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Determinismus bei Nietzsche Moralische Implikationen und ...

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dere darf man nicht verführt sein, in seinen Notitzbüchern reproduzierte oder zum<br />

eigenen besseren Verständnis dort nachvollzogene naturwissenschaftliche Lektüre,<br />

als von <strong>Nietzsche</strong> widerspruchslos anerkannte Wahrheit zu betrachten, nur weil sie<br />

im Nachlass erhalten ist. 61 Ein Beispiel für solch ein schöpferisches Nachvollziehen<br />

ist das Fragment zur Zeitatomenlehre 62 von 1873, in dem <strong>Nietzsche</strong> aus der Lektüre<br />

einer naturwissenschaftlichen Ar<strong>bei</strong>t eine ”<br />

wissenschaftliche Empfindungslehre“ abzuleiten<br />

versucht. 63<br />

4.2.1 Naturwissenschaftliche Lektüre<br />

Unter den nicht-zeitgenössischen Naturwissenschaftlern ehrte <strong>Nietzsche</strong> am meisten<br />

Ruggero Giuseppe Boscovich. Der Jesuit, der von 1711 bis 1787 lebte, stammte aus<br />

Dalmatien, studierte Physik <strong>und</strong> Mathematik am Collegium Romanum, wo er später<br />

auch Professor wurde. Er beschäftigte sich mit Themen aus der Astronomie <strong>und</strong> mit<br />

Teleskopen, mit Gravitation <strong>und</strong> sogar mit der Statik der Kuppel des Petersdomes.<br />

Sein Hauptwerk ist Theoria philosophiae naturalis redacta ad unicam legem virium<br />

in natura existentium 64 von 1758, in dem er aufbauend auf die Newtonsche Mechanik<br />

eine Atom- <strong>und</strong> Krafttheorie vorstellt, dergemäß Atome strukturlose Punkte<br />

sind, welche abstoßende <strong>und</strong> anziehende Kräfte aufeinander wirken. Über die Wirkung<br />

von Boscovich schreibt <strong>Nietzsche</strong>:<br />

Was die materialistische Atomistik betrifft: so gehört dieselbe zu den<br />

”<br />

bestwiderlegten Dingen, die es giebt; <strong>und</strong> vielleicht ist heute in Europa<br />

Niemand unter den Gelehrten mehr so ungelehrt, ihr ausser zum bequemen<br />

Hand- <strong>und</strong> Hausgebrauch (nämlich als einer Abkürzung der Ausdrucksmittel)<br />

noch eine ernstliche Bedeutung zuzumessen – Dank vorerst<br />

jenem Polen Boscovich, der, mitsammt dem Polen Kopernicus, bisher<br />

der grösste <strong>und</strong> siegreichste Gegner des Augenscheins war. Während<br />

nämlich Kopernicus uns überredet hat zu glauben, wider alle Sinne, dass<br />

die Erde nicht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an das Letzte,<br />

was von der Erde feststand‘, abzuschwören, dem Glauben an den Stoff‘,<br />

’ ’<br />

an die Materie‘, an das Erdenrest- <strong>und</strong> Klümpchen-Atom: es war der<br />

’<br />

grösste Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden errungen worden<br />

ist.“ 65<br />

Mit Boscovich glaubt <strong>Nietzsche</strong> auch den deutschen Arzt <strong>und</strong> Physiker Julius Robert<br />

Mayer (1814 – 1878) widerlegen zu können. Mayer beschäftigte sich mit Wärmelehre<br />

<strong>und</strong> leistete wichtige Vorar<strong>bei</strong>ten zum Energieerhaltungssatz, den später Hermann<br />

von Helmholtz formulierte. Wenn <strong>Nietzsche</strong> auch aus Mayers ewiger Konstanz des<br />

Kraftquantums eine Begründung für seine Vorstellung von der ewigen Wiederkehr<br />

des Gleichen gewinnt, indem er daraus eine Begrenztheit der möglichen Kraftlagen<br />

folgert, lehnt er seinen mechanistischen Stoffbegriff ab. 66 Er schreibt an seinen<br />

Fre<strong>und</strong> Köselitz:<br />

61 Vgl. [29, S. 404] ”<br />

Ebenso mißlich ist, daß der interpretatorische Status der häufig als Exzerpte<br />

im Nachlaß überlieferten Lektürezeugnisse von naturwissenschaftlichen Werken <strong>bei</strong>m isolierten<br />

Aufspüren von Quellentatbeständen zumeist unbefragt bleibt.“<br />

62 [27, 26 [12], S. 575ff.]<br />

63 Es geht hier<strong>bei</strong> um die Atomismuskritik <strong>bei</strong> Boscovich, dem <strong>Nietzsche</strong> große Bedeutung zumaß<br />

(s.u.). Aus dem Primat der Kraft <strong>und</strong> der Ablehnung stofflicher Atome leitet sich ein Kraftgesetz<br />

her, das nur in der Ferne wirken könne. <strong>Nietzsche</strong> stellt eine Transformation aller Aussagen über<br />

Ortspunkte in Aussagen über verschiedene Zeitpunkte vor. Wenn nun manche Dinge als gleichzeitig<br />

wahrgenommen würden, so sei dies eine Leistung der Empfindung, die für ein Nebeneinanderordnen<br />

der Zeitpunkte sorge. Hierzu ausführlich [31].<br />

64 Theorie der Naturphilosophie zurückgeführt auf das einheitliche Gesetz der Naturkräfte<br />

65 [25, JGB, von den Vorurtheilen der Philosophen 12, S. 26]<br />

66 Vgl. [29, S. 406]<br />

16

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