der anderen.<br />

Gallese zeigt mit diesen Forschungen, dass wir andere, ohne nachzudenken, verstehen können<br />

<strong>und</strong> dass diese Systeme eine wesentliche Rolle in der Bindung menschlicher Individuen<br />

spielen. Ferner nimmt er an, dass die Funktion der Spiegelneuronen im proleptischen Sinne<br />

des Entwurfs <strong>und</strong> Kontrolle von Handlungssequenzen zu begreifen ist <strong>und</strong> sich auch<br />

phylogenetisch in diesem Sinne entwickelt haben könnte 115 . Bauer 116 hat diesen Aspekt<br />

proleptischer Intuition 117 besonders betont.<br />

Das Konzept der shared manifold Hypothese der Intersubjektivität begründet Gallese damit,<br />

dass Handlungen <strong>und</strong> Gefühle anderer deshalb für uns bedeutungsvoll sind, weil wir sie<br />

miteinander teilen können.<br />

Im Rückgriff auf Theodor Lipps wird die ästhetische Bedeutung der ‚Einfühlung‘<br />

angesprochen <strong>und</strong> die gewonnenen Erkenntnisse auf die phänomenologische Philosophie<br />

Husserls, Edith Steins <strong>und</strong> Merleau-Pontys bezogen 1<strong>18</strong> .<br />

113 Imhoff, A. E., Die verlorenen Welten, Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren, München 1984.<br />

Imhoff schildert dieses auf der Gr<strong>und</strong>lage viefältiger historischer Untersuchungen, im Vergleich von Gabelbach<br />

im süddeutschen Schwaben <strong>und</strong> Hesel im norddeutschen Ostfriesland. Gabelbach war sehr viel dramatischer <strong>und</strong><br />

in kürzeren Abfolgen derartigen Traumatisierungen (Pest, Hunger <strong>und</strong> Krieg) ausgesetzt. Diese kollektiven<br />

Erfahrungen haben sich in den verschiedenen Einstellungen zum Leben <strong>und</strong> Überleben niedergeschlagen. Dies<br />

zeigt sich in der bemerkenswert niedrigeren Säuglingssterblichkeit in Hesel. Imhoff bringt dies damit in<br />

Zusammenhang, dass am einen Ort die Achtung vor dem Leben der Mütter <strong>und</strong> der Ehepartner untereinander<br />

größer war als am anderen (Imhoff, 108). Dazu gehörte z. B., dass die Frauen bis kurz vor der Geburt <strong>und</strong> kurz<br />

danach schwere Arbeiten verrichten, im anderen, dass längere Stillzeiten auch als Empfängnisschutz wirkten,<br />

gleichzeitig aber auch die bessere Ernährung waren <strong>und</strong> dass sich dadurch ein sehr viel intesiverer Kontakt<br />

zwischen Müttern <strong>und</strong> Kindern entwickelte, während sich im anderen Fall eine größere Gleichgültigkeit<br />

gegenüber den Neugeborenen entstand. (Imhoff, 111).<br />

114 Gallese, V., The ‚Shared Manifold’ Hypothesis, From Mirror Neurons To Empaththy, in: Journal of<br />

Consciousness Studies, 8, No. 5 – 7, 2001, pp 33 - 50<br />

115 Gallese, 2001, 40/41<br />

116 Bauer, J., Warum ich fühle, was du fühlst, Intuitive Kommunikation <strong>und</strong> das Geheimnis der Spiegelneurone,<br />

Hamburg 2005<br />

117 Im impliziten Wissen dieser unbewussten Mimesis bildet sich unsere Intuition. Hier entstehen die Ahnungen<br />

darüber, was im weiteren Verlauf zu erwarten sein wird. Solche intuitiven Vorhersagen, gehen weit über<br />

Bewegungsabläufe hinaus. Dies geschieht vermutlich nach dem Pars-pro-toto-Prinzip, denn „Spiegelneurone<br />

können beobachtete Teile einer Szene zu einer wahrscheinlich zu erwartenden Gesamtsequenz ergänzen“ (Bauer,<br />

2005, 32). Bourdieu sprach davon, dass die „Logik der Übertragung von Schemata, die aus jeder Technik des<br />

Leibes eine Art pars totalis macht, die von vornherein nach dem Paralogismus des pars pro toto fungieren kann,<br />

also jederzeit das ganze System beschwört, zu dem sie gehört“ (Bourdieu, 1987 b, 128).<br />

1<strong>18</strong> Gallese, 2001, 43/44

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