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Determinismus bei Nietzsche Moralische Implikationen und ...

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die Störstellen im Porzellan, die die Tasse dort brechen lassen? Wenn die kleinsten<br />

Einheiten der Materie eine Rolle spielen <strong>und</strong> es so viele davon gibt, wie in makroskopischen<br />

Objekten, bläht sich der Phasenraum immens auf <strong>und</strong> die zur Vorhersage<br />

nötige Information kann nicht mehr beschafft werden. Und selbst, wenn wir uns ein<br />

umfangreiches Wissen beschaffen könnten <strong>und</strong> setzten es in alle Differentialgleichungen<br />

für alle Wechselwirkungen ein, so erhielten wir ein mathematisches Problem,<br />

das wir zu lösen nicht imstande sind, weil uns die technischen Methoden dafür fehlen.<br />

Dieses Problem, für das man die Begriffe Komplexität oder Chaos eingeführt<br />

hat, stellt sich in fast allen realen physikalischen Situationen. Es widerspricht dem<br />

<strong>Determinismus</strong> nicht, denn die Entwicklung der einzelnen Bestandteile des Systems<br />

folgt zu jeder Zeit den Naturgesetzen. 53<br />

Ganz ähnlich ist die Situation in der statistischen Physik, die für <strong>Nietzsche</strong> eine<br />

große Rolle gespielt hat. Hier untersucht man sehr große Systeme, die aus 10 20 bis<br />

10 30 Teilchen bestehen. Über solche Systeme ist ein vollständiges Wissen nahezu<br />

unmöglich, auf alle Fälle nicht mehr verwertbar. Die Physik beschränkt sich aber<br />

insofern, als sie sich für die einzelnen Teilchen nicht interessiert, sondern nur für<br />

die makroskopischen Größen, die die Bewegungen dieser einzelnen Teilchen verursachen,<br />

wie zum Beispiel Temperatur, Druck, Volumen, Magnetisierung, Energie<br />

. . . Es spielt da<strong>bei</strong> keine Rolle, ob das eine oder das andere Teilchen zu einem bestimmten<br />

Zeitpunkt mit einer bestimmten Geschwindigkeit an einem bestimmten<br />

Punkt an die Kaffeetasse stößt, es ist nur wichtig, dass im Mittel alle Teilchen mit<br />

mittleren Geschwindigkeiten gleichmäßig überall in gewisser Regelmäßigkeit solche<br />

Stöße durchführen, um über die Temperatur des Kaffees Aussagen treffen zu<br />

können. Dies ist eine Annahme, die durch die mathematischen Methoden der Statistik<br />

gerechtfertigt wird. Man erhält als Ergebnis solcher Berechnungen das typische<br />

Verhalten eines physikalischen Systems, das heißt, dass die Ergebnisse in fast allen<br />

Fällen auch so experimentell bestätigt würden. Es wird dadurch aber nicht ausgeschlossen,<br />

dass unter extrem seltenen <strong>und</strong> dummen Umständen sich plötzlich alle<br />

Bestandteile des Kaffees zum gleichen Zeitpunkt in einer Bewegung über den Rand<br />

der Kaffeetasse hinaus in die Luft befinden <strong>und</strong> er sich von selbst verschüttet. Solche<br />

Ereignisse sind allerdings so selten, dass man seinen Kaffee getrost für die Lebensdauer<br />

des Universums stehen lassen könnte, ohne ein solches Eigenleben befürchten<br />

zu müssen. Auch hier finden wir keinen Widerspruch zum <strong>Determinismus</strong>, denn das<br />

Schicksal aller Teilchen ist mit dem Zeitpunkt bestimmt, da der Kaffee in die Tasse<br />

geschüttet wird, ohne dass uns dieses Schicksal jemals zugänglich wäre.<br />

Auch die Relativitätstheorie ändert nichts an dieser deterministischen Weltsicht.<br />

Sie trägt zwar dem Gedanken <strong>Nietzsche</strong>s von der Perspektivität aller Erkenntnis<br />

<strong>und</strong> Naturbeschreibung Rechnung, weil sie die physikalischen Beschreibungen aller<br />

Beobachter gleich wertet, stellt aber auch einen Formalismus zur Verfügung, mit<br />

dem jede mögliche andere Perspektive berechnet werden kann, ohne dass man sie<br />

selbst erfahren müsste. Die Entwicklung des physikalischen Systems ist aber nach<br />

wie vor durch ein System von Differentialgleichungen festgelegt, so dass aus dem<br />

vollständigen Wissen über ein System zu einem gegebenen Zeitpunkt sein Zustand<br />

zu jedem späteren vorherberechnet werden kann.<br />

Wie steht es nun um die Quantenmechanik, die vielen immer wieder als ein Hort des<br />

Indeterminismus gilt. Die Frage ist schwierig zu beantworten, weil die Diskussion<br />

über die korrekte Interpretation der Quantenmechanik andauert <strong>und</strong> die Materie<br />

selbst schwierig ist. 54 Im Kern begegnen wir in der Quantenmechanik keiner anderen<br />

Situation als in der klassischen Physik: Eine Differentialgleichung, die Schrödin-<br />

53 Man könnte sogar sagen: die Welt ist ein gigantischer Computer zum Lösen komplizierter<br />

Differentialgleichungen.<br />

54 I think it is safe to say that no one <strong>und</strong>erstands quantum mechanics.“ (Richard P. Feynman)<br />

”<br />

14

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