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Determinismus bei Nietzsche Moralische Implikationen und ...

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<strong>Determinismus</strong> <strong>bei</strong> <strong>Nietzsche</strong><br />

<strong>Moralische</strong> <strong>Implikationen</strong> <strong>und</strong> Explikationen<br />

6. Oktober 2004<br />

Zum Proseminar ”<br />

Friedrich <strong>Nietzsche</strong>: Menschliches, Allzumenschliches“<br />

am Philosophie Department der LMU München<br />

<strong>bei</strong> Dr. Matteo Vincenzo d’Alfonso<br />

vorgelegt von Johannes Oberreuter aus Passau<br />

johannes.oberreuter@gmx.de<br />

1


Inhaltsverzeichnis<br />

1 Einleitung 3<br />

2 Methode 3<br />

2.1 Methodischer Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

2.2 Quellenkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4<br />

3 <strong>Nietzsche</strong>s Erkenntnismethode 5<br />

3.1 Ablehnung philosophischer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />

3.2 Gegenepistemologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />

3.3 Wille zur Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

4 <strong>Determinismus</strong>-Begriff <strong>bei</strong> <strong>Nietzsche</strong> 11<br />

4.1 <strong>Determinismus</strong>: Definition <strong>und</strong> naturwissenschaftliches Verständnis . 12<br />

4.2 <strong>Nietzsche</strong> <strong>und</strong> die Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />

4.2.1 Naturwissenschaftliche Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

4.2.2 Ablehnung der Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . 18<br />

5 Naturwissenschaft <strong>und</strong> Moral 20<br />

6 Fazit <strong>und</strong> Kritik 24<br />

2


Der große Kunstgriff kleine Abweichungen von der Wahrheit für die<br />

Wahrheit selbst zu halten, worauf die ganze Differential-Rechnung gebaut<br />

ist, ist auch zugleich der Gr<strong>und</strong> unsrer witzigen Gedanken, wo oft<br />

das Ganze hinfallen würde, wenn wir die Abweichungen in einer philosophischen<br />

Strenge nehmen würden.<br />

(Georg Christoph Lichtenberg, [15, [A1]])<br />

1 Einleitung<br />

Friedrich <strong>Nietzsche</strong> erkennt: ”<br />

Alles Menschliche insgesamt ist des grossen Ernstes<br />

nicht werth, trotzdem – –“ 1 schreibt er ein ”<br />

Buch für freie Geister“, das er 1878<br />

erstmals unter dem Titel ”<br />

Menschliches, Allzumenschliches“ herausgibt. Die zunehmende<br />

Abkühlung seiner Fre<strong>und</strong>schaft zu Richard Wagner, die dem Abfassen des<br />

Buches vorausgeht, erleichtert <strong>Nietzsche</strong>, dem Bedürfnis nach vielfältigen Brüchen<br />

nachzugeben; dem Bruch der Form, in der der aphoristische Stil das geschlossene<br />

Argumentieren ablöst <strong>und</strong> zu einer neuen Spielart der Philosophie insgesamt wird;<br />

einem Bruch mit der Kunst vor allem Richard Wagners, denn noch vor Herausgabe<br />

des zweiten Bandes muss er mitansehen: ”<br />

Richard Wagner, scheinbar der Siegreichste,<br />

in Wahrheit ein morsch gewordener, verzweifelnder Romantiker, sank plötzlich,<br />

hülflos <strong>und</strong> zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze nieder . . .“. 2 Er beginnt einem<br />

neuen Menschentypus zu huldigen: ”<br />

Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung<br />

des künstlerischen.“ 3 Auch einem Bruch mit dem Christentum <strong>und</strong> dessen<br />

Moralvorstellung.<br />

Moral <strong>und</strong> Wissenschaft markieren die Ecksteine der vorliegenden Untersuchung. Es<br />

stiftet viel Verwirrung, dass <strong>Nietzsche</strong> keine Skrupel hat, sich innerhalb eines einzigen<br />

Werkes, über ein <strong>und</strong> dieselbe Sache in sich widersprechender Weise zu äußern.<br />

So bereitet es ihm keine Schwierigkeiten, Erkenntnisse der Wissenschaft als völlig<br />

gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> haltlos zu entlarven, sie aber gleichzeitig für ein großen ”<br />

Glücksfall“ zu<br />

halten. 4 Auch der Moral vermag er zugleich den Boden zu entziehen <strong>und</strong> dennoch<br />

” etwas <strong>Moralische</strong>s höchster Gattung aus einer Schwarzwurzel herausblühen“5 zu<br />

sehen.<br />

Diese Ar<strong>bei</strong>t untersucht auf der Gr<strong>und</strong>lage seines Wissenschaftsverständnisses, in<br />

welcher Weise, wenn überhaupt, <strong>Nietzsche</strong> einen Begriff von <strong>Determinismus</strong> gebraucht,<br />

inwiefern dieser in Konflikt mit einem freien Willen gerät <strong>und</strong> welche<br />

Auswirkungen auf die Moral dies nach sich zieht. Am Ende steht die Frage, ob<br />

eine Kritik der Moral durch <strong>Determinismus</strong> nicht wie so oft ”<br />

Ursache <strong>und</strong> Wirkung<br />

verwechselt.“ 6<br />

2 Methode<br />

2.1 Methodischer Zugang<br />

Begriffe wie ”<br />

<strong>Determinismus</strong>“, ”<br />

Freier Wille“, ”<br />

Moral“ auf <strong>Nietzsche</strong>s Philosophie<br />

anzuwenden, scheint schwierig, ist es doch schon schwammig, was man unter ”<br />

Nietz-<br />

1 [23, MA I, 628, S. 354]<br />

2 [23, MA II, Vorrede 3, S. 372]<br />

3 [23, MA I 222, S. 186]<br />

4 Z.B. [23, MA I 11, S. 30f.]<br />

5 [23, MA II, Vermischte Meinungen <strong>und</strong> Sprüche 26, S. 391]<br />

6 Vgl. [23, MA I, Der Mensch mit sich allein 608, S. 345]<br />

3


sches Philosophie“ verstehen möchte. Der Gr<strong>und</strong> liegt darin, daß <strong>Nietzsche</strong>s Stil die<br />

”<br />

systematische Methode unmöglich macht, der man sich in der Regel bedient, wenn<br />

man sich mit anderen Denkern beschäftigt.“ 7 . Der Stil <strong>Nietzsche</strong>s Philosophierens,<br />

dessen Denkeinheit der Aphorismus ist, kennzeichnet sich durch eine stete Durchmischung<br />

der Themen, die dadurch zueinander in immer neuen Bezug gesetzt werden,<br />

jedoch als Mikrokosmos“ auch für sich allein stehen können. 8 Es gibt also keine<br />

”<br />

” Metaphysik“ oder Ethik“, in der sich <strong>Nietzsche</strong>s Aussagen zu den jeweiligen Themen<br />

sammelten. Ein systematischer Zugang ist uns im Fall <strong>Nietzsche</strong>s verwehrt,<br />

”<br />

”<br />

<strong>und</strong> es ist nicht leicht, eine zufriedenstellende Alternative zu finden. Eine halb systematische<br />

Anthologie verstreuter Äußerungen kann uns gewiß nicht vermittlen, was ’<br />

<strong>Nietzsche</strong> meint‘– weder seine eigenen Absichten noch seine Bedeutung für uns. [. . . ]<br />

wir können <strong>Nietzsche</strong> nicht verstehen, solange wir bewußt die Entwicklung seines<br />

Denkens außer acht lassen.“ 9<br />

Einen Überblick über die Genese der Begriffe <strong>bei</strong> <strong>Nietzsche</strong> zu gewinnen, würde<br />

eine sorgfältige Lektüre sämtlicher Werke erfordern, was diese Ar<strong>bei</strong>t nicht leisten<br />

kann. Vielmehr soll von solchen Aphorismen aus Menschliches, Allzumenschliches<br />

ausgegangen werden, an denen sich der Konflikt dieser Begriffe erkennen läßt. Von<br />

dort aus versuchen wir die Widersprüche durch Hinzunahme anderer Stellen, vornehmlich<br />

aus Der Fröhlichen Wissenschaft zu klären <strong>und</strong> aufzulösen.<br />

2.2 Quellenkritik<br />

Seit der Ausgabe des Gesamtwerkes von Friedrich <strong>Nietzsche</strong> durch Giorgio Colli <strong>und</strong><br />

Mazzino Montinari erfährt die Forschung den Segen philologisch <strong>und</strong> textkitisch<br />

hochwertigen Materials sämtlicher von <strong>Nietzsche</strong> je niedergeschriebener Worte. Er<br />

wird aber zum Fluch, wenn man sich auf den schier unerschöpflichen Nachlass, der<br />

mehr als die Hälfte der ganzen Ausgabe ausmacht, genauso wie auf die noch von<br />

<strong>Nietzsche</strong> selbst zu Lebzeiten herausgegebenen Schriften stürzt. In der Kritischen<br />

Studienausgabe 10 werden all jene Niederschriften aus <strong>Nietzsche</strong>s Notizbüchern, die<br />

später als Aphorismen Eingang in <strong>Nietzsche</strong>s Werke fanden oder die zu solchen<br />

führten als Vorstufen gekennzeichnet. Unter den Aufzeichnungen finden sich aber<br />

auch eine Fülle an sogenannten Gelegenheitsnotizen, Randbemerkungen <strong>und</strong> solche<br />

Aphorismen, die später nie zur Veröffentlichung gereift sind. Wie sind nun solche<br />

zu bewerten? Michael Tanner bemerkt dazu:<br />

Schon die Liste der publizierten Werke ist beeindruckend genug. Aber<br />

”<br />

mindestens ebensoviel, wie er in Büchern geordnet darstellte, hielt er<br />

in Notizen fest, <strong>und</strong> leider wurde eine Menge dieser unveröffentlichten<br />

Notizen, der Nachlass überliefert. Dies wäre nicht so bedauerlich, gäbe<br />

es ein allgemein anerkanntes methodologisches Prinzip, daß man das,<br />

was er nicht veröffentlichte, unter allen Umständen klar vom Veröffentlichten<br />

abgrenzen muß. Diese Gr<strong>und</strong>regel wird aber von fast niemandem<br />

beachtet. Sogar jene, die vorgeben, sich daran zu halten, gleiten gewöhnlich<br />

in nicht klar gekennzeichnetes Zitieren aus dem immensen Nachlaß<br />

ab, wann immer es den Geichtspunkt bestätigt, unter dem sie <strong>Nietzsche</strong><br />

sehen. [. . . ] <strong>Nietzsche</strong> war zuweilen so sicher, eine philosophische<br />

Goldmine entdeckt zu haben, daß er eine Menge Gedanken aufs Papier<br />

warf, die er dann aber nicht ausar<strong>bei</strong>tete. Dies bietet einem Kommentator<br />

die Möglichkeit, Gedankengänge weiterzuverfolgen, die er <strong>Nietzsche</strong><br />

7 [12, S. 88]<br />

8 Vgl. [12, S. 88f.]<br />

9 [12, S. 89]<br />

10 [18]<br />

4


– ungehindert durch definitive Aussagen – unterstellt. Einige sind sogar<br />

der Ansicht, den ”<br />

wahren“ <strong>Nietzsche</strong> fände man in den Nachlaßnotizen,<br />

während sein veröffentlichtes Werk lediglich ein äußerst kunstvolles<br />

Verwirrspiel darstelle.“ 11<br />

Wie aber stünde der Philosoph selbst dazu? Er würde ”’<br />

alle seine Fre<strong>und</strong>e verpflichten,<br />

nichts von ihm nach seinem Tode herauszugeben als was er selbst für die<br />

Publication bestimmt <strong>und</strong> fertiggestellt hätte; denn wenn man sich sein ganzes Leben<br />

geplagt hätte, nur Ausgear<strong>bei</strong>tetes <strong>und</strong> Ganzes vor das Volk zu bringen, möchte<br />

man doch nicht dann im Hauskleid erscheinen‘– so <strong>Nietzsche</strong> in Nizza zu Siegm<strong>und</strong><br />

Freuds Fre<strong>und</strong> J. Paneth.“ 12<br />

Es bleibt die Frage, ob man Wichtiges über <strong>Nietzsche</strong>s Denken aus seinem Nachlaß<br />

lernen kann. Kaufmann vertritt die Meinung: ”<br />

Bei der Abfassung späterer Bücher<br />

nicht benützte Aufzeichnungen hielt <strong>Nietzsche</strong> fast immer deswegen zurück, weil er<br />

meinte, sie noch nicht genug durchdacht zu haben; sie waren noch nicht weit genug<br />

entwickelt, daß er bereit gewesen wäre, dafür einzustehen.“ 13 . Darüberhinaus<br />

ist es wichtig zu beachten, ”<br />

daß <strong>Nietzsche</strong> seine Gedanken im Nachlaß thetischer<br />

formuliert, was viele Interpreten dazu verleitet, aus den isolierten Notizen ’<br />

letzte<br />

Lehren‘zu rekonstruieren <strong>und</strong> zu Dogmen zu verdinglichen. Im publizierten Werk<br />

kommen diese vermeintlichen Lehren, wenn überhaupt, ästhetisch kontextualisiert<br />

vor <strong>und</strong> werden dadurch zumeist auf vielfältige Weise ironisiert, gebrochen <strong>und</strong> unterlaufen.<br />

<strong>Nietzsche</strong> formuliert hier hypothetisch, doppelbödig <strong>und</strong> vielschichtig; er<br />

operiert mit zahllosen Anspielungen <strong>und</strong> Verweisungen, durch welche die einzelnen<br />

Gedanken in einem komplexen Beziehungsgeflecht situiert werden, bzw. durch dieses<br />

erst konstituiert werden. Den veröffentichten Schriften eignet somit qua Form<br />

ein Reflexionsgrad mehr als den nachgelassenen Aufzeichungen.“ 14<br />

Die vorliegende Ar<strong>bei</strong>t wird trotz aller Bedenken <strong>und</strong> Unsicherheiten auf ein gelegentliches<br />

Zitieren aus dem Nachlass nicht verzichten können. Es muss da<strong>bei</strong> aber die<br />

skizzierte Problematik beachtet <strong>und</strong> versucht werden, Interpretationen, die sich aus<br />

dem Nachlaß ergeben, durch Aphorismen aus den publizierten Werken zu stützen.<br />

3 <strong>Nietzsche</strong>s Erkenntnismethode<br />

3.1 Ablehnung philosophischer Systeme<br />

Ihr aphoristischer Stil ist nicht nur der Gr<strong>und</strong>, warum ein systematischer Zugang<br />

zu <strong>Nietzsche</strong>s Philosophie nicht möglich ist, er ist vielmehr das Bekenntnis der<br />

Ablehnung all jener ”<br />

glänzenden Lufterscheinungen, die man ’<br />

philosophische Systeme‘nennt:<br />

sie zeigen mit zauberischer Kraft der Täuschung die Lösung aller Räthsel<br />

<strong>und</strong> den frischesten Trunk wahren Lebenswassers in der Nähe;“ 15 An anderer Stelle<br />

heißt es sogar: ”<br />

Ich mißtraue allen Systematikern <strong>und</strong> gehe ihnen aus dem Weg.<br />

Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.“ 16 Dieses Misstrauen<br />

liegt darin begründet, dass ein System sich notwendigerweise auf Voraussetzungen<br />

stützt, die sich innerhalb seiner selbst verabsolutieren <strong>und</strong> nicht mehr in Frage ge-<br />

11 [S. 12f.][30]<br />

12 [29, S. 169]<br />

13 [12, S. 90]<br />

14 [29, S. 138f.]. Hier findet sich auch eine gute Übersicht über die unterschiedlichen Positionen<br />

zum Gewicht des Nachlasses <strong>und</strong> Verweis auf umfangreiche Literatur.<br />

15 [23, MA II, Vermischte Meinungen <strong>und</strong> Sprüche 31] Vgl. hierzu auch den Beginn von [10]<br />

16 [26, GD, Sprüche <strong>und</strong> Pfeile 26]<br />

5


stellt werden können. Vor allem gilt das für die menschliche Vernunft. So schreibt<br />

<strong>Nietzsche</strong> wider Kant:<br />

Woran liegt es doch, dass von Plato ab alle philosophischen Baumeister<br />

in Europa umsonst gebaut haben? Dass Alles einzufallen droht oder<br />

”<br />

schon in Schutt liegt, was sie selber ehrlich <strong>und</strong> ernsthaft für aere perennius<br />

hielten? Oh wie falsch ist die Antwort, welche man jetzt noch<br />

auf diese Frage bereit hält, weil von ihnen Allen die Voraussetzung<br />

’<br />

versäumt war, die Prüfung des F<strong>und</strong>amentes, eine Kritik der gesammten<br />

Vernunft‘– jene verhängnisvolle Antwort Kant’s [. . . ] (– <strong>und</strong> nachträglich<br />

gefragt, war es nicht etwas sonderbar, zu verlangen, dass ein Werkzeug<br />

seine eigne Trefflichkeit <strong>und</strong> Tauglichkeit kritisiren solle? dass der Intellekt<br />

selbst seinen Werth, seine Kraft, seine Grenzen erkennen‘solle? war<br />

’<br />

es nicht sogar ein wenig widersinnig? –)“ 17<br />

Auf welche Prämissen sich ein jeder Philosoph einlässt, ist subjektiv oder, lapidar<br />

ausgedrückt, Geschmackssache. ”<br />

Eine Philosophie ist der Ausdruck des innersten<br />

Charakters eines Menschen“, so William James 18 , <strong>und</strong> seiner moralischen Verblendung,<br />

denn: ”<br />

Der Wille zum System: <strong>bei</strong> einem Philosophen moralisch ausgedrückt<br />

eine feinere Verdorbenheit, eine Charakter-Krankheit, unmoralisch ausgedrückt,<br />

sein Wille, sich dümmer zu stellen, als man ist“ 19 .<br />

<strong>Nietzsche</strong> kommt auf eine philosophische Welt, die Kant in die Welt der Erscheinungen<br />

<strong>und</strong> die Welt der Dinge an sich geschieden hat. 20 Diese Teilung begründet sich<br />

durch den Satz vom Widerspruch: ”<br />

Der Satz vom Widerspruch gab das Schema: die<br />

wahre Welt, zu der man den Weg sucht, kann nicht mit sich in Widerspruch sein,<br />

kann nicht wechseln, kann nicht werden, hat keinen Ursprung <strong>und</strong> kein Ende.“ 21<br />

Eine wahre Welt, aus der die Gegensätze getilgt sind, ist starr, denn ”<br />

wie kann Etwas<br />

aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem,<br />

Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem<br />

Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern?“ 22<br />

<strong>Nietzsche</strong> aber erkennt in der Annahme der Gegensätzlichkeit ein Vorurteil der Metaphysik,<br />

gegen das er damit eintritt, ”<br />

dass es keine Gegensätze sind, ausser in der<br />

gewohnten Übertreibung der populären oder metaphysischen Auffassung <strong>und</strong> dass<br />

ein Irrthum der Vernunft dieser Gegenüberstellung zu Gr<strong>und</strong>e liegt.“ 23<br />

In der klassischen Erkenntnisphilosophie ist Wahrheit apriorisch <strong>und</strong> jeder Subjektivität<br />

vorgegeben. Erkenntnis der Wahrheit ist da<strong>bei</strong> interesselos <strong>und</strong> setzt daher<br />

ein nicht-individuelles erkennenes Subjekt voraus. 24 Für <strong>Nietzsche</strong> aber, ”<br />

giebt es,<br />

streng gefasst, weder ein unegoistisches Handeln, noch ein völlig interesseloses Anschauen,<br />

es sind <strong>bei</strong>des nur Sublimirungen, <strong>bei</strong> denen das Gr<strong>und</strong>element fast verflüchtigt<br />

erscheint <strong>und</strong> nur noch für die feinste Beobachtung sich als vorhanden<br />

erweist.“ 25 Klassische Wahrheit beansprucht Allgemeingültigkeit, denn in der Welt<br />

des Absoluten gibt es zu jeder Frage nur eine wahre Antwort <strong>und</strong> diese Antwort<br />

gilt für alle Subjekte. Dagegen setzt <strong>Nietzsche</strong> die Priorität der Perspektive, die der<br />

Betrachter in der neuen Philosophie einnimmt:<br />

17 [24, M, Vorrede 3, S. 13]<br />

18 A Pluralistic Universe, nach [12, S. 93]. Vgl. hierzu <strong>und</strong> zum Folgenden [12, <strong>Nietzsche</strong>s Methode,<br />

S. 84–11]<br />

19 [21, 9 [188], S. 450]<br />

20 Vgl. [10]<br />

21 [22, 14 [153], S. 336]<br />

22 [23, MA I, 1, S. 23]<br />

23 [23, MA I, 1, S. 23]<br />

24 Vgl. zum Folgenden [10]<br />

25 [23, MA I, 1, S. 23f.]<br />

6


” Sind es neue Fre<strong>und</strong>e der Wahrheit‘, diese kommenden Philosophen?<br />

’<br />

Wahrscheinlich genug: denn alle Philosophen liebten bisher ihre Wahrheiten.<br />

Sicherlich aber werden es keine Dogmatiker sein. Es muss ihnen<br />

wider den Stolz gehn, auch wieder den Geschmack, wenn ihre Wahrheit<br />

gar noch eine Wahrheit für Jedermann sein soll: was bisher der<br />

geheime Wunsch <strong>und</strong> Hintersinn aller dogmatischen Bestrebungen war.<br />

Mein Urtheil ist mein Urtheil: dazu hat nicht leicht auch ein Anderer<br />

’<br />

das Recht‘“ 26<br />

Jeder relativistische Standpunkt birgt logische Probleme, so auch hier. Wenn Perspektive<br />

Prinzip des Erkennens ist, dann ist das Erkennen zumindest in einem<br />

Aspekt der Perspektive entzogen, nämlich genau in diesem. 27 Wir werden sehen,<br />

dass ”<br />

Perspektive“ für <strong>Nietzsche</strong> nicht Beliebigkeit im Sinne des homo-mensura-<br />

Satzes bedeutet. Allerdings schließt sie die Logik mit ein, so dass ein logisches<br />

Gegenargument schon von Vornherein entkräftet wäre.<br />

3.2 Gegenepistemologie<br />

<strong>Nietzsche</strong>s Gegenentwurf zu klassischen Epistemologien ist die subjektive Experimentalphilosophie.<br />

Für ihn ist jede Beobachtung <strong>und</strong> Erkenntnis perspektivisch geprägt:<br />

Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen<br />

– die Verschiebung, Verzerrung <strong>und</strong> scheinbare Teleologie der Hori-<br />

”<br />

zonte <strong>und</strong> was Alles zum Perspektivischen gehört; [. . . ] Du solltest die<br />

nothwendige Ungerechtigkeit in jedem Für <strong>und</strong> Wider begreifen lernen,<br />

die Ungerechtigkeit als unablösbar vom Leben, das Leben selbst als bedingt<br />

durch das Perspektivische <strong>und</strong> seine Ungerechtigkeit.“ 28<br />

Wenn dem Menschen auch die Erkenntnis einer objektiven Realität verwehrt ist,<br />

weil die Perspektive Aspekt des Lebens ist, so gibt es doch einen Weg der Welterkenntnis<br />

über die Selbsterkenntnis, denn der Mensch als Teil der Welt spiegelt deren<br />

Gr<strong>und</strong>gefüge wieder. <strong>Nietzsche</strong> ermutigt:<br />

Vorwärts. – Und damit vorwärts auf der Bahn der Weisheit, guten<br />

”<br />

Schrittes, guten Vertrauens! Wie du auch bist, so diene dir selber als<br />

Quell der Erfahrung! Wirf das Missvergnügen über dein Wesen ab, verzeihe<br />

dir dein eignes Ich, denn in jedem Falle hast du an dir eine Leiter<br />

mit h<strong>und</strong>ert Sprossen, auf welchen du zur Erkenntnis steigen kannst.<br />

[. . . ] Und indem du mit aller Kraft vorauserspähen willst, wie der Knoten<br />

der Zukunft noch geknüpft wird, bekommt dein eigenes Leben den<br />

Werth eines Werkzeuges <strong>und</strong> Mittels zur Erkenntniss. Du hast es in der<br />

Hand zu erreichen, dass all dein Erlebtes [. . . ] in Deinem Ziele ohne Rest<br />

aufgeht.“ 29<br />

Eine solche Art der Erkenntnis stellt eine Erinnerung des Subjekts an seinen eigenen<br />

Ursprung im kosmischen Werden dar. 30 Kirchhoff bezeichnet dies als die neue<br />

26 [25, JGB, Der freie Geist 43, S. 60]<br />

27 Siehe hierzu auch [29, S. 300] Umstritten ist jedoch da<strong>bei</strong> die Frage, ob N., wenn er die Perspektivität<br />

als Erkenntnisbedingung benennt, nicht selbst wieder einen Metastandpunkt einnimmt,<br />

”<br />

von dem aus er erst die Beschränktheit der Perspektiven beschreiben kann, die: Perspektive des<br />

’<br />

Perpektivismus ‘.“<br />

28 [23, MA Vorrede 6, S. 20]<br />

29 [23, MA I 292, S. 236]<br />

30 Vgl. zu diesem Zugang [13, S. 16]. Kirchhoff bemerkt hier<strong>bei</strong>: Mit der zweiten These [der<br />

”<br />

Möglichkeit von Erkenntnis durch Selbsterkenntnis] wird er [<strong>Nietzsche</strong>] selbst zum Metaphysiker,<br />

ohne dies offen einzugestehen <strong>und</strong> ohne sich dessen voll bewußt zu sein.“ Lustigerweise bemerkt<br />

7


” Kategorie der Rückerinnerung‘(Anamnesis)“, die schon in der Philosophie Platons<br />

eine zentrale Rolle spiele. Dort bezeichne sie das Wiederbewusstwerden der<br />

’<br />

vorgeburtlichen Ideenschau. Demnach ist alle Erkenntnis Erinnerung an etwas, das<br />

in unserem Geiste schon vorhanden war. Zwar lehnt <strong>Nietzsche</strong> in der Philosophie<br />

Platons die absoluten Ideen <strong>und</strong> die Trennung in Erscheinungs- <strong>und</strong> Ideenwelt ab,<br />

in der Erkenntnismethode finden sich aber Parallelen. 31 So erklärt sich <strong>Nietzsche</strong><br />

auch die Ähnlichkeit der verschiedenen philosophischen Schulen.<br />

Dass die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts<br />

”<br />

Für-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung <strong>und</strong> Verwandtschaft zu<br />

einander emporwachsen, dass sie, so plötzlich <strong>und</strong> willkürlich sie auch in<br />

der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten, doch eben so gut<br />

einem Systeme angehören als die sämmtlichen Glieder der Fauna eines<br />

Erdtheils: das verräth sich zuletzt noch darin, wie sicher die verschiedensten<br />

Philosophen ein gewisses Gr<strong>und</strong>schema von möglichen Philosophien<br />

immer wieder ausfüllen. Unter einem unsichtbaren Banne laufen sie immer<br />

von Neuem noch einmal die selbe Kreisbahn: sie mögen sich noch<br />

so unabhängig von einander mit ihrem kritischen oder systematischen<br />

Willen fühlen: irgend Etwas in ihnen führt sie, irgend Etwas treibt sie<br />

in bestimmter Ordnung hinter einander her, eben jene eingeborne Systematik<br />

<strong>und</strong> Verwandtschaft der Begriffe. Ihr Denken ist in der That<br />

viel weniger ein Entdecken, als ein Wiedererkenen, Wiedererinnern, eine<br />

Rück- <strong>und</strong> Heimkehr in einen fernen uralten Gesammt-Haushalt der<br />

Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind: – Philosophiren<br />

ist insofern eine Art von Atavismus höchsten Ranges.“ 32<br />

Wenn aber <strong>Nietzsche</strong>s Erkenntnistheorie auf alle Prämissen verzichten möchte,<br />

Wahrheit gleichzeitig aber nicht mehr durch apriorisches Schauen gef<strong>und</strong>en werden<br />

kann, dann bedarf die Methode der Selbstreflexion einer Rechtfertigung, die<br />

nicht außerhalb des Erkennntisprozesses stehen darf. Er bemerkt:<br />

Hätte diess aber nicht zur Folge, das die Maschine des Denkers nicht<br />

”<br />

mehr recht ar<strong>bei</strong>tet, wenn er sich <strong>bei</strong>m Acte des Erkennens wirklich<br />

unverpflichtet fühlen könnte? Insofern scheint hier zur Heizung das selbe<br />

Element nöthig zu sein, das vermittelst der Maschine untersucht werden<br />

soll.“ 33<br />

Methode <strong>und</strong> Erkenntnis stehen also in einem Wechselverhältnis von Brennstoff<br />

<strong>und</strong> Werkstück, in dem das eben gewonnene verbrannt wird um aus seiner Asche<br />

die nächste Erkenntnis zu formen. Man kann <strong>Nietzsche</strong> unterstellen, daß er Methode<br />

<strong>und</strong> Erkenntnis tatsächlich in einem Zirkelverhältnis stehen sieht, allerdings<br />

”<br />

jedoch nicht in einem vergeblichen, so daß der Vergleich mit einer Spirale angemessener<br />

erscheint.“ 34 Einsatzpunkt dieser Erkenntnisspirale kann ein beliebiges Konkretum<br />

sein, zum Beispiel das historische Bewusstsein der Selbstreflexion, das aber<br />

nur die Qualität einer Ar<strong>bei</strong>tshypothese oder eines Versuchsstandpunktes erreicht.<br />

Für <strong>Nietzsche</strong>, der intensiv die naturwissenschaftlichen Werke seiner Zeit studierte,<br />

ist die Übernahme der experimentellen Methode für eine neu zu konzipierende<br />

”<br />

Philosophie nicht zufällig. Da<strong>bei</strong> ist zu beachten, daß <strong>Nietzsche</strong> naturwissenschaftliche<br />

Bef<strong>und</strong>e eher als Spekulationspotential denn als objektiv gesicherte ’<br />

Erkennt-<br />

<strong>Nietzsche</strong> in seinem Nachlass [21, 9 [188], S. 450]: Ich mißtraue allen Systemen <strong>und</strong> Systematikern<br />

”<br />

<strong>und</strong> gehe ihnen aus dem Weg: vielleicht entdeckt man noch hinter diesem Buche das System,<br />

dem ich ausgewichen bin. . .“ Im Folgenden werden wir sehen, warum trotz der Möglichkeit der<br />

Selbsterkenntnis <strong>Nietzsche</strong>s Standpunkt nicht zum metaphysischen System wird.<br />

31 Vgl. auch [12, S. 96]: <strong>Nietzsche</strong> ist, wie Plato, kein Systemdenker, sondern ein Problemdenker“<br />

” 32 [25, JGB 20, S. 34]<br />

33 [23, MA II, Der Wanderer <strong>und</strong> sein Schatten 43, S. 572]<br />

34 [10, S. 101]<br />

8


nisse‘betrachtet <strong>und</strong> auch die Physik lediglich als eine Art der ’<br />

Welt-Auslegung<br />

<strong>und</strong> -Zurechtlegung‘begreift. Ein experimenteller Entwurf richtet sich aber immerhin<br />

nach den tatsächlichen Lebensbedingungen <strong>und</strong> hat immer nur hypothetischen<br />

Charakter, da er nur solange gilt, bis er durch einen weiteren Versuch widerlegt<br />

wird.“ 35<br />

Die Philosophie ist vor allem deshalb wesenhaft ephemer, weil der Mensch ein historisches<br />

Wesen ist, sas sich im Lauf der Zeit ändert; mit ihm wandelt sich auch<br />

aber die Perspektive <strong>und</strong> die Art der Selbsterkenntnis:<br />

Alle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, dass sie vom<br />

”<br />

gegenwärtigen Menschen ausgehen <strong>und</strong> durch eine Analyse sesselben<br />

an’s Ziel zu kommen meinen. [. . . ] Alles, was der Philosoph über den<br />

Menschen aussagt, ist aber im Gr<strong>und</strong>e nicht mehr, als ein Zeugniss über<br />

den Menschen eines sehr beschränkten Zeitraumes. Mangel an historischem<br />

Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen; [. . . ] Sie wollen nicht lernen,<br />

dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen<br />

geworden ist; während einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem<br />

Erkenntnissvermögen sich herausspinnen lassen. [. . . ] Alles aber ist<br />

geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten<br />

Wahrheiten giebt. – Demnach ist das historische Philosophiren von jetzt<br />

ab nöthig <strong>und</strong> mit ihm die Tugend der Bescheidung.“ 36<br />

3.3 Wille zur Macht<br />

Welterkenntnis ist eigentlich aus dem erkennenden Subjekt geschöpft <strong>und</strong> von ihm<br />

geschaffene Welterkenntnis. Dieses schöpferische Wirken des Menschen sieht <strong>Nietzsche</strong><br />

in einer Analogie zum schöpferischen Hervorbringen der Natur, denn <strong>bei</strong>de<br />

sind bestimmt als die Fortentwicklung der bisherigen Geschichte des kosmischen<br />

Werdens. Diesen Analogieschluss zu rechtfertigen, muss man sich mit einem für<br />

<strong>Nietzsche</strong> so typischen <strong>und</strong> so oft missbrauchten Begriff vertraut machen: dem Willen<br />

zur Macht, der dem Wirken von Mensch <strong>und</strong> Natur gleichermaßen zugr<strong>und</strong>e<br />

liegt. Aus dem Nachlass erfahren wir:<br />

” Der siegreiche Begriff Kraft‘, mit dem unsere Physiker Gott <strong>und</strong> die<br />

’<br />

Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm eine<br />

innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als Willen zur ’<br />

Macht‘, d.h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht;<br />

oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw.<br />

[. . . ] Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle Erscheinungen‘,<br />

’<br />

alle Gesetze‘nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen <strong>und</strong><br />

’<br />

sich der Analogie des Menschen zu Ende bedienen. Am Thier ist es<br />

möglich, aus dem Willen zur Macht alle seine Triebe abzuleiten: ebenso<br />

alle Funktionen des organischen Lebens aus dieser Einen Quelle.“ 37<br />

Diesen Willen zur Macht wirkt der Mensch in der Selbstüberwindung. 38 Gr<strong>und</strong>bedingung<br />

des eigenen schöpferischen Werdegangs ist es nämlich, sich stets von all<br />

jenen Wesensmerkmalen seiner selbst loszusagen, die im Verharren befangen sind.<br />

Das Charakteristikum des Lebenswillens [. . . ] bestehe darin, daß er über den jeweils<br />

”<br />

gegebenen Zustand hinausdrängt: Alles suche den status quo zu überwinden <strong>und</strong> sich<br />

35 [29, Experiment, Experimentalphilosophie, S. 224]<br />

36 [23, MA I 2, S. 24]<br />

37 [20, 36 [31]]<br />

38 Vgl. [13, S. 41ff.]<br />

9


auf neuem Niveau zu etablieren.“ 39 So führen im Menschen zwei entgegengesetzte<br />

Willensströmungen ihren Kampf, der ”<br />

Wille zum Nichts“ gegen den ”<br />

Willen zum<br />

Leben“. ”<br />

Schöpferisches Werden wird so in der philosophischen Selbst-Beobachtung<br />

zum kämpferischen Machtwillen. Da dieser zukunftsgerichtet ist, wird der Wille zur<br />

Macht zum ’<br />

Willen zur Zukunft‘, zum Willen zur schöpferischen Gestaltung der Zukunft.“<br />

40 Wendet man nun die Analogisierung von Mensch <strong>und</strong> Natur auf den Willen<br />

zur Macht an, so folgt, dass auch die Entwicklung des Kosmos eine fortwährende<br />

Selbstüberwindung seiner Formen bedingt, gleichsam einen Kampf gegen sich selbst,<br />

ganz so wie auch Heraklit den Kampf als kosmisches Prinzip betrachtet hat. Hierin<br />

erkennt man den ”<br />

weitreichenden ästhetisch-kulturellen Anspruch, mit dem <strong>Nietzsche</strong><br />

auch noch die Erkenntnisse der modernen Naturwisenschaften ergänzen <strong>und</strong><br />

in Übereinstimmung mit dem künstlerischen Selbstverständindes produktiven Individuums<br />

bringen will: ’<br />

Wille zur Macht‘soll nicht nur die Triebkraft jener Wesen<br />

sein, die einen Willen haben, sondern soll als energetischer Impuls allen Geschehens<br />

verstanden werden.“ 41<br />

Wie auch Heraklit wehrt sich <strong>Nietzsche</strong> gegen die Vorstellung, dass sich in der<br />

Welt etwas Beharrendes, Ewiges fände. Gegen diese lebensnotwendige Fiktion eines<br />

”<br />

’ Seins‘“ setzt er den absoluten Fluss“, denn:<br />

”<br />

Damit es irgend einen Grad von Bewußtsein in der Welt geben könne,<br />

”<br />

mußte eine unwirkliche Welt des Irrthums – entstehen: Wesen mit dem<br />

Glauben an Beharrendes an Individuen usw. Erst nachdem eine imaginäre<br />

Gegenwelt im Widerspruch zum absoluten Flusse entstanden war,<br />

konnte auf dieser Gr<strong>und</strong>lage etwas erkannt werden – ja zuletzt kann der<br />

Gr<strong>und</strong>irrthum eingesehn werden worauf alles beruht [. . . ] – doch kann<br />

dieser Irrthum nicht anders als mit dem Leben vernichtet werden: die<br />

letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge verträgt die Einverleibung nicht,<br />

unsere Organe (zum Leben) sind auf den Irrthum eingerichtet. [. . . ]<br />

Leben ist die Bedingung des Erkennens. Irren die Bedingung des Lebens<br />

<strong>und</strong> zwar im tiefsten Gr<strong>und</strong>e Irren. Wissen um das Irren hebt es nicht<br />

auf! [. . . ] Wir müssen das Irren lieben <strong>und</strong> pflegen, es ist der Mutterschooß<br />

des Erkennens.“ 42<br />

Weil die Negation des Werdens dem erkennenden Menschen immanent ist, kann aud<br />

der Intellekt keine Kategorie des absoluten Werdens bilden.<br />

Unser Intellekt ist nicht zum Begreifen des Werdens eingerichtet, er<br />

”<br />

strebt die allgemeine Starrheit zu beweisen, Dank seiner Abkunft aus<br />

Bildern. Alle Philosophen haben das Ziel gehabt, zum Beweis des ewigen<br />

Beharrens, weil der Intellekt darin seine eigene Form <strong>und</strong> Wirkung<br />

fühlt.“ 43<br />

Der Intellekt ist also bloßes Werkzeug des Willens zur Macht, mit dem er die Wahrheit<br />

des absoluten Werdens negiert <strong>und</strong> eine allgemeine Starrheit konstruiert. Wenn<br />

aber der Intellekt nur ”<br />

die in das Bewußtsein hineinragende letzte <strong>und</strong> schmalste<br />

Ausdrucksform von dunklen <strong>und</strong> unbewußten Willensströmungen, Triebimpulsen“ 44<br />

ist, dann ist der Intellekt strukturell unfrei <strong>und</strong> alles Denken sind bloße bewußtgewordene<br />

Wirkungen des Willens zur Macht.<br />

39 Volker Gerhardt in [29, Wille zur Macht, S. 351ff.]<br />

40 [13, S. 43]<br />

41 Volker Gerhardt in [29, Wille zur Macht, S. 351ff.]<br />

42 [28, 11[162], S. 503f.]<br />

43 [28, 11[153], S. 500]<br />

44 [13, S. 22]<br />

10


4 <strong>Determinismus</strong>-Begriff <strong>bei</strong> <strong>Nietzsche</strong><br />

Der Versuch, den Begriff des Determinsmus mit <strong>Nietzsche</strong>s Philosophie in Einklang<br />

zu bringen, ist problematisch. Zum einen lädt das eben Dargelegte nicht unbedingt<br />

dazu ein, in einer perspektivischen Philosophie ein absolutes Gesetz zu verorten,<br />

wie es der <strong>Determinismus</strong> per definitionem ist (s.u.). Zum anderen finden sich viele<br />

einschlägige Äußerungen dazu in jener problematischen Zusammenstellung, die<br />

ihre Herausgeber ”<br />

Wille zur Macht“ nannten <strong>und</strong> die mehr zum Zerrbild als zum<br />

Verständnis <strong>Nietzsche</strong>s <strong>bei</strong>getragen hat. 45 Wir müssen also den Umweg über Belege<br />

aus den veröffentlichten Schriften nehmen, um eine Überbewertung der Nachlass-<br />

Aphorismen zu vermeiden.<br />

Man könnte die Untersuchung sofort abbrechen, verließe man sich auf ein Stelle aus<br />

dem Nachlass, die mit ”<br />

Zur Bekämpfung des <strong>Determinismus</strong>“ überschrieben ist:<br />

Daraus, daß etwas regelmäßig erfolgt <strong>und</strong> berechenbar erfolgt, ergiebt<br />

”<br />

sich nicht, daß es nothwendig erfolgt. Daß ein Quantum Kraft sich<br />

in jedem bestimmten Falle auf eine einzige Art <strong>und</strong> Weise bestimmt<br />

<strong>und</strong> benimmt, macht ihn nicht zum unfreien Willen‘. Die mechanische<br />

Nothwendigkeit‘ist kein Thatbestand: wir erst haben sie in das<br />

’ ’<br />

Geschehn hinein interpretirt. Wir haben die Formulierbarkeit des Geschehens<br />

ausgedeutet als Folge einer über dem Geschehen waltenden<br />

Necessität.“ 46<br />

Allerdings lassen sich ebenso Stellen anführen, in denen <strong>Nietzsche</strong> genau das Gegenteil<br />

dessen behauptet:<br />

Am Wasserfall. - Beim Anblick eines Wasserfalles meinen wir in den<br />

”<br />

zahllosen Biegungen, Schlängelungen, Brechungen der Wellen Freiheit<br />

des Willens <strong>und</strong> Belieben zu sehen; aber Alles ist nothwendig, jede Bewegung<br />

mathematisch auszurechnen. So ist es auch <strong>bei</strong> den menschlichen<br />

Handlungen; man müßte jede einzelne Handlung vorher ausrechnen<br />

können, wenn man allwissend wäre, ebenso jeden Fortschritt der<br />

Erkenntniss, jeden Irrthum, jede Bosheit. Der Handelnde selbst steckt<br />

freilich in der Illusion der Willkür; wenn in einem Augenblick das Rad<br />

der Welt still stände <strong>und</strong> ein allwissender, rechnender Verstand da wäre,<br />

um diese Pausen zu benützen, so könnte er bis in die fernsten Zeiten die<br />

Zukunft jedes Wesens weitererzählen <strong>und</strong> jede Spur bezeichnen, auf der<br />

jenes Rad noch rollen wird. Die Täuschung des Handelnden über sich,<br />

die Annahme des freien Willens, gehört mit hinein in diesen auszurechnenden<br />

Mechanismus.“ 47<br />

Neben dem vordergründig klaren Bekenntnis zu Materialismus <strong>und</strong> <strong>Determinismus</strong><br />

ist hier die daraus gefolgerte Negation des freien Willens wichtig. Wir werden im<br />

Folgenden untersuchen, wie <strong>Nietzsche</strong> seine Vorstellung von <strong>Determinismus</strong> aus seiner<br />

Beschäftigung mit den zeitgenössischen Naturwissenschaften gewonnen hat <strong>und</strong><br />

welche Konsequenzen für den freien Willen <strong>und</strong> die Moralphilosophie sich daraus<br />

ergeben.<br />

45 Kaufmann schreibt: ”<br />

Die wichtigsten einschlägigen Texte findet man im Nachlaß. Die Herausgeber<br />

des Willens zur Macht haben sie zu einem Abschnitt zusammengefaßt (WM 618-639). Der<br />

größere Teil von ihnen stammt aus den Jahren 1885 <strong>und</strong> 1886, der Rest aus späterer Zeit. Bei der<br />

Abfassung seiner späteren Werke hat <strong>Nietzsche</strong> diese Aufzeichnungen nicht benutzt. Man kann<br />

sagen, daß er in ihnen seine ’<br />

Physik‘skizziert hat. Seine Thesen sind nicht voll durchdacht, <strong>und</strong> er<br />

hat sie auch nicht zu völliger Übereinstimmung mit seiner sonstigen Philosophie gebracht – das<br />

gilt für fast alle Aufzeichnungen, die er später nicht mehr benutzt hat.“ [12, S. 306]<br />

46 [21, 9 [91], S. 386]<br />

47 [23, MA I, 106]<br />

11


4.1 <strong>Determinismus</strong>: Definition <strong>und</strong> naturwissenschaftliches<br />

Verständnis<br />

Wie für alle philosophischen Begriffe ist auch hier die richtige Definition umstritten.<br />

Wir verwenden einen Minimalkonsens, der sowohl mit der Auffassung des Materialismus<br />

im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert als auch mit einem mutmaßlichen Verständnis <strong>Nietzsche</strong>s<br />

übereinstimmt, habe er den Begriff nun abgelehnt oder angenommen.<br />

Kausaler <strong>Determinismus</strong>: Die Welt ist von <strong>Determinismus</strong> gelenkt genau<br />

dann, wenn unter einer gegebenen Anordnung, die die Dinge zu<br />

”<br />

einem Zeitpunkt t einnehmen, die Art <strong>und</strong> Weise, wie sich die Dinge danach<br />

entwickeln als ein Gegenstand von Naturgesetzen bestimmt ist.“ 48<br />

Eine derartige Auffassung des stofflich-materiellen Geschehens zieht die Forderung<br />

der Vorhersagbarkeit nach sich. Wenn nämlich ein vernunftbegabtes Wesen der Naturgesetze<br />

k<strong>und</strong>ig ist <strong>und</strong> gleichzeitig um die Konfiguration aller Dinge zu einem<br />

bestimmten Zeitpunkte weiß, muss es ihm möglich sein unter Anwendung der Naturgesetze<br />

die Konfiguration zu einem späteren Zeitpunkt zu berechnen. Diese Einsicht<br />

führte zum Gedankenexperiment des Laplaceschen Dämons, dem genau diese<br />

Fähigkeiten zugeschrieben wurden <strong>und</strong> der uns sinngemäß auch im oben zitierten<br />

Aphorismus vom Wasserfall begegnet ist. 49 In gleicher Weise sollte es einem solchen<br />

Dämon möglich sein, die Vergangenheit zu ergründen, denn jeder Zustand des<br />

Universums ist Folge eines vorhergehenden <strong>und</strong> Ursache eines nachfolgenden.<br />

Freilich konnte man mathematisch beweisen, dass ein solcher Dämon innerhalb unserer<br />

Welt nicht möglich wäre. Es müsste denn der Herrgott selbst sich als dämonisch<br />

erweisen, was außerhalb des Interesses dieser Ar<strong>bei</strong>t liegt. In die theoretische Physik<br />

hat jedoch Newton eine Formulierung eingeführt, die einem jeden mehr oder minder<br />

vernunftbegabten Wesen, das heißt einem jeden Menschen der in bescheidenem Maße<br />

in der Lage ist, Berechnungen durchzuführen, ein Mittel an die Hand gegeben,<br />

selbst diesen Dämon zu spielen. Die hierfür notwendige Simplifizierung rechtfertigte<br />

sich aus der Beobachtung, dass viele physikalische Vorgänge adäquat beschrieben<br />

werden könne, ohne das ganze Universum zu berücksichtigen. Man führt also das abgeschlossene<br />

System ein, das eine Teilmenge der Welt bezeichnet, die mit dem Rest<br />

der Welt nicht in (relevanter) Wechselwirkung steht, das heißt, dessen physikalische<br />

Entwicklung von den Vorgängen <strong>und</strong> Konfigurationen außerhalb seiner selbst, nicht<br />

beeinflusst wird. Natürlich ist dieses Postulat problematisch, denn allein derjenige,<br />

der das physikalische Vorgehen betrachtet <strong>und</strong> vorhersagt <strong>und</strong> den wir Beobachter<br />

nennen, tritt mit dem beobachteten System in Verbindung, kann aber schon über<br />

sich selbst kein vollständiges Wissen haben. In der klassischen Physik führt dies<br />

zu keinen Problemen, stiftete aber im Bezug auf die ”<br />

moderne“ Physik, i.e. die<br />

Quantenmechanik, hinreichend Verwirrung. 50 Der praktische Erfolg der klassischen<br />

48<br />

”<br />

Causal determinism: The world is governed by (or is <strong>und</strong>er the sway of) determinism if and<br />

only if, given a specified way things are at a time t, the way things go thereafter is fixed as a<br />

matter of natural law.“[11]<br />

49<br />

”<br />

We ought to regard the present state of the universe as the effect of its antecedent state and<br />

as the cause of the state that is to follow. An intelligence knowing all the forces acting in nature at<br />

a given instant, as well as the momentary positions of all things in the universe, would be able to<br />

comprehend in one single formula the motions of the largest bodies as well as the lightest atoms<br />

in the world, provided that its intellect were sufficiently powerful to subject all data to analysis;<br />

to it nothing would be uncertain, the future as well as the past would be present to its eyes. The<br />

perfection that the human mind has been able to give to astronomy affords but a feeble outline of<br />

such an intelligence. ”<br />

Laplace 1820, zitiert nach [11]<br />

50 Eine gute Diskussion dieser Probleme der Quantenmechanik, die eher interpretatorischer als<br />

konzeptioneller Natur sind, findet sich in [3]. Der Status dieser Diskussion unter Naturwissenschaftlern<br />

ist offen. Außerdem wurde die Quantenmechanik erst nach dem Tode von <strong>Nietzsche</strong><br />

zu entwickeln begonnen. Es trüge nicht zu Verständnis <strong>und</strong> Kritik <strong>Nietzsche</strong>s <strong>bei</strong>, hier näher auf<br />

12


Mechanik <strong>und</strong> die theoretischen Betrachtungen der Dekohärenztheorie 51 rechtfertigen<br />

aber eine solche Annahme.<br />

Betrachten wir als Beispiel einen Gegenstand, etwa eine Kaffeetasse, die zu Boden<br />

fällt. Die Sprache, die Newton für seine Formulierung der Mathematik erf<strong>und</strong>en hat,<br />

ist die Differentialrechnung. Wie eine Funktion einem Punkt einen Wert zuweist,<br />

also zum Beispiel jedem Zeitpunkt den Ort, an dem sich das Objekt zu diesem<br />

Zeitpunkt befindet, weist die Differentialrechnung jedem Punkt eine ”<br />

Entwicklung“<br />

zu, also zum Beispiel, wohin sich das Objekt zu einem gegebenen Zeitpunkt bewegt.<br />

Man bezeichnet die ”<br />

(Zeit-)Entwicklung“ einer Funtion als deren Ableitung. 52<br />

Nun ist die Ableitung des Ortes, an dem sich das Objekt zu jeder bestimmten Zeit<br />

befindet, seine Geschwindigkeit, <strong>und</strong> die Ableitung seiner Geschwindigkeit seine Beschleunigung.<br />

Newton setzt nun die Beschleunigung eines Teilchens mit der darauf<br />

wirkenden Kraft in eine Beziehung, die man Differentialgleichung nennt. Der Mechanismus<br />

entfaltet deswegen prädiktive Kraft, weil er auch einen Formalismus zur<br />

Verfügung stellt, die Ableitungen umzukehren: die Integration. Da<strong>bei</strong> ergibt sich<br />

jedoch das Problem, dass die Integration im Gegensatz zur Ableitung nicht zu eindeutigen<br />

Ergebnissen führt. Unterschiedliche Anfangsbedingungen führen zu unterschiedlichen<br />

Resultaten aber zur selben Differentialgleichung. Ob unsere Kaffeetasse<br />

vom Schreibtisch aus einer Höhe von 80 Zentimetern oder vom Tresen eines Lokals<br />

aus 1,20 Meter fällt, führt dazu, dass sie mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten<br />

auf dem Boden aufschlägt, die Beschleunigung der Tasse aber, die durch die Erdanziehungskraft<br />

bestimmt ist, ist in jeder Höhe die gleiche, so dass sich in <strong>bei</strong>den<br />

Situationen die gleiche Beschreibung ergibt. Für die theoretische Physik hat man<br />

daher erkannt, dass allein das Wissen um die Orte aller Objekte in einem physikalischen<br />

System (deren Konfiguration) keine vollständige Beschreibung darstellt. Man<br />

benötigt zusätzliche Randbedingungen, zum Beispiel die Impulse der einzelnen Objekte.<br />

Eine solche vollständige Beschreibung des Systems nennt man Phasenraum,<br />

der ”<br />

doppelt so groß“ ist, wie der Konfigurationsraum, dessen Bewältigung für den<br />

Laplaceschen Dämon also eine noch schwierigere Aufgabe darstellt.<br />

Wenn ein Mensch also weiß, die Kaffeetasse, die auf seinem Schreibtisches in seiner<br />

Wohnung steht, wird Sonntag morgens um 9 Uhr 23 durch eine unachtsame<br />

Bewegung des rechten Ellenbogens über den Rand geschoben, weiß er auch, bevor<br />

ihm dieses Malheur widerfährt, zu welchen Zeitpunkten danach sie sich wo zwischen<br />

Tischplatte <strong>und</strong> Fußboden befindet <strong>und</strong> zu welchem genauen Zeitpunkt sie an welchem<br />

Ort auf den Boden aufschlagen wird. Dies ist Prädiktion auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

von <strong>Determinismus</strong>.<br />

Was aber passiert mit unserer Kaffeetasse dann? Sie zerschellt in viele Einzelteile,<br />

die sich in wildem Muster über den ganzen Raum verteilen, Kaffee spritzt nach allen<br />

Seiten. Vorhersehbar? Nein, aber dennoch voherbestimmt. Es wird mit keinem<br />

Superrechner der Welt möglich sein, das Verhalten eines jeden Splitters vorherzusagen.<br />

War die Tasse mit dem Henkel voraus gefallen? War die Wand der Tasse<br />

an allen Stellen gleich dick? Wie war die Beschaffenheit des Fußbodens? Wo sind<br />

Details einzugehen, so dass ich darauf verzichten werde. Eine unproblematische Betrachtung der<br />

Quantenmechanik, die auf unsere Zwecke zugeschnitten ist, findet sich unten.<br />

51 In sehr bescheidenen Worten ausgedrückt ist dies eine mathematische Formulierung der Bedingungen,<br />

unter denen physikalische Entitäten als nicht mehr wechselwirkend betrachtet werden<br />

müssen.<br />

52 Es gibt Raumableitungen, Zeitableitungen, Ableitungen nach beliebigen physikalischen Größen.<br />

Im Prinzip kann nach allem abgeleitet werden, wo<strong>bei</strong> nicht immer physikalische Aussagen zutage<br />

treten. Für unseren Zwecke der Betrachtung des <strong>Determinismus</strong> genügt die Zeitableitung, weil<br />

uns interessiert, wie ein Zustand zu einem gegebenen Zeitpunkt einen anderen nach sich zieht. Es<br />

ließe sich aber fragen, ob man die gegenseitige Bestimmung verschiedener physikalischer Größen in<br />

einem System auch als <strong>Determinismus</strong> bezeichnen könnte, etwa wenn eine bestimmte Temperatur<br />

eines Gases einen bestimmten Druck nach sich zieht.<br />

13


die Störstellen im Porzellan, die die Tasse dort brechen lassen? Wenn die kleinsten<br />

Einheiten der Materie eine Rolle spielen <strong>und</strong> es so viele davon gibt, wie in makroskopischen<br />

Objekten, bläht sich der Phasenraum immens auf <strong>und</strong> die zur Vorhersage<br />

nötige Information kann nicht mehr beschafft werden. Und selbst, wenn wir uns ein<br />

umfangreiches Wissen beschaffen könnten <strong>und</strong> setzten es in alle Differentialgleichungen<br />

für alle Wechselwirkungen ein, so erhielten wir ein mathematisches Problem,<br />

das wir zu lösen nicht imstande sind, weil uns die technischen Methoden dafür fehlen.<br />

Dieses Problem, für das man die Begriffe Komplexität oder Chaos eingeführt<br />

hat, stellt sich in fast allen realen physikalischen Situationen. Es widerspricht dem<br />

<strong>Determinismus</strong> nicht, denn die Entwicklung der einzelnen Bestandteile des Systems<br />

folgt zu jeder Zeit den Naturgesetzen. 53<br />

Ganz ähnlich ist die Situation in der statistischen Physik, die für <strong>Nietzsche</strong> eine<br />

große Rolle gespielt hat. Hier untersucht man sehr große Systeme, die aus 10 20 bis<br />

10 30 Teilchen bestehen. Über solche Systeme ist ein vollständiges Wissen nahezu<br />

unmöglich, auf alle Fälle nicht mehr verwertbar. Die Physik beschränkt sich aber<br />

insofern, als sie sich für die einzelnen Teilchen nicht interessiert, sondern nur für<br />

die makroskopischen Größen, die die Bewegungen dieser einzelnen Teilchen verursachen,<br />

wie zum Beispiel Temperatur, Druck, Volumen, Magnetisierung, Energie<br />

. . . Es spielt da<strong>bei</strong> keine Rolle, ob das eine oder das andere Teilchen zu einem bestimmten<br />

Zeitpunkt mit einer bestimmten Geschwindigkeit an einem bestimmten<br />

Punkt an die Kaffeetasse stößt, es ist nur wichtig, dass im Mittel alle Teilchen mit<br />

mittleren Geschwindigkeiten gleichmäßig überall in gewisser Regelmäßigkeit solche<br />

Stöße durchführen, um über die Temperatur des Kaffees Aussagen treffen zu<br />

können. Dies ist eine Annahme, die durch die mathematischen Methoden der Statistik<br />

gerechtfertigt wird. Man erhält als Ergebnis solcher Berechnungen das typische<br />

Verhalten eines physikalischen Systems, das heißt, dass die Ergebnisse in fast allen<br />

Fällen auch so experimentell bestätigt würden. Es wird dadurch aber nicht ausgeschlossen,<br />

dass unter extrem seltenen <strong>und</strong> dummen Umständen sich plötzlich alle<br />

Bestandteile des Kaffees zum gleichen Zeitpunkt in einer Bewegung über den Rand<br />

der Kaffeetasse hinaus in die Luft befinden <strong>und</strong> er sich von selbst verschüttet. Solche<br />

Ereignisse sind allerdings so selten, dass man seinen Kaffee getrost für die Lebensdauer<br />

des Universums stehen lassen könnte, ohne ein solches Eigenleben befürchten<br />

zu müssen. Auch hier finden wir keinen Widerspruch zum <strong>Determinismus</strong>, denn das<br />

Schicksal aller Teilchen ist mit dem Zeitpunkt bestimmt, da der Kaffee in die Tasse<br />

geschüttet wird, ohne dass uns dieses Schicksal jemals zugänglich wäre.<br />

Auch die Relativitätstheorie ändert nichts an dieser deterministischen Weltsicht.<br />

Sie trägt zwar dem Gedanken <strong>Nietzsche</strong>s von der Perspektivität aller Erkenntnis<br />

<strong>und</strong> Naturbeschreibung Rechnung, weil sie die physikalischen Beschreibungen aller<br />

Beobachter gleich wertet, stellt aber auch einen Formalismus zur Verfügung, mit<br />

dem jede mögliche andere Perspektive berechnet werden kann, ohne dass man sie<br />

selbst erfahren müsste. Die Entwicklung des physikalischen Systems ist aber nach<br />

wie vor durch ein System von Differentialgleichungen festgelegt, so dass aus dem<br />

vollständigen Wissen über ein System zu einem gegebenen Zeitpunkt sein Zustand<br />

zu jedem späteren vorherberechnet werden kann.<br />

Wie steht es nun um die Quantenmechanik, die vielen immer wieder als ein Hort des<br />

Indeterminismus gilt. Die Frage ist schwierig zu beantworten, weil die Diskussion<br />

über die korrekte Interpretation der Quantenmechanik andauert <strong>und</strong> die Materie<br />

selbst schwierig ist. 54 Im Kern begegnen wir in der Quantenmechanik keiner anderen<br />

Situation als in der klassischen Physik: Eine Differentialgleichung, die Schrödin-<br />

53 Man könnte sogar sagen: die Welt ist ein gigantischer Computer zum Lösen komplizierter<br />

Differentialgleichungen.<br />

54 I think it is safe to say that no one <strong>und</strong>erstands quantum mechanics.“ (Richard P. Feynman)<br />

”<br />

14


gergleichung, beschreibt, wie sich ein Zustand des physikalischen Systems in einen<br />

nächsten entwickelt <strong>und</strong> zwar mathematisch wohlverstanden. Die Quantenmechanik<br />

führt zu Resultaten, die mit Experimenten übereinstimmen, es gibt sogar kein Experiment,<br />

das sich mit Hilfe der Quantenmechanik nicht erklären ließe. Das Problem<br />

besteht darin, wie man den ”<br />

Zustand des physikalischen Systems“ mathematisch<br />

beschreibt, denn statt ”<br />

Orten“ <strong>und</strong> ”<br />

Impulsen“ benutzt man hier ”<br />

Zustandsfunktionen“<br />

oder ”<br />

Wellenfunktionen“, die sich nicht mehr auf Objekte der Alltagserfahrung<br />

beziehen wie eben ”<br />

Teilchen“. Die Frage, wie aus Zustandsfunktionen die<br />

reale Welt entsteht, ist noch nicht beantwortet 55 , es ist noch nicht einmal klar, ob<br />

sie beantwortet werden muss. 56 In einer Weiterentwicklung der Quantenmechanik<br />

zur Quantenfeldtheorie, die die Quantenmechanik mit der speziellen Relativitätstheorie<br />

in Einklang bringt, werden die Wellenfunktionen zu Gunsten der Teilchen<br />

wieder abgeschafft, allerdings zum Preis, dass sich die Teilchen nicht mehr wie in<br />

der klassischen Physik verhalten, sondern unendlich viele verschiedene Wege gleichzeitig<br />

nehmen. 57 Dennoch bleibt der Zustand des physikalischen Systems zu jedem<br />

Zeitpunkt durch einen vorhergehenden Zustand <strong>und</strong> die Randbedingungen determiniert.<br />

Auch wenn auf die Unterschiede des <strong>Determinismus</strong>begriffs in den einzelnen physikalischen<br />

Theorien nicht eingegangen werden kann, so läßt sich doch verstehen,<br />

dass physikalische Gesetze, die mathematisch mit Hilfe von Differentialgleichungen<br />

ausgedrückt werden, wesenhaft beschreiben, wie sich physikalische Objekte von einem<br />

Zustand zu einem anderen entwickeln. Es gibt Minimalanforderungen an das<br />

Wissen über das zu betrachtende System, die genügen, um durch die Anwendung<br />

des Gesetzes das künftige Verhalten sowie die Vergangenheit zu berechnen. 58<br />

4.2 <strong>Nietzsche</strong> <strong>und</strong> die Naturwissenschaft<br />

Es steht fest, dass sich <strong>Nietzsche</strong> intensiv mit den naturwissenschaftlichen Positionen<br />

seiner <strong>und</strong> früherer Zeit auseinandergesetzt hat. Dies lässt sich neben den<br />

zahlreichen Verweisen, die sich in seinen Texten finden, auch anhand der Ausleihen<br />

bestätigen, die er in der Baseler Universitätsbibliothek getätigt hat. 59 Er beschäftigte<br />

sich gleichermaßen mit Physik (Boscovich, Helmholtz, Mädler, Mohr, Pouillet,<br />

Zöllner), Chemie (Kopp, Ladenburg) <strong>und</strong> Physiologie (Funke). Weit weniger offensichtlich<br />

ist, welches Verhältnis <strong>Nietzsche</strong> zu den Aussagen der Naturwissenschaften<br />

einnahm. ”<br />

Unklar ist vor allem das Verhältnis von <strong>Nietzsche</strong>s aufrichtigem oder rhetorischem<br />

Bekenntnis zur Wissenschaft in seiner sogenannten ’<br />

positivistischen Phase‘einerseits<br />

<strong>und</strong> seiner gr<strong>und</strong>sätzlichen Erkenntnisskepsis andererseits“ 60 Insbeson-<br />

55 Einige Mathematiker <strong>und</strong> Naturphilosophen sind der Meinung, die Schrödingergleichung<br />

müsse durch ein Führungsfeld ergänzt werden. In der sog. Bohmschen Mechanik werden damit<br />

neben den Wellenfunktionen auch den Teilchen deterministische Entwicklungen zugewiesen. Vgl.<br />

[7]<br />

56 Z.B. Kojève [14] ist der Meinung, dass Zustandsfunktionen die eigentlich konkreten Objekte<br />

der Welt sind.<br />

57 [9]<br />

58 Es lässt sich nun auch verstehen, warum sich <strong>Nietzsche</strong> entgegen der Meinung von Kirchhoff<br />

[13, 1.5, S. 23] nicht in Widerspruch zu wesentlichen Gr<strong>und</strong>positionen der modernen Physik <strong>und</strong><br />

der Physik des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts bringt. Physikalische Gesetze beschreiben wesenhaft die Entwicklung<br />

der Dinge, also deren Werden. Die sogenannten Naturkonstanten stehen dazu nicht im<br />

Widerspruch. Zum einen gilt es mittlerweile als nicht unwahrscheinlich, dass sie gar nicht für alle<br />

Ewigkeit konstant sind sondern sich im Laufe der Geschichte des Universums langsam ändern,<br />

zum anderen werden sie <strong>bei</strong> der Untersuchung physikalischer Gesetze meist einfach weggelassen.<br />

Sie sind im wesentlichen nur Umrechnungsfaktoren“, die die mathematisch relevanten Einheiten<br />

”<br />

in die Einheiten der Beobachtung umwandeln.<br />

59 Vgl. [4]<br />

60 [29, S. 404]<br />

15


dere darf man nicht verführt sein, in seinen Notitzbüchern reproduzierte oder zum<br />

eigenen besseren Verständnis dort nachvollzogene naturwissenschaftliche Lektüre,<br />

als von <strong>Nietzsche</strong> widerspruchslos anerkannte Wahrheit zu betrachten, nur weil sie<br />

im Nachlass erhalten ist. 61 Ein Beispiel für solch ein schöpferisches Nachvollziehen<br />

ist das Fragment zur Zeitatomenlehre 62 von 1873, in dem <strong>Nietzsche</strong> aus der Lektüre<br />

einer naturwissenschaftlichen Ar<strong>bei</strong>t eine ”<br />

wissenschaftliche Empfindungslehre“ abzuleiten<br />

versucht. 63<br />

4.2.1 Naturwissenschaftliche Lektüre<br />

Unter den nicht-zeitgenössischen Naturwissenschaftlern ehrte <strong>Nietzsche</strong> am meisten<br />

Ruggero Giuseppe Boscovich. Der Jesuit, der von 1711 bis 1787 lebte, stammte aus<br />

Dalmatien, studierte Physik <strong>und</strong> Mathematik am Collegium Romanum, wo er später<br />

auch Professor wurde. Er beschäftigte sich mit Themen aus der Astronomie <strong>und</strong> mit<br />

Teleskopen, mit Gravitation <strong>und</strong> sogar mit der Statik der Kuppel des Petersdomes.<br />

Sein Hauptwerk ist Theoria philosophiae naturalis redacta ad unicam legem virium<br />

in natura existentium 64 von 1758, in dem er aufbauend auf die Newtonsche Mechanik<br />

eine Atom- <strong>und</strong> Krafttheorie vorstellt, dergemäß Atome strukturlose Punkte<br />

sind, welche abstoßende <strong>und</strong> anziehende Kräfte aufeinander wirken. Über die Wirkung<br />

von Boscovich schreibt <strong>Nietzsche</strong>:<br />

Was die materialistische Atomistik betrifft: so gehört dieselbe zu den<br />

”<br />

bestwiderlegten Dingen, die es giebt; <strong>und</strong> vielleicht ist heute in Europa<br />

Niemand unter den Gelehrten mehr so ungelehrt, ihr ausser zum bequemen<br />

Hand- <strong>und</strong> Hausgebrauch (nämlich als einer Abkürzung der Ausdrucksmittel)<br />

noch eine ernstliche Bedeutung zuzumessen – Dank vorerst<br />

jenem Polen Boscovich, der, mitsammt dem Polen Kopernicus, bisher<br />

der grösste <strong>und</strong> siegreichste Gegner des Augenscheins war. Während<br />

nämlich Kopernicus uns überredet hat zu glauben, wider alle Sinne, dass<br />

die Erde nicht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an das Letzte,<br />

was von der Erde feststand‘, abzuschwören, dem Glauben an den Stoff‘,<br />

’ ’<br />

an die Materie‘, an das Erdenrest- <strong>und</strong> Klümpchen-Atom: es war der<br />

’<br />

grösste Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden errungen worden<br />

ist.“ 65<br />

Mit Boscovich glaubt <strong>Nietzsche</strong> auch den deutschen Arzt <strong>und</strong> Physiker Julius Robert<br />

Mayer (1814 – 1878) widerlegen zu können. Mayer beschäftigte sich mit Wärmelehre<br />

<strong>und</strong> leistete wichtige Vorar<strong>bei</strong>ten zum Energieerhaltungssatz, den später Hermann<br />

von Helmholtz formulierte. Wenn <strong>Nietzsche</strong> auch aus Mayers ewiger Konstanz des<br />

Kraftquantums eine Begründung für seine Vorstellung von der ewigen Wiederkehr<br />

des Gleichen gewinnt, indem er daraus eine Begrenztheit der möglichen Kraftlagen<br />

folgert, lehnt er seinen mechanistischen Stoffbegriff ab. 66 Er schreibt an seinen<br />

Fre<strong>und</strong> Köselitz:<br />

61 Vgl. [29, S. 404] ”<br />

Ebenso mißlich ist, daß der interpretatorische Status der häufig als Exzerpte<br />

im Nachlaß überlieferten Lektürezeugnisse von naturwissenschaftlichen Werken <strong>bei</strong>m isolierten<br />

Aufspüren von Quellentatbeständen zumeist unbefragt bleibt.“<br />

62 [27, 26 [12], S. 575ff.]<br />

63 Es geht hier<strong>bei</strong> um die Atomismuskritik <strong>bei</strong> Boscovich, dem <strong>Nietzsche</strong> große Bedeutung zumaß<br />

(s.u.). Aus dem Primat der Kraft <strong>und</strong> der Ablehnung stofflicher Atome leitet sich ein Kraftgesetz<br />

her, das nur in der Ferne wirken könne. <strong>Nietzsche</strong> stellt eine Transformation aller Aussagen über<br />

Ortspunkte in Aussagen über verschiedene Zeitpunkte vor. Wenn nun manche Dinge als gleichzeitig<br />

wahrgenommen würden, so sei dies eine Leistung der Empfindung, die für ein Nebeneinanderordnen<br />

der Zeitpunkte sorge. Hierzu ausführlich [31].<br />

64 Theorie der Naturphilosophie zurückgeführt auf das einheitliche Gesetz der Naturkräfte<br />

65 [25, JGB, von den Vorurtheilen der Philosophen 12, S. 26]<br />

66 Vgl. [29, S. 406]<br />

16


Ich las in R〈 obert〉 Mayer [. . . ] Wenn irgend Etwas gut widerlegt ist so<br />

”<br />

ist es das Vorurtheil vom Stoffe‘: <strong>und</strong> zwar nicht durch einen Idealisten<br />

’<br />

sondern druch einen Mathematiker – durch Boscovich. [. . . ] Schwere<br />

ist ganz gewiß keine Eigenschaft der Materie‘, einfach weil es keine<br />

’<br />

Materie giebt. Schwerkraft ist, ebenso wie die vis inertiae, gewiß<br />

eine Erscheinungsform der Kraft (einfach weil es nichts anderes giebt<br />

als Kraft): nur ist das logische Verhältniß dieser Erscheinungsform zu<br />

anderen, z.B. zur Wärme, noch ganz <strong>und</strong>urchsichtig.“ 67<br />

Mit der Ablehnung stofflicher Atome, die vielmehr wie ein ”<br />

als relationale Kraftwirkungen<br />

auszulegendes Geschehen“ 68 interpretiert werden, ändert sich auch die<br />

Einstellung gegenüber den von der Wissenschaft aufgestellten Naturgesetzen, ”<br />

denn<br />

jedes Gesetz kann jetzt nur noch als transitorisches Resultat perspektivischer<br />

Täuschung <strong>und</strong> somit als regulative Fiktion begriffen werden.“ 69 Absolute Gesetze<br />

<strong>und</strong> alle Verharrende, wie Stoff <strong>und</strong> Materie, sind mit dem Postulat vom ”<br />

absoluten<br />

Werden“ eben nicht vereinbar. Damit greift er aber die Gr<strong>und</strong>lagen der Naturwissenschaften<br />

an, denn deren Gegenstand, auch in der statistischen Physik des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, sind die materiellen Objekte. Wenn man diese aber in Abrede stellt,<br />

werden die Naturgesetze im wahrsten Sinne des Wortes gegenstandslos.<br />

Die physikalische Forschung wurde zu <strong>Nietzsche</strong>s Lebzeiten von der statistischen<br />

Physik bestimmt. Neben Robert Mayer leistete auch Sadi Carnot (1796–1832) mit<br />

seinen Überlegungen zum idealen Kreisprozess für den Antrieb eines Motors durch<br />

Wäremebäder wichtige Vorar<strong>bei</strong>ten für die Erkenntnis der Äquivalenz von mechanischer<br />

Energie <strong>und</strong> Wärmeenergie die schließlich zur Formulierung des ersten Hauptsatzes<br />

der Thermodynamik durch James Joule (1818–1889) führte. Demnach ist die<br />

Summer aller Energien, mechanischer wie thermischer, im abgeschlossenen System<br />

stets erhalten <strong>und</strong> ein perpetuum mobile erster Art, eine Maschine, die Ar<strong>bei</strong>t leistet,<br />

ohne Energie aufzunehmen, unmöglich. Mit diesem Gesetz allein konnte aber noch<br />

nicht erklärt werden, warum bestimmte Prozesse in der Natur nicht auftreten, wie<br />

zum Beispiel, dass ein Stein sich abkühlt <strong>und</strong> in die Luft springt. William Thomson<br />

<strong>und</strong> Rudolf Clausius fanden zwei äquivalente Formulierungen des zweiten Hauptsatzes<br />

der Thermodynamik, nämlich dass es keinen Prozess geben dürfe, dessen<br />

einzige Wirkung es sei, Wärmeenergie vollständig in mechanische Energie umzuwandeln,<br />

was man auch als perpetuum mobile zweiter Art bezeichnet, bzw. Wärme<br />

von einem kälteren in ein wärmeres Reservoir zu leiten. Der zweite Hauptsatz ist<br />

im Gegensatz zu allen anderen physikalischen Gesetzen nicht mathematisch abgeleitet<br />

sondern stellt eine reine Erfahrungstatsache dar. Er ermöglicht die Definition<br />

einer neuen Zustandsgröße, der Entropie, als das Verhältnis der Wärmeenergie, die<br />

während einer Zustandsänderung eines thermodynamischen Systems aufgenommen<br />

wird, <strong>und</strong> der Temperatur, <strong>bei</strong> der die Zustandsänderung geschieht. Durch Betrachtung<br />

des Carnot-Prozesses kann man beweisen, dass die Entropie eines thermisch<br />

abgeschlossenen Systems nicht abnimmt. Ein solches System, das sich nicht im thermodynamischen<br />

Gleichgewicht befindet, kann also nur dem Gleichgewichtszustand<br />

zustreben <strong>und</strong> da<strong>bei</strong> seine Entropie maximieren. 70<br />

Ein solches thermisch abgeschlossenes System im Nichtgleichgewicht stellt auch das<br />

Universum als ganzes dar, weil es außerhalb nichts gibt, mit dem es thermisch<br />

wechselwirken könnte. Wendet man den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik<br />

auf das Universum an, so bedeutet dies, dass auch das Universum sich langsam<br />

auf einen thermodynamischen Gleichgewichtszustand maximaler Entropie hinent-<br />

67 [17, III,1, 213, S. 183f.]<br />

68 Abel 1998, zitiert nach [29, Naturwissenschaft, S. 405]<br />

69 [29, ebd.]<br />

70 Siehe z.B. [1]<br />

17


wickeln wird, in dem es dann keine Zustandsänderung mehr erfährt: der Wäremetod<br />

des Universums. Diese erstaunliche <strong>und</strong> vielleicht erschütternde Folgerung hat unter<br />

Naturforschern <strong>und</strong> Philosophen eine Rege Debatte ausgelöst. 71 Im Jahre 1875<br />

verfasst Hans Vaihinger einen Artikel für die Konferenz des Philosophischen Vereins<br />

von Leipzig. In einer von Neokantismus <strong>und</strong> Positivismus geprägten Zeit ist ”<br />

Der<br />

gegenwärtige Stand des kosmologischen Problems“ von zwei Strömungen zu seiner<br />

Lösung beherrscht: der mechanistischen, die an die Gültigkeit der physikalischen Gesetze<br />

glaubt <strong>und</strong> der sich Thomson, Helmholtz <strong>und</strong> Clausius angeschossen hatten<br />

<strong>und</strong> der organisch-teleologischen von Otto Caspari, der dem Universum die Charakteristiken<br />

eines lebenden Organismus zuschreibt. 72 Wenn das Universum nach<br />

unendlicher Zeit in den Gleichgewichtszustand des Wärmetodes übergeht, so versucht<br />

Caspari die mechanistische Beschreibung zu widerlegen, dann müsste es sich<br />

bereits in diesem Zustand befinden, da es schon seit einer Ewigkeit bestünde. 73 ” Also<br />

kann das Universum nicht als Mechanismus betrachtet werden: [. . . ] aber jede<br />

Einheit von Teilen, die sich in Bezug auf die eigene Bewegung nach einem nichtmechanischen<br />

Gesetz verhalten, muss als Organismus betrachtet werden. Die Atome<br />

von Caspari, unter Berufung auf den Leibniz der Monadologie, verhalten sich wie<br />

eine Art biologische Monaden, die mit einem inneren Zustand ausgestattet sind.<br />

Jedes Atom gehorcht dem ethischen Imperativ, zur Erhaltung des gesamten Organismus<br />

<strong>bei</strong>zutragen, <strong>und</strong> folgt in seiner Bewegung neben der reinen physikalischen<br />

Wechselwirkung, auch einer apriorischen Norm, durch die es das termische Gleichgewicht<br />

vermeidet, das aus jeder rein mechanischen Wechselwirkung unausweichlich<br />

folgt.“ 74<br />

Wenn man den Atomen solche organischen Eigenschaften zugesteht, versteht man<br />

auch, wie der Wille zum Leben ihren Bewegungen zugr<strong>und</strong>eliegen kann. Entscheidend<br />

an diesem Weltbild ist aber die Gegenüberstellung von mechanistischdeterministischer<br />

<strong>und</strong> organisch-ethischer Sichtweise. Ethische Ansprüche widersprechen<br />

also den deterministischen <strong>und</strong> umgekehrt, was ein entscheidender Punkt<br />

zum Verständnis des <strong>Determinismus</strong>begriffes <strong>Nietzsche</strong>s ist.<br />

4.2.2 Ablehnung der Naturwissenschaften<br />

Neben ihrer Untersuchung von Objekten, die für <strong>Nietzsche</strong> eigentlich nur Gegenstand<br />

eines Gr<strong>und</strong>irrtums sein können, kritisiert er das Bedürfnis der Naturwissenschaften,<br />

ein ewiggültiges Naturgesetz aufzustellen, also eine klassische Wahrheit,<br />

die jeder Perspektive enthoben <strong>und</strong> jeder historischen Wertung entzogen ist, als eigentlich<br />

metaphysisches Bedürfnis, weil ”<br />

es immer noch ein metaphysischer Glaube<br />

71 Eine ausführliche Darstellung der naturwissenschaftlichen <strong>und</strong> philosophischen Diskussion der<br />

kosmologischen Frage“ findet sich <strong>bei</strong> [6]<br />

” 72 S. [6, S. 111ff.]<br />

73 Freilich ist man in der mathematischen Kosmologie mittlerweile der Ansicht, dass es einen<br />

zeitlichen Beginn des Universums gegeben habe, den Urknall, über dessen Existenz schon zu Zeiten<br />

der kosmologischen Frage philosophisch spekuliert worden ist. Dem Argument von Caspari ist<br />

also heute der Boden entzogen. Ein andere physikalische Spekulation, nach der das Universum<br />

nach langer Zeit der Ausdehnung wieder in sich zusammenstürzen könnte, scheint nach neueren<br />

Erkenntnissen unwahrscheinlich. Damit wird der Wärmetod wieder als Ende des Universums<br />

erwartet.<br />

74 Ergo, l’universo non può essere considerato un meccanismo: [. . . ]. Ma ogni communità di parti<br />

che in relazione al proprio movimento segua una norma non meccanica, deve essere considerata<br />

”<br />

un organismo. Gli atomi di Caspari, in un richiamo al Leibniz della Monadologia, vengono così a<br />

configurarsi come una sorta di monadi biologiche, dotate di stati interni. Ogni atomo obbedisce<br />

all’imperativo etico di contribuire alle conservazione dell’organismo generale e nel suo movimento<br />

segue, accanto alla pura interazione fisica, anche una norma datagli a priori, attraverso la quale<br />

viene evitato l’equilibrio termico, immancabile risultato die ogni interazione puramente meccanica.“[6,<br />

S. 171f.]<br />

18


ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, – dass auch wir Erkennenden<br />

von heute, wir Gottlosen <strong>und</strong> Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem<br />

Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-<br />

Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die<br />

Wahrheit göttlich ist . . .“ 75 . So ist die Wissenschaft nichts anderes als ”<br />

Eine tiefsinnige<br />

Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam,<br />

jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der causalität,<br />

bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche [. . . ]. Dieser erhabene metaphysische<br />

Wahn ist als Instinct der Wissenschaft <strong>bei</strong>gegeben <strong>und</strong> führt sie immer <strong>und</strong> immer<br />

wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in Kunst umschlagen muss.“ 76 Damit<br />

vernachlässigt die reine Naturwissenschaft aber den interpretationalen Gr<strong>und</strong>charaketer<br />

der Welt <strong>und</strong> verkennt, ”<br />

dass Physik auch nur eine Welt-Auslegung <strong>und</strong><br />

-Zurechtlegung [. . . ] <strong>und</strong> nicht eine Welterklärung ist: aber, insofern sie sich auf<br />

den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr <strong>und</strong> muss auf lange hinaus noch<br />

als mehr, nämlich als Erklärung gelten. Sie hat Augen <strong>und</strong> Finger für sich, sie hat<br />

den Augenschein <strong>und</strong> die Handgreiflichkeit für sich: das wirkt auf ein Zeitalter mit<br />

plebejischem Gr<strong>und</strong>geschmack bezaubernd, überredend, überzeugend, – es folgt ja<br />

instinktiv dem Wahrheits-Kanon des ewig volksthümlichen Sensualismus.“ 77 Doch<br />

hat sie diesen Überzeugungscharakter eben nur für die Plebs unter den Denkern,<br />

wohingegen deren Nobilität erkennt:<br />

” Eine wissenschaftliche‘Welt-Interpretation, wie ihr sie versteht, könnte<br />

’<br />

folglich immer noch eine der dümmsten, das heisst sinnärmsten aller<br />

möglichen Welt-Interpretationen sein: dies den Herrn Mechanikern in’s<br />

Ohr <strong>und</strong> Gewissen gesagt, die heute gern unter die Philosophen laufen<br />

<strong>und</strong> durchaus vermeinen, Mechanik sei die Lehre von den ersten <strong>und</strong><br />

letzten Gesetzen, auf denen wie auf einem Gr<strong>und</strong>stocke alles Dasein<br />

aufgebaut sein müsse. Aber eine essentiell mechanische Welt wäre eine<br />

essentiell sinnlose Welt!“ 78<br />

Eine deterministische Weltsicht, so wie wir sie oben dargestellt haben, wäre aber<br />

essentiell auch eine mechanische <strong>und</strong> also für <strong>Nietzsche</strong> eine sinnlose.<br />

<strong>Nietzsche</strong>s Verhältnis zur Wissenschaft ist aber durchwegs ambivalent. Im gleichen<br />

Buch nämlich träumt er von einem Ideal der Fröhlichen Wissenschaft: ”<br />

Vielleicht<br />

wird sich dann das Lachen mit der Weisheit verbündet haben, vielleicht giebt es<br />

dann nur noch ’<br />

fröhliche Wissenschaft‘.“ 79 Eine Wissenschaft, die ihre eigene Perspektive<br />

relativieren <strong>und</strong> sich als Diskussions<strong>bei</strong>trag begreifen kann: ”<br />

Ueber sich selber<br />

lachen, wie man lachen müsste, um aus der ganzen Wahrheit heraus zu lachen,<br />

– dazu hatten bisher die Besten nicht genug Wahrheitssinn <strong>und</strong> die Begabtesten<br />

viel zu wenig Genie!“ 80 <strong>Nietzsche</strong> verweist damit die Naturwissenschaften auf einen<br />

Platz, der z.B. der Kunst untergeordnet ist. Es würde nicht reichen, eine positivistische<br />

Wissenschaftsauffassung, wie sie sich im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert fand, durch eine<br />

pragmatische oder funktionalistische zu ersetzen, was in der Moderne oft geschieht,<br />

um diesen Makel zu beheben. Auch wenn eine Naturwissenschaft ihr Konzepte als<br />

bloße mathematische Hilfsmittel begriffe, wohnte ihr immer noch die reduktionistische<br />

Methode inne, deren Objektivitätsanspruch nicht aufgegeben werden kann.<br />

Darüberhinaus ist es für die Naturwissenschaft nicht möglich, Perspektiven soweit<br />

zuzulassen, dass einander widersprechende Positionen Gültigkeit erhalten könnten,<br />

was im zwischenmenschlichen Bereich durchaus zulässig ist <strong>und</strong> im Falle der Kunst<br />

75 [24, FW, Fünftes Buch 344, S. 577]<br />

76 [19, GT, Nr. 15, S. 99]<br />

77 [25, JGB, von den Vorurtheilen der Philosophen 14]<br />

78 [24, FW 373, S. 626]<br />

79 [24, FW, Erstes Buch 1]<br />

80 [24, ebd.]<br />

19


gar kein Problem darstellt.<br />

Was aber bedeutete eine solche Position der Wissenschaft für unsere Frage nach<br />

dem <strong>Determinismus</strong>? Eine Naturwissenschaft, die keinen Objektivitätsanspruch an<br />

die von ihr betrachteten Gegenstände stellte, wäre keine Wissenschaft mehr über die<br />

Welt, sondern über Konzepte, die vielleicht einer Ökonomie des Denkens entsprungen<br />

sind. Wenn sie darüberhinaus auch noch den Anspruch der strengen Notwendigkeit<br />

ihrer Naturgesetze leugnete, wäre die aus ihr abzuleitende Gesetzmäßigkeit<br />

nur mehr ein empirischer <strong>Determinismus</strong>, der <strong>bei</strong> Hume sogar zur Vorbedingung<br />

der menschlichen Freiheit wird. Auf alle Fälle erfüllte sie keine der Bedingungen für<br />

<strong>Determinismus</strong> mehr, die wir in 4.1 festgelegt haben, weil weder die ”<br />

Dinge“ Teil<br />

der Welt sind, noch ein ”<br />

Naturgesetz“ deren Entwicklung lenkt. Mit einer Wissenschaftsauffassung,<br />

wie <strong>Nietzsche</strong> sie akzeptierte, kann <strong>Determinismus</strong> nicht gerechtfertigt<br />

werden. 81<br />

5 Naturwissenschaft <strong>und</strong> Moral<br />

Mag das Verhältnis <strong>Nietzsche</strong>s zur Naturwissenschaft ambivalent sein, wie wir gesehen<br />

haben, zur Moral scheint der Philosoph, der als vermeintlich großer Kritiker<br />

des Christentums <strong>und</strong> seiner ”<br />

Sklavenmoral“ berühmt geworden ist, eindeutige Positionen<br />

zu beziehen. Den Menschen durch oktroyierte Moralvorstellungen zu unterdrücken,<br />

wurde von ihm abgelehnt.<br />

Zur Begründung des moralischen Anspruchs an die Handlungen eines Menschen<br />

bedarf es zumindest zweier Gr<strong>und</strong>annahmen. Zum einen müssen die Werte, auf die<br />

sich die Handlungsnormen stützen, letztbegründet werden, das heißt, derjenige, der<br />

eine Norm verficht, sei es ein Philosoph, ein Kirchenfürst oder die graue Masse der<br />

Gesellschaft, muss sie von einem Wert ableiten, von dem selbst hinwiederum gesagt<br />

werden muss, warum er allgemeingültig, ewig <strong>und</strong> der menschlichen Disposition<br />

entzogen ist. Eine solche transcendentale Verortung wurde immer wieder aus dem<br />

christlichen Glauben heraus versucht, was <strong>Nietzsche</strong> zusammen mit den ”<br />

ewigen<br />

Glaubenswahrheiten“ ablehnte. Zum anderen kann eine Handlung nur dann moralisch<br />

bewertet werden, wenn ihr Urheber gestalterischen Einfluss auf sie hatte, wenn<br />

er sie in dieser oder anderer Weise hätte ausführen können, wenn er sich überhaupt<br />

für oder gegen sie entscheiden konnte, wenn also der Mensch mit einem freien Willen<br />

über seine Handlungen ausgestattet ist. Am Anfang aller Moralphilosophie steht<br />

das Aristoteleswort:<br />

Da nun die Tugend sich auf Leidenschaften <strong>und</strong> Handlungen bezieht<br />

”<br />

<strong>und</strong> da Lob <strong>und</strong> Tadel das Freiwillige treffen, das Unfreiwillige aber<br />

Verzeihung erlangt, gelegentlich sogar Mitleid, so muß derjenige, der<br />

nach der Tugend forscht, wohl auch das Freiwillige <strong>und</strong> Unfreiwillige<br />

bestimmen.“ 82<br />

Moralisch oder unmoralisch handelt also nur, wer für seine Tat Lob oder Tadel<br />

erwarten kann. Wer aber keine Wahl, kann schlechterdings getadelt werden <strong>und</strong><br />

trägt auch keine Verantwortung. 83 .<br />

Moralphilosophie <strong>und</strong> Naturwissenschaft treffen sich dort, wo naturwissenschaftlicher<br />

<strong>Determinismus</strong> so weit geht, dass er auch den Menschen als physisches Wesen<br />

mitsamt seinem Denken <strong>und</strong> Handeln erfasst. Des Menschen Handeln ist dann wie<br />

81 Vgl. [29, Wissenschaft, S. 355f.]<br />

82 [2, 1109 b 30 – 34, S. 149]<br />

83 Vgl. [8]<br />

20


jedes Ding in der Welt vorherbestimmt <strong>und</strong> er ohne jede Freiheit über, ohne jede<br />

moralische Verantwortung für sein Tun. Verschiedene Philosophen, darunter Thomas<br />

Hobbes, David Hume <strong>und</strong> John Stuart Mill argumentierten für die Kompatibilität<br />

von <strong>Determinismus</strong> <strong>und</strong> moralischer Verantwortung <strong>und</strong> begründeten die<br />

Lehre vom Kompatibilismus 84 , andere wie Augustinus <strong>und</strong> Immanuel Kant lehnten<br />

diese friedliche Koexistenz ab <strong>und</strong> bewiesen sich damit als Inkompatibilisten.<br />

<strong>Nietzsche</strong> selbst nimmt zur Naturwissenschaft ein wechselndes Verhältnis ein, strengen<br />

<strong>Determinismus</strong> schien er abzulehnen. Dennoch scheint er ihm nützliches Mittel<br />

in seinem ”<br />

demoralisierenden“ Programm, das er in einer Gegenrede zu Schopenhauers<br />

Postulat des freien Willens im Bezug auf das Wesen des Menschen skizziert:<br />

Schopenhauer macht jene treffliche Unterscheidung, mit der er viel<br />

”<br />

mehr Recht behalten wird, als er sich selber eigentlich zugestehen durfte:<br />

die Einsicht in die strenge Nothwendigkeit der menschlichen Handlungen<br />

ist die Gränzlinie, welche die philosophischen Köpfe von den<br />

’<br />

anderen scheidet.‘Dieser mächtigen Einsicht, welcher er zu Zeiten offen<br />

stand, wirkte er <strong>bei</strong> sich selber durch jenes Vorurtheil entgegen,<br />

welches er mit den moralischen Menschen (nicht mit den Moralisten)<br />

noch gemein hatte <strong>und</strong> das er ganz harmlos <strong>und</strong> gläubig so ausspricht:<br />

der letzte <strong>und</strong> wahre Aufschluss über das innere Wesen des Ganzen<br />

’<br />

der Dinge muss nothwendig eng zusammenhängen mit dem über die<br />

ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns‘, – was eben durchaus<br />

nicht nothwendig‘ist, vielmehr durch jenen Satz von der strengen<br />

’<br />

Nothwendigkeit der menschlichen Handlungen, das heisst der unbedingten<br />

Willens-Unfreiheit <strong>und</strong> -Unverantwortlichkeit, eben abgelehnt wird.<br />

Die philosophischen Köpfe werden sich also von den anderen durch den<br />

Unglauben an die metaphysische Bedeutsamkeit der Moral unterscheiden.“<br />

85<br />

Obwohl Schopenhauer das Problem der Determiniertheit menschlichen Handelns<br />

erkennt <strong>und</strong> insofern ein ”<br />

Moralisten-Genie“ ist, hat er nicht die Kraft, sich von<br />

der moralischen Fessel zu lösen. Schopenhauer bleibt ein ”<br />

moralischer Mensch“, der<br />

moralisch handeln muss <strong>und</strong> die Moral nicht in Frage stellen darf, sondern sie statt<br />

dessen auf ein metaphysisches Podest hebt. Genau dies dürfe aber ein Philosoph<br />

nicht tun, weil die Gültigkeit gesellschaftlicher oder religiöser Normen ein ”<br />

Vorurtheil“<br />

ist. Es ist auch unzulässig, dem Menschen die Freiheit zuzuschreiben, sein Esse,<br />

also seinen Charakter <strong>und</strong> sein Wesen, aus dem dann notwendig alle Handlungen<br />

folgen, frei zu wählen, denn ”<br />

manche Hinterthür, welche sich die ’<br />

philosophischen<br />

Köpfe‘, gleich Schopenhauern selbst, gelassen haben, als nutzlos erkannt werden:<br />

keine führt in’s Freie, in die Luft des freien Willens; [. . . ] frei können wir uns nur<br />

träumen, nicht machen.“ 86<br />

Denn auch die Entscheidungen für oder gegen bestimmte Wesenszüge sind Handlungen<br />

<strong>und</strong> unterliegen als solche dem Gesetz der Notwendigkeit. Auch das Wesen<br />

eines Menschen ist also kein Resultat eines freien Willensaktes.<br />

Nun entdeckt man schliesslich, dass auch dieses Wesen nicht verantwortlich<br />

sein kann, insofern es ganz <strong>und</strong> gar nothwendige Folge ist <strong>und</strong><br />

”<br />

aus den Elementen <strong>und</strong> Einflüssen vergangener <strong>und</strong> gegenwärtiger Dinge<br />

concresciert: also dass der Mensch für Nichts verantwortlich zu machen<br />

ist, weder für sein Wesen, noch seine Motive, noch seine Handlungen,<br />

noch seine Wirkungen. Damit ist man zur Erkenntniss gelangt, dass<br />

84 vgl. [16]<br />

85 [23, MA II, Vermischte Meinungen <strong>und</strong> Sprüche 33, S. 395]<br />

86 [23, MA II, Vermischte Meinungen <strong>und</strong> Sprüche 33, S. 395f.]<br />

21


die Geschichte der moralischen Empfindungen die Geschichte eines Irrthums,<br />

des Irrthums von der Verantwortlichkeit ist: als welcher auf dem<br />

Irrthum von der Freiheit des Willens ruht.“ 87<br />

Es scheint dennoch eine anthropologische Konstante zu sein, dass der Mensch zur<br />

Durchsetzung seines moralischen Interesses fortwährend bestrebt ist, zu richten.<br />

Diese Moralität ist aber geheuchelt, denn dahinter steckt nur das Bedürfnis des<br />

Menschen nach Selbstüberhöhung, sein Wille zur Macht: ”<br />

Pereat m<strong>und</strong>us, dum<br />

ego salvus sim!“ 88 ist die Fratze, vor der die moralische Maske ”<br />

Pereat me, dum<br />

Deus salvus sit“ zur Schau getragen wird. 89 Da<strong>bei</strong> könnte sich der Mensch von der<br />

Selbstgeißelung moralischer Vorwürfe befreien.<br />

Aber der Unmuth nach der That braucht gar nicht vernünftig zu sein:<br />

”<br />

ja er ist es gewiss nicht, denn er ruht auf der irrthümlichen Voraussetzung,<br />

dass die That eben nicht nothwendig hätte erfolgen müssen.<br />

Also: weil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet<br />

er Reue <strong>und</strong> Gewissensbisse. [. . . ] Niemand ist für seine Thaten<br />

verantwortlich, Niemand für sein Wesen; richten ist soviel als ungerecht<br />

sein.“ 90<br />

” Der Irrthum steckt nicht nur im Gefühle ich bin verantwortlich‘, sondern<br />

eben so in jenem Gegensatze ich bin es nicht, aber irgendwer muss<br />

’<br />

’<br />

es doch sein.‘– Diess ist eben nicht wahr: der Philosoph hat also zu<br />

sagen, wie Christus, richtet nicht!‘<strong>und</strong> der letzte Unterschied zwischen<br />

’<br />

den philosophischen Köpfen <strong>und</strong> den anderen wäre der, dass die ersten<br />

gerecht sein wollen, die andern Richter sein wollen.“ 91<br />

“Diess gilt auch, wenn das Individuum über sich slebst richtet. Der Satz<br />

ist so hell wie Sonnenlicht, <strong>und</strong> doch geht hier Jedermann lieber in den<br />

Schatten <strong>und</strong> die Unwahrheit zurück: aus Furcht vor den Folgen.“ 92<br />

Echte Philosophen dürfen sich aber von solchen pragmatischen Bedenken nicht abhalten<br />

lassen, die Moral auf ihren Platz zu verweisen, denn<br />

Diess Alles einzusehen, kann tiefe Schmerzen machen, aber darnach<br />

”<br />

giebt es einen Trost: solche Schmerzen sind Geburtswehen. Der Schmetterling<br />

will seine Hülle durchbrechen, er zerrt an ihr, er zerreisst sie: da<br />

blendet <strong>und</strong> verwirrt ihn das unbekannte Licht, das Reich der Freiheit.<br />

In solchen Menschen, welche jener Traurigkeit fähig sind– wie wenige<br />

werden es sein! – wird der erste Versuch gemacht, ob die Menschheit<br />

aus einer moralischen sich in eine weise Menschheit umwandeln könne.<br />

[. . . ] Alles ist Nothwendigkeit, – so sagt die neue Erkenntniss: <strong>und</strong> diese<br />

Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld: <strong>und</strong> die<br />

Erkenntniss ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld. Sind Lust, Egoismus,<br />

Eitelkeit nothwendig zur Erzeugung der moralischen Phänomene<br />

<strong>und</strong> ihrer höchsten Blüthe, des Sinnes für Wahrheit <strong>und</strong> Gerechtigkeit<br />

der Erkenntniss, war der Irrthum <strong>und</strong> die Verirrung der Phantasie das<br />

einzige Mittel, durch welches die Menschheit sich allmählich zu diesem<br />

Grade von Selbsterleuchtung <strong>und</strong> Selbsterlösung zu erheben vermochte<br />

– wer dürfte jene Mittel geringschätzen? Wer dürfte traurig sein, wenn<br />

er das Ziel, zu dem jene Wege führen, gewahr wird? Alles auf dem Gebie-<br />

87 [23, MA I, Zur Geschichte der moralischen Empfindungen 39, S. 63], vgl. auch [22, 14 [126],<br />

S. 307ff.]<br />

88 [23, MA II, Vermischte Meinungen <strong>und</strong> Sprüche 26, S. 391]<br />

89 Vgl. [5]<br />

90 [23, MA I, 39, S. 64]<br />

91 [23, MA II, Vermischte Meinungen <strong>und</strong> Sprüche 33, S. 396]<br />

92 [23, MA I, 39, S. 64]<br />

22


te der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, Alles ist im Flusse<br />

[. . . ]“ 93<br />

Es ist also gar nicht nötig, ”<br />

aus Trotz [. . . ] die allerhässlichste Wirklichkeit“ 94 des<br />

Nihilismus zu umarmen, weil die Geschichte der moralischen Empfindungen bis<br />

dato notwendig gewesen sei, um sie als Irrtümer zu entlarven, ”<br />

croyez-moi, mon<br />

ami, l’erreur aussi a son mérite.“ 95<br />

Entlang dieses Gedankenganges lässt sich gut der experimentelle Fortschritt der<br />

Philosophie im Wechselspiel von Erkenntnis <strong>und</strong> Methode nachvollziehen, den wir<br />

in 3.2 kennengelernt haben: als Anstoßphänomen dient hier das Bewußtsein um die<br />

naturwissenschaftliche Methode, mit der eine Moralphilosophie kritisiert wird, die<br />

sich auf den freien Willen des Menschen stützt. Es stellt sich da<strong>bei</strong> heraus, dass<br />

dieses Postulat des freien Willens verworfen werden muss, womit aber auch alle<br />

Rechtfertigung moralischer Urteile zusammenbricht. Die Erkenntnisspirale aber<br />

dreht sich noch weiter, denn mit dem freien Willen stirbt auch die Mär von der<br />

Freiheit der Erkenntnis <strong>und</strong> damit der Glaube an absolute <strong>und</strong> ewige Wahrheiten.<br />

Naturgesetzlichkeit, die eben ein solches Postulat ist <strong>und</strong> eben noch Methode<br />

auf dem Weg zu dieser Erkenntnis war, wird mit deren Erreichen eingeäschert. 96<br />

An seine Stelle rückt eine neue Methode: ”<br />

Sobald wir die absolute Wahrheit leugnen,<br />

müssen wir alles absolute Fordern aufgeben <strong>und</strong> uns auf aesthetische Urtheile<br />

zurückziehen. [. . . ] Reduktion der Moral auf Aesthetik!!!“ 97<br />

Dass dies ein sehr schwieriger Punkt in seiner Philosophie ist, an dem leicht Kritik<br />

einhaken könnte, hat <strong>Nietzsche</strong> in einer Selbstreflexion selbst erkannt:<br />

Wenn ich an meine philosophische Genealogie denke, so fühle ich mich<br />

im Zusammenhang mit der antiteleologischen, d.h. spinozistischen Bewegung<br />

unserer Zeit, doch mit dem Unterschied, daß ich auch ’<br />

den<br />

Zweck‘<strong>und</strong> ’<br />

den Willen‘in uns für eine Täuschung halte; ebenso mit<br />

der mechanistischen Bewegung (Zurückführung aller moralischen <strong>und</strong><br />

aesthetischen Fragen auf physiologische, aller physiologischen auf chemische,<br />

aller chemischen auf mechanische) doch mit dem Unterschied,<br />

daß ich nicht an ’<br />

Materie‘glaube <strong>und</strong> Boscovich für einen der größten<br />

Wendepunkte halte, wie Copernicus; daß ich alles Ausgehen von der<br />

Selbstbespiegelung des Geistes für unfruchtbar halte <strong>und</strong> ohne den Leitfaden<br />

des Leibes an keine gute Forschung glaube. Nicht eine Philosophie<br />

als Dogma, sondern als vorläufige Regulative der Forschung.“ 98<br />

So versteht sich der <strong>Determinismus</strong> der Naturwissenschaft nicht als eine mataphysische<br />

Letztbegründung einer Moral oder Nicht-Moral, sondern als ein vorläufiges<br />

Gesetz, das <strong>Nietzsche</strong> gegen den Wildwuchs der Moral in Stellung bringt. Wissenschaft<br />

zu treiben ist ein Akt des Willens zur Macht, die dem Menschen die<br />

schaffende Selbstüberhöhung gestattet. Wissenschaft ist damit auch ehrlicher als<br />

die überkommene Moral, weil sie den Willen zur Macht nicht leugnet.<br />

Ja, meine Fre<strong>und</strong>e! In Hinsicht auf das ganze moralische Geschwätz der<br />

”<br />

Einen über die Andern ist der Ekel an der Zeit! Moralisch zu Gericht sit-<br />

93 [23, MA I, 107, S. 104f.]<br />

94 [23, MA II, Vermischte Meinungen <strong>und</strong> Sprüche 3, S. 381]<br />

95<br />

’<br />

Glauben sie mir, mein Fre<strong>und</strong>, auch der Fehler hat sein Verdienst‘, Voltaire zitiert in [23, MA<br />

II, Vermischte Meinungen <strong>und</strong> Sprüche 4, S. 382].<br />

96 Vgl. hierzu auch Kaufmann in [12, S. 312f.]: ”<br />

Man kann <strong>Nietzsche</strong> also nicht vorwerfen, daß<br />

er in den epimenideischen Trugschluß verfallen sei, insofern sich ein Philosoph lächerlich mache,<br />

wenn er Bücher schreibt, um andere Menschen von der völligen Wirkungslosigkeit des Bewußtseins<br />

zu überzeugen.“<br />

97 [28, 11 [79], S. 471]<br />

98 [20, 26 [432], S. 266]<br />

23


zen soll uns wider den Geschmack gehen! Überlassen wir dies Geschwätz<br />

<strong>und</strong> diesen üblen Geschmack Denen, welche nicht mehr zu thun haben,<br />

als die Vergangenheit um ein kleines Stück weiter durch die Zeit zu<br />

schleppen <strong>und</strong> welche selber niemals Gegenwart sind, - den Vielen also,<br />

den Allermeisten! Wir aber wollen Die werden, die wir sind, - die Neuen,<br />

die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden,<br />

die Sich-selberSchaffenden! Und dazu müssen wir die besten Lerner <strong>und</strong><br />

Entdecker alles Gesetzlichen <strong>und</strong> Nothwendigen in der Welt werden: wir<br />

müssen Physiker sein, um, in jenem Sinne, Schöpfer sein zu können, -<br />

während bisher alle Werthschätzungen <strong>und</strong> Ideale auf Unkenntnis der<br />

Physik oder im Widerspruch mit ihr aufgebaut waren. Und darum: Hoch<br />

die Physik! Und höher noch das, was uns zu ihr zwingt, – unsre Redlichkeit!“<br />

99<br />

6 Fazit <strong>und</strong> Kritik<br />

Moral <strong>und</strong> <strong>Determinismus</strong> gehen also <strong>bei</strong> <strong>Nietzsche</strong> eine zerstörerische ”<br />

Dysbiose“<br />

ein. Vom Geist der ”<br />

Umwertung aller Werte“ getrieben, der ihn Verachtung für alle<br />

unterdrückende Moral empfinden läßt, die den Menschen davon abhält, seinem<br />

Willen zur Macht in Selbstüberhöhung zu entsprechen, läßt <strong>Nietzsche</strong> die Gr<strong>und</strong>mauern<br />

der Moralphilosophie vom <strong>Determinismus</strong> untergraben, bis sie schließlich<br />

auf ihn niederstürzt <strong>und</strong> erschlägt. Ist der ”<br />

Nihilist“ <strong>Nietzsche</strong>, dem alle ewigen<br />

Wahrheiten ein Grauen sind, also sogar bereit, das Schafott des <strong>Determinismus</strong> aufzurichten,<br />

um das über die Moral gefällte Todesurteil zu vollziehen? Hat er ganz<br />

übersehen, dass er seine Seele an Materialismus <strong>und</strong> den Glauben an ewige Gesetzmäßigkeit<br />

verkauft, wenn er mit dem ”<br />

Teufel“ <strong>Determinismus</strong> paktiert? Stimmt<br />

er ein, in die Sophistische Tradition: erlaubt ist jedes Argument, das mir nützt?<br />

Sicherlich griffe es zu kurz, <strong>Nietzsche</strong> Selbstwidersprüchlichkeit oder Unehrlichkeit<br />

vorzuwerfen. Die Anwendung des <strong>Determinismus</strong> ist bestimmt nicht nur ein rhetorisches<br />

Scheinargument, das er seinen Lesern unterzujubelen trachtet, um sie für seine<br />

Dekonstruktion der Moral empfänglich zu machen. Zu sehr war er sich der Problematik<br />

eines Erkenntnisprozesses bewußt, der ohne jede feste Wahrheit auskommen<br />

muss. Zu scharf setzte er das logische Rasiermesser an, um <strong>bei</strong>de Ideen, Moral wie<br />

<strong>Determinismus</strong>, aus seinem Weltbild herauszuschneiden. Zu unfertig schließlich, zu<br />

unsystematisch ist seine philosophische Hinterlassenschaft, als dass sie überhaupt<br />

die Suche nach ihren letzten Aussagen <strong>und</strong> den Widersprüchen in ihnen zuließe.<br />

Damit aber verletzt er die Fairness gegenüber seinem Leser <strong>und</strong> den anderen Philosophen.<br />

Man kann nicht umhin, <strong>Nietzsche</strong> eine Immunisierungsstrategie vorzuhalten:<br />

wenn es vielleicht auch als das einzig Systematische seiner Philosophie erscheint,<br />

so entzieht er doch jeder möglichen Kritik den Boden. Er beweist selbst nicht den<br />

” Muth [. . . ], sich <strong>und</strong> sein Werk langweilig finden zu lassen.“100 Denn welchen Angriffspunkt<br />

ließe er zu? Die Naturwissenschaften nicht, denn die benutzt <strong>und</strong> stutzt<br />

er selbst. Keine ihrer Beobachtungen <strong>und</strong> sorgfältigen Experimente könnte etwas gegen<br />

ihn einwenden, denn sie wären immer nur Zeugen eines f<strong>und</strong>amentalen Irrtums<br />

über die materielle Welt <strong>und</strong> einer falschen Gr<strong>und</strong>konzeption unserer Wahrnehmung.<br />

Gegen jede greifbare Gesetzmäßigkeit führt er das Schwert der Vergänglichkeit.<br />

Ein letztes Argument hierfür muss er freilich schuldig bleiben, denn es hieße<br />

im absoluten Werden eine absolute Wahrheit zu begründen. Ebensowenig kann eine<br />

Transzendentalphilosophie gegen ihn ausrichten, denn sie vermag ihre absoluten<br />

99 [24, FW 335, S. 563f.]<br />

100 [23, MA II, Vermischte Meinungen <strong>und</strong> Sprüche 25]<br />

24


Wahrheiten <strong>und</strong> Ideen ebensowenig zu beweisen, wie <strong>Nietzsche</strong> sie widerlegen kann.<br />

Sein Zweifel daran reicht aber, um sie als ”<br />

metaphysisches Bedürfnis“ abzuwerten,<br />

wodurch ihm Platonismus <strong>und</strong> Christentum gleichermaßen zum Opfer fallen.<br />

Es bliebe die Kunst. Aber was ist <strong>Nietzsche</strong>s aphoristisches Schaffen anderes, als<br />

künstlerisches Schaffen, das als Teil der Kunst aus sich heraus allein schon legitimiert<br />

wäre?<br />

Vielleicht ist <strong>Nietzsche</strong> schlichtweg kein Philosoph <strong>und</strong> möchte auch keiner sein.<br />

Schließlich verwendet er den Begriff selbst meist abfällig für die Metaphysiker“.<br />

”<br />

Ein gelehrter Humanist vielleicht, der aus seinem ästhetischen Weltverständnis eine<br />

Regulative der Wissenschaft“ schöpft. Vielleicht auch nur der einzige, der zumindest<br />

daran glaubte, die Apotheose zum Übermenschen geschafft zu<br />

”<br />

haben.<br />

“Ecce homo<br />

Ja! Ich weiß, woher ich stamme!<br />

Ungesättigt gleich der Flamme<br />

Glühe <strong>und</strong> verzehr’ ich mich.<br />

Licht wird Alles, was ich fasse,<br />

Kohle Alles, was ich lasse:<br />

Flamme bin ich sicherlich.“ 101<br />

101 [24, FW, ”<br />

Scherz, List <strong>und</strong> Rache“ 62, S. 367]<br />

25


Literatur<br />

[1] Adam, Gerhard <strong>und</strong> Otto Hittmair: Wärmetheorie. vieweg, Braunschweig,<br />

Wiesbaden, 4. Auflage, 1992.<br />

[2] Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Deutscher Taschenbuchverlag, 3. Auflage,<br />

1998. Aus dem Griechischen <strong>und</strong> mit einer Einführung <strong>und</strong> Erläuterungen<br />

versehen von Olof Gigon.<br />

[3] Bell, John S.: Speakable and unspeakable in quantum mechanics. Cambridge<br />

University Press, Cambridge, UK, 1993.<br />

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in Basel entliehenen Bücher (1869–1879). <strong>Nietzsche</strong>-Studien, 23:388 ff.,<br />

1994.<br />

[5] d’Alfonso, Matteo Vincenzo: Methode <strong>und</strong> Wirkung des aufklärerischen<br />

Denkens <strong>Nietzsche</strong>s am Beispiel des 33. Aphorismus von Vermischte Meinungen<br />

<strong>und</strong> Sprüche: Gerecht sein wollen <strong>und</strong> Richter sein Wollen“. Vortrag<br />

”<br />

im Proseminar Friedrich <strong>Nietzsche</strong>: Menschliches, Allzumenschliches“ an der<br />

”<br />

LMU München im Sommersemester 2004, Juli 2004.<br />

[6] d’Iorio, Paolo: La linea e il circolo, Cosmologia e filosofia dell’eterno ritorno<br />

in <strong>Nietzsche</strong>, Band: 45. Pantograf, Genova, Italy, 1995.<br />

[7] Dürr, Detlef: Bohmsche Mechanik als Gr<strong>und</strong>lage der Quantenmechanik.<br />

Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, 1. Auflage, 2001.<br />

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[9] Feynman, Richard Philips: QED, The Strange Theory of Light and Matter.<br />

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[10] Hilpert, Konrad: Die Überwindung der Objektiven Gültigkeit, Ein Versuch<br />

zur Rekonstruktion des Dankansatzes <strong>Nietzsche</strong>s. <strong>Nietzsche</strong>-Studien, 9:91–121,<br />

1980.<br />

[11] Hoefer, Carl: Causal Determinism. in: Zalta, Edward N. (Hrsg.): The<br />

Stanford Encyclopedia of Philosophy. Spring 2004.<br />

[12] Kaufmann, Walter: <strong>Nietzsche</strong>, Philosoph, Psychologe, Antichrist. Wissenschaftliche<br />

Buchgesellschaft, Darmstadt, 2. Auflage, 1988. Aus dem Amerikanischen<br />

übersetzt von Jörg Salaquarda.<br />

[13] Kirchhoff, Jochen: Zum Problem der Erkenntnis <strong>bei</strong> <strong>Nietzsche</strong>. <strong>Nietzsche</strong>-<br />

Studien, 6:16 – 44, 1977.<br />

[14] Kojève, Alexandre: L’idée du déterminism dans la physique classique et<br />

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[15] Lichtenberg, Georg Christoph: Sudelbücher. Insel Verlag, Frankfurt am<br />

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[16] McKenna, Michael: Compatibilism. in: Zalta, Edward N. (Hrsg.): The<br />

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[17] <strong>Nietzsche</strong>, Friedrich: Dritte Abteilung, Erster <strong>und</strong> zweiter Band. in: Colli,<br />

Giorgio <strong>und</strong> Mazzino Montinari (Hrsg.): <strong>Nietzsche</strong> Briefwechsel, Kritische<br />

Gesamtausgabe. de Gruyter, Berlin, New York, 1981.<br />

26


[18] <strong>Nietzsche</strong>, Friedrich: Kritische Studienausgabe. Deutscher Taschenbuchverlag,<br />

de Gruyter, München, Berlin, New York, Neuausgabe der 2. Auflage,<br />

1999.<br />

[19] <strong>Nietzsche</strong>, Friedrich: KSA 1: Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen<br />

I – IV, Nachgelassene Schriften 1870 – 1873. in: Colli, Giorgio<br />

<strong>und</strong> Mazzino Montinari (Hrsg.): Kritische Studienausgabe. Deutscher Taschenbuchverlag,<br />

de Gruyter, München, Berlin, New York, Neuausgabe der 2.<br />

Auflage, 1999.<br />

[20] <strong>Nietzsche</strong>, Friedrich: KSA 11: Nachgelassene Fragmente 1884–1885. in:<br />

Colli, Giorgio <strong>und</strong> Mazzino Montinari (Hrsg.): Kritische Studienausgabe.<br />

Deutscher Taschenbuchverlag, de Gruyter, München, Berlin, New York,<br />

Neuausgabe der 2. Auflage, 1999.<br />

[21] <strong>Nietzsche</strong>, Friedrich: KSA 12: Nachgelassene Fragmente 1885–1887. in:<br />

Colli, Giorgio <strong>und</strong> Mazzino Montinari (Hrsg.): Kritische Studienausgabe.<br />

Deutscher Taschenbuchverlag, de Gruyter, München, Berlin, New York,<br />

Neuausgabe der 2. Auflage, 1999.<br />

[22] <strong>Nietzsche</strong>, Friedrich: KSA 13: Nachgelassene Fragmente 1887–1889. in:<br />

Colli, Giorgio <strong>und</strong> Mazzino Montinari (Hrsg.): Kritische Studienausgabe.<br />

Deutscher Taschenbuchverlag, de Gruyter, München, Berlin, New York,<br />

Neuausgabe der 2. Auflage, 1999.<br />

[23] <strong>Nietzsche</strong>, Friedrich: KSA 2: Mennschliches, Allzumenschliches I <strong>und</strong> II.<br />

in: Colli, Giorgio <strong>und</strong> Mazzino Montinari (Hrsg.): Kritische Studienausgabe.<br />

Deutscher Taschenbuchverlag, de Gruyter, München, Berlin, New York,<br />

Neuausgabe der 2. Auflage, 1999.<br />

[24] <strong>Nietzsche</strong>, Friedrich: KSA 3: Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche<br />

Wissenschaft. in: Colli, Giorgio <strong>und</strong> Mazzino Montinari (Hrsg.):<br />

Kritische Studienausgabe. Deutscher Taschenbuchverlag, de Gruyter, München,<br />

Berlin, New York, Neuausgabe der 2. Auflage, 1999.<br />

[25] <strong>Nietzsche</strong>, Friedrich: KSA 5: Jenseits von Gut <strong>und</strong> Böse, Zur Genealogie<br />

der Moral. in: Colli, Giorgio <strong>und</strong> Mazzino Montinari (Hrsg.): Kritische<br />

Studienausgabe. Deutscher Taschenbuchverlag, de Gruyter, München, Berlin,<br />

New York, Neuausgabe der 2. Auflage, 1999.<br />

[26] <strong>Nietzsche</strong>, Friedrich: KSA 6: Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Der<br />

Antichrist, Ecce homo, Dionysos-Dithyramben, <strong>Nietzsche</strong> contra Wagner. in:<br />

Colli, Giorgio <strong>und</strong> Mazzino Montinari (Hrsg.): Kritische Studienausgabe.<br />

Deutscher Taschenbuchverlag, de Gruyter, München, Berlin, New York,<br />

Neuausgabe der 2. Auflage, 1999.<br />

[27] <strong>Nietzsche</strong>, Friedrich: KSA 7: Nachgelassene Fragmente 1869–1874. in:<br />

Colli, Giorgio <strong>und</strong> Mazzino Montinari (Hrsg.): Kritische Studienausgabe.<br />

Deutscher Taschenbuchverlag, de Gruyter, München, Berlin, New York,<br />

Neuausgabe der 2. Auflage, 1999.<br />

[28] <strong>Nietzsche</strong>, Friedrich: KSA 9: Nachgelassene Fragmente 1880–1882. in:<br />

Colli, Giorgio <strong>und</strong> Mazzino Montinari (Hrsg.): Kritische Studienausgabe.<br />

Deutscher Taschenbuchverlag, de Gruyter, München, Berlin, New York,<br />

Neuausgabe der 2. Auflage, 1999.<br />

[29] Ottmann, Henning (Hrsg.): <strong>Nietzsche</strong>-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung.<br />

Metzler, Stuttgart, Weimar, 2000.<br />

27


[30] Tanner, Michael: <strong>Nietzsche</strong>, Band: 4740 Reihe: Herder Spektrum Meisterdenker.<br />

Herder, Freiburg, Basel, Wien, 1999. aus dem Englischen von Andrea<br />

Bollinger.<br />

[31] Whitlock, Georg: Examining <strong>Nietzsche</strong>’s ”<br />

Time Atom Theory“ Fragment<br />

from 1873. <strong>Nietzsche</strong>-Studien, 26:350 – 360, 1997.<br />

28

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