Das Wahrnehmungs - Luftwaffe
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HEFT 1 · APRIL 2002 · 39. JAHRGANG<br />
Fachliche Mitteilungen für fliegende Verbände<br />
Titel: COLLAGE<br />
unter Verwendung von Fotos Amt für<br />
Nachrichtenwesen in der Bundeswehr/<br />
Informations- und Medienzentrale der<br />
Bundeswehr<br />
„Flugsicherheit“, Fachliche Mitteilung<br />
für fliegende Verbände der Bundeswehr<br />
Herausgeber:<br />
General Flugsicherheit in der Bundeswehr in<br />
Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium<br />
der Verteidigung – Fü S I 1 –.<br />
Verfasser:<br />
Oberstleutnant Hermann Dänecke,<br />
General Flugsicherheit in der Bundeswehr<br />
Redaktion:<br />
Hauptmann Helmut Paul,<br />
Tel.: 02203 / 6023124<br />
Major Claus Maneth,<br />
Tel.: 02203 / 6023941<br />
Postfach 90 61 10/501/07, 51127 Köln<br />
helmutpaul@bwb.org<br />
Gestaltung:<br />
Rolf Miebach, Informations- und<br />
Medienzentrale der Bundeswehr<br />
Karikaturen:<br />
Major Andreas Werner,<br />
Heeresfliegerregiment 36<br />
Editorial 1<br />
Warum Crew Resource Management (CRM)? 2<br />
Menschliche Kapazitäten - „Mammutjäger“,<br />
was nun? 6<br />
Wahrnehmung - Erkennen was ist 14<br />
Aufmerksamkeit - ein Selektionsverfahren 20<br />
Kommunikation - ein Energietransmitter 29<br />
Entscheidungsfindung - wer die Wahl hat... 39<br />
Motive - Gründe für Verhalten 49<br />
Führungs- und Handlungsverantwortung -<br />
„Ich bin nicht zuständig!? - oder<br />
vielleicht doch?“ 57<br />
Grafiken:<br />
Oberstleutnant Hermann Dänecke,<br />
General Flugsicherheit in der Bundeswehr<br />
Erscheinen:<br />
dreimonatlich<br />
Manuskripteinsendungen<br />
sind direkt an die Schriftleitung zu richten. Vom<br />
Verfasser gekennzeichnete Artikel stellen nicht<br />
unbedingt die Meinung der Schriftleitung oder<br />
des Herausgebers dar. Es werden nur Beiträge<br />
abgedruckt, deren Verfasser mit einer weiteren<br />
Veröffentlichung einverstanden sind. Weiterveröffentlichungen<br />
in Flugsicherheitspublikationen<br />
(mit Autoren- und Quellenangaben) sind<br />
daher möglich und erwünscht.<br />
Gesamtherstellung:<br />
SZ Offsetdruck-Verlag Herbert W. Schallowetz GmbH<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT
Editorial<br />
Gibt es sie doch - die Formel für Flugsicherheit? Sie finden sie auf dem Titelblatt dieser Ausgabe und sie wird sich wie<br />
ein roter Faden durch alle Beiträge der Ausgabe Flugsicherheit I/2002 ziehen und den Bezug zum Flugbetrieb der<br />
Bundeswehr herstellen.<br />
Kurz gefasst bedeutet sie, dass die Summe aller Ressourcen (Re) mindestens der Summe aller Risiken (Ri) entsprechen<br />
muss, um Flugbetrieb mit einer hohen Wahrscheinlichkeit stabil, das heißt sicher durchzuführen. Stehen den Risiken<br />
nicht adäquate Ressourcen zur Bewältigung einer Aufgaben gegenüber, oder gehen diese in der Dynamik einer<br />
Situation verloren, so steigt die Wahrscheinlichkeit eines Kontrollverlustes. Näheres darüber im ersten Beitrag dieses<br />
Heftes: „Warum Crew Resource Management (CRM)?“.<br />
HUMAN FACTOR und CRM sind in der Abteilung Flugsicherheit in der Bundeswehr im <strong>Luftwaffe</strong>namt in den zurück<br />
liegenden Jahren beständig, auch gegen Widerstände, immer wieder thematisiert und vorangetrieben worden; sei<br />
es im Rahmen von Unfall- und Zwischenfalluntersuchungen, anlässlich von Lehrgängen und Seminaren an der<br />
Fachlehrgruppe Flugsicherheit Bw, auf Antrag in Form von Vorträgen und Seminaren in den Verbänden, anlässlich<br />
der Fliegerarztlehrgänge des Flugmedizinischen Instituts der <strong>Luftwaffe</strong> in Fürstenfeldbruck, oder aber auch in Form<br />
von CRM-Seminaren und -Trainings speziell für den Bereich der Kampfflugzeuge der Bw im In- und Ausland.<br />
Diese Ausgabe Flugsicherheit stellt einerseits eine Zusammenfassung der wichtigsten Themenkomplexe zur<br />
Gesamtthematik, auch der bisher zu diesem Thema veröffentlichten und überarbeiteten Artikel dar, die durchaus als<br />
Nachschlagewerk genutzt werden kann, andererseits soll diese Ausgabe auch den Abschluss der Grundlagenarbeit<br />
durch General Flugsicherheit in der Bundeswehr markieren.<br />
Die Grundlagen sind gelegt - nun ist es an Ihnen, ob im Heer, in der <strong>Luftwaffe</strong> und Marine, im BWB, bei den<br />
Kommandobehörden und in den Verbänden, das Thema im eigenen Bereich im Rahmen der Ausbildung über das<br />
bisherige Maß hinaus weiter voran zu treiben und mit Leben zu erfüllen, um der Forderung des Inspekteurs der<br />
<strong>Luftwaffe</strong>, CRM einen entsprechenden Stellenwert einzuräumen, nachzukommen.<br />
General Flugsicherheit in der Bundeswehr wird sich im Rahmen von Inspizierungen und Informationsbesuchen über<br />
die Umsetzung dieses Projektes informieren und natürlich auch weiterhin Hilfestellung leisten - dort, wo sie notwendig<br />
ist.<br />
Ich habe ferner angewiesen, dass zusätzlich zu dieser Ausgabe Flugsicherheit eine CD-ROM mit einer erweiterten<br />
Darstellung der CRM-Thematik ergänzend erarbeitet wird, um diese den Verbänden zur Verfügung zu stellen. Sie<br />
wird Anregungen zur thematischen Aufarbeitung enthalten und das darstellen, was durch den CRM-Beauftragten<br />
bei General Flugsicherheit in der Bundeswehr in vielen Außenveranstaltungen bereits vermittelt wurde.<br />
Ich hoffe mit dieser Ausgabe unserer Flugsicherheitszeitschrift dazu beitragen zu können, eine breite Diskussion zum<br />
Thema CRM auszulösen und um dort, wo nötig anzuregen, den einen oder anderen Maßstab für eigenes Handeln<br />
zu überdenken, damit in allen Ebenen und allen Bereichen, die Führungs- und Handlungsverantwortung für<br />
Flugbetrieb der Bundeswehr zu übernehmen haben, die Summe und die Qualität der Ressourcen niemals geringer<br />
sein werden als die Summe und die Qualität der Risiken einer Anforderung.<br />
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen Zeit, Muße und Spaß bei der Lektüre dieses Heftes und natürlich weiterhin<br />
HALS- UND BEINBRUCH<br />
Ihr<br />
General Flugsicherheit in der Bundeswehr<br />
Klaus-Peter Stieglitz<br />
1
Warum CREW RESOURCE<br />
MANAGEMENT (CRM)?<br />
In den vergangenen acht<br />
Jahren hat sich für den fliegenden<br />
Bereich der Bundeswehr<br />
Bahnbrechendes entwickelt.<br />
Die Zeit war reif für eine<br />
umfassendere Betrachtung<br />
von Sicherheit und Effizienz<br />
im Flugbetrieb; und zwar<br />
nicht nur im unmittelbaren<br />
Nahbereich des Fliegens, der<br />
Besatzung, sondern auch in<br />
jenen Bereichen, die den<br />
Flugbetrieb unterstützen, der<br />
Organisation.<br />
Obwohl CRM seit Mitte<br />
der 80er existiert, brauchte es<br />
noch etwa 10 Jahre, bis die<br />
ersten nachweisbaren Ansätze<br />
einer Implementierung<br />
innerhalb der Bundeswehr<br />
erkennbar wurden.<br />
Auch hier zeigte sich, dass<br />
ein Wandel nicht nur das passende<br />
Konzept braucht, sondern<br />
gleichermaßen ein Umfeld,<br />
welches die Entwicklung<br />
einer etwas anderen Denkeise<br />
erlaubt, vielleicht sogar<br />
fördert. Wir hängen alle so<br />
gerne an Bekanntem, Vertrautem,<br />
Bewährtem - es gibt<br />
uns ein Gefühl von Sicherheit<br />
und Kontrolle. Leider neigen<br />
wir aber auch dazu, manchmal<br />
den Blick abzuwenden,<br />
wenn deutliche Hinweise eine<br />
Weiterentwicklung des Bekannten,<br />
Vertrauten und<br />
Bewährten angeraten erscheinen<br />
lassen. <strong>Das</strong> macht<br />
die Implementierung guter<br />
und angemessener Konzepte<br />
bisweilen schwierig. Diese<br />
Phase ist überstanden und es<br />
2 I/2002 FLUGSICHERHEIT
hat sich durchgängig das Bewusstsein<br />
entwickelt, dass CRM nicht nur Fragen<br />
aufwirft, sondern auch Antworten<br />
gibt, mit denen in der Praxis umgegangen<br />
werden kann.<br />
Die Beschäftigung mit CRM eröffnet<br />
Horizonte, die manches verstehbar<br />
machen, was bisweilen im Ablauf von<br />
Ereignissen, die sich Effizienz steigernd<br />
oder Effizienz hemmend ausgewirkt<br />
hatten, unverständlich blieb. Es wird<br />
deshalb verständlich, weil normales<br />
menschliches Verhalten in den<br />
Mittelpunkt der Betrachtung gerückt<br />
wird. Eben dieses menschliche und<br />
deshalb normale Verhalten ist leider<br />
nicht immer mit allen Anforderungen<br />
des Flugbetriebes vereinbar. Hier setzt<br />
CRM an und will im Rahmen der<br />
Ausbildung auf zwei Wegen dieser<br />
Problematik Herr werden:<br />
1. Wird versucht, dem Einzelnen<br />
den Spiegel zur Selbsterkenntnis<br />
vorzuhalten, um , sofern nötig,<br />
auf Einstellungsänderung hinzuwirken,<br />
weil auf diesem Wege<br />
die wertvollste und wichtigste<br />
Ressource menschlicher Verhaltensflexibilität<br />
unmittelbar angesprochen<br />
werden kann.<br />
2. Wird versucht, Strategien zu vermitteln,<br />
die das Team im System<br />
Flugbetrieb der Bundeswehr fehlerverträgliche<br />
machen können,<br />
denn bekanntlich kann der<br />
Einzelne nicht zu 100% fehlerfrei<br />
trainiert werden.<br />
An dieser Stelle wird bereits deutlich,<br />
dass CRM nicht nur im engeren<br />
Sinne auf den Bereich CREW und<br />
damit auf den Bereich des Cockpits<br />
wirkt, sondern weit darüber hinaus.<br />
Es sind die Bedingungen, unter<br />
denen Menschen sich frei entfalten,<br />
oder unter denen gute Fähigkeiten<br />
und Fertigkeiten begraben werden<br />
können. CRM hat deshalb zum Ziel<br />
jene Bedingungen zu identifizieren,<br />
und zu benennen, unter denen Flugbetrieb<br />
nach menschlichem Ermessen<br />
fehlerresistent stattfinden kann.<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
Brauchen wir eine Begründung?<br />
Nein, wir brauchen keine Begründung<br />
für die Implementierung eines<br />
CRM in die Bundeswehr!<br />
Schließlich verlangen die JOINT AVIA-<br />
TION REQUIREMENTS / OPERATIONS<br />
(JAR/OPS) der JOINT AVIATION AUT-<br />
HORITY (JAA), dass jeder Teilnehmer<br />
am europäischen Luftverkehr ein<br />
CRM-Training nach bestimmten Regeln<br />
zu absolvieren hat. <strong>Das</strong> gilt für<br />
den gewerblichen und den privaten<br />
Bereich gleichermaßen, unabhängig<br />
davon, ob es sich um „Fläche“ oder<br />
„Hub“ handelt. Diese europäische luftrechtliche<br />
Verordnung ist im Jahre<br />
1999 mit einigen Übergangsfristen in<br />
verbindliches deutsches Luftrecht umgewandelt<br />
worden. Dadurch wurde<br />
sie Bedingung und Voraussetzung für<br />
eine rechtmäßige Teilnahme am Luftverkehr<br />
über deutschem Territorium.<br />
Kritiker einer Implementierung<br />
führten bisweilen an, dass der Bereich<br />
Bundeswehr von den Auswirkungen<br />
dieser Gesetzgebung ausgenommen<br />
sei, weil JAR/OPS lediglich, jedoch ausdrücklich<br />
den Bereich der zivilen<br />
Fliegerei abdecke und sich die militärische<br />
Fliegerei dem nicht unterzuordnen<br />
brauche.<br />
Für diesen Personenkreis brauchen<br />
wir also noch weitere Begründungen<br />
für eine strukturierte Implementierung<br />
eines CRM Bw; das folgend Geschriebene<br />
soll auch dafür einen Beitrag leisten.<br />
Unabhängig von dieser immer noch<br />
vereinzelt geäußerten Kritik, verfolgt<br />
nun der fliegerische Bereich der Bundeswehr<br />
das Konzept der „Selbstbindung“.<br />
Dies bedeutet, das sich die<br />
Bundeswehr diesen Forderungen aus<br />
der Erkenntnis heraus stellt, dass CRM<br />
einen Beitrag zur Erhöhung der<br />
Sicherheit und der Effizienzsteigerung<br />
leisten kann.<br />
Die Entwicklung<br />
USA<br />
Die NASA war es, die in den 70ern<br />
unter der Federführung von Charles<br />
Billings erkannte, dass die sogenannten<br />
„human hard limitations“ 1 nicht<br />
ausreichten, um neue Projekte, wie<br />
z.B. das „Mars-Projekt“, zu verwirklichen.<br />
Gleichermaßen mussten Fragen<br />
menschlichen Verhaltens und des Trainings<br />
von Besatzungen zu diesem<br />
Komplex geklärt werden. CREW RE-<br />
SOURCE MANAGEMENT (CRM) war<br />
geboren.<br />
Die Luftfahrtgesellschaften interessierten<br />
sich zunehmend für dieses Konzept,<br />
nachdem einige spektakulären<br />
Unfälle geschehen waren, in denen<br />
das Verhalten von Menschen eine entscheidende<br />
Rolle gespielt hatte.<br />
Stellvertretend für diese Entwicklung<br />
wird bisweilen der Flugunfall der<br />
American Airways genannt, der u.a.<br />
deshalb geschah, weil die Besatzung<br />
beim Anflug auf Portland wegen einer<br />
vermuteten technischen Störung so<br />
lange suchte und analysierte, bis der<br />
Kraftstoffvorrat nicht mehr ausreichte,<br />
die Landebahn zu erreichen.<br />
Europa<br />
Airbus Industries übernahm das<br />
grundlegende amerikanische Konzept<br />
Anfang der 90er Jahre, was eine ausstrahlende<br />
Wirkung auf die großen<br />
Luftfahrtgesellschaften Europas hatte.<br />
Parallel dazu wurde die Forderung<br />
nach CRM-Training für „Flight Crew<br />
Licensing“ (FCL) und für den Bereich<br />
„Operations“ (OPS) von Luftfahrgesellschaften,<br />
durch die Europäische Luftfahrtbehörde<br />
Joint Aviation Agency<br />
(JAA) mit der Maßgabe vorgeschrieben,<br />
diese Forderungen in nationales<br />
Recht umzusetzen.<br />
In Deutschland ist diese Forderung,<br />
wie bereits weiter oben erwähnt, mit<br />
Übergangsfristen seit 1999 umgesetzt.<br />
Bw<br />
In der Bundeswehr entwickelte sich<br />
CRM nennenswert seit 1994 auf Verbandsebene<br />
des Heeresflieger, zunächst<br />
als Eigeninitiativen. Daraus ergaben<br />
sich Verbindungen in den zivilen<br />
Bereich, aus dem heraus mit CRM-<br />
Trainings unterstütz wurde.<br />
Im Jahre 1995 ereignete sich ein<br />
3
Flugunfall mit einer C-160 des LTKdo<br />
auf Ponta Delgada. Die Unfalluntersuchung<br />
ergab, dass der HUMAN FAC-<br />
TOR eine entscheidende Rolle gespielt<br />
hatte. Deshalb ordnete der damalige<br />
Befehlshaber des LTKdo für seinem<br />
Verantwortungsbereich an, CRM systematisch<br />
zu implementieren und umzusetzen.<br />
CRM ist dort inzwischen fester<br />
Bestandteil sowohl der Ausbildung zur<br />
Erlangung der Musterberechtigung<br />
C-160 als auch der Standardisierung.<br />
Deren Ausbildung der Ausbilder erfolgte<br />
an Ausbildungseinrichtungen der<br />
Lufthansa.<br />
Die Marinefliegerflottille implementierte<br />
CRM im Jahre 1996 und führt,<br />
auf eigener konzeptueller Grundlage,<br />
CRM-Ausbildung / -Training in den Verbänden<br />
durch. Die Ausbildung der<br />
Ausbilder erfolgte mit Unterstützung<br />
des LTKdo.<br />
Mit der Weisung des InspLw im<br />
Jahre 1999, CRM einen entsprechenden<br />
Stellenwert einzuräumen, wurde<br />
beim LwFüKdo, unter Federführung<br />
des damaligen LwKdo Nord, eine TSKübergreifende<br />
Arbeitsgruppe installiert,<br />
die ein CRM-Konzept zur Implementierung<br />
von CRM in die Bundeswehr<br />
erarbeitete und vorlegte.<br />
Im Jahre 2000 erarbeitete die HFlg-<br />
Truppe, auf Weisung des Generals der<br />
Heeresflieger, ein CRM-Konzept und<br />
setzt dieses Konzept seit 2001 im eigenen<br />
Bereich um.<br />
Im Jahre 2001 wurden je vier Vertreter<br />
der Geschwader der fliegenden<br />
Kampfverbände der <strong>Luftwaffe</strong> und der<br />
Marine im Rahmen von acht einwöchigen<br />
Veranstaltungen unter der<br />
Leitung und Führung des CRM-Beauftragten<br />
des GenFlSichhBw, mit Unterstützung<br />
aus dem Jet-Bereich der <strong>Luftwaffe</strong><br />
und der Marine, ausgebildet<br />
bzw. trainiert. <strong>Das</strong> gesamte Führungspersonal<br />
aller Ebenen der Geschwader<br />
nahm an den jeweils ersten beiden<br />
Tagen dieser Ausbildungseinheiten teil.<br />
Je ein Vertreter der Geschwader<br />
wurde beim New Training Institute<br />
(NTI) zum Moderator weiter ausgebildet.<br />
Warum können und wollen wir<br />
nicht auf CRM verzichten?<br />
Crew Resource Management ist die<br />
zweite Seite derselben Medaille. Es ist<br />
jedem klar, dass ein komplexes Gebilde,<br />
welches die Organisation und<br />
Durchführung von Flugbetrieb ermöglicht,<br />
nur dann funktionieren kann,<br />
wenn die einzelnen Akteure für ihren<br />
jeweiligen Arbeitsplatz ausgesucht<br />
und entsprechend fachlich ausgebildet<br />
werden. Nur so werden Voraussetzungen<br />
geschaffen, das jeweilige technische<br />
Umfeld durch Anwendung von<br />
„Technical Skills“ sicher beherrschen<br />
zu können.<br />
Es wird bisweilen verkannt, dass es<br />
nicht genügt, dem Menschen zu erklären,<br />
wie sein technisches System,<br />
das er zu bedienen hat, funktioniert<br />
und was er in Notsituationen zu tun<br />
hat.<br />
Die zweite, nicht minder wichtige<br />
Seite dieser Medaille, liegt im Bereich<br />
der „None Technical Skills“, die den<br />
Akteur im weitesten Sinne selbst betreffen.<br />
Es gibt Bedingungen, unter denen<br />
ein solide ausgebildeter Mensch optimal<br />
auf Anforderungen reagieren und<br />
seinen Auftrag erfüllen kann. Es gibt<br />
aber auch Bedingungen, unter denen<br />
derselbe Mensch nicht mehr optimal<br />
auf Anforderungen von innen, also<br />
aus ihm selbst heraus, oder außen,<br />
reagieren kann, weil seine dafür verbliebenen<br />
menschlichen Ressourcen,<br />
wenn auch nur punktuell und vorübergehend,<br />
nicht bzw. nicht mehr ausreichen.<br />
Für diesen Fall, bzw. für die<br />
Prävention solcher Fälle, ist es erforderlich,<br />
den Bereich der „None Technical<br />
Skills“, die durch CRM abgedeckt<br />
werden, zu vermitteln, zu trainieren<br />
und im gesamten Umfeld des Tagesflugbetriebes<br />
anzuwenden.<br />
Wir wissen nicht, so wie der 100-<br />
Meter-Sprinter, der für ein bestimmtes<br />
Ereignis an einem bestimmten Tag zu<br />
einer bestimmten Tageszeit, trainiert,<br />
wann Höchstleistung unter Einbringung<br />
aller Ressourcen von uns verlangt<br />
werden wird, um überleben zu<br />
können. Der eine wird sich einer solchen<br />
Herausforderung nie stellen müssen,<br />
ein anderer wird mehrere solcher<br />
Prüfungen bestehen müssen. Jeder<br />
Einzelne, mit einer entsprechenden Erfahrung,<br />
wird sicherlich mehrfach in<br />
den Nahbereich solcher Ereignisse vorgedrungen<br />
sein und seine entsprechenden<br />
Erlebnisse gehabt haben. Wir<br />
haben aus diesen Ereignissen gelernt.<br />
CRM will, dass diese Erfahrungen<br />
mit den dazu gehörigen Rückschlüssen<br />
strukturiert vermittelt<br />
werden.<br />
Jeder kennt die Emergency Checkliste<br />
seines Luftfahrzeuges und weiß,<br />
dass sie in Teilbereichen auswendig<br />
beherrscht werden muss, um zeitkritische<br />
Situationen bestehen zu können.<br />
Genau so wichtig ist es, die Emergency<br />
Checkliste des Menschen, über<br />
die rein physiologischen Funktionen<br />
hinaus gehend, für die Bewätigung<br />
kritischer Situationen zu kennen, individuell<br />
zu erleben und Verhaltensstrategien<br />
zu trainieren.<br />
4 I/2002 FLUGSICHERHEIT
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
Jeder Luftfahrzeugführer kennt die<br />
Auswirkungen des Sauerstoffmangels<br />
auf seine Physis und hat gelernt, wie er<br />
diese zu akzeptieren und damit umzugehen<br />
hat. Er kann das, weil er seine<br />
individuellen Symptome kennengelernt<br />
hat. Warum verschließt sich dagegen<br />
mancher der Feststellung dass Stress<br />
„dumm“ macht 2 , und darüber hinaus<br />
den sich daraus ergebenden notwendigen<br />
Verhaltensstrategien?<br />
Jeder Luftfahrzeugführer kann eine<br />
Flugplatzwettervorhersage (TAF) eines<br />
Zielflugplatzes lesen, interpretieren und<br />
auswerten, sowie entscheiden, ob er<br />
seinen Flug antreten darf, ob er einen<br />
„Alternate“ braucht, oder ob der Flug<br />
aus Wettergründen nicht durchführbar<br />
ist. Warum wird nicht mit gleicher<br />
Akribie gelehrt, wie eine Entscheidung,<br />
z.B. im Fluge, auch unter Zeitdruck<br />
strukturiert herbeigeführt werden<br />
kann?<br />
Jeder Luftfahrzeugführer kann die<br />
ersten Zeilen aus dem „Enroute<br />
Supplement“, obwohl in Abkürzungen<br />
dargestellt, im Klartext lesen und verstehen.<br />
Warum wird bisher nicht, oder<br />
nicht hinreichend, auch unter fliegerischen<br />
Gesichtspunkten, intensiv gelehrt<br />
und trainiert, wie bei Planung und<br />
im Einsatz ein Risiko erkannt, bewertet<br />
und diesem, von allen die<br />
Verantwortung tragen, angemessen<br />
begegnet werden kann und an welcher<br />
Stelle des Entscheidungsprozesses<br />
bzw. auf welcher Führungsebene das<br />
„Nein“ ausgesprochen und durchgehalten<br />
werden muss?<br />
Alle Lfz-Besatzungen beherrschen<br />
ihr mehr oder weniger umfangreiches<br />
Crew-Konzept. Dennoch wird es oft in<br />
bedrohlichen Situationen nicht angewendet.<br />
CRM will, dass das Crew-Konzept<br />
unter allen Bedingungen angewendet<br />
wird.<br />
Diese Beispiele, die auch um die Bereiche<br />
Lfz-Technik und Flugsicherung<br />
erweitert werden können, belegen,<br />
dass es unlogisch ist, auf Training der<br />
None-Technica-Skills zu verzichten<br />
bzw. deren Existenz zu ignorieren.<br />
Diese Phase ist heute für den<br />
Bereich des Flugbetriebes in der Bundeswehr<br />
überwunden. Die Implementierung<br />
ist so weit vorangeschritten,<br />
dass sie nicht mehr gestoppt werden<br />
kann.<br />
Wir stellen uns den Problemen und<br />
ziehen die richtigen Rückschlüsse.<br />
Die Formel:<br />
∑Re - ∑Ri ≥0 - ein Rätsel?<br />
Die Formel ist der Statik entlehnt<br />
und besagt im Klartext, dass die Summe<br />
aller Ressource (∑R e ) nach Abzug<br />
aller Risiken (∑R i ) mindestens 0, also<br />
mindestens indifferent sein muss, damit<br />
das System, ohne weitere negative<br />
Einflüsse, mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
stabil sein kann.<br />
Anhand dieser Formel kann das Unfallgeschehen<br />
erklärt werden. Werden<br />
eigene Ressourcen in ihrer Qualität<br />
falsch eingeschätzt, bzw. sind nicht alle<br />
Risiken rechtzeitig bekannt, kann das<br />
System Mensch-Maschine-Umwelt destabilisiert<br />
werden und die Wahrscheinlichkeit<br />
steigt, dass die Situation<br />
die Akteure überfordert.<br />
Insofern kann behauptet werden,<br />
dass es sich bei der aufgeführten<br />
Formel um die Formel für Flugsicherheit<br />
handelt. 3<br />
Aus der Beschreibung im Klartext<br />
wird ersichtlich, dass es sich um eine<br />
Formel mit mehreren Unbekannten<br />
handelt.<br />
Bin ich mir als Akteur ständig im klaren<br />
darüber, wie viele Ressourcen in<br />
welcher Qualität für die Bewältigung<br />
einer Aufgabe im Moment einer Leistungsanforderung<br />
zur Verfügung stehen,<br />
über wie viele Reserven ich verfüge<br />
und durch welche Bedingungen<br />
meine Ressourcen freigesetzt bzw. verschüttet<br />
oder blockiert werden?<br />
Kenne ich alle Risiken, denen ich<br />
ausgesetzt sein werde bzw. denen ich<br />
in der Dynamik einer Situation unvorhergesehen<br />
ausgesetzt sein könnte,<br />
um die Grenzen des Wünschenswerten<br />
und des Machbaren, auch in<br />
Wechselbeziehung zu den eigenen<br />
Ressourcen, bewerten zu können?<br />
Die Formel soll visualisieren und<br />
anregen. Der komplexere Teil wird es<br />
sein, die Unbekannten, die sich in der<br />
Formel verbergen, bekannt zu machen,<br />
um Strategien für angemessenes<br />
Verhalten entwickeln, trainieren und<br />
anwenden zu können.<br />
Die Inhalte dieser Ausgabe Flugsicherheit<br />
I/2002 über CRM erhebt<br />
nicht den Anspruch auf Vollständigkeit,<br />
sie sollen aber einen Beitrag dazu leisten,<br />
menschlich Normales als solches<br />
auch darzustellen, um Fehlleistungen<br />
den Makel allgemeinen Unvermögens<br />
zu nehmen, damit es vielleicht künftig<br />
leichter fällt, die Bedingungen, unter<br />
denen angemessenes Verhalten möglich<br />
wird, zu akzeptieren. <br />
1 Mit Human Hard Limitations werden im wesentlichen<br />
Fragen der Ergonomie angesprochen, die den<br />
Bereich Mensch-Maschine und Flugbetrieb seit den<br />
40er Jahren dominierten<br />
2 Die Medizin möge die starke Verkürzung nicht überbewerten<br />
(von Piloten für Piloten)<br />
3 Die Formel berücksichtigt die Dynamik zugunsten<br />
der Überschaubarkeit und Verstehbarkeit nicht.<br />
5
Menschliche Kapazitäten<br />
Evolution -<br />
Grenzen anerkennen<br />
Wir stehen vor der Schöpfung und<br />
sind fasziniert. Wir sind auch von der<br />
Frage fasziniert, wer sich wohl diesen<br />
unendlich komplexen Plan ausgedacht<br />
haben möge, all die unzähligen Naturgesetze<br />
und Lebensformen dieser Welt<br />
aufeinander abzustimmen, damit uns<br />
Menschen das Überleben im fließenden<br />
Gleichgewicht aller Kräfte des<br />
Universums ermöglicht werden kann.<br />
Bereits bei dieser Fragestellung<br />
unterliegen wir der ersten Täuschung<br />
unserer Wahrnehmung, weil derjenige,<br />
der so fragt Gefangener seiner<br />
Selbstwahrnehmung ist. <strong>Das</strong> soll begründet<br />
werden.<br />
Wir Menschen, als intelligenteste<br />
Lebensform dieser Erde, begegnen<br />
unseren Herausforderungen, indem<br />
wir ein Problem identifizieren und<br />
anschließend analysieren, mit welchen<br />
Handlungsschritten das identifizierte<br />
Problem gelöst werden kann. Diese<br />
Vorgehensweise beinhaltet auch die<br />
ständige Überlegung hinsichtlich einer<br />
Um- und Neugestaltung unsere Umwelt<br />
1 , um ein bestimmtes Ziel zweckmäßig<br />
und damit besser verfolgen zu<br />
können. Wir scheuen auch nicht davor<br />
zurück, zweckgebundene „Werkzeuge“<br />
zu konstruieren, um ein Ziel auf<br />
möglichst geradem Wege schnell zu<br />
erreichen.<br />
Nicht so die Evolution!<br />
Statt von Null anzufangen, arbeitet<br />
die Evolution mit dem was sie hat 2<br />
und geht nicht von einer wünschenswerten<br />
Funktion oder einem in die Zukunft<br />
gerichteten Zweck aus, um daran<br />
anschließend zu überlegen, welche<br />
Weiterentwicklung / Mutation sie<br />
demzufolge nun hervorbringen müsse.<br />
Evolution funktioniert nur in kleinen<br />
Schritten und, aus unserer Sicht,<br />
in unvorstellbare langen Zeitabschnitten.<br />
So etwas empfinden wir regelmäßig<br />
als sehr ineffizient, weil wir<br />
glauben, sicherlich berechtigt, nicht so<br />
viel Zeit zu haben.<br />
Dennoch hat diese „Methode“<br />
alles hervorgebracht, was uns umgibt<br />
und ein dynamisches Gleichgewicht<br />
geschaffen, dass von Wirkgrößen<br />
nachhaltig bestimmt wird, die bis zu<br />
einer für uns nicht vorstellbaren Stelle<br />
hinter dem Komma von Bedeutung<br />
sind, wenn auch um den Preis einer<br />
gigantischen „Ausschussrate“.<br />
Die modernen Evolutionstheorien<br />
6 I/2002 FLUGSICHERHEIT
sind auf Charles Darwin zurückzuführen,<br />
der Mitte des vorletzten Jahrhunderts<br />
mit seinen wissenschaftlichen<br />
Arbeiten revolutionäre Pionierarbeit<br />
leistete, indem er die Theorien<br />
zur „Abstammung mit Modifikation“<br />
bzw. „Evolution durch natürliche Auslese“<br />
erdachte.<br />
Gerade die Deutungen zur Darwinschen<br />
„natürlichen Auslese“ haben<br />
oft und nachhaltig zu Missverständnissen<br />
geführt und Diskussionen sowie<br />
weiter reichende Theorien in eine<br />
falsche Richtung gelenkte.<br />
Der weite Bogen, wer überlebt in<br />
unserer Welt? und wer wird „natürlich<br />
ausgelesen“? umspannt einen Fragenkomplex,<br />
der auch in direktem Zusammenhang<br />
mit Flugbetrieb gesehen<br />
werden kann - beim Erkennen und<br />
Akzeptieren von Grenzen der Umwelt,<br />
innnerhalb der wir uns mit komplexen<br />
Hilfsmitteln bewegen.<br />
Deshalb sollen diese Fragen im folgenden<br />
auch in aller Bescheidenheit<br />
erörtert werden.<br />
„survival of the fittest“<br />
3<br />
Dieses Zitat Darwins führte zu der<br />
weit verbreiteten und zunächst richtigen<br />
Überzeugung, dass es angepasste<br />
Organismen gebe, die den lebensbejahenden<br />
Rahmen bedingungslos akzeptieren<br />
und deshalb überleben.Allerdings<br />
folgerte man daraus auch, dass<br />
es demzufolge noch besser angepasste<br />
Organismen in gesteigerter Form<br />
geben müsse; und irgendwo, vermutlich<br />
beim Menschen, sei der „Passendste“<br />
schlechthin zu finden.<br />
Der „Passendste“ könne nur etwas<br />
/ jemand sein, der auch der Widerstandsfähigste,<br />
Größte, Schnellste,<br />
Tüchtigste usw. sei; frei nach dem<br />
Motto „der Stärkere siegt“; die „natürliche<br />
Auslese“ begünstige den<br />
Stärksten.<br />
Heute wissen wir, dass diese Auffassung<br />
nicht richtig ist und Darwin<br />
Zusammenfassend und hier stark<br />
verkürzend kann Evolution als eine<br />
Auslesemethode der Natur beschrieben<br />
werden, in der als einziges Kriterium<br />
für eine Weiterentwicklung allein<br />
Überlebensfähigkeit bestimmend<br />
ist.<br />
Es ist jener der „Fitteste“, der am geschicktesten<br />
mit den unumstößlichen<br />
Bedingungen für Leben umgeht und<br />
somit nicht gegen diese Grundbedingungen<br />
des Lebens verstößt. Dabei<br />
kommt es nicht darauf an, dass jemand<br />
eine umfassende, dem Ebenbild<br />
gleiche Vorstellung von der physikalischen<br />
Wirklichkeit hat, die ihn umgibt.<br />
Diese ist ohnehin für Menschen nicht<br />
vollständig begreifbar. Vielmehr<br />
kommt es darauf an, dass jemand<br />
nicht gegen die Bedingungen und<br />
Voraussetzungen für Leben verstößt,<br />
die ihm die Natur, das Umfeld<br />
in dem er sich bewegt, auferlegt.<br />
Demnach lässt die Natur jeden<br />
sich weiter entwickeln, der nicht<br />
gegen die elementaren Naturgesetze<br />
verstößt, jeden, der die Risiken seines<br />
Lebens kennt und jeden, der<br />
diesen (kontrolliert) ausweicht.<br />
Wer dieses nicht tut, oder nicht tun<br />
kann, den lässt die Evolution/die Natur<br />
sterben.<br />
Diese harten und kompromisslosen<br />
Bedingungen für Evolution haben uns<br />
als Spezies hierher gebracht, wo wir<br />
uns jetzt befinden - wir haben insgesamt<br />
offenbar (noch) nicht gegen die<br />
oben beschriebenen Gesetze verstoßen.<br />
Wer jedoch glaubt, dass aufgrund<br />
dieser Feststellung unterstellt werden<br />
könnte, es seien „goldene Zeiten“<br />
ausgebrochen und wir könnten Evolution<br />
durch Intelligenz und Gerissenheit<br />
austricksen, der irrt. Nichts hat sich<br />
geändert.<br />
Die Bedingungen für Leben sind<br />
nach wie vor existent, auch wenn sich<br />
ihre Darbietung der vom Menschen<br />
geschaffenen Umwelt anpasst und<br />
deshalb manchmal nicht so elementar<br />
wahrnehmbar sind, wie zu jenen<br />
Zeiten, als die Evolution der menschlichen<br />
grundlegenden Vitalfunktionen 5<br />
abgeschlossen war. Die Bedingungen<br />
für Leben werden bisweilen<br />
verkannt.<br />
Die einschlägige Literatur geht davon<br />
aus, dass, abgesehen von der äußeren<br />
menschlichen Erscheinung, die<br />
Entwicklung bzw. die fundamentale<br />
Anpassung des Menschen an seine<br />
Umwelt vor ca. 50.000 Jahren abgeschlossen<br />
war. Betrachten wir einige<br />
grundlegende Bedingungen, unter<br />
denen der Mensch eine gute Chance<br />
hat, auf Anforderungen von außen zu<br />
reagieren, wird klar, dass im beschriebenen<br />
Zusammenhang an dieser Zahl<br />
etwas dran ist.<br />
Folgende Bedingungen müssen gegeben<br />
sein:<br />
freier Blick nach vorn<br />
Beine fest auf dem Boden<br />
Vmax 5 km/h<br />
Diese bestätigten Grenzwerte lassen<br />
vermuten, dass die Evolution ein<br />
anderes als das moderne Leben eines<br />
Menschen im „Sinn“ hatte, als eine<br />
weitere Anpassung unterblieb.<br />
Der Mensch wurde optimal an eine<br />
Umwelt angepasst, die wir gerne mit<br />
der Zeit der Mammutjäger vergleichen.<br />
Dennoch hat uns die sich weiter<br />
entwickelnde Intelligenz u.a. in Cockpits<br />
von Luftfahrzeugen gebracht,<br />
obwohl sich unser allgemeiner Organismus<br />
mit seinen Vitalfunktionen<br />
nicht weiter entwickelt hat. Deshalb<br />
liefert unser <strong>Wahrnehmungs</strong>apparat<br />
auch nicht immer jene Informationen<br />
unmittelbar, die wir bräuchten, um ein<br />
verstecktes Risiko einer modernen<br />
Anforderung rechtzeitig zu erkennen.<br />
Insbesondere tun wir uns schwer, voraus<br />
zu denken, um die Entwicklung<br />
einer dynamischen Situation abschätzen<br />
zu können.<br />
Für solche Vorhaben brauchen wir<br />
bestimmte, menschengerechte Techniken,<br />
um unserem Situationsbewusstsein<br />
umfassende, die Risiken klar<br />
benennende und die Weiterentwicklung<br />
einer Situation annähernd richtig<br />
voraussagende Daten anbieten zu<br />
können.<br />
dies auch nicht meinte. 4 7<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT
Unersetzbare Vorzüge<br />
menschlicher<br />
Leistungsfähigkeit<br />
Nach dem bis hierher Geschilderten<br />
könnte der Eindruck entstanden sein,<br />
dass sich der Mensch schlechthin nicht<br />
eigne, moderne, potentiell gefährliche<br />
Systeme zu betreiben, weil er mit seinen<br />
Anlagen alles andere als ein an<br />
das moderne Leben angepasster Zeitgenosse<br />
sei. Unter Beachtung einiger<br />
Grundlagen und Rahmenbedingungen<br />
ist jedoch das Gegenteil richtig.<br />
Wir eignen uns ganz besonders dafür,<br />
moderne, komplexe und dynamische<br />
Systeme zu betreiben, deren Bestandteil<br />
wir selber sind. Auch dafür gibt es<br />
Belege.<br />
Genius on tour<br />
Der Mensch ist fähig:<br />
in komplexen und großen Datenmengen<br />
sehr schnell logische Zusammenhänge<br />
zu erkennen und<br />
belangloses „Rauschen“ zu filtern,<br />
sein Gedächtnis, ausgerichtet auf<br />
zusammenhängende<br />
Datenpakete, zu gliedern,<br />
verschiedenste Sinneseindrücke<br />
frei miteinander zu verknüpfen,<br />
bei bildlicher Darstellung von<br />
Daten Fehler leicht zu erkennen,<br />
eine fast unerschöpfliche Flexibilität<br />
im Umgang mit Unvorhersehbarem<br />
einzusetzen.<br />
All das und noch einiges mehr<br />
steckt in uns und prädestiniert uns geradezu<br />
für ein Leben, so wie wir es<br />
heute führen wollen bzw. führen müssen.<br />
Dennoch darf nicht verschwiegen<br />
werden, dass diese Ressourcen<br />
menschlicher Leistungsfähigkeit nicht<br />
immer uneingeschränkt zur Verfügung<br />
stehen. Es gibt Situationen, in denen<br />
stehen diese Ressourcen nur eingeschränkt<br />
oder, für eine bestimmte Zeit,<br />
gar nicht zur Verfügung. Tritt eine<br />
solche Situation ein, ist es sehr<br />
wahrscheinlich, dass wir die Rahmenbedingungen<br />
für Leben für<br />
eine bestimmte Zeit aus den Augen<br />
verlieren.<br />
Dann verfügt der Betroffene nicht<br />
mehr über die Menge und Güte an<br />
Ressourcen, um den Herausforderungen,<br />
der Menge und Qualität der Risiken,<br />
schadlos begegnen zu können -<br />
solche Situationen töten uns potentiell;<br />
leider viel zu oft auch real. Hieraus<br />
leitet sich die bekannte Formel ab:<br />
∑R e - ∑R i ≥ 0<br />
Diese uns einengenden Bedingungen<br />
sollen Gegenstand aller weiteren<br />
Betrachtungen sein, um einen Beitrag<br />
dazu leisten zu können, stets lange<br />
genug „ahead of the game“ bleiben<br />
zu können.<br />
Begrenzende<br />
Faktoren<br />
<strong>Das</strong> Kapazitätenmodell<br />
Diesem Modell des Dipl.Psych. A.<br />
Richter 6 liegt die Annahme zugrunde,<br />
dass jedem Individuum ein bestimmtes<br />
Leistungsvermögen, eine bestimmte<br />
Kapazität, innewohnt, aus der heraus<br />
es alle Anforderungen seines Lebens<br />
meistern kann. Dieser „Kasten“ ist bei<br />
unterschiedlichen Menschen auch<br />
unterschiedlich groß und wird u. a.<br />
von den Faktoren Ausbildung, Erfahrung,<br />
Persönlichkeit, Motivation, Begabung<br />
usw. bestimmt. Daraus ergibt<br />
sich die zu erwartende maximal zur<br />
Verfügung stehende Kapazität des<br />
Einzelnen. <strong>Das</strong> Markante daran ist,<br />
dass diese Kapazität nicht immer und<br />
in jedem Fall umfassend abrufbar ist.<br />
Einschränkende Faktoren kennt jeder<br />
aus eigener Erfahrung und liegen<br />
daher auf der Hand. Es handelt sich<br />
dabei u. a. um Grundbedürfnisse wie<br />
Hunger, Durst, Schlaf, Sex, Sicherheit.<br />
Werden diese elementaren Bedürfnisse<br />
überdauernd nicht befriedigt, belegen<br />
sie zunehmend Kapazitäten und<br />
vermindern so das Leistungsvermögen.<br />
Neben nicht befriedigten Grundbedürfnissen<br />
kann das allgemeine körperliche<br />
Wohlbefinden Kapazitäten<br />
binden. Bei der Personengruppe, die<br />
hier im Mittelpunkt der Betrachtung<br />
steht, nämlich aktives fliegendes Personal<br />
und Personal aus dem peripheren<br />
Bereich des Fliegens, handelt es<br />
sich beim Stichwort „Physis“ in erster<br />
Linie um den Aspekt der körperlichen<br />
„Fitness“. Der Grad an Fitness lässt<br />
einen Rückschluss auf die Qualität der<br />
8 I/2002 FLUGSICHERHEIT
Stressresistenz und die Menge an<br />
Energiespeicher im Körper zu.<br />
Ist die körperliche Fitness, wenn<br />
auch nur vorübergehend, eingeschränkt,<br />
lässt die allgemeine<br />
Leistungsfähigkeit nach und Kapazität<br />
geht verloren.<br />
Unser individuelles, situatives Leistungsvermögen<br />
hängt auch noch von<br />
anderen Faktoren, insbesondere dem<br />
„hausgemachten“ Erleben ab. Dieses<br />
Erleben wird von Mensch zu Menschen<br />
trotz identischer Realitäten<br />
unterschiedlich wahrgenommen -<br />
unterschiedlich erlebt. Dabei spielen<br />
u.a. Vorerfahrungen, Motive und<br />
Emotionen eine entscheidende Rolle.<br />
Ständig fließendes Erleben kann den<br />
freien Zugang zu den Kapazitäten binnen<br />
kürzester Zeit, innerhalb von<br />
Sekunden, blockieren oder befreien,<br />
belasten oder fördern.<br />
Was fangen wir nun mit diesen<br />
Erkenntnissen an? Es wäre eine übertriebene<br />
Annahme zu glauben, man<br />
könne durch Ausbildung alle „roten“<br />
Bereiche in „grüne“ Bereiche umwandeln<br />
- manches bekommt man einfach<br />
nicht weg!<br />
Es wäre allerdings ebenso unangemessen,<br />
rote Bereiche, die beeinflusst<br />
werden können, nicht zu beeinflussen.<br />
7 Wie könnte sich dieses Modell in<br />
der Praxis zeigen, wenn z.B. zwei oder<br />
mehrere Besatzungsangehörige, mit<br />
all ihren unterschiedlichen Lebensgeschichten,<br />
Erfahrungen und Beanspru-<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
chungen 8 für eine fliegerische Aufgabe<br />
zusammengeführt werden. Man<br />
stelle sich da vielleicht den verantwortliche<br />
Luftfahrzeugführer (vwt LFF),<br />
alterfahren, mit vielen Flugstunden<br />
und allen Zusatzberechtigungen, die<br />
es so gibt, hoch angesehen und über<br />
jeden Zweifel erhaben, gleichsam<br />
„jeder Aufgabe gewachsen“, vor. Auf<br />
Grundlage der Einsatzplanung wird er<br />
mit einem Besatzungsangehörigen<br />
(LFB) zusammengeführt, der noch<br />
nicht so viele Flugstunden hat, erst<br />
kurze Zeit in der Staffel fliegt und von<br />
der Welt noch nicht alles gesehen hat.<br />
Er wurde freundlich aufgenommen,<br />
aber ansonsten traut man ihm noch<br />
nicht besonders viel zu. 9<br />
vwt LFF<br />
LFF<br />
Die prinzipiell verfügbaren Kapazitäten<br />
der beiden LFB könnten wie<br />
folgt aussehen:<br />
Bei dieser Betrachtung scheint es<br />
klar zu sein, wie die Kapazitäten verteilt<br />
sind, bzw. von wem die höhere<br />
Leistungsfähigkeit bei der Erfüllung<br />
des fliegerischen Auftrages zu erwarten<br />
ist. Aber entspricht dieser Schein<br />
immer der Realität? In unserem<br />
Beispiel soll die Beschreibung der<br />
Persönlichkeiten tiefer gehen und fortgesetzt<br />
werden.<br />
Der vwtLFF hatte wegen des neugeborenen<br />
„Nachkömmlings“ in seiner<br />
Familie eine unruhige Nacht. Erst<br />
am Morgen kam er zur Ruhe und verfiel<br />
in seinen ersten Tiefschlaf, der<br />
abrupt durch aggressives Klingeln an<br />
der Wohnungstür unterbrochen wurde<br />
- seine Fahrgemeinschaft erwartete<br />
ihn. In Eile und ohne Frühstück verließ<br />
er das Haus und entschuldigte sich bei<br />
seinen Kameraden für seine Verspätung.<br />
Im Dienst angekommen erfuhr er,<br />
dass er kurzfristig für einen anderen<br />
Kameraden einzuspringen hatte, der<br />
seinerseits mit dem „Neuen“ hätte<br />
fliegen sollen. Seiner eigenen Planung<br />
entsprach dieses unerwartete Vorhaben<br />
nicht, denn eigentlich wollte<br />
unser vwt LFF nur gekommen sein, um<br />
sich abzumelden, da er ursprünglich<br />
nicht auf dem Einsatzplan stand, noch<br />
Überstunden abzubauen hatte und für<br />
diesen Tag der Beton für die Kellerdecke<br />
seines mit hohem Anteil an<br />
Eigenleistung zu bauenden Eigenheims<br />
kurzfristig angekündigt worden<br />
war. Der geänderte Einsatzplan geht<br />
jedoch - natürlich - vor.<br />
Der andere LFB dagegen wohnt im<br />
Offz-Wohnheim, war im Tennisverein<br />
aktiv, nahm regelmäßig an der Truppenverpflegung<br />
teil und hatte ansonsten<br />
keinerlei Verpflichtungen. Die<br />
Flugvorbereitung hatte er gründlich<br />
durchgeführt und er wusste genau,<br />
was der Auftrag von ihm und der<br />
Besatzung verlangte.<br />
Wie könnten die Kapazitäten unter<br />
diesen tiefer gehenden Aspekten aussehen?<br />
vwt LFF<br />
LFF<br />
Hier zeigt sich, dass es in bestimmten<br />
Situationen durchaus möglich ist,<br />
mehr Leistungsvermögen von demjenigen<br />
erwarten zu können, bei dem<br />
man es nach oberflächlich objektiven<br />
Maßstäben eigentlich nicht vermutet<br />
hätte.<br />
CRM bedeutet nun, alle freien<br />
Kapazitäten zu nutzen, einzufordern,<br />
aber auch nachdrücklich anzubieten.<br />
<strong>Das</strong> wiederum kann nur<br />
funktionieren, wenn alle Beteiligten<br />
menschlich einwandfrei miteinander<br />
umgehen. So ist z. B. der Hinweis<br />
9
eines vermeintlich Unerfahrenen ernst<br />
zu nehmen, sachlich zu bewerten und<br />
nicht „platt zu bügeln“. Es kommt<br />
also darauf an, zwischen den beiden<br />
„Kästen“ ein dickes Plus zu setzen<br />
und nicht abzublocken. <strong>Das</strong> heißt, verfügbare<br />
Ressourcen eines jeden Einzelnen<br />
zu nutzen, ja sogar gezielt zu<br />
suchen, damit in der Summe genügend<br />
Kapazität verfügbar ist, um den<br />
Herausforderungen in jedem Fall gewachsen<br />
sein zu können.<br />
Diese Forderungen sind leichter<br />
gestellt als erfüllt. Wer sich mit diesen<br />
Fragen auseinandersetzt, kommt zu<br />
der Überzeugung, dass der Umgang<br />
miteinander in dynamischen, komplexen<br />
Situationen 10 eines besonderen<br />
Trainings bedarf, welches die Crew als<br />
Leistungsträger, auch im weiteren<br />
Sinne, mit einbezieht und nicht nur<br />
den Einzelnen betrachtet.<br />
Die schlimmste Form des Ressourcen-<br />
bzw. Kapazitätenverbrauchs ist<br />
die der gegenseitigen Zerstörung der<br />
jeweiligen Restkapazitäten; dann nämlich,<br />
wenn zwischen den „Kästen“ ein<br />
Minus gesetzt wird und die LFB<br />
gegeneinander agieren. Unter diesen<br />
Bedingungen sollte kein Flugbetrieb<br />
mehr stattfinden.<br />
Die nächsten Abschnitte befassen<br />
sich mit Phänomenen menschlichen<br />
Verhaltens, die unmittelbar in den<br />
Flugbetrieb wirken und je nach Vorzeichen<br />
zur Lösung eines Problems<br />
beitragen oder Teil des Problems sein<br />
können.<br />
Aktivation<br />
Der Begriff Aktivation steht im physiologischen<br />
Bereich für Erregung des<br />
Zentralnervensystems sowie des autonomen<br />
Systems und im psychologischen<br />
Bereich für emotionale Erregung<br />
und erhöhte Verhaltensbereitschaft. 11<br />
Was bedeutet Aktivation für die<br />
Leistungsfähigkeit des einzelnen, wie<br />
sieht ein Umfeld aus, in dem Leistungsgrenzen<br />
erreicht oder überschritten<br />
werden und was ist zu tun, um mit<br />
den Besonderheiten zu leben, die sich<br />
aus den Erkenntnissen zum Thema<br />
Aktivation ergeben?<br />
Diese Fragen sollen im folgenden<br />
im Mittelpunkt stehen und helfen, für<br />
bestimmte Verhaltensweisen in anspruchsvollen<br />
Situationen Verständnis<br />
aufzubringen. Sowohl bei jenem, der<br />
bestimmte, noch zu besprechende<br />
Symptome, beobachtet, um dann,<br />
vielleicht nach dem Kapazitätenmodell,<br />
seine eigenen freien Leistungsreserven<br />
einzubringen, als auch für<br />
jenen, der sich selbst in einer Situation<br />
wiederfindet, die zwar unerwünscht,<br />
aber manchmal nicht zu vermeiden ist<br />
und somit in sein persönliches Archiv<br />
der „unvergessbaren Ereignisse“ aufgenommen<br />
wird.<br />
Aktivierung ist ein Grundprozess im<br />
Organismus, der optimiertes Reagieren<br />
auf interne - vom Menschenselbst<br />
ausgehende - und externe - von dem<br />
Umfeld ausgehende - Anforderungen<br />
ermöglicht. Wobei hier, anders als in<br />
der Physik, die Annahme nicht richtig<br />
wäre, dass ein Mehr an Aktiviertheit,<br />
also ein Mehr an Spannung, linear<br />
steigend ein Mehr an Leistungsfähigkeit<br />
ergäbe. Die Kurve der Grafik verdeutlicht<br />
den Verlauf der Leistungskurve.<br />
Ein mittleres Spannungsniveau<br />
ermöglicht optimale Leistungen und<br />
deshalb sucht der Organismus im Falle<br />
von Leistungsanforderungen Umfelder<br />
mittlerer Informationsdichte auf. In der<br />
Tendenz strebt der Organismus jedoch<br />
zur Erregungsreduktion, um sich nicht<br />
frühzeitig zu verausgaben bzw. um<br />
Reserven bilden zu können; das geschieht<br />
durchaus unterhalb der<br />
bewussten Aufmerksamkeitsschwelle.<br />
Starke Aktivation, dass heißt sehr<br />
hohe Aktiviertheit bei gleichzeitigem<br />
Leistungsabfall, tritt nicht nur bei einer<br />
hohen Informationsdichte auf, sondern<br />
in bemerkenswerter Weise auch<br />
bei starker Unterforderung durch Reizarmut.<br />
12<br />
Dabei ist klar, dass unterschiedliche<br />
Aufgaben einen unterschiedlichen<br />
Grad an Aktiviertheit benötigen. Aber<br />
auch, dass Individuen durchaus unterschiedlich<br />
auf vergleichbare Aufgaben<br />
reagieren. 13<br />
Für uns ist es von Bedeutung, dass<br />
höchste Erregungszustände also nicht<br />
nur bei einer Überflutung von „Inputs“<br />
auftreten, sondern auch dann,<br />
wenn zu wenige Informationen fließen<br />
oder zur Verfügung stehen und<br />
ein Informationsbedürfnis vorhanden<br />
ist.<br />
<strong>Das</strong> bedeutet, dass ein Besatzungsmitglied,<br />
welches vom Informationsfluss,<br />
dem Loop, ausgeschlossen ist<br />
und dessen Informationsbedarf nicht<br />
befriedigt ist, durchaus aufgrund psychophysiologischer<br />
Reaktionen ausfallen<br />
kann, obwohl objektiv überhaupt<br />
keine Belastung vorlag. Diese<br />
Erkenntnis ist u. a. Begründung für die<br />
Forderung nach stetigem, sinnvollem<br />
Informationsfluss, der Aufrechterhaltung<br />
des Loop 14 .<br />
Welche Zeichen lassen erkennen,<br />
dass ein Besatzungsmitglied in seiner<br />
10 I/2002 FLUGSICHERHEIT
Aktiviertheit weit „nach rechts“ ausgewandert<br />
ist?<br />
<strong>Das</strong> erste für einen Außenstehenden<br />
markante Anzeichen für eine<br />
übermäßige und deshalb leistungsschädigende<br />
Erregung eines anderen,<br />
ist dessen stark reduzierte Sprechfähigkeit<br />
bis hin zur Sprachlosigkeit 15 .<br />
Natürlich spürt der Betroffene weitere<br />
deutliche Anzeichen, wie zum Beispiel<br />
einen erhöhten Puls, Schweißabsonderungen<br />
und Muskelverspannungen,<br />
die mit dem Verlust der Feinmotorik<br />
einhergehen. Doch diese Merkmale<br />
bleiben dem Außenstehenden weitestgehend<br />
verborgen. Im weiteren<br />
Verlauf des Abwanderns nach<br />
„rechts“ folgen in der Regel sehr<br />
schnell geistige Lähmung mit anschließender<br />
absoluter Handlungsunfähigkeit.<br />
In manchen zivilen Fluggesellschaften<br />
hat sich deshalb die DUAL CHAL-<br />
LENGE RULE durchgesetzt, die da besagt:<br />
Sobald ein Besatzungsmitglied<br />
auf zweimalige Ansprache, oder in<br />
einer Notsituation auf einmalige Ansprache<br />
hin, nicht reagiert, wird dessen<br />
momentane Flugunfähigkeit unterstellt,<br />
unabhängig von der momentanen<br />
wahrgenommenen Aufgabe oder<br />
allgemeinen Funktion an Bord.<br />
Diese Regel bezieht menschlich<br />
Normales mit ein und versucht nicht<br />
dagegen anzuarbeiten. Fragen hierarchischer<br />
Grundsätze treten in den<br />
Hintergrund - ein Aspekt, der sicherlich<br />
hier und da Stirnrunzeln hervorrufen<br />
wird. Nichtsdestotrotz gibt es<br />
keine vernünftige Alternative dazu,<br />
denn Sprachlosigkeit bei dem einen<br />
und hierarchischer Unterwerfungsdruck,<br />
bis hin zur Selbstaufgabe,<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
bei dem anderen, haben nachweislich<br />
viel zu oft zur Katastrophe<br />
geführt.<br />
<strong>Das</strong> Aktivationsmodell vermittelt ein<br />
besseres Verständnis dafür, aus welchen<br />
Gründen es unter anderem<br />
unbedingt erforderlich ist,<br />
- Personal, welches Teil des Geschehens<br />
ist, an allen wichtigen<br />
Informationsflüssen teilhaben zu<br />
lassen,<br />
- systematische Arbeitsabläufe zeitgerecht<br />
durchzuführen,<br />
- Zeiten des Leerlaufs interessiert<br />
mit Routinearbeiten oder allgemeinem<br />
Informationsaustausch zu<br />
füllen,<br />
- jedes einzelne Besatzungsmitglied<br />
wahrzunehmen und dessen Leistung<br />
durch Bestätigung und Anerkennung<br />
zur Kenntnis zu nehmen,<br />
- jede Frage sachgerecht zu beantworten,<br />
- unklare Situationen zu erläutern<br />
und den „Plan B“ aufzuzeigen,<br />
- eigene Fehler unaufgefordert anzusprechen,<br />
- Vorhaben möglichst anzukündigen,<br />
- „Gates“ zu setzen und einzuhalten.<br />
Aktivation ist Voraussetzung dafür,<br />
um unsere Umwelt sachgerecht, insbesondere<br />
grenzwertig, wahrzunehmen<br />
und gleichzeitig angemessen reagieren<br />
zu können. Zu hohe Beanspruchung<br />
kann das Vorzeichen der<br />
Leistungsfähigkeit abrupt umkehren<br />
und „the way out“ versperren.<br />
Neben der Prävention, die den<br />
Leistungseinbruch bei zunehmender<br />
Aktiviertheit vermeiden soll, gibt es in<br />
der akuten Situation nur zwei<br />
Möglichkeiten die Umklammerung<br />
phsychophysiologischer Lähmung<br />
abzustreifen.<br />
1. Die reale Befreiung aus der<br />
Situation.<br />
2. Die mentale Befreiung aus der<br />
Situation durch angemessene<br />
Umbewertung nach guter Kommunikation.<br />
Denken und Erinnern<br />
Denken ist Ordnung.<br />
Denken macht das Nichtbeobachtbare<br />
beobachtbar. Denken ist aber<br />
auch Aufmerksamkeit, Erinnern, Urteilen,<br />
Vorstellen, Planen, Entscheiden,<br />
Problemlösen und das Mitteilen von<br />
Ideen. Dazu zählen alle geistigen Vorgänge,<br />
die 16<br />
a. zielgerichtet sind,<br />
b. nicht allein auf das Entdecken<br />
und Erkennen von Reizen beschränkt<br />
sind,<br />
c. nicht allein auf das Speichern<br />
oder das Abrufen von Fakten im<br />
bzw. aus dem Gedächtnis beschränkt<br />
sind und<br />
d. - teilweise als Folge davon - das<br />
Verarbeiten von Fakten erforderlich<br />
machen.<br />
Allerdings denkt man meist nicht<br />
nur einfach so, sondern man denkt<br />
um bestimmte Ziele zu erreichen, die<br />
sich aus dem Wertsystem oder aus der<br />
aktuellen Motivation des Einzelnen<br />
ergeben 17 . Damit hat Denken nur eine<br />
dienende Funktion, es hilft bei der<br />
Realisierung von Absichten. 18<br />
„ 19 <strong>Das</strong> Hegen guter Absichten ist<br />
allerdings eine äußerst anspruchslose<br />
Geistestätigkeit. Mit dem Entwerfen<br />
von Plänen zur Realisierung der hehren<br />
Ziele sieht es anders aus. Dafür<br />
braucht man Intelligenz. Die Hochschätzung<br />
der guten Absicht allein ist<br />
keineswegs angebracht, im Gegenteil.<br />
Leute mit guten Absichten haben<br />
gewöhnlich nur geringe Hemmungen,<br />
die Realisierung ihrer Ziele in Angriff zu<br />
nehmen. Ist es nicht oft gerade das<br />
Bewusstsein der „guten Absicht“,<br />
welches noch die fragwürdigsten<br />
Mittel heiligt?“. 20<br />
Der Weg zu Unfällen ist gepflastert<br />
mit guten Absichten und Motiven 21 !<br />
Der Aspekt „Motive“ wird in einer<br />
gesonderten Abhandlung dieser Ausgabe<br />
erörtert.<br />
Freies Denken ist nur unter folgenden<br />
Bedingungen möglich:<br />
- freie Erkundung der Außenwelt<br />
mit ungehinderter Informationsaufnahme,<br />
11
- eigenständige Bewertung,<br />
- selbständige Auswahl von Verhaltensstrategien,<br />
- ungehindertes und selbstverantwortliches<br />
Handeln,<br />
- eigenständiges Bewerten des<br />
Handlungsergebnisses.<br />
Dafür stehen uns im Idealfall drei<br />
bewusst ablaufende Informationsaufnahme-<br />
und Speicherungskapazitäten<br />
zur Verfügung<br />
1. Informationsaufnahmevermögen<br />
15 - 16 bit / sec, ca. 7 Sachverhalte,<br />
2. Informationsaufnahmevermögen<br />
aus dem Gedächtnis ca. zwei Sachverhalte,<br />
3. Aufnahme- und Speicherkapazität<br />
kann, ohne Aufmerksamkeit, je<br />
nach Art der Information ca. 1 - 8<br />
sec im Arbeitsspeicher gehalten<br />
werden.<br />
Die aufgeführten Bedingungen sind<br />
Idealzustände, die wir im täglichen<br />
Leben kaum antreffen werden. In<br />
Wirklichkeit fühlen wir uns oft durch<br />
Normen, Regeln, Aufgaben und Leistungsanforderungen<br />
fremdbestimmt<br />
und deshalb sehr eingeengt. Es darf<br />
dabei nicht unberücksichtigt bleiben,<br />
dass eine als bedrohlich empfundene<br />
Situation, also eine Situation hoher<br />
Beanspruchung, im Moment ihres<br />
Auftretens als zusätzlich einengender<br />
Faktor wahrgenommen wird und zu<br />
einem Kapazitätsverlust von einem<br />
Drittel der momentan verfügbaren<br />
Ressourcen und mehr führen kann.<br />
Bleiben Kontrollanstrengungen dann<br />
unwirksam, so kann das bei sehr<br />
hoher Aktivation zum völligen Zusammenbruch<br />
bzw. zum Verlust der<br />
Selbststeuerungsfähigkeit führen.<br />
Arbeitsabläufe, die aus dem<br />
Vorbewussten 22 heraus Handlungen<br />
auslösen, ermöglichen uns das Beherrschen<br />
komplexer Vorgänge. 23 Wir<br />
erinnern auf vielen Kanälen. Zunächst<br />
verfügt jeder menschliche Sinn separat<br />
über ein sinnspezifisches Erinnerungsvermögen.<br />
Jedes Ereignis von<br />
Bedeutung wird in Verbindung mit<br />
allen (fünf) Sinneseindrücken, die zeitlich<br />
nah zum Geschehen wahrgenom-<br />
men wurden, abgelegt und als<br />
Erinnerungsrepertoire 24 bereit gehalten.<br />
Situationen die dem ehemals<br />
erlebten ähnlich sind, führen durch<br />
einen unbewusst ablaufender Vergleich<br />
zu einer Reproduktion der<br />
damaligen Eindrücke und es wird deshalb<br />
gelingen, schneller auf Anforderungen<br />
zu reagieren, als würde eine<br />
Situation erstmalig erleben werden.<br />
Neben dieser situativen Möglichkeit<br />
zu erinnern, verfügen wir natürlich<br />
auch noch über den verbalen,<br />
begrifflich belegten und den kognitiven<br />
Erinnerungskanal, der durch geistige<br />
Anstrengung, dann natürlich<br />
bewusst, aktiv wird. Darüber hinaus<br />
jedoch erinnern wir auch noch motorisch<br />
über den gesamten Bewegungsapparat.<br />
Im Flugbetrieb kennen wir all diese<br />
Kanäle sehr gut, sie sind unser „täglich<br />
Brot“. Wie kann es nun aber geschehen,<br />
dass bei einem unspektakulären<br />
Routinevorgang eine wichtige<br />
Tätigkeit im Rahmen eines Handlungsabschnitts,<br />
der aus der Erinnerung<br />
abgearbeitet wird, einfach vergessen<br />
wird, z. B. beim Anlassvorgang das<br />
„AntiColl“ einzuschalten, oder im<br />
Landeanflug das Ausfahren des<br />
Fahrwerks? Und der für diese (vergessene)<br />
Handlung zuständige Besatzungsangehörige<br />
würde schwören,<br />
den Schalter umgelegt bzw. den Hebel<br />
bedient zu haben - und er sagt die<br />
„Wahrheit“! 25<br />
Zum besseren Verständnis soll die<br />
gezeigte Graphik beitragen.<br />
Erinnerung kommt, auf welchem<br />
Kanal auch immer, aus dem Langzeitspeicher<br />
(LZS), steigt in der Regel aus<br />
dem Vorbewusstsein auf, durchdringt<br />
den emotionalen Filter und erscheint<br />
zunehmend klarer an der Bewusstseinsoberfläche,<br />
nimmt konkrete Gestalt<br />
an, führt zur Handlung und verschwindet<br />
wieder im Langzeitspeicher,<br />
vielleicht aufgrund des neuerlich<br />
bewusst Erlebten mit ergänzenden<br />
Gefühlen behaftet. Wird nun ein erinnerter<br />
Handlungsabschnitt mit seinen<br />
einzelnen Tätigkeiten an einer bestimmten<br />
Stelle durch Ablenkung der<br />
Aufmerksamkeit unterbrochen, z. B.<br />
Beantwortung einer Anfrage des<br />
TWR-Personals, dann kann davon ausgegangen<br />
werden, dass der erinnerte<br />
automatisierte Arbeitsvorgang insgesamt<br />
zwar fortgesetzt wird, jedoch ein<br />
bis zwei Tätigkeiten überspringt. Dabei<br />
handelt es sich um jene Tätigkeiten,<br />
die genau zum Zeitpunkt der Störung<br />
hätten ausgeführt werden sollen. Der<br />
Handelnde selbst wird fest davon<br />
überzeugt sein, nichts vergessen zu<br />
haben.<br />
Beweise für dieses Phänomen gibt<br />
es reichlich, auch im privaten Leben.<br />
Wie können wir damit umgehen,<br />
12 I/2002 FLUGSICHERHEIT
ohne flüssiges Arbeiten von vornherein<br />
zu unterbinden und ohne Verunsicherung<br />
zu verbreiten. <strong>Das</strong> fünfmalige<br />
Nachfragen in einem Auto während<br />
der Urlaubsreise „habe ich die<br />
Kaffeemaschine ausgemacht?“, beschreibt<br />
einen Weg, der mit Flugbetrieb<br />
sicherlich nicht vereinbar ist.<br />
In einem fliegerischen Umfeld bleiben<br />
nur wenige Möglichkeiten angemessenen<br />
Verhaltens, so lange eine<br />
technische Automatisierung noch<br />
nicht die Qualität umfassend menschengerechter<br />
Auslegung erreicht<br />
hat.<br />
1. Ich halte mich ausschließlich und<br />
stur an Checklisten, 26 oder<br />
2. ich kenne das beschriebene<br />
Phänomen und stelle mich durch<br />
eine angemessene Verhaltensweise<br />
darauf ein, indem ich die<br />
Sprechgruppe „Stand By“ häufiger<br />
benutze, oder<br />
3. ich präge mir die zuletzt durchgeführte<br />
Handlung sehr aufmerksam<br />
ein (kognitiv, verbal,<br />
motorisch, s. o.), um so den<br />
lückenlosen Anschluss problemlos<br />
wiederfinden zu können,<br />
oder<br />
4. ich beginne einen gesamten<br />
Handlungsabschnitt erneut von<br />
vorn, nachdem meine ineinander<br />
fließenden und richtig erinnerten<br />
Einzeltätigkeiten unterbrochen<br />
worden waren.<br />
Auch hier gilt die goldene Regel,<br />
dass Wissen um diese Zusammenhänge<br />
allein noch nicht viel bewirkt.<br />
Ein entsprechendes Training, möglichst<br />
im Simulator, ist notwendige Ergänzung<br />
und bringt den nachhaltigen<br />
Erfolg. 27<br />
Freies Denken und angemessenes<br />
Erinnern kann massiven Einschränkungen<br />
unterliegen.<br />
Bewusst mit diesen begrenzenden<br />
Faktoren strukturiert umzugehen<br />
setzt Reserven für die Bewältigung<br />
des Unvorhersehbaren frei.<br />
„Mammutjäger“ - sorge dafür,<br />
Deine unersetzbaren menschlichen<br />
Fähigkeiten uneingeschränkt ein-<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
setzen zu können, dann wirst Du<br />
Grenzen erkennen, einschätzen<br />
und akzeptieren können.<br />
1 Mit dem Begriff Umwelt sind hier alle möglichen<br />
Umgebungen (sichtbare Räume), in denen sich ein<br />
Mensch aufhalten und überleben kann, gemeint.<br />
Abgrenzung nach Guski, Rainer: Wahrnehmen -<br />
ein Lehrbuch / Kohlhammer GmbH, Stuttgart<br />
1996<br />
2 LeDoux, Joseph: <strong>Das</strong> Netz der Gefühle / Carl<br />
Hanser Verlag, München 1998<br />
3 nach Watzlawick, Paul: Die erfundene<br />
Wirklichkeit / Piper Verlag GmbH, München, 10.<br />
Auflage Januar 1998<br />
4 Es überlebt jene Art, die am besten die physikalischen<br />
Bedingungen seiner Umwelt akzeptiert. In<br />
diesem Punkt ist die Mikrobe prinzipiell besser<br />
angepasst als der Mensch.<br />
5 Damit sind die elementaren Vitalfunktionen<br />
gemeint, die qualitativen Funktionen der<br />
Reizaufnahme über die Sinne und die<br />
Grundemotionen. Ein erweitertes Modell zu elementaren<br />
und abgeleiteten Emotionen bietet<br />
R. Plutchik (1980) in seinen Arbeiten zur<br />
Emotion.(Grundemotionen: Abscheu, Wut,<br />
Erwartung, Freude, Billigung, Furcht, Überraschung,<br />
Traurigkeit; einige psychosozial abgeleitete<br />
Emotionen (später entwickelte Emotionen):<br />
Freundlichkeit, Beunruhigung, Schuldgefühle,<br />
Verdrossenheit, Entzücken, Angst.<br />
6 Diplom Psychologe Andreas Richter, New<br />
Training Institute, Craintal / Mühle<br />
7 Viele dieser Umstände liegen in der Verantwortung<br />
eines jeden Einzelnen selbst, manches<br />
wiederum im Zuständigkeitsbereich des Dienstherren<br />
im weitesten Sinne. Eine Vertiefung dieses<br />
Aspekts soll hier nicht vorgenommen werden.<br />
8 Beanspruchung bedeutet hier im weitesten Sinne:<br />
Umgang mit Belastung.<br />
9 Eine Beschreibung der weiteren Besatzungsangehörigen<br />
unterbleibt hier, da das Prinzip des Kapazitätenmodells<br />
auch an zwei Personen dargestellt<br />
werden kann.<br />
10 Unter einer komplexen Situation ist hier die Vernetzung<br />
verschiedener Variablen gemeint.<br />
11 Definition aus: Edelmann, Lernpsychologie, Beltz-<br />
Verlag<br />
12 Eine 100%ige Abschottung von äußeren Reizen<br />
kann zu Halluzinationen führen, Trugwahrnehmungen<br />
durch „Selbstreizung des Organismus“.<br />
Probanden, die sich einem entsprechenden Test<br />
unterzogen haben, gaben nach sehr kurzer Zeit<br />
„entnervt“ auf. u.a. nach Legewie, Heiner und<br />
Ehlers, Wolfram: Handbuch moderne Psychologie<br />
/ Bechtermünz Verlag<br />
13 Es gibt also mehrere Variable die sich dafür eignen,<br />
das Modell auch komplizierter darzustellen -<br />
das soll jedoch hier unterbleiben.<br />
14 weitere Ausführungen dazu im Artikel Kommunikation<br />
15 Da sich in der menschlichen Evolution die Sprechfähigkeit<br />
als letzte Fähigkeit entwickelt hat, wird<br />
diese, einer strengen Hierarchie folgend, in der<br />
Regel auch als erste Kapazität verloren.<br />
16 Hussy, Walter: Denken und Problemlösen /<br />
Walter Hussy -Kohlhammer; Stuttgart 2. überarbeitete<br />
und erweiterte Auflage 1998<br />
17 Dörner, Dietrich: Die Logik des Misslingens /<br />
Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei<br />
Hamburg 1992<br />
18 „Achte auf deine Gedanken, sie sind der Ursprung<br />
deines Handelns“ / chinesische Weisheit<br />
19 Dörner, Dietrich: Die Logik des Misslingens /<br />
Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei<br />
Hamburg 1992<br />
20 siehe auch: <strong>Das</strong> Milgram Experiment:<br />
Vermeintliche Testpersonen sollten im Rahmen<br />
einer Aggressionsstudie Stromstößen steigender<br />
Intensität ausgesetzt werden, wenn in einem<br />
Lernexperiment Fehler gemacht worden waren. In<br />
Wirklichkeit floss kein Strom. Schmerzempfinden<br />
wurde vorgetäuscht. Die Personen am Stromgenerator<br />
waren die eigentlichen Probanden, ohne es<br />
zu wissen. Sie „quälten“ ihre Testpersonen für<br />
einen vermeintlich guten Zweck - einer statistischen<br />
Erhebung als Grundlage für weitere Studien<br />
zur Bestätigung einer Lerntheorie.<br />
21 Reason, James T., The Organisational Accident<br />
22 <strong>Das</strong> Unbewusste wird in einem Modell in Unterbewusstsein<br />
und Vorbewusstsein unterteilt.<br />
Während das Vorbewusste zugänglich ist, bleibt<br />
das Unterbewusste dem Einzelnen im allgemeinen<br />
verborgen, obwohl es Denken und Erinnern beeinflusst.<br />
23 siehe auch „Wahrnehmung“ und „Aufmerksamkeit“<br />
24 nach dem: „Rahmenmodell zur elementaren und<br />
komplexen menschlichen Informationsverarbeitung“<br />
(MEKIV) wir das hier angesprochene „Erinnerungsrepertoire“<br />
als „Sensorisches Register“<br />
bezeichnet.<br />
25 Diese, seine Wahrheit entspricht zwar nicht der<br />
Realität, sie entspricht jedoch seiner individuellen<br />
Wahrnehmung, seiner Wirklichkeit.<br />
26 Checklisten haben selbstverständlich ihre Berechtigung,<br />
sind notwendig und sinnvoll. Eine ausufernde<br />
Ausweitung der Checklistenflut wäre jedoch<br />
keine wünschenswerte Lösung, weil dann<br />
die Fülle an Checklisten zusätzliche Probleme aufwerfen<br />
würde.<br />
27 So genannte „mentale Schalter“ lenken das<br />
Bewusstsein in bestimmten, definierten Situationen<br />
und können die Reaktionszeit verkürzen.<br />
Dieses muss trainiert werden.<br />
13
Wahrnehmung<br />
Grundlagen<br />
Wenn wir das deutsche<br />
Wort Wahrnehmung umgangssprachlich<br />
benutzen,<br />
umschreiben wir damit eine<br />
Tätigkeit, die uns kontinuierlich<br />
Informationen über Zustände<br />
und Ereignisse in unserer<br />
Umgebung und zum Teil in<br />
uns selbst liefert. <strong>Das</strong> Wort<br />
Wahrnehmung bezeichnet<br />
eher kurze Momente dieser<br />
Tätigkeit bzw. ihr Ergebnis,<br />
von der Reizaufnahme bis hin<br />
zum Bewusstsein 1 . In beiden<br />
Fällen nehmen wir die erhaltenen<br />
Informationen für wahr.<br />
Wir haben in der Regel keinen<br />
Zweifel, dass das, was wir<br />
sehen, hören, fühlen, riechen,<br />
schmecken oder sonst spüren,<br />
wahr ist. Und in einem bestimmten<br />
Sinn brauchen wir<br />
daran auch keinen Zweifel<br />
haben – doch davon später<br />
mehr.<br />
In den beiden Nachbarsprachen<br />
Englisch und Französisch<br />
heißt diese Tätigkeit to<br />
perceive oder the perception<br />
bzw. percevoire oder la perception.<br />
Diese Wörter stammen<br />
aus der lateinischen<br />
Sprache, in der percipere<br />
„Wissen durch die Sinne”<br />
bedeutet – auch diese Sprachen<br />
gehen eher von sicherem<br />
Wissen als von Vermutungen<br />
und Unsicherheit aus. 2<br />
<strong>Das</strong>s Wahrnehmung nicht<br />
dem realen Abbild der uns<br />
umgebenden physikalischen Umwelt<br />
entspricht ist bekannt und hat<br />
Nachteile für uns, weil wir Gefahr laufen,<br />
aufgrund von <strong>Wahrnehmungs</strong>verzerrungen<br />
und anderen Besonderheiten<br />
in die falsche Richtung zu laufen.<br />
Auf der anderen Seite jedoch ist die<br />
Art und Weise, wie wir als Menschen<br />
wahrnehmen, die einzige Möglichkeit,<br />
den Anforderungen eines dynamischen<br />
Umfeldes, das ständig von uns<br />
Entscheidungen abverlangt die, „jetztbezogen”<br />
oder in die Zukunft gerichtete<br />
sind, angemessen zu begegnen.<br />
Wahrnehmung transformiert Informationen<br />
zu Bewusstsein, ist umwelt-,<br />
ereignis-, objekt-, und personenbezogen,<br />
ist selektiv und hängt eng mit<br />
Aufmerksamkeit zusammen. 3<br />
Wahrnehmung ist die unmittelbar-<br />
14 I/2002 FLUGSICHERHEIT
ste Beziehung zur Umwelt. Sobald der<br />
Mensch wach ist, vermitteln ihm seine<br />
Sinne ein vielschichtiges und vielgestaltiges<br />
Bild seiner Umgebung. 4<br />
Reize, die über unser Nervensystem<br />
Zugang zu unserem Bewusstsein finden,<br />
können als elementares Erlebnis,<br />
als Empfindungen, definiert werden,<br />
die in ihrer Summe zur Wahrnehmung<br />
führen. 5 Dringen Wahrnehmungen in<br />
unser Bewusstsein vor, passieren sie<br />
den emotionalen Filter 6 . Dort werden<br />
die Wahrnehmungen mit jenen Emotionen<br />
sesshaft überzogen, die im Moment<br />
der Wahrnehmung vorherrschten.<br />
<strong>Das</strong> Erlebte bleibt für immer mit<br />
dem Bewusstsein verhaftet und unter<br />
bestimmten Bedingungen abrufbar.<br />
Die Bedeutung der Wahrnehmung<br />
für den Menschen kann erst ermessen<br />
werden, wenn er einem Reizentzug<br />
und dadurch einem Entzug an Wahr<br />
nehmung ausgesetzt wird. 7 Je nach<br />
Bedingungen des Experiments führt<br />
der Reizentzug zu deutlichen Leistungsstörungen,<br />
Problemen bei der<br />
Orientierung bis hin zu Halluzinationen<br />
schwerster Art, die durchaus mit<br />
dem Einfluss bewusstseinsverändernder<br />
Drogen vergleichbar sind. 8 Dieses<br />
Experiment verdeutlicht in drastischer<br />
Weise, wie Außenreize mit ihrem Informationscharakter<br />
und ihrer Wahrnehmung<br />
unser gesamtes Empfinden,<br />
Orientieren und Verhalten beeinflussen.<br />
9<br />
Wird jemand von dem Informationsfluss<br />
abgeschnitten, den er für<br />
sein eigenes Zurechtfinden, für die<br />
Wahrnehmung seines Umfeldes, zu<br />
benötigen glaubt, kann das im Extremfall<br />
zum Totalausfall der Leistungsfähigkeit<br />
führen, ohne das objektiv<br />
eine Belastung erkennbar gewesen<br />
wäre. 10<br />
Die Wahrnehmung dient dazu, den<br />
sich ständig ändernden, oft chaotischen<br />
Input über die Sinnesorgane<br />
aufzunehmen, zu stabilisieren, zu ordnen<br />
und zu organisieren. Ohne diese<br />
Fähigkeit wäre die Wahrnehmung nur<br />
„Rauschen” und „Flimmern” mit keiner<br />
autonomen Überlebenschance für<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
den Organismus. Im Folgenden sollen<br />
einige Kategorien von Wahrnehmung<br />
besprochen werden, die zwar in der<br />
Darstellung nacheinander abgehandelt<br />
werden, in Wahrheit und im echten<br />
Leben jedoch durchaus gleichzeitig<br />
wirken können. Am Ende dieses<br />
<strong>Wahrnehmungs</strong>prozesses steht ein<br />
individueller, resultierender Bewusstseinszustand,<br />
aus dem heraus Entscheidungen<br />
getroffen und Handlungen<br />
auslösen werden.<br />
Sofern <strong>Wahrnehmungs</strong>vorgänge<br />
im engeren Kontext mit Flugbetrieb<br />
stehen, werden diese Phänomene<br />
unter dem Aspekt des Ressourcenmanagements<br />
diskutiert.<br />
Bewusste<br />
Wahrnehmung<br />
Unsere Sinne halten eine Menge an<br />
Nervenfasern und mit ihnen eine enorme<br />
Informationskapazität / Kanalkapazität<br />
(bit pro Sek. 11 ) für die Reizaufnahme<br />
bereit. Insgesamt können ca.<br />
10 9 bit/sec über die Rezeptoren von<br />
Auge, Ohr und Haut aufgenommen<br />
werden. Nur ein geringer Teil dieses<br />
Angebots an Informationen erreicht<br />
unser Bewusstsein. Aufgrund eines<br />
Reduktionsvorganges 12 erreichen lediglich<br />
Dort gibt es Ansatzpunkte, die, wenn<br />
wir sie kennengelernt und identifiziert<br />
haben, hilfreich sind, Grenzen früher<br />
erkennen zu können.<br />
Unbewusste Wahrnehmung löst<br />
automatisierte Handlungen 14 aus, die<br />
schnell, parallel und ohne Anforderun<br />
gen an Kurzzeitgedächtniskapazität<br />
ablaufen. 15 Handlungen werden im<br />
Kontext ausgelöst, aber auch<br />
durch ihn begrenzt und können,<br />
einmal ausgelöst, nicht ohne weiteres<br />
gestoppt werden – dafür<br />
braucht es einen bewussten Eingriff,<br />
dem eine bewusste Entscheidung vorausgehen<br />
muss.<br />
Im Leben eines Menschen wächst<br />
die Datenmenge in seinem Langzeitspeicher<br />
unvorstellbar hoch an. Nichts,<br />
was jemals von Bedeutung war, geht<br />
verloren. Auch wenn der bewusste<br />
Zugang in den meisten Fällen nicht<br />
möglich ist, so steuern diese eingelagerten<br />
Informationen mit ihren dazugehörigen<br />
Emotionen unser gesamtes<br />
Verhalten; und nicht nur das.<br />
Diese Datenblöcke vernetzen sich<br />
unbemerkt miteinander und führen zu<br />
zusätzlichen, automatischen Lernprozessen,<br />
die niemals bewusst geworden<br />
sind. Diese Wissensblöcke werden zu<br />
Superzeichen 16 zusammenführt und<br />
bewirken, dass komplexe Handlungsabfolgen<br />
durch Zuruf eines einzigen<br />
Begriffs ausgelöst werden können.<br />
Die ständig andauernde und fortgeschriebene<br />
Vernetzung ist auch<br />
Voraussetzung dafür, eine eigene<br />
Meinung zu haben und Objekten,<br />
Ereignissen und Menschen gegenüber<br />
eine bestimmte Einstellung entwickeln<br />
zu können – sie ist wesentlicher Teil<br />
unseres Bewusstseins und unserer<br />
Persönlichkeit.<br />
Einstellungen und Meinungen entwickeln<br />
sich meist im Stillen. Kaum<br />
jemand ist in der Lage, genau zu<br />
benennen, wann und durch welches<br />
Einzelereignis er zu einer ganz bestimmten<br />
Sichtweise der Dinge gekommen<br />
ist.<br />
Die uns letztlich bestimmenden<br />
Informationsinhalte sind diejenigen,<br />
die wir nur mittelbar, nebenbei und<br />
unterhalb unseres eigentlichen Denkinhalts<br />
registrieren, 17 also unbewusst<br />
wahrnehmen. Sie vermitteln uns das<br />
Gefühl, dass alles im „grünen Bereich”<br />
ist, oder das hier „etwas nicht stimmt”.<br />
Wie kommt es zu diesen wenig differenzierten<br />
Gefühlen und können sie<br />
hilfreich sein oder sind sie vielleicht<br />
schädlich?<br />
Wie bereits weiter oben erwähnt,<br />
wird alles Erlebte, alles Wahrgenommene<br />
mit denen im Moment des<br />
Erlebens empfundenen Emotionen<br />
und dem dazu gehörigen Kontext im<br />
Langzeitspeicher aller beteiligten Sinne<br />
als Erfahrungsrepertoire in Schablonenform<br />
abgelegt. Die Speicherinhalte<br />
sind nicht so konturenreich und detailtreu<br />
wie das vergangene Original. Die<br />
wesentlichen Eckpunkte jedoch<br />
und die damals festgestellte Bedeutung<br />
für die eigene Person stechen<br />
markant hervor. Je tiefer das<br />
Erlebte ging, desto klarer hält der<br />
Langzeitspeicher die ehemals geprägte<br />
Schablone bereit.<br />
Es können Jahre vergehen, bis auf<br />
diesen oben beschriebenen Wissenskomplex<br />
zurückgegriffen wird, wenn<br />
überhaupt. Natürlich gibt es die Möglichkeit,<br />
durch gezielte Aufmerksamkeit<br />
gewisse Erfahrungen zu erinnern.<br />
Dafür braucht es aber wiederum einen<br />
bewussten Anlass, um auf die Idee zu<br />
kommen, systematisch nach abgelegten<br />
Schablonen zu suchen. Die Herleitung<br />
erfolgt dann über den momentanen<br />
Lebensvollzug zum relevanten<br />
Lebensabschnitt, einer darin enthaltenen<br />
Episode, um dann vielleicht das<br />
darin enthaltene Erlebte finden zu<br />
können. Bei einem solchen Vorgehen<br />
wird das so Erinnerte mit der aktuellen<br />
Sicht der Dinge überschrieben und die<br />
ursprüngliche, damalige Wirklichkeit<br />
wird uminterpretiert und verblassen<br />
Stück für Stück. Eine neue und anders<br />
erinnerte vergangene Wirklichkeit entsteht.<br />
Anders die Erinnerung aus unbewusster<br />
Wahrnehmung. Hier werden<br />
alle aktuellen, relevanten Wahrnehmungen<br />
verarbeitet, indem die wesentlichen<br />
Eckpunkte mit ähnlichen<br />
Schablonen im Langzeitspeicher verglichen<br />
werden. In bekannten Situationen<br />
werden alle passenden Schablonen<br />
unbemerkt gefunden und, sofern<br />
keine Altschablone dabei ist, die bei<br />
ihrer Prägung als kritisch empfunden<br />
wurde, wird dieser Vorgang, zum Beispiel<br />
der aktuelle Flug, als ereignislos<br />
oder wenig herausfordernd bzw. als<br />
angenehm empfunden.<br />
Begeben wir uns jedoch in ein<br />
Szenario, welches in seinen Eckpunkten<br />
früher einmal bereits erlebt und als<br />
bedrohlich eingestuft worden ist, so<br />
wird das damals abgelegte, zur Situation<br />
passende Gefühl aktiviert, ohne<br />
dass wir womöglich eine akute Bedrohung<br />
bewusst wahrgenommen<br />
hätten. Wir spüren plötzlich ein ungutes<br />
Gefühl mit entsprechenden Reaktionen<br />
des Körpers 18 , ohne erkannt zu<br />
haben, was die Ursache dafür sein<br />
könnte.<br />
Spätestens jetzt ist es an der Zeit,<br />
auf diese Art der „intrapersonellen<br />
Kommunikation” zu hören und der<br />
Sache auf den Grund zu gehen.<br />
Vielleicht ist diese Körperreaktion der<br />
Situation angemessen, vielleicht aber<br />
auch nicht.<br />
So hatte z.B. ein Hubschrauberpilot<br />
im Rahmen eines Auslandseinsatzes<br />
an einer Koordinate im Gelände zu<br />
landen; täglich Brot, keine Herausforderung.<br />
Im Landeanflug stieg in dem<br />
steuerführenden LFF ein zunehmend<br />
ungutes Gefühl auf. Objektiv gab es<br />
nichts, was das begründet hätte. Der<br />
LFF erklärte sich und mit einiger Hilfe<br />
gelang es anschließend, der Sache auf<br />
den Grund zu gehen. Etwa 15 Jahre<br />
zuvor, während seiner fliegerischen<br />
Grundausbildung, hatte er ein Problem<br />
mit einer Landung an einem<br />
bestimmten Geländepunkt. Sein damaliger<br />
Fluglehrer entwickelte sich<br />
zum Teil seines Problems, immer wieder<br />
an der gleichen Stelle im gleichen<br />
Verfahren. Mit Abschluss der fliegerischen<br />
Ausbildung traten diese Probleme<br />
nie wieder auf. 15 Jahre später, im<br />
16 I/2002 FLUGSICHERHEIT
Rahmen des erwähnten Auslandseinsatzes,<br />
fand der LFF einen Geländeabschnitt<br />
vor, der dem seiner Problemphase<br />
im Rahmen seiner fliegerischen<br />
Ausbildung sehr ähnlich war. Seine<br />
unbewusste Wahrnehmung setzte das<br />
dem damals Erlebten angehaftete<br />
Gefühl frei und beeinflusste so das<br />
Wohlbefinden des LFF nachhaltig. Es<br />
gibt viele Beispiele für objektiv unbegründete<br />
Beunruhigung.<br />
Ungeachtet dessen überwiegen die<br />
Vorteile unbewusster Wahrnehmung,<br />
weil in den meisten Fällen situationsangemessene<br />
Schablonen abgelegt<br />
wurden. <strong>Das</strong> Sprachrohr unbewusster<br />
Wahrnehmung ist unsere Körperreaktion.<br />
Es gibt geteilte Meinungen darüber,<br />
wie und in welchem Umfang darauf<br />
gehört werden sollte. 19 Eines ist<br />
jedoch sicher: wer die Hinweise seines<br />
Organismus, die durch unbewusste<br />
Wahrnehmung hervorgerufen werden,<br />
nicht als Auslöser dafür nutzt,<br />
den Verstand einzuschalten, um der<br />
„Sache” systematisch auf den Grund<br />
zu gehen, der verzichtet auf die<br />
Einbeziehung eines wesentlichen Teils<br />
seiner Lebenserfahrung und verspielt<br />
so eine gute Chance, Grenzen früher<br />
erkennen und anerkennen zu können.<br />
Obwohl Grenzen anzuerkennen<br />
potentiell überlebenswichtig ist, wollen<br />
wir diese manchmal gar nicht wahr<br />
haben.<br />
<strong>Wahrnehmungs</strong>abwehr<br />
Die Hypothese der <strong>Wahrnehmungs</strong>abwehr<br />
besagt, dass für unangenehme<br />
<strong>Wahrnehmungs</strong>gegenstände<br />
die Erfassungsschwelle gegenüber<br />
neutralen erhöht ist. 20 Nach wissenschaftlichen<br />
Erkenntnissen bleibt<br />
das Konzept der <strong>Wahrnehmungs</strong>abwehr<br />
umstritten, weil man sich über<br />
die Jahre aus verschiedenen Gründen<br />
auf keinen allgemein anerkannten<br />
Testaufbau und auf keine allgemein<br />
gültige Theorie dazu einigen konnte.<br />
So bleibt eben doch ein Zweifel, ob es<br />
<strong>Wahrnehmungs</strong>abwehr unter den<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
oben zitierten Bedingungen gibt oder<br />
nicht.<br />
Schauen wir jedoch in unser tägliches<br />
Leben, so finden wir viele Beweise<br />
dafür, dass bestimmte, meist<br />
unangenehme Informationen in der<br />
Wahrnehmung und dem daraus resultierenden<br />
Verhalten, manchmal keine<br />
angemessene Wirkung zeigen.<br />
Der Volksmund deutet auch auf<br />
dieses Phänomen wenn er sagt: „Da<br />
musste ich doch noch Mal hinhören”,<br />
oder „als ich das sah, wollte ich meinen<br />
Augen nicht trauen”, oder als er<br />
davon hörte, dass sein „Entwurf”<br />
nicht akzeptiert wurde, „verdrehte er<br />
die Augen”, um nicht hinschauen zu<br />
müssen, denn „nicht sein kann, was<br />
nicht sein darf”.<br />
In der Fliegerei zeigt sich das Phänomen<br />
dergestalt, dass, obwohl viele<br />
Parameter auf innehalten und neubewerten,<br />
auf abbrechen und umkehren,<br />
oder auf Fragen nach Einschätzung<br />
anderer stehen, der Vorgang<br />
nicht neu bewertet, nicht abgebrochen<br />
und auch nicht neu diskutiert<br />
wird. Gute und wichtige, neue Informationen<br />
werden weder bewusst verarbeitet,<br />
noch unbewusst über Körperreaktionen<br />
zu Kenntnis genommen<br />
– Informationen, die man vor Antritt<br />
gerne gehabt und verarbeitet hätte.<br />
Hierin liegt ein Problemfeld, das an<br />
anderer Stelle ausführlicher erörtert<br />
wird. 21<br />
An dieser Stelle soll es genügen<br />
darauf zu verweisen, dass es so etwas<br />
wie <strong>Wahrnehmungs</strong>abwehr gibt und<br />
dass diese Abwehr vermutlich dazu<br />
dient, das „mentale Modell” 22 des<br />
Einzelnen zu schützen und zu stabilisieren.<br />
Niemand lässt gerne von seiner<br />
Vorstellung über die Welt, in der er<br />
sich gerade bewegt, los.<br />
Diese Vorstellung wird auch mit<br />
Energieeinsatz verteidigt und sie ist<br />
manchmal nachhaltig stärker als WAR-<br />
NINGS, CAUTIONS, sonstige deutlichen<br />
äußeren Hinweise, Anmerkungen<br />
und Zurufe – manchmal viel zu<br />
lange, um mit Flugbetrieb vereinbar zu<br />
sein.<br />
Eine Begründung dafür: Wir bleiben<br />
so gerne der einmal wahrgenommenen<br />
Situation verhaftet, weil uns<br />
die Evolution angemessen ausstattete,<br />
den jeweiligen Moment wahrzunehmen,<br />
jedoch nur sehr bedingt dafür<br />
ausstattete, eine Entwicklung in die<br />
Zukunft vorhersehen zu können. Ereignisse<br />
vorhersehen zu wollen, stellt<br />
sich regelmäßig als „Ressourcenfresser”<br />
dar.<br />
Aber <strong>Wahrnehmungs</strong>abwehr ist<br />
nicht die einzige Täuschung, der wir<br />
beim Vorgang der Wahrnehmung<br />
unterliegen können.<br />
<strong>Wahrnehmungs</strong>verzerrung<br />
Wie bereits mehrfach erwähnt, ist<br />
menschliche Wahrnehmung das Ergebnis<br />
eines Prozesses. Dabei ist es<br />
uns in aller Regel möglich, sofern es<br />
sich um bewusste Wahrnehmung<br />
handelt, den auslösenden Reiz zu<br />
identifizieren und, auf der anderen<br />
Seite, das Ergebnis, die Empfindung,<br />
also die Wahrnehmung zu beschreiben.<br />
Der Weg dorthin bleibt ein mehr<br />
oder weniger großes Rätsel.<br />
Alle physikalischen Reize, die<br />
Rezeptoren jenseits der Reizschwelle<br />
aktiviert haben, werden auf dem Weg<br />
zum Bewusstsein eingefärbt und für<br />
eine individuelle Wahrnehmung aufbereitet.<br />
Diese Aufbereitung hängt<br />
von vielen Faktoren ab, wie zum<br />
Beispiel der Lebenserfahrung, den<br />
Einstellungen, dem Temperament, den<br />
jeweiligen Motiven, der subjektiven<br />
Bedrohung usw. Die Vielfältigkeit<br />
möglicher Kombinationen solcher<br />
Faktoren ist so reichhaltig, wie es der<br />
Anzahl der Menschen dieser Erde entspricht.<br />
Daraus geht hervor, dass dann,<br />
wenn Zwei das Gleiche zur gleichen<br />
Zeit und nebeneinander beobachten,<br />
die jeweilige Wahrnehmung sehr<br />
wahrscheinlich unterschiedlich sein<br />
wird.<br />
Die Welt des einen ist nie zu 100%<br />
identisch mit der Welt des anderen.<br />
Diese Vorgänge sind normal und<br />
17
erklären, warum sich Menschen, insbesondere<br />
in kritischen Situationen<br />
auseinandersetzen und in bestimmten<br />
Fällen, z.B. im Bereich eines fliegerischen<br />
Umfeldes, auch auseinandersetzen<br />
müssen, damit angemessene<br />
Schablonen gefunden werden können.<br />
<strong>Wahrnehmungs</strong>verzerrungen gehen<br />
weiter als das bisher Geschilderte.<br />
Sie sind in ihrer Wirkung potentiell<br />
sehr gefährlich, weil sie kaum noch<br />
mit Realität vereinbar sind. <strong>Wahrnehmungs</strong>verzerrungen<br />
stellen sich<br />
beim gesunden Menschen regelmäßig<br />
ein, wenn sehr starke Grundemotionen<br />
vorherrschen und diese in einen<br />
Handlungsablauf mit hinübergenommen<br />
werden. Dabei spielt das Vorzeichen<br />
dieser Emotionen unter dem<br />
Aspekt Wahrnehmung, ob sie nun<br />
sehr positiv oder sehr negativ sind,<br />
qualitativ keine gravierende Rolle.<br />
Nehmen wir z.B. einen LFF. Während<br />
der überzogen positiv Eingestellte<br />
keinerlei Zweifel an der Vollkommenheit<br />
der eigenen Leistung hegt und<br />
auch nicht aufkommen lässt, dabei<br />
das Umfeld als optimalen Rahmen für<br />
sein Vorhaben identifiziert und ein<br />
grenzwertig geflogenes Manöver nach<br />
dem anderen fliegt, mit der Tendenz,<br />
die Leistungsdaten jenseits der Limits<br />
zu testen, wird der sehr stark negativ<br />
Eingestellte aus jeder Mücke einen<br />
Elefanten machen und dabei zu nicht<br />
angemessenen Entschlüssen kommen,<br />
die bis hin zur Angst vor der eigenen<br />
Courage führen können, z.B. der<br />
Angst davor, ein Notverfahren richtig<br />
anzuwenden.<br />
In allen Fällen ist <strong>Wahrnehmungs</strong>verzerrung,<br />
wenn diese durch starke<br />
Gefühle hervorgebracht wird, mit<br />
Flugbetrieb nicht vereinbar. Sie verhindert<br />
angemessene Wahrnehmung<br />
und so das frühzeitige Erkennen von<br />
Grenzen – sie tötet uns potentiell.<br />
<strong>Wahrnehmungs</strong>fixierung<br />
Fixierung ist eine Folge von Faszina-<br />
tion. Faszination stellt sich ein, wenn<br />
der wahrgenommene Informationsgehalt<br />
einer Nachricht so bedeutungsvoll<br />
ist, dass sich jegliche Aufmerksamkeit<br />
auf nur einen Punkt, auf<br />
nur eine Information richtet, um jede<br />
Weiterentwicklung des Beobachteten<br />
zeitgleich verfolgen zu können.<br />
Die Evolution hat uns mit dem<br />
Phänomen der Fixierung ausgestattet,<br />
um bedrohliche Situationen überstehen<br />
zu können. Wurde z.B. ein in der<br />
Nähe befindliches Raubtier fixiert, war<br />
in dieser Situation nicht anderes mehr<br />
wichtig. Raum und Zeit verloren an<br />
Bedeutung, es galt nur das Jetzt zu<br />
überstehen.<br />
Diese uns innewohnende Überlebensstrategie<br />
passt nur sehr selten in<br />
die moderne Zeit. Insbesondere dann,<br />
wenn wir Mittelpunkt eines Systems<br />
sind, das uns, weil etwas unvorhergesehenes,<br />
bedrohliches wahrgenommen<br />
wird, unmerklich veranlasst,<br />
einen Punkt, ein Instrument, eine Informationsquelle<br />
zu fixieren und sich<br />
dieses System zusätzlich mit relativ<br />
hoher Geschwindigkeit weiter bewegt,<br />
die Rahmenbedingungen des<br />
Umfeldes also ständig verändert werden.<br />
Fixierung bindet fast alle Ressourcen<br />
und reduziert alle anderen Fähigkeiten<br />
und Fertigkeiten. Fixierung reduziert<br />
die Wahrnehmung des Ganzen<br />
und reduziert unsere Fähigkeit,<br />
den Gesamtrisiken angemessen begegnen<br />
zu können.<br />
Jemanden aus einer Fixierung herauszuholen,<br />
der sich nicht selber lösen<br />
kann, ist unglaublich schwierig, weil<br />
kaum Zugang zu ihm zu finden ist und<br />
der Betroffene einer völligen Desorientierung<br />
unterliegen kann, wenn<br />
er versucht, mental und emotional<br />
wieder zum Geschehen aufzuschließen.<br />
Deshalb gilt es auch hier, Kontrolle<br />
auszuüben. <strong>Das</strong> geschieht am besten,<br />
wenn jegliche Art von Faszination<br />
mitgeteilt wird, um, in der Auseinandersetzung<br />
mit anderen, weitere<br />
Einengungen zu vermeiden und weiterhin<br />
am Gesamtgeschehen agieren<br />
zu können. Gibt es niemanden, mit<br />
dem ich mich austauschen kann, dann<br />
gilt um so mehr, das mögliche Problem<br />
einer Fixierung mit ihren Wirkungen<br />
zu kennen und durch<br />
Selbstinstruktion 23 den Weg aus diesem<br />
Bann zu finden.<br />
In diesem Zusammenhang stellt sich<br />
eine interessante Frage: Was ist noch<br />
normales „scanning” und ab wann<br />
beginnt „Fixierung”? Im nächsten<br />
Abschnitt soll der Versuch einer<br />
annähernden Abgrenzung vorgenommen<br />
werden.<br />
<strong>Das</strong> <strong>Wahrnehmungs</strong>intervall<br />
Unsere Sinne nehmen Reize auf,<br />
indem sie Differenzmessungen / Kontrastmessungen<br />
durchführen. Bleiben<br />
Kontraste aus, wird nichts weitergeleitet<br />
und daher auch nicht wahrgenommen.<br />
24 Jeder gemessene Reiz<br />
schwingt am Ort der Messung für eine<br />
bestimmte Zeit nach. Die Zeiten liegen<br />
zwischen einem visuellen Reiz von ca.<br />
0,25 sec, bis zu 3 sec beim akustischen<br />
Reiz. Hier wird bereits nach Bedeutungskriterien<br />
vorgefiltert. Für die<br />
meisten Reize gilt die unbewusste<br />
Wahrnehmung. Diese Einzelheiten sollen<br />
nicht weiter vertieft werden.<br />
Es bleibt die Frage, ob dieses<br />
Verweilen am Geschehen auch für<br />
unser Bewusstsein gilt.<br />
Um es kurz zu machen, sie ist mit Ja<br />
zu beantworten. Auch unser Bewusst-<br />
18 I/2002 FLUGSICHERHEIT
sein verharrt in der Situation und<br />
erlebt dabei Gegenwart.<br />
In der Bewusstseinsgegenwart, in<br />
der wir unsere Umwelt erfassen und<br />
bewerten, bestimmen wir die Lebensqualität.<br />
Die Bewusstseinsgegenwart<br />
findet in 2 - 3-Sekundenpäckchen<br />
statt. Wir kennen diese Zeitabschnitte<br />
aus dem täglichen Leben wie z. B.:<br />
- der feste Blick in die Augen des<br />
anderen beim ersten Kennenlernen,<br />
- das Verharren in der Bewegung<br />
bei einer unglaublichen Nachricht,<br />
- das labende Gefühl beim ersten<br />
tiefen Schluck,<br />
- der erste Blick auf ein schönes<br />
Geschenk,<br />
- das Innehalten, unmittelbar bevor<br />
man die letzte richtige Zahl im<br />
Lotto gehört hat (kennt vielleicht<br />
noch nicht jeder).<br />
Beleg für diesen individuellen<br />
Zeitabschnitt, in dem wir Sinneseindrücke<br />
zusammenhängend erfassen<br />
können, ist der Wandel des Kippmodells<br />
25 (Neckerscher Würfel).<br />
Für uns ist es von Bedeutung, in<br />
beanspruchenden Situationen Informationen<br />
möglichst ohne Zeitverlust<br />
ins Bewusstsein des anderen einzufügen.<br />
Deshalb sollten Informationen<br />
korrekt, präzise und in 2-Sekundenpäckchen<br />
übermittelt werden.<br />
<strong>Das</strong> funktioniert nicht von selbst, sondern<br />
nur nach einem entsprechenden<br />
Training. Nähere Ausführungen dazu<br />
im Rahmen der Themen Kommunikation<br />
und Stress.<br />
Die Betrachtung des <strong>Wahrnehmungs</strong>intervalls<br />
gibt einen Hinweis<br />
darauf, wie sich der Übergang von<br />
Wahrnehmung zur Fixierung zeigt.<br />
Verweilen wir länger als die erforderliche<br />
Zeit, um Sinneseindrücke<br />
einmal zusammenhängend erfassen<br />
zu können (2-3 Sekunden),<br />
besteht die Gefahr der Fixierung<br />
mit all den negativen und gefährlichen<br />
Erscheinungen, die oben beschrieben<br />
worden sind. Daraus lassen sich<br />
Verhaltensstrategien ableiten.<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
Zusammenfassung<br />
Ohne Wahrnehmung ist kein bewusstes<br />
Leben möglich. Wahrnehmung<br />
ermöglicht es uns, auf alle<br />
Anforderungen des täglichen Lebens<br />
angemessen zu reagieren. Dennoch<br />
kann uns Wahrnehmung in die Irre<br />
führen, weil uns die Evolution nicht<br />
primär für ein Überleben in einer<br />
modernen, hoch technisierten Umwelt<br />
geformt hat.<br />
Kennen wir jedoch die wichtigsten<br />
Grenzen und Falltüren menschlicher<br />
Wahrnehmung, sind wir sehr wohl in<br />
der Lage, Grenzen frühzeitig zu erkennen<br />
und auf die Anforderungen des<br />
modernen Lebens angemessen zu reagieren.<br />
<br />
1 Zeitlich-, räumlich- selbstbezogene Orientiertheit<br />
2 Exzerpt aus: Guski, Rainer Wahrnehmen – ein<br />
Lehrbuch / W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart<br />
1996<br />
3 Div. Definitionen und Abgrenzungen aus der<br />
Fachliteratur.<br />
4 Krech/Crutchfield, Grundlagen der Psychologie,<br />
Beltz-Verlag<br />
5 Gadenne, Volker, Bewusstsein, Kognition und<br />
Gehirn / Verlag Hans Huber, Bern 1996<br />
6 <strong>Das</strong> limbische System wird auch als emotionaler<br />
Filter bezeichnet. Es verarbeitet Reize aus dem<br />
Körperinneren und solche von außen und bildet<br />
daher das Verbindungselement zwischen dem<br />
Bewussten und dem Unbewussten.<br />
7 Die ersten systematischen Experimente zur<br />
Wirkung eines solchen Reizentzuges (sensorischer<br />
Deprivation) führte ein Forschungsteam unter<br />
Leitung des kanadischen Psychologen Donald O.<br />
Hebb 1951 – 1954 durch.<br />
8 U.a. nach Legewie, Heiner und Ehlers,<br />
Wolfram: Handbuch moderne Psychologie /<br />
Bechtermünz Verlag.<br />
9 auch im täglichen Leben können diese<br />
Phänomene, meist in abgeschwächter Form,<br />
beobachtet werden, wenn Menschen extremer<br />
Reizarmut und Monotonie ausgesetzt sind, wie<br />
z.B. beim Liegen in einem großen Gipsverband,<br />
Nachtfahrten auf schwach befahrener Autobahn,<br />
Höhen- und Weltraumflüge, in Kontrollräumen<br />
der automatisierten Industrie, Grubenunglücke.<br />
Aber auch Überführungsflüge, späte Nachtflüge<br />
überland, TWR-Personal zwischen den Phasen<br />
Start und Landung.<br />
10 Siehe auch: „Menschliche Kapazitäten –<br />
Aktivation”<br />
11 „binary digits” dienen, wie in der Informatik, der<br />
Angabe von Speicher- und<br />
Informationsverarbeitungskapazitäten<br />
12 siehe auch: „Aufmerksamkeit”<br />
13 Gadenne, Volker, s.o.<br />
14 Natürlich mussten diese Automatismen in einem<br />
früheren Stadium erlernt und trainiert worden<br />
sein, bevor sie automatisiert und ohne spürbaren<br />
Ressourcenverbrauch aktiviert werden können.<br />
15 Perrig, Walter J. ...: Unbewusste<br />
Informationsverarbeitung / Verlag Hans Huber,<br />
Bern 1993<br />
16 Dörner, Dietrich: Die Logik des Misslingens /<br />
Rowohlt Verlag, Reinbeck 1992.<br />
17 Polany: Implizites Wissen 1985<br />
18 Die körperlichen Reaktionen sind mit denen einer<br />
hohen Aktivation vergleichbar; siehe dazu:<br />
„menschliche Kapazitäten – Aktivation”.<br />
19 Im Rahmen von CRM-Seminare/ -Trainings wurde<br />
von einigen Teilnehmern immer wieder das<br />
Argument vorgetragen, dass nur der bewusste<br />
Verstand zähle, Emotionen und Körperreaktionen<br />
seien hinderlich und unnütz.<br />
20 Perrig, Walter J. ...:s.o.<br />
21 Siehe auch: „Entscheidungsfindung – Rubikon”.<br />
22 <strong>Das</strong> mentale Modell eines Menschen umfasst folgende<br />
Wissensbereiche: fünf sinnspezifische,<br />
räumliche, prozedurale und konzeptuelle<br />
Wissensformen, die zusammen ein Bild von der<br />
umgebenden Umwelt projizieren.<br />
23 Auch wenn es seltsam erscheinen mag, hier ist<br />
das Selbstgespräch eine gute Methode, der drohenden<br />
Gefahr zu entrinnen. Natürlich braucht es<br />
auch hier wieder bekannte Grenzen, die, wenn<br />
ich sie überschreite, einen „mentalen Schalter”<br />
bewegen, der die Selbstinstruktion auslöst und<br />
eine systematische Erfassung des Gesamten wiederherstellt.<br />
24 Siehe auch: „Menschliche Kapazitäten –<br />
Aktivation”.<br />
25 Bei entspannter Betrachtung kippt die<br />
Wahrnehmung der vorderen Fläche.<br />
19
Aufmerksamkeit 1<br />
Grundlagen<br />
Wer kennt das nicht? Eine Person<br />
betritt einen Raum in einem Gebäude<br />
und kommt wieder heraus. Auf die<br />
Frage, „Was hast du alles in dem<br />
Raum, aus dem du gerade herausgekommen<br />
bist, gesehen?” antwortet<br />
sie: „Der von mir Gesuchte war nicht<br />
da. Was sonst noch los war, habe ich<br />
nicht gesehen!”<br />
Bei dem betreffenden Raum handelt<br />
es sich um den Restaurantteil<br />
einer Gaststätte zur Mittagszeit, voller<br />
Aktivitäten, Gerüchen und Geräuschen,<br />
und dennoch war die beschriebene<br />
Person nicht in der Lage, Einzelheiten<br />
wiederzugeben, die dort durchaus<br />
hätten wahrgenommen werden<br />
können.<br />
Eine andere Person antwortet auf<br />
der Grundlage des gleichen Szenarios<br />
vielleicht: „Eigentlich hätte ich dort<br />
etwas essen wollen, aber nachdem ich<br />
die ungepflegte Gestalt an der Theke<br />
gesehen hatte, war mir der Appetit<br />
vergangen. Wer hinter der Theke<br />
stand, wer dort bediente und ob alle<br />
Tische belegt waren, kann ich nicht<br />
sagen. Darauf habe ich nicht geachtet.”<br />
Dann, nach einer kurzen Pause:<br />
„Die Ausgangstür geht aber nach<br />
innen auf.”<br />
Was ist hier geschehen? Warum<br />
konnten so einfach klingende Fragen<br />
zur Wahrnehmung nicht beantwortet<br />
werden? An anderer Stelle 2 wurde<br />
doch u.a. davon gesprochen, dass der<br />
Mensch in der Lage sei,<br />
in komplexen und großen Datenmengen<br />
sehr schnell logische<br />
Zusammenhänge zu erkennen<br />
und belangloses „Rauschen” zu<br />
filtern,<br />
sein Gedächtnis, ausgerichtet auf<br />
zusammenhängende Datenpakete,<br />
zu gliedern,<br />
verschiedenste Sinneseindrücke<br />
frei miteinander zu verknüpfen.<br />
Wir werden auf diesen scheinbaren<br />
Widerspruch zurück kommen.<br />
Der physiologische Teilaspekt einer<br />
Wahrnehmung könnte detailliert beschrieben<br />
werden, da blieben keine<br />
Fragen offen. Anders, wie wir wissen,<br />
der Vorgang einer Wahrnehmung insgesamt.<br />
Dieser kann plakativ durchaus auch<br />
mit einer Fernsehübertragung verglichen<br />
werden, bei der ebenso der technische<br />
Teilaspekt der Entstehung des<br />
Bildes bis hin zur Mattscheibe auf dem<br />
Empfangsgerät verfolgt und erklärt<br />
werden könnte. Andere, nicht minder<br />
wichtige Informationen jedoch, blieben<br />
im Verborgenen. Wie z.B. die<br />
Beantwortung der Fragen, um im Bild<br />
einer Fernsehübertragung zu bleiben:<br />
Wer war der Programmdirektor,<br />
20 I/2002 FLUGSICHERHEIT
wer der Regisseur, wer der Kameramann?<br />
Wer hat demnach die Szene ausgewählt,<br />
die Beleuchtung geregelt<br />
und für die Scharfeinstellung<br />
gesorgt?<br />
Allgemein ausgedrückt: Wodurch<br />
wird bestimmt, was aus der Flut der<br />
Umweltreize für die bewusste Informationsverarbeitung<br />
ausgewählt wird,<br />
um sich im jeweiligen Umfeld zurecht<br />
zu finden?<br />
Die folgenden Ausführungen sollen<br />
Hintergründe aufhellen und sich der<br />
Beantwortung der Frage nähern,<br />
warum wir alle manchmal sehr aufmerksam<br />
sind und warum wir es<br />
manchmal nicht sind, obwohl die<br />
Ereignisse dies objektiv notwendig<br />
machen, um überhaupt erst in die<br />
Lage versetzt zu werden, Grenzen<br />
anerkennen zu können.<br />
Warum nutzen wir nicht immer<br />
unsere Kapazitäten angemessen,<br />
sachorientiert und zielgerichtet,<br />
sonder vergeuden dieses wertvolle<br />
Gut bisweilen zur falschen Zeit für<br />
Belanglosigkeiten?<br />
Dazu nun einige grundlegende<br />
Feststellungen.<br />
Aufmerksamkeit und<br />
Kapazitäten<br />
Es stellt sich die Frage, ob Aufmerksamkeit<br />
einen Denk- und Problemlösungsprozess<br />
darstellt, oder, ob sie<br />
etwas anderes ist. Wir kennen die<br />
Ausrufe „gib Acht!”, oder „konzentrier<br />
dich!” Was ist damit<br />
eigentlich gemeint?<br />
Umgangssprachlich bedeuten<br />
diese Ausrufe:<br />
tue das, was jetzt nötig ist,<br />
bleibe bei der Sache,<br />
erkenne Abweichungen,<br />
priorisiere,<br />
denke logisch,<br />
handele nach Konzept, usw.<br />
Es könnte der Eindruck entstehen,<br />
dass Aufmerksamkeit eine<br />
Ressource menschlicher Kapazitäten<br />
an sich sei. Dem ist jedoch<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
nicht so, denn Aufmerksamkeit „verwaltet”<br />
lediglich Ressourcen und<br />
weist dem <strong>Wahrnehmungs</strong>geschehen<br />
Kapazitäten zu.<br />
Aufmerksamkeit kann jedoch nur jene<br />
Kapazitäten bzw. Ressourcen verwalten<br />
und zuweisen, die verfügbar sind.<br />
Insofern ist es unsinnig, jemand<br />
aufzufordern, sich zu konzentrieren 3 ,<br />
wenn die Kapazitäten 4 des zu mehr<br />
Konzentration Aufgeforderten, für<br />
eine umfassendere, angemessene<br />
<strong>Wahrnehmungs</strong>dichte nicht mehr hinreichen.<br />
Wenn es denn so ist, das es sich bei<br />
der Verteilung von Aufmerksamkeit<br />
um einen quasi willentlichen Vorgang<br />
handelt, bei dem der Einzelne „irgendwie”<br />
entscheidet, was er in den Fokus<br />
seines Bewusstseins rückt, bleibt es<br />
zunächst unverständlich, dass eine<br />
sachgerechte Priorisierung nicht immer<br />
vorgenommen zu werden scheint und<br />
wichtige, elementare Informationen,<br />
die durchaus Grenzen objektiv und<br />
deutlich aufzeigen, zu spät oder gar<br />
nicht beachtet werden. Auch dafür<br />
gibt es Erklärungen, die einige der<br />
Geheimnisse um Aufmerksamkeit und<br />
deren Zuteilung lüften können.<br />
Wir wollen den Versuch unternehmen,<br />
diese Erklärungen zu finden und<br />
plausibel in Szene zu setzen. Es geht<br />
jedoch nicht ganz ohne Abgrenzungen<br />
und Definitionen.<br />
Definitionen<br />
Aufmerksamkeit ist kein Denk- und<br />
Problemlösungsprozess, gleichwohl ist<br />
sie Voraussetzung dafür und somit<br />
wesentlicher Teilaspekt des Denkens.<br />
Gleichzeitig ist sie unabdingbar für die<br />
meisten Vorgänge, die auf<br />
Gedächtnisinhalte zurückgreifen, wie:<br />
allen Informationsverarbeitungsprozessen,<br />
der Wahrnehmung,<br />
der Nutzung des Gedächtnisses,<br />
der Vorstellungskraft,<br />
der Sprache, usw.<br />
Aufmerksamkeit hat eine aktive<br />
und eine passive Seite und stellt sich<br />
nach einer entsprechenden „Voraktivierung”<br />
ein. Diese Aspekte werden<br />
weiter unten ausführlich dargestellt.<br />
Aufmerksamkeit kann nach Bedarf<br />
flexibel eingesetzt werden und kann<br />
zur subjektiv empfundenen gleichzeitigen<br />
Bearbeitung mehrerer Aufgabenstellungen<br />
herangezogen werden.<br />
Dennoch müssen die Kapazitäten,<br />
wie bereits erwähnt, für die Aufgabenstellung<br />
ausreichen, sonst kommt<br />
es zu Leistungseinbußen. Damit ist<br />
gemeint, dass genügend Ressourcen<br />
bzw. Kapazitäten in ausreichender<br />
Qualität bereitstehen müssen, damit<br />
die Aufmerksamkeit aus diese zurückgreifen<br />
kann.<br />
Aufmerksamkeit kann verschüttete<br />
Ressourcen nicht reaktivieren.<br />
Somit ist das Bereithalten<br />
von Ressourcen der wesentlichere<br />
Bestandteil bei der Diskussion um<br />
Aufmerksamkeit.<br />
Wer in der Aktivationskurve 5 sehr<br />
weit rechts angelangt ist, der wird seinen<br />
Aufmerksamkeitsfokus auf keine<br />
21
zusätzlichen Informationsquellen gewinnbringend<br />
richten können, er wird<br />
keiner angemessenen Interpretation<br />
mehr fähig sein, er wird zunehmend<br />
das berechtigte Gefühl haben, die<br />
Kontrolle zu verlieren – ein unangenehmes,<br />
stressförderndes Gefühl der<br />
erlebten Hilflosigkeit!<br />
Warum dringen Informationen, die<br />
ein Umfeld ständig auch oberhalb der<br />
messbaren Reizschwelle an den Rezeptoren<br />
der Sinne abliefert und<br />
davon insbesondere die wichtigste<br />
Information, nämlich Feedback 6 , nicht<br />
weiter vor? Wo gehen sie verloren,<br />
wenn sie doch da sind?<br />
Die Ein-Kanal-<br />
Hypothese<br />
Unser Organismus ist unter dem<br />
Aspekt sensorischer Sensibilität so ausgestattet,<br />
dass eine Vielzahl von<br />
Reizen registriert und weitergeleitet<br />
wird. Allein über das menschliche Ohr,<br />
seine Augen und Haut 7 können sensorisch<br />
insgesamt ca. 10 9 Bits/sec aufgenommen<br />
und weitergeleitet werden.<br />
Diese Vielzahl an Informationen<br />
könnte zu einer Vielzahl von Reaktionen<br />
führen. Es ist jedoch nicht sinnvoll,<br />
auf alle Inputs mit Reaktionen zu antworten,<br />
weil dies zu einem übersensiblen,<br />
andauernden Reiz-Reaktions-<br />
Muster des Verhaltens führen würde.<br />
<strong>Das</strong> mag für primitive Lebensformen<br />
überlebenswichtig sein, ein Mensch<br />
könnte so nicht Mensch sein.<br />
Dennoch werden alle Informationen,<br />
Reize bzw. Gegenreize 8 einer<br />
bestimmten Intensität im Bereich des<br />
Stammhirns aufgenommen 9 . Ein<br />
Mensch kann in seinem Bewusstsein<br />
nur einen Reiz nach dem anderen Reiz<br />
verarbeiten. Alle Reize müssen sich,<br />
bildlich gesprochen, in einer Reihe<br />
anstellen, um Beachtung zu finden.<br />
Zwar dauert eine „Zuwendung” des<br />
Bewusstseins zu einer einzelnen Information,<br />
unter Abzug aller Wegund<br />
Dämpfungszeiten, lediglich ca.<br />
0,1 sec. Dennoch ist diese an sich<br />
kurze Zeitspanne zu lang, um der Flut<br />
an Reizen Herr zu werden. Ein zweiter<br />
Reiz, der während der Verarbeitung<br />
des ersten Reizes auftritt, muss warten,<br />
bis der erste Reiz „verdaut” worden<br />
ist. In der Zwischenzeit hält sich<br />
der zweite Reiz in seinem Sensor<br />
bereit. Dauert es, zwischen Impulsbzw.<br />
Reizaufnahme und dem Abruf<br />
dieser Information durch das Bewusstsein,<br />
länger, als der Sensor in der<br />
Lage ist, den Reiz zwischenzuspeichern,<br />
ist dieser Reiz bzw. diese<br />
Information verloren.<br />
Die Menge an sensorischer<br />
Speicherkapazität wird Aufmerksamkeitsspannweite<br />
10 genannt und variiert<br />
je nach Sinnesorgan und Intensität<br />
der Zuwendung, liegt aber durchschnittlich<br />
in einem Bereich von<br />
7 (+/- 2) Einzelobjekten.<br />
Die Evolution hat uns mit einem<br />
<strong>Wahrnehmungs</strong>apparat ausgestattet,<br />
der mit einem „Flaschenhals” an bewusster<br />
Informationsverarbeitungskapazität<br />
ausgestattet wurde. <strong>Das</strong><br />
mag man bedauern, entspricht aber<br />
der Realität und deshalb ist es Unsinn,<br />
dagegen anarbeiten zu wollen. Wir<br />
haben uns damit zu arrangieren.<br />
Wenden wir uns den positiven<br />
Aspekten des „Flaschenhalses” zu,<br />
denn es gibt sie und diese positiven<br />
Aspekte machen uns zu dem, was wir<br />
sind – Menschen mit Bewusstsein und<br />
Plänen.<br />
Der Flaschenhals zwingt dazu,<br />
bewusst genau auszuwählen, was,<br />
wann, unter welchen<br />
Bedingungen in das Bewusstsein<br />
vordringen darf. Der Flaschenhals<br />
zwingt uns zur Priorisierung und so<br />
erreichen wir es im Prinzip, dass wir<br />
nur das tun, was jetzt wichtig ist und<br />
was deshalb wiederum die beste<br />
Voraussetzung für den nächsten<br />
Schritt sein kann. So werden wir in die<br />
Lage versetzt, unangemessene Ablenkungen<br />
auszublenden und konsequent<br />
„bei der Sache” zu bleiben.<br />
<strong>Das</strong> Ganze findet natürlich nicht<br />
isoliert, sondern in einem sich fortschreibenden<br />
Umfeld statt. <strong>Das</strong> heißt,<br />
dass der Flaschenhals einzelne<br />
Informationen in das Bewusstsein entlässt,<br />
die dort eine vorhandene Vorstellung<br />
über die Wirklichkeit ergänzen<br />
und fortschreiben.<br />
Diese Information trifft also auf<br />
mehr oder weniger erwartete Informationen.<br />
Sofern beide in akzeptablen<br />
Grenzen übereinstimmen, das Feedback<br />
des Umfeldes also den Erwartungen<br />
weitestgehend entspricht, kann<br />
nun gemäß Planung weiter verfahren<br />
werden. Allenfalls werden kleinere<br />
Korrekturen erforderlich, aus denen<br />
heraus sich wiederum ein neues<br />
Erwartungsspektrum entwickelt.<br />
Wir bestimmen also durch ganz<br />
persönliche Entscheidung, was<br />
unser Bewusstsein erreicht und<br />
was nicht. Hier liegt das eigentliche<br />
Problem. Wollen wir die weiter oben<br />
erwähnten und eingeklagten unersetzbaren<br />
menschlichen Fähigkeiten<br />
optimal, oder vielleicht besser gesagt,<br />
22 I/2002 FLUGSICHERHEIT
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
menschengerecht nutzen, müssen die<br />
der jeweiligen Situation angemessenen<br />
„Zugangspforten” geöffnet werden,<br />
bevor die Signale der bedrohlichen<br />
Situation einer<br />
Grenzüberschreitung so stark werden,<br />
dass eine Kontrolle kaum noch möglich<br />
ist. <strong>Das</strong> heißt, dass ich mir im klaren<br />
darüber sein muss, was mich<br />
erwarten kann und wie ich darauf zu<br />
reagieren gedenke.<br />
Dabei bedarf es natürlich auch<br />
noch einer zusätzlichen Bewertung<br />
der zu erwartenden Risiken hinsichtlich<br />
ihres Bedrohungsgehaltes, um<br />
auch hier die bedrohlichsten Risiken<br />
zuerst erkennen zu können, bzw. ein<br />
bedrohlicheres Risiko in den Vordergrund<br />
meines Bewusstseins tritt,<br />
sobald es im Raume steht. Es sind also<br />
nicht nur Zugangspforten in inhaltlicher<br />
Sicht, sondern auch noch unter<br />
hierarchischen Gesichtspunkten zu<br />
öffnen.<br />
Aufmerksamkeit ist demnach<br />
niemals umfassend, sondern<br />
immer selektiv – wir sind unser<br />
eigener Regisseur und bestimmen<br />
das Szenario unserer Wahrnehmung<br />
durch die Steuerung<br />
unserer Aufmerksamkeit.<br />
<strong>Das</strong> hört sich alles sehr kompliziert<br />
an, jeder von uns praktiziert dies<br />
jedoch zu jedem Zeitpunkt seines<br />
Verhaltens – leider nicht immer den<br />
Herausforderungen einer Situation<br />
angemessen. Da liegt die eigentliche<br />
Problematik.<br />
Im Folgenden soll, neben den<br />
Fragen, durch was kommt es eigentlich<br />
zu der, gemäß obiger Grafik, wundersamen<br />
Vermehrung an Informationsgehalt<br />
von ≤ 10 2 Bits/sec im<br />
Flaschenhals zu 10 7 Bits/sec, die wir<br />
über Sprache, allgemeine Motorik und<br />
Mimik 11 wieder an unsere Umwelt<br />
abgeben und über welche „kleinen<br />
Helfer in der Not” wir noch verfügen,<br />
weiter nachgegangen werden.<br />
Zunächst zu der Frage, was steuert<br />
unseren Aufmerksamkeitsfokus generell,<br />
ohne unser Zutun, also eher unbewusst?<br />
Aufmerksamkeitssteuerung<br />
Vier Größen 12 nehmen auf den<br />
Kontroll- und Verteilungsprozess der<br />
Aufmerksamkeitskapazität direkten<br />
Einfluss:<br />
Die subjektiv empfundene<br />
Anstrengung.<br />
Je höher die Ablehnung entwickelt<br />
ist, eine bestimmte Handlung<br />
auszuführen, desto schwerer<br />
wird es empfunden, dagegen<br />
anzuarbeiten. Hier im Konkreten,<br />
Aufmerksamkeit für etwas zu<br />
verwenden, was einem unwichtig,<br />
oder abwegig, aber auch<br />
nicht wünschenswert erscheint.<br />
Die noch vorhandene Kapazität.<br />
Aufmerksamkeit bedient sich<br />
einer Verteilungsinstanz der Kontrolle<br />
und flexiblen Verteilung der<br />
Ressourcen. Jedoch nur jener Ressourcen,<br />
die (noch) vorhanden<br />
sind<br />
Überdauernde Einstellungen.<br />
Schnellbewertungen, die nicht<br />
durch systematische Analyse,<br />
sondern über die individuelle Einstellungen<br />
und deshalb prinzipiell<br />
vorgenommen werden, führen<br />
zu einer sehr auswählenden,<br />
Abweichendes ignorierenden<br />
Aufmerksamkeitszuwendung.<br />
Dabei kann leichtfertig wichtiges<br />
Feedback ignoriert werden.<br />
Momentane Ziele.<br />
Objekte und Vorgänge im weiteren<br />
Sinne, die der eigenen Zielerreichung<br />
dienen, werden vorrangig<br />
mit Aufmerksamkeit bedacht.<br />
Dabei kann es zu einem<br />
Zielkonflikt kommen, bei dem<br />
eine mögliche Fernwirkung, z.B.<br />
„wie sage ich es meinem Vorgesetzten?”<br />
wichtiger wird, als die<br />
Beantwortung der Frage: „was ist<br />
sachlich jetzt notwendig?”.<br />
Damit wird die einmal aktivierbare<br />
Ressource „Analysefähigkeit”<br />
für Inhalte verbraucht, die in der<br />
momentanen, vielleicht lebensbedrohenden,<br />
Situation vermutlich<br />
relativ unwichtig sind.<br />
Aus dieser Aufstellung wird deutlich,<br />
dass auch die Aufmerksamkeit,<br />
gerade weil sie in der Lage ist, in groben<br />
Kategorien die Hinwendung einer<br />
Person zu einem Problemfeld zu<br />
beeinflussen, in der Lage ist, das Überleben<br />
unter komplexen Bedingungen<br />
zu ermöglichen.<br />
In Situationen realer Bedrohung,<br />
aber auch potentieller Gefährdung,<br />
kommt es jedoch darauf an,<br />
sich nicht treiben zu lassen,<br />
sich nicht momentanen Bedürfnissen<br />
uneingeschränkt hinzugeben,<br />
nicht Vorurteile zu pflegen, oder<br />
nicht einer unangemessenen<br />
„Normentreue” 13 verhaftet zu<br />
sein.<br />
Es kommt also darauf an, Aufmerksamkeit<br />
dorthin zu steuern, wo der<br />
Brennpunkt des uns Grenzen aufzeigenden<br />
Geschehens liegt. <strong>Das</strong> kann,<br />
wie bereits erwähnt, unbewusst und<br />
auch bewusst geschehen.<br />
Unbewusste<br />
Aufmerksamkeit<br />
Der wesentlich größere Teil der<br />
Aufmerksamkeitsdiskussion müsste<br />
der unbewussten Aufmerksamkeit<br />
gewidmet werden, wenn die Menge<br />
an Aufmerksamkeitsvorgängen der<br />
Maßstab wäre.<br />
Alle verhaltensbezogenen Automatismen<br />
werden durch unbewusste<br />
Aufmerksamkeit kontrolliert und ausgelöst.<br />
Unser waches Bewusstsein<br />
könnte die Datenflut nicht verwalten,<br />
ohne hoffnungslos ins Hintertreffen zu<br />
geraten. Insofern ist unbewusste Aufmerksamkeit<br />
unabdingbar für die<br />
Ausführung komplexer Handlungen.<br />
Sie funktioniert, vereinfacht ausgedrückt,<br />
indem Soll-Ist-Vergleiche unterhalb<br />
der Ebene wacher Bewusstheit<br />
stattfinden. <strong>Das</strong> muss erklärt werden.<br />
Aus Erfahrungen ehemaliger Lernprozesse<br />
wurden Umrissschablonen<br />
des substantiellen Gehalts des Gelern-<br />
23
ten abgelegt 14 . Diese Schablonen liegen<br />
nicht nur im Langzeitspeicher<br />
unseres Gehirns, sondern auch im<br />
Nahbereich jener Stellen, die mit der<br />
Reizaufnahme während des Lernprozesses<br />
befasst waren 15 .<br />
Diesem Phänomen ist es zu verdanken,<br />
dass wir z.B. unser Lfz auch ohne<br />
Beleuchtung anlassen oder abstellen<br />
könnten, weil der jeweils nächste<br />
Schritt, die nächste Tätigkeit eines<br />
Handlungsabschnitts, räumlich und<br />
inhaltlich durch Motorik erinnert wird.<br />
Ist vielleicht im Rahmen der Modifizierung<br />
einer Cockpitauslegung ein<br />
Schalter umgesetzt worden, wird der<br />
Arbeitsfluss unterbrochen. Der Soll-Ist-<br />
Vergleich zwischen der unbewusst<br />
erwarteten Position des betreffenden<br />
Schalters und der realen Auslegung an<br />
der entsprechenden Stelle, stoppt den<br />
flüssigen Ablauf aller Handgriffe.<br />
Automatisch wird aus unbewusster<br />
Aufmerksamkeit, bewusste Aufmerksamkeit<br />
und wir lenken den Fokus<br />
unserer Wahrnehmung auf die betreffende<br />
Stelle.<br />
Auch und gerade unbewusste Aufmerksamkeit<br />
überwacht Grenzen und<br />
„weckt” uns bei Bedarf. Erst dann,<br />
wenn das Bewusstsein eingeschaltet<br />
wurde, spüren wir, dass Ressourcen<br />
verbraucht werden, weil die Aufmerksamkeit<br />
jetzt Wahrnehmung und<br />
Analyse von anderen Bereichen abzieht<br />
und an die betreffende Stelle<br />
lenkt. Unbewusste Aufmerksamkeit<br />
verbraucht subjektiv keine Ressourcen<br />
16 und läuft, solange man körperlich<br />
und geistig fitt ist, gleichsam unmerklich<br />
ab. Der Grund für dieses<br />
System der Aufmerksamkeitszuwendung<br />
liegt darin, dass ein <strong>Wahrnehmungs</strong>prozess<br />
mit begrenzter<br />
Aufmerksamkeitsspanne für den<br />
Organismus nur dann von Nutzen sein<br />
kann, wenn er sich trotz alledem sehr<br />
flexibel an eine Vielzahl von Umweltbedingungen<br />
und Bedürfnissen<br />
anpassen kann. <strong>Das</strong> heißt, dass ein<br />
momentan ablaufender Bewusstseinsprozess,<br />
jederzeit bei Gefahr unterbrochen<br />
und durch einen neuen ersetzt<br />
werden können muss. Die Evolution<br />
hat uns damit ausgestattet, wenn<br />
auch nur nach dem Ein-Kanal-Modell.<br />
Damit sind unbewusste Reaktionen<br />
gemeint, wie z.B.:<br />
Die Blickwendung hin zu einem<br />
Lichtimpuls.<br />
Die Wendung der Augen in die<br />
linke oder rechte Hälfte des<br />
Gesichtfeldes nach Änderung der<br />
Geräuschkulisse.<br />
Die Hinwendung zu einem<br />
Luftzug.<br />
Die Unruhe bei bestimmten Gerüchen.<br />
Diese Vorgänge dienen der Orientierung<br />
und sind kaum kontrollierbar.<br />
Je nach Ausprägungsgrad und Intensität<br />
des jeweiligen Reizes, sind die<br />
Körperreaktionen entsprechend 17 .<br />
Diese tief verankerten Reaktionen<br />
beeinflussen die Aufmerksamkeitssteuerung<br />
und binden Ressourcen.<br />
Ein unbewusst ausgelöster motorischer<br />
Impuls kann nicht gestoppt<br />
werden.<br />
Unabhängig von diesen reflexartigen<br />
Reaktionen steht fest, dass, je<br />
mehr Schablonen für die Bewältigung<br />
eines bestimmten Handlungsabschnitts<br />
im Langzeitspeicher eingelagert<br />
sind, das heißt, je mehr gelernte<br />
Verhaltensmuster für eine Aufgabe zur<br />
Verfügung stehen, desto mehr Abschnitte<br />
automatisierten Verhaltens<br />
sind möglich und desto mehr Ressourcen<br />
können für das Unvorhergesehene<br />
geschont werden.<br />
<strong>Das</strong> funktioniert jedoch nur, wenn<br />
der Übungsstand ständig angemessen<br />
hoch ist, denn auch Konturen eingelagerter<br />
Schablonen, oder besser gesagt<br />
Konturen automatisierter Verhaltensmuster,<br />
verblassen mit der Zeit, verlängern<br />
dadurch Reaktionszeiten und verbrauchen<br />
Ressourcen für Handlungsabschnitte,<br />
die ehemals unmerklich<br />
abliefen. Der Betroffene bemerkt<br />
davon erst etwas, wie bereits angedeutet,<br />
in der akuten Situation, in der<br />
er entsprechend handeln müsste –<br />
wissen hätte er es vorher können,<br />
denn diese Erfahrung gehört zum täglichen<br />
Leben.<br />
Deshalb ist es prinzipiell problematisch,<br />
sich auf eine ehemals erbrachte<br />
Leistung zu verlassen –<br />
das kann trügerisch sein 18 .<br />
Doch nun zum zweiten Aspekt<br />
menschlicher Zuwendung, der umgangssprachlich<br />
auch gemeint ist,<br />
wenn über Aufmerksamkeit gesprochen<br />
wird..<br />
Bewusste<br />
Aufmerksamkeit<br />
Im Gegensatz zur unbewussten<br />
Aufmerksamkeit, die den weiten und<br />
wichtigen Komplex jeglichen automatisierten<br />
Verhaltens abdeckt, kann der<br />
bewusste Teil der Aufmerksamkeitssteuerung<br />
mit dem Vorgang der<br />
„Kontrolle” 19 treffend beschrieben<br />
werden.<br />
Die physiologische Voraussetzung<br />
für bewusste Aufmerksamkeit ist<br />
Aktivation. Wie bereits weiter oben<br />
beschrieben, entspricht die Stärke der<br />
Aktivation der Stärke des resultierenden<br />
Reizes, der aus dem Bereich des<br />
Stammhirns auf die Grußhirnrinde<br />
wirkt. Dadurch wird die Intensität der<br />
Verhaltensbereitschaft des Organismus<br />
bestimmt. In einem mittleren, optimalen<br />
Reizzustand sind wir alle auch zu<br />
einer uns eigenen, optimalen Form des<br />
Verhaltens imstande.<br />
Bewusste Aufmerksamkeit ist aufgrund<br />
der Ein-Kanal-Problematik<br />
immer selektiv, niemals umfassend.<br />
Deshalb kommt es darauf an, die richtigen<br />
menschlichen Kapazitäten an<br />
den jeweils akuten „Knackpunkten”<br />
anzusetzen, um keine Ressourcen für<br />
Unwichtiges zu vergeuden 20 .<br />
Dieser für uns sehr wichtige Vorgang<br />
der Aufmerksamkeitssteuerung<br />
wird sehr treffend mit „situativer<br />
Aufmerksamkeit” beschrieben. Dazu<br />
nun mehr.<br />
24 I/2002 FLUGSICHERHEIT
Situative<br />
Aufmerksamkeit (SA)<br />
Oft eingeklagt, manchmal verloren,<br />
zu oft Anlass für Kontrollverlust, ist SA<br />
die entscheidende Größe, um sich in<br />
dynamische, komplexen Situationen<br />
angemessen verhalten zu können.<br />
Obwohl so wichtig, ist SA etwas<br />
Nebulöses, kaum treffend Definierbares,<br />
was jedoch keinen Fluglehrer,<br />
auch nicht GenFlSichhBw, davon<br />
abhält, unter bestimmten Bedingungen<br />
einen Verlust von SA festzustellen<br />
und Bewertungen vorzunehmen.<br />
Deshalb soll hier der Versuch unternommen<br />
werden, SA zu definieren, zu<br />
erklären und abzugrenzen, um einen<br />
einheitlichen Sprachgebrauch zu ermöglichen.<br />
Definitionen<br />
Wie so oft, bietet die amerikanische<br />
Fachliteratur treffende Definitionen in<br />
verständlicher Form, die das Wesentliche<br />
markant herausstellen. Deshalb<br />
soll hier eine sehr kurze Definition vorgestellt<br />
werden, die darüber hinaus in<br />
visualisierter Form wiedergegeben<br />
wird.<br />
SA ist das Bewusstsein der Crew<br />
über die momentane Lage und deren<br />
weiterer Entwicklung 21 .<br />
Es muss noch ergänzt werden, dass<br />
zur umfassenden Lageeinschätzung<br />
und deren Entwicklung natürlich auch<br />
bewusst zu sein hat, durch welche<br />
Vorgänge die Crew in die Lage hinein<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
versetzt wurde. Genau das möchte<br />
obige Grafik darstellen.<br />
Nur wenn sich das wache Bewusstsein<br />
aus der Schnittmenge<br />
dessen was war, mit dem was ist<br />
und dem was sein wird, zusammensetzt,<br />
kann von einer angemessenen<br />
SA gesprochen werden.<br />
Doch nun zu der Frage, auf was<br />
sich eigentlich SA einer Lfz-Besatzung<br />
bezieht?<br />
Abgrenzung<br />
Auch in Anlehnung an Tony Kern 22 ,<br />
soll der Versuch einer Abgrenzung vorgenommen<br />
werden. Er beschreibt SA<br />
als Voraussetzung für angemessene<br />
Beurteilungen (judgement) und unterteilt<br />
SA in fünf Kategorien:<br />
1. know yourself<br />
Kenne und beherrsche Deine<br />
psychophysiologischen Grenzen!<br />
Bringe Dich nur in Situationen,<br />
von denen Du ganz genau<br />
weißt, welche Möglichkeiten und<br />
Ressourcen Du persönlich hast,<br />
um wieder ´rauszukommen!<br />
Sei selbstkritisch ohne ängstlich<br />
zu sein!<br />
2. know your aircraft<br />
Kenne und beherrsche Dein Lfz<br />
in allen von Dir beherrschbaren<br />
Situationen!<br />
Habe Vertrauen in die Leistungsdaten,<br />
betrachte sie aber auch<br />
als Grenzen, die ohne Not nicht<br />
überschritten werden dürfen!<br />
3. know your crew<br />
Kenne die Leistungsfähigkeit<br />
Deiner Crew und setze sie situationsgerecht<br />
ein!<br />
4. know your environment<br />
Kenne und akzeptiere die Möglichkeiten,<br />
Besonderheiten und<br />
Grenzen Deines Umfeldes!<br />
5. know your risk<br />
Kenne vor Antritt eines Fluges<br />
alle Risiken Deines Einsatzes<br />
genau und sei Dir im klaren darüber,<br />
ob Du über die Ressourcen<br />
verfügst, die Risiken zu kontrollieren!<br />
Überwache den Fortgang der<br />
Ereignisse hinsichtlich neuer, bisher<br />
nicht bedachter Risiken und<br />
bewerte sie in jeder Hinsicht!<br />
Diese Kategorisierung ist umfassend<br />
und scheint selbstredend. Es entsteht<br />
der Eindruck, dass man das<br />
natürlich „schon immer wusste”. Der<br />
Umgang damit ist jedoch nicht ohne<br />
weiteres möglich. Vor allem drängt<br />
sich dieser Rückschluss auf, wenn man<br />
die bisherigen Passagen aufmerksam<br />
gelesen hat. Und dennoch ist es möglich,<br />
unter den gegebenen Bedingungen<br />
situative Aufmerksamkeit angemessen<br />
einzusetzen; wir brauchen<br />
dafür allerdings die Dienste einiger<br />
kleiner Helfer.<br />
Wir können uns der Lösung dieses<br />
Problems nähern, wenn wir uns<br />
erneut prinzipiell über Reaktionszeiten<br />
unterhalten 23 .<br />
Priming<br />
Unsere gesamten gespeicherten<br />
Erfahrungen weisen in unserem Gedächtnis<br />
prinzipiell einen relativ geringen<br />
Aktivierungsgrad auf. Demnach<br />
ist es nicht permanente menschliche<br />
Kapazität, Aufmerksamkeit schnell<br />
und zielgenau auf die Aspekte der<br />
aktuellen Ereignisse zu lenken. Obwohl<br />
Gedächtnis und Aufmerksamkeit<br />
ständig in enger Beziehung stehen,<br />
bestimmt die dritte Größe, das Niveau<br />
an Aktiviertheit, die Qualität des Zusammenwirkens<br />
von Gedächnis und<br />
Aufmerksamkeit. Der Grad an Aktiviertheit<br />
ist also eine Voraussetzung<br />
dafür, wie schnell und wie zielgenau<br />
die Hinwendung der Aufmerksamkeit<br />
auf einen bestimmten Sachverhalt<br />
erfolgen kann. Findet der Vorgang des<br />
Erkennen, Bewerten und Umsetzen<br />
von Informationen in Handlung im<br />
ungünstigsten Fall in einer Phase niedriger<br />
Aktivierung statt, im übertragenen<br />
Sinne aus einem „Ruhe-Modus”<br />
heraus, vergehen vom Auftreten<br />
des Reizes bis zur Handlung durchschnittlich<br />
15 sec – zu viel Zeit für<br />
dynamische, komplexe Situationen.<br />
25
Dabei legt der jeweilige<br />
Reiz den Weg vom Sensor<br />
(SR), über den Langzeitspeicher<br />
(LG), hin zum Arbeitsspeicher<br />
(AG) zurück 24 .<br />
Der Impuls aus der Sinneswahrnehmung<br />
trifft nun auf<br />
vorhandenen Erfahrungen<br />
und gespeicherte Informationen<br />
zum Sachverhalt, sowie<br />
die dazugehörigen Emotionen,<br />
im Langzeitgedächtnis.<br />
Die Überwachung erfolgt mittels<br />
unbewusster Aufmerksamkeit<br />
und unbewusster<br />
Wahrnehmung. <strong>Das</strong> Arbeitsgedächtnis<br />
wird anschließend<br />
mit Impulsen unterhalb der<br />
bewussten <strong>Wahrnehmungs</strong>schwelle<br />
versorgt, aufgrund<br />
derer motorische Reaktionen routinisiert<br />
25 , adäquate und unauffällig im<br />
„Stillen” ablaufen.<br />
Ab einer bestimmten Intensität des<br />
Reizes wird bewusste Aufmerksamkeit<br />
herbeigeführt. Diese lenkt den Fokus<br />
der bewussten Wahrnehmung auf<br />
den angesprochenen Sachverhalt,<br />
erkennt und bewertet ihn und folgert.<br />
Dieser Vorgang dauert, wie bereits<br />
erwähnt, ca. 15 sec – ist das mit Flugbetrieb<br />
vereinbar? Wohl kaum für alle<br />
Belange und jede Situation. Die meisten<br />
Ereignisse im Flugbetrieb von<br />
größerer Wichtigkeit verlangen schnelleres<br />
Reagieren.<br />
Um das zu erreichen, gibt es nur die<br />
Möglichkeit, gewisse Sachverhalte, die<br />
von besonderer Bedeutung sind, im<br />
Langzeitgedächtnis „vorzuwarnen”.<br />
<strong>Das</strong> geschieht, indem diese Sachverhalte<br />
bewusst aus den Tiefen des<br />
Erinnerungsvorrats unseres Langzeitspeichers<br />
hoch geholt, sprich in einen<br />
höheren Bereitschafts- und Sensibilitätsgrad<br />
überführt werden, damit<br />
Reaktionszeiten verkürzt werden können.<br />
Dieser Vorgang wird in der Fachliteratur<br />
„Priming”(PM) 26 genannt und<br />
kann bewusste Zuwendung und entsprechende<br />
Reaktionen auf ca. 2 sec<br />
reduzieren. Neben den unbewusst<br />
ablaufenden motorischen Reaktionen,<br />
die natürlich wesentlich kürzere<br />
Reaktionszeiten kennen, ist Priming<br />
das zweite Element, mit dem insgesamt<br />
Reaktionszeiten ermöglicht werden,<br />
die mit Flugbetrieb vereinbar<br />
sind. Es führt kein Weg daran vorbei.<br />
Der gesamte Vorgang des Primens verlangt<br />
natürlich Ressourcen, wie bereits<br />
mehrfach oben dargestellt, in diesem<br />
Falle kognitive Kapazitäten, die per<br />
Priming schnelle Wahrnehmung ermöglichen.<br />
Diesen Vorgang soll die obige Grafik<br />
verdeutlichen.<br />
Der Vollständigkeit halber muss<br />
erwähnt werden, dass es für jeden<br />
Menschen „vorgeprimte” Sachverhalte<br />
und Begriffe gibt, auf die er<br />
immer schnell reagiert, unabhängig<br />
von der jeweiligen Situation. Dazu<br />
zählen z.B. Stimmen der eigenen Kinder<br />
oder der Ehefrau. Dazu zählt aber<br />
auch der eigene Name, der durch<br />
jedes Nebengeräusch dringt und Aufmerksamkeit<br />
sogar dann noch erregen<br />
kann, wenn die Person eigentlich<br />
schon nicht mehr ansprechbar ist,<br />
nachdem sie in der Aktivationskurve<br />
sehr weit rechts ausgewandert ist. Es<br />
zählen allerdings auch schlechte, vielleicht<br />
traumatische Erlebnisse dazu,<br />
die über das gesamte Sinnesspektrum<br />
Zugang finden und in ihrer Tragweite<br />
dazu führen können, dass der<br />
Betroffene, in objektiv „normalen”<br />
Situationen, zur Überreaktion neigt.<br />
Es ist bemerkenswert, dass es eine<br />
übergeordnete Kategorie von unaufgefordertem<br />
Priming gibt, die, neben<br />
der Kategorie der Wichtigkeit eines<br />
Sachverhaltes, in ihrer Bedeutung und<br />
aktivierenden Wirkung alles in den<br />
Schatten stellt.<br />
Es handelt sich um den Selbstbezug,<br />
einer stillen, unbewussten<br />
Form des Primens und dabei geht es<br />
z.B. um folgende Fragen:<br />
Was habe ich davon.<br />
Welche Gefahr geht davon für<br />
mich ganz persönlich aus.<br />
Wie stehe ich da, wenn ich das<br />
mache bzw. unterlasse.<br />
Diese Form des Primens löst Verhaltensweisen<br />
aus, die sich bei dem<br />
einen oder anderen deutlich vom üblichen<br />
Verhalten absetzen. Hier wird<br />
sich plötzlich bemerkenswert nachhaltig<br />
interessiert, engagiert und durchgesetzt<br />
27 . Kein noch so kleines Detail<br />
bleibt unbeachtet und wird hin und<br />
her bewertet, nichts wird dem Zufall<br />
überlassen.<br />
Je höher das Maß an Selbstbezug,<br />
desto höher die Ebene der<br />
Aktivierung der Aufmerksamkeits-<br />
26 I/2002 FLUGSICHERHEIT
steuerung<br />
Anmerkung zur Grafik:<br />
Die Grafik „fiktive Aktivierung” soll<br />
modellhaft darstellen, dass die <strong>Wahrnehmungs</strong>bereitschaft<br />
bzw. Voraktivierung<br />
um so höher ist, je höher der Selbstbezug<br />
eine Rolle übernimmt. Aufbauend auf<br />
einer angenommenen Basis der beliebig<br />
gewählten Stärke „3” für die Situation von<br />
aufmerksamkeitslosen Tätigkeiten (a – l),<br />
steigt die Voraktivierung aufgrund des skalierten<br />
Selbstbezuges angenommen von 0<br />
– 10. Die beiden Stärken werden addiert<br />
und ergeben die resultierende Voraktivierung,<br />
wodurch der Grad der Aufmerksamkeitsintensität<br />
bestimmt wird.<br />
Ist diese Betrachtung für den täglichen<br />
Betrieb von Nutzen, oder hat sie lediglich<br />
akademischen Wert?<br />
Darüber soll der abschließende Absatz<br />
Auskunft erteilen.<br />
Der<br />
Aufmerksamkeitsverlauf<br />
Selektive Aufmerksamkeit, der<br />
Situation, nach den fünf Kriterien Toni<br />
Kerns, angemessen, ist der Schlüssel<br />
für Handlungsinhalte und Reaktionszeiten,<br />
die mit Flugbetrieb vereinbar<br />
sind. Obwohl das jedem klar ist und<br />
dabei auf der Hand liegt, welche Aufmerksamkeitsintensität<br />
Flugbetrieb erfordert,<br />
verhalten wir uns bisweilen<br />
gravierend abweichend.<br />
In der einen Situationen handeln<br />
wir ganz nah am Geschehen und sind<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
jederzeit darauf bedacht, jeder<br />
Abweichung vom Geplanten, jedem<br />
Hinweis auf eine ungewollte Entwicklung,<br />
nachzugehen<br />
und alle verfügbaren<br />
Ressourcen<br />
an der<br />
richtigen Stelle<br />
einzubringen, so<br />
dass angemessen<br />
und rechtzeitig<br />
reagiert<br />
werden kann.<br />
In der anderen<br />
Situation<br />
nehmen wir es<br />
nicht so genau,<br />
schon nicht fahrlässig, aber auch nicht<br />
besonders akribisch. Energiereserven<br />
bilden lautet die unausgesprochene<br />
Devise und das beginnt schon bei der<br />
Planung. Alles, was da kommen könnte,<br />
wird aus dem unerschöpflichen<br />
Erfahrungsvorrat des Langzeitspeichers<br />
„bedient”. Und was ich vielleicht<br />
vergessen habe, das weiß der andere.<br />
Wir sind erfahren, wir sind gut und vor<br />
allem, wir haben schon ganz andere<br />
Dinger gemacht.<br />
Diese beiden überzeichnet formulierten<br />
Gegenpole beschreiben die<br />
jeweilige Ausgangslage eines Besatzungsangehörigen,<br />
mit der er den<br />
Flugdienst antritt. Es ist sicherlich nicht<br />
abwegig anzunehmen, dass diese den<br />
meisten Lesern nicht unbekannt sein<br />
dürften. Vielleicht findet sich der eine<br />
oder andere sogar ganz persönlich<br />
darin wieder?<br />
Welche Situationen aus dem Tagesflugbetrieb<br />
der Bundeswehr sind<br />
damit gemeint?<br />
Zunächst die etwas lockerere Sichtweise<br />
der Dinge. Sie könnte aus dem<br />
Tagebuch des Routinebetriebes stammen.<br />
Alles ist schon X-Mal gemacht worden,<br />
alles ist bekannt, nichts kann die<br />
Besatzung schrecken. Dementsprechend<br />
sieht die Voraktivierung des<br />
Organismus aus und damit die Ebene,<br />
von der aus Aufmerksamkeit gestartet<br />
werden kann, mit den entsprechenden<br />
Zeitansätzen. Die gezeigte Grafik<br />
ist nach Befragung von Luftfahrzeugführern<br />
erstellt worden, die den<br />
selbst erfahrenen Aufmerksamkeitslevel<br />
bei der Durchführung von<br />
Flugbetrieb benennen sollten.Die<br />
Voraktivierungen wurden für die Bereiche<br />
Missionsgehalt (Grundpriming /<br />
Basiswahrnehmung), Einsatzkomplexität<br />
(Mission-Priming) und Selbstbezug<br />
nach der Skalierung gering, mittel und<br />
stark geschätzt und aufsummiert.<br />
Daraus lässt sich die Gesamtvoraktivierung<br />
und deshalb der Grad an<br />
Verhaltensbereitschaft abschätzen.<br />
Hier zunächst der Ablauf eines<br />
Routinefluges:<br />
27
Danach ist der höchste Grad an<br />
Voraktivierung / Priming der eigentlichen<br />
Mission vorbehalten und erreich<br />
hier den dimensionslosen Wert von<br />
maximal 20.<br />
Anders sieht die Sache unter realer<br />
Bedrohung aus:<br />
Hier kann festgestellt werden, dass<br />
die Verhaltensbereitschaft fast während<br />
der gesamten Mission mindestes<br />
auf dem Niveau angesiedelt ist, wie es<br />
im Routinebetrieb allenfalls im Kernbereich<br />
des Einsatzes zu finden war.<br />
Diese zweite Version ist zweifelsohne<br />
für die Besatzung die anstrengendere<br />
von den beiden dargestellten;<br />
aber sie ist nachweislich auch die<br />
Version, bei der in den vergangenen<br />
Jahren keine Unfälle oder schweren<br />
Zwischenfälle aufgrund des HUMAN<br />
FACTOR zu beklagen waren.<br />
Da sich diese Verhaltensweisen bei<br />
jedem Einzelnen wie von selbst generiert,<br />
also keine besondere Führungsleistung<br />
erforderlich wird, stellt sich die<br />
Frage nach den Bedingungen, unter<br />
denen sich akribisches, sachbezogenes,<br />
optimiertes Arbeiten selbsttätig<br />
einstellt.<br />
Die Beantwortung dieser Frage wird<br />
darauf hinaus laufen, dass es im<br />
wesentlichen der unterschiedliche<br />
Selbstbezug ist, der die beiden<br />
Ausgangslagen prinzipiell unterscheidet.<br />
Da es in und über den befriedeten<br />
Regionen dieser Welt nicht möglich<br />
ist und auch unsinnig wäre,<br />
Selbstbezug durch reale Bedrohung<br />
künstlich zu erzeugen, muss eine<br />
andere Diskussion geführt werden.<br />
Welche Kategorien, neben realer<br />
Bedrohung, generieren auch Selbstbezug?<br />
Dabei sollte darauf geachtet<br />
werden, dass die Diskussion nicht<br />
schnell in ein wehrdisziplinares Fachgespräch<br />
abgleitet. <strong>Das</strong> wäre ein Weg,<br />
der in Einzelfällen berechtigt sein mag,<br />
deshalb aber auch der Ausnahmesituation<br />
vorbehalten bleiben sollte.<br />
Aber, wie sähe es mit Selbstbezug<br />
aus:<br />
Wenn ich als Person, mit meiner<br />
Meinung und in meinem Handel<br />
ernst genommen würde?<br />
Wenn mir stets bewusst wäre,<br />
dass mich jede gravierende<br />
Fehlentscheidung potentiell schädigen<br />
kann?<br />
Wenn mir stets klar wäre, dass<br />
ich wichtiger Teil des Ganzen bin,<br />
welches das System fehlerverträglich<br />
zu machen hat und deshalb<br />
Teil der Lösung sein soll?<br />
Wenn mir mein Umfeld ständig<br />
rückmeldete, was der übergeordneten<br />
Norm des Verbandes entspricht<br />
und was nicht?<br />
Wenn ich in meinem Verhalten,<br />
wenn es angemessen war, auch<br />
bestärkt würde?<br />
Wenn ich lernte, mein Handeln<br />
so einzurichten, als wäre es das<br />
Handeln eines anderen, über das<br />
ich zu urteilen hätte?<br />
Wenn mir bewusst wäre, Vorbild<br />
zu sein?<br />
Wenn ich nicht vergäße, dass ich<br />
Verantwortung für meine Crew,<br />
für das Einsatzmittel, für die<br />
Angehörigen und für mich trage?<br />
Wenn ich wüsste, dass ich bei<br />
jeder gravierenden Abweichung,<br />
unabhängig von der Hierarchie,<br />
angesprochen würde?<br />
Wenn ich erfahren hätte, dass<br />
Fehler einzugestehen, der Weg<br />
zur Fehlerresistenz des Teams ist?<br />
Die Liste könnte fortgesetzt werden,<br />
und sicherlich fallen dem geneigten<br />
Leser noch mehr und für seinen<br />
Bereich noch treffendere Beispiele ein,<br />
um seine ganz persönliche Routine mit<br />
soviel Bedeutung anreichern zu können,<br />
dass er sich in den Zustand einer<br />
Verhaltensbereitschaft versetzt, die<br />
ihm angemessene, selektive Aufmerksamkeit<br />
in einer Zeitspanne zur Verfügung<br />
stellt, die immer etwas schneller<br />
ist, als der Ablauf der ihn umgebenden<br />
Wirklichkeit.<br />
<br />
1 Für die Bearbeitung dieses Beitrages stand folgende<br />
Literatur zur Verfügung:<br />
Krech/Crutchfield u.a.: Grundlagen der Psychologie<br />
/ Beltz Verlag, Weinheim 1992.<br />
Asanger; Wenninger: Handwörterbuch Psychologie<br />
/ Beltz Verlag, Weinheim 1999.<br />
Legewie Heiner, Ehlers Wolfram: Handbuch<br />
moderne Psychologie / Bechtermünz Verlag,<br />
Augsburg 2000.<br />
Forgas, Josef P.: Soziale Interaktion und<br />
Kommunikation / Beltz Verlag, Weinheim 1999.<br />
Hussy, Walter: Denken und Problemlösen /<br />
Kohlhammer, Stuttgart 1998<br />
Wessells, Michael. G.: Kognitive Psychologie / UTB<br />
für Wissenschaft, München 1994.<br />
Schwarzer, Ralf: Stress, Angst und Handlungsregulation<br />
/ Kohlhammer, Stuttgart 2000<br />
Heckhausen, Heinz: Motivation und Handeln /<br />
Springer-Verlag, Berlin 1989<br />
Orlady Harry W., Orlady Linda M.: Human Factors<br />
in Multi-Crew Flight Operations / Ashgate Publishing.<br />
Wiener Earl L., Helmreich Robert L., Kanki<br />
Barbara G.: Cockpit Resource Management /<br />
Academic Press, san Diego 1993.<br />
Kern Tony: Redefining Airmanship / Library of<br />
Congress, 1997.<br />
2 Siehe: „Menschliche Kapazitäten”.<br />
3 Bei präziser Begriffsabgrenzung geht die Fachliteratur<br />
davon aus, dass es im täglichen Leben<br />
nicht möglich ist, sich ohne weiteres bewusst in<br />
einen Zustand der Konzentration zu versetzen.<br />
Vielmehr stellt sich Konzentration ein, wenn Aufmerksamkeit<br />
und Interesse derselben Person am<br />
selben Sachverhalt festmachen. Konzentration,<br />
aus unserer Sichtweise, ist auch immer Fixation,<br />
also ein an sich, in Verbindung mit Flugbetrieb,<br />
unerwünschtes Verhalten. Darüber hinaus gehende<br />
Aspekte von Definitionsunterschieden zwischen<br />
Aufmerksamkeit und Konzentration sollten<br />
in unserem Kontext nicht überbewertet werden.<br />
4 Siehe auch: „Menschliche Kapazitäten – Kapazitätenmodell”.<br />
5 Siehe auch: „Menschliche Kapazitäten – Aktivation”.<br />
6 Siehe auch: „Kommunikation – Kommunikation<br />
und Wirklichkeit”.<br />
28 I/2002 FLUGSICHERHEIT
7 Siehe „Feedback” – Grafik weiter unten (O/A/H).<br />
8 Jedem neuronalen Impuls, der durch Botenstoffe<br />
übertragen wird, haftet ein entsprechender<br />
Dämpfungsreiz an, der den Ausgangsimpuls auf<br />
die gewünschte Amplitude begrenzt. Andernfalls<br />
wären keine koordinierten Bewegungen, geschweige<br />
denn Feinmotorik möglich. U.a. Alkohol<br />
stört dieses ausgewogene Impuls-Gegenimpuls-<br />
Verhältnis nachhaltig.<br />
9 Die resultierende Impulsgröße bestimmt den<br />
Grad der Aktivation und ist dadurch Voraussetzung<br />
für den Grad an Aufmerksamkeit, die<br />
ihrerseits wiederum für die Freisetzung ausgewählter<br />
Ressourcen verantwortlich zeichnet.<br />
10 In einem Test wurden gleichförmige Gegenstände,<br />
die auf einem Tisch lagen, für eine Sekunde gezeigt.<br />
Die Testpersonen konnten bis zu sieben<br />
Gegenständen die Anzahl richtig wiedergeben.<br />
Bei mehr als sieben nahm die Fehlerrate deutlich<br />
zu. Daraus konnte eine visuelle Aufmerksamkeitsspanne<br />
von Sieben hergeleitet werden.<br />
11 Siehe „Feedback” – Grafik (Sp/Mo/Mi).<br />
12 Natürlich gibt es auch andere, weiter führende<br />
Ansätze, die jedoch nur für akademische Betrachtungen<br />
von Bedeutung sind.<br />
13 Damit ist z.B. überzogenes „Schönfliegen” gemeint,<br />
wenn andere, übergeordnete Dinge wichtiger<br />
sind und Aufmerksamkeit verlangen. In<br />
„Limits” ja, jedoch nicht als „Null-Toleranz-Limit”.<br />
<strong>Das</strong> würde Aufmerksamkeit und damit Ressourcen<br />
auf Bereiche lenken, die, je nach Lage, unbedeutend<br />
sind.<br />
14 Siehe auch: „Wahrnehmung – unbewusste Wahrnehmung”.<br />
15 So ändert man z.B. die Sitzposition, bevor das<br />
Unbequeme der Sitzposition bewusst wird.<br />
16 Es ist bekannt, dass selbstverständlich auch dafür<br />
Ressourcen verbraucht werden. <strong>Das</strong> geschieht<br />
allerdings auf niedrigem Niveau. Erst bei Erschöpfung<br />
wird deutlich, dass auch unbewusst nicht<br />
mehr in erforderlichem Umfang Ressourcen abgerufen<br />
werden können, indem man erkennt, dass<br />
diese auch nicht mehr für die unbewusste Überwachung<br />
von Grenzen zur Verfügung stehen. Die<br />
Handlung geht nicht mehr flüssig von der Hand.<br />
Bewusste Überwachung muss übernehmen, was<br />
natürlich kein Ersatz sein kann. So ist z.B. Feinmotorik<br />
nur unbewusst möglich.<br />
17 Siehe auch: „Wahrnehmung – Orientierungswahrnehmung”.<br />
18 Stichwort: Erfahrung vs. Können bzw. experince<br />
vs. proficiency<br />
19 Der Begriff „Kontrolle” ist hier im Sinne des englischen<br />
„control” gemeint; eine Situation bewusst<br />
beherrschen und beeinflussen.<br />
20 <strong>Das</strong> ist nicht ohne weiteres möglich, denn auch<br />
die bewusste Aufmerksamkeitssteuerung wird u.a.<br />
von Werten und Normen, momentanen Befindlichkeiten,<br />
Zielen, Motiven, Einstellungen, sozialer<br />
Wahrnehmung, aber auch durch analytisches Vorgehen,<br />
bestimmt. Diese Wirkgrößen pulsieren in<br />
unterschiedlicher Ausprägung, beeinflussen den<br />
Betroffenen jedoch stets gleichzeitig.<br />
21 ...”the crew’s awareness of operational conditions<br />
and contingencies”<br />
22 Siehe Literaturhinweis weiter oben.<br />
23 Siehe auch: „Entscheidungsfindung – S-R-K-<br />
Modell”<br />
24 Natürlich ist diese Art der Beschreibung stark vereinfachend,<br />
dient aber dem leichteren Verständnis.<br />
25 Siehe auch: „Entscheidungsfindung – Merkmale<br />
der Entscheidungsebenen”<br />
26 Vor diesem Hintergrund gewinnen „Briefing” und<br />
„Feedback” neu an Gewicht.<br />
27 Diese übertriebene Darstellung möge verziehen<br />
werden, sie soll plakativ überzeichnen, um zu verdeutlichen.<br />
Im übrigen trifft derartiges Verhalten<br />
prinzipiell und tendenziell auf alle Menschen zu,<br />
auch auf den Verfasser.<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
Kommunikation<br />
Einleitung<br />
Es ist unmöglich nicht zu kommunizieren!<br />
Wir können nur richtig oder<br />
falsch, gut oder schlecht, angemessen<br />
oder sachfremd kommunizieren.<br />
Deshalb können wir es uns als „fliegende<br />
Besatzungen“ auch nicht leisten,<br />
Kommunikation in ihrer Form<br />
und Ausprägung dem Zufall zu überlassen.<br />
Eigene Erfahrungen, aber auch und<br />
dann immer dramatisch, die Auswertungen<br />
der „Voice Recorder“ nach<br />
Flugunfällen, legen Zeugnis darüber<br />
ab, dass die Qualität der Kommunikation<br />
in komplexen, dynamischen Situationen<br />
viel zu oft Teil des Problems war<br />
und nicht zur Lösung von Problemen<br />
eingesetzt wurde. Manchmal komprimiert<br />
sie sich nur noch zu einem<br />
Schrei, der dann zusammenfassend<br />
alles Entsetzen ausdrückt.<br />
Gute und richtige Kommunikation<br />
ist eine Fertigkeit, die zu einem hohen<br />
Grade erlernbar ist. Sie beeinflusst<br />
Entscheidungen, Arbeitsabläufe, Emotionen<br />
und Einstellungen. Somit kann<br />
Kommunikation unmittelbar auf das<br />
WAS einer Handlung einwirken, entlarvt<br />
aber auch:<br />
WIE wir miteinander umgehen.<br />
WIEVIEL Wert auf eine qualitativ<br />
gute Sacharbeit gelegt wird.<br />
WIE überzeugt eine eingeforderte<br />
Leistung erbracht wird.<br />
Kommunikation in unserem Sinne<br />
betrachtet den „anderen“ als ernstzunehmenden,<br />
würdigen Partner, spiegelt<br />
stets das wider, was der Kommunizierende<br />
wirklich meint, ist sachbezogen<br />
und funktioniert auch noch im<br />
Stress!<br />
Dabei spielen folgend Komponenten<br />
eine Rolle:<br />
Wer? Kommunikator, Sender<br />
Sagt was? Nachricht, Botschaft,<br />
Mitteilung, Message,<br />
Information<br />
Zu wem? Kommunikant, Empfänger,<br />
Adressat<br />
Womit? Zeichen, Signal, verbal,<br />
nonverbales Verhalten<br />
Durch welches Medium?<br />
Kanal, Modalität<br />
Mit welcher Absicht?<br />
Intention, Motivation,<br />
Ziel<br />
Mit welchem Effekt?<br />
was wird bewirkt,<br />
Feedback<br />
Kommunikation ist ein universelles<br />
Konzept, welches sich auf ein breites<br />
Spektrum von Phänomenen bezieht,<br />
die jedoch alle dem gleichen Ziel dienen<br />
– dem Austausch von Information<br />
innerhalb und zwischen biologischen<br />
Systemen.<br />
Die grundlegende Informationstheorie<br />
hat ihren Ursprung in der<br />
Kybernetik und der Nachrichtentechnik,<br />
die von der Regelung zwischen<br />
einem Sender und mindestens einem<br />
Empfänger ausgeht und dabei den<br />
Informationsgehalt von Signalen und<br />
deren Wirkung und Rückwirkung<br />
berücksichtigt.<br />
Auf die Darstellung des Sender-<br />
Empfänger-Modells soll hier verzichtet<br />
werden 2 .<br />
Allgemeines<br />
Wie bereits erwähnt, ist es nicht<br />
möglich, nicht zu kommunizieren.<br />
Selbst im Schlaf teilen wir uns unserer<br />
Umwelt und uns selbst mit. Tastsinn<br />
und Gehör sind ununterbrochen mit<br />
der „Außenwelt“ verbunden und wirken<br />
somit ständig in unser Bewusstsein<br />
hinein, wenn auch auf einer<br />
anderen <strong>Wahrnehmungs</strong>ebene.<br />
Vier Kommunikationssysteme transportieren<br />
Botschaften:<br />
1. natürliche Sprache:<br />
extrem komplexe kognitive<br />
Fertigkeit und ein System zur<br />
29
30 I/2002 FLUGSICHERHEIT
Übermittlung spezifischer Bedeutungen<br />
durch Wörter, die gesprochen,<br />
geschrieben, gezeichnet<br />
oder gesungen 3 werden können.<br />
2. künstliche Sprache:<br />
Musiknoten, mathematische<br />
Gleichungen und Computerprogramme,<br />
die spezialisierte Informationen<br />
genau und mit wenig<br />
Deutungsspielraum kommunizieren,<br />
indem sie von vereinbarten<br />
Systemen von Symbolen, Zeichen<br />
und Formeln Gebrauch machen.<br />
3. visuelle Kommunikation:<br />
Bilder und Diagramme als Mittel,<br />
um Vorstellungen oder Gefühle<br />
oder beides zu übermitteln.<br />
4. nonverbale Kommunikation:<br />
umfasst sowohl Körperbewegungen<br />
(Haltung, Gesten, Lächeln,<br />
Augenkontakt und die<br />
Benutzung des physikalischen<br />
Raums) als auch Eigenschaften<br />
der Sprache wie Stimmlage,<br />
Sprechgeschwindigkeit und Lautstärke.<br />
Nichtverbales Verhalten wird nicht<br />
zufällig gezeigt; es kann als eines von<br />
mehreren Fenstern zum Unbewussten<br />
gedeutet werden. So kann ein bestimmtes<br />
Blickverhalten, oder ein bestimmter<br />
Gesichtsausdruck, nicht über<br />
längere Zeit kontrolliert werden.<br />
Stimmen die emotionale Bedeutung<br />
des gesprochenen Wortes und die<br />
gezeigte mimische Aussage nicht überein,<br />
wirkt das Gesprochene fremd<br />
und die verbal kommunizierende Person<br />
wenig vertrauenswürdig.<br />
Sprache ist eine relativ späte Erfindung<br />
im Zeitplan der Evolution. Die<br />
nonverbale Kommunikation dagegen<br />
besteht von Anbeginn an, hat also tiefere<br />
und stärkere Wurzeln. Daher ist<br />
sie in jeder Hinsicht der stärkere<br />
Kommunikationskanal.<br />
Die prozentuale Verteilung zwischen<br />
verbaler und nonverbaler sozialer<br />
Wahrnehmung verdeutlicht die<br />
Gewichtung. Die Literatur spricht von<br />
einem Anteil von ca. 10 % – 15 %<br />
verbaler Wahrnehmung über das ge-<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
sprochene Wort; der Rest wird nonverbal<br />
zwischen Sender und Empfänger<br />
verarbeitet. Daraus ergeben sich<br />
Problemfelder, die jeder hinreichend<br />
aus dem eigenen Umfeld kennt.<br />
In einem militärisch-fliegerischen<br />
Umfeld tritt der Komplex nonverbaler<br />
Kommunikation zurück, sobald ein<br />
Flug konkret angetreten wird. Anzugordnung,<br />
Aufgabenverteilung und<br />
Cockpitkonfiguration verstärken diesen<br />
Effekt zusätzlich, so dass Kommunikation<br />
zu einem sehr hohen Anteil<br />
auf dem rein verbalen Kanal stattfinden<br />
muss, der nur bedingt dazu taugt,<br />
was noch bewiesen werden wird, die<br />
eigentliche Struktur des Denkens<br />
offenzulegen. Dennoch müssen 100%<br />
Kommunikation stattfinden, obwohl<br />
nur ca. 15% über den Bedeutungsgehalt<br />
von Begriffen transportiert werden<br />
können; aber auch mit diesem<br />
Problem leben wir ständig und im<br />
„Normalfall“ sogar recht komfortabel.<br />
Niemand will zurück zur Zeichensprache.<br />
Es ist jedoch auch hier wichtig,<br />
die Grenzen verbaler Leistungsfähigkeit<br />
zu kennen, um sich Überlegungen<br />
zu öffnen, die stressresistente<br />
Handlungsstrukturen benennen und<br />
vorschlagen.<br />
Gute und angemessene Kommunikation<br />
ermöglicht eine sachgerechte<br />
Vorstellung nah an der<br />
jeweiligen realen Situation.<br />
Kommunikation<br />
und Wirklichkeit<br />
Jedes Individuum steht in einer<br />
andauernden Wechselbeziehung mit<br />
seiner Umwelt, die ihm das Überleben<br />
ermöglicht, wenn, ja wenn das Individuum<br />
die Grenzen akzeptiert, innerhalb<br />
derer das Überleben für es möglich<br />
ist 4 . Um dieses Ziel zu erreichen ist<br />
es erforderlich, die wahrgenommene<br />
Welt ständig auf den Gehalt an<br />
Grenzen, die mit Überleben nicht vereinbar<br />
sind, zu überprüfen.<br />
<strong>Das</strong>s Wahrnehmung nicht dem realen<br />
Abbild der uns umgebenden physikalischen<br />
Umwelt entspricht, ist bekannt<br />
und hat Nachteile für uns, weil<br />
wir Gefahr laufen, aufgrund von<br />
<strong>Wahrnehmungs</strong>verzerrungen und anderen<br />
Besonderheiten in die falsche<br />
Richtung zu laufen 5 . Dieser Punkt<br />
wurde bereits hinreichend in einem<br />
anderen Beitrag erörtert.<br />
Kommunikation ermöglicht den<br />
lebensnotwendigen Informationsaustausch<br />
und dabei ist die eigene, individuelle<br />
Verhaltensweise nur die zweitwichtigste<br />
Quelle der Erkenntnis. Viel<br />
wichtiger ist die Frage nach der<br />
Reaktion des Umfeldes auf individuelles<br />
Verhalten. Viel wichtiger ist also die<br />
Frage nach dem “Feedback“. Lebende<br />
Organismen funktionieren prinzipiell<br />
nicht wie der geschlossene Regelkreis<br />
einer Dampfmaschine. Alles Lebende<br />
lebt überdauernd, weil es für den<br />
Informationsaustausch mit der Umwelt<br />
offen 6 ist, weil nur so ein Überleben<br />
durch Akzeptanz der Grenzen möglich<br />
wird. Wer sich abkapselt, das gilt im<br />
übrigen auch für Organisationen, wird<br />
mittelfristig übergeordnete Grenzen<br />
nicht mehr erkennen können und<br />
damit Überlebensfähigkeit einbüßen.<br />
Folglich ist ein immerfort währender<br />
Informationsaustausch mit der<br />
Umwelt in jeder Hinsicht von elementarem<br />
Interesse. Der Schwerpunkt liegt<br />
dabei, wie bereits erwähnt, auf der<br />
Suche nach Feedback. Wer Feedback<br />
ablehnt, lehnt wichtige Informationen<br />
ab, die Grundlage für die<br />
Bewertung einer nächsten Handlungsfolge<br />
sind. Feedback ermöglicht es,<br />
Folgehandlungen den realen Grenzen<br />
unterzuordnen und die Qualität der<br />
Basis für den nächsten Schritt zu verbessern.<br />
Feedback ist die wichtigste<br />
Stellgröße für Verhalten auf dem<br />
Weg zum Ziel!<br />
Kommunikation ermöglicht den<br />
Vergleich zwischen wahrgenommener<br />
Wirklichkeit und Realität, bzw. zwischen<br />
der Vorstellung über das Machbare<br />
und den realen Grenzen des<br />
Möglichen.<br />
Wer Feedback zulässt, versetzt sich<br />
in eine günstige Lage, um:<br />
31
eine Risikoanalyse durchzuführen<br />
Alternativen zu planen<br />
Entwicklungen vorherzusehen<br />
Reaktionszeiten zu verkürzen<br />
Diese vor allem kognitiven Fähigkeiten<br />
stehen allerdings, wie jeder<br />
weiß, nicht immer uneingeschränkt<br />
zur Verfügung. Bestimmte Einflussgrößen,<br />
wie z.B. Stress, können behindernd<br />
wirken.<br />
Kommunikation<br />
und Stress 7<br />
Stress wirkt sich unmittelbar auf<br />
Körper, Geist, Emotionen sowie die<br />
Kommunikation aus und zeigt Wirkungen,<br />
die mit Flugbetrieb kaum vereinbar<br />
sind. Im Folgenden sollen themenbezogen<br />
vor allem die Auswirkungen<br />
auf die Kommunikation erörtert<br />
werden.<br />
Prinzipiell kann an dieser Stelle<br />
jedoch bereits festgestellt werden,<br />
dass der Grund für Stress weniger<br />
bedeutungsvoll ist als die Antwort darauf,<br />
denn Stress ist im wesentlichen<br />
Folge eines Bewertungsvorgangs im<br />
Rahmen einer Auseinandersetzung<br />
des Betroffenen mit seinem Umfeld.<br />
Dabei erlebt er den höchsten Stress,<br />
wenn er erlebt, wie seine ganz persönlichen<br />
Ressourcen verloren gehen<br />
und dieser “Verbrauch“ an Ressourcen<br />
nicht durch einen adäquaten<br />
Gewinn an “Gegenwert“ kompensiert<br />
wird. <strong>Das</strong> heißt, höchster Stress wird<br />
im Moment der größten Hilflosigkeit<br />
erlebt 8 .<br />
Sprachlosigkeit<br />
Eine Statistik besagt, dass die<br />
Handlungen innerhalb der letzten 10<br />
bis 15 Sekunden eines kritischen Ereignisses<br />
über den weiteren Verlauf entscheiden<br />
und in den letzten drei bis<br />
acht Sekunden vor einem Unfall dann<br />
nicht mehr gesprochen wird, wenn<br />
sich die Besatzung über die Dramatik<br />
im klaren ist und keine Handlungsoption<br />
mehr erkannt wird. Der ganze<br />
Komplex der Sprachlosigkeit bei hoher<br />
Beanspruchung ist wissenschaftlich<br />
nicht umfassend erforscht. Ethische<br />
Gründe nach unserem Werteverständnis<br />
sprechen dagegen, Menschen zum<br />
Zwecke der Forschung immer wieder<br />
in Situationen real erlebter Sprachlosigkeit<br />
zu versetzen. Da bleibt uns<br />
nur der Blick zurück auf oft leidvolle<br />
und traumatische Erfahrungen in der<br />
Hoffnung, die richtigen Rückschlüsse<br />
für künftiges Verhalten zu ziehen.<br />
Anhand eines Modells soll der<br />
Versuch unternommen werden, verbale<br />
Kommunikation und ihre Grenzen<br />
aufzuzeigen, um so deutlich zu<br />
machen, wie schnell der einzig verbliebene<br />
Kommunikationskanal verloren<br />
gehen kann und was dieses bedeutet,<br />
auch für Prävention und Früherkennung.<br />
Sprachvolumen<br />
Der Erwerb der Sprache in den<br />
ersten Lebensjahren wird als die<br />
bedeutendste Leistung menschlicher<br />
Intelligenz angesehen. Der zentrale<br />
Prozess dabei ist die Umwandlung persönlicher<br />
Gedanken und Gefühle in<br />
Symbole, Zeichen oder Wörter die<br />
andere erkennen und wieder in<br />
Vorstellungen und Ideen zurückverwandeln<br />
können. Neben anderen<br />
Faktoren bestimmt die Prägung der<br />
ersten Jahre auch im Bereich der<br />
Kommunikation wesentlich den<br />
Ablauf der weiteren Entwicklung.<br />
Dabei wird klar, dass Sprache als<br />
Werkzeug des Denkens individuell ist<br />
und kein Mensch auf dieser Welt über<br />
ein Sprechvermögen verfügt, das mit<br />
dem eines anderen Menschen vergleichbar<br />
ist. In dem angekündigten<br />
Modell soll die Breite der Individualität<br />
verdeutlicht werden. Dabei ist es hilfreich,<br />
sich das individuelle Sprechvermögen<br />
als Kubus vorzustellen; aus<br />
dem Sprechvermögen wird so ein<br />
Sprachvolumen mit einer:<br />
intellektuellen Höhe (I):<br />
somit die Größe des Wortschatzes<br />
9 allgemein,<br />
emotionalen Breite (E):<br />
die je nach Befindlichkeit positiv<br />
oder negativ formuliert und,<br />
Temperamentstiefe (T):<br />
die kräftiger oder feiner formuliert.<br />
Alle Ausdehnungen der Ebenen in<br />
den x-, y- und z-Achsen des angenommenen<br />
rechtwinkligen Koordinatensystem,<br />
sind nicht klar definierbar<br />
und unterliegen starken Schwankungen,<br />
je nach Befindlichkeit, momentaner<br />
Motivation und Einstellung des<br />
Einzelnen.<br />
<strong>Das</strong> heißt, die Größe und Ausdehnung<br />
des Sprachvolumens hängt von der<br />
Tagesform ab, kann dabei jedoch, wie<br />
bereits angedeutet, starken Veränderungen<br />
unterliegen und sich im 2-3<br />
Sekundentakt anpassen 10 .<br />
Es kann sich dehnen, einschnüren,<br />
verlagern, verzerren und nicht zuletzt<br />
– es kann schrumpfen. Insbesondere<br />
dann, wenn Belastung zur Beanspruchung<br />
11 wird, kann sich das Sprachvolumen<br />
auf einen Punkt reduzieren<br />
oder gar vorübergehend auflösen –<br />
wie eine Wolke unter Hochdruckeinfluss.<br />
Wir stellen also fest, dass unser<br />
Sprachvolumen etwas ganz Persönliches<br />
ist und unter Druck an Niveau<br />
und Tiefe sowie an kreativer Aussagekraft<br />
verliert. Reduziertes Sprechvermögen,<br />
also die Reduzierung der<br />
Fähigkeit, sich verbal äußern zu können,<br />
auch Veränderungen der Ton-<br />
32 I/2002 FLUGSICHERHEIT
lage 12 , können für uns ein erstes sicheres<br />
Zeichen dafür sein, dass Aktivation<br />
13 den Bereich des Optimums zu<br />
verlassen droht und danach „alles sehr<br />
schnell gehen kann 14 “.<br />
Als Beispiel dafür soll folgendes<br />
Ereignis aus der Wirklichkeit beschrieben<br />
werden:<br />
Eine Lfz-Besatzung wird enroute<br />
über HF angesprochen, der vwt LFF<br />
möge den Gefechtstand in einer dringenden<br />
Angelegenheit nach der nächsten<br />
Landung anrufen. Auf Nachfrage,<br />
um was es denn ginge wurde mitgeteilt,<br />
dass man das über Funk nicht<br />
sagen könne.<br />
Im Cockpit wurde für den Rest des<br />
Fluges kein Wort mehr gesprochen,<br />
weil der vwt LFF das Schlimmste aus<br />
seinem Privatbereich befürchtete. Tatsache<br />
war, dass technisches Personal<br />
am Heimatflugplatz noch eine Frage<br />
zu einer vorausgegangenen technischen<br />
Störung klären wollte, die mit<br />
dem aktuellen Flug nichts zu tun<br />
hatte 15 .<br />
Es bleibt der Spekulation jedes<br />
Einzelnen überlassen, wie viel zusätzliche<br />
Belastung diese Besatzung in der<br />
beschriebenen Situation noch hätte<br />
kontrollieren können.<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
In einem Umfeld, in dem verbale<br />
Kommunikation das tragende Element<br />
zwischenmenschlicher Informationsverarbeitung<br />
ist, muss alles dafür<br />
getan werden, dass dieser „Flaschenhals“<br />
niemals verstopft. Gleichzeitig<br />
kann aufmerksame Selbstbeobachtung,<br />
aber auch die bewusste Wahrnehmung<br />
des anderen Besatzungsangehörigen,<br />
Aussage darüber treffen,<br />
wie stark eine momentane Belastung<br />
wirklich empfunden wird. Auch hier<br />
können bestimmte Strukturen, über<br />
die noch zu reden sein wird, in der Not<br />
helfen.<br />
Betriebssprache<br />
Betriebssprachen, oder auch Fachsprachen,<br />
prägen Kommunikation der<br />
modernen Zeit, weil der technische<br />
Fortschritt dies erforderlich gemacht<br />
hat. Lfz-Besatzungen bedienen sich<br />
einer Betriebssprache, weil sie komplexe<br />
Sachverhalte am besten beschreiben,<br />
konkrete Handlungen abrufen<br />
und Betriebszustände präzise beschreiben<br />
kann.<br />
Während in den Teilstreitkräften<br />
<strong>Luftwaffe</strong> und Marine eine Betriebssprache<br />
Luftfahrzeugmuster bezogen<br />
existiert und standardisiert angewendet<br />
wird, ist diese beim Heer nur auf<br />
einige Einsatzarten beschränkt, wie<br />
zum Beispiel: Feuerkampf des Panzerabwehrhubschraubers<br />
(PAH), Gebirgsflug<br />
oder Fliegen mit Bildverstärkerbrille<br />
(BIV) 16 .<br />
An eine Betriebssprache sind besondere<br />
Anforderungen zu stellen,<br />
damit diese auch gut und sachgerecht<br />
funktionieren kann.<br />
Standards mit:<br />
korrekter Begriffsbelegung, die keinen<br />
Zweifel daran lässt, was gemeint<br />
ist.<br />
Standardisierte Arbeitsabläufe,<br />
die allen Besatzungsangehörigen bekannt<br />
und vertraut sind, um auch das<br />
zu bewirken, was bewirkt werden soll.<br />
Check-/Recheckverfahren, die<br />
sicherstellen, dass die komplette Besatzung<br />
den gleichen Plan verfolgt<br />
und dabei Fehlentscheidungen und<br />
unsachgemäße Handlungen sofort<br />
erkannt und somit korrigiert werden<br />
können.<br />
Reversibilität<br />
die es ermöglicht, auch bei einem starken<br />
hierarchischen Gefälle 17 innerhalb<br />
der Besatzung, eine Anweisung zu<br />
einem bestimmten Verhalten per „Call<br />
Out“ unbefangen einzubringen, ohne<br />
sich Sorgen machen zu müssen, wie<br />
dies unter der Erwartungshaltung<br />
eines nach „oben“ gerichteten Respekts<br />
ankommt.<br />
Dadurch kann erreicht werden,<br />
dass, unabhängig von der momentanen<br />
Aufgabenverteilung an Bord<br />
(PF/PNF), jeder, allein aus seiner ausgeübten<br />
Tätigkeit heraus, Betriebssprache<br />
gut, sachgerecht und frei von<br />
der Sorge möglicher Sanktionen anwendet.<br />
Stressresistenz wird ermöglicht<br />
durch:<br />
Trainierte Standards, bei denen alle<br />
Arbeitsabläufe bekannt sind und<br />
nichts vergessen wird, ein Komplex<br />
nach dem anderen, je nach Priorität,<br />
abgearbeitet wird und keine Unterbrechung<br />
oder Ablenkung zugelassen<br />
wird.<br />
Optimierte Arbeitsabläufe, bei<br />
denen keiner überlastet, jeder beschäftigt,<br />
jeder wichtig ist.<br />
Standardisierte Call-Outs, die<br />
definierte Situationen mit „Keywords“<br />
und „Keyphrases“ 18 belegen und<br />
nicht länger als ca. zwei Sekunden sein<br />
sollten. Bestätigung, Ausführung und<br />
erneute Statusmeldung runden das<br />
Verfahren ab.<br />
Unstrittig ist dabei auch, dass zwischen<br />
den Phasen erhöhter Arbeitsund<br />
Entscheidungsdichte „normale /<br />
natürliche“ Sprache allgemeine soziale<br />
Wahrnehmung erleichtert und am<br />
besten dazu taugt, ein positives Klima<br />
an Bord zu schaffen. Hier liegt die<br />
Lösung nicht, wie so oft, in der Mitte.<br />
Mit ein bisschen von diesem und ein<br />
bisschen von jenem wird der babylonischen<br />
Sprachverwirrung nur noch<br />
mehr Vorschub geleistet.<br />
33
Klare Betriessprache auf der einen<br />
Seite, wenn Fliegerisches gemeint ist<br />
und normale Umgangssprache auf der<br />
anderen Seite, wenn auch normales<br />
Umgehen miteinander gemeint ist, bilden<br />
in ihrer Dynamik des jeweiligen<br />
situationsgerechten Wechsels ihrer<br />
Anwendung den Schlüssel für gute,<br />
sachgerechte und damit stressresistente<br />
Kommunikation. Betriebssprache<br />
ermöglicht es, allen Anforderungen<br />
angemessen zu begegnen und Informationsangebote<br />
so zu dosieren, dass<br />
Ziele ohne Umwege erreicht werden<br />
können.<br />
Betriebssprache optimiert den Informationsfluss<br />
zwischen Sender und<br />
Empfänger in anspruchsvollen Situationen<br />
und hält die Kommunikationsfähigkeit<br />
nach „außen“ länger aufrecht.<br />
Allerdings darf nicht unerwähnt<br />
bleiben, dass Betriebssprache nicht<br />
allein von sich aus funktioniert – der<br />
Mensch muss sie richtig und sinnvoll<br />
einsetzen.<br />
Gute Kommunikation hat gute<br />
Regeln.<br />
Kommunikation<br />
und Beziehung<br />
Kommunikation im hier beschriebenen<br />
Kontext versteht sich als Kommunikation<br />
zwischen Menschen, die<br />
im Rahmen einer gemeinsamen<br />
Aufgabe, eines gemeinsamen Auftrages,<br />
ein gemeinsames Ziel verfolgen.<br />
Selbst wenn konkretes Verhalten<br />
darauf deuten sollte, dass ein<br />
Beteiligter ein anderes Zwischenziel<br />
verfolgt, so bleibt sicherlich das übergeordnete<br />
Ziel einer insgesamt sicheren<br />
Durchführung des Auftrages<br />
bestehen.<br />
Wo liegen nun die Falltüren<br />
menschlicher Kommunikation?<br />
Kommunikationsviereck<br />
Es sind mehr als 2000 Jahre vergangen,<br />
seit Aristoteles die Ansicht<br />
vertrat, dass die Prozesse und Struk-<br />
turen des Denkens die Struktur der<br />
Sprache bestimmen; gleichsam<br />
Sprache ein Werkzeug des Denkens<br />
sei. Viel ist seither darüber geschrieben<br />
worden.<br />
Ein Modell jedoch aus neuerer Zeit<br />
beschreibt und erklärt Kommunikation<br />
anhand eines Vierecks plausibel, einfach<br />
und daher auch jederzeit umsetzbar.<br />
Es scheint, dass die Beschäftigung<br />
mit den Aspekten des Kommunikationsvierecks,<br />
im Zusammenhang mit<br />
Fragen der verbalen Kommunikation,<br />
besonders unter dem Gesichtspunkt<br />
der Beziehung, wichtig ist.<br />
Nach diesem Modell verfügt jede<br />
Nachricht über vier Seiten. Oder anders<br />
ausgedrückt, über vier Elemente<br />
in die eine Nachricht immer dann zerlegt<br />
werden kann, wenn sich jemand<br />
Gedanken über folgend Frage mache:<br />
„Was will mir diese Nachricht<br />
sagen?“<br />
Ein Gutteil dieser Gedanken wird<br />
gar nicht bewusst verarbeitet, sondern<br />
lässt Emotionen 19 aufkommen, die<br />
zunehmend Raum greifen können<br />
und so bekanntlich verfügbare Kapazitäten<br />
unter Umständen teilweise<br />
lahm legen. Es ist zu vermuten, dass es<br />
die Lebenserfahrung ist, die immer<br />
wieder dazu verleitet, Sachfremdes in<br />
eine Nachricht hinein zu interpretieren,<br />
obwohl objektiv nichts diesbezügliches<br />
gesagt wurde.<br />
Manchmal werden sachfremde<br />
Effekte allerdings auch provoziert.<br />
Sprache kann als Waffe eingesetzt<br />
werden und dabei:<br />
motivieren oder demotivieren,<br />
Menschen aufbauen oder in ihrer<br />
Persönlichkeit zerstören,<br />
Verhalten verstärken oder zur<br />
Hilflosigkeit erziehen.<br />
Doch nun zum Kommunikationsviereck.<br />
Jede Nachricht verfügt über vier<br />
Hauptbotschaften:<br />
1. Die Nachricht beschreibt einen<br />
Sachverhalt.<br />
2. Die Nachricht enthält einen Teil<br />
SelbstoffenbarungdesSenders.<br />
3. Die Nachricht sagt etwas über<br />
die Beziehung zwischen Sender<br />
und Empfänger aus.<br />
4. Die Nachricht beinhaltet einen<br />
Appell.<br />
Ein angenommenes Beispiel aus<br />
dem Bereich „Hubschrauber im Einsatz“:<br />
Nachdem der Kommandant (Kdt)<br />
das Landefeld im Gelände beschrieben<br />
hatte, der Pilot (PF) die Zielansprache<br />
des Kdt als „verstanden und erkannt“<br />
bestätigt hatte, setzte der PF zur<br />
Landung auf direktem Wege an, ohne<br />
dass er den Wind dabei berücksichtigte.<br />
Der Kdt erkannte die Absicht des<br />
PF und sagte mit leicht seufzendem<br />
Unterton: „ Na, landen wir heute wieder<br />
mit Rückenwind?“<br />
Was will uns diese Nachricht<br />
sagen?<br />
Oder anders ausgedrückt: Was ist<br />
ausdrücklich auf der Mitteilungsebene<br />
formuliert worden und was steckt<br />
noch an Botschaften in dieser Nachricht,<br />
auf der Meta-Ebene, ohne daß<br />
es direkt gesagt worden ist?<br />
1. Der Sachinhalt.<br />
<strong>Das</strong>s wir heute wieder mit Rückenwind<br />
landen deutet darauf hin, dass es<br />
sich um eine unerwünschte Wiederholung<br />
eines nicht angemessenen<br />
Verhaltens handelt. Rückenwind und<br />
Fliegerei vertragen sich prinzipiell<br />
nicht, der Anflug in dieser Form ist<br />
insofern falsch.<br />
2. Die Selbstoffenbarung.<br />
Mir ist nicht wohl bei dieser Landung,<br />
das erhöhte Risiko erscheint mir<br />
34 I/2002 FLUGSICHERHEIT
unnütz. Immer, wenn das Risiko nicht<br />
bewusst kalkuliert worden war, habe<br />
ich schlechte Erfahrungen mit solchen<br />
Landungen gemacht. Außerdem ist es<br />
sehr belastend, ständig mit solchen<br />
Anfängern zu fliegen.<br />
3. Die Beziehungsebene.<br />
Ohne meine Hilfe kann „er“ (PF)<br />
nicht die richtige Entscheidung treffen.<br />
Eine Sachauseinandersetzung ist „er“<br />
mir nicht wert. “Er“ kann mir ja doch<br />
nicht das Wasser reichen. Wenn „er“<br />
spürt, dass ich dominiere, wird „er“<br />
sich demnächst wohlgefälliger verhalten.<br />
4. Der Appell.<br />
Ändere die Anflugrichtung und<br />
lande nicht mit Rückenwind!<br />
Dieses Beispiel wirft nur einen kurzen<br />
Fokus auf einen vermutlich bereits<br />
länger andauernden Kommunikationsprozess<br />
innerhalb der Besatzung,<br />
der an dieser Stelle auch nicht beendet<br />
sein wird. Er wird sich dynamisch<br />
weiter entwickeln. Uns ist hier an folgenden<br />
Fragen gelegen:<br />
Bringt diese Art der Kommunikation<br />
die Besatzung am schnellsten<br />
dort hin, wo sie hin will?<br />
Taugt diese Art der Kommunikation<br />
dazu, schnell und präzise die<br />
eigene Vorstellung über die<br />
momentane reale Situation und<br />
den damit verbundenen eigenen<br />
Absichten stressresistent an den<br />
Empfänger weiterzugeben, so<br />
dass dieser Input sachgerecht<br />
und damit zügig und sicher verarbeitet<br />
werden kann?<br />
Setzt diese Art der Kommunikation<br />
Kapazitäten frei, oder blockiert<br />
sie eher, weil sich der<br />
Empfänger mehr mit der Frage<br />
auseinandersetzt „was will der<br />
jetzt von mir“, als das Risiko einer<br />
Rückenwindlandung richtig einzuschätzen.<br />
Natürlich liegt die Lösung auf der<br />
Hand. Der Kdt möchte eine Landung<br />
mit Rückenwind vermeiden; der PF hat<br />
nicht geäußert, dass er das erhöhte<br />
Risiko einer Landung mit Rückenwind<br />
erkannt hätte. Die Vorstellungen bei-<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
der Besatzungsangehörigen über den<br />
weiteren Verlauf des Fluges sind nicht<br />
deckungsgleich und die Zeit drängt. Es<br />
ist nicht die Zeit „Beziehungskisten“<br />
auszuleben, oder mit verkappten und<br />
missverständlichen Anmerkungen<br />
Handwerkliches (skill-/rule-knowledgebased)<br />
20 abzurufen. Kommunikation<br />
in diesem Beispiel verlangt nach sachbezogener<br />
Informationsverarbeitung<br />
und einer klaren Anweisung zu einem<br />
konkreten Verhalten.<br />
Fortsetzung des Beispiels mit geändertem<br />
Ablauf:<br />
Nachdem der Kdt die Absicht des<br />
PF erkannt hatte, sagte er: „ Der<br />
Rückenwind ist zu stark! Right-Hand-<br />
Pattern zur Landung.<br />
Hätte sachgerechte Kommunikation<br />
den gesamten Flug beherrscht,<br />
dann hätte der Informationsaustausch<br />
zwischen Kdt und PF in der Phase des<br />
Anfluges wie folgt ablaufen können 21 ,<br />
Kdt: “Landefeld 12 Uhr, Mittelgrund,<br />
Lichtung links des Weges,<br />
Wind 5 Uhr,<br />
Risiko Leewirbel.“<br />
PF:<br />
“Landefeld erkannt,<br />
Righthand Pattern gegen Wind,<br />
langes Final, kurze Landung<br />
wegen Leewirbel.“<br />
Diese Art der Kommunikation ist<br />
standardisiert, reversibel und funktioniert<br />
auch noch im “Stress“. Sie erfüllt<br />
die Vorgaben für eine sachgerechte<br />
Kommunikation.<br />
Stellt man sich das Kommunikationsviereck<br />
in einer anderen Art und<br />
Weise vor, nämlich als vierohrigen<br />
Empfänger, so kann anhand dieses<br />
Bildes verdeutlicht werden, dass die<br />
meisten Menschen auf einem Ohr<br />
überzogen „deutlich“ hören – meistens<br />
handelt es sich dabei um das<br />
„Beziehungsohr“.<br />
Wir wollen dies nur als Tatsache<br />
feststellen und nicht tiefere Ursachenforschung<br />
betreiben. Unsere Aufgabe<br />
als Besatzungsangehörige ist es, die<br />
richtigen Rückschlüsse daraus zu ziehen<br />
Transaktionsanalyse<br />
Die Transaktionsanalyse (TA) ist ein<br />
weiteres Modell, um kommunikative<br />
Abläufe, insbesondere auf der Beziehungsebene,<br />
plastisch darzustellen.<br />
Dabei hat dieses Modell den Vorteil,<br />
das Hin und Her einer fließenden<br />
Kommunikation sichtbar zu machen;<br />
sie soll deshalb kurz angesprochen<br />
werden.<br />
Die TA geht davon aus, dass drei<br />
„Herzen in unserer Brust schlagen“;<br />
genauer gesagt, drei Persönlichkeitsinstanzen,<br />
die sich als jeweilige Ich-<br />
Zustände abwechselnd als Eltern-Ich,<br />
Kindheits-Ich oder als Erwachsenen-<br />
Ich zu Wort melden können. Sie haben<br />
folgende Prägungen erfahren:<br />
Wenn sich zwei Individuen gegenüberstehen,<br />
mit je drei Herzen in jedermans<br />
Brust, so kann man sich leicht<br />
vorstellen, wie die Reaktionen auf<br />
bestimmte Aktionen aussehen, wenn<br />
35
Eltern-Ich<br />
Erwachsenen-Ich<br />
die Ebene der Ansprache nicht richtig<br />
gewählt ist.<br />
„Na, landen wir heute wieder mit<br />
Rückenwind“ entstammt dem Eltern-<br />
Ich und zielt auf das Kindheits-Ich<br />
des anderen. Dieser andere wird sich<br />
das nicht bieten lassen und je nach<br />
Prägung seines Kindheits-Ichs und<br />
seines Temperaments reagieren; offen<br />
rebellisch, oder vielleicht unterwürfig<br />
leise in sich hinein („so ein Spinner“),<br />
oder aber ganz anders. Auf jeden Fall<br />
ist die so eskalierende Auseinandersetzung<br />
nicht hilfreich und trägt nicht<br />
dazu bei, das Risiko einer Rückenwindlandung<br />
zu beseitigen.<br />
Wir alle kennen<br />
solche<br />
Situationen aus<br />
der Sichtweise<br />
der einen, aber<br />
auch der anderen<br />
Seite. Es ist wichtig,<br />
alle drei Ich-<br />
Zustände zu pflegen<br />
und angemessen<br />
einzusetzen.<br />
Im Cockpit<br />
allerdings muss<br />
das Erwachsenen-Ich der dominierende<br />
Ich-Zustand sein, um nicht nur<br />
sachlich und richtig zu kommunizieren,<br />
sondern auch noch zwischenmenschlich<br />
gut und einwandfrei dazu.<br />
Die Vorteile, die damit in Zusammenhang<br />
stehen, sind mit den<br />
angeführten Argumenten des vorangegangenen<br />
Abschnitts hinreichend<br />
erklärt und gelten hier uneingeschränkt.<br />
Angemessene und gute Kommunikation<br />
hält die Aufmerksamkeit<br />
mit relevanter Information im<br />
Cockpit und bei der Sache.<br />
Werte, Normen, Lebensweisheiten,<br />
Kritik sowie Hilfe und<br />
Behütung.<br />
sachlich, informierend, feststellend,<br />
analysierend, um<br />
Auskunft ersuchend.<br />
Kindheits-Ich natürlich ausgelassen, verspielt,<br />
spontan<br />
angepasst brav, unterwürfig<br />
rebellisch trotzig, patzig, wehleidig.<br />
Kommunikationsfertigkeiten<br />
Bekanntlich ist Kommunikation weder<br />
Energie noch Materie; unsere<br />
naturwissenschaftlichen Erklärungsmodelle<br />
stoßen an ihre Grenzen.<br />
Dennoch kann Kommunikation als<br />
Energieträger gesehen werden, weil<br />
beim jeweiligen Kommunikanten<br />
Energie freigesetzt wird, die ihn in die<br />
Lage versetzen, Aktivitäten zu vollziehen.<br />
Zweifelsohne bedarf es dafür<br />
Energie. Also stehen Kommunikation<br />
und Energie in engem Zusammenhang.<br />
Für uns bleibt also nur die Frage<br />
nach der Richtung der ausgelösten<br />
Energieströme und deren Vorzeichen.<br />
Wir wollen sachgerechte Energieströme,<br />
die Teil der Lösung und nicht<br />
Teil des Problems sind.<br />
<strong>Das</strong>s wir Energie sowohl per eigenem<br />
Bewusstsein (autosuggestiv) aktiv<br />
in uns selbst auslösen können, als<br />
auch passiv durch Verhalten anderer in<br />
uns ausgelöst wird, ist selbstredend<br />
und braucht nicht weiter vertieft werden.<br />
Ein großes Problemfeld steckt dabei<br />
in unserer Fähigkeit zur Grammatik.<br />
Wir können nicht nur beschreiben was<br />
jetzt gerade stattfindet, sondern auch<br />
das, was gewesen ist und das, was<br />
sein wird. Wir können sogar Dinge<br />
sagen, die wir gar nicht meinen, oder<br />
Vermutungen andeuten, die wir zwar<br />
meinen, aber nur vieldeutig verpacken<br />
ohne angreifbar zu sein.<br />
Wenn wir also davon ausgehen,<br />
dass Kommunikation in seiner Richtung<br />
sachgerecht und im Vorzeichen<br />
stark und positiv sein soll, bedarf es<br />
folglich einiger Regeln, damit keine<br />
Zeit mit “Beziehungskisten“ vertan<br />
wird, die in der Sache überhaupt nicht<br />
weiter helfen.<br />
Hier nun einige Gesprächsfertigkeiten<br />
zur Vermittlung von klaren Botschaften:<br />
1. Für sich selbst sprechen!<br />
Eine über sich selbst gemachte<br />
Aussage kann schwer angezweifelt<br />
werden.<br />
2. Sinneswahrnehmungen<br />
mitteilen!<br />
Konkrete Beobachtungen mit<br />
Schlussfolgerungen zu verbinden<br />
führt dazu,<br />
- dass allgemeines Gerede vermieden<br />
wird<br />
- mehr Objektivität möglich ist<br />
- klare und präzise Gedankengänge<br />
generiert werden und<br />
- der Zugang Dritter zu eigenen<br />
Schlussfolgerungen möglich<br />
wird.<br />
Wahrnehmungen müssen wie<br />
folgt beschrieben werden:<br />
- sachbezogen<br />
- wahrnehmbar<br />
- spezifisch<br />
- verständlich<br />
- verifizierbar<br />
3. Gedanken mitteilen!<br />
Wer seine Gedanken mitteilt, sagt,<br />
was sich seiner Meinung nach ereignet.<br />
Gedanken sind Hypothe-<br />
36 I/2002 FLUGSICHERHEIT
sen über eine Situation und deren<br />
Entwicklung. Sie sollen Reaktionszeiten<br />
verringen helfen 22 , stehen<br />
aber oft auf fragwürdigen Fundamenten<br />
und bedürfen deshalb der<br />
ständigen Überprüfung aufgrund<br />
exakter Wahrnehmungen 23 .<br />
Problemfelder:<br />
- Gedanken nicht mit Wahrnehmungen<br />
verwechseln<br />
- Meinungen werden oft durch<br />
noch mehr Daten unterstützt,<br />
die in Wirklichkeit nur mehr<br />
Begründungen für die eigenen<br />
Gedanken darstellen<br />
- Gedanken als das erkennen, was<br />
sie sind – Hypothesen. Man muß<br />
sie anzweifeln können/dürfen,<br />
wenn andere Informationen verfügbar<br />
werden<br />
- Annahmen sind besonders<br />
mächtige Interpretationen.<br />
Mentale Modelle sind stärker als<br />
jede Warnung oder sonstige<br />
Hinweise.<br />
4. Gefühle mitteilen!<br />
Gefühlsäußerungen sind:<br />
- direkte Enthüllungen der eigenen<br />
Befindlichkeit<br />
- Informationsfragmente, die dem<br />
anderen mitteilen, wie eine<br />
Situation erlebt wird<br />
- Thermometer und Barometer für<br />
das Situationserlebnis.<br />
Männer finden es gefährlich, ihre<br />
Gefühle mitzuteilen. Sie möchten<br />
nichts aufwühlen, was sie nicht<br />
kontrollieren können und verbinden<br />
Gefühle mit den Extremen<br />
“Explosivität“ und “Schwäche“<br />
und übersehen, dass der<br />
Gefühlsreichtum zwischen den<br />
Extremen genutzt werden kann 24 .<br />
Gegen Gefühle kann nicht argumentiert<br />
werden.<br />
5. Absichten ausdrücken!<br />
- verhindert unnötiges Raten der<br />
anderen<br />
- beseitigt versteckte Pläne<br />
- reduziert den allgemeinen Druck<br />
6. Handlungen mitteilen!<br />
Handlungsäußerungen beschreiben<br />
das Verhalten<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
- was gerade getan wurde<br />
- was gerade getan wird<br />
- was künftig getan werden wird.<br />
<strong>Das</strong> Aussprechen von Handlungen<br />
ist die Brücke zum Vertrauen,<br />
- dabei sollte auf nichtverbale<br />
Reaktionen der anderen geachtet<br />
werden<br />
- wer sein eigenes Verhalten<br />
akzeptiert, seine Handlungen<br />
äußert, beweist eine positive<br />
Selbsteinschätzung<br />
- Handlungsäußerungen über die<br />
Zukunft sind Führungsäußerungen<br />
25<br />
- auf eigene Körpersignale achten.<br />
Dieses Angebot an Verhaltensstrategien<br />
ermöglicht sachgerechte Kommunikation<br />
auch in Fällen, in denen<br />
persönliche Harmonie zwischen den<br />
Akteuren prinzipiell nicht sehr ausgeprägt<br />
ist. Profis können damit umgehen.<br />
Dennoch macht uns Stress manchmal<br />
zu schaffen.<br />
Stressresistente<br />
Kommunikation<br />
Wer den eigenen Druck in der akuten<br />
Situation kontrollieren möchte,<br />
dem bleibt oft nur die richtige Atemtechnik,<br />
um das “Gröbste“ schnell<br />
und heil zu überstehen. Darüber hinaus<br />
bleibt nur Denken, im Sinne von<br />
Umbewerten, oder Handeln, im Sinne<br />
von Veränderung der Situation.<br />
Im Umgang mit anderen hat schon<br />
der viel gewonnen, der es versucht,<br />
den jeweils anderen zu verstehen.<br />
Dadurch kann sehr viel Stress verhindert<br />
werden, weil klare Vorstellungen<br />
darüber bestehen, was der andere<br />
denkt und wo er die Grenzen des<br />
Möglichen sieht.<br />
Stressresistente Kommunikation ist<br />
die Voraussetzung dafür, das Crew-<br />
Concept unter allen Bedingungen<br />
anwenden zu können.<br />
<strong>Das</strong> gute Crewmitglied sagt das<br />
Richtige.<br />
<strong>Das</strong> bessere Crewmitglied sagt<br />
das Richtige zeitgerecht.<br />
<strong>Das</strong> beste Crewmitglied sagt das<br />
Richtige zeitgerecht und in angemessener<br />
Art und Weise.<br />
Zusammenfassung<br />
Angemessen zu kommunizieren ist<br />
sehr schwierig, denn Kommunikation<br />
will Einfluss auf die Vorstellungen des<br />
anderen nehmen, wobei nur die eigenen<br />
Vorstellungen als Grundlage dafür<br />
dienen.<br />
Unter Beanspruchung verliert sich<br />
in der Regel als erstes die Fähigkeit,<br />
verbal zu kommunizieren und damit<br />
die Fähigkeit, ein Luftfahrzeug sicher<br />
zu führen.<br />
HUMAN PERFORMANCE LIMITATI-<br />
ONS (HPL) setzen enge Grenzen des<br />
eigenen Handelns und der Einflussnahme<br />
in Krisen. Gute und richtige<br />
Kommunikation hält die Leistungsfähigkeit<br />
hoch und kann in kritischen<br />
Situationen Teil des Vorgangs der<br />
Problembeseitigung sein, weil sie<br />
Ressourcen für die Bewältigung des<br />
Unvorhersehbaren bereithalten kann.<br />
Allerdings nur dann, wenn Standards<br />
bestehen und diese trainiert werden.<br />
Die Annahme, sachgerechte Kommunikation<br />
würde schon angewendet<br />
werden, sobald es “eng“ würde, man<br />
bräuchte das nicht zu üben, ist falsch<br />
und verstellt den Blick für Grenzen, die<br />
es schließlich frühzeitig anzuerkennen<br />
gilt.<br />
Kommunikation ist in der Lage<br />
eine Besatzung qualitativ zu verändern;<br />
von einer Ansammlung<br />
von Individuen hin zu einem Team.<br />
<br />
1 Für die Bearbeitung dieses Beitrages stand folgende<br />
Literatur zur Verfügung:<br />
Krech/Crutchfield u.a.: Grundlagen der<br />
Psychologie / Beltz Verlag, Weinheim 1992.<br />
Asanger; Wenninger: Handwörterbuch<br />
Psychologie / Beltz Verlag, Weinheim 1999.<br />
Legewie Heiner, Ehlers Wolfram: Handbuch<br />
moderne Psychologie / Bechtermünz Verlag,<br />
Augsburg 2000.<br />
Forgas, Josef P.: Soziale Interaktion und<br />
Kommunikation / Beltz Verlag, Weinheim 1999.<br />
Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander<br />
37
eden Bd 1-3 / Rowohlt Verlag, Reinbeck 1981.<br />
Schmidt, Rainer: Immer richtig miteinander<br />
reden / Junfermann Verlag, Paderborn 1999.<br />
Watzlawick, Paul u.a.: Menschliche<br />
Kommunikation / Verlag Hans huber, Bern 1990.<br />
Cole, Kris: Kommunikation klipp und klar / Beltz<br />
Verlag, Weinheim 1999.<br />
Gehm, Theo: Kommunikation im Beruf / Beltz<br />
Verlag, 1999.<br />
Orlady Harry W., Orlady Linda M.: Human<br />
Factors in Multi-Crew Flight Operations / Ashgate<br />
Publishing.<br />
Wiener Earl L., Helmreich Robert L., Kanki<br />
Barbara G.: Cockpit Resource Management /<br />
Academic Press, san Diego 1993.<br />
Kern Tony: Redefining Airmanship / Library of<br />
Congress, 1997.<br />
2 Dieses Modell ist hinreichend bekannt.<br />
3 Anmerkung des Verfassers: demnach ist die<br />
Mundart “Kölsch“ ein eigenständiges<br />
Kommunikationssystem.<br />
4 Siehe auch: “Menschliche Kapazitäten – Grenzen<br />
anerkennen“.<br />
5 Siehe auch: “Wahrnehmung“.<br />
6 Der Mensch gehört zur Kategorie des Bio-Kybernetischen-Regelkreises.<br />
7 Der Begriff Stress wird hier als unerwünschter,<br />
schädlicher Stress verstanden, im Sinne einer<br />
hohen Aktivation mit ihren Symptomen..<br />
8 Deshalb wird auf einer international anerkannten<br />
Messskala für Stress der Verlust eines geliebten<br />
Angehörigen auch mit dem in dieser Skala maximal<br />
möglichen Wert von 100 angegeben.<br />
9 Die Literatur spricht davon, dass ein Student im<br />
ersten Semester über 2000-3000 Begriffe verfügt.<br />
Entsprechende Wissenserweiterung kann nach<br />
Abschluss des Studiums zu einem präsenten<br />
Wortschatz von ca.6000 Begriffen führen. Ein<br />
Ausbau bis ca. 9000 ist möglich.<br />
10 Siehe auch: “Wahrnehmung –<br />
<strong>Wahrnehmungs</strong>intervall“.<br />
11 Mit Beanspruchung ist hier den Umgang mit<br />
Belastung gemeint. Interne Bewertungsvorgänge<br />
lassen vergleichbare Ereignisse in unterschiedlichen<br />
Rahmenbedingungen unterschiedlich dramatisch<br />
erscheinen. „Stress findet im Kopf statt“!<br />
12 Die Stimmlage hebt an, wenn Beanspruchung<br />
steigt.<br />
13 Siehe auch: “Menschliche Kapazitäten –<br />
Aktivation“.<br />
14 Nicht mehr sprechen können, nicht mehr denken<br />
können, nicht mehr handeln können.<br />
15 <strong>Das</strong> Modell “Sprachvolumen 3 – Stressmodell“<br />
soll verdeutlichen, wie einzelne Besatzungsangehörige<br />
/ Crewmember (CM), in diesem Beispiel<br />
drei CM mit je einem individuellen Sprachvolumen,<br />
unter dem Einfluss von erlebtem Stress ihre<br />
Kommunikationsfähigkeit verlieren und u.U. ihre<br />
gesamte Leistungsfähigkeit einbüßen, wenn sie<br />
auf der “Aktivationsleiter“ zu weit nach rechts<br />
auswandern. Es ist nachweisbar, dass CM, je nach<br />
erlebter Bedeutung einer Situation, nacheinander<br />
das Kommunikationsvermögen verlieren, bis hin<br />
zur allgemeinen Sprachlosigkeit.<br />
16 Betriebssprache ist hier nicht durchgängig einheitlich,<br />
bisweilen individuell und außerhalb des<br />
„eigenen“ Verbandes können für fliegerisch vergleichbare<br />
Situationen andere Begriffe entwickelt<br />
worden sein.<br />
17 Gravierende Unterschiede in: Dienstgrad, Dienststellung,<br />
Zusatzberechtigungen, Flugstunden,<br />
Alter, usw.<br />
18 Siehe auch: “Menschliche Kapazitäten –<br />
Aktivation“ und “Wahrnehmung“, Keywords/-<br />
phrases kommen mentalen Schaltern gleich, die<br />
per Zuruf auch dann noch „umgelegt“ werden<br />
können, um eine Handlung einzuleiten, wenn<br />
kaum noch eigenständiges Handeln möglich ist.<br />
Auch das funktioniert nur nach vorherigem<br />
Training.<br />
19 Siehe auch: “Wahrnehmung – unbewusste<br />
Wahrnehmung“.<br />
20 Siehe auch: “Entscheidungsfindung – S-R-K-<br />
Modell“.<br />
21 Vorbehaltlich anders lautender Standardisierung in<br />
den TSK.<br />
22 Siehe auch: “Aufmerksamkeit – Priming“.<br />
23 Siehe auch: “Entscheidungsfindung – Rubikon“.<br />
24 Siehe auch: “Wahrnehmung – unbewusste<br />
Wahrnehmung“.<br />
25 Siehe auch: “Führungs- und Handlungsverantwortung“.<br />
38 I/2002 FLUGSICHERHEIT
Entscheidungsfindung<br />
Allgemeines<br />
Der Entscheidungsfindungsprozess<br />
gehört zur Kategorie menschlicher Informationsverarbeitung.<br />
Unser waches<br />
Leben ist ein kontinuierlicher Prozess<br />
ständiger Entscheidungen auf unterschiedlichen<br />
Bewusstseinsebenen 1 .<br />
Es darf festgestellt werden, dass<br />
Informationsverarbeitung immer wissensgestützt<br />
2 erfolgt und damit auch<br />
Entscheidungen auf jegliche Art von<br />
Wissen zurückgreifen.<br />
Unsere Entscheidungen betreffen<br />
viele Bereiche des täglichen Lebens.<br />
Eine Abgrenzung in groben Kategorien,<br />
über was wir entscheiden, könnte<br />
auszugsweise wie folgt aussehen:<br />
Körperbewegungen im weiteren<br />
Sinne,<br />
Objektauswahl,<br />
soziale Kontakte,<br />
Lebensplanung,<br />
Handlungen,<br />
Risikobereitschaft<br />
Dieser Beitrag wird sich im wesentlichen<br />
auf die Kategorie der Handlungen<br />
konzentrieren, weil diese in<br />
einem fliegerischen Umfeld, ungeachtet<br />
dessen, wodurch und wie sie ausgelöst<br />
wurden, in die eine oder andere<br />
Richtung unmittelbar sicherheitsrelevanten<br />
Charakter haben können.<br />
Da es sich bei einem Entscheidungsfindungsprozess,<br />
wie bereits<br />
oben erwähnt, immer um wissensgestützte<br />
Informationsverarbeitung handelt<br />
3 , wird klar, dass eine Entscheidung<br />
nur unter bestimmten Voraussetzungen<br />
herbeigeführt wird. Die fiktive<br />
Aufforderung ohne Kontext „entscheide<br />
mal was“ 4 , wird bei dem so<br />
angesprochenen Gegenüber sicherlich<br />
nur Unverständnis und Kopfschütteln<br />
hervorrufen.<br />
Was brauchen wir denn nun, um<br />
überhaupt entscheiden zu können?<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
Eine Triade 5<br />
Jeder Handlung geht ein Anstoß,<br />
ein Impuls voraus, aus dem heraus ein<br />
Entscheidungsfindungsprozess ausgelöst<br />
werden kann.<br />
Jede Variante von unterschiedlichen<br />
Entscheidungsfindungsprozessen läuft<br />
prinzipiell nach dem gleichen Muster<br />
ab. Zunächst muss ein Konflikt wahrgenommen<br />
6 werden, erst dann setzt<br />
ein Entscheidungsfindungsprozess ein,<br />
der mit einer Entscheidung abgeschlossen<br />
wird und aus der heraus<br />
letztlich ein Entschluss formuliert wird.<br />
Dabei ist für uns die Unterscheidung<br />
zwischen Entscheidung und<br />
Entschluss eher akademisch, sie soll<br />
der Vollständigkeit halber jedoch kurz<br />
vollzogen werden.<br />
Konflikt<br />
Unter einem Konflikt wird eine<br />
Situation verstanden, in der dem<br />
Individuum bewusst wird, zwischen<br />
mindestens zwei Verhaltensweisen<br />
39
wählen zu können. Die relative<br />
Schwere des Konflikts steigt mit der<br />
Unsicherheit der Person,<br />
wie sie wählen soll,<br />
ob schwerwiegende Folgen mit<br />
der Lösung des Konflikts verbunden<br />
sind, und<br />
ob sie selbst oder Mitmenschen<br />
von den Folgen der Lösung des<br />
Konflikts betroffen sein können.<br />
Entscheidung<br />
Die Situation wird zu einer Entscheidung,<br />
wenn die Person sich<br />
genötigt sieht, eine der wahrgenommenen<br />
Alternativen zu wählen, also<br />
die Alternativen zu vergleichen, sich<br />
auf eine festzulegen und entsprechend<br />
zu handeln.<br />
Entschluss<br />
Unter Entschluss versteht man die<br />
Festlegung des Wählenden vor sich<br />
und vielleicht auch vor anderen.<br />
An dieser Definition wird klar, dass<br />
für unsere Betrachtung Entscheidung<br />
gleich Entschluss ist, weil beide dieselbe<br />
Handlung auslösen.<br />
Merkmale eines Entscheidungsprozesses<br />
<strong>Das</strong>s wir gerade mal wieder etwas<br />
entscheiden, ist uns oft gar nicht so<br />
richtig bewusst. Es gibt einige Merkmale,<br />
an denen zu erkennen ist, dass<br />
ein Entscheidungsprozeß eingesetzt<br />
hat.<br />
Die Merkmale erstrecken sich auf<br />
die Bereiche des beobachtbaren Verhaltens<br />
und des persönlichen Erlebens.<br />
Beispiele dafür sind die Unterschiede<br />
im Verhalten und Erleben vor und<br />
nach einem Fallschirmsprung, vor und<br />
nach dem Rettungsausstieg aus dem<br />
gefluteten und gekippten Unterwasserausstiegstrainer<br />
im Seeüberlebens-<br />
Trainingsbecken, bzw. vor, während<br />
und nach einer Prüfung.<br />
Wie verhält sich nun jemand, bzw.<br />
wie äußert sich das Erleben, wenn<br />
jemand einen Entscheidungsprozess<br />
durchläuft?<br />
Verhalten<br />
jemand wählt eine bestimmte<br />
Alternative, wägt ab,<br />
die Zeit, die zwischen Beginn<br />
und Ende eines Entscheidungsprozesses<br />
zur Verfügung steht,<br />
beeinflusst das Verhalten maßgeblich,<br />
von nachdenklicher<br />
Ruhe bis hin zu selbstzerstörerischer<br />
Hektik,<br />
eine gezielte Suche nach Information<br />
7 mit all ihren möglichen<br />
Auswirkungen,<br />
Anzeichen von Unsicherheit.<br />
Erleben<br />
das Ausmaß subjektiver Sicherheit,<br />
der sogenannten Konfidenz<br />
8 , sich richtig entschieden zu<br />
haben,<br />
die erlebte Konfliktstärke,<br />
die Wichtigkeit der Entscheidung,<br />
das Bedürfnis an Information.<br />
Abgrenzung 9<br />
Eine mögliche Unterscheidung verschiedener<br />
Entscheidungsfindungsprozesse<br />
ist die Unterscheidung nach Art<br />
und Umfang des kognitiven 10 Aufwands.<br />
Der Aufwand hängt weitgehend<br />
davon ab, ob die entscheidungsrelevante<br />
Information vorliegt, oder ob<br />
das notwendige Wissen erst angeeignet<br />
und strukturiert werden muss.<br />
Zwischen weitgehend automatisierten<br />
und mühelos ablaufenden Entscheidungen<br />
einerseits, ausführliche Informationssuche<br />
und –verarbeitung erfordernde<br />
Entscheidungen andererseits,<br />
gibt es einen Anstieg der Nutzung<br />
kognitiver Ressourcen.<br />
Es können vier Ebenen unterschieden<br />
werden.<br />
Routinisierte Entscheidung<br />
Die erste Ebene von Entscheidungen<br />
ist dadurch charakterisiert, dass<br />
die möglichen Optionen stets gleich<br />
sind und zwischen ihnen routinemäßig<br />
oder automatisch gewählt wird. Solche<br />
Entscheidungen verlangen den<br />
geringsten kognitiven Aufwand. Der<br />
Aufwand besteht im wesentlichen im<br />
Abgleich der gegebenen Situation mit<br />
vorgespeicherten Situationen und den<br />
in ihnen fixierten Entscheidungen;<br />
man spricht hier von einem „Matching<br />
- Prozess“.<br />
Beispiele dafür sind:<br />
Die morgendliche Fahrt mit dem<br />
Auto zum Dienst,<br />
Der Landeanflug bei gutem<br />
Wetter am Heimatflugplatz,<br />
Die Vorflugkontrolle an einem<br />
Lfz,<br />
<strong>Das</strong> Führen eines Lfz im GCA-<br />
Pattern als GCA-Controller.<br />
Stereotype Entscheidung<br />
Diese Ebene unterscheidet sich von<br />
der vorherigen dadurch, dass hier eine<br />
Entscheidung nicht durch die Gesamtsituation<br />
ausgelöst wird, sondern<br />
durch die Art der möglichen Entscheidungsoptionen<br />
und dadurch, dass ein<br />
minimaler Bewertungsprozess abläuft.<br />
Hier stecken die meisten Alltagsentscheidungen<br />
drin, die nach erlernten<br />
Bewertungsschemata ablaufen,<br />
die nicht weiter hinterfragt werden.<br />
Die Bewertung reduziert sich so auf<br />
den unmittelbaren Gesamteindruck<br />
oder auf wenige hervorstechende<br />
Merkmale der Optionen.<br />
In dieser Entscheidungsebene finden<br />
wir vorrangig intuitive Entscheidungen,<br />
die aus „dem Bauch“ heraus<br />
getroffen werden, weil sie auf Erfahrung<br />
basieren. Nach einer stereotypen<br />
Entscheidung sind wir meist<br />
zufrieden, können jedoch den Prozess<br />
der Entscheidungsfindung nicht<br />
unmittelbar rational nachvollziehen<br />
oder formulieren.<br />
Als Beispiele dafür können folgende<br />
Überlegungen gelten:<br />
Kaufe ich mir eine bestimmte<br />
Marke eines Produkts, oder ist<br />
für mich die Funktionalität vorrangig<br />
wichtig?<br />
War für mich, bei meiner<br />
Berufswahl zum LFF Fliegen das<br />
Wichtigste, oder kam es für mich<br />
nur dann in Frage, wenn Fliegen<br />
auf einem bestimmten Lfz-<br />
40 I/2002 FLUGSICHERHEIT
Muster möglich war, oder eine<br />
ganz bestimmte Organisation<br />
mir das Fliegen ermöglichte?<br />
Reflektierte Entscheidung<br />
Reflektierte Entscheidungen sind<br />
dadurch charakterisiert, dass keine aus<br />
dem Verhalten oder stereotyp abrufbaren<br />
Vorentscheidungen für die<br />
wahrgenommenen Optionen vorhanden<br />
sind. Der Entscheider denkt darüber,<br />
welcher Option er den Vorzug<br />
geben soll. Er sucht nach Informationen<br />
in seinem Gedächtnis und gegebenenfalls<br />
auch in seiner Umgebung<br />
und setzt so sein Bewusstsein in<br />
einen Zustand, der ihm die Auswahl<br />
aus verschiedenen Optionen ermöglicht<br />
– hoffentlich eine angemessene<br />
Auswahl.<br />
Dies erfordert einen wesentlich<br />
höheren kognitiven Aufwand als die<br />
bisher beschriebenen routinisierten<br />
und stereotypen Entscheidungen.<br />
Beispiele dafür könnten sein:<br />
Der Überführungsflug mit einem<br />
bewusstlosen Herz - Lungen-<br />
Patienten bei sehr schlechtem<br />
Wetter, bedrohlich abnehmendem<br />
Kraftstoffvorrat und abnehmender<br />
Batteriespannung der<br />
Herz-Lungen-Maschine,<br />
Der Wiederstart am Zwischenlandeplatz<br />
mit ausgefallenem<br />
Fahrtmesser an einem Freitag,<br />
Die Faszination eines wenig vertrauten<br />
EMERGENCIES bei gleichzeitig<br />
unzureichendem technischen<br />
Sachverstand.<br />
Die Flugsicherungsfreigabe zum<br />
Überflug des Staffelgebäudes<br />
querab zur Start- und Landebahn<br />
(aus Anlass des letzten Fluges), bei<br />
gleichzeitig stattfindenden Anflügen<br />
und Durchstartverfahren.<br />
Konstruktive Entscheidung<br />
Für diese Entscheidungsebene sind<br />
zwei weitere Aspekte charakteristisch:<br />
Die Optionen sind entweder<br />
nicht vorgegeben oder nicht hinreichend<br />
genau definiert.<br />
Die für die Entscheidung relevan-<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
ten persönlichen Werte sind entweder<br />
unklar oder müssen erst<br />
entwickelt werden.<br />
Entscheidungen auf dieser Ebene<br />
verlangen den höchsten kognitiven<br />
Aufwand, insbesondere auf dem Gebiet<br />
der Informationsbeschaffung.<br />
Beispiele dafür sind alle grundlegenden<br />
Entscheidungen und solche<br />
Entscheidungen von strategischer<br />
Dimension.<br />
Merkmale der<br />
Entscheidungsebenen<br />
Alle hier aufgeführten und kurz<br />
definierten vier Entscheidungsebenen<br />
haben auch mit Flugbetrieb zu tun,<br />
wobei letztere, die konstruktive Entscheidung,<br />
im Cockpit direkt und auf<br />
der sonstigen Arbeitsebene eines Geschwaders/<br />
eines Regiments / einer<br />
Staffel, in der Regel nicht anzutreffen<br />
sein wird bzw. nicht anzutreffen sein<br />
dürften.<br />
Alle anderen Entscheidungsebenen<br />
jedoch begleiten das tägliche Leben<br />
aller in Führungs- und Handlungsverantwortung<br />
stehenden<br />
Luftfahrzeugbesatzung,<br />
Ebene<br />
Techniker, die Lfz bereitstellen,<br />
Personal der Flugsicherung, das<br />
den Flugverkehr koordiniert und<br />
steuert.<br />
Die anschließende Tabelle soll in<br />
übersichtlicher Form verdeutlichen,<br />
wie viele kognitiven Ressourcen die<br />
einzelnen Ebenen beanspruchen und<br />
welche sich deshalb für den unmittelbaren<br />
Flugbetrieb besonders eignen<br />
und welche eher in die Planungsphase<br />
gehören.<br />
<strong>Das</strong>s solche eindeutigen Trennungen<br />
nicht immer möglich sind, weil<br />
sich Unvorhergesehenes einstellen<br />
kann, ist klar. Dennoch darf die Verfügbarkeit<br />
von Ressourcen nicht leichtfertig<br />
aufs Spiel gesetzt werden, damit<br />
das wirklich Unvorhersehbare mit den<br />
in der Situation verfügbaren Ressourcen<br />
kontrolliert werden kann.<br />
Im Flugbetrieb durchdringen, wie<br />
bereits oben angedeutet, die Ebenen<br />
eins bis drei unser Handeln. Da die verschiedenen<br />
Ebenen unterschiedlich<br />
viele mentale / kognitive Ressourcen<br />
binden, dauert es auch unterschiedlich<br />
lange, bis eine Entscheidung je nach<br />
Ebene getroffen werden kann 11 .<br />
routiniert stereotyp reflektiert konstruktiv<br />
Bewusstheit nein niedrig hoch hoch<br />
Anforderung<br />
an Aufmerk- sehr gering gering hoch sehr hoch<br />
samkeit<br />
Generierung<br />
neuer Infor- nein nein ja ja<br />
mationen<br />
Zeitdauer schnell schnell schnell-lang lang<br />
Flexibilität kaum gering hoch sehr hoch<br />
Vorstrukturiertheit<br />
sehr hoch hoch hoch-mittel gering<br />
Gedächnis- Gewohn- Schemata, Ziele, allgemeines<br />
leistung heits- Konse- Wissen<br />
hierarchie Skripte quenzen<br />
kognitive Matching Schemata- Bewertung, Konstruktions-<br />
Prozesse aktivierung Abwägen prozesse<br />
41
<strong>Das</strong> S-R-K-Modell<br />
<strong>Das</strong> SRK - modell 12 zeigt in verblüffender<br />
Weise auf, unter welchen Bedingungen<br />
Verhalten, dem natürlich<br />
immer eine Entscheidung auf einer der<br />
oben dargestellten Ebenen vorausgeht,<br />
schnell oder nicht so schnell verfügbar<br />
ist.<br />
In einer Testreihe wurden Reaktionszeiten<br />
von Lfz - Führern für bestimmte<br />
Entscheidungsprozesse gemessen,<br />
die in folgende Kategorien<br />
gegliedert waren:<br />
1. Manuelle Fertigkeiten / Reflexe<br />
SKILL BASED BEHAVIOR 13<br />
Reflexe wurde bei LFF - Anwärtern<br />
mit 150-300 Sekunden -3 (ms) gemessen;<br />
nach Abschluss von Ausbildung<br />
und Training mit bis zu 60 ms.<br />
2. Regelanwendung<br />
RULE BASED BEHAVIOR 14<br />
Die Reaktionszeit, um eine bekannte<br />
Regel anzuwenden, die zusätzlich<br />
im Rahmen der Vorbereitung für die<br />
Durchführung der Mission „gebrieft“<br />
worden war, oder aufgrund anderer<br />
mentaler Vorbereitung (Priming) 15 erwartet<br />
wurde, dauerte 2-3 sec.<br />
Die gleiche bekannte Regel, die<br />
jedoch nicht „gebrieft / geprimed“<br />
wurde und die auch nicht aufgrund<br />
anderer mentaler Vorbereitung unmittelbar<br />
abrufbar war, konnte erst nach<br />
ca. 15 sec angewendet werden.<br />
3. Wissensanwendung KNOWLEDGE<br />
BASED BEHAVIOR 16<br />
Eine Situation, die weder mit Fertigkeiten,<br />
noch mit bekannten Regeln<br />
bewältigt werden konnte, setzte einen<br />
analytischen Denkprozess in Gang, der<br />
auf allgemeines Wissen und allgemeine<br />
Erfahrung zurückgreifen musste.<br />
Hier lagen die Reaktionszeiten bei 45 +<br />
sec.<br />
Diese Werte sind unter der Bezeichnung<br />
„Rasmussenleiter“ in der<br />
einschlägigen Literatur nachzulesen<br />
und ermöglichen interessante Rückschlüsse.<br />
Eine Statistik weist darauf hin, dass<br />
Handlungen im Flugbetrieb ca. 10 - 15<br />
sec nach Ausführung ihre volle Wir-<br />
Skill based<br />
behavior<br />
Rule based<br />
behavior<br />
Knowledge<br />
based<br />
behavior<br />
kung erzielen. Sollte diese Handlung<br />
eine Situation herbeiführen, die unerwünscht<br />
ist und unter Anwenden<br />
einer weiteren bekannten, allerdings<br />
nicht präsenten, Regel korrigiert werden<br />
muss, dauert es erneut 10 - 15<br />
sec, bis die korrigierende Handlung<br />
eingeleitet werden kann.<br />
Für kritische Situationen ist dies<br />
und alles was darüber hinaus geht,<br />
ein nicht hinnehmbarer Zeitansatz.<br />
Innerhalb dieser Zeiträume geschehen<br />
Unfälle.<br />
Wir können nicht unbedingt das<br />
Geschehen um uns herum beeinflussen<br />
- wir können allerdings<br />
unsere Reaktionszeiten drastisch<br />
reduzieren.<br />
Wir sind in der Lage innerhalb von<br />
2-3 sec angemessen auf kalkulierte<br />
Herausforderungen zu reagieren. Es<br />
liegt auf der Hand, diesen Zeitansatz<br />
anzustreben und deshalb Verfahren<br />
anzuwenden, die diese Reaktionszeiten<br />
ermöglichen.<br />
Voraussetzungen<br />
für Entscheidungen<br />
Wie bereits weiter oben erwähnt,<br />
brauchen Entscheidungen einen Anstoß,<br />
der das Entscheidungsbewusstsein<br />
aktiviert. Es lohnt sich, etwas<br />
genauer hinzuschauen, denn die<br />
Geschwindigkeit und die Qualität von<br />
Entscheidungsprozessen müssen mit<br />
der Komplexität und der Dynamik des<br />
Umfeldes mithalten können.<br />
ohne Training<br />
mit Training<br />
Regel bekannt<br />
gebrieft<br />
Regel bekannt<br />
nicht gebrieft<br />
≥ 45 sec<br />
ca. 0,3 sec<br />
≥ 0,06 sec<br />
ca. 2 sec<br />
ca. 15 sec<br />
<strong>Das</strong> größte Hindernis dabei ist, den<br />
entsprechenden Bewusstseinszustand<br />
herzustellen, denn viel zu oft gaukelt<br />
uns unser mentales Modell 17 einen<br />
Zustand über die uns beeinflussende<br />
Wirklichkeit vor, der mit Realität kaum<br />
vereinbar ist und dennoch halten wir<br />
allzu gern, auch unter Energieaufwand,<br />
an der eigenen Vorstellung fest.<br />
Im Folgenden soll der Versuch<br />
unternommen werden, bildhaft darzustellen,<br />
wie die Systematik eines Entscheidungsfindungsprozesses<br />
rechtzeitig<br />
ausgelöst werden kann.<br />
Der Weg-Ziel-Konflikt<br />
Die Entscheidung braucht einen<br />
wahrgenommenen Weg-Ziel-Konflikt.<br />
Damit ist gemeint, dass ein bekannter<br />
Plan nicht wie vorgesehen durchgeführt<br />
werden kann, weil etwas Unvorhergesehenes<br />
eingetreten ist, wodurch<br />
die Zielerreichung gefährdet sein<br />
könnte.<br />
Dinge, die vorhersehbar waren,<br />
wurden in die Planung mit einbezogen<br />
und für den Fall des Eintretens mit<br />
Ausweichplanungen bedacht. Um<br />
Plan „B“ oder „C“ anzuwenden, fände<br />
eine Entscheidung auf der „Ebene<br />
zwei“ statt, die unverzüglich umgesetzt<br />
werden könnte, weil alle dafür<br />
erforderlichen Parameter bekannt,<br />
durchdacht und gebrieft bzw. benannt<br />
worden sind.<br />
Tritt, wie in dem geschilderten Beispiel,<br />
etwas Unvorhergesehenes ein,<br />
erreicht der Entscheidungsfindungs-<br />
42 I/2002 FLUGSICHERHEIT
prozess die „Entscheidungsebene<br />
drei“, sofern mehrere Optionen für ein<br />
angemessenes Verhalten zur Verfügung<br />
stehen und Erfahrungen bzw.<br />
Wissen aus vorangegangenen ähnlichen<br />
Situationen vorliegen. Dennoch<br />
werden hier deutlich mehr Ressourcen<br />
verbraucht, um eine Entscheidung auf<br />
dieser Anforderungsebene herbeizuführen.<br />
Die Feststellung der Normabweichung<br />
Die Orientiertheit darüber bzw. das<br />
Bewusstsein, dass eine Entscheidung<br />
zu fällen ist, kann zeitgerecht erreicht<br />
werden, wenn die Grenze, an der<br />
spätestens eine Entscheidung zu fällen<br />
ist, bekannt ist. Doch damit nicht genug.<br />
Diese Grenze muss im Kontext<br />
des Vorhabens identifiziert und verbalisiert<br />
18 werden, damit die Reaktionszeiten<br />
nach der Rasmussenleiter<br />
entsprechend verkürzt werden<br />
können.<br />
Grundlage für die Beschreibung<br />
einer Grenze ist die Beschreibung der<br />
Norm mit ihren Toleranzen.<br />
In diesem Beispiel ist die Norm (nor-<br />
mal operating) einer Leistungsanforderung<br />
(LA) mit ihrer Toleranz (never<br />
exceed line) für Tätigkeiten (T) im<br />
Rahmen eines Handlungsabschnitts im<br />
Prinzip dargestellt.<br />
Weitere Leistungsanforderungen in<br />
einem fliegerischen Umfeld können<br />
sich in Anlehnung an Toni Kern (siehe<br />
„Aufmerksamkeit“) auf folgende Bereiche<br />
beziehen:<br />
Die eigene Leistungsfähigkeit<br />
Leistungsfähigkeit des Teams<br />
Leistungsfähigkeit des technischen<br />
Systems<br />
Einsatzbedingungen<br />
Rahmenbedingungen des Umfeldes<br />
Die nächste Grafik zeigt eine Abweichung<br />
von einer definierten Normtoleranz<br />
innerhalb eines Handlungsabschnitts,<br />
die eine Entscheidung erforderlich<br />
macht.<br />
Im günstigsten Fall würde die Entscheidung<br />
bereits mit der Wahrnehmung<br />
der Trendlinie getroffen<br />
werden.<br />
Mit der Benennung einer „never<br />
exceed line“ an der Toleranzgrenze<br />
von Normen ist nur ein Teil für das Ziel<br />
einer zeitlich und qualitativ angemessenen<br />
Entscheidungsfindung getan.<br />
Der andere Teil besteht daraus, diese<br />
Grenze effizient zu überwachen.<br />
Die Überwachung der Norm<br />
Die Qualität jeder Entscheidung<br />
hängt von dem Grad der jeweiligen<br />
Orientiertheit bezüglich des relevanten<br />
Umfeldes, oder anders formuliert, der<br />
jeweiligen Sensibilität des Bewusstseins<br />
ab.<br />
Ein situationsangemessenes Bewusstsein<br />
ist die Voraussetzung für<br />
gute Entscheidungen und gründet<br />
primär auf Fakten. Um die Kontrolle<br />
über den komplexen, dynamischen<br />
Ablauf eines Geschehens zu behalten,<br />
ist die ständige Überwachung der<br />
never exceed lines erforderlich. Dies<br />
geschieht mittels situativer Aufmerksamkeit<br />
(SA), die zielgerichtet<br />
Grenzen überwacht – eine hohe Anforderung<br />
an die menschlichen Fähigkeiten,<br />
die nur unter bestimmten Bedingungen<br />
erbracht werden kann 19 .<br />
Dieser Aspekt wird in einem eigenen<br />
Artikel behandelt.<br />
Nicht genug, dass das Bewusstsein<br />
eine entscheidende Rolle spielt. Nein,<br />
wir als Menschen unterliegen auch<br />
noch einem Bewusstseinswandel im<br />
Gesamtgeschehen von der Planung<br />
bis hin zur Durchführung.<br />
<strong>Das</strong> Bewusstsein in<br />
der Entscheidungsphase<br />
Gehen wir an die Planung eines<br />
Vorhabens, so beginnen wir mit einem<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
43
Vergleich zwischen der Ausgangslage<br />
und dem angestrebten Zielzustand.<br />
Die Lage wird deutlicher, wenn entsprechende<br />
Informationen vorliegen;<br />
also suchen wir Informationen, die wir<br />
zuordnen und bewerten. Wir halten<br />
dafür verschiedene Regeln und<br />
Strategien parat, die der jeweilige<br />
Situation angepasst werden.<br />
Es gilt das Prinzip:<br />
Je höher der Zeitdruck, desto einfacher<br />
die Regeln. Im Extremfall<br />
werden nur die wichtigsten Merkmale<br />
beachtet 20 .<br />
Diese Vorgänge sind nicht neu und<br />
werden in aller Regel systematisiert angewendet.<br />
Sie gelten im privaten wie<br />
auch im dienstlichen Bereich und müssen<br />
daher auch nicht weiter vertieft<br />
werden.<br />
Es ist jedoch bemerkenswert, dass<br />
der Grad an Intensität, mit der Informationen<br />
gesucht, zugeordnet und<br />
bewertet werden wesentlich davon<br />
abhängt, wie stark der Planende persönlich<br />
vomGeschehen, welches durch<br />
die angestrebte Entscheidung ausgelöst<br />
wird, betroffen ist 21 , wie hoch sein<br />
Selbstbezug ist.<br />
Neben dieser persönlichen Betroffenheit<br />
mit ihrer möglichen Sorge um<br />
Konsequenzen, spielen auch noch persönliche<br />
Motive eine Rolle 22 . Stark<br />
systematisierte Entscheidungsprozesse<br />
sind weitestgehend frei von solchen<br />
Erscheinungen. Individuelle Entscheidungsprozesse<br />
jedoch sind davon sehr<br />
stark geprägt. Oft spielt dabei auch die<br />
Gelegenheit für ein bestimmtes Verhalten<br />
eine entscheidende Rolle 23 .<br />
Stellvertretend für so Viele soll eine<br />
Episode aus der Lebensgeschichte<br />
Cäsars kurz geschildert werden, die<br />
das motivationale Abwägen vor einer<br />
wichtigen Entscheidung beschreibt:<br />
Cäsar war aus Gallien abberufen<br />
worden und sollte als Triumphator in<br />
Rom empfangen werden. Bedingung<br />
dafür war, dass er, wie jeder andere<br />
Feldherr vor ihm auch, vor Einzug in<br />
die Stadt seine Truppen aufzulösen<br />
hatte. Mit dieser Regel konnte und<br />
wollte er sich nicht abfinden, weil das<br />
seinen persönlichen Niedergang bedeutet<br />
hätte. Nun stand er im Jahre 49<br />
v.Ch. nördlich der Stadt Rom am Flüsschen<br />
RUBIKON 24 und wusste nicht so<br />
recht, wie er sich letztlich entscheiden<br />
sollte, denn ein Überschreiten des RU-<br />
BIKON mit seinen Legionen hätte<br />
sicher einen Bürgerkrieg mit ungewissem<br />
Ausgang ausgelöst. Eine ganze<br />
Nacht lang brauchte er, um sich immer<br />
wieder mit seinen engsten Vertrauten<br />
zu beraten, in sich zu gehen, sich wieder<br />
zu beraten, bis er endlich im<br />
Morgengrauen ausrief: „Die Würfel<br />
sind gefallen“. Er überschritt den RU-<br />
BIKON, löste den Bürgerkrieg aus, an<br />
dessen Ende er siegreich war. Für die<br />
nächsten Jahre sollte er als Kaiser die<br />
Geschicke Roms und seine eigenen<br />
bestimmen. 25<br />
Hier wird deutlich, dass auch Cäsar,<br />
unter dem Eindruck eines maximalen<br />
Selbstbezuges, jede Information, jede<br />
Bewertung, auch seiner Vertrauten,<br />
jedes Motiv und jedes Risiko identifizieren<br />
und in die Gesamtbeurteilung<br />
mit einbeziehen wollte und alles ihm<br />
mögliche daran setzte, dies auch zu<br />
tun. Am Ende dieses Entscheidungsprozesses,<br />
der<br />
hoch realitätsorientiert und<br />
offen für alle entscheidungsrelevanten<br />
Informationen<br />
war, stand die Entscheidung mit<br />
ihrem Entschluss. Doch wie sah die<br />
Bewusstseinslage Cäsars nach Überschreiten<br />
des RUBIKON aus?<br />
<strong>Das</strong> Bewusstsein<br />
in der Willensphase<br />
Nach einem Entschluss erfolgt in<br />
der Regel unmittelbar die Umsetzung.<br />
<strong>Das</strong> heißt, das im Anschluss an die<br />
Phase des planerischen Abwägens,<br />
nun die Willensphase einsetzt und mit<br />
ihr vollzieht sich eine Bewusstseinsänderung.<br />
Bis zu einem gewissen<br />
Grad muss das so sein, denn auch<br />
Cäsar hätte sein Ziel vermutlich nicht<br />
erreicht, wenn er sich immer wieder, in<br />
kurzen Abständen, Phasen des motivationalen<br />
Abwägens hingegeben<br />
hätte. Irgendwann muss eben konsequent<br />
gehandelt werden.<br />
Die Willensphase zeichnet sich<br />
dadurch aus, dass sich Menschen, im<br />
Gegensatz zur Entscheidungsphase,<br />
sehr hoch realisierungsorientiert verhalten.<br />
<strong>Das</strong> bedeutet, dass auch<br />
durchaus wichtige Informationen, die<br />
in der Entscheidungsphase gerne aufgenommen<br />
und verarbeitet worden<br />
wären, in der Willensphase einer<br />
Handlung jedoch nicht, oder nicht hinreichend,<br />
Beachtung finden 26 . Diese<br />
Veränderung des Bewusstseins im<br />
Übergang von der Entscheidungsphase<br />
zur Willensphase nennt man in<br />
der Fachliteratur, die sich mit menschlichen<br />
Prozessen der Entscheidungsfindung<br />
befasst, „Rubikoneffekt“.<br />
Ohne besonders sensibilisiertes<br />
Problembewusstsein, sucht der Betroffene<br />
jetzt nur noch Belege dafür, dass<br />
seine Entscheidung richtig war und<br />
nicht dafür, ob seine Entscheidung<br />
richtig war.<br />
Deshalb kann dieses Phänomen aus<br />
nahe liegenden Gründen für die sichere<br />
Durchführung von Flugbetrieb<br />
schädlich sein, ohne dass uns dieses<br />
bewusst wäre; lediglich der Organismus<br />
„spricht“ unter Umständen mit<br />
dem Betroffenen 27 und diese Sprache<br />
will erst einmal verstanden werden.<br />
Den Übergang des Bewusstseinswandels<br />
spüren wir nicht – er läuft einfach<br />
so ab. Deshalb könnten wir es kaum<br />
verstehen, dem Rubikon-Effekt erlegen<br />
zu sein, hatten wir doch alles akribisch<br />
und sachgerecht vorbereitet.<br />
Eine weitere Besonderheit liegt<br />
darin, das dieses Phänomen nicht nur<br />
beim Akteur auftritt, sondern auch<br />
beim außenstehenden Beobachter 28 .<br />
Beispiele dafür gibt es genügend aus<br />
dem alltäglichen Leben, aber auch im<br />
Flugunfallgeschehen der Bundeswehr.<br />
Es ist sicherlich eine Kunst genau<br />
festzustellen, wo vernünftiger Durchsetzungswille<br />
aufhört und wo „blinde<br />
Zielfixierung“ beginnt. Dennoch lohnt<br />
es, sich selbst den Spiegel vorzuhalten,<br />
um sich ehrlich die Frage nach Beispielen<br />
zu stellen, in denen man hin<br />
44 I/2002 FLUGSICHERHEIT
und wieder selber Opfer des Rubikon-<br />
Effekts war.<br />
Wer dieses Phänomen kennt, für<br />
den gewinnt die Forderung nach<br />
Handlungskontrolle an Bedeutung,<br />
denn nur durch strikte Kontrolle der<br />
eigenen Gedanken 29 kann die Wahrscheinlichkeit,<br />
dem Rubikon-Effekt zu<br />
verfallen, reduziert werden, können<br />
Grenzen leichter und rechtzeitig erkannt<br />
werden und Ressourcen werden<br />
nicht ungewollt verschüttet.<br />
Handlungskontrolle 30<br />
Eine Strategie zur willentlichen<br />
Entscheidungs- und Handlungskontrolle<br />
könnte wie folgt aussehen:<br />
Aufmerksamkeitskontrolle<br />
Mich interessieren im Moment<br />
nur die sachbezogenen Informationen;<br />
Persönliches wird bewusst<br />
ausgeblendet 31 :<br />
„first things first“.<br />
Motivationskontrolle<br />
Ich will das Sachproblem lösen,<br />
unabhängig von den Folgen für<br />
mich:<br />
„was ist jetzt wichtig; nicht: wem<br />
muss ich einen Gefallen tun?“<br />
Emotionskontrolle<br />
Emotionen sind auch Ergebnis<br />
aktueller Bewertungsprozesse.<br />
Ich bin sicher, dass ich die gestellte<br />
Aufgabe lösen kann, weil ich<br />
es kann und ich habe Vertrauen<br />
in das System:<br />
„Atem- Entspannungstechnik<br />
und Zuversicht in die eigene<br />
Leistungsfähigkeit“<br />
Handlungsorientierte Misserfolgskontrolle<br />
Ich setze mir erreichbare Ziele.<br />
Misserfolgen hänge ich nicht<br />
nach, sondern ich orientiere mich<br />
nach vorn auf der Grundlage<br />
meiner Ressourcen:<br />
„Welche Möglichkeiten bietet<br />
mir das Verbliebene?“<br />
Umweltkontrolle<br />
Ich begebe mich nur in ein Szenario,<br />
dessen Grenzen ich identifiziert<br />
habe und für das ich<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
immer einen Ausweg habe:<br />
„Steuere Dich nur in Situationen,<br />
von denen Du genau weißt, wie<br />
Du wieder raus kommst!“<br />
Ergebnisorientierte<br />
Informationsverarbeitung<br />
Ich vermeide übermäßig langes<br />
Abwägen von Handlungsalternativen.<br />
Im Zweifel entscheide ich<br />
auf einer Ebene höherer Kategorie:<br />
„Welcher Schritt ist der Schritt<br />
zur sicheren Seite?“<br />
Diese Strategie, die in allen Punkten<br />
faktisch gleichzeitig eingebracht werden<br />
muss, verlangt den ganzen Menschen<br />
mit all seinen unersetzbaren<br />
menschlichen Fähigkeiten. Ist er in der<br />
Lage, diese Strategie zur Handlungskontrolle<br />
bedingungslos einzusetzen,<br />
hat er eine sehr hohe Chance, in allen<br />
Lagen auf Leistungsanforderungen<br />
jeglicher Art angemessen reagieren zu<br />
können.<br />
Dennoch bleibt immer ein Quäntchen<br />
Unsicherheit.<br />
Entscheidungen<br />
unter Unsicherheit 32<br />
Entscheidungen finden oft „unter<br />
Unsicherheit“ statt. Im allgemeinen ist<br />
damit gemeint, dass für den Entscheider<br />
die möglichen Konsequenzen<br />
der Optionen unsicher sind, weil diese<br />
auch von anderen, von ihm nicht kontrollierbaren<br />
Ereignissen abhängig<br />
sind. Unsicherheiten können sich auf<br />
folgende Komplexe beziehen:<br />
Ereignisse und Zustände,<br />
Tatsachen und Informationen,<br />
Argumente und Gründe,<br />
Ziele und Werte und<br />
die Unsicherheit selbst.<br />
Ist jemand bezüglich seiner Entscheidung<br />
unsicher, so sollte man meinen,<br />
dass er auf konkrete Wahrscheinlichkeiten<br />
bzw. Algorithmen zur Berechnung<br />
von Wahrscheinlichkeiten<br />
zurückgreifen würde, um einer optimalen<br />
Entscheidung näher kommen<br />
zu können. Einschlägige Studien der<br />
vergangenen 25 Jahre belegen, dass<br />
sich der Mensch in unsicheren Situationen<br />
anders verhält – er folgt seiner<br />
(individuellen) Intuition.<br />
Intuition setzt dort ein, wo keine<br />
klaren Vorstellungen über Konsequenzen<br />
für das eigene Handeln bestehen<br />
33 , wo wir nicht ganz genau wissen,<br />
wie sich eine Situation aufgrund<br />
unserer Entscheidung entwickeln wird.<br />
Für komplexe, dynamische Abläufe<br />
gilt, dass stets ein mehr oder weniger<br />
kleiner Teil der Vorhersage, über das,<br />
was geschehen wird, unklar bleibt.<br />
Damit verbunden bleibt folglich auch<br />
immer ein kleiner Rest an Intuitionserfordernis,<br />
um überhaupt entscheidungsfähig<br />
zu bleiben. Deshalb kann<br />
prinzipiell angenommen werden, dass<br />
keine Entscheidung ohne Intuition<br />
möglich ist. Es stellt sich lediglich die<br />
Frage, wie viel Intuition unschädlich ist<br />
und ab wann Intuition mit Flugbetrieb<br />
nicht mehr vereinbar ist. In diesem Zusammenhang<br />
ist es erforderlich, die<br />
Besonderheiten menschlicher Intuition<br />
kurz herauszustellen.<br />
Menschen neigen dazu, aufgrund<br />
einer individuellen, inneren grundlegenden<br />
Ordnungsstruktur Situationen<br />
und ihre Entwicklung intuitiv zu beurteilen<br />
und unterliegen dabei Fehleinschätzungen;<br />
hier einige Beispiele:<br />
die Überschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
unwahrscheinlicher<br />
Ereignisse<br />
die Unterschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
wahrscheinlicher<br />
Ereignisse<br />
die Überschätzung der Wirkung<br />
von Bestrafung<br />
die Unterschätzung der Wirkung<br />
von Belohnung<br />
Beeinflussung durch die Lebhaftigkeit<br />
einer Erinnerung<br />
Beeinflussung durch überproportionale<br />
Hinwendung zu einem<br />
relativ seltenen Problem<br />
unrealistische Ereignisverknüpfungen<br />
Fehleinschätzung numerischer<br />
Größen<br />
Fehlerhafte und unzureichende<br />
Vorstellungen allgemein<br />
45
Insbesondere unsere Erinnerung<br />
spielt uns einen Streich, wenn wir intuitiv<br />
entscheiden und handeln sollen.<br />
Hier einige interessante Phänomene:<br />
„out of sight, out of mind“<br />
Die Unterschätzung eines Ereignisses,<br />
dessen Wahrnehmung<br />
lange nicht aufgefrischt wurde.<br />
„illusory correlation“<br />
Verbindung von Ereignissen, die<br />
es nicht gibt.<br />
„illusion of control“<br />
Die Über- bzw. Unterschätzung<br />
des Eintretens von Ereignissen in<br />
Abhängigkeit von eigenen Aktivitäten;<br />
die Illusion, die Zukunft<br />
beeinflussen zu können; ich<br />
mache das schon<br />
„wishful thinking“<br />
Die Überschätzung der Wahrscheinlichkeit<br />
angenehmer bzw.<br />
die Unterschätzung der Wahrscheinlichkeit<br />
unangenehmer Ereignisse.<br />
„unrealistic optimism“<br />
Die Einschätzung, dass der eigenen<br />
Person negative Ereignisse<br />
mit geringerer Wahrscheinlichkeit<br />
zustoßen als anderen (vergleichbaren)<br />
Menschen.<br />
Gibt es einen Wert, der eine Vorstellung<br />
davon vermitteln kann, wie<br />
groß die Ablage der Vorstellung über<br />
Ereignisse und Sachverhalte gegenüber<br />
der Realität bei Unsicherheit ist?<br />
Der nächste Absatz versucht, dieses<br />
Phänomen zu beleuchten.<br />
Confidence vs Overconfidence<br />
Im Rahmen einer Testreihe 34 wurde<br />
der Versuch unternommen festzustellen,<br />
ob eine messbare Größe für „overconfidence“<br />
berechnet werden kann –<br />
die Ergebnisse waren verblüffend.<br />
Probanden sollten sich zu einem<br />
Sachverhalt intuitiv äußern. Die Fragen<br />
wurden so ausgewählt, dass die Wahrscheinlichkeit<br />
relativ gering war, die<br />
Antwort aufgrund von Faktenwissen<br />
geben zu können 35 . Anschließend sollten<br />
die Probanden Auskunft darüber<br />
erteilen, wie sicher sie waren, dass ihre<br />
Antwort richtig war 36 .<br />
Wenn die Richtigkeit der Antwort<br />
mit 100% angegeben wurde, waren<br />
die Antworten nur zu 80% richtig.<br />
<strong>Das</strong> Verhältnis 100/80 wurde beibehalten,<br />
auch wenn geringere Wahrscheinlichkeiten<br />
über die Richtigkeit<br />
der Annahme geäußert wurden<br />
Die empirische Forschung hat diesen<br />
Wert auch für andere Bereiche des<br />
täglichen Lebens bestätigt – fragt sich<br />
nur, wie es sich damit leben lässt.<br />
Würden Sie mit einer zu erwartenden<br />
Trefferquote von 80% ins<br />
Spielkasino gehen? – Vermutlich „Ja“.<br />
Sollte Flugbetrieb mit einer Wahrscheinlichkeit<br />
für einen sicheren<br />
Ablauf von 80% durchgeführt werden?<br />
– es bleiben Fragen.<br />
Zum Glück ist es im täglichen Leben<br />
so, dass für die meisten immer wiederkehrende,<br />
ähnliche Fragen routinemäßig<br />
zu beantworten sind. Hier<br />
tendieren die Ergebnisse gegen<br />
100%. Damit lässt sich eigentlich<br />
komfortabel und sicher leben.<br />
Gefährlich wird „overconfidence“<br />
in wenig vertrauten Situationen geringer<br />
Informationsdichte. Wir greifen<br />
dann all zu gern auf Entscheidungsprozesse<br />
zurück, die uns kognitiv<br />
möglichst wenig belasten und viele<br />
der oben aufgeführten problematischen<br />
Merkmale für Entscheidungen<br />
unter Unsicherheit ausweisen. In diesem<br />
Fall verschärft „overconfidence“<br />
die potentielle Bedrohung einer Situation.<br />
Mit dem Phänomen „overconfidence“<br />
kann aber auch in einem fliegerischen<br />
Umfeld hinreichend sicher gelebt<br />
werden, wenn genau bedacht<br />
wird, an welcher Stelle, bei welchem<br />
Detail eines Sachverhalts „overconfidence“<br />
zugelassen werden kann:<br />
weil sich ein gewisses Maß an<br />
overconfidence nicht vermeiden<br />
lässt, da keine weitergehenden<br />
Informationen mit vernünftigem<br />
Aufwand beschafft werden können,<br />
weil die Auswirkungen dieses<br />
minimalen Details nicht erheblich<br />
sind, da diese durch andere Strukturen<br />
und Konzepte kompensiert<br />
werden könnten.<br />
Wird „overconfidence“ jedoch im<br />
großen Stil umfassend und „blauäugig“<br />
zugelassen, dann kann es sein,<br />
dass die Wirklichkeit eine harte andere<br />
Sprache spricht und den Betroffenen<br />
gnadenlos und aus seiner Sicht<br />
plötzlich mit den Grenzen seines<br />
Handeln konfrontiert – dann ist der<br />
Betroffene schnell überfordert.<br />
Intuition kommt „aus dem Bauch“<br />
und kann kaum rational begründet<br />
werden. Intuition ist die Summe aller<br />
Erfahrung, aller Wünsche, aller<br />
Wertmaßstäbe und aller Motive.<br />
Intuition – das sind wir selbst.<br />
Hier spielen Emotionen eine Rolle<br />
und manch einer glaubt, für Emotionen<br />
wäre im Flugbetrieb kein Platz,<br />
weil Emotionen notwendige Entscheidungsfindungsprozesse<br />
behindern<br />
und auf ein falsches Gleis führen. Ist<br />
das so?<br />
Entscheidung<br />
vs. Emotion?<br />
Gefühle sind nicht der Gegenspieler<br />
der Logik, sie stehen nicht in Konkurrenz<br />
– wenn es auch manchmal<br />
den Anschein hat.<br />
Wir brauchen unser Gehirn nicht so<br />
sehr, um damit logisch und widerspruchsfrei<br />
zu denken, sondern um in<br />
der Welt, in der wir leben, einigermaßen<br />
zurechtzukommen 37 . Bei diesem<br />
„Vorhaben“ ergänzen sich die<br />
Fähigkeiten zur Logik und zur Wahrnehmung<br />
von Gefühlen. Während wir<br />
immer dann, wenn es zweckmäßig ist,<br />
46 I/2002 FLUGSICHERHEIT
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
rationale Kosten-Nutzen-Analysen<br />
durchführen, die vergleichsweise viel<br />
Zeit beanspruchen, hält unser Organismus<br />
auch eine Abkürzung bereit, um<br />
schnell zu angemessenen Ergebnissen<br />
eines unter Zeitdruck stehenden<br />
Entscheidungsprozesses zu kommen.<br />
Gefühle zeigen uns die Hauptrichtung<br />
für eine beabsichtigte Vorgehensweise<br />
an, indem die Auseinandersetzung<br />
mit der einen Option ein<br />
angenehmes bis neutrales Gefühl auslöst,<br />
die Auseinandersetzung mit einer<br />
anderen Option ein eher ungutes<br />
Gefühl bewirkt. So können durchaus<br />
Entscheidungen schnell mit hoher<br />
Treffsicherheit herbeigeführt werden,<br />
ohne dass der Weg zur Entscheidung<br />
genau nachvollziehbar erklärt werden<br />
könnte.<br />
Emotionen sind das Sprachrohr des<br />
Unbewussten 38 und sie haben einen<br />
tiefen Anker. Unsere gesamte interne<br />
Werteordnung und Lebenserfahrung<br />
teilt sich auf diesem Weg mit. Wer<br />
Emotionen nie zulassen möchte, blendet<br />
seine gesamte Lebenserfahrung<br />
aus; ob das wohl hilfreich ist? Er<br />
würde gleichsam, im übertragenen<br />
Sinne versuchen, den Deckel auf einen<br />
Topf mit siedendem Wasser zu<br />
drücken, um den Austritt von Dampf<br />
zu verhindern – ein aussichtsloses Vorhaben.<br />
Dennoch ist Vorsicht geboten,<br />
denn:<br />
Gefühle können übermächtig<br />
werden, alle anderen Gedanken<br />
verdrängen und uns lähmen. Dies<br />
trifft vor allem auf Angstgefühle<br />
zu.<br />
Gefühle können unkontrolliert<br />
ausbrechen. Vor allem Wutausbrüche,<br />
aber auch maßlose Sympathiebekundungen<br />
helfen uns<br />
in aller Regel nicht weiter, sondern<br />
zeigen nur eines: dass wir<br />
unbeherrscht sind.<br />
Wir können auch „falsche“ Gefühle<br />
haben. Eine gefährliche<br />
Situation erscheint uns harmlos,<br />
einen Mitmenschen, auf den wir<br />
dringend angewiesen sind, finden<br />
wir unsympathisch und lehnen<br />
seine Hilfe ab.<br />
Deshalb sind emotionalisierte Situationen<br />
im Flugbetrieb schlechte Ratgeber,<br />
denn „reine“ Gefühle entfalten<br />
eine ungute Eigendynamik. Dennoch<br />
müssen wir uns mit den Emotionen arrangieren,<br />
sie sind Teil unseres Wesens.<br />
Emotionen sollen dort, wo sie hilfreich<br />
sind und in dem Maße, wie es<br />
angemessen ist, auch zugelassen werden,<br />
weil Emationen ein wichtiger<br />
Ratgeber sein können. Wie fühle ich<br />
mich z.B. dabei:<br />
wenn ich beabsichtige, außerhalb<br />
der Norm zu handeln?<br />
wenn ich mich zur Landung entschlossen<br />
habe und eigentlich<br />
immer noch nicht geklärt ist, wo<br />
genau mein Notfalllandestreifen<br />
verläuft?<br />
wenn ich an einem Freitag mit<br />
ausgefallenem Fahrtmesser den<br />
Heimflug antrete?<br />
wenn ich in einer Wolke versuche,<br />
die Formation wieder einzunehmen,<br />
obwohl ich zuvor den<br />
Sichtkontakt zum „lead“ verloren<br />
hatte?<br />
Die Liste in Anlehnung an reales<br />
Zwischenfall- Unfallgeschehen könnte<br />
durchaus fortgesetzt werden. Was<br />
verbindet nun die angedeuteten Vorkommnisse?<br />
Eines war bei den Betroffenen<br />
sicherlich gleich. Im Moment des Entschlusses<br />
fühlten alle eine gewisse<br />
Unsicherheit, ein gewisses<br />
Unbehagen und sie haben dennoch<br />
gehandelt wie sie gehandelt haben.<br />
<strong>Das</strong> Gefühl der Unsicherheit war nicht<br />
so stark ausgeprägt, dass die jeweilige<br />
Absicht aufgegeben wurde. Heute<br />
wissen wir es und die Betroffenen<br />
wissen es auch – man hätte den<br />
Entschluss abändern, sich an Fakten<br />
und Grundsätze halten müssen. Die<br />
unbewusste Wahrnehmung hatte das<br />
längst erkannt und versucht,<br />
Verbindung aufzunehmen, was<br />
jedoch durch mentale „Leistung“<br />
unterdrückt wurde und deshalb nicht<br />
gelang.<br />
Die „emotionale Erdung“ war verloren<br />
gegangen, fand nicht den Weg<br />
ins Bewusstsein und konnte es deshalb<br />
nicht verhindern, Grenzen frühzeitig<br />
zu erkennen.<br />
Was sollte aus dem Bauch heraus<br />
entschieden werden?<br />
wenn schnell ein brauchbares Ergebnis<br />
erzielt werden muss,<br />
wenn über menschliche Beziehung<br />
zu entscheiden ist,<br />
wenn eine Entscheidung unter<br />
großer Unsicherheit entschieden<br />
werden muss.<br />
Was sollte überwiegend rational<br />
entschieden werden?<br />
komplexe Probleme, die erst einmal<br />
strukturiert werden müssen,<br />
wenn es auf Genauigkeit und<br />
Präzision ankommt,<br />
wenn der Eindruck entstanden<br />
ist, voreingenommen zu sein.<br />
Nun soll doch noch ein Modell vorgestellt<br />
werden.<br />
Ein Entscheidungsmodell<br />
Nach allem, was bisher dargestellt<br />
worden ist, könnte der Eindruck entstanden<br />
sein, dass wir es uns mit<br />
Entscheidungsfindungsprozessen bisweilen<br />
schwer machen. Zu viele Faktoren,<br />
die nicht immer hilfreich sind,<br />
spielen eine Rolle. Dennoch befreit uns<br />
niemand von der Notwendigkeit, laufend<br />
Entscheidungen zu treffen. Entscheidungsstrukturen<br />
helfen bei diesem<br />
Problem.<br />
<strong>Das</strong> folgend aufgeführte Entscheidungsmodell<br />
soll stellvertretend für so<br />
viele andere systematisch aufgebauten<br />
Entscheidungsfindungsmodelle kurz<br />
dargestellt werden. So, oder so ähnlich,<br />
findet jeder sachgerechte<br />
Entscheidungsvorgang statt.<br />
Es gilt das Prinzip:<br />
viel Zeit – detailliert mit vielen<br />
Fakten;<br />
wenig Zeit – grober mit weniger<br />
Fakten, dafür jene von übergeordneter<br />
Bedeutung.<br />
47
FOR DEC 39<br />
Ist das Entscheidungsbewusstsein<br />
vorhanden, weil eine nicht akzeptable<br />
Abweichung von der Norm festgestellt<br />
wurde, setzt nach diesem Modell ein<br />
systematischer Entscheidungsfindungsprozess<br />
ein. Es handelt sich hier<br />
um eine Art „Führungsvorgang für<br />
Lfz-Besatzungen im Fluge“.<br />
Die Systematik unterteilt sich in den<br />
Vorgang der Entscheidungsfindung<br />
und den Vorgang der Durchführung<br />
Facts<br />
Options<br />
Informationsbeschaffung:<br />
was steht mir an Faktenwissen<br />
zur Verfügung?<br />
Handlungsalternativen:<br />
welche Möglichkeiten des<br />
Handelns habe ich?<br />
Risks and<br />
Benefits Risiko – Nutzen – Analyse<br />
welche Lösung bringt mich<br />
am sichersten, am weitesten<br />
meinem Ziel entgegen;<br />
was spricht dagegen?<br />
Decision Entschluss<br />
ExecutionDurchführung<br />
Control<br />
läuft alles wie geplant, gibt<br />
es neue, wichtige Aspekte,<br />
die meinen Entschluss unbrauchbar<br />
machen?<br />
Entscheidungsfindung im Rahmen<br />
des Möglichen und im Rahmen des<br />
Vernünftigen ist ein höchst komplexes<br />
Gebilde, mit dem man umzugehen<br />
lernen muss. Hier zeigen sich bereits<br />
alle Facetten des Menschseins in<br />
unendlich vielen Ausprägungen.<br />
Auch hier gilt, dass Bedenken und<br />
Gefühle geäußert werden müssen, um<br />
den Focus der Aufmerksamkeit auf ein<br />
Problem lenken zu können, das vielleicht<br />
bisher vernachlässigt wurde.<br />
So können bis dahin unerkannte<br />
Grenzen erkannt und die entsprechenden<br />
Entschlüsse rechtzeitig<br />
und angemessen gefasst werden.<br />
<br />
1 Siehe auch: „Wahrnehmung“ und „Risiken vs<br />
Sicherheit“<br />
2 Asanger, Wenninger: Handwörterbuch<br />
Psychologie / Psychologie Verlags Union,<br />
Weinheim 1999<br />
3 Dieses Wissen, diese Information lagert an sehr<br />
unterschiedlichen Stellen im Organismus und verknüpft<br />
sich unter bestimmten Bedingungen zu<br />
Informationskomplexen und damit zu einer<br />
Lernwirkung zusammen. Nur manches davon<br />
dringt bis ins Bewusstsein vor. Die Information<br />
hat ihren Zweck auch für diesen Fall erfüllt.<br />
Siehe dazu auch: „Aufmerksamkeit“<br />
4 Vielleicht kennt mancher noch die ungeliebten<br />
Situationen einer Geländesprechung im Rahmen<br />
einer taktischen Lage, wenn man zu einer Entscheidung<br />
großer Tragweite aufgefordert wurde,<br />
der eigene Orientierungsprozess jedoch noch<br />
nicht zum Geschehen aufgeschlossen hatte –<br />
mentale Leere und Einsamkeit pur.<br />
5 Nach Asanger, Wenninger: s.o.<br />
6 Siehe auch: „Wahrnehmung“<br />
7 Siehe auch: „Menschliche Kapazitäten –<br />
Aktivation“<br />
8 Siehe auch weiter unten „confidence vs overconfidence“<br />
9 Helmut Jungermann, Hans-Rüdiger Pfister,<br />
Katrin Fischer: Die Psychologie der Entscheidung<br />
/ Spektrum Akademischer Verlag GmbH,<br />
Heidelberg 1998<br />
10 Kognition ist die Aktivität des Wissens, der Erwerb,<br />
die Organisation und der Gebrauch von Wissen.<br />
<strong>Das</strong> gelingt u.a. unter Beteiligung der Wahrnehmung,<br />
der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses,<br />
der Vorstellung, der Sprache und des Denkens.<br />
11 Siehe auch: „Aufmerksamkeit - .... „<br />
12 <strong>Das</strong> S-R-K-Modell wird, nach dem dänischen<br />
Professor für Psychologie Rasmussen,<br />
Rasmussenleiter genannt.<br />
13 Entsprechend der Entscheidungsebene eins<br />
14 Entsprechend den Entscheidungsebenen zwei und<br />
drei<br />
15 Siehe auch: „Aufmerksamkeit – Priming“<br />
16 Entsprechend den Entscheidungsebenen drei und<br />
vier<br />
17 Siehe auch: „Wahrnehmung – <strong>Wahrnehmungs</strong>abwehr“<br />
18 Siehe auch: „Aufmerksamkeit – Priming“<br />
19 Siehe auch: „Menschliche Kapazitäten“ und<br />
„Aufmerksamkeit – Priming“<br />
20 Nach Asanger, Wenninger: s.o.<br />
Es muss dabei noch angemerkt werden, dass<br />
Menschen dazu neigen, prinzipiell jene Regeln zu<br />
wählen, die weniger aufwändig sind und so die<br />
Kognition weniger belasten.<br />
21 Siehe auch: „Führungs- und Handlungsverantwortung“<br />
22 Siehe auch: „Motive“. Wegen der Bedeutung<br />
wird der Aspekt der Motivation hier eingebracht,<br />
weil Entscheidungen regelmäßig sehr stark von<br />
Motivationen geprägt sind.<br />
23 Der Volksmund spricht davon, dass Gelegenheit<br />
Diebe macht.<br />
24 Rheinberg, Falko: Motivation / Kohlhammer,<br />
Köln 1997<br />
25 Vandenberg, Philipp: Cäsar und Kleopatra /<br />
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch<br />
Gladbach 2000<br />
26 Der Volksmund spricht von „Augen zu und durch“<br />
27 Siehe auch: „Menschliche Kapazitäten –<br />
Aktivation“ und „Wahrnehmung“<br />
28 Viele sportlichen Veranstaltungen gewinnen an<br />
Reiz, weil der Beobachter „mitfiebert“ und mit<br />
dem Akteur emotional und mental eng verbunden<br />
ist.<br />
29 Achte auf Deine Gedanken – sie sind der Anfang<br />
Deiner Taten / chinesische Weisheit<br />
30 Rheinberg, Falko: s.o.<br />
31 Damit sind einerseits sachliche Aspekte der jetztbezogenen<br />
„Nahwirkung“, der wirklich akuten<br />
Probleme und andererseits, im Gegensatz dazu,<br />
die zukunftbezogenen „Fernwirkungen“ gemeint,<br />
die vielleicht erst nach der Landung, bzw. frei von<br />
dem akut wirkenden Problem, an Bedeutung<br />
gewinnen werden.<br />
32 nach Helmut Jungermann, ... s.o. und Hussi,<br />
Walter: Denken und Problemlösen / Verlag W.<br />
Kohlhammer, Stuttgart 1998<br />
33 Perrig, Walter J.; Wippich, Werner, Perrig-<br />
Chiello, Pasqualina: Unbewusste Informationsverarbeitung<br />
/ Verlag Hans Huber, Bern 1993<br />
34 Lichtenstein, Fischhoff & Phillips, 1977; 1982<br />
35 z.B.: welche Stadt hat mehr Einwohner? (a)<br />
Islamabad (b) Hyderabad<br />
36 Wie sicher sind Sie, dass Ihre Antwort richtig ist?<br />
50% 60% 70% 80% 90% 100%<br />
37 Nöllke, Mattias: Entscheidungen treffen / STS-<br />
Verlag, Planegg 2001<br />
38 Siehe auch: „Wahrnehmung – Unbewusste Wahrnehmung“<br />
39 FORDEC wurde in den 80ern vom Deutschen<br />
Institut für Luft- und Raumfahrt (DLR) enwickelt<br />
und wird verbreitet bei der CRM-Ausbildung<br />
genutzt.<br />
48 I/2002 FLUGSICHERHEIT
Motive<br />
Grundlagen 1<br />
Dieser Beitrag wird in seiner Zielsetzung<br />
so abgefasst sein, dass einige<br />
Grundlagen zum Thema Motivation /<br />
Motive dargestellt werden, um oft<br />
Gehörtes noch mal kurz aufzufrischen<br />
und dass im Endteil ein ganz bestimmtes<br />
Motiv herausgearbeitet wird, welches<br />
von den vielen Motiven und<br />
Motivationen, die ständig auf uns<br />
Menschen einwirken, in besonderer<br />
Weise heraussticht und sicherlich bei<br />
etlichen Verhaltensweisen am Rande<br />
und jenseits der Norm eine oft entscheidende<br />
Rolle gespielt hat und<br />
auch weiterhin spielen wird.<br />
Wir Menschen denken und handeln<br />
aus dem aktuell erlebten, persönlichen<br />
Werte-Motiv-System heraus,<br />
werden dabei von unserer Umwelt,<br />
aber auch von innen heraus angesprochen<br />
und stimuliert. Dieses persönliche<br />
Werte-Motiv-System ist die Grundlage<br />
für individuelles Verhalten in einer<br />
ganz bestimmten, für den Einzelnen<br />
charakteristischen Weise.<br />
Es gibt innere Motive (Ziele), von<br />
denen man gar nicht weiß, dass man<br />
ihnen erlegen ist und dennoch können<br />
sie uns dominieren. Manchmal sind<br />
wir nach einer Handlung nicht in der<br />
Lage zu erklären, warum wir uns in<br />
der einen oder anderen Weise verhalten<br />
haben und wir fühlen uns allein<br />
durch das Tun besser 2 – wer kennt das<br />
nicht.<br />
Die für den Einzelnen charakteristischen<br />
Motive stehen mit dem jeweiligen<br />
Umfeld in gegenseitiger Beeinflussung.<br />
Daraus ergibt sich die resultierende<br />
und wirkende Motivation.<br />
Dieser Zusammenhang wird weiter<br />
unten etwas näher erläutert.<br />
Allgemein gilt jedoch, dass Motivation<br />
nie unmittelbar wahrgenommen<br />
werden kann. <strong>Das</strong> gelingt uns nur<br />
über die Beobachtung des Verhaltens<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
im weitesten Sinne 3 , aus der heraus<br />
Rückschlüsse auf eine bestimmte Motivation<br />
gezogen werden können.<br />
Dennoch ist es so, dass die Äußerung<br />
eines Gesprächspartners bezüglich der<br />
Qualität seiner momentanen Motivation<br />
beim Zuhörer kaum Fragen hinterlässt.<br />
Wenn jemand zum Beispiel<br />
äußert: „Ich habe dazu absolut keinen<br />
Bock!”, kommt kaum ein Zuhörer<br />
49
auf die Idee z.B. zu hinterfragen: ”Was<br />
genau meinst Du?”, sofern er nicht<br />
von Amtes wegen derartige Statements<br />
provoziert.<br />
Der durchschnittliche Gesprächspartner<br />
ist mit der angeführten Feststellung<br />
des anderen zu dessen momentanen<br />
Gemütszustand bzw. Motivationslage<br />
vollauf zufrieden, weil es<br />
ihm eine exakte Vorstellung von der<br />
beschriebenen Gefühlslage des anderen<br />
vermittelt.<br />
Hier gibt es kaum Störgrößen in der<br />
Kommunikation – man versteht einander.<br />
Wie kann das sein, wo wir doch<br />
auf anderen Gebieten oft missverstehen<br />
oder missverstanden werden?<br />
Äußerungen zu motivationalen<br />
Befindlichkeiten beschreiben Binnenzustände,<br />
die jedem vertraut sind.<br />
Jeder kennt sie aus eigenem Erleben<br />
und hat deshalb eine klare, nachempfindbare<br />
Vorstellung davon, was der<br />
andere meint – in diesem Punkt können<br />
wir uns genau in die Lage des<br />
anderen versetzen und fast verzerrungsfrei<br />
wahrnehmen.<br />
Umgangssprachlich wird unter<br />
Motivation im allgemeinen verstanden,<br />
dass jemand:<br />
ein Ziel hat,<br />
sich anstrengt und<br />
ablenkungsfrei bei der Sache<br />
bleibt.<br />
Motivation wird gerne als eine<br />
milde Form von Besessenheit verstanden<br />
und an diesem Gradmesser wird<br />
Motivation bisweilen auch beurteilt.<br />
Uns reichen diese Vorstellungen<br />
über die Bedeutung von Motivation<br />
bzw. von Motiven nicht aus, denn sie<br />
könnten noch nicht viel erklären. Wir<br />
müssen etwas tiefer einsteigen.<br />
Der Unterschied<br />
Ohne zu theoretisch werden zu<br />
wollen, soll auf den Unterschied zwischen<br />
Motivation und Motiven hingewiesen<br />
werden, weil dieser feine<br />
Unterschied weiter unten in diesem<br />
Kapitel durchaus von Bedeutung sein<br />
wird.<br />
Motiv<br />
<strong>Das</strong> Motiv eines Menschen bringt<br />
ihn überdauerndineineganz bestimmte,<br />
grundsätzliche Richtung seines Verhaltens.<br />
Jemand tendiert immer wieder<br />
und dominierend z.B. zur Macht,<br />
oder zur Leistung, oder zu sozialen<br />
Kontakten, oder auch zur Hilfsbereitschaft.<br />
Diese deutlich erkennbaren<br />
Wesenszüge eines Menschen werden<br />
ihn in seinem Verhalten grundsätzlich<br />
von innen heraus immer wieder beeinflussen<br />
und er wird in allen Lebenslagen<br />
versuchen, seinem Handeln diese<br />
in einer Richtung besonders ausgeprägten<br />
Charakterzüge zu verleihen.<br />
Motivation<br />
Anders die Motivation. Sie ist, vereinfacht<br />
ausgedrückt, das Ergebnis aus<br />
dem Wechselspiel zwischen Motiven<br />
des Einzelnen und dem Umfeld, das<br />
auf den Einzelnen einwirkt. Daraus<br />
ergibt sich die Motivation, im Rahmen<br />
der Möglichkeiten und der äußeren<br />
Grenzen, sich eigenen Motiven entsprechend<br />
zu verhalten. Ein vereinfachtes<br />
Modell dazu könnte wie folgt<br />
aussehen:<br />
Danach wird die Motivationslage<br />
immer wieder nach zwei Gesichtspunkten<br />
überprüft:<br />
Wie erlebe ich mein Verhalten<br />
ganz persönlich, was bringt es<br />
mir?<br />
Wie reagiert mein Umfeld auf<br />
mein Verhalten?<br />
Hier ereignen sich Lernprozesse.<br />
<strong>Das</strong> Umfeld ist also in der Lage, gezielt<br />
auf die Motivation des Einzelnen einzuwirken.<br />
Voraussetzung dafür ist,<br />
dass das Umfeld die entsprechenden<br />
Rückmeldungen an den Handelnden<br />
heranträgt und durch eindeutige<br />
Reaktionen aufzeigt, was gewollt ist<br />
und was nicht; was wir tun und was<br />
wir nicht tun. Unterbleiben sachgerechte<br />
Reaktionen, oder werden irreführende<br />
Rückmeldungen gegeben,<br />
weil Falsches belohnt wird, z.B.<br />
Schnelligkeit als einziges Kriterium,<br />
kann es beim Handelnden zu einer<br />
Tendenz unangemessenen, mit Flugbetrieb<br />
der Bundeswehr unvereinbaren<br />
Motivationslage kommen 4 .<br />
<strong>Das</strong> Was und das Warum<br />
Vielleicht fragt sich der eine oder<br />
andere noch immer, warum die Beschäftigung<br />
mit der Frage nach den<br />
Motiven so wichtig ist. Um das zu<br />
klären ist es unumgänglich, ein wenig<br />
auszuholen.<br />
Die Abfolge von Ereignissen, die zu<br />
einem unerwünschten Vorkommnis<br />
führt, wird gerade im Rahmen von<br />
Unfall- und Zwischenfalluntersuchungen<br />
herausgearbeitet, um aus dem<br />
Dargestellten wirkungsvolle Unfallverhütungsarbeit<br />
ableiten zu können.<br />
Dabei geht das Untersuchungsteam<br />
prinzipiell so vor, dass vom Vor-<br />
50 I/2002 FLUGSICHERHEIT
kommnis ausgehend, der Weg des<br />
Geschehens auf der Zeitschiene rückwärts<br />
verfolgt wird, bis die erste bzw.<br />
früheste Abweichung von der Norm<br />
identifiziert worden ist, die das Geschehen<br />
entweder ausgelöst, oder die<br />
Auslösung wesentlich beeinflusst hat.<br />
Es geht darum, ein Ursachen- Wirkgefüge<br />
aufzubauen, welches möglichst<br />
präzise darstellt, was passiert ist.<br />
Es ist eine Diskussion wert, darüber<br />
nachzudenken, ob bei einer Darstellung<br />
des „Was“ hinreichende Grundlagen<br />
gelegt werden, um<br />
1. das Geschehene umfassend nachvollziehen<br />
zu können und<br />
2. daraus angemessene Verhütungsarbeit<br />
ableiten zu können.<br />
Auch bei einer lückenlosen und<br />
umfassenden Darstellung des „Was“<br />
bleibt die Frage nach dem „Warum“<br />
der individuellen Bewertung eines<br />
jeden Einzelnen, der das Dargestellte<br />
liest, ausgeliefert. Es wird dann vermutlich<br />
so viele individuelle „Warums”<br />
geben, wie es Leser dieses zum Vorkommnis<br />
angefertigten Berichts gibt 5 .<br />
Jedes interessierte Gehirn duldet zu<br />
keinem Sachverhalt Lücken. Lässt das<br />
Geschilderte Lücken, insbesondere zu<br />
den Fragen des „Warum“, so werden<br />
diese von der Vorstellungskraft des<br />
Einzelnen aufgefüllt und so weit interpretiert,<br />
bis das Geschehene in das<br />
Weltbild des Betrachters passt; er sich<br />
also das Geschehene für ihn plausibel<br />
erklären kann 6 – daraus entstehen<br />
dann Ideen für Verhütungsarbeit. Ob<br />
diese Ideen dann sachgerecht und hilfreich<br />
sind, bleibt fraglich.<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
Die Frage des „Warum“<br />
muss also geklärt werden –<br />
aber welches „Warum“ ist<br />
hier von Bedeutung? Sicherlich<br />
nicht jenes „Warum“:<br />
„was geschah vorher?”.<br />
Ein Beispiel soll das Problem<br />
verdeutlichen:<br />
Ein Hubschrauber bei<br />
Nacht unter BiV, stößt beinahe<br />
mit einem anderen<br />
Hubschrauber unter BiV in<br />
der Platzrunde zusammen.<br />
Dies konnte geschehen, weil:<br />
ein Lfz die Platzrunde kreuzte, das<br />
andere Lfz sich zur gleichen Zeit am<br />
gleichen Ort im Gegenanflug der<br />
Platzrunde befand, die unterschiedlichen<br />
Startzeiten am gemeinsam genutzten<br />
Heimatflugplatz durch die<br />
unterschiedlich langen Wegstrecken<br />
bis zum „Treffpunkt” kompensiert<br />
wurden, jede Besatzung glaubte, die<br />
jeweils andere sei woanders, der TWR-<br />
Controller die beiden Lfz in unterschiedlichen<br />
Platzrunden wähnte, das<br />
Briefing diesen Konfliktpunkt nicht<br />
identifizierte, die SOP ein<br />
Kreuzen von Flugwegen in<br />
der Platzrund zuließ.<br />
Obwohl in dieser Darstellung<br />
aus dem realen<br />
Zwischenfallgeschehen alle<br />
wesentlichen Kausalzusammenhänge<br />
geschildert wurden,<br />
spürt jeder Leser, dass<br />
irgendwie Entscheidendes<br />
fehlt.<br />
Irgendwie hört man die Nachricht<br />
wohl, versteht und begreift jedoch<br />
nicht das Vorkommnis, weil bestimmte<br />
Zusatzinformationen fehlen. Manch<br />
einer spürt vielleicht sogar den erfolglosen<br />
Suchvorgang in seinem Langzeitspeicher<br />
nach vergleichbaren Modellen<br />
mit anhaftenden vergleichbaren<br />
Erklärungen – Unruhe bricht aus, es<br />
drängt nach weiteren Erklärungen.<br />
Um diesem Phänomen auf den<br />
Grund gehen zu können, eine auf den<br />
ersten Blick provozierende und abwegig<br />
klingende Frage:<br />
„Was ist eigentlich bei der<br />
Betrachtung eines Sachverhalts, der<br />
mit menschlichem Verhalten in Verbindung<br />
gebracht wird, mit den<br />
Faktoren, die aus der Zukunft gewirkt<br />
haben?” Eine solche Frage löst im allgemeinen<br />
Verwunderung aus und<br />
muss erklärt werden.<br />
Jeder, der schon mal eine größere<br />
Anschaffung getätigt hat, wurde von<br />
Faktoren aus der Zukunft bestimmt.<br />
Der Kauf eines Hauses z.B. zu einem<br />
bestimmten, in der Zukunft liegenden<br />
Termin, macht es in aller Regel erforderlich,<br />
zu einem Zeitpunkt, der deutlich<br />
vor diesem Ereignis liegt, ein vertrauensvolles<br />
Gespräch mit der Bank<br />
hinsichtlich der Finanzierung zu<br />
führen. Somit hat ein geplantes<br />
Vorhaben früheres Verhalten ganz<br />
konkret bestimmt – ein Faktor aus der<br />
Zukunft hat Verhalten ausgelöst.<br />
Anders ausgedrückt, das Motiv, die<br />
Zukunft zu gestalten, in diesem Falle<br />
der Bau eines Hauses, hat das Heute<br />
und Jetzt bestimmt; das „Warum“ für<br />
das heutige Verhalten wird nun schlüssig<br />
erklärbar und verstehbar.<br />
Ergo: Motive wirken aus der<br />
Zukunft!<br />
Der zweite Teil der Wahrheit ist also<br />
neben der lückenlosen Aufklärung des<br />
„Was“, die möglichst lückenlose Aufklärung<br />
des „Warum“, also die lückenlose<br />
Aufklärung der Motive für<br />
ein konkretes Verhalten.<br />
Weil Motive aus der Zukunft auf<br />
momentanes Verhalten wirken, sind<br />
sie die zweite Seite derselben Medaille,<br />
die es für die Darstellung dessen, was<br />
geschehen ist, aufzuklären gilt. Dies ist<br />
fraglos schwierig und bleibt sicherlich<br />
in gewisser Weise angreifbar. Es führt<br />
jedoch kein Weg daran vorbei, will<br />
51
man gute Verhütungsarbeit leisten, die<br />
an den treibenden Stellen ansetzt.<br />
<strong>Das</strong> weiter oben geschilderte<br />
Beispiel des Beinahezusammenstoßes<br />
zweier Hubschrauber in der Platzrunde,<br />
der an dieser Stelle in der<br />
Schilderung fortgeführt werden müsste,<br />
kann noch nicht abschließend<br />
unter dem Aspekt der Motive bewertet<br />
werden, weil die Untersuchungen<br />
noch nicht abgeschlossen sind. <strong>Das</strong><br />
wird dem noch zu publizierenden Zwischenfallbericht<br />
vorbehalten bleiben.<br />
Motive sind Begründungen für<br />
Verhalten. Deshalb ist es so wichtig,<br />
auch über diese Aspekte menschlich<br />
normalen Verhaltens nachzudenken,<br />
um einige typische, für uns relevante<br />
Motive unseres fliegerischen Umfeldes<br />
herauszuarbeiten, damit das<br />
Unerklärliche vielleicht leichter erklärbar<br />
und dadurch begreifbar wird.<br />
Ein Überblick<br />
Seit mehr als 100 Jahren beschäftigt<br />
sich die moderne Wissenschaft mit<br />
den Fragen zur Begründung von<br />
menschlichem Verhalten. Es gab verschiedene<br />
Grundrichtungen, die<br />
unterschiedliche Ansätze verfolgten<br />
und jeweils anderen Aspekten Vorrang<br />
an Bedeutung einräumten. Hier einige<br />
wichtige Richtungen, die den meisten<br />
Lesern bekannt sind:<br />
Instinkte – als naturgegebener<br />
Antrieb.<br />
Triebe – als Kraftzentren innerhalb<br />
einer Person, die aus sich<br />
selbst heraus aktiv werden können<br />
und schwer kontrollierbar<br />
sind.<br />
Feldtheorie – als Modell, welches<br />
menschliches Verhalten als Ergebnis<br />
eines Entwicklungsprozesses<br />
in der Auseinandersetzung<br />
zwischen einer Person und der<br />
Umwelt und den daraus entstehenden<br />
Bedürfnissen sieht.<br />
Die maslowsche Bedürfnispyramide<br />
mit ihrer Beschreibung von<br />
Grundbedürfnissen bis hin zur<br />
Selbstverwirklichung von Menschen.<br />
All diesen Theorien liegt die gleiche<br />
Annahme zu Grunde, dass sich der<br />
Mensch so verhält, dass ein mehr oder<br />
weniger bewusster Mangel ausgeglichen<br />
werden kann 7 . Wird der Mangelzustand<br />
des Organismus beseitigt, ist<br />
das Motiv beseitigt 8 .<br />
Diese Theorien sollen hier nicht weiter<br />
vertieft werden, weil das den<br />
Rahmen sprengen würde, zumal zu<br />
diesen Themen detailliert nachgelesen<br />
werden kann und innerhalb der<br />
Bundeswehr auch diesbezüglich genügend<br />
inhaltliche Ausbildung erfolgt.<br />
Modernere Sichtweisen<br />
In den vergangenen 20 Jahren haben<br />
sich zunehmend Einsichten durchgesetzt,<br />
die nicht mehr davon ausgehen,<br />
dass Verhalten eine Reaktion auf<br />
eine objektive Situation ist, sonder Ergebnis<br />
der Wahrnehmung einer Situation<br />
(kognitive Repräsentation) und<br />
der daraus entstehenden Reaktion.<br />
Aus dem Gesamtkomplex werden<br />
nun das Anschlussmotiv, das Machtmotiv<br />
und das Leistungsmotiv als ausgewählte<br />
Motive herausgestellt, weil<br />
diese eine stark ausgeprägte und<br />
unmittelbare, kombinierte Wirkung<br />
auf menschliches Verhalten ausüben<br />
und, je nach Ausprägungsgrad, mit<br />
Führung und Flugbetrieb nicht immer<br />
vereinbar sind.<br />
<strong>Das</strong> Anschlussmotiv<br />
Der Mensch ist unbestritten ein<br />
soziales Wesen und nur in der Gemeinschaft<br />
überlebensfähig 9 . Jeder<br />
erwachsene Mensch gehört zu einer<br />
sozial engeren Gemeinschaft mitdurchschnittlicher<br />
Bandbreite von ca.<br />
20 bis 50 Personen. In dieser Gemeinschaft<br />
hat jeder Einzelne seinen Platz<br />
und jeder nimmt seine (unausgesprochen)<br />
zugewiesene Rolle war – man<br />
fühlt sich aufgehoben, wohl und<br />
sicher. Da der Einzelne sein engeres<br />
soziales Umfeld, in dem er aufgehen<br />
möchte, in der Regel weitestgehend<br />
selbst aussucht, ist jenes ausgewählte<br />
Umfeld geeignet, sich im vorgegebenen<br />
Rahmen frei zu entfalten und<br />
einen Teil Selbstverwirklichung zu betreiben.<br />
Der Drang, einer sozialen<br />
Gruppierung anzugehören, ist außerordentlich<br />
stark und fast triebhaft ausgeprägt.<br />
Nicht jeder Vorstoß eines Anschlusssuchenden<br />
wird mit der bereitwilligen<br />
Akzeptanz der Anschlussperson<br />
belohnt; dafür müssen Bedingungen<br />
erfüllt werden. Zum einen<br />
muss der Anschlusssuchende seinen<br />
Kontaktwunsch wahrnehmbar zu<br />
erkennen geben, zum anderen muss<br />
er in den Augen der Anschlussperson<br />
attraktiv erscheinen. Es muss deutlich<br />
werden, dass beide beteiligten<br />
Personen den jeweils anderen als<br />
gleichberechtigten Partner sehen 10 .<br />
Gelingt dies nicht, kann kein Anschluss<br />
entstehen.<br />
Die allgemeine Lebenserfahrung<br />
lehrt jedoch, dass Anschluss nicht immer<br />
gelingt, obwohl sozialer Anschluss<br />
für das seelische Gleichgewicht, in<br />
Extremfällen sogar für das Überleben,<br />
wichtig ist. Aus diesem Grund wird<br />
jeder Anschlussversuch von der „Hoffnung<br />
auf Anschluss” und gleichzeitig<br />
von der „Furcht vor Zurückweisung”<br />
begleitet.<br />
<strong>Das</strong> Anschlussmotiv ist das im<br />
Vergleich am stärksten ausgeprägte<br />
Motiv des Menschen. Es wird viel<br />
daran gesetzt, um einer Gruppierung<br />
anzugehören, auch im Umfeld eines<br />
Verbandes bzw. einer Staffel.<br />
Jeder neu zuversetzte Besatzungsangehörige<br />
wird es früher öder später<br />
versuchen, sich einer ihm genehmen,<br />
informellen Gruppe anzuschließen, die<br />
seinen Bedürfnissen entspricht. Dabei<br />
spielen Alter, Hobbies, Geisteshaltung,<br />
aber auch fliegerisches Können und<br />
Erfahrung eine Rolle.<br />
Der fliegerischen „Spitze” angehören<br />
zu wollen, ist ein Antrieb, dem<br />
jeder Besatzungsangehörige in unterschiedlicher<br />
Ausprägung unterliegt.<br />
Rückt dieses angestrebte Leistungsprofil<br />
durch erbrachte fliegerische Leistung<br />
in erreichbare Nähe und wird<br />
dies von den „alten Hasen” auch so<br />
52 I/2002 FLUGSICHERHEIT
wahrgenommen, dürfte der Anschluss<br />
an diese Gruppe problemlos gelingen.<br />
Werden diese Leistungen jedoch<br />
noch nicht deutlich erkennbar<br />
erbracht und ist der Drang, schnell<br />
dazu gehören zu wollen, stärker ausgeprägt,<br />
als es der Zuwachs an<br />
Leistungsfortschritt rechtfertigt, kann<br />
es beim Anschlusssuchenden zu einer<br />
<strong>Wahrnehmungs</strong>verzerrung kommen,<br />
die über den wahren, objektiven<br />
Leistungsstand hinweg täuscht und<br />
ein Gefühl des „eigentlich Dazugehörens”<br />
aufkommen lässt. Die<br />
Beweisführung vor sich selber und den<br />
anderen wird dadurch erbracht, dass<br />
punktuell vermeintliche Leistungsspitzen<br />
erbracht werden, die als statistisches<br />
Mittel eines eigentlich hohen<br />
Niveaus und damit als „Eintrittskarte”<br />
angesehen werden; objektive Defizite<br />
werden „weg rationalisiert”.<br />
Ein anderes Problem tritt auf, wenn<br />
die Anschlussperson bzw. die Anschlussgruppe<br />
die Meßlatte für den<br />
Anschluss hoch legt und hoch hält,<br />
um den Preis für einen Anschluss teuer<br />
zu gestalten. Die „Eintrittskarte“ für<br />
die Aufnahme in bzw. für den<br />
Anschluss an den elitären Kreis wird<br />
„ausgestellt”, wenn eine nachhaltige<br />
Beeindruckung stattgefunden hat.<br />
Unausgesprochen, vielleicht mit einem<br />
Augenzwinkern, wird der Anschluss<br />
vollzogen. Danach eröffnen sich für<br />
den ehemals Anschlusssuchenden<br />
Einblicke in Interna, die den Charakter<br />
von Informationen einer geheimbündlerischen<br />
Subkultur aufweisen.<br />
Natürlich war das in den letzten drei<br />
Absätzen Geschriebene völlig übertrieben.<br />
Dennoch sollte angemerkt<br />
werden, dass dynamische Prozesse<br />
dieser Art in früherer (damaliger) Zeit<br />
nicht ausgeschlossen waren. Als Lehre<br />
daraus darf nicht in Vergessenheit<br />
geraten, dass es die Kultur eines<br />
Verbandes ist, die so etwas ermöglicht<br />
bzw. sogar stillschweigend fördert,<br />
aber auch ausschließt.<br />
Menschen allgemein, aber natürlich<br />
auch Besatzungsangehörige und<br />
andere Angehörige des fliegerischen<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
Umfeldes, können über das Anschlussmotiv,<br />
durchaus unbewusst, in<br />
eine Situation abgleiten, die ihrem realen<br />
und objektiven Leistungsstand<br />
nicht entspricht. Dadurch werden<br />
Grenzen potentiell, aber auch real<br />
überschritten und Risiken verkannt.<br />
Es darf nicht unerwähnt bleiben,<br />
dass Luftfahrzeugbesatzungen, die an<br />
Einsätzen unter realer Bedrohung teilgenommen<br />
haben, weitestgehend<br />
nicht unter den geschilderten Symptomen<br />
im Flugbetrieb leiden. Jeder<br />
Teilnehmer hat vor sich und anderen<br />
bewiesen, dass er das Geforderte gut<br />
und auftragsgerecht leisten konnte –<br />
es bedarf keines weiteren Beweises.<br />
Nach hiesiger Beobachtung ist<br />
heutzutage ein zwischenmenschlich<br />
harmonisches und angemessenes<br />
Hineinwachsen in das geforderte<br />
Leistungsprofil weitestgehend gegeben,<br />
gerade vor dem Hintergrund realer<br />
Einsätze. Es bleibt die Frage zu diskutieren,<br />
wie dieses in sich ruhende,<br />
realitätsorientierte und stabile Gruppengefühl<br />
auch außerhalb von realen<br />
Einsätzen aufrecht erhalten werden<br />
kann.<br />
<strong>Das</strong> Machtmotiv<br />
Die richtungsweisenden Beobachtungen<br />
auf einem Hühnerhof im Jahre<br />
1922 11 brachten es ans Tageslicht. Es<br />
gibt eine Hierarchieform, in der Macht<br />
ungestraft ausgeübt werden kann.<br />
Diese Rückschlüsse aufgrund von<br />
Beobachtungen wurden über die<br />
Jahre bis heute weiter untersucht und<br />
auf das vielfältige Verhalten von<br />
Menschen übertragen.<br />
Neutral ausgedrückt beruhen Phänomene<br />
der Macht auf der Unvereinbarkeit<br />
von Zielen verschiedener Personen<br />
und Gruppen oder von Mitteln<br />
zur Zielerreichung.<br />
Der Begriff „Macht” hat einen eher<br />
negativen Beigeschmack, weil er<br />
gewöhnlich mit folgenden Vorstellungen<br />
verbunden wird:<br />
Zwang<br />
Unterdrückung<br />
Gewalt<br />
ungerechtfertigte Herrschaft<br />
Er hat in der Realität jedoch nicht<br />
weniger mit positiven bzw. nicht negativen<br />
Phänomenen zu tun, wie:<br />
legitimierte Herrschaft<br />
Autorität<br />
anerkannter Führung<br />
Einflussnahme<br />
Erziehung<br />
Interessenausgleich<br />
Gruppenzusammenhalt<br />
Aus dieser Gegenüberstellung wird<br />
ein Problemfeld zwischen notwendigem<br />
Machthandeln und wahrgenommener<br />
Machtausübung deutlich. Eine<br />
angemessene Einordnung im täglichen<br />
Leben verlangt von beiden Seiten<br />
Augenmaß in der Anwendung und<br />
Einsicht in die Notwendigkeit, in<br />
bestimmten Grenzen Macht ausüben<br />
zu müssen bzw. Machtausübung zu<br />
akzeptieren. Ohne kontrollierte und<br />
angemessene Machtstrukturen kann<br />
sich kein soziales Gebilde stabilisieren.<br />
Leider werden die Grenzen angemessener<br />
Machtausübung nicht<br />
immer eingehalten. <strong>Das</strong> ist vor allen<br />
dann der Fall, wenn eine Person oder<br />
eine Gruppe übertrieben nach Macht<br />
und Überlegenheit strebt und dabei<br />
berechtigten Widerstand anderer<br />
unterdrückt.<br />
Eine Machtstruktur kann sich unter<br />
folgenden Bedingungen entwickeln:<br />
1. Motivation des Machthandelnden.<br />
Sie entwickelt sich unter der<br />
Bedingung, dass der Bedürfniszustand<br />
eines potentiell Machtausübenden<br />
(Person A) nur dann<br />
befriedigt werden kann, wenn<br />
ein anderer (Person B) ein ganz<br />
bestimmtes Verhalten zeigt.<br />
2. Widerstand.<br />
Person B, deren Verhalten zur<br />
Befriedigung des Bedürfnisses<br />
der Person A erforderlich ist,<br />
muss sich widersetzen.<br />
3. Machtquellen.<br />
DerWiderstandmobilisiertMachtquellen<br />
bei Person A. Diese<br />
könne sich aus persönlichen 12<br />
53
oder institutionellen 13 Merkmalen<br />
ergeben.<br />
4. Machthemmung<br />
Ab einer bestimmten Grenze<br />
wird keine Macht mehr ausgeübt,<br />
oder das Machtmittel wird<br />
verändert. Die Grenze liegt individuell<br />
im Werte-Normen-System<br />
von Person A, vielleicht auch in<br />
dem Respekt vor der Gegenmacht<br />
von Person B.<br />
5. Machtmittel<br />
Die Machtmittel ergeben sich aus<br />
der Wahl eingesetzter Machtquellen.<br />
6. Machtwirkung<br />
Im Machtgeschehen spielt auch<br />
die Auswirkung des Machthandelns<br />
eine Rolle. Beim anderen<br />
können Nachgeben, Zustimmung,<br />
Respekt, Zorn oder Vergeltungsvorsätze<br />
auftreten, beim<br />
Machtausübenden die Befriedigung<br />
des auslösenden Bedürfniszustandes,<br />
aber auch das Gefühl,<br />
mächtig zu sein, oder Angst vor<br />
Vergeltung.<br />
Wodurch unterscheidet sich nun<br />
ein gesteigert Machtmotivierter im<br />
täglichen Leben von anderen, die ihr<br />
Machtmotiv situationsgerecht und<br />
kontrolliert einsetzen?<br />
Er fällt eher dadurch auf:<br />
dass er Situationen aufsucht, wo<br />
sich Chancen auf Einflussnahme<br />
und Prestigegewinn bieten,<br />
dass er herauszufinden versucht,<br />
wer gerade mit welchen Intrigen<br />
und Plänen befasst ist,<br />
dass er ständig bewertet, ob<br />
diese Gelegenheit für die eigene<br />
Person eher günstige oder ungünstige<br />
Konsequenzen hat.<br />
Auch in einem fliegerischen Umfeld<br />
einer großen Organisation, wie z.B.<br />
der Bundeswehr, gibt es häufig<br />
Situationen, die als anregend für das<br />
Machtmotiv gelten können. Vorgesetzte<br />
müssen folgenreiche Entscheidungen<br />
treffen, sich durchsetzen<br />
sowie Untergebene führen und motivieren.<br />
Nur optimal eingesetzte Macht<br />
generiert Leistungssteigerungen unter<br />
Beachtung von Grenzen und Normen.<br />
Unangemessen eingesetzte Macht fördert<br />
z.B.:<br />
Widerstand,<br />
Gleichgültigkeit,<br />
Aggression,<br />
Ablenkung,<br />
Autoritätsverlust usw.,<br />
alles überflüssige Erscheinungen,<br />
die Ressourcen sinnlos belegen und<br />
den Freiheitsgrad für angemessene<br />
Reaktionen beschneiden.<br />
<strong>Das</strong> Leistungsmotiv<br />
<strong>Das</strong> dritte und für den Flugbetrieb<br />
sicherlich interessanteste Motiv, das<br />
hier vorgestellt werden soll, ist das<br />
Leistungsmotiv. Leistungsmotivation<br />
und Leistungsgesellschaft sind<br />
Begriffe, die im engen Zusammenhang<br />
zu sehen sind. Die ersten strukturierten<br />
und bemerkenswerten Forschungen<br />
auf diesem Gebiet wurden<br />
Anfang der 60er Jahre durchgeführt.<br />
An deren grundlegenden Aussagekraft<br />
hat sich bis heute nichts geändert,<br />
obwohl natürlich die darstellenden<br />
Aspekte weiter entwickelt wurden.<br />
<strong>Das</strong> Leistungsmotiv eines Menschen<br />
ist ein Ein-Personen-Spiel und wird von<br />
einem inneren Gütemaßstab angeregt.<br />
Nur er weiß,<br />
welchen Anspruch er an sein<br />
eigenes Leistungsvermögen wirklich<br />
hat,<br />
welches<br />
Anspruchsniveau<br />
er verfolgt,<br />
ob ihm die erbrachte<br />
Leistung<br />
ein Erfolgserlebnis<br />
vermittelt,oder ein<br />
Misserfolgserlebnis.<br />
Diese Empfindungen<br />
werden wahrgenommen,<br />
unabhängig<br />
davon, ob etwas gelungen<br />
ist oder nicht, ob<br />
die Person von anderen gelobt wird<br />
oder nicht. Natürlich wird Lob gerne<br />
entgegen genommen, aber nur die<br />
Person selbst weiß, ob sie im Inneren<br />
zufrieden mit der erbrachten Leistung<br />
ist, oder nicht.<br />
<strong>Das</strong> Leistungsmotiv bringt den<br />
Einzelnen in jeder Phase seiner persönlichen<br />
Entwicklung weiter. <strong>Das</strong><br />
Leistungsmotiv mit seinen Erscheinungsformen,<br />
sich über Erfolg zu freuen<br />
und über Misserfolg in irgend einer<br />
Form zu grämen, kann vom frühen<br />
Kleinkind an beobachtet werden und<br />
begleitet den Menschen bis an sein<br />
Lebensende.<br />
<strong>Das</strong> Leistungsmotiv hat seine<br />
Auswirkungen also auch in der aktiven<br />
Phase des Berufslebens, auch und<br />
gerade im Umfeld von „Fliegerei”.<br />
Wie funktioniert es nun und kann<br />
es beherrscht werden? Um dieser<br />
Frage nachzugehen ist es erforderlich,<br />
noch einen weiteren Aspekt in die<br />
Betrachtung mit einzubeziehen.<br />
In seinem Streben nach Weiterentwicklung<br />
geht der Mensch Risiken ein,<br />
denn keine Weiterentwicklung ist<br />
ohne Gefahr des Misslingens möglich.<br />
Leistungsmotiv und Risikowahl stehen<br />
also in enger Beziehung.<br />
Wird von jemand Leistung gefordert,<br />
oder fordert er Leistung von sich<br />
selber ab, so schwindet die Aussicht<br />
auf Erfolg mit der Schwierigkeit der<br />
Aufgabe. Geradezu gegenläufig ist<br />
jedoch der Anreiz des Erfolges, der mit<br />
der Schwierigkeit der Aufgabe steigt.<br />
54 I/2002 FLUGSICHERHEIT
Legt man die Motivationskurve darüber,<br />
so wird deutlich, dass gerade<br />
dann die Motivation am höchsten ist,<br />
wenn die Aussicht auf Erfolg auf<br />
„Messers Schneide” steht. So weit zur<br />
Theorie.<br />
Im realen Leben jedoch gibt sich der<br />
Mensch nicht mit einer fifty-fifty-Lösung<br />
zufrieden. Im realen Leben werden<br />
Fortschritte in größeren Stufen<br />
angestrebt, weil der innere Gütemaßstab<br />
die Meßlatte auf die Höhe der<br />
gestrigen Leistung gelegt hat und nun,<br />
darauf aufbauend, mehr möchte.<br />
Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit des<br />
Misslingens ohne bestätigten Lerneffekt<br />
größer als 50%. Gelingt das<br />
Vorhaben, stellt sich ein Erfolgserlebnis<br />
ein und es hat vermutlich ein Lernprozess<br />
eingesetzt und das Leistungsmotiv<br />
beginnt bei nächster Gelegenheit<br />
im geschilderten Muster fortzufahren.<br />
Der hier beschriebene Vorgang<br />
könnte graphisch wie folgt dargestellt<br />
werden:<br />
ten Leistungsanforderung (LA) gerecht<br />
werden. <strong>Das</strong> trifft auch auf die<br />
Angehörigen des Verbandes in ihrer<br />
Funktion zu. Niemand bekommt die<br />
Qualifikation für eine berufliche Spezialaufgabe<br />
mit in die Wiege gelegt;<br />
man muss sie sich erwerben. Für diese<br />
Lebensabschnitte ist die „Linse” gut<br />
und hilfreich.<br />
Ohne das Leistungsmotiv mit dem<br />
ausgeprägten Effekt der ständigen<br />
Weiterentwicklung, könnte sich niemand<br />
hoch spezialisieren; insbesondere<br />
nicht Luftfahrzeugbesatzungen 14 .<br />
Zunächst wächst der Besatzungsangehörige<br />
in das geforderte Leistungsprofil<br />
seines Verbandes hinein und er<br />
wird irgendwann zu einem verlässlichen<br />
Leistungsträger. Er besucht weiterführende<br />
Lehrgänge und gehört<br />
vielleicht eines Tages zur Spitze seiner<br />
Staffel, der in der Lage ist, ständig,<br />
dauerhaft und nachweisbar am oberen<br />
Limit anforderungsgerecht Leistung<br />
abzugeben 15 .<br />
Doch was geschieht jetzt mit seinem<br />
Leistungsmotiv? Ist das Streben<br />
nach Weiterentwicklung nun zuende?<br />
An diesen Zusammenhängen wird<br />
klar, dass die Kategorie der durch<br />
Bewusstsein gesteuerten Motive nicht<br />
auf Ausgleich, nämlich Beseitigung<br />
eines Mangelzustandes ausgerichtet<br />
sind, sondern auf Mehrung an<br />
Erfahrung, auf Mehrung an Bewusstsein.<br />
Hilft uns diese Erkenntnis im täglichen<br />
Flugbetrieb?<br />
Ist die in der Grafik als Linse dargestellt<br />
Tendenz menschlichen Leistungsverhaltens<br />
gut oder schlecht mit<br />
Flugbetrieb vereinbar?<br />
Die weiterführende Betrachtung<br />
soll Aufschluss geben.<br />
Jeder Verband muss in Wahrnehmung<br />
seines Auftrages einer bestimm-<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
<strong>Das</strong> Leistungsmotiv bietet also die<br />
Möglichkeit, in die Leistungsanforderung<br />
eines Verbandes hineinzuwachsen.<br />
Doch wie geht es danach weiter?<br />
<strong>Das</strong> Leistungsmotiv wird nicht abgeschaltet<br />
werden – es wirkt immerfort<br />
und beeinflusst das Streben noch<br />
Höherem. Es verschiebt das Anspruchsniveau<br />
objektiv nach oben.<br />
Die Antwort liegt auf der Hand.<br />
Sofern weiterhin Interesse an der<br />
Ausübung des Berufs in all seinen<br />
Facetten besteht, wird auch das<br />
Leistungsmotiv weiterhin in diesen<br />
Bereich hinein wirken. Damit kann es<br />
gefährlich werden, wenn die obere<br />
Grenze des Zulässigen und des Machbaren<br />
erreicht wird. <strong>Das</strong> Leistungs-<br />
55
motiv kann wesentlich dazu beitragen,<br />
Grenzen nicht hinreichend<br />
anzuerkennen.<br />
Es gibt Beispiele aus dem Unfallgeschehen,<br />
die dieser Vermutung Raum<br />
geben.<br />
Es ist eine hochinteressante Führungsaufgabe<br />
sich mit der Frage auseinander<br />
zu setzen, wie das Leistungsmotiv<br />
kontrollier werden kann.<br />
Die unmittelbare Kontrolle kann<br />
aber auch vom Einzelnen ausgehen,<br />
wenn er sich als Mensch mit dem ihm<br />
innewohnenden Leistungsmotiv akzeptiert<br />
und deshalb erkennt, dass er<br />
sich selbst Grenzen zu setzen hat, die<br />
er ohne Not niemals überschreitet,<br />
indem er sich im entscheidenden Moment<br />
zurücknimmt – zum Glück ist<br />
der Mensch auch vernunftbegabt.<br />
Zusammenfassung<br />
Alle drei Motive, Anschluss- Machtund<br />
Leistungsmotiv, finden sich vereint<br />
in jedem Menschen wieder. Wir alle<br />
spielen auf dem Klavier in der Auseinandersetzung<br />
mit dem Umfeld, in<br />
dem wir uns bewegen. Je nach Herausforderung<br />
bevorzugen wir einen<br />
stärkeren Ausprägungsgrad des einen,<br />
des anderen, oder des dritten Motivs;<br />
eben der jeweiligen Situation angemessen.<br />
Es kann für den Einzelnen problematisch<br />
werden, wenn eines der<br />
Motive zu stark ausgeprägt ist und<br />
sich in jeder Situation als dominierende<br />
Stellgröße eines individuellen Verhaltens<br />
einbringt. Und nicht nur das –<br />
ein solcher Wesenszug wirkt auf<br />
Dauer auch ungünstig auf die Gruppen-<br />
bzw. auf die Teamleistung.<br />
Eine kurze Zusammenfassung mit<br />
plakativen Aussagen:<br />
1. Ein zu stark Anschlussmotivierter<br />
wird sich immer wieder in Abhängigkeiten<br />
begeben, die ihn<br />
letztlich überfordern werden, weil<br />
der Preis, den er für Anschluss zu<br />
zahlen bereit sein muss, auf<br />
Dauer zu hoch sein dürfte.<br />
Als Führungsperson gilt er als<br />
nett, aber weich und kann keine<br />
Ordnung schaffen oder Richtung<br />
geben. Bevor sich diese Person<br />
unbeliebt macht, würde sie lieber<br />
auf ihre Führungsrolle verzichten.<br />
2. Der überzogen Machtmotivierte 16<br />
wird immer wieder versuchen,<br />
Kontrolle über jene Mittel zu<br />
erlangen, mit denen sich andere<br />
beeinflussen lassen. In diesem<br />
Streben bleibt er nicht unerkannt<br />
und er wird es schwer haben,<br />
intensive Freundschaften bzw.<br />
Kameradschaften zu pflegen.<br />
Sein ständiger Begleiter wird der<br />
Hintergedanke sein, der ständige<br />
Begleiter derer, auf die er einwirkt,<br />
wird das Misstrauen sein.<br />
Bei legitimer Machtausübung<br />
einer Führungsperson würde die<br />
Kombination mit einem hohen<br />
Leistungsmotiv ein Team optimal<br />
zu Höchstleistungen anregen<br />
können.<br />
3. Der ungehemmt Leistungsmotivierte<br />
wird sich in Situationen<br />
bringen, von denen er nicht genau<br />
weiß, wie er da wieder rauskommen<br />
soll. Geschieht das an<br />
der Leistungsgrenze, können die<br />
Folgen fatal sein. <strong>Das</strong> Flugunfallgeschehen<br />
der Bundeswehr<br />
kennt viele Beispiele dafür. Leider<br />
werden daraus nur selten die angemessenen<br />
Rückschlüsse gezogen<br />
– beim Einzelnen, aber auch<br />
in der Organisation.<br />
Als Führungsperson setzt er<br />
falsche und gefährliche Maßstäbe<br />
für alle Untergebenen und begibt<br />
sich in Abhängigkeiten.<br />
Motive wirken aus der Zukunft.<br />
Ihren Zweck und ihren Nutzen, aber<br />
auch die mit den Motiven in Zusammenhang<br />
stehenden Risiken zu<br />
verstehen, ist Voraussetzung dafür,<br />
Grenzen frühzeitig zu erkennen und<br />
zu akzeptieren.<br />
<br />
1 Folgende Literatur stand für die Bearbeitung zur<br />
Verfügung:<br />
Rheinberg, Falko: Motivation; Grundriß der<br />
Psychologie / Kohlhammer, Stuttgart 1997<br />
Heckhausen, Heinz: Motivation und Handeln /<br />
Springer-Lehrbuch, Berlin 1989<br />
Dörner, Dietrich: Die Logik des Misslingens / Rowohlt<br />
Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck 1992<br />
Pethes, Nicolas; Ruchatz, Jens: Gedächtnis und<br />
Erinnerung; ein interdisziplinäres Lexikon / Rowohlt<br />
Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck 2001<br />
Asanger; Wenninger: Handwörterbuch<br />
Psychologie / Psychologie Verlags Union,<br />
Weinheim 1999<br />
Legewie, Heiner; Ehlers, Wolfram: Handbuch<br />
Moderne Psychologie / Bechtermünz Verlag,<br />
Augsburg 2000<br />
2 Hier ist der Bereich der intrinsischen Motivation<br />
gemeint, die aus sich selbst heraus als belohnend<br />
empfunden wird, wenn die Handlung aus anregenden<br />
Reizen der Umgebung mittlerer<br />
Ausprägungsintensität ausgelöst worden ist.<br />
3 Also auch Sprechweise, Gestik, Mimik, Motorik<br />
usw.; eben alle beobachtbaren<br />
Kommunikationskanäle.<br />
4 Hier spielen Dienstaufsicht und Kultur eine herausragende<br />
Rolle. Da auch Rückmeldungen eines<br />
Umfeldes wahrgenommen werden, also individuell<br />
aufgenommen und verarbeitet werden, können<br />
dort Missverständnisse auftreten zwischen<br />
dem, was der Rückmeldende beabsichtigt und<br />
dem, was der Wahrnehmende versteht.<br />
5 Siehe dazu auch: „Wahrnehmung – <strong>Wahrnehmungs</strong>verzerrung<br />
/ <strong>Wahrnehmungs</strong>abwehr”<br />
6 Hier liegt der Raum für das weite Feld der<br />
Vorurteile. Von einmal gefassten Vorurteilen wieder<br />
abzuweichen ist Schwerstarbeit.<br />
7 Hier bildet der Sexualtrieb eine Ausnahme, weil er,<br />
von einem mittleren Erregungsniveau ausgehend,<br />
zunächst den Erregungszustand erhöht, bis es zu<br />
einer Befriedigung kommen kann. Im Gegensatz<br />
dazu kann z.B. ein wenig Hunger mit ein wenig<br />
Nahrung gestillt werden.<br />
8 Mit dieser Beschreibung ist das „homöostatische<br />
Motivationskonzept” gemeint.<br />
9 Damit ist das seelische, aber durchaus auch das<br />
physische Überleben gemeint. Der Eremit ist kein<br />
widerlegendes Beispiel, weil auch er sich zu einer,<br />
wenn auch räumlich weit zerstreuten, Gemeinschaft<br />
zählen kann. Die Literatur beschreibt eindrucksvolle<br />
Beispiele, die die Richtigkeit der<br />
Behauptung bestätigen.<br />
10 Keiner der beiden Partner darf als Objekt instrumentalisiert<br />
werden, z.B. für das Erleben von<br />
Unabhängigkeit oder Abhängigkeit, Überlegenheit<br />
oder Unterlegenheit, Macht oder Ohnmacht,<br />
Hilfegeben oder Hilfesuchen.<br />
11 Schielderupp-Ebbes stellten fest, dass es eine<br />
Hierarchie gab, in der ranghöhere Tiere<br />
Schnabelhiebe an rangniedrigere Tiere ungestraft<br />
austeilen konnten, was letzteren gegenüber ersteren<br />
nicht möglich war.<br />
12 Körperliche oder geistige Überlegenheit,<br />
Attraktivität, Ausstrahlungskraft oder ähnlichem.<br />
13 Die Rolle von A und ihren rechtlichen und wirtschaftlichen<br />
Möglichkeiten.<br />
14 Hier soll das Beispiel LFB stellvertretend für alle<br />
anderen Bereiche eines Verbandes fortgeschrieben<br />
werden.<br />
15 Natürlich ist klar, dass es sich hier um eine theoretische<br />
Betrachtung handelt. In Wirklichkeit unterliegt<br />
auch die LFB einer Dynamik mit Tagesform<br />
abhängigen Leistungsparametern. Auf die<br />
Darstellung der Dynamik wurde zu Gunsten der<br />
Klarheit des Prinzips verzichtet.<br />
16 Hier ist die Kategorie der „personalisierten<br />
Machtorientierung” gemeint, die vor allem der<br />
Stärkung der eigenen Person dient. Im Gegensatz<br />
dazu ist die „sozialisierte Machtorientierung”<br />
stark fremddienlich, sie soll anderen nutzen.<br />
56 I/2002 FLUGSICHERHEIT
Führungs- und<br />
Handlungsverantwortung<br />
Allgemeines<br />
Verantwortung für Führungsentscheidungen<br />
und das Geradestehen<br />
für die Ergebnisse des eigenen Handelns<br />
sind uns in einem Umfeld, in<br />
dem Menschen geführt werden und<br />
gerichtetes Handeln für das Erreichen<br />
definierter Ziele erforderlich ist, ständige<br />
Begleiter.<br />
Der vorliegende Artikel soll einen<br />
Beitrag zu der Lösung von Fragen leisten,<br />
die im Zusammenhang mit Entscheidungen<br />
und deren Auswirkungen<br />
auftreten können.<br />
Natürlich können hier nicht alle<br />
Aspekte von Führungsverantwortung<br />
(FV) und Handlungsverantwortung<br />
(HV) besprochen werden. Allerdings<br />
erscheint eine etwas tiefer gehende<br />
und CRM-bezogene Betrachtung angezeigt,<br />
weil auch dieser Blickwinkel<br />
auf Vorgänge rund um das Verhalten<br />
und Erleben von Menschen eine Rolle<br />
spielen kann, wenn Ressourcen strukturell<br />
verschüttet, oder freigesetzt werden.<br />
Unsichere Vorstellungen darüber<br />
„wann bin ich für was verantwortlich“<br />
können die Leistungsfähigkeit eines<br />
Teams negativ beeinflussen – Beispiele<br />
gibt es genug:<br />
Eine PAH – Besatzung nähert sich<br />
einer Stellung an, der LFF verschätzt<br />
sich und es kommt zu<br />
einer Baumberührung:<br />
Ist der Kommandant (Kdt) verantwortlich?<br />
Im Rahmen eines IFR - Weiterbildungsfluges<br />
mit unerwartet<br />
viel Gegenwind entscheidet sich<br />
der Kdt, am Zielflugplatz, nachdem<br />
eine Landung bei Wetterbedingungen<br />
„zero / zero“ nicht<br />
möglich war, dort einige Übungsanflüge<br />
durchzuführen.Der Kraft-<br />
stoffvorrat entsprach vor Antritt<br />
des Fluges den Mindestanforderungen<br />
für einen Instrumentenflug<br />
mit einer Planung zum<br />
Ausweichlandeplatz. Am Ausweichlandeplatz<br />
entsprachen die<br />
zu erwartenden Wetterbedingungen,im<br />
entsprechenden Zeit-<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
57
fenster, den Mindestbedingungen.<br />
Die Entscheidung des Kdt<br />
Übungsanflüge durchzuführen,<br />
führte dazu, dass Reservekraftstoffleichtfertig<br />
1 verbraucht wird:<br />
Soll der LFF Widerspruch einlegen<br />
und dürfte er das überhaupt?<br />
Der Flugauftragserteilende und<br />
Nachtflugleiter eines Hubschrauberverbandes<br />
entscheidet sich für<br />
die Durchführung eines Nachtfluges<br />
bei 30%iger Eintreffwahrscheinlichkeit<br />
von flugausschließenden<br />
Wettererscheinungen<br />
(moderate ice in snow showers):<br />
Dürfen die Nachtflugteilnehmer<br />
diese Entscheidung hinterfragen<br />
oder wäre es sogar deren Pflicht?<br />
Der Kdt entscheidet sich für einen<br />
Startabbruch jenseits der Startabbruchgeschwindigkeit:<br />
Hätte ein Besatzungsangehöriger,<br />
unabhängig von der Aufgabe<br />
an Bord, wenn auch vielleicht<br />
nur verbal, eingreifen müssen?<br />
Diese wenigen Beispiele aus dem<br />
Flugunfall – und Zwischenfallgeschehen<br />
verdeutlichen die Notwendigkeit,<br />
folgenden Fragen nachzugehen:<br />
Wo liegen die Grenzen eigener Entscheidungskompetenz?<br />
BiszuwelcherGrenzemüssen Entscheidungen<br />
hingenommen werden,<br />
wo ist die Schmerzgrenze?<br />
Wann bin ich für Handlungen anderer<br />
verantwortlich?<br />
Wo wird Autorität durch Widerspruch<br />
untergraben und wie viel<br />
Widerspruch verträgt eine Hierarchie?<br />
Wann bin ich als Besatzungsangehöriger<br />
schuldig im Sinne einer<br />
Dienstpflichtverletzung?<br />
Wie können Erkenntnisse zur<br />
Thematik aufgearbeitet und vermittelt<br />
werden?<br />
Letztlich obliegen die Antworten<br />
den Truppenführern. Der vorliegende<br />
Beitrag versucht Hintergründe aufzuhellen,<br />
Vorurteile durch Definitionen<br />
und Sprachregelung abzubauen, sowie<br />
Hinweise für einen möglichen Um-<br />
gang mit FV und HV im Flugbetrieb zu<br />
geben.<br />
Definitionen<br />
Auftragsbezogener Flugbetrieb in<br />
einem militärischen Umfeld, nicht selten<br />
unter erhöhten Risiken und bisweilen<br />
unter realer Bedrohung, unterliegt<br />
außerordentlich vielen Sachzwängen,diejenseits<br />
der„normalen“Durchführung<br />
von Flugbetrieb nach dem<br />
Luftverkehrsgesetz liegen. Er benötigt<br />
deshalb in ganz besonderem Maße<br />
eine Struktur, die der objektiven Arbeitssituation<br />
im und für das „Cockpit“<br />
angepasst ist und angemessene<br />
Kontrollmöglichkeiten bietet.<br />
Die Auseinandersetzung mit den<br />
Fragen nach FV und HV verlangt eine<br />
Beschäftigung mit Begriffen die zwar<br />
bekannt sind, in ihrer Bedeutung jedoch<br />
zugunsten einer einheitlichen<br />
Sprachregelung definiert werden müssen.<br />
Kontrolle<br />
Mit Kontrolle ist nicht der Begriff<br />
aus dem Führungsvorgang als klassischen<br />
„Soll-Ist-Vergleich“ im Rahmen<br />
von Dienstaufsicht gemeint. Hier ist<br />
die Übersetzung des englischsprachigen<br />
Wortes „control“ gemeint, das<br />
Kontrolle „... als in dem Maße gegeben<br />
sieht, in dem eine Person oder<br />
eine Gruppe über die Möglichkeiten<br />
verfügt, relevante Bedingungen und<br />
Tätigkeiten entsprechend eigener<br />
Ziele, Bedürfnisse und Interessen zu<br />
beeinflussen“. Kontrolle wird als Eigenkontrolle<br />
aufgefasst, indem es<br />
sowohl um die Beeinflussung der Bedingungen<br />
als auch der eigenen<br />
Tätigkeit geht; diese Beeinflussung findet<br />
immer in Bezug auf ein Ziel statt<br />
und kann zwischen objektiver Kontrolle<br />
(wirklich vorhanden) und subjektiver<br />
Kontrolle (ich könnte, wenn ich<br />
müsste) unterschieden werden 2 .<br />
Drei Begriffe sind in diesem Kontext<br />
wesentlich:<br />
Freiheitsgrad<br />
... ist die Möglichkeit, zwischen<br />
unterschiedlichen, aber etwa gleich<br />
effizienten, Handlungsstrategien auswählen<br />
zu können, die alle zu der<br />
Erledigung des Auftrages führen. Ein<br />
aufwendiger Umweg ist also nicht als<br />
Freiheitsgrad zu interpretieren.<br />
Tätigkeitsspielraum<br />
... wird als Möglichkeit gesehen,<br />
unterschiedliche Handlungsvollzüge<br />
innerhalb einer Aufgabe ausführen zu<br />
können. Damit sind alle bewussten<br />
(nach kognitiver Leistung), aber auch<br />
weitestgehend unbewussten („skill<br />
based behavior 3 “) Einzelhandlungen<br />
gemeint, die eine gegebene Situation<br />
erfordert und die zielgerichtet ausgeführt<br />
werden.<br />
Zum Beispiel der Anlassvorgang,<br />
der bewusst und streng strukturiert<br />
(wenn auch bisweilen individuell)<br />
durchgeführt wird, oder der Endanflug<br />
zur Landung, der in seiner Anforderung<br />
an motorische Abläufe meist<br />
unbewusst gesteuert wird und nach<br />
„fließenden Momentbewertungen 4 “<br />
aus der Situation heraus bestimmt<br />
wird (rechts oder links am Hindernis<br />
vorbei). Gemeint ist der Spielraum in<br />
einer hierarchisch horizontalen Entscheidungsebene<br />
eines einzelnen Entscheidungsbereichs.<br />
Entscheidungsspielraum<br />
... benennt den vertikalen Spielraum,<br />
der die Entscheidungen über<br />
Strukturierungen der Auftragserfüllung<br />
meint (wer, macht was, wann?)<br />
wird aber auch in engen Grenzen prinzipiell<br />
von jedem wahrgenommen, der<br />
Handlungsverantwortung übernehmen<br />
soll (wie mache ich was?).<br />
... wird bei Handlungsvollzügen (s.<br />
o.) erforderlich, die mit Freiheitsgraden<br />
(s. o.) gekoppelt sind.<br />
Führungsverantwortung<br />
Wird häufig durch ein Prinzip der<br />
Delegation angestrebt, welches so<br />
gestaltet ist, dass die Rechte und die<br />
Verantwortungen des Handelnden<br />
dem Umfang der Aufgabe entsprechend<br />
übertragen werden. (Stichwort:<br />
58 I/2002 FLUGSICHERHEIT
„Der richtige Mann am richtigen<br />
Platz“).<br />
Handlungsverantwortung<br />
Handlungsverantwortung folgt dem<br />
Handlungsspielraum. Diese ergibt sich<br />
aus der Gleichzeitigkeit von Tätigkeitsspielraum<br />
(T-S) sowie Entscheidungs-<br />
und Kontrollspielraum (E-<br />
K-S) ergibt.<br />
Nur wem das Recht eingeräumt<br />
wird, neben manuellem Tätigkeitsspielraum<br />
auch alle der Tätigkeit<br />
entsprechend zugeordneten Entscheidungen<br />
zu treffen und darüber<br />
Kontrolle auszuüben, verfügt<br />
über Handlungsspielraum und<br />
wird so in der Lage versetzt, für<br />
sein Handeln Verantwortung übernehmen<br />
zu können.<br />
Wird eine Erweiterung nur in einer<br />
Dimension vorgenommen, so kann<br />
nicht von einer Erweiterung des Handlungsspielraums<br />
gesprochen werden.<br />
Abgrenzung<br />
<strong>Das</strong> bisher Gesagte verdeutlicht die<br />
Vielfalt der Betrachtungsmöglichkeiten<br />
und die Leichtigkeit mit der man<br />
aneinander vorbeireden kann, wenn<br />
Fragen nach Verantwortung im und<br />
für den Flugbetrieb gestellt und kontrovers<br />
diskutiert werden.<br />
Der vorliegende Beitrag möchte<br />
sich, wie bereits angedeutet, im<br />
Schwerpunkt mit Fragen auseinandersetzen,<br />
die Lfz-Besatzungen direkt<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
betreffen. Selbstverständlich liegt es in<br />
der Natur von Weg-Ziel-Konflikten,<br />
also in der Natur von Entscheidungsfindungsprozessen,<br />
dass bereits in<br />
einem sehr frühen Stadium Verantwortung<br />
zu übernehmen ist. Die Darstellung<br />
einer eher indirekten Wirkung,<br />
z. B. durch höherer Stäbe und Kommandobehörden<br />
aus der „Ferne“ auf<br />
konkrete Handlungen und Tätigkeiten<br />
der Arbeitsebene an der „Basis“, findet<br />
keine Erörterung.<br />
Die Aspekte von möglichen, schuldhaften<br />
Dienstpflichtverletzungen werden<br />
im folgenden dort angedeutet, wo<br />
der Bezug zu Gesetzen hergestellt wird.<br />
Eine Bewertung jedoch im Sinne einer<br />
Prüfung, ob ggf. eine Dienstpflichtverletzung<br />
vorliegt, soll nicht vorgenommen<br />
werden.<br />
Hauptteil<br />
Arbeitsteilung und Leistungssteigerung<br />
<strong>Das</strong> Prinzip der Leistungssteigerung<br />
durch Arbeitsteilung im Flugbetrieb<br />
kann auf eine lange Geschichte<br />
zurückblicken. Die „Partialisierung“<br />
von Arbeitsabläufen bis hin zu kleinsten<br />
Teiltätigkeiten, die ihrerseits einzelnen<br />
Personen übertragen wurden,<br />
folgten dem Prinzip der Trennung von<br />
„Kopf (geistiger Arbeit des Ingenieurs)<br />
und Hand (körperliche Arbeit des einfachen<br />
Mannes)“ aufgrund der Überlegung,<br />
dass das gemeinsame höhere<br />
Ziel, z. B. das Erreichen eines allgemeinen<br />
Wohlstandes, die Nachteile einer<br />
solchen Strukturierung neutralisieren<br />
würden. 5<br />
Die Geschichte hat gezeigt, dass<br />
diese Annahme in ihrer Konsequenz<br />
eine Illusion war. Heute leben wir in<br />
der Erkenntnis, dass Leistungssteigerung<br />
nur durch Erhöhung des Handlungsspielraums<br />
im Sinne obiger Definitionen<br />
erfolgen kann.<br />
Checklisten, Entscheidungsstrukturen<br />
und „Operating Procedures“<br />
sind Relikte dieser alten Prinzipien und<br />
haben dennoch in komplexen Umfeldern<br />
ihre Berechtigung, weil sie Fehlleistungen,<br />
insbesondere unter Zeitdruck,<br />
vorbeugen können.<br />
Im Gegenzug ist es erforderlich,<br />
auch die Kehrseiten dieser an sich<br />
positiven Effekte zu beleuchten. Arbeitsteilung<br />
kann persönlichkeitsfördernd<br />
sein, wenn die Humankriterien<br />
berücksichtigt werden. <strong>Das</strong> heißt u. a.<br />
wenn jeder Tätigkeit die entsprechende<br />
Entscheidungs- und Kontrollkompetenz<br />
zugestanden ist. Wer kennt<br />
nicht Situationen, in denen der steuerführende<br />
LFF als „lebender Roboter“<br />
betrachtet und quasi durch das<br />
Verfahren „gesprochen“ wurde, ohne<br />
dass Notwendigkeit dafür bestand.<br />
Oder der Kommandant „fühlte mal<br />
mit“ und niemand wusste nachher,<br />
wer eigentlich das Lfz gelandet hat;<br />
doch dazu gleich mehr.<br />
Wird jedoch Entscheidungs- und<br />
Kontrollspielraum sehr weit gefasst<br />
interpretiert, sehen wir uns dem anderen<br />
Phänomen gegenüber, dass plötzlich<br />
Verfahren abgekürzt, verändert<br />
oder weggelassen werden, weil sie<br />
einem beteiligten „Führungsverantwortlichen“<br />
überflüssig erscheinen.<br />
Auch dafür gibt es Beispiele: Es tritt<br />
eine Situation ein, in der die Regelung<br />
einer Vorschrift klar anzuwenden<br />
wäre. Im Rahmen eines Überprüfungsfluges<br />
wäre man bei einer Missachtung<br />
durchgefallen. Heute jedoch,<br />
im konkreten Einsatz wird diese Regelung,<br />
nur für diesen Einzelfall und „in<br />
guter Absicht“, gebeugt, um das<br />
Verfahren bzw. das Vorhaben zu beschleunigen<br />
oder überhaupt erst zu<br />
ermöglichen.<br />
Jeder der kritisch in sich hinein hört,<br />
wird feststellen, dass er über genügend<br />
Lebenserfahrung zu diesem<br />
Thema verfügt – Beispiele möge sich<br />
jeder geneigte Leser vergegenwärtigen.<br />
<strong>Das</strong> richtige Maß an Regulierungen<br />
einerseits und Freiheitsgraden andererseits<br />
zu finden, ist sehr schwierig,<br />
weil diese auch sehr individuellen<br />
Bedürfnissen angepasst sein müssten.<br />
Deshalb ist es so wichtig, dass der<br />
Kommandeur/Kommodore eines Ver-<br />
59
andes nicht müde wird, immer wieder<br />
deutlich zu vermittelt, wie er sich<br />
Auftragserfüllung in seinem Verband<br />
vorstellt und wie er die Kultur seines<br />
Verbandes sieht. Flugsicherheit ist vor<br />
allem eine Führungsaufgabe! 6<br />
Erlernte Hilflosigkeit<br />
Wie bereits dargestellt, ist die personellen<br />
Trennung von Tätigkeitsspielraum<br />
einerseits und Entscheidungsund<br />
Kontrollspielraum andererseits,<br />
ein entscheidender Faktor, an dem<br />
sich, je nach Ausprägung, der Grad an<br />
potentieller Sicherheit direkt ablesen<br />
ließe.<br />
Wenn jegliche Handlungsalternative<br />
im engen Rahmen einer Tätigkeit,<br />
für die eine Entscheidung erforderlich<br />
ist, zunächst genehmigt werden muss,<br />
bzw. erst „auf Zuruf“ ausgeführt werden<br />
darf, weil „man“ keine Fehler<br />
mehr macht, respektive keine Fehler<br />
anderer mehr duldet, führt das bei<br />
überdauernder Einwirkung zu einer<br />
Situation subjektiv erlebter Hilflosigkeit,<br />
die bereits aus sich selbst heraus<br />
beim Betroffenen zu erhöhtem Stresserleben<br />
führen kann 7 .<br />
Wenn nun eine solche Situation gegeben<br />
ist, weil:<br />
Arbeitsteilungskonzepte dies so<br />
vorsehen, oder<br />
Rollenverständnisse von Besatzungsangehörigen<br />
ein solches<br />
Verhalten erzwingt, oder<br />
das Arbeitsklima, welches von<br />
gegenseitigem Misstrauen geprägt<br />
ist, dazu führt,<br />
kann also davon ausgegangen werden,<br />
dass es sich für den Betroffenen<br />
um ein überdauerndes Erleben<br />
subjektiver Hilflosigkeit handelt<br />
und<br />
dass er sich dieser ihn schädigenden<br />
Situation nicht entziehen<br />
kann, verfügt er also über<br />
keine für ihn passende Lösungsstrategie<br />
in der zwischenmenschlichen<br />
Auseinandersetzung,<br />
dann wird er, der Betroffene,<br />
Schaden nehmen 8 , sofern er nicht in<br />
der Lage ist, den „Dauerstress“ abzuwenden<br />
9 .<br />
Beobachtungen zeigen, dass der so<br />
Geschädigte zunächst mit Aktivität<br />
und Widerstand, aber auch mit Aggressivität<br />
dagegenhält und, nach<br />
einer längeren Erfahrung der Erfolglosigkeit,<br />
mit „erlernter Hilflosigkeit“<br />
reagiert.<br />
Sowohl der Weg zur „erlernten Hilflosigkeit“,<br />
als auch das Verhalten in<br />
„erlernter Hilflosigkeit“, sind im Flugbetrieb<br />
auf jeden Fall höchst problematisch.<br />
Schauen wir uns um, wir<br />
sind nicht frei von solchen Beobachtungen.<br />
Natürlich gibt es auch Bereiche<br />
in unserer Bevölkerung, in<br />
denen „erlernte Hilflosigkeit“ im Berufsleben<br />
nicht negativ empfunden<br />
wird und diese auch keinerlei Schaden<br />
anrichtet, weil der Drang, sich mit<br />
ganzer Person und ganzem Herzen<br />
einzubringen, nicht besonders stark<br />
ausgeprägt ist; Nach dem Motto: der<br />
„Job“ bringt mir das Geld und das<br />
war es dann auch. Lfz-Besatzungen,<br />
Lfz-Techniker und Flugsicherungspersonal<br />
sollten nicht dazu gehören 10 .<br />
Dem geschilderten Phänomen kann<br />
in zweierlei Hinsicht begegnet werden,<br />
indem die Handlungsspielräume<br />
nach obiger Definition angepasst<br />
werden, und<br />
indem die soziale Unterstützung<br />
verbessert wird 11 .<br />
Wie viel Handlungsspielraum verträgt<br />
sich mit Flugbetrieb?<br />
Handlungsspielraum im Flugbetrieb<br />
Die Aufgaben in einem Lfz sind verteilt,<br />
die Rollen der Besatzungsangehörigen<br />
sind, je nach Lfz-Muster, Funktion<br />
und Teilstreitkraft (TSK), unterschiedlich<br />
genau definiert und zugewiesen<br />
– eigentlich dürfte nichts passieren,<br />
eigentlich müsste alles klar sein.<br />
Doch wie es in Wirklichkeit manchmal<br />
um Zusammenarbeit, um Kooperation,<br />
oder auch um Vertrauen in die<br />
Leistungsfähigkeit des anderen stehen<br />
kann, weiß jeder aus eigener Erfahrung<br />
und aus Erzählungen. Sehr oft<br />
haben wir es in diesen Fällen mit einer<br />
Art „Mischverhalten“ aus den verschiedenen<br />
Rollen heraus zu tun, insbesondere<br />
nachdem die Steuerführung<br />
übergeben worden ist und damit<br />
prinzipiell auch die Aufgaben komplett<br />
auf den jeweils anderen übergegangen<br />
sein sollten 12 Ausgangspunkt ist<br />
dabei oft der vwt LFF, der zwar die<br />
Aufgaben des anderen gerne übernimmt,<br />
aber seine eigenen Aufgaben,<br />
nach dem Rollentausch, nur partiell<br />
abgibt. Einige Beispiele:<br />
FLB / LÜB ohne Aus- oder Weiterbildungsauftrag<br />
13 .<br />
„Alte Hasen“ gegenüber „jungen<br />
Leuten“, wenn manches<br />
nicht sofort perfekt zustande<br />
kommt.<br />
Besatzungen, die üblicherweise<br />
daran gewöhnt sind ohne zweiten<br />
LFF zu fliegen 14 , beim Nachtflug<br />
jedoch gemeinsam fliegen<br />
müssen 15 .<br />
Der Steuerführende, der als „verlängerter<br />
Arm“ des vwt LFF angesehen<br />
wird 16 , gleichsam durch<br />
jedes Verfahren „getalkt“ wird,<br />
bzw. bei dem immer Mal ohne<br />
besonderen Anlass „mitgefühlt“<br />
wird.<br />
Angemessener Handlungsspielraum<br />
für das eigene Tun im vorgesehenen<br />
Rahmen aktiviert dagegen Ressourcen<br />
unmittelbar, weil<br />
Kapazitäten richtig einsetzt werden<br />
Beanspruchung reduziert wird<br />
Leistungsbereitschaft erhöht<br />
wird,<br />
das gegenseitige Vertrauen in die<br />
jeweilige Leistungsfähigkeit des<br />
anderen wächst,<br />
Ansatzpunkte für Weiterbildung<br />
erkannt werden,<br />
das Erleben einer gemeinsam<br />
bewältigten anspruchsvollen Aufgabe<br />
Zufriedenheit vermittelt.<br />
Wird Handlungsspielraum aufgabenbezogen<br />
ermöglicht, ist in keiner<br />
Weise Autorität oder Führungsverantwortung<br />
untergraben; im Gegenteil:<br />
Erst der gewährte Handlungs-<br />
60 I/2002 FLUGSICHERHEIT
spielraum für Andere ermöglicht<br />
Führungsverantwortung!<br />
Diese Weiterentwicklung des Modells<br />
„Handlungsspielraum“ kann natürlich<br />
auch noch auf weitere Besatzungsangehörige<br />
(Crew Member/CM)<br />
und andere Führungskonstellationen<br />
ausgedehnt werden - eine Darstellung<br />
erübrigt sich. Es bleibt anzumerken,<br />
dass die Grafik deutlich macht wie HV<br />
und FV in arbeitsteiligen Situationen<br />
vonstatten gehen sollte:<br />
Höherwertige Entscheidungskompetenzim<br />
Rahmen des E-K-S vonCM 1<br />
beinhaltet Tätigkeitsspielraum im eigenen<br />
Aufgabenbereich und gleichzeitig<br />
FV für den Handlungsspielraum von<br />
CM 2, ohne allerdings dessen Tätigkeitsspielraum<br />
und Entscheidungsund<br />
Kontrollspielraum unnötig zu<br />
beeinflussen oder zu beschneiden.<br />
Verantwortung für ...<br />
...als Führungsverantwortlicher<br />
Der Führungsverantwortliche hat<br />
dafür einzustehen, dass er seine<br />
Pflichten als Vorgesetzter gegenüber<br />
seinen Untergebenen nach obigem<br />
Modell erfüllt und damit „mittelbare<br />
Verantwortung“ übernimmt.<br />
Für Fehler seines Untergebenen<br />
ist er nur dann verantwortlich,<br />
wenn er eben diesen Führungspflichten<br />
nicht nachgekommen ist.<br />
Diese sind u. a.:<br />
die richtige bzw. auftragsorientierte<br />
Auswahl des Personals,<br />
deren Einweisung in den Auftrag,<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
die Information über Zielsetzung<br />
und der Formulierung des<br />
Schwerpunkts,<br />
die Verfügbarkeit der notwendigen<br />
Mittel und Unterstützung,<br />
Dienstaufsicht und Ausübung<br />
der Fürsorge insgesamt.<br />
...als Handlungsverantwortlicher<br />
Der Handlungsverantwortliche<br />
übernimmt „unmittelbare Verantwortung“<br />
für die konkrete Ausführungstätigkeit<br />
bzw. für die Erfüllung einer<br />
Ausführungsforderung schlechthin, im<br />
Rahmen des ihm zugewiesenen Handlungsspielraums.<br />
Dabei muss er sich im Sinne seiner<br />
Führung verhalten.<br />
Verantwortung vor ...<br />
Wiederholend kann gesagt werden,<br />
dass jeder, der über Entscheidungs-<br />
und Kontrollspielraum verfügt,<br />
Verantwortung übernimmt und zwar<br />
gegenüber demjenigen, der eine Tätigkeit<br />
oder ein bestimmtes Verhalten<br />
berechtigt einfordert.<br />
<strong>Das</strong> muss nicht immer nur der<br />
nächste Vorgesetzte sein. Es könnte<br />
sich auch um den nächsthöheren Vorgesetzten<br />
handeln, wenn z.B. Befehle<br />
für die Regelung des Flugbetriebes<br />
betroffen sind. Es könnte sich sogar<br />
gar um Interessen der Bundesrepublik<br />
Deutschland handeln, wenn Vorschriften<br />
und Gesetze einzuhalten sind.<br />
Klare Aufgabenbeschreibungen<br />
bzw. die Formulierung und das<br />
Vorleben eines Kodexes für den<br />
Verband durch den Kommandeur /<br />
Kommodore 17 , erleichtern die Orientierung,<br />
lassen den Maßstab für<br />
eigenes Verhalten leichter erkennen<br />
und fördern gegenseitige, helfende<br />
Kameradschaft.<br />
Verantwortung und Risikobereitschaft<br />
Die Risikobereitschaft von Gruppen<br />
ist prinzipiell höher als die Risikobereitschaft<br />
des Einzelnen 18 . Dieses<br />
Phänomen ist belegt, wird jedoch<br />
unterschiedlich begründet. Als plausibelster<br />
Grund wird die unausgesprochene,<br />
emotional getroffene Bewertung<br />
angenommen, eine Gruppe<br />
trage auch geteilt Verantwortung –<br />
„weil wir es alle wollen, ist es gut“<br />
oder „ wer sollte uns schon ‘was<br />
anhaben“.<br />
Doch wie steht es genau dort um<br />
Verantwortung für Entscheidungen<br />
oder Handlungen des Einzelnen, die<br />
unter Gruppendruck entstanden<br />
sind 19 ? Inwieweit kann dort noch jemand<br />
für sein eigenes Handeln einstehen,<br />
wo doch der Entscheidungs- und<br />
Kontrollspielraum formal ja, faktisch<br />
jedoch nicht oder kaum vorhanden<br />
war 20 ?<br />
Wichtiger als die Beantwortung dieser<br />
Frage ist die Erkenntnis, dass die<br />
Verantwortung für eine weitreichende<br />
Entscheidung, die unter Gruppenzwang<br />
entstanden ist, in erster Linie<br />
eine Führungsverantwortung ist, über<br />
die ggf. Rechenschaft abzulegen sein<br />
würde.<br />
Exkurs:<br />
Es ist in diesem Zusammenhang<br />
auch bekannt, dass die Argumente<br />
statushoher Personen auch dann besonders<br />
einflussreich sind, wenn die<br />
fachliche Kompetenz der Höhe des<br />
Status in keiner Weise entspricht.<br />
Vielleicht können wir aus der früheren<br />
deutschen Schifffahrt etwas lernen.<br />
Dort wurden bei Schiffsversammlungen<br />
die Lösungsvorschläge in<br />
umgekehrter Reihenfolge zur Hierarchie<br />
abgegeben, der Kapitän also<br />
zuletzt, nachdem er die Vorschläge zur<br />
Problemlösung aller anderen, die Meinung<br />
des Geringsten zuerst, gehört<br />
hatte. Es ist nicht bekannt 21 dass<br />
dadurch die Autorität der Kapitäne der<br />
früheren deutschen Schifffahrt gelitten<br />
hätte.<br />
Verantwortung in hierarchischen<br />
Strukturen<br />
Entscheidungs- und Kontrollspielraum<br />
in hierarchischen Strukturen orientiert<br />
sich in seinem Freiheitsgrad<br />
naturgemäß an der hierarchischen<br />
61
Ebene. Manche Entscheidungen stehen<br />
einem in der Hierarchie weiter<br />
unten Stehenden nicht zu. Vor allem<br />
auch deshalb, weil die Verantwortung<br />
für die Folgen von Entscheidungen<br />
großer Tragweite von einem Einzelnen<br />
der durchführenden Ebene nicht übernommen<br />
werden kann, wenn das<br />
Risiko wegen des zu erwartende<br />
Schadens bei hoher Eintreffwahrscheinlichkeit<br />
hoch ist. Solche Entscheidungen<br />
gehören auf die entsprechende<br />
Ebene 22 .<br />
Natürlich gibt es gerade im Flugbetrieb<br />
Ereignisse, in denen nicht lange<br />
nachgefragt werden kann, weil die<br />
Situation dies nicht zulässt – man<br />
denke nur an eine Luftnotlage. In solchen<br />
akuten Fällen ist, nach erfolgter<br />
Analyse, nur selten Verantwortung<br />
nach obiger Definition zu übernehmen,<br />
sofern bekannte Verfahren richtig<br />
angewendet wurden, weil Entscheidungs-<br />
und Kontrollspielraum<br />
kaum noch gegeben war. Gott sei<br />
Dank ist es so, dass diese Ereignisse,<br />
gemessen am flugbetrieblichen Gesamtaufkommen,<br />
relativ selten vorkommen<br />
und wenn ja, relativ schadlos<br />
ablaufen.<br />
Doch wie sieht es mit Verantwortung<br />
im Vorfeld zu diesen Konstellationen<br />
aus, wenn noch, je nach Ereignis,<br />
Entscheidungs- und Kontrollspielraum<br />
für alternative Entscheidungen möglich<br />
gewesen wäre?<br />
Handlungsverantwortung für falsche<br />
Entscheidungen anderer? 23<br />
Beispiel 1 (zur Verdeutlichung bewusst<br />
übertrieben):<br />
Der Kommandant beschließt,<br />
ohne die Steuerführung zu haben,<br />
nach seinem Start in Köln –<br />
Bonn in Richtung Nordwest, bei<br />
guten Wetterverhältnissen zwischen<br />
den Pfeilern der Severinsbrücke<br />
Köln hindurch fliegen zu<br />
lassen.<br />
Sofern der Steuerführende LFF erkennen<br />
kann, dass es sich bei dieser<br />
Anordnung um das Ergebnis einer<br />
offenkundig nicht angemessene Entscheidung<br />
eines anderen handelt, die<br />
er auszuführen hat, trägt er Verantwortung<br />
für die Auswirkungen seines<br />
eigenen Handelns, weil er den Kontroll-<br />
und Entscheidungsspielraum des<br />
anderen widerspruchslos hingenommen<br />
24 , quasi sich zu eigen gemacht<br />
habt.<br />
Kann der LFF dieses jedoch im Vorfeld<br />
nicht erkennen, so trägt er auch<br />
keine Verantwortung für eine falsche<br />
Entscheidung, auch wenn er den ihm<br />
verbleibenden Handlungsspielraum im<br />
Rahmen der zugewiesenen Tätigkeiten<br />
nutzt.<br />
Dazu Beispiel 2:<br />
Der neue / junge SAR-Pilot fliegt<br />
den Landeplatz an, weiß dass es<br />
„eng“ wird, fragt die Hindernisfreiheit<br />
ab, bekommt von links<br />
und hinten „Klarmeldung“ und<br />
hört die Aufforderung „ jetzt<br />
´runter!“. Auf der linken Seite,<br />
für ihn nicht einsehbar, ein<br />
Kiesbett neben einem Parkplatz,<br />
mehrere Autos werden „sandgestrahlt“.<br />
Es gilt also:<br />
Der Handelnde trägt für Entscheidungen<br />
anderer dann Verantwortung<br />
mit, wenn er diese Entscheidung<br />
kritiklos hingenommen<br />
hat und umsetzt, obwohl er die<br />
Fragwürdigkeit der Entscheidung<br />
erkannt hatte.<br />
Führungsverantwortung für<br />
falsche Handlungen?<br />
Beispiel 3:<br />
Ein LFF, von dem der vwt LFF<br />
weiß, dass er alle geforderten<br />
Verfahren beherrscht, produziert<br />
eine „harte Landung“, ohne<br />
dass er noch rechtzeitig eingreiffen<br />
konnte.<br />
Beispiel 4:<br />
Die Besatzung landet im Schnee,<br />
die Schneewalze kommt und<br />
der LFF meldet: „ich sehe nichts<br />
mehr“. Der vwt LFF sagt: „nur<br />
die Ruhe, der Boden kommt von<br />
selbst“. Die Limitations werden<br />
überschritten, das Landegestell /<br />
Fahrwerk wird beschädigt.<br />
In beiden Fällen muss geprüft werden,<br />
ob der vwt LFF hätte erkennen<br />
können, dass der Handlungsspielraum<br />
des LFF für das Vorhaben einer sicheren<br />
Landung nicht ausreicht.<br />
Nur für den Fall, dass diese Frage<br />
mit „Ja“ beantwortet wird, ist der Führungsverantwortliche<br />
für die Handlung<br />
des anderen mitverantwortlich.<br />
Es gilt also:<br />
Jeder Führungsverantwortliche<br />
muss sich der Frage stellen, nachdem<br />
die Auftragsausführung eines<br />
anderen einen Schaden oder eine<br />
Gefährdung bewirkt hatte, ob er,<br />
der Führungsverantwortliche, hätte<br />
erkennen können, dass die<br />
Freiheitsgrade und die Kontrolle<br />
des Auftragsausführenden für eine<br />
ordnungsgemäße Durchführung<br />
nur bedingt vorhanden waren.<br />
Lösungsansätze<br />
Verantwortung zu übernehmen will<br />
gelernt sein!<br />
Verantwortung in einem fliegerischen<br />
Umfeld zu übernehmen, will<br />
neu gelernt sein, denn:<br />
die Dynamik der Ereignisse,<br />
die Komplexität der Zusammenhänge,<br />
der stets im Hintergrund stehende,<br />
maximal mögliche Schadensfall<br />
für direkt Agierende, Passagiere<br />
und Außenstehende,<br />
unterscheiden Verantwortung für<br />
ein fliegerisches Umfeld prinzipiell von<br />
anderen Bereichen, in denen Entscheidungen<br />
zu treffen sind. Deshalb ist es<br />
erforderlich eine Auseinandersetzung<br />
mit den Fragen nach Verantwortung,<br />
die diesen Besonderheiten zusätzlich<br />
angepasst ist, voranzutreiben.<br />
Was soll damit gesagt werden?<br />
Obwohl alle LFF und andere Besatzungsangehörige<br />
der Bundeswehr<br />
allgemeinmilitärisch und fachspezifisch<br />
gut ausgebildet worden sind, stellt sich<br />
natürlich regelmäßig die Frage nach<br />
fortgesetzter Aus- und Weiterbildung,<br />
denn:<br />
alte Ausbildungen liegen lange<br />
zurück, sie verblassen,<br />
62 I/2002 FLUGSICHERHEIT
Inhalte und der Erkenntnisstand<br />
ändern sich,<br />
Aufgaben, Szenarien, Waffensysteme<br />
ändern sich,<br />
der Zeitgeist ändert sich,<br />
der Wissensbedarf ändert sich,<br />
erweitertes Einsatzspektrum bedingt<br />
erweiterte Verantwortung.<br />
Die Liste ließe sich sicherlich fortsetzen.<br />
Reichen jedoch die Laufbahnlehrgänge<br />
und die fliegerische Aus- und<br />
Weiterbildung in Theorie und Praxis,<br />
mit ihren guten Grundlagen, aus, um<br />
den Herausforderungen des täglichen<br />
Einsatzflugbetriebes, der sich in aller<br />
Regel erst Jahre nach den genannten<br />
Ausbildungsgängen einstellt, auch<br />
unter den Aspekten FV / HV zu begegnen?<br />
Als Anregung zur kritischen Betrachtung<br />
soll hier noch ein kleiner Exkurs<br />
zum Thema „Führung und Verantwortung<br />
im Flugbetrieb“ unternommen<br />
werden.<br />
Führungsverhalten und Verantwortung<br />
Führungsmodelle sind uns allen<br />
mehr oder weniger geläufig, zumindest<br />
wurde irgendwann einmal prüfungsrelevant<br />
danach gefragt. Deshalb<br />
darf unterstellt werden, dass die<br />
Kenntnisse darüber noch einigermaßen<br />
zugänglich sind. Was haben<br />
nun Führungsverhalten und Hierarchie<br />
mit Verantwortung im und für den<br />
Flugbetrieb zu tun?<br />
Diesem Aspekt soll nun nachgegangen<br />
werden. Jeder kennt das Standard-<br />
Hierarchiemodell mit Instanzen<br />
(Ebenen) und Linien (Schnittstellen<br />
zwischen Instanzen; vertikal und horizontal),<br />
nicht zuletzt aus unzähligen<br />
Gliederungsbildern von Einheiten und<br />
Verbänden der Bundeswehr.<br />
Kann dieses Modell, welches, wie in<br />
der Abbildung gezeigt, eher autoritär<br />
geprägt ist, in jeder Hinsicht auf ein<br />
Cockpit in und für jede Situation übertragen<br />
werden?<br />
Manch einer glaubt, dass „Ja“ und<br />
betrachtet die Diskussion zu diesem<br />
Thema bereits als Anstiftung zum<br />
Aufruhr und Gefährdung der Disziplin.<br />
Dennoch soll hier der Versuch<br />
unternommen werden, einige zusätzliche<br />
Aspekte zu diesem Thema einzubringen,<br />
um so auch die Brücke zu<br />
„Verantwortung im Flugbetrieb und<br />
Dienstpflicht“ schlagen zu können,<br />
obwohl dieser Bezug hier lediglich<br />
angedeutet, nicht jedoch vertieft werden<br />
kann.<br />
Folgende Argumente und Schlagworte<br />
werden u. a. von den Kritikern<br />
ins Feld geführt:<br />
Nur einer an Bord kann das<br />
Sagen haben.<br />
Wo kommen wir denn da hin,<br />
wenn wir aus einer Crew eine<br />
„Laberrunde“ machen.<br />
Um es noch mal deutlich zu<br />
machen – es ist richtig, dass eine<br />
Hierarchie existiert und letztlich nur<br />
einer das Sagen hat 25 . Es ist allerdings<br />
nicht richtig, wenn daraus hergeleitet<br />
wird, dass die daraus erwachsende<br />
Gesamtverantwortung bedeute, niemand<br />
an Bord habe, neben dem<br />
Kommandanten, etwas eigenständig<br />
beizutragen, anzubieten, einzufordern<br />
oder zu hinterfragen.<br />
Eine solche Auffassung senkt die<br />
Leistungsfähigkeit einer Crew / eines<br />
Teams und ist nicht im Interesse der<br />
Flugsicherheit. Deshalb soll an dieser<br />
Stelle auch das Hierarchiemodell des<br />
Teams in Erinnerung gerufen werden.<br />
Hier gibt es nach wie vor den<br />
Gesamtverantwortlichen, aber Kommunikation,<br />
läuft nicht in einer Einbahnstraße<br />
als Informationsweitergabe<br />
von oben nach unten.<br />
Hier ist jeder wichtig, jeder bringt<br />
sich ein, die Ressourcen aller werden<br />
genutzt, die anfallenden Arbeiten /<br />
Handlungen werden vernünftig aufgeteilt<br />
und der Kommandant überhäuft<br />
sich nicht selbst mit Aufgaben,<br />
in Situationen, in denen Aufgaben<br />
geteilt werden müssten, sondern er<br />
erhält und pflegt seine eigenen Ressourcen<br />
und die der anderen.<br />
Konkretes Führungsverhalten jedoch<br />
pauschal zu empfehlen, im Sinne<br />
von: soll ich mich eher direktiv, eher<br />
kollegial oder eher sachbezogen verhalten,<br />
wäre vermessen und unglaubwürdig.<br />
Die Vielschichtigkeit persönlicher<br />
Beziehungen und gruppendynamischer<br />
Prozesse lassen einfache<br />
Empfehlungen nicht zu und können<br />
deshalb hier auch nicht diskutiert werden.<br />
Es gibt allerdings einige belegte und<br />
bestätigte Erkenntnisse zur Problematik<br />
der Leistungsfähigkeit von Gruppen<br />
in unterschiedlich erlebten Situationen.<br />
Ein in diesem Zusammenhang<br />
angebotenes Modell zum Führungsverhalten<br />
unterscheidet z.B. nach<br />
„Gruppenklima“, „Strukturiertheit der<br />
Aufgabe“ und „Positionsmacht des<br />
Führers“ und leitet daraus ab, ob eine<br />
„situative Günstigkeit“ besteht oder<br />
nicht besteht 26 Nach dieser Theorie<br />
bietet sich ein eher sachbezogenes /<br />
aufgabenorientiertes Führungsverhalten<br />
in extrem günstigen und extrem<br />
ungünstigen Situationen an, wo hingegen<br />
in mäßig günstigen Situationen<br />
ein eher kollegial / kameradschaftlicher<br />
Führungsstil die Leistungsfähigkeit fördern<br />
kann.<br />
Die folgenden Beispiele nehmen<br />
aus Gründen der Übersichtlichkeit ausschließlich<br />
die „Strukturiertheit der<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
63
Aufgabe“ als Maßstab dafür, die<br />
„situative Günstigkeit“ zu bewerten.<br />
1. Beispiel:<br />
Der Verband befindet sich im Auftrage<br />
der UNO im Einsatz und findet<br />
eine klare Auftragslage, eine definierte<br />
Leistungsanforderung an jeden einzelnen<br />
und einen geregelten Ablauf vor.<br />
Die Strukturiertheit der Aufgabe ist<br />
hoch und deshalb ist auch die „Situation“<br />
für eine hohe Leistungsfähigkeit<br />
der Gruppe extrem günstig, denn:<br />
- jeder kennt genau seine Rolle und<br />
die Anforderungen an seine Person,<br />
- jeder beherrscht die ihm übertragene<br />
Aufgabe,<br />
- jeder ist anerkannt und wichtig.<br />
In dieser Situation fördert aufgabenorientiertes<br />
Führungsverhalten die<br />
Leistungsfähigkeit der Gruppe, weil<br />
jeder seinen (wichtigen) Beitrag leisten<br />
will und die Auswirkungen seines<br />
eigenen Handelns unmittelbar wahrnehmen<br />
kann.<br />
2. Beispiel:<br />
Der Verband wird ad hoc zum Katastropheneinsatz<br />
abgestellt, die Lage<br />
ist weitestgehend unklar.<br />
Die Strukturiertheit der Aufgabe ist<br />
niedrig und deshalb ist die „Situation“<br />
für eine hohe Leistungsfähigkeit der<br />
Gruppe extrem ungünstig, denn:<br />
- niemand weiß so recht, was von<br />
ihm verlangt werden wird,<br />
- die Wichtigkeit und Bedeutung<br />
der eigenen Aufgabe wird noch<br />
nicht überblickt,<br />
- der Einzelne braucht noch Orientierung.<br />
In dieser Situation fördert aufgabenorientiertes<br />
Führungsverhalten die<br />
Leistungsfähigkeit der Gruppe ebenso,<br />
weil in der „Findungsphase“ Sachargumente<br />
wichtiger sind als gutgemeinte,<br />
freundliche, aber inhaltslose<br />
Äußerungen, die in unklaren Situationen<br />
eher als wenig hilfreiche Belanglosigkeiten<br />
empfunden werden.<br />
3. Beispiel:<br />
Der Verband nimmt an einer Großübung<br />
teil, die meisten Fakten sind<br />
bekannt. Unklarheiten entstehen nur<br />
aus dem Tagesgeschehen.<br />
Die Strukturiertheit der Aufgabe ist<br />
mäßig und deshalb ist auch die<br />
„Situation“ für eine hohe Leistungsfähigkeit<br />
der Gruppe mäßig günstig,<br />
denn:<br />
- jeder weiß, dass das Geforderte<br />
vermutlich geleistet werden kann,<br />
- Abgrenzungen der wahrzunehmenden<br />
Rolle werden noch nicht<br />
ganz klar gesehen.<br />
In dieser Situation fördert vor allem<br />
kameradschaftliches Führungsverhalten<br />
die Leistungsfähigkeit der Gruppe,<br />
weil erhöhte soziale Wahrnehmung<br />
die Leistungsbereitschaft steigert,<br />
wenn die genaue Aufgabe noch nicht<br />
exakt definiert ist.<br />
Die genannten Beispiele können in<br />
das Cockpit hinein und auf eine<br />
Besatzung projiziert werden, aber<br />
auch in alle anderen Bereiche, in<br />
denen „an der Person“ geführt wird.<br />
Diese Zusammenhänge können in<br />
Erinnerung zurückgerufen werden,<br />
wenn es vielleicht einmal darum<br />
gehen sollte, möglichen Konflikten bei<br />
der Durchsetzung von Verantwortung<br />
in unterschiedlich strukturierten Situationen<br />
begegnen zu wollen.<br />
Deshalb:<br />
In kritischen (extremen) Situationen<br />
des Flugbetriebes bestimmt<br />
nicht der Grad an durchgesetzter<br />
Autorität die Aussicht auf Erfolg,<br />
sondern das Maß an Sachbezogenheit,<br />
mit der ein Problem gelöst<br />
wird.<br />
In „normalen“, ausgeglichenen<br />
(mäßig günstigen) Situationen,<br />
bestimmt das Maß an sozialer<br />
Wahrnehmung und echter Zuwendung,<br />
ob die Leistungsfähigkeit<br />
einer Gruppe hoch bleibt.<br />
Wechselt die Situation, muss Führungsverhalten<br />
angepasst werden –<br />
soweit nichts Neues! Diese Fähigkeit<br />
wird von einem in Verantwortung stehenden<br />
Führer verlangt. Nur dann<br />
kann er auch für eigenes Handeln<br />
guten Gewissens einstehen, denn er<br />
hat die Handlungsverantwortung anderer<br />
nicht durch unpassendes Führungsverhalten<br />
negativ beeinflusst.<br />
Wenn es denn in Wirklichkeit nur<br />
so leicht wäre – im „richtigen“ Leben<br />
sind die Zusammenhänge noch vielschichtiger<br />
und daher komplizierter.<br />
Ohne weitere Modelle und Theorien<br />
ansprechen zu wollen, muss an dieser<br />
Stelle jedoch der Hinweis gegeben<br />
werden, dass neuere Forschungen sich<br />
grundlegend von den älteren Modellen<br />
unterscheiden. Es ist mittlerweile<br />
belegt, dass es keinen Grund gibt, wie<br />
in früheren Modellen unterstellt, anzunehmen,<br />
Führer verhielten sich immer,<br />
allem und jedem gegenüber in jeder<br />
Situation gleich 27 . Tatsache ist, dass in<br />
Gruppen ein sehr vielschichtiges, interaktives<br />
Beziehungsgeflecht zwischen<br />
allen Beteiligten besteht 28 und die<br />
Ausgangssituation für ein angemessenes,<br />
bevorzugtes Führungsverhalten<br />
dadurch nicht leichter wird.<br />
Verantwortungskompetenz<br />
im Flugbetrieb<br />
Verantwortung zu übernehmen ist<br />
das eine; Verantwortungskompetenz<br />
zu erwerben ist das andere.<br />
Was steckt hinter dieser plakativen<br />
Aussage?<br />
Jede Kompetenz muss erworben<br />
werden – sie überträgt sich nicht von<br />
selbst aus einmal in der Theorie<br />
Erlerntem in dynamische und komplexe<br />
Realanforderungen hinein. Sachbezogene<br />
Aus- und Weiterbildung im<br />
konkreten und relevanten Umfeld ist<br />
erforderlich, um allgemeingültige Ansätze<br />
/ Theorien im täglichen Dienstgeschäft<br />
angemessen einsetzen zu lernen.<br />
Vielleicht kann auf diesem Sektor<br />
das Ausbildungskonzept noch weiter<br />
verbessert werden, denn es gibt nicht<br />
überall Ausbildungsgänge zum Kdt, es<br />
gibt keinen Schwarmführerlehrgang<br />
und es gibt noch nicht überall den<br />
EinsatzStOffz-Lehrgang. Dort könnte<br />
Verantwortungskompetenz system-<br />
64 I/2002 FLUGSICHERHEIT
und führungsebenenbezogen vermittelt<br />
und optimiertes Führungsverhalten<br />
konkret erlernt werden.<br />
Schlussbetrachtung und Zusammenfassung<br />
Führungs- und Handlungsverantwortung<br />
ist „ein weites Feld“.<br />
Wer jedoch der erforderlichen<br />
Sorgfaltspflicht nachkommt, die<br />
seiner Aufgabe zugeordnet ist, der<br />
wird immer für sein Handeln einstehen<br />
können - ob als Führer, der<br />
Handlungen einfordert, oder als<br />
jener, der eine Tätigkeit ausführt<br />
und seinen angemessenen Spielraum<br />
ausnutzt.<br />
<strong>Das</strong> menschlich Normale, wie es<br />
CRM thematisiert, zählt auch zu<br />
jenen Faktoren, für die man unbeschadet<br />
einstehen können muss. Es<br />
gilt jedoch, die Frage beantworten<br />
zu können, was der Einzelne in seinem<br />
Bereich strukturell, durch<br />
konkretes Führungsverhalten und<br />
Nutzung des eigenen Handlungsspielraums,<br />
dafür getan hat, das<br />
System „Mensch – Maschine – Umwelt“<br />
fehlerverträglicher zu gestalten?<br />
Wenn dieser Artikel, dessen Bogen<br />
sehr weit gespannt ist, dazu beigetragen<br />
hat bei dem einen oder anderen<br />
I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />
eine angemessene Sichtweise für<br />
das jeweilige Maß an Verantwortung<br />
in der jeweiligen Rolle<br />
zu entwickeln, und<br />
wenn dabei klar geworden ist,<br />
dass mancher vwt LFF durchaus<br />
weniger Gesamtverantwortung<br />
träg, als er bis dato glaubte, und<br />
wenn manchem LFF klar geworden<br />
ist, dass er mehr Verantwortung<br />
trägt, als er bisher glaubte,<br />
auch wenn ein anderer an Bord<br />
„Verantwortlicher“ ist,<br />
dann hat der Artikel den Beitrag<br />
geleistet, den er leisten wollte.<br />
Grenzen eigenen Verhaltens<br />
anzuerkennen, die einengend wirken<br />
und Teamleistung reduzieren<br />
können, ist der erste Schritt zu<br />
Übernahme einer angemessenen<br />
Führung- und Handlungsverantwortung,<br />
für die jederzeit eingestanden<br />
werden kann. <br />
1 Der Aspekt der Vorschriftwidrigkeit soll hier nicht<br />
vertieft werden.<br />
2 Frese (1978), Oesterreich (1988) Intensitätsstufen<br />
von Kontrolle:<br />
Kontrolle 1<br />
Aktive Handlungskontrolle; man kann die Ereignisse<br />
und Ergebnisse selbst gestalten und herbeiführen.<br />
Kontrolle 2<br />
Passive Handlungskontrolle; man kann sich den<br />
Ereignissen, die man selbst nicht beeinflussen konnte,<br />
rechtzeitig anpassen.<br />
Kontrolle 3<br />
Kognitive Kontrolle; man kann Ereignisse, die man<br />
nicht gestalten und denen man sich nicht anpassen<br />
konnte, wenigstens nachträglich erklären und verstehen.<br />
3 siehe auch: „Entscheidungsfindung - SRK-Modell“<br />
4 Siehe auch: „Wahrnehmung - unbewusste<br />
Wahrnehmung“,<br />
5 Siehe Frederic Winslow Taylor (1856 – 1915),<br />
Prinzipien der wissenschaftlichen Betriebsführung,<br />
gemeinsamer Vorteil durch gegenseitige, arbeitsteilige<br />
Ergänzung der Interessen. W. Taylor glaubte an<br />
„the one best way“, den es zu entwickeln galt und<br />
er war u. a. Wegbereiter für die Fließbandarbeit.<br />
6 ZDv 44/30 Die Verhütung von Unfällen mit<br />
Luftfahrzeugen der Bundeswehr, Kapitel 1 / I. / 4<br />
7 In den vergangenen Jahren wurde in vielen Organisationen<br />
„abgeschichtet“. Leider kam es dabei<br />
immer wieder vor, dass zwar die manuelle Tätigkeit<br />
für einen bestimmten Arbeitskomplex auf eine niedrigere<br />
Hierarchiestufe „abgeschichtet“ wurde, die<br />
jeweilige Entscheidungskompetenz jedoch bei der<br />
„abschichtenden“ Ebene verblieb. Wer „abschichtet“,<br />
muss auch den entsprechenden<br />
Entscheidungsspielraum mit „abschichten“, damit<br />
Verantwortung auf der unterstellten Ebene für eigenes<br />
Handeln übernommen werden kann.<br />
8 Seligmann (1975) Reaktionen in dreifacher Weise<br />
1. Motivational: Die Person resigniert („...ich kann<br />
sowieso nichts ändern / auf mich hört ja doch keiner“)<br />
2. Kognitiv: Die Person verliert die Fähigkeit zur<br />
Lösung kognitiv komplexer Aufgaben<br />
3. Emotional: Die Person wird traurig und depressiv<br />
(„ ... mir doch egal“).<br />
9 Die Stichworte dazu lauten „Denken oder<br />
Handeln“. <strong>Das</strong> heißt, die Situation entweder neu zu<br />
bewerten, oder sie Situation im eigenen Sinne zu<br />
verändern; in beiden Fällen kann sich der<br />
Betroffene so den Auswirkungen entziehen. Die<br />
Umbewertung muss natürlich auf gesicherter Basis<br />
stehen, weil sich das Unterbewusste mit seinem<br />
Langzeitgedächtnis nicht täuschen lässt: „Positives<br />
Denken“ – aber richtig!<br />
10 Selbstverständlich gehört sonstiges Personal der<br />
Bundeswehr prinzipiell auch nicht dazu. <strong>Das</strong> soll<br />
jedoch im hier gesteckten Rahmen nicht weiter verfolgt<br />
werden.<br />
11 Frese und Semmer (1991), S. 153: „... dass es oft<br />
lohnenswert ist, nicht nur die Stressoren zu verringern,<br />
sondern den Handlungsspielraum zu erhöhen<br />
und die soziale Unterstützung zu verbessern“<br />
12 Ein Lehrer – Schülerverhältnis unterscheidet sich<br />
natürlich prinzipiell und muss selbstredend anders<br />
bewertet werden, insbesondere in der Anfangsphase<br />
einer Ausbildung.<br />
13 Der Verfasser klopft an die eigene Brust.<br />
14 Hier kann es auch dazu kommen, dass, weil nicht<br />
daran gewöhnt, der „zweite Mann“ nicht richtig<br />
oder gar nicht eingesetzt wird, somit der Handlungsspielraum<br />
des Steuerführenden zu weit gefasst<br />
und damit die „workload“ für ihn und die „stressload“,<br />
wegen des „Sandsackgefühls“, für den<br />
inaktiven LFF unnötig erhöht wird.<br />
15 Damit sind speziell Besatzungen von Verbindungshubschraubern<br />
gemeint.<br />
16 Was in der Anfangsphase einer Musterausbildung<br />
seine Berechtigung hat, darf in einem arbeitsteilig<br />
organisierten Lfz ohne Not prinzipiell nicht stattfinden.<br />
17 Eine Verbandsphilosophie ist überdauernder, formulierter<br />
Wille des Verbandsführers und kann die<br />
Denkweise aller ihm Unterstellten in seinem Sinne<br />
einen.<br />
18 Die Risikoforschung spricht dabei vom Phänomen<br />
der „risky shift-Problematik“<br />
19 Man denke an ein Briefing vor einem anspruchsvollen<br />
fliegerischen Vorhaben mit Besatzungen, die<br />
unterschiedlich erfahren und unterschiedlich leistungsfähig<br />
sind. Die „Unerfahreneren“ sagen bzw.<br />
fragen nichts, weil die „Erfahrenen“ nichts sagen<br />
bzw. nichts fragen.<br />
20 Im Strafrecht kenn man den Begriff des „Rädelführers“,<br />
der in einem Konglomerat von Verantwortungsgeflechten<br />
höhere Verantwortung übernehmen<br />
muss, weil er führend auf andere negativ<br />
eingewirkt hat. Ob der Tatbestand einer objektiven<br />
Duldung von derartigen Vorgängen auch das<br />
Kriterium einer „Rädelführerschaft“ erfüllt, konnte<br />
nicht abschließend geklärt werden.<br />
21 nach Aussage des früheren Marineverbindungsoffiziers<br />
(MVO) im Dezernat „c“<br />
22 Entscheidungsnotstand ist hier ausdrücklich nicht<br />
gemeint, denn dann gelten wieder jene Grundsätze,<br />
die nach bestem Wissen und Gewissen fragen<br />
23 §10 (4) SG; Pflichten des Vorgesetzten, § 11 SG;<br />
Gehorsam<br />
24 div. Kommentare zum Wehrrecht leiten in diesem<br />
Zusammenhang aus § 7 SG (Pflicht zum treuen<br />
Dienen) eine Pflicht zur Gegenrede ab, wenn zu<br />
vermuten ist, dass derjenige, der die Entscheidung<br />
getroffen hat, die Entscheidung anders getroffen<br />
hätte, wenn er über alle Informationen im<br />
Zusammenhang verfügt hätte.<br />
25 In der Bundeswehr gilt das Unteilbarkeitsprinzip der<br />
Verantwortung<br />
26 Kontingenzmodell der Führung nach Fiedler<br />
27 Gewusst haben wir das schon immer, nur wissenschaftlich<br />
nachgewiesen war es lange Zeit nicht<br />
28 Vertical – Dyad – Linkage – Ansatz, Graen &<br />
Schiemann 1978, Liden & Graen 1980. Danach<br />
können sich Führungspersonen offenbar zur gleichen<br />
Zeit gegenüber verschiedenen Sub-Gruppen<br />
und Einzelpersonen unterschiedlich verhalten. Bei<br />
diesem Ansatz werden einzelne, bipolare<br />
Beziehungen zunächst getrennt untersucht und<br />
anschließend in ihrer Gesamtheit bewertet.<br />
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