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Das Wahrnehmungs - Luftwaffe

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HEFT 1 · APRIL 2002 · 39. JAHRGANG<br />

Fachliche Mitteilungen für fliegende Verbände<br />

Titel: COLLAGE<br />

unter Verwendung von Fotos Amt für<br />

Nachrichtenwesen in der Bundeswehr/<br />

Informations- und Medienzentrale der<br />

Bundeswehr<br />

„Flugsicherheit“, Fachliche Mitteilung<br />

für fliegende Verbände der Bundeswehr<br />

Herausgeber:<br />

General Flugsicherheit in der Bundeswehr in<br />

Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium<br />

der Verteidigung – Fü S I 1 –.<br />

Verfasser:<br />

Oberstleutnant Hermann Dänecke,<br />

General Flugsicherheit in der Bundeswehr<br />

Redaktion:<br />

Hauptmann Helmut Paul,<br />

Tel.: 02203 / 6023124<br />

Major Claus Maneth,<br />

Tel.: 02203 / 6023941<br />

Postfach 90 61 10/501/07, 51127 Köln<br />

helmutpaul@bwb.org<br />

Gestaltung:<br />

Rolf Miebach, Informations- und<br />

Medienzentrale der Bundeswehr<br />

Karikaturen:<br />

Major Andreas Werner,<br />

Heeresfliegerregiment 36<br />

Editorial 1<br />

Warum Crew Resource Management (CRM)? 2<br />

Menschliche Kapazitäten - „Mammutjäger“,<br />

was nun? 6<br />

Wahrnehmung - Erkennen was ist 14<br />

Aufmerksamkeit - ein Selektionsverfahren 20<br />

Kommunikation - ein Energietransmitter 29<br />

Entscheidungsfindung - wer die Wahl hat... 39<br />

Motive - Gründe für Verhalten 49<br />

Führungs- und Handlungsverantwortung -<br />

„Ich bin nicht zuständig!? - oder<br />

vielleicht doch?“ 57<br />

Grafiken:<br />

Oberstleutnant Hermann Dänecke,<br />

General Flugsicherheit in der Bundeswehr<br />

Erscheinen:<br />

dreimonatlich<br />

Manuskripteinsendungen<br />

sind direkt an die Schriftleitung zu richten. Vom<br />

Verfasser gekennzeichnete Artikel stellen nicht<br />

unbedingt die Meinung der Schriftleitung oder<br />

des Herausgebers dar. Es werden nur Beiträge<br />

abgedruckt, deren Verfasser mit einer weiteren<br />

Veröffentlichung einverstanden sind. Weiterveröffentlichungen<br />

in Flugsicherheitspublikationen<br />

(mit Autoren- und Quellenangaben) sind<br />

daher möglich und erwünscht.<br />

Gesamtherstellung:<br />

SZ Offsetdruck-Verlag Herbert W. Schallowetz GmbH<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT


Editorial<br />

Gibt es sie doch - die Formel für Flugsicherheit? Sie finden sie auf dem Titelblatt dieser Ausgabe und sie wird sich wie<br />

ein roter Faden durch alle Beiträge der Ausgabe Flugsicherheit I/2002 ziehen und den Bezug zum Flugbetrieb der<br />

Bundeswehr herstellen.<br />

Kurz gefasst bedeutet sie, dass die Summe aller Ressourcen (Re) mindestens der Summe aller Risiken (Ri) entsprechen<br />

muss, um Flugbetrieb mit einer hohen Wahrscheinlichkeit stabil, das heißt sicher durchzuführen. Stehen den Risiken<br />

nicht adäquate Ressourcen zur Bewältigung einer Aufgaben gegenüber, oder gehen diese in der Dynamik einer<br />

Situation verloren, so steigt die Wahrscheinlichkeit eines Kontrollverlustes. Näheres darüber im ersten Beitrag dieses<br />

Heftes: „Warum Crew Resource Management (CRM)?“.<br />

HUMAN FACTOR und CRM sind in der Abteilung Flugsicherheit in der Bundeswehr im <strong>Luftwaffe</strong>namt in den zurück<br />

liegenden Jahren beständig, auch gegen Widerstände, immer wieder thematisiert und vorangetrieben worden; sei<br />

es im Rahmen von Unfall- und Zwischenfalluntersuchungen, anlässlich von Lehrgängen und Seminaren an der<br />

Fachlehrgruppe Flugsicherheit Bw, auf Antrag in Form von Vorträgen und Seminaren in den Verbänden, anlässlich<br />

der Fliegerarztlehrgänge des Flugmedizinischen Instituts der <strong>Luftwaffe</strong> in Fürstenfeldbruck, oder aber auch in Form<br />

von CRM-Seminaren und -Trainings speziell für den Bereich der Kampfflugzeuge der Bw im In- und Ausland.<br />

Diese Ausgabe Flugsicherheit stellt einerseits eine Zusammenfassung der wichtigsten Themenkomplexe zur<br />

Gesamtthematik, auch der bisher zu diesem Thema veröffentlichten und überarbeiteten Artikel dar, die durchaus als<br />

Nachschlagewerk genutzt werden kann, andererseits soll diese Ausgabe auch den Abschluss der Grundlagenarbeit<br />

durch General Flugsicherheit in der Bundeswehr markieren.<br />

Die Grundlagen sind gelegt - nun ist es an Ihnen, ob im Heer, in der <strong>Luftwaffe</strong> und Marine, im BWB, bei den<br />

Kommandobehörden und in den Verbänden, das Thema im eigenen Bereich im Rahmen der Ausbildung über das<br />

bisherige Maß hinaus weiter voran zu treiben und mit Leben zu erfüllen, um der Forderung des Inspekteurs der<br />

<strong>Luftwaffe</strong>, CRM einen entsprechenden Stellenwert einzuräumen, nachzukommen.<br />

General Flugsicherheit in der Bundeswehr wird sich im Rahmen von Inspizierungen und Informationsbesuchen über<br />

die Umsetzung dieses Projektes informieren und natürlich auch weiterhin Hilfestellung leisten - dort, wo sie notwendig<br />

ist.<br />

Ich habe ferner angewiesen, dass zusätzlich zu dieser Ausgabe Flugsicherheit eine CD-ROM mit einer erweiterten<br />

Darstellung der CRM-Thematik ergänzend erarbeitet wird, um diese den Verbänden zur Verfügung zu stellen. Sie<br />

wird Anregungen zur thematischen Aufarbeitung enthalten und das darstellen, was durch den CRM-Beauftragten<br />

bei General Flugsicherheit in der Bundeswehr in vielen Außenveranstaltungen bereits vermittelt wurde.<br />

Ich hoffe mit dieser Ausgabe unserer Flugsicherheitszeitschrift dazu beitragen zu können, eine breite Diskussion zum<br />

Thema CRM auszulösen und um dort, wo nötig anzuregen, den einen oder anderen Maßstab für eigenes Handeln<br />

zu überdenken, damit in allen Ebenen und allen Bereichen, die Führungs- und Handlungsverantwortung für<br />

Flugbetrieb der Bundeswehr zu übernehmen haben, die Summe und die Qualität der Ressourcen niemals geringer<br />

sein werden als die Summe und die Qualität der Risiken einer Anforderung.<br />

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen Zeit, Muße und Spaß bei der Lektüre dieses Heftes und natürlich weiterhin<br />

HALS- UND BEINBRUCH<br />

Ihr<br />

General Flugsicherheit in der Bundeswehr<br />

Klaus-Peter Stieglitz<br />

1


Warum CREW RESOURCE<br />

MANAGEMENT (CRM)?<br />

In den vergangenen acht<br />

Jahren hat sich für den fliegenden<br />

Bereich der Bundeswehr<br />

Bahnbrechendes entwickelt.<br />

Die Zeit war reif für eine<br />

umfassendere Betrachtung<br />

von Sicherheit und Effizienz<br />

im Flugbetrieb; und zwar<br />

nicht nur im unmittelbaren<br />

Nahbereich des Fliegens, der<br />

Besatzung, sondern auch in<br />

jenen Bereichen, die den<br />

Flugbetrieb unterstützen, der<br />

Organisation.<br />

Obwohl CRM seit Mitte<br />

der 80er existiert, brauchte es<br />

noch etwa 10 Jahre, bis die<br />

ersten nachweisbaren Ansätze<br />

einer Implementierung<br />

innerhalb der Bundeswehr<br />

erkennbar wurden.<br />

Auch hier zeigte sich, dass<br />

ein Wandel nicht nur das passende<br />

Konzept braucht, sondern<br />

gleichermaßen ein Umfeld,<br />

welches die Entwicklung<br />

einer etwas anderen Denkeise<br />

erlaubt, vielleicht sogar<br />

fördert. Wir hängen alle so<br />

gerne an Bekanntem, Vertrautem,<br />

Bewährtem - es gibt<br />

uns ein Gefühl von Sicherheit<br />

und Kontrolle. Leider neigen<br />

wir aber auch dazu, manchmal<br />

den Blick abzuwenden,<br />

wenn deutliche Hinweise eine<br />

Weiterentwicklung des Bekannten,<br />

Vertrauten und<br />

Bewährten angeraten erscheinen<br />

lassen. <strong>Das</strong> macht<br />

die Implementierung guter<br />

und angemessener Konzepte<br />

bisweilen schwierig. Diese<br />

Phase ist überstanden und es<br />

2 I/2002 FLUGSICHERHEIT


hat sich durchgängig das Bewusstsein<br />

entwickelt, dass CRM nicht nur Fragen<br />

aufwirft, sondern auch Antworten<br />

gibt, mit denen in der Praxis umgegangen<br />

werden kann.<br />

Die Beschäftigung mit CRM eröffnet<br />

Horizonte, die manches verstehbar<br />

machen, was bisweilen im Ablauf von<br />

Ereignissen, die sich Effizienz steigernd<br />

oder Effizienz hemmend ausgewirkt<br />

hatten, unverständlich blieb. Es wird<br />

deshalb verständlich, weil normales<br />

menschliches Verhalten in den<br />

Mittelpunkt der Betrachtung gerückt<br />

wird. Eben dieses menschliche und<br />

deshalb normale Verhalten ist leider<br />

nicht immer mit allen Anforderungen<br />

des Flugbetriebes vereinbar. Hier setzt<br />

CRM an und will im Rahmen der<br />

Ausbildung auf zwei Wegen dieser<br />

Problematik Herr werden:<br />

1. Wird versucht, dem Einzelnen<br />

den Spiegel zur Selbsterkenntnis<br />

vorzuhalten, um , sofern nötig,<br />

auf Einstellungsänderung hinzuwirken,<br />

weil auf diesem Wege<br />

die wertvollste und wichtigste<br />

Ressource menschlicher Verhaltensflexibilität<br />

unmittelbar angesprochen<br />

werden kann.<br />

2. Wird versucht, Strategien zu vermitteln,<br />

die das Team im System<br />

Flugbetrieb der Bundeswehr fehlerverträgliche<br />

machen können,<br />

denn bekanntlich kann der<br />

Einzelne nicht zu 100% fehlerfrei<br />

trainiert werden.<br />

An dieser Stelle wird bereits deutlich,<br />

dass CRM nicht nur im engeren<br />

Sinne auf den Bereich CREW und<br />

damit auf den Bereich des Cockpits<br />

wirkt, sondern weit darüber hinaus.<br />

Es sind die Bedingungen, unter<br />

denen Menschen sich frei entfalten,<br />

oder unter denen gute Fähigkeiten<br />

und Fertigkeiten begraben werden<br />

können. CRM hat deshalb zum Ziel<br />

jene Bedingungen zu identifizieren,<br />

und zu benennen, unter denen Flugbetrieb<br />

nach menschlichem Ermessen<br />

fehlerresistent stattfinden kann.<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

Brauchen wir eine Begründung?<br />

Nein, wir brauchen keine Begründung<br />

für die Implementierung eines<br />

CRM in die Bundeswehr!<br />

Schließlich verlangen die JOINT AVIA-<br />

TION REQUIREMENTS / OPERATIONS<br />

(JAR/OPS) der JOINT AVIATION AUT-<br />

HORITY (JAA), dass jeder Teilnehmer<br />

am europäischen Luftverkehr ein<br />

CRM-Training nach bestimmten Regeln<br />

zu absolvieren hat. <strong>Das</strong> gilt für<br />

den gewerblichen und den privaten<br />

Bereich gleichermaßen, unabhängig<br />

davon, ob es sich um „Fläche“ oder<br />

„Hub“ handelt. Diese europäische luftrechtliche<br />

Verordnung ist im Jahre<br />

1999 mit einigen Übergangsfristen in<br />

verbindliches deutsches Luftrecht umgewandelt<br />

worden. Dadurch wurde<br />

sie Bedingung und Voraussetzung für<br />

eine rechtmäßige Teilnahme am Luftverkehr<br />

über deutschem Territorium.<br />

Kritiker einer Implementierung<br />

führten bisweilen an, dass der Bereich<br />

Bundeswehr von den Auswirkungen<br />

dieser Gesetzgebung ausgenommen<br />

sei, weil JAR/OPS lediglich, jedoch ausdrücklich<br />

den Bereich der zivilen<br />

Fliegerei abdecke und sich die militärische<br />

Fliegerei dem nicht unterzuordnen<br />

brauche.<br />

Für diesen Personenkreis brauchen<br />

wir also noch weitere Begründungen<br />

für eine strukturierte Implementierung<br />

eines CRM Bw; das folgend Geschriebene<br />

soll auch dafür einen Beitrag leisten.<br />

Unabhängig von dieser immer noch<br />

vereinzelt geäußerten Kritik, verfolgt<br />

nun der fliegerische Bereich der Bundeswehr<br />

das Konzept der „Selbstbindung“.<br />

Dies bedeutet, das sich die<br />

Bundeswehr diesen Forderungen aus<br />

der Erkenntnis heraus stellt, dass CRM<br />

einen Beitrag zur Erhöhung der<br />

Sicherheit und der Effizienzsteigerung<br />

leisten kann.<br />

Die Entwicklung<br />

USA<br />

Die NASA war es, die in den 70ern<br />

unter der Federführung von Charles<br />

Billings erkannte, dass die sogenannten<br />

„human hard limitations“ 1 nicht<br />

ausreichten, um neue Projekte, wie<br />

z.B. das „Mars-Projekt“, zu verwirklichen.<br />

Gleichermaßen mussten Fragen<br />

menschlichen Verhaltens und des Trainings<br />

von Besatzungen zu diesem<br />

Komplex geklärt werden. CREW RE-<br />

SOURCE MANAGEMENT (CRM) war<br />

geboren.<br />

Die Luftfahrtgesellschaften interessierten<br />

sich zunehmend für dieses Konzept,<br />

nachdem einige spektakulären<br />

Unfälle geschehen waren, in denen<br />

das Verhalten von Menschen eine entscheidende<br />

Rolle gespielt hatte.<br />

Stellvertretend für diese Entwicklung<br />

wird bisweilen der Flugunfall der<br />

American Airways genannt, der u.a.<br />

deshalb geschah, weil die Besatzung<br />

beim Anflug auf Portland wegen einer<br />

vermuteten technischen Störung so<br />

lange suchte und analysierte, bis der<br />

Kraftstoffvorrat nicht mehr ausreichte,<br />

die Landebahn zu erreichen.<br />

Europa<br />

Airbus Industries übernahm das<br />

grundlegende amerikanische Konzept<br />

Anfang der 90er Jahre, was eine ausstrahlende<br />

Wirkung auf die großen<br />

Luftfahrtgesellschaften Europas hatte.<br />

Parallel dazu wurde die Forderung<br />

nach CRM-Training für „Flight Crew<br />

Licensing“ (FCL) und für den Bereich<br />

„Operations“ (OPS) von Luftfahrgesellschaften,<br />

durch die Europäische Luftfahrtbehörde<br />

Joint Aviation Agency<br />

(JAA) mit der Maßgabe vorgeschrieben,<br />

diese Forderungen in nationales<br />

Recht umzusetzen.<br />

In Deutschland ist diese Forderung,<br />

wie bereits weiter oben erwähnt, mit<br />

Übergangsfristen seit 1999 umgesetzt.<br />

Bw<br />

In der Bundeswehr entwickelte sich<br />

CRM nennenswert seit 1994 auf Verbandsebene<br />

des Heeresflieger, zunächst<br />

als Eigeninitiativen. Daraus ergaben<br />

sich Verbindungen in den zivilen<br />

Bereich, aus dem heraus mit CRM-<br />

Trainings unterstütz wurde.<br />

Im Jahre 1995 ereignete sich ein<br />

3


Flugunfall mit einer C-160 des LTKdo<br />

auf Ponta Delgada. Die Unfalluntersuchung<br />

ergab, dass der HUMAN FAC-<br />

TOR eine entscheidende Rolle gespielt<br />

hatte. Deshalb ordnete der damalige<br />

Befehlshaber des LTKdo für seinem<br />

Verantwortungsbereich an, CRM systematisch<br />

zu implementieren und umzusetzen.<br />

CRM ist dort inzwischen fester<br />

Bestandteil sowohl der Ausbildung zur<br />

Erlangung der Musterberechtigung<br />

C-160 als auch der Standardisierung.<br />

Deren Ausbildung der Ausbilder erfolgte<br />

an Ausbildungseinrichtungen der<br />

Lufthansa.<br />

Die Marinefliegerflottille implementierte<br />

CRM im Jahre 1996 und führt,<br />

auf eigener konzeptueller Grundlage,<br />

CRM-Ausbildung / -Training in den Verbänden<br />

durch. Die Ausbildung der<br />

Ausbilder erfolgte mit Unterstützung<br />

des LTKdo.<br />

Mit der Weisung des InspLw im<br />

Jahre 1999, CRM einen entsprechenden<br />

Stellenwert einzuräumen, wurde<br />

beim LwFüKdo, unter Federführung<br />

des damaligen LwKdo Nord, eine TSKübergreifende<br />

Arbeitsgruppe installiert,<br />

die ein CRM-Konzept zur Implementierung<br />

von CRM in die Bundeswehr<br />

erarbeitete und vorlegte.<br />

Im Jahre 2000 erarbeitete die HFlg-<br />

Truppe, auf Weisung des Generals der<br />

Heeresflieger, ein CRM-Konzept und<br />

setzt dieses Konzept seit 2001 im eigenen<br />

Bereich um.<br />

Im Jahre 2001 wurden je vier Vertreter<br />

der Geschwader der fliegenden<br />

Kampfverbände der <strong>Luftwaffe</strong> und der<br />

Marine im Rahmen von acht einwöchigen<br />

Veranstaltungen unter der<br />

Leitung und Führung des CRM-Beauftragten<br />

des GenFlSichhBw, mit Unterstützung<br />

aus dem Jet-Bereich der <strong>Luftwaffe</strong><br />

und der Marine, ausgebildet<br />

bzw. trainiert. <strong>Das</strong> gesamte Führungspersonal<br />

aller Ebenen der Geschwader<br />

nahm an den jeweils ersten beiden<br />

Tagen dieser Ausbildungseinheiten teil.<br />

Je ein Vertreter der Geschwader<br />

wurde beim New Training Institute<br />

(NTI) zum Moderator weiter ausgebildet.<br />

Warum können und wollen wir<br />

nicht auf CRM verzichten?<br />

Crew Resource Management ist die<br />

zweite Seite derselben Medaille. Es ist<br />

jedem klar, dass ein komplexes Gebilde,<br />

welches die Organisation und<br />

Durchführung von Flugbetrieb ermöglicht,<br />

nur dann funktionieren kann,<br />

wenn die einzelnen Akteure für ihren<br />

jeweiligen Arbeitsplatz ausgesucht<br />

und entsprechend fachlich ausgebildet<br />

werden. Nur so werden Voraussetzungen<br />

geschaffen, das jeweilige technische<br />

Umfeld durch Anwendung von<br />

„Technical Skills“ sicher beherrschen<br />

zu können.<br />

Es wird bisweilen verkannt, dass es<br />

nicht genügt, dem Menschen zu erklären,<br />

wie sein technisches System,<br />

das er zu bedienen hat, funktioniert<br />

und was er in Notsituationen zu tun<br />

hat.<br />

Die zweite, nicht minder wichtige<br />

Seite dieser Medaille, liegt im Bereich<br />

der „None Technical Skills“, die den<br />

Akteur im weitesten Sinne selbst betreffen.<br />

Es gibt Bedingungen, unter denen<br />

ein solide ausgebildeter Mensch optimal<br />

auf Anforderungen reagieren und<br />

seinen Auftrag erfüllen kann. Es gibt<br />

aber auch Bedingungen, unter denen<br />

derselbe Mensch nicht mehr optimal<br />

auf Anforderungen von innen, also<br />

aus ihm selbst heraus, oder außen,<br />

reagieren kann, weil seine dafür verbliebenen<br />

menschlichen Ressourcen,<br />

wenn auch nur punktuell und vorübergehend,<br />

nicht bzw. nicht mehr ausreichen.<br />

Für diesen Fall, bzw. für die<br />

Prävention solcher Fälle, ist es erforderlich,<br />

den Bereich der „None Technical<br />

Skills“, die durch CRM abgedeckt<br />

werden, zu vermitteln, zu trainieren<br />

und im gesamten Umfeld des Tagesflugbetriebes<br />

anzuwenden.<br />

Wir wissen nicht, so wie der 100-<br />

Meter-Sprinter, der für ein bestimmtes<br />

Ereignis an einem bestimmten Tag zu<br />

einer bestimmten Tageszeit, trainiert,<br />

wann Höchstleistung unter Einbringung<br />

aller Ressourcen von uns verlangt<br />

werden wird, um überleben zu<br />

können. Der eine wird sich einer solchen<br />

Herausforderung nie stellen müssen,<br />

ein anderer wird mehrere solcher<br />

Prüfungen bestehen müssen. Jeder<br />

Einzelne, mit einer entsprechenden Erfahrung,<br />

wird sicherlich mehrfach in<br />

den Nahbereich solcher Ereignisse vorgedrungen<br />

sein und seine entsprechenden<br />

Erlebnisse gehabt haben. Wir<br />

haben aus diesen Ereignissen gelernt.<br />

CRM will, dass diese Erfahrungen<br />

mit den dazu gehörigen Rückschlüssen<br />

strukturiert vermittelt<br />

werden.<br />

Jeder kennt die Emergency Checkliste<br />

seines Luftfahrzeuges und weiß,<br />

dass sie in Teilbereichen auswendig<br />

beherrscht werden muss, um zeitkritische<br />

Situationen bestehen zu können.<br />

Genau so wichtig ist es, die Emergency<br />

Checkliste des Menschen, über<br />

die rein physiologischen Funktionen<br />

hinaus gehend, für die Bewätigung<br />

kritischer Situationen zu kennen, individuell<br />

zu erleben und Verhaltensstrategien<br />

zu trainieren.<br />

4 I/2002 FLUGSICHERHEIT


I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

Jeder Luftfahrzeugführer kennt die<br />

Auswirkungen des Sauerstoffmangels<br />

auf seine Physis und hat gelernt, wie er<br />

diese zu akzeptieren und damit umzugehen<br />

hat. Er kann das, weil er seine<br />

individuellen Symptome kennengelernt<br />

hat. Warum verschließt sich dagegen<br />

mancher der Feststellung dass Stress<br />

„dumm“ macht 2 , und darüber hinaus<br />

den sich daraus ergebenden notwendigen<br />

Verhaltensstrategien?<br />

Jeder Luftfahrzeugführer kann eine<br />

Flugplatzwettervorhersage (TAF) eines<br />

Zielflugplatzes lesen, interpretieren und<br />

auswerten, sowie entscheiden, ob er<br />

seinen Flug antreten darf, ob er einen<br />

„Alternate“ braucht, oder ob der Flug<br />

aus Wettergründen nicht durchführbar<br />

ist. Warum wird nicht mit gleicher<br />

Akribie gelehrt, wie eine Entscheidung,<br />

z.B. im Fluge, auch unter Zeitdruck<br />

strukturiert herbeigeführt werden<br />

kann?<br />

Jeder Luftfahrzeugführer kann die<br />

ersten Zeilen aus dem „Enroute<br />

Supplement“, obwohl in Abkürzungen<br />

dargestellt, im Klartext lesen und verstehen.<br />

Warum wird bisher nicht, oder<br />

nicht hinreichend, auch unter fliegerischen<br />

Gesichtspunkten, intensiv gelehrt<br />

und trainiert, wie bei Planung und<br />

im Einsatz ein Risiko erkannt, bewertet<br />

und diesem, von allen die<br />

Verantwortung tragen, angemessen<br />

begegnet werden kann und an welcher<br />

Stelle des Entscheidungsprozesses<br />

bzw. auf welcher Führungsebene das<br />

„Nein“ ausgesprochen und durchgehalten<br />

werden muss?<br />

Alle Lfz-Besatzungen beherrschen<br />

ihr mehr oder weniger umfangreiches<br />

Crew-Konzept. Dennoch wird es oft in<br />

bedrohlichen Situationen nicht angewendet.<br />

CRM will, dass das Crew-Konzept<br />

unter allen Bedingungen angewendet<br />

wird.<br />

Diese Beispiele, die auch um die Bereiche<br />

Lfz-Technik und Flugsicherung<br />

erweitert werden können, belegen,<br />

dass es unlogisch ist, auf Training der<br />

None-Technica-Skills zu verzichten<br />

bzw. deren Existenz zu ignorieren.<br />

Diese Phase ist heute für den<br />

Bereich des Flugbetriebes in der Bundeswehr<br />

überwunden. Die Implementierung<br />

ist so weit vorangeschritten,<br />

dass sie nicht mehr gestoppt werden<br />

kann.<br />

Wir stellen uns den Problemen und<br />

ziehen die richtigen Rückschlüsse.<br />

Die Formel:<br />

∑Re - ∑Ri ≥0 - ein Rätsel?<br />

Die Formel ist der Statik entlehnt<br />

und besagt im Klartext, dass die Summe<br />

aller Ressource (∑R e ) nach Abzug<br />

aller Risiken (∑R i ) mindestens 0, also<br />

mindestens indifferent sein muss, damit<br />

das System, ohne weitere negative<br />

Einflüsse, mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

stabil sein kann.<br />

Anhand dieser Formel kann das Unfallgeschehen<br />

erklärt werden. Werden<br />

eigene Ressourcen in ihrer Qualität<br />

falsch eingeschätzt, bzw. sind nicht alle<br />

Risiken rechtzeitig bekannt, kann das<br />

System Mensch-Maschine-Umwelt destabilisiert<br />

werden und die Wahrscheinlichkeit<br />

steigt, dass die Situation<br />

die Akteure überfordert.<br />

Insofern kann behauptet werden,<br />

dass es sich bei der aufgeführten<br />

Formel um die Formel für Flugsicherheit<br />

handelt. 3<br />

Aus der Beschreibung im Klartext<br />

wird ersichtlich, dass es sich um eine<br />

Formel mit mehreren Unbekannten<br />

handelt.<br />

Bin ich mir als Akteur ständig im klaren<br />

darüber, wie viele Ressourcen in<br />

welcher Qualität für die Bewältigung<br />

einer Aufgabe im Moment einer Leistungsanforderung<br />

zur Verfügung stehen,<br />

über wie viele Reserven ich verfüge<br />

und durch welche Bedingungen<br />

meine Ressourcen freigesetzt bzw. verschüttet<br />

oder blockiert werden?<br />

Kenne ich alle Risiken, denen ich<br />

ausgesetzt sein werde bzw. denen ich<br />

in der Dynamik einer Situation unvorhergesehen<br />

ausgesetzt sein könnte,<br />

um die Grenzen des Wünschenswerten<br />

und des Machbaren, auch in<br />

Wechselbeziehung zu den eigenen<br />

Ressourcen, bewerten zu können?<br />

Die Formel soll visualisieren und<br />

anregen. Der komplexere Teil wird es<br />

sein, die Unbekannten, die sich in der<br />

Formel verbergen, bekannt zu machen,<br />

um Strategien für angemessenes<br />

Verhalten entwickeln, trainieren und<br />

anwenden zu können.<br />

Die Inhalte dieser Ausgabe Flugsicherheit<br />

I/2002 über CRM erhebt<br />

nicht den Anspruch auf Vollständigkeit,<br />

sie sollen aber einen Beitrag dazu leisten,<br />

menschlich Normales als solches<br />

auch darzustellen, um Fehlleistungen<br />

den Makel allgemeinen Unvermögens<br />

zu nehmen, damit es vielleicht künftig<br />

leichter fällt, die Bedingungen, unter<br />

denen angemessenes Verhalten möglich<br />

wird, zu akzeptieren. <br />

1 Mit Human Hard Limitations werden im wesentlichen<br />

Fragen der Ergonomie angesprochen, die den<br />

Bereich Mensch-Maschine und Flugbetrieb seit den<br />

40er Jahren dominierten<br />

2 Die Medizin möge die starke Verkürzung nicht überbewerten<br />

(von Piloten für Piloten)<br />

3 Die Formel berücksichtigt die Dynamik zugunsten<br />

der Überschaubarkeit und Verstehbarkeit nicht.<br />

5


Menschliche Kapazitäten<br />

Evolution -<br />

Grenzen anerkennen<br />

Wir stehen vor der Schöpfung und<br />

sind fasziniert. Wir sind auch von der<br />

Frage fasziniert, wer sich wohl diesen<br />

unendlich komplexen Plan ausgedacht<br />

haben möge, all die unzähligen Naturgesetze<br />

und Lebensformen dieser Welt<br />

aufeinander abzustimmen, damit uns<br />

Menschen das Überleben im fließenden<br />

Gleichgewicht aller Kräfte des<br />

Universums ermöglicht werden kann.<br />

Bereits bei dieser Fragestellung<br />

unterliegen wir der ersten Täuschung<br />

unserer Wahrnehmung, weil derjenige,<br />

der so fragt Gefangener seiner<br />

Selbstwahrnehmung ist. <strong>Das</strong> soll begründet<br />

werden.<br />

Wir Menschen, als intelligenteste<br />

Lebensform dieser Erde, begegnen<br />

unseren Herausforderungen, indem<br />

wir ein Problem identifizieren und<br />

anschließend analysieren, mit welchen<br />

Handlungsschritten das identifizierte<br />

Problem gelöst werden kann. Diese<br />

Vorgehensweise beinhaltet auch die<br />

ständige Überlegung hinsichtlich einer<br />

Um- und Neugestaltung unsere Umwelt<br />

1 , um ein bestimmtes Ziel zweckmäßig<br />

und damit besser verfolgen zu<br />

können. Wir scheuen auch nicht davor<br />

zurück, zweckgebundene „Werkzeuge“<br />

zu konstruieren, um ein Ziel auf<br />

möglichst geradem Wege schnell zu<br />

erreichen.<br />

Nicht so die Evolution!<br />

Statt von Null anzufangen, arbeitet<br />

die Evolution mit dem was sie hat 2<br />

und geht nicht von einer wünschenswerten<br />

Funktion oder einem in die Zukunft<br />

gerichteten Zweck aus, um daran<br />

anschließend zu überlegen, welche<br />

Weiterentwicklung / Mutation sie<br />

demzufolge nun hervorbringen müsse.<br />

Evolution funktioniert nur in kleinen<br />

Schritten und, aus unserer Sicht,<br />

in unvorstellbare langen Zeitabschnitten.<br />

So etwas empfinden wir regelmäßig<br />

als sehr ineffizient, weil wir<br />

glauben, sicherlich berechtigt, nicht so<br />

viel Zeit zu haben.<br />

Dennoch hat diese „Methode“<br />

alles hervorgebracht, was uns umgibt<br />

und ein dynamisches Gleichgewicht<br />

geschaffen, dass von Wirkgrößen<br />

nachhaltig bestimmt wird, die bis zu<br />

einer für uns nicht vorstellbaren Stelle<br />

hinter dem Komma von Bedeutung<br />

sind, wenn auch um den Preis einer<br />

gigantischen „Ausschussrate“.<br />

Die modernen Evolutionstheorien<br />

6 I/2002 FLUGSICHERHEIT


sind auf Charles Darwin zurückzuführen,<br />

der Mitte des vorletzten Jahrhunderts<br />

mit seinen wissenschaftlichen<br />

Arbeiten revolutionäre Pionierarbeit<br />

leistete, indem er die Theorien<br />

zur „Abstammung mit Modifikation“<br />

bzw. „Evolution durch natürliche Auslese“<br />

erdachte.<br />

Gerade die Deutungen zur Darwinschen<br />

„natürlichen Auslese“ haben<br />

oft und nachhaltig zu Missverständnissen<br />

geführt und Diskussionen sowie<br />

weiter reichende Theorien in eine<br />

falsche Richtung gelenkte.<br />

Der weite Bogen, wer überlebt in<br />

unserer Welt? und wer wird „natürlich<br />

ausgelesen“? umspannt einen Fragenkomplex,<br />

der auch in direktem Zusammenhang<br />

mit Flugbetrieb gesehen<br />

werden kann - beim Erkennen und<br />

Akzeptieren von Grenzen der Umwelt,<br />

innnerhalb der wir uns mit komplexen<br />

Hilfsmitteln bewegen.<br />

Deshalb sollen diese Fragen im folgenden<br />

auch in aller Bescheidenheit<br />

erörtert werden.<br />

„survival of the fittest“<br />

3<br />

Dieses Zitat Darwins führte zu der<br />

weit verbreiteten und zunächst richtigen<br />

Überzeugung, dass es angepasste<br />

Organismen gebe, die den lebensbejahenden<br />

Rahmen bedingungslos akzeptieren<br />

und deshalb überleben.Allerdings<br />

folgerte man daraus auch, dass<br />

es demzufolge noch besser angepasste<br />

Organismen in gesteigerter Form<br />

geben müsse; und irgendwo, vermutlich<br />

beim Menschen, sei der „Passendste“<br />

schlechthin zu finden.<br />

Der „Passendste“ könne nur etwas<br />

/ jemand sein, der auch der Widerstandsfähigste,<br />

Größte, Schnellste,<br />

Tüchtigste usw. sei; frei nach dem<br />

Motto „der Stärkere siegt“; die „natürliche<br />

Auslese“ begünstige den<br />

Stärksten.<br />

Heute wissen wir, dass diese Auffassung<br />

nicht richtig ist und Darwin<br />

Zusammenfassend und hier stark<br />

verkürzend kann Evolution als eine<br />

Auslesemethode der Natur beschrieben<br />

werden, in der als einziges Kriterium<br />

für eine Weiterentwicklung allein<br />

Überlebensfähigkeit bestimmend<br />

ist.<br />

Es ist jener der „Fitteste“, der am geschicktesten<br />

mit den unumstößlichen<br />

Bedingungen für Leben umgeht und<br />

somit nicht gegen diese Grundbedingungen<br />

des Lebens verstößt. Dabei<br />

kommt es nicht darauf an, dass jemand<br />

eine umfassende, dem Ebenbild<br />

gleiche Vorstellung von der physikalischen<br />

Wirklichkeit hat, die ihn umgibt.<br />

Diese ist ohnehin für Menschen nicht<br />

vollständig begreifbar. Vielmehr<br />

kommt es darauf an, dass jemand<br />

nicht gegen die Bedingungen und<br />

Voraussetzungen für Leben verstößt,<br />

die ihm die Natur, das Umfeld<br />

in dem er sich bewegt, auferlegt.<br />

Demnach lässt die Natur jeden<br />

sich weiter entwickeln, der nicht<br />

gegen die elementaren Naturgesetze<br />

verstößt, jeden, der die Risiken seines<br />

Lebens kennt und jeden, der<br />

diesen (kontrolliert) ausweicht.<br />

Wer dieses nicht tut, oder nicht tun<br />

kann, den lässt die Evolution/die Natur<br />

sterben.<br />

Diese harten und kompromisslosen<br />

Bedingungen für Evolution haben uns<br />

als Spezies hierher gebracht, wo wir<br />

uns jetzt befinden - wir haben insgesamt<br />

offenbar (noch) nicht gegen die<br />

oben beschriebenen Gesetze verstoßen.<br />

Wer jedoch glaubt, dass aufgrund<br />

dieser Feststellung unterstellt werden<br />

könnte, es seien „goldene Zeiten“<br />

ausgebrochen und wir könnten Evolution<br />

durch Intelligenz und Gerissenheit<br />

austricksen, der irrt. Nichts hat sich<br />

geändert.<br />

Die Bedingungen für Leben sind<br />

nach wie vor existent, auch wenn sich<br />

ihre Darbietung der vom Menschen<br />

geschaffenen Umwelt anpasst und<br />

deshalb manchmal nicht so elementar<br />

wahrnehmbar sind, wie zu jenen<br />

Zeiten, als die Evolution der menschlichen<br />

grundlegenden Vitalfunktionen 5<br />

abgeschlossen war. Die Bedingungen<br />

für Leben werden bisweilen<br />

verkannt.<br />

Die einschlägige Literatur geht davon<br />

aus, dass, abgesehen von der äußeren<br />

menschlichen Erscheinung, die<br />

Entwicklung bzw. die fundamentale<br />

Anpassung des Menschen an seine<br />

Umwelt vor ca. 50.000 Jahren abgeschlossen<br />

war. Betrachten wir einige<br />

grundlegende Bedingungen, unter<br />

denen der Mensch eine gute Chance<br />

hat, auf Anforderungen von außen zu<br />

reagieren, wird klar, dass im beschriebenen<br />

Zusammenhang an dieser Zahl<br />

etwas dran ist.<br />

Folgende Bedingungen müssen gegeben<br />

sein:<br />

freier Blick nach vorn<br />

Beine fest auf dem Boden<br />

Vmax 5 km/h<br />

Diese bestätigten Grenzwerte lassen<br />

vermuten, dass die Evolution ein<br />

anderes als das moderne Leben eines<br />

Menschen im „Sinn“ hatte, als eine<br />

weitere Anpassung unterblieb.<br />

Der Mensch wurde optimal an eine<br />

Umwelt angepasst, die wir gerne mit<br />

der Zeit der Mammutjäger vergleichen.<br />

Dennoch hat uns die sich weiter<br />

entwickelnde Intelligenz u.a. in Cockpits<br />

von Luftfahrzeugen gebracht,<br />

obwohl sich unser allgemeiner Organismus<br />

mit seinen Vitalfunktionen<br />

nicht weiter entwickelt hat. Deshalb<br />

liefert unser <strong>Wahrnehmungs</strong>apparat<br />

auch nicht immer jene Informationen<br />

unmittelbar, die wir bräuchten, um ein<br />

verstecktes Risiko einer modernen<br />

Anforderung rechtzeitig zu erkennen.<br />

Insbesondere tun wir uns schwer, voraus<br />

zu denken, um die Entwicklung<br />

einer dynamischen Situation abschätzen<br />

zu können.<br />

Für solche Vorhaben brauchen wir<br />

bestimmte, menschengerechte Techniken,<br />

um unserem Situationsbewusstsein<br />

umfassende, die Risiken klar<br />

benennende und die Weiterentwicklung<br />

einer Situation annähernd richtig<br />

voraussagende Daten anbieten zu<br />

können.<br />

dies auch nicht meinte. 4 7<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT


Unersetzbare Vorzüge<br />

menschlicher<br />

Leistungsfähigkeit<br />

Nach dem bis hierher Geschilderten<br />

könnte der Eindruck entstanden sein,<br />

dass sich der Mensch schlechthin nicht<br />

eigne, moderne, potentiell gefährliche<br />

Systeme zu betreiben, weil er mit seinen<br />

Anlagen alles andere als ein an<br />

das moderne Leben angepasster Zeitgenosse<br />

sei. Unter Beachtung einiger<br />

Grundlagen und Rahmenbedingungen<br />

ist jedoch das Gegenteil richtig.<br />

Wir eignen uns ganz besonders dafür,<br />

moderne, komplexe und dynamische<br />

Systeme zu betreiben, deren Bestandteil<br />

wir selber sind. Auch dafür gibt es<br />

Belege.<br />

Genius on tour<br />

Der Mensch ist fähig:<br />

in komplexen und großen Datenmengen<br />

sehr schnell logische Zusammenhänge<br />

zu erkennen und<br />

belangloses „Rauschen“ zu filtern,<br />

sein Gedächtnis, ausgerichtet auf<br />

zusammenhängende<br />

Datenpakete, zu gliedern,<br />

verschiedenste Sinneseindrücke<br />

frei miteinander zu verknüpfen,<br />

bei bildlicher Darstellung von<br />

Daten Fehler leicht zu erkennen,<br />

eine fast unerschöpfliche Flexibilität<br />

im Umgang mit Unvorhersehbarem<br />

einzusetzen.<br />

All das und noch einiges mehr<br />

steckt in uns und prädestiniert uns geradezu<br />

für ein Leben, so wie wir es<br />

heute führen wollen bzw. führen müssen.<br />

Dennoch darf nicht verschwiegen<br />

werden, dass diese Ressourcen<br />

menschlicher Leistungsfähigkeit nicht<br />

immer uneingeschränkt zur Verfügung<br />

stehen. Es gibt Situationen, in denen<br />

stehen diese Ressourcen nur eingeschränkt<br />

oder, für eine bestimmte Zeit,<br />

gar nicht zur Verfügung. Tritt eine<br />

solche Situation ein, ist es sehr<br />

wahrscheinlich, dass wir die Rahmenbedingungen<br />

für Leben für<br />

eine bestimmte Zeit aus den Augen<br />

verlieren.<br />

Dann verfügt der Betroffene nicht<br />

mehr über die Menge und Güte an<br />

Ressourcen, um den Herausforderungen,<br />

der Menge und Qualität der Risiken,<br />

schadlos begegnen zu können -<br />

solche Situationen töten uns potentiell;<br />

leider viel zu oft auch real. Hieraus<br />

leitet sich die bekannte Formel ab:<br />

∑R e - ∑R i ≥ 0<br />

Diese uns einengenden Bedingungen<br />

sollen Gegenstand aller weiteren<br />

Betrachtungen sein, um einen Beitrag<br />

dazu leisten zu können, stets lange<br />

genug „ahead of the game“ bleiben<br />

zu können.<br />

Begrenzende<br />

Faktoren<br />

<strong>Das</strong> Kapazitätenmodell<br />

Diesem Modell des Dipl.Psych. A.<br />

Richter 6 liegt die Annahme zugrunde,<br />

dass jedem Individuum ein bestimmtes<br />

Leistungsvermögen, eine bestimmte<br />

Kapazität, innewohnt, aus der heraus<br />

es alle Anforderungen seines Lebens<br />

meistern kann. Dieser „Kasten“ ist bei<br />

unterschiedlichen Menschen auch<br />

unterschiedlich groß und wird u. a.<br />

von den Faktoren Ausbildung, Erfahrung,<br />

Persönlichkeit, Motivation, Begabung<br />

usw. bestimmt. Daraus ergibt<br />

sich die zu erwartende maximal zur<br />

Verfügung stehende Kapazität des<br />

Einzelnen. <strong>Das</strong> Markante daran ist,<br />

dass diese Kapazität nicht immer und<br />

in jedem Fall umfassend abrufbar ist.<br />

Einschränkende Faktoren kennt jeder<br />

aus eigener Erfahrung und liegen<br />

daher auf der Hand. Es handelt sich<br />

dabei u. a. um Grundbedürfnisse wie<br />

Hunger, Durst, Schlaf, Sex, Sicherheit.<br />

Werden diese elementaren Bedürfnisse<br />

überdauernd nicht befriedigt, belegen<br />

sie zunehmend Kapazitäten und<br />

vermindern so das Leistungsvermögen.<br />

Neben nicht befriedigten Grundbedürfnissen<br />

kann das allgemeine körperliche<br />

Wohlbefinden Kapazitäten<br />

binden. Bei der Personengruppe, die<br />

hier im Mittelpunkt der Betrachtung<br />

steht, nämlich aktives fliegendes Personal<br />

und Personal aus dem peripheren<br />

Bereich des Fliegens, handelt es<br />

sich beim Stichwort „Physis“ in erster<br />

Linie um den Aspekt der körperlichen<br />

„Fitness“. Der Grad an Fitness lässt<br />

einen Rückschluss auf die Qualität der<br />

8 I/2002 FLUGSICHERHEIT


Stressresistenz und die Menge an<br />

Energiespeicher im Körper zu.<br />

Ist die körperliche Fitness, wenn<br />

auch nur vorübergehend, eingeschränkt,<br />

lässt die allgemeine<br />

Leistungsfähigkeit nach und Kapazität<br />

geht verloren.<br />

Unser individuelles, situatives Leistungsvermögen<br />

hängt auch noch von<br />

anderen Faktoren, insbesondere dem<br />

„hausgemachten“ Erleben ab. Dieses<br />

Erleben wird von Mensch zu Menschen<br />

trotz identischer Realitäten<br />

unterschiedlich wahrgenommen -<br />

unterschiedlich erlebt. Dabei spielen<br />

u.a. Vorerfahrungen, Motive und<br />

Emotionen eine entscheidende Rolle.<br />

Ständig fließendes Erleben kann den<br />

freien Zugang zu den Kapazitäten binnen<br />

kürzester Zeit, innerhalb von<br />

Sekunden, blockieren oder befreien,<br />

belasten oder fördern.<br />

Was fangen wir nun mit diesen<br />

Erkenntnissen an? Es wäre eine übertriebene<br />

Annahme zu glauben, man<br />

könne durch Ausbildung alle „roten“<br />

Bereiche in „grüne“ Bereiche umwandeln<br />

- manches bekommt man einfach<br />

nicht weg!<br />

Es wäre allerdings ebenso unangemessen,<br />

rote Bereiche, die beeinflusst<br />

werden können, nicht zu beeinflussen.<br />

7 Wie könnte sich dieses Modell in<br />

der Praxis zeigen, wenn z.B. zwei oder<br />

mehrere Besatzungsangehörige, mit<br />

all ihren unterschiedlichen Lebensgeschichten,<br />

Erfahrungen und Beanspru-<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

chungen 8 für eine fliegerische Aufgabe<br />

zusammengeführt werden. Man<br />

stelle sich da vielleicht den verantwortliche<br />

Luftfahrzeugführer (vwt LFF),<br />

alterfahren, mit vielen Flugstunden<br />

und allen Zusatzberechtigungen, die<br />

es so gibt, hoch angesehen und über<br />

jeden Zweifel erhaben, gleichsam<br />

„jeder Aufgabe gewachsen“, vor. Auf<br />

Grundlage der Einsatzplanung wird er<br />

mit einem Besatzungsangehörigen<br />

(LFB) zusammengeführt, der noch<br />

nicht so viele Flugstunden hat, erst<br />

kurze Zeit in der Staffel fliegt und von<br />

der Welt noch nicht alles gesehen hat.<br />

Er wurde freundlich aufgenommen,<br />

aber ansonsten traut man ihm noch<br />

nicht besonders viel zu. 9<br />

vwt LFF<br />

LFF<br />

Die prinzipiell verfügbaren Kapazitäten<br />

der beiden LFB könnten wie<br />

folgt aussehen:<br />

Bei dieser Betrachtung scheint es<br />

klar zu sein, wie die Kapazitäten verteilt<br />

sind, bzw. von wem die höhere<br />

Leistungsfähigkeit bei der Erfüllung<br />

des fliegerischen Auftrages zu erwarten<br />

ist. Aber entspricht dieser Schein<br />

immer der Realität? In unserem<br />

Beispiel soll die Beschreibung der<br />

Persönlichkeiten tiefer gehen und fortgesetzt<br />

werden.<br />

Der vwtLFF hatte wegen des neugeborenen<br />

„Nachkömmlings“ in seiner<br />

Familie eine unruhige Nacht. Erst<br />

am Morgen kam er zur Ruhe und verfiel<br />

in seinen ersten Tiefschlaf, der<br />

abrupt durch aggressives Klingeln an<br />

der Wohnungstür unterbrochen wurde<br />

- seine Fahrgemeinschaft erwartete<br />

ihn. In Eile und ohne Frühstück verließ<br />

er das Haus und entschuldigte sich bei<br />

seinen Kameraden für seine Verspätung.<br />

Im Dienst angekommen erfuhr er,<br />

dass er kurzfristig für einen anderen<br />

Kameraden einzuspringen hatte, der<br />

seinerseits mit dem „Neuen“ hätte<br />

fliegen sollen. Seiner eigenen Planung<br />

entsprach dieses unerwartete Vorhaben<br />

nicht, denn eigentlich wollte<br />

unser vwt LFF nur gekommen sein, um<br />

sich abzumelden, da er ursprünglich<br />

nicht auf dem Einsatzplan stand, noch<br />

Überstunden abzubauen hatte und für<br />

diesen Tag der Beton für die Kellerdecke<br />

seines mit hohem Anteil an<br />

Eigenleistung zu bauenden Eigenheims<br />

kurzfristig angekündigt worden<br />

war. Der geänderte Einsatzplan geht<br />

jedoch - natürlich - vor.<br />

Der andere LFB dagegen wohnt im<br />

Offz-Wohnheim, war im Tennisverein<br />

aktiv, nahm regelmäßig an der Truppenverpflegung<br />

teil und hatte ansonsten<br />

keinerlei Verpflichtungen. Die<br />

Flugvorbereitung hatte er gründlich<br />

durchgeführt und er wusste genau,<br />

was der Auftrag von ihm und der<br />

Besatzung verlangte.<br />

Wie könnten die Kapazitäten unter<br />

diesen tiefer gehenden Aspekten aussehen?<br />

vwt LFF<br />

LFF<br />

Hier zeigt sich, dass es in bestimmten<br />

Situationen durchaus möglich ist,<br />

mehr Leistungsvermögen von demjenigen<br />

erwarten zu können, bei dem<br />

man es nach oberflächlich objektiven<br />

Maßstäben eigentlich nicht vermutet<br />

hätte.<br />

CRM bedeutet nun, alle freien<br />

Kapazitäten zu nutzen, einzufordern,<br />

aber auch nachdrücklich anzubieten.<br />

<strong>Das</strong> wiederum kann nur<br />

funktionieren, wenn alle Beteiligten<br />

menschlich einwandfrei miteinander<br />

umgehen. So ist z. B. der Hinweis<br />

9


eines vermeintlich Unerfahrenen ernst<br />

zu nehmen, sachlich zu bewerten und<br />

nicht „platt zu bügeln“. Es kommt<br />

also darauf an, zwischen den beiden<br />

„Kästen“ ein dickes Plus zu setzen<br />

und nicht abzublocken. <strong>Das</strong> heißt, verfügbare<br />

Ressourcen eines jeden Einzelnen<br />

zu nutzen, ja sogar gezielt zu<br />

suchen, damit in der Summe genügend<br />

Kapazität verfügbar ist, um den<br />

Herausforderungen in jedem Fall gewachsen<br />

sein zu können.<br />

Diese Forderungen sind leichter<br />

gestellt als erfüllt. Wer sich mit diesen<br />

Fragen auseinandersetzt, kommt zu<br />

der Überzeugung, dass der Umgang<br />

miteinander in dynamischen, komplexen<br />

Situationen 10 eines besonderen<br />

Trainings bedarf, welches die Crew als<br />

Leistungsträger, auch im weiteren<br />

Sinne, mit einbezieht und nicht nur<br />

den Einzelnen betrachtet.<br />

Die schlimmste Form des Ressourcen-<br />

bzw. Kapazitätenverbrauchs ist<br />

die der gegenseitigen Zerstörung der<br />

jeweiligen Restkapazitäten; dann nämlich,<br />

wenn zwischen den „Kästen“ ein<br />

Minus gesetzt wird und die LFB<br />

gegeneinander agieren. Unter diesen<br />

Bedingungen sollte kein Flugbetrieb<br />

mehr stattfinden.<br />

Die nächsten Abschnitte befassen<br />

sich mit Phänomenen menschlichen<br />

Verhaltens, die unmittelbar in den<br />

Flugbetrieb wirken und je nach Vorzeichen<br />

zur Lösung eines Problems<br />

beitragen oder Teil des Problems sein<br />

können.<br />

Aktivation<br />

Der Begriff Aktivation steht im physiologischen<br />

Bereich für Erregung des<br />

Zentralnervensystems sowie des autonomen<br />

Systems und im psychologischen<br />

Bereich für emotionale Erregung<br />

und erhöhte Verhaltensbereitschaft. 11<br />

Was bedeutet Aktivation für die<br />

Leistungsfähigkeit des einzelnen, wie<br />

sieht ein Umfeld aus, in dem Leistungsgrenzen<br />

erreicht oder überschritten<br />

werden und was ist zu tun, um mit<br />

den Besonderheiten zu leben, die sich<br />

aus den Erkenntnissen zum Thema<br />

Aktivation ergeben?<br />

Diese Fragen sollen im folgenden<br />

im Mittelpunkt stehen und helfen, für<br />

bestimmte Verhaltensweisen in anspruchsvollen<br />

Situationen Verständnis<br />

aufzubringen. Sowohl bei jenem, der<br />

bestimmte, noch zu besprechende<br />

Symptome, beobachtet, um dann,<br />

vielleicht nach dem Kapazitätenmodell,<br />

seine eigenen freien Leistungsreserven<br />

einzubringen, als auch für<br />

jenen, der sich selbst in einer Situation<br />

wiederfindet, die zwar unerwünscht,<br />

aber manchmal nicht zu vermeiden ist<br />

und somit in sein persönliches Archiv<br />

der „unvergessbaren Ereignisse“ aufgenommen<br />

wird.<br />

Aktivierung ist ein Grundprozess im<br />

Organismus, der optimiertes Reagieren<br />

auf interne - vom Menschenselbst<br />

ausgehende - und externe - von dem<br />

Umfeld ausgehende - Anforderungen<br />

ermöglicht. Wobei hier, anders als in<br />

der Physik, die Annahme nicht richtig<br />

wäre, dass ein Mehr an Aktiviertheit,<br />

also ein Mehr an Spannung, linear<br />

steigend ein Mehr an Leistungsfähigkeit<br />

ergäbe. Die Kurve der Grafik verdeutlicht<br />

den Verlauf der Leistungskurve.<br />

Ein mittleres Spannungsniveau<br />

ermöglicht optimale Leistungen und<br />

deshalb sucht der Organismus im Falle<br />

von Leistungsanforderungen Umfelder<br />

mittlerer Informationsdichte auf. In der<br />

Tendenz strebt der Organismus jedoch<br />

zur Erregungsreduktion, um sich nicht<br />

frühzeitig zu verausgaben bzw. um<br />

Reserven bilden zu können; das geschieht<br />

durchaus unterhalb der<br />

bewussten Aufmerksamkeitsschwelle.<br />

Starke Aktivation, dass heißt sehr<br />

hohe Aktiviertheit bei gleichzeitigem<br />

Leistungsabfall, tritt nicht nur bei einer<br />

hohen Informationsdichte auf, sondern<br />

in bemerkenswerter Weise auch<br />

bei starker Unterforderung durch Reizarmut.<br />

12<br />

Dabei ist klar, dass unterschiedliche<br />

Aufgaben einen unterschiedlichen<br />

Grad an Aktiviertheit benötigen. Aber<br />

auch, dass Individuen durchaus unterschiedlich<br />

auf vergleichbare Aufgaben<br />

reagieren. 13<br />

Für uns ist es von Bedeutung, dass<br />

höchste Erregungszustände also nicht<br />

nur bei einer Überflutung von „Inputs“<br />

auftreten, sondern auch dann,<br />

wenn zu wenige Informationen fließen<br />

oder zur Verfügung stehen und<br />

ein Informationsbedürfnis vorhanden<br />

ist.<br />

<strong>Das</strong> bedeutet, dass ein Besatzungsmitglied,<br />

welches vom Informationsfluss,<br />

dem Loop, ausgeschlossen ist<br />

und dessen Informationsbedarf nicht<br />

befriedigt ist, durchaus aufgrund psychophysiologischer<br />

Reaktionen ausfallen<br />

kann, obwohl objektiv überhaupt<br />

keine Belastung vorlag. Diese<br />

Erkenntnis ist u. a. Begründung für die<br />

Forderung nach stetigem, sinnvollem<br />

Informationsfluss, der Aufrechterhaltung<br />

des Loop 14 .<br />

Welche Zeichen lassen erkennen,<br />

dass ein Besatzungsmitglied in seiner<br />

10 I/2002 FLUGSICHERHEIT


Aktiviertheit weit „nach rechts“ ausgewandert<br />

ist?<br />

<strong>Das</strong> erste für einen Außenstehenden<br />

markante Anzeichen für eine<br />

übermäßige und deshalb leistungsschädigende<br />

Erregung eines anderen,<br />

ist dessen stark reduzierte Sprechfähigkeit<br />

bis hin zur Sprachlosigkeit 15 .<br />

Natürlich spürt der Betroffene weitere<br />

deutliche Anzeichen, wie zum Beispiel<br />

einen erhöhten Puls, Schweißabsonderungen<br />

und Muskelverspannungen,<br />

die mit dem Verlust der Feinmotorik<br />

einhergehen. Doch diese Merkmale<br />

bleiben dem Außenstehenden weitestgehend<br />

verborgen. Im weiteren<br />

Verlauf des Abwanderns nach<br />

„rechts“ folgen in der Regel sehr<br />

schnell geistige Lähmung mit anschließender<br />

absoluter Handlungsunfähigkeit.<br />

In manchen zivilen Fluggesellschaften<br />

hat sich deshalb die DUAL CHAL-<br />

LENGE RULE durchgesetzt, die da besagt:<br />

Sobald ein Besatzungsmitglied<br />

auf zweimalige Ansprache, oder in<br />

einer Notsituation auf einmalige Ansprache<br />

hin, nicht reagiert, wird dessen<br />

momentane Flugunfähigkeit unterstellt,<br />

unabhängig von der momentanen<br />

wahrgenommenen Aufgabe oder<br />

allgemeinen Funktion an Bord.<br />

Diese Regel bezieht menschlich<br />

Normales mit ein und versucht nicht<br />

dagegen anzuarbeiten. Fragen hierarchischer<br />

Grundsätze treten in den<br />

Hintergrund - ein Aspekt, der sicherlich<br />

hier und da Stirnrunzeln hervorrufen<br />

wird. Nichtsdestotrotz gibt es<br />

keine vernünftige Alternative dazu,<br />

denn Sprachlosigkeit bei dem einen<br />

und hierarchischer Unterwerfungsdruck,<br />

bis hin zur Selbstaufgabe,<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

bei dem anderen, haben nachweislich<br />

viel zu oft zur Katastrophe<br />

geführt.<br />

<strong>Das</strong> Aktivationsmodell vermittelt ein<br />

besseres Verständnis dafür, aus welchen<br />

Gründen es unter anderem<br />

unbedingt erforderlich ist,<br />

- Personal, welches Teil des Geschehens<br />

ist, an allen wichtigen<br />

Informationsflüssen teilhaben zu<br />

lassen,<br />

- systematische Arbeitsabläufe zeitgerecht<br />

durchzuführen,<br />

- Zeiten des Leerlaufs interessiert<br />

mit Routinearbeiten oder allgemeinem<br />

Informationsaustausch zu<br />

füllen,<br />

- jedes einzelne Besatzungsmitglied<br />

wahrzunehmen und dessen Leistung<br />

durch Bestätigung und Anerkennung<br />

zur Kenntnis zu nehmen,<br />

- jede Frage sachgerecht zu beantworten,<br />

- unklare Situationen zu erläutern<br />

und den „Plan B“ aufzuzeigen,<br />

- eigene Fehler unaufgefordert anzusprechen,<br />

- Vorhaben möglichst anzukündigen,<br />

- „Gates“ zu setzen und einzuhalten.<br />

Aktivation ist Voraussetzung dafür,<br />

um unsere Umwelt sachgerecht, insbesondere<br />

grenzwertig, wahrzunehmen<br />

und gleichzeitig angemessen reagieren<br />

zu können. Zu hohe Beanspruchung<br />

kann das Vorzeichen der<br />

Leistungsfähigkeit abrupt umkehren<br />

und „the way out“ versperren.<br />

Neben der Prävention, die den<br />

Leistungseinbruch bei zunehmender<br />

Aktiviertheit vermeiden soll, gibt es in<br />

der akuten Situation nur zwei<br />

Möglichkeiten die Umklammerung<br />

phsychophysiologischer Lähmung<br />

abzustreifen.<br />

1. Die reale Befreiung aus der<br />

Situation.<br />

2. Die mentale Befreiung aus der<br />

Situation durch angemessene<br />

Umbewertung nach guter Kommunikation.<br />

Denken und Erinnern<br />

Denken ist Ordnung.<br />

Denken macht das Nichtbeobachtbare<br />

beobachtbar. Denken ist aber<br />

auch Aufmerksamkeit, Erinnern, Urteilen,<br />

Vorstellen, Planen, Entscheiden,<br />

Problemlösen und das Mitteilen von<br />

Ideen. Dazu zählen alle geistigen Vorgänge,<br />

die 16<br />

a. zielgerichtet sind,<br />

b. nicht allein auf das Entdecken<br />

und Erkennen von Reizen beschränkt<br />

sind,<br />

c. nicht allein auf das Speichern<br />

oder das Abrufen von Fakten im<br />

bzw. aus dem Gedächtnis beschränkt<br />

sind und<br />

d. - teilweise als Folge davon - das<br />

Verarbeiten von Fakten erforderlich<br />

machen.<br />

Allerdings denkt man meist nicht<br />

nur einfach so, sondern man denkt<br />

um bestimmte Ziele zu erreichen, die<br />

sich aus dem Wertsystem oder aus der<br />

aktuellen Motivation des Einzelnen<br />

ergeben 17 . Damit hat Denken nur eine<br />

dienende Funktion, es hilft bei der<br />

Realisierung von Absichten. 18<br />

„ 19 <strong>Das</strong> Hegen guter Absichten ist<br />

allerdings eine äußerst anspruchslose<br />

Geistestätigkeit. Mit dem Entwerfen<br />

von Plänen zur Realisierung der hehren<br />

Ziele sieht es anders aus. Dafür<br />

braucht man Intelligenz. Die Hochschätzung<br />

der guten Absicht allein ist<br />

keineswegs angebracht, im Gegenteil.<br />

Leute mit guten Absichten haben<br />

gewöhnlich nur geringe Hemmungen,<br />

die Realisierung ihrer Ziele in Angriff zu<br />

nehmen. Ist es nicht oft gerade das<br />

Bewusstsein der „guten Absicht“,<br />

welches noch die fragwürdigsten<br />

Mittel heiligt?“. 20<br />

Der Weg zu Unfällen ist gepflastert<br />

mit guten Absichten und Motiven 21 !<br />

Der Aspekt „Motive“ wird in einer<br />

gesonderten Abhandlung dieser Ausgabe<br />

erörtert.<br />

Freies Denken ist nur unter folgenden<br />

Bedingungen möglich:<br />

- freie Erkundung der Außenwelt<br />

mit ungehinderter Informationsaufnahme,<br />

11


- eigenständige Bewertung,<br />

- selbständige Auswahl von Verhaltensstrategien,<br />

- ungehindertes und selbstverantwortliches<br />

Handeln,<br />

- eigenständiges Bewerten des<br />

Handlungsergebnisses.<br />

Dafür stehen uns im Idealfall drei<br />

bewusst ablaufende Informationsaufnahme-<br />

und Speicherungskapazitäten<br />

zur Verfügung<br />

1. Informationsaufnahmevermögen<br />

15 - 16 bit / sec, ca. 7 Sachverhalte,<br />

2. Informationsaufnahmevermögen<br />

aus dem Gedächtnis ca. zwei Sachverhalte,<br />

3. Aufnahme- und Speicherkapazität<br />

kann, ohne Aufmerksamkeit, je<br />

nach Art der Information ca. 1 - 8<br />

sec im Arbeitsspeicher gehalten<br />

werden.<br />

Die aufgeführten Bedingungen sind<br />

Idealzustände, die wir im täglichen<br />

Leben kaum antreffen werden. In<br />

Wirklichkeit fühlen wir uns oft durch<br />

Normen, Regeln, Aufgaben und Leistungsanforderungen<br />

fremdbestimmt<br />

und deshalb sehr eingeengt. Es darf<br />

dabei nicht unberücksichtigt bleiben,<br />

dass eine als bedrohlich empfundene<br />

Situation, also eine Situation hoher<br />

Beanspruchung, im Moment ihres<br />

Auftretens als zusätzlich einengender<br />

Faktor wahrgenommen wird und zu<br />

einem Kapazitätsverlust von einem<br />

Drittel der momentan verfügbaren<br />

Ressourcen und mehr führen kann.<br />

Bleiben Kontrollanstrengungen dann<br />

unwirksam, so kann das bei sehr<br />

hoher Aktivation zum völligen Zusammenbruch<br />

bzw. zum Verlust der<br />

Selbststeuerungsfähigkeit führen.<br />

Arbeitsabläufe, die aus dem<br />

Vorbewussten 22 heraus Handlungen<br />

auslösen, ermöglichen uns das Beherrschen<br />

komplexer Vorgänge. 23 Wir<br />

erinnern auf vielen Kanälen. Zunächst<br />

verfügt jeder menschliche Sinn separat<br />

über ein sinnspezifisches Erinnerungsvermögen.<br />

Jedes Ereignis von<br />

Bedeutung wird in Verbindung mit<br />

allen (fünf) Sinneseindrücken, die zeitlich<br />

nah zum Geschehen wahrgenom-<br />

men wurden, abgelegt und als<br />

Erinnerungsrepertoire 24 bereit gehalten.<br />

Situationen die dem ehemals<br />

erlebten ähnlich sind, führen durch<br />

einen unbewusst ablaufender Vergleich<br />

zu einer Reproduktion der<br />

damaligen Eindrücke und es wird deshalb<br />

gelingen, schneller auf Anforderungen<br />

zu reagieren, als würde eine<br />

Situation erstmalig erleben werden.<br />

Neben dieser situativen Möglichkeit<br />

zu erinnern, verfügen wir natürlich<br />

auch noch über den verbalen,<br />

begrifflich belegten und den kognitiven<br />

Erinnerungskanal, der durch geistige<br />

Anstrengung, dann natürlich<br />

bewusst, aktiv wird. Darüber hinaus<br />

jedoch erinnern wir auch noch motorisch<br />

über den gesamten Bewegungsapparat.<br />

Im Flugbetrieb kennen wir all diese<br />

Kanäle sehr gut, sie sind unser „täglich<br />

Brot“. Wie kann es nun aber geschehen,<br />

dass bei einem unspektakulären<br />

Routinevorgang eine wichtige<br />

Tätigkeit im Rahmen eines Handlungsabschnitts,<br />

der aus der Erinnerung<br />

abgearbeitet wird, einfach vergessen<br />

wird, z. B. beim Anlassvorgang das<br />

„AntiColl“ einzuschalten, oder im<br />

Landeanflug das Ausfahren des<br />

Fahrwerks? Und der für diese (vergessene)<br />

Handlung zuständige Besatzungsangehörige<br />

würde schwören,<br />

den Schalter umgelegt bzw. den Hebel<br />

bedient zu haben - und er sagt die<br />

„Wahrheit“! 25<br />

Zum besseren Verständnis soll die<br />

gezeigte Graphik beitragen.<br />

Erinnerung kommt, auf welchem<br />

Kanal auch immer, aus dem Langzeitspeicher<br />

(LZS), steigt in der Regel aus<br />

dem Vorbewusstsein auf, durchdringt<br />

den emotionalen Filter und erscheint<br />

zunehmend klarer an der Bewusstseinsoberfläche,<br />

nimmt konkrete Gestalt<br />

an, führt zur Handlung und verschwindet<br />

wieder im Langzeitspeicher,<br />

vielleicht aufgrund des neuerlich<br />

bewusst Erlebten mit ergänzenden<br />

Gefühlen behaftet. Wird nun ein erinnerter<br />

Handlungsabschnitt mit seinen<br />

einzelnen Tätigkeiten an einer bestimmten<br />

Stelle durch Ablenkung der<br />

Aufmerksamkeit unterbrochen, z. B.<br />

Beantwortung einer Anfrage des<br />

TWR-Personals, dann kann davon ausgegangen<br />

werden, dass der erinnerte<br />

automatisierte Arbeitsvorgang insgesamt<br />

zwar fortgesetzt wird, jedoch ein<br />

bis zwei Tätigkeiten überspringt. Dabei<br />

handelt es sich um jene Tätigkeiten,<br />

die genau zum Zeitpunkt der Störung<br />

hätten ausgeführt werden sollen. Der<br />

Handelnde selbst wird fest davon<br />

überzeugt sein, nichts vergessen zu<br />

haben.<br />

Beweise für dieses Phänomen gibt<br />

es reichlich, auch im privaten Leben.<br />

Wie können wir damit umgehen,<br />

12 I/2002 FLUGSICHERHEIT


ohne flüssiges Arbeiten von vornherein<br />

zu unterbinden und ohne Verunsicherung<br />

zu verbreiten. <strong>Das</strong> fünfmalige<br />

Nachfragen in einem Auto während<br />

der Urlaubsreise „habe ich die<br />

Kaffeemaschine ausgemacht?“, beschreibt<br />

einen Weg, der mit Flugbetrieb<br />

sicherlich nicht vereinbar ist.<br />

In einem fliegerischen Umfeld bleiben<br />

nur wenige Möglichkeiten angemessenen<br />

Verhaltens, so lange eine<br />

technische Automatisierung noch<br />

nicht die Qualität umfassend menschengerechter<br />

Auslegung erreicht<br />

hat.<br />

1. Ich halte mich ausschließlich und<br />

stur an Checklisten, 26 oder<br />

2. ich kenne das beschriebene<br />

Phänomen und stelle mich durch<br />

eine angemessene Verhaltensweise<br />

darauf ein, indem ich die<br />

Sprechgruppe „Stand By“ häufiger<br />

benutze, oder<br />

3. ich präge mir die zuletzt durchgeführte<br />

Handlung sehr aufmerksam<br />

ein (kognitiv, verbal,<br />

motorisch, s. o.), um so den<br />

lückenlosen Anschluss problemlos<br />

wiederfinden zu können,<br />

oder<br />

4. ich beginne einen gesamten<br />

Handlungsabschnitt erneut von<br />

vorn, nachdem meine ineinander<br />

fließenden und richtig erinnerten<br />

Einzeltätigkeiten unterbrochen<br />

worden waren.<br />

Auch hier gilt die goldene Regel,<br />

dass Wissen um diese Zusammenhänge<br />

allein noch nicht viel bewirkt.<br />

Ein entsprechendes Training, möglichst<br />

im Simulator, ist notwendige Ergänzung<br />

und bringt den nachhaltigen<br />

Erfolg. 27<br />

Freies Denken und angemessenes<br />

Erinnern kann massiven Einschränkungen<br />

unterliegen.<br />

Bewusst mit diesen begrenzenden<br />

Faktoren strukturiert umzugehen<br />

setzt Reserven für die Bewältigung<br />

des Unvorhersehbaren frei.<br />

„Mammutjäger“ - sorge dafür,<br />

Deine unersetzbaren menschlichen<br />

Fähigkeiten uneingeschränkt ein-<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

setzen zu können, dann wirst Du<br />

Grenzen erkennen, einschätzen<br />

und akzeptieren können.<br />

1 Mit dem Begriff Umwelt sind hier alle möglichen<br />

Umgebungen (sichtbare Räume), in denen sich ein<br />

Mensch aufhalten und überleben kann, gemeint.<br />

Abgrenzung nach Guski, Rainer: Wahrnehmen -<br />

ein Lehrbuch / Kohlhammer GmbH, Stuttgart<br />

1996<br />

2 LeDoux, Joseph: <strong>Das</strong> Netz der Gefühle / Carl<br />

Hanser Verlag, München 1998<br />

3 nach Watzlawick, Paul: Die erfundene<br />

Wirklichkeit / Piper Verlag GmbH, München, 10.<br />

Auflage Januar 1998<br />

4 Es überlebt jene Art, die am besten die physikalischen<br />

Bedingungen seiner Umwelt akzeptiert. In<br />

diesem Punkt ist die Mikrobe prinzipiell besser<br />

angepasst als der Mensch.<br />

5 Damit sind die elementaren Vitalfunktionen<br />

gemeint, die qualitativen Funktionen der<br />

Reizaufnahme über die Sinne und die<br />

Grundemotionen. Ein erweitertes Modell zu elementaren<br />

und abgeleiteten Emotionen bietet<br />

R. Plutchik (1980) in seinen Arbeiten zur<br />

Emotion.(Grundemotionen: Abscheu, Wut,<br />

Erwartung, Freude, Billigung, Furcht, Überraschung,<br />

Traurigkeit; einige psychosozial abgeleitete<br />

Emotionen (später entwickelte Emotionen):<br />

Freundlichkeit, Beunruhigung, Schuldgefühle,<br />

Verdrossenheit, Entzücken, Angst.<br />

6 Diplom Psychologe Andreas Richter, New<br />

Training Institute, Craintal / Mühle<br />

7 Viele dieser Umstände liegen in der Verantwortung<br />

eines jeden Einzelnen selbst, manches<br />

wiederum im Zuständigkeitsbereich des Dienstherren<br />

im weitesten Sinne. Eine Vertiefung dieses<br />

Aspekts soll hier nicht vorgenommen werden.<br />

8 Beanspruchung bedeutet hier im weitesten Sinne:<br />

Umgang mit Belastung.<br />

9 Eine Beschreibung der weiteren Besatzungsangehörigen<br />

unterbleibt hier, da das Prinzip des Kapazitätenmodells<br />

auch an zwei Personen dargestellt<br />

werden kann.<br />

10 Unter einer komplexen Situation ist hier die Vernetzung<br />

verschiedener Variablen gemeint.<br />

11 Definition aus: Edelmann, Lernpsychologie, Beltz-<br />

Verlag<br />

12 Eine 100%ige Abschottung von äußeren Reizen<br />

kann zu Halluzinationen führen, Trugwahrnehmungen<br />

durch „Selbstreizung des Organismus“.<br />

Probanden, die sich einem entsprechenden Test<br />

unterzogen haben, gaben nach sehr kurzer Zeit<br />

„entnervt“ auf. u.a. nach Legewie, Heiner und<br />

Ehlers, Wolfram: Handbuch moderne Psychologie<br />

/ Bechtermünz Verlag<br />

13 Es gibt also mehrere Variable die sich dafür eignen,<br />

das Modell auch komplizierter darzustellen -<br />

das soll jedoch hier unterbleiben.<br />

14 weitere Ausführungen dazu im Artikel Kommunikation<br />

15 Da sich in der menschlichen Evolution die Sprechfähigkeit<br />

als letzte Fähigkeit entwickelt hat, wird<br />

diese, einer strengen Hierarchie folgend, in der<br />

Regel auch als erste Kapazität verloren.<br />

16 Hussy, Walter: Denken und Problemlösen /<br />

Walter Hussy -Kohlhammer; Stuttgart 2. überarbeitete<br />

und erweiterte Auflage 1998<br />

17 Dörner, Dietrich: Die Logik des Misslingens /<br />

Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei<br />

Hamburg 1992<br />

18 „Achte auf deine Gedanken, sie sind der Ursprung<br />

deines Handelns“ / chinesische Weisheit<br />

19 Dörner, Dietrich: Die Logik des Misslingens /<br />

Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei<br />

Hamburg 1992<br />

20 siehe auch: <strong>Das</strong> Milgram Experiment:<br />

Vermeintliche Testpersonen sollten im Rahmen<br />

einer Aggressionsstudie Stromstößen steigender<br />

Intensität ausgesetzt werden, wenn in einem<br />

Lernexperiment Fehler gemacht worden waren. In<br />

Wirklichkeit floss kein Strom. Schmerzempfinden<br />

wurde vorgetäuscht. Die Personen am Stromgenerator<br />

waren die eigentlichen Probanden, ohne es<br />

zu wissen. Sie „quälten“ ihre Testpersonen für<br />

einen vermeintlich guten Zweck - einer statistischen<br />

Erhebung als Grundlage für weitere Studien<br />

zur Bestätigung einer Lerntheorie.<br />

21 Reason, James T., The Organisational Accident<br />

22 <strong>Das</strong> Unbewusste wird in einem Modell in Unterbewusstsein<br />

und Vorbewusstsein unterteilt.<br />

Während das Vorbewusste zugänglich ist, bleibt<br />

das Unterbewusste dem Einzelnen im allgemeinen<br />

verborgen, obwohl es Denken und Erinnern beeinflusst.<br />

23 siehe auch „Wahrnehmung“ und „Aufmerksamkeit“<br />

24 nach dem: „Rahmenmodell zur elementaren und<br />

komplexen menschlichen Informationsverarbeitung“<br />

(MEKIV) wir das hier angesprochene „Erinnerungsrepertoire“<br />

als „Sensorisches Register“<br />

bezeichnet.<br />

25 Diese, seine Wahrheit entspricht zwar nicht der<br />

Realität, sie entspricht jedoch seiner individuellen<br />

Wahrnehmung, seiner Wirklichkeit.<br />

26 Checklisten haben selbstverständlich ihre Berechtigung,<br />

sind notwendig und sinnvoll. Eine ausufernde<br />

Ausweitung der Checklistenflut wäre jedoch<br />

keine wünschenswerte Lösung, weil dann<br />

die Fülle an Checklisten zusätzliche Probleme aufwerfen<br />

würde.<br />

27 So genannte „mentale Schalter“ lenken das<br />

Bewusstsein in bestimmten, definierten Situationen<br />

und können die Reaktionszeit verkürzen.<br />

Dieses muss trainiert werden.<br />

13


Wahrnehmung<br />

Grundlagen<br />

Wenn wir das deutsche<br />

Wort Wahrnehmung umgangssprachlich<br />

benutzen,<br />

umschreiben wir damit eine<br />

Tätigkeit, die uns kontinuierlich<br />

Informationen über Zustände<br />

und Ereignisse in unserer<br />

Umgebung und zum Teil in<br />

uns selbst liefert. <strong>Das</strong> Wort<br />

Wahrnehmung bezeichnet<br />

eher kurze Momente dieser<br />

Tätigkeit bzw. ihr Ergebnis,<br />

von der Reizaufnahme bis hin<br />

zum Bewusstsein 1 . In beiden<br />

Fällen nehmen wir die erhaltenen<br />

Informationen für wahr.<br />

Wir haben in der Regel keinen<br />

Zweifel, dass das, was wir<br />

sehen, hören, fühlen, riechen,<br />

schmecken oder sonst spüren,<br />

wahr ist. Und in einem bestimmten<br />

Sinn brauchen wir<br />

daran auch keinen Zweifel<br />

haben – doch davon später<br />

mehr.<br />

In den beiden Nachbarsprachen<br />

Englisch und Französisch<br />

heißt diese Tätigkeit to<br />

perceive oder the perception<br />

bzw. percevoire oder la perception.<br />

Diese Wörter stammen<br />

aus der lateinischen<br />

Sprache, in der percipere<br />

„Wissen durch die Sinne”<br />

bedeutet – auch diese Sprachen<br />

gehen eher von sicherem<br />

Wissen als von Vermutungen<br />

und Unsicherheit aus. 2<br />

<strong>Das</strong>s Wahrnehmung nicht<br />

dem realen Abbild der uns<br />

umgebenden physikalischen Umwelt<br />

entspricht ist bekannt und hat<br />

Nachteile für uns, weil wir Gefahr laufen,<br />

aufgrund von <strong>Wahrnehmungs</strong>verzerrungen<br />

und anderen Besonderheiten<br />

in die falsche Richtung zu laufen.<br />

Auf der anderen Seite jedoch ist die<br />

Art und Weise, wie wir als Menschen<br />

wahrnehmen, die einzige Möglichkeit,<br />

den Anforderungen eines dynamischen<br />

Umfeldes, das ständig von uns<br />

Entscheidungen abverlangt die, „jetztbezogen”<br />

oder in die Zukunft gerichtete<br />

sind, angemessen zu begegnen.<br />

Wahrnehmung transformiert Informationen<br />

zu Bewusstsein, ist umwelt-,<br />

ereignis-, objekt-, und personenbezogen,<br />

ist selektiv und hängt eng mit<br />

Aufmerksamkeit zusammen. 3<br />

Wahrnehmung ist die unmittelbar-<br />

14 I/2002 FLUGSICHERHEIT


ste Beziehung zur Umwelt. Sobald der<br />

Mensch wach ist, vermitteln ihm seine<br />

Sinne ein vielschichtiges und vielgestaltiges<br />

Bild seiner Umgebung. 4<br />

Reize, die über unser Nervensystem<br />

Zugang zu unserem Bewusstsein finden,<br />

können als elementares Erlebnis,<br />

als Empfindungen, definiert werden,<br />

die in ihrer Summe zur Wahrnehmung<br />

führen. 5 Dringen Wahrnehmungen in<br />

unser Bewusstsein vor, passieren sie<br />

den emotionalen Filter 6 . Dort werden<br />

die Wahrnehmungen mit jenen Emotionen<br />

sesshaft überzogen, die im Moment<br />

der Wahrnehmung vorherrschten.<br />

<strong>Das</strong> Erlebte bleibt für immer mit<br />

dem Bewusstsein verhaftet und unter<br />

bestimmten Bedingungen abrufbar.<br />

Die Bedeutung der Wahrnehmung<br />

für den Menschen kann erst ermessen<br />

werden, wenn er einem Reizentzug<br />

und dadurch einem Entzug an Wahr<br />

nehmung ausgesetzt wird. 7 Je nach<br />

Bedingungen des Experiments führt<br />

der Reizentzug zu deutlichen Leistungsstörungen,<br />

Problemen bei der<br />

Orientierung bis hin zu Halluzinationen<br />

schwerster Art, die durchaus mit<br />

dem Einfluss bewusstseinsverändernder<br />

Drogen vergleichbar sind. 8 Dieses<br />

Experiment verdeutlicht in drastischer<br />

Weise, wie Außenreize mit ihrem Informationscharakter<br />

und ihrer Wahrnehmung<br />

unser gesamtes Empfinden,<br />

Orientieren und Verhalten beeinflussen.<br />

9<br />

Wird jemand von dem Informationsfluss<br />

abgeschnitten, den er für<br />

sein eigenes Zurechtfinden, für die<br />

Wahrnehmung seines Umfeldes, zu<br />

benötigen glaubt, kann das im Extremfall<br />

zum Totalausfall der Leistungsfähigkeit<br />

führen, ohne das objektiv<br />

eine Belastung erkennbar gewesen<br />

wäre. 10<br />

Die Wahrnehmung dient dazu, den<br />

sich ständig ändernden, oft chaotischen<br />

Input über die Sinnesorgane<br />

aufzunehmen, zu stabilisieren, zu ordnen<br />

und zu organisieren. Ohne diese<br />

Fähigkeit wäre die Wahrnehmung nur<br />

„Rauschen” und „Flimmern” mit keiner<br />

autonomen Überlebenschance für<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

den Organismus. Im Folgenden sollen<br />

einige Kategorien von Wahrnehmung<br />

besprochen werden, die zwar in der<br />

Darstellung nacheinander abgehandelt<br />

werden, in Wahrheit und im echten<br />

Leben jedoch durchaus gleichzeitig<br />

wirken können. Am Ende dieses<br />

<strong>Wahrnehmungs</strong>prozesses steht ein<br />

individueller, resultierender Bewusstseinszustand,<br />

aus dem heraus Entscheidungen<br />

getroffen und Handlungen<br />

auslösen werden.<br />

Sofern <strong>Wahrnehmungs</strong>vorgänge<br />

im engeren Kontext mit Flugbetrieb<br />

stehen, werden diese Phänomene<br />

unter dem Aspekt des Ressourcenmanagements<br />

diskutiert.<br />

Bewusste<br />

Wahrnehmung<br />

Unsere Sinne halten eine Menge an<br />

Nervenfasern und mit ihnen eine enorme<br />

Informationskapazität / Kanalkapazität<br />

(bit pro Sek. 11 ) für die Reizaufnahme<br />

bereit. Insgesamt können ca.<br />

10 9 bit/sec über die Rezeptoren von<br />

Auge, Ohr und Haut aufgenommen<br />

werden. Nur ein geringer Teil dieses<br />

Angebots an Informationen erreicht<br />

unser Bewusstsein. Aufgrund eines<br />

Reduktionsvorganges 12 erreichen lediglich<br />


Dort gibt es Ansatzpunkte, die, wenn<br />

wir sie kennengelernt und identifiziert<br />

haben, hilfreich sind, Grenzen früher<br />

erkennen zu können.<br />

Unbewusste Wahrnehmung löst<br />

automatisierte Handlungen 14 aus, die<br />

schnell, parallel und ohne Anforderun<br />

gen an Kurzzeitgedächtniskapazität<br />

ablaufen. 15 Handlungen werden im<br />

Kontext ausgelöst, aber auch<br />

durch ihn begrenzt und können,<br />

einmal ausgelöst, nicht ohne weiteres<br />

gestoppt werden – dafür<br />

braucht es einen bewussten Eingriff,<br />

dem eine bewusste Entscheidung vorausgehen<br />

muss.<br />

Im Leben eines Menschen wächst<br />

die Datenmenge in seinem Langzeitspeicher<br />

unvorstellbar hoch an. Nichts,<br />

was jemals von Bedeutung war, geht<br />

verloren. Auch wenn der bewusste<br />

Zugang in den meisten Fällen nicht<br />

möglich ist, so steuern diese eingelagerten<br />

Informationen mit ihren dazugehörigen<br />

Emotionen unser gesamtes<br />

Verhalten; und nicht nur das.<br />

Diese Datenblöcke vernetzen sich<br />

unbemerkt miteinander und führen zu<br />

zusätzlichen, automatischen Lernprozessen,<br />

die niemals bewusst geworden<br />

sind. Diese Wissensblöcke werden zu<br />

Superzeichen 16 zusammenführt und<br />

bewirken, dass komplexe Handlungsabfolgen<br />

durch Zuruf eines einzigen<br />

Begriffs ausgelöst werden können.<br />

Die ständig andauernde und fortgeschriebene<br />

Vernetzung ist auch<br />

Voraussetzung dafür, eine eigene<br />

Meinung zu haben und Objekten,<br />

Ereignissen und Menschen gegenüber<br />

eine bestimmte Einstellung entwickeln<br />

zu können – sie ist wesentlicher Teil<br />

unseres Bewusstseins und unserer<br />

Persönlichkeit.<br />

Einstellungen und Meinungen entwickeln<br />

sich meist im Stillen. Kaum<br />

jemand ist in der Lage, genau zu<br />

benennen, wann und durch welches<br />

Einzelereignis er zu einer ganz bestimmten<br />

Sichtweise der Dinge gekommen<br />

ist.<br />

Die uns letztlich bestimmenden<br />

Informationsinhalte sind diejenigen,<br />

die wir nur mittelbar, nebenbei und<br />

unterhalb unseres eigentlichen Denkinhalts<br />

registrieren, 17 also unbewusst<br />

wahrnehmen. Sie vermitteln uns das<br />

Gefühl, dass alles im „grünen Bereich”<br />

ist, oder das hier „etwas nicht stimmt”.<br />

Wie kommt es zu diesen wenig differenzierten<br />

Gefühlen und können sie<br />

hilfreich sein oder sind sie vielleicht<br />

schädlich?<br />

Wie bereits weiter oben erwähnt,<br />

wird alles Erlebte, alles Wahrgenommene<br />

mit denen im Moment des<br />

Erlebens empfundenen Emotionen<br />

und dem dazu gehörigen Kontext im<br />

Langzeitspeicher aller beteiligten Sinne<br />

als Erfahrungsrepertoire in Schablonenform<br />

abgelegt. Die Speicherinhalte<br />

sind nicht so konturenreich und detailtreu<br />

wie das vergangene Original. Die<br />

wesentlichen Eckpunkte jedoch<br />

und die damals festgestellte Bedeutung<br />

für die eigene Person stechen<br />

markant hervor. Je tiefer das<br />

Erlebte ging, desto klarer hält der<br />

Langzeitspeicher die ehemals geprägte<br />

Schablone bereit.<br />

Es können Jahre vergehen, bis auf<br />

diesen oben beschriebenen Wissenskomplex<br />

zurückgegriffen wird, wenn<br />

überhaupt. Natürlich gibt es die Möglichkeit,<br />

durch gezielte Aufmerksamkeit<br />

gewisse Erfahrungen zu erinnern.<br />

Dafür braucht es aber wiederum einen<br />

bewussten Anlass, um auf die Idee zu<br />

kommen, systematisch nach abgelegten<br />

Schablonen zu suchen. Die Herleitung<br />

erfolgt dann über den momentanen<br />

Lebensvollzug zum relevanten<br />

Lebensabschnitt, einer darin enthaltenen<br />

Episode, um dann vielleicht das<br />

darin enthaltene Erlebte finden zu<br />

können. Bei einem solchen Vorgehen<br />

wird das so Erinnerte mit der aktuellen<br />

Sicht der Dinge überschrieben und die<br />

ursprüngliche, damalige Wirklichkeit<br />

wird uminterpretiert und verblassen<br />

Stück für Stück. Eine neue und anders<br />

erinnerte vergangene Wirklichkeit entsteht.<br />

Anders die Erinnerung aus unbewusster<br />

Wahrnehmung. Hier werden<br />

alle aktuellen, relevanten Wahrnehmungen<br />

verarbeitet, indem die wesentlichen<br />

Eckpunkte mit ähnlichen<br />

Schablonen im Langzeitspeicher verglichen<br />

werden. In bekannten Situationen<br />

werden alle passenden Schablonen<br />

unbemerkt gefunden und, sofern<br />

keine Altschablone dabei ist, die bei<br />

ihrer Prägung als kritisch empfunden<br />

wurde, wird dieser Vorgang, zum Beispiel<br />

der aktuelle Flug, als ereignislos<br />

oder wenig herausfordernd bzw. als<br />

angenehm empfunden.<br />

Begeben wir uns jedoch in ein<br />

Szenario, welches in seinen Eckpunkten<br />

früher einmal bereits erlebt und als<br />

bedrohlich eingestuft worden ist, so<br />

wird das damals abgelegte, zur Situation<br />

passende Gefühl aktiviert, ohne<br />

dass wir womöglich eine akute Bedrohung<br />

bewusst wahrgenommen<br />

hätten. Wir spüren plötzlich ein ungutes<br />

Gefühl mit entsprechenden Reaktionen<br />

des Körpers 18 , ohne erkannt zu<br />

haben, was die Ursache dafür sein<br />

könnte.<br />

Spätestens jetzt ist es an der Zeit,<br />

auf diese Art der „intrapersonellen<br />

Kommunikation” zu hören und der<br />

Sache auf den Grund zu gehen.<br />

Vielleicht ist diese Körperreaktion der<br />

Situation angemessen, vielleicht aber<br />

auch nicht.<br />

So hatte z.B. ein Hubschrauberpilot<br />

im Rahmen eines Auslandseinsatzes<br />

an einer Koordinate im Gelände zu<br />

landen; täglich Brot, keine Herausforderung.<br />

Im Landeanflug stieg in dem<br />

steuerführenden LFF ein zunehmend<br />

ungutes Gefühl auf. Objektiv gab es<br />

nichts, was das begründet hätte. Der<br />

LFF erklärte sich und mit einiger Hilfe<br />

gelang es anschließend, der Sache auf<br />

den Grund zu gehen. Etwa 15 Jahre<br />

zuvor, während seiner fliegerischen<br />

Grundausbildung, hatte er ein Problem<br />

mit einer Landung an einem<br />

bestimmten Geländepunkt. Sein damaliger<br />

Fluglehrer entwickelte sich<br />

zum Teil seines Problems, immer wieder<br />

an der gleichen Stelle im gleichen<br />

Verfahren. Mit Abschluss der fliegerischen<br />

Ausbildung traten diese Probleme<br />

nie wieder auf. 15 Jahre später, im<br />

16 I/2002 FLUGSICHERHEIT


Rahmen des erwähnten Auslandseinsatzes,<br />

fand der LFF einen Geländeabschnitt<br />

vor, der dem seiner Problemphase<br />

im Rahmen seiner fliegerischen<br />

Ausbildung sehr ähnlich war. Seine<br />

unbewusste Wahrnehmung setzte das<br />

dem damals Erlebten angehaftete<br />

Gefühl frei und beeinflusste so das<br />

Wohlbefinden des LFF nachhaltig. Es<br />

gibt viele Beispiele für objektiv unbegründete<br />

Beunruhigung.<br />

Ungeachtet dessen überwiegen die<br />

Vorteile unbewusster Wahrnehmung,<br />

weil in den meisten Fällen situationsangemessene<br />

Schablonen abgelegt<br />

wurden. <strong>Das</strong> Sprachrohr unbewusster<br />

Wahrnehmung ist unsere Körperreaktion.<br />

Es gibt geteilte Meinungen darüber,<br />

wie und in welchem Umfang darauf<br />

gehört werden sollte. 19 Eines ist<br />

jedoch sicher: wer die Hinweise seines<br />

Organismus, die durch unbewusste<br />

Wahrnehmung hervorgerufen werden,<br />

nicht als Auslöser dafür nutzt,<br />

den Verstand einzuschalten, um der<br />

„Sache” systematisch auf den Grund<br />

zu gehen, der verzichtet auf die<br />

Einbeziehung eines wesentlichen Teils<br />

seiner Lebenserfahrung und verspielt<br />

so eine gute Chance, Grenzen früher<br />

erkennen und anerkennen zu können.<br />

Obwohl Grenzen anzuerkennen<br />

potentiell überlebenswichtig ist, wollen<br />

wir diese manchmal gar nicht wahr<br />

haben.<br />

<strong>Wahrnehmungs</strong>abwehr<br />

Die Hypothese der <strong>Wahrnehmungs</strong>abwehr<br />

besagt, dass für unangenehme<br />

<strong>Wahrnehmungs</strong>gegenstände<br />

die Erfassungsschwelle gegenüber<br />

neutralen erhöht ist. 20 Nach wissenschaftlichen<br />

Erkenntnissen bleibt<br />

das Konzept der <strong>Wahrnehmungs</strong>abwehr<br />

umstritten, weil man sich über<br />

die Jahre aus verschiedenen Gründen<br />

auf keinen allgemein anerkannten<br />

Testaufbau und auf keine allgemein<br />

gültige Theorie dazu einigen konnte.<br />

So bleibt eben doch ein Zweifel, ob es<br />

<strong>Wahrnehmungs</strong>abwehr unter den<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

oben zitierten Bedingungen gibt oder<br />

nicht.<br />

Schauen wir jedoch in unser tägliches<br />

Leben, so finden wir viele Beweise<br />

dafür, dass bestimmte, meist<br />

unangenehme Informationen in der<br />

Wahrnehmung und dem daraus resultierenden<br />

Verhalten, manchmal keine<br />

angemessene Wirkung zeigen.<br />

Der Volksmund deutet auch auf<br />

dieses Phänomen wenn er sagt: „Da<br />

musste ich doch noch Mal hinhören”,<br />

oder „als ich das sah, wollte ich meinen<br />

Augen nicht trauen”, oder als er<br />

davon hörte, dass sein „Entwurf”<br />

nicht akzeptiert wurde, „verdrehte er<br />

die Augen”, um nicht hinschauen zu<br />

müssen, denn „nicht sein kann, was<br />

nicht sein darf”.<br />

In der Fliegerei zeigt sich das Phänomen<br />

dergestalt, dass, obwohl viele<br />

Parameter auf innehalten und neubewerten,<br />

auf abbrechen und umkehren,<br />

oder auf Fragen nach Einschätzung<br />

anderer stehen, der Vorgang<br />

nicht neu bewertet, nicht abgebrochen<br />

und auch nicht neu diskutiert<br />

wird. Gute und wichtige, neue Informationen<br />

werden weder bewusst verarbeitet,<br />

noch unbewusst über Körperreaktionen<br />

zu Kenntnis genommen<br />

– Informationen, die man vor Antritt<br />

gerne gehabt und verarbeitet hätte.<br />

Hierin liegt ein Problemfeld, das an<br />

anderer Stelle ausführlicher erörtert<br />

wird. 21<br />

An dieser Stelle soll es genügen<br />

darauf zu verweisen, dass es so etwas<br />

wie <strong>Wahrnehmungs</strong>abwehr gibt und<br />

dass diese Abwehr vermutlich dazu<br />

dient, das „mentale Modell” 22 des<br />

Einzelnen zu schützen und zu stabilisieren.<br />

Niemand lässt gerne von seiner<br />

Vorstellung über die Welt, in der er<br />

sich gerade bewegt, los.<br />

Diese Vorstellung wird auch mit<br />

Energieeinsatz verteidigt und sie ist<br />

manchmal nachhaltig stärker als WAR-<br />

NINGS, CAUTIONS, sonstige deutlichen<br />

äußeren Hinweise, Anmerkungen<br />

und Zurufe – manchmal viel zu<br />

lange, um mit Flugbetrieb vereinbar zu<br />

sein.<br />

Eine Begründung dafür: Wir bleiben<br />

so gerne der einmal wahrgenommenen<br />

Situation verhaftet, weil uns<br />

die Evolution angemessen ausstattete,<br />

den jeweiligen Moment wahrzunehmen,<br />

jedoch nur sehr bedingt dafür<br />

ausstattete, eine Entwicklung in die<br />

Zukunft vorhersehen zu können. Ereignisse<br />

vorhersehen zu wollen, stellt<br />

sich regelmäßig als „Ressourcenfresser”<br />

dar.<br />

Aber <strong>Wahrnehmungs</strong>abwehr ist<br />

nicht die einzige Täuschung, der wir<br />

beim Vorgang der Wahrnehmung<br />

unterliegen können.<br />

<strong>Wahrnehmungs</strong>verzerrung<br />

Wie bereits mehrfach erwähnt, ist<br />

menschliche Wahrnehmung das Ergebnis<br />

eines Prozesses. Dabei ist es<br />

uns in aller Regel möglich, sofern es<br />

sich um bewusste Wahrnehmung<br />

handelt, den auslösenden Reiz zu<br />

identifizieren und, auf der anderen<br />

Seite, das Ergebnis, die Empfindung,<br />

also die Wahrnehmung zu beschreiben.<br />

Der Weg dorthin bleibt ein mehr<br />

oder weniger großes Rätsel.<br />

Alle physikalischen Reize, die<br />

Rezeptoren jenseits der Reizschwelle<br />

aktiviert haben, werden auf dem Weg<br />

zum Bewusstsein eingefärbt und für<br />

eine individuelle Wahrnehmung aufbereitet.<br />

Diese Aufbereitung hängt<br />

von vielen Faktoren ab, wie zum<br />

Beispiel der Lebenserfahrung, den<br />

Einstellungen, dem Temperament, den<br />

jeweiligen Motiven, der subjektiven<br />

Bedrohung usw. Die Vielfältigkeit<br />

möglicher Kombinationen solcher<br />

Faktoren ist so reichhaltig, wie es der<br />

Anzahl der Menschen dieser Erde entspricht.<br />

Daraus geht hervor, dass dann,<br />

wenn Zwei das Gleiche zur gleichen<br />

Zeit und nebeneinander beobachten,<br />

die jeweilige Wahrnehmung sehr<br />

wahrscheinlich unterschiedlich sein<br />

wird.<br />

Die Welt des einen ist nie zu 100%<br />

identisch mit der Welt des anderen.<br />

Diese Vorgänge sind normal und<br />

17


erklären, warum sich Menschen, insbesondere<br />

in kritischen Situationen<br />

auseinandersetzen und in bestimmten<br />

Fällen, z.B. im Bereich eines fliegerischen<br />

Umfeldes, auch auseinandersetzen<br />

müssen, damit angemessene<br />

Schablonen gefunden werden können.<br />

<strong>Wahrnehmungs</strong>verzerrungen gehen<br />

weiter als das bisher Geschilderte.<br />

Sie sind in ihrer Wirkung potentiell<br />

sehr gefährlich, weil sie kaum noch<br />

mit Realität vereinbar sind. <strong>Wahrnehmungs</strong>verzerrungen<br />

stellen sich<br />

beim gesunden Menschen regelmäßig<br />

ein, wenn sehr starke Grundemotionen<br />

vorherrschen und diese in einen<br />

Handlungsablauf mit hinübergenommen<br />

werden. Dabei spielt das Vorzeichen<br />

dieser Emotionen unter dem<br />

Aspekt Wahrnehmung, ob sie nun<br />

sehr positiv oder sehr negativ sind,<br />

qualitativ keine gravierende Rolle.<br />

Nehmen wir z.B. einen LFF. Während<br />

der überzogen positiv Eingestellte<br />

keinerlei Zweifel an der Vollkommenheit<br />

der eigenen Leistung hegt und<br />

auch nicht aufkommen lässt, dabei<br />

das Umfeld als optimalen Rahmen für<br />

sein Vorhaben identifiziert und ein<br />

grenzwertig geflogenes Manöver nach<br />

dem anderen fliegt, mit der Tendenz,<br />

die Leistungsdaten jenseits der Limits<br />

zu testen, wird der sehr stark negativ<br />

Eingestellte aus jeder Mücke einen<br />

Elefanten machen und dabei zu nicht<br />

angemessenen Entschlüssen kommen,<br />

die bis hin zur Angst vor der eigenen<br />

Courage führen können, z.B. der<br />

Angst davor, ein Notverfahren richtig<br />

anzuwenden.<br />

In allen Fällen ist <strong>Wahrnehmungs</strong>verzerrung,<br />

wenn diese durch starke<br />

Gefühle hervorgebracht wird, mit<br />

Flugbetrieb nicht vereinbar. Sie verhindert<br />

angemessene Wahrnehmung<br />

und so das frühzeitige Erkennen von<br />

Grenzen – sie tötet uns potentiell.<br />

<strong>Wahrnehmungs</strong>fixierung<br />

Fixierung ist eine Folge von Faszina-<br />

tion. Faszination stellt sich ein, wenn<br />

der wahrgenommene Informationsgehalt<br />

einer Nachricht so bedeutungsvoll<br />

ist, dass sich jegliche Aufmerksamkeit<br />

auf nur einen Punkt, auf<br />

nur eine Information richtet, um jede<br />

Weiterentwicklung des Beobachteten<br />

zeitgleich verfolgen zu können.<br />

Die Evolution hat uns mit dem<br />

Phänomen der Fixierung ausgestattet,<br />

um bedrohliche Situationen überstehen<br />

zu können. Wurde z.B. ein in der<br />

Nähe befindliches Raubtier fixiert, war<br />

in dieser Situation nicht anderes mehr<br />

wichtig. Raum und Zeit verloren an<br />

Bedeutung, es galt nur das Jetzt zu<br />

überstehen.<br />

Diese uns innewohnende Überlebensstrategie<br />

passt nur sehr selten in<br />

die moderne Zeit. Insbesondere dann,<br />

wenn wir Mittelpunkt eines Systems<br />

sind, das uns, weil etwas unvorhergesehenes,<br />

bedrohliches wahrgenommen<br />

wird, unmerklich veranlasst,<br />

einen Punkt, ein Instrument, eine Informationsquelle<br />

zu fixieren und sich<br />

dieses System zusätzlich mit relativ<br />

hoher Geschwindigkeit weiter bewegt,<br />

die Rahmenbedingungen des<br />

Umfeldes also ständig verändert werden.<br />

Fixierung bindet fast alle Ressourcen<br />

und reduziert alle anderen Fähigkeiten<br />

und Fertigkeiten. Fixierung reduziert<br />

die Wahrnehmung des Ganzen<br />

und reduziert unsere Fähigkeit,<br />

den Gesamtrisiken angemessen begegnen<br />

zu können.<br />

Jemanden aus einer Fixierung herauszuholen,<br />

der sich nicht selber lösen<br />

kann, ist unglaublich schwierig, weil<br />

kaum Zugang zu ihm zu finden ist und<br />

der Betroffene einer völligen Desorientierung<br />

unterliegen kann, wenn<br />

er versucht, mental und emotional<br />

wieder zum Geschehen aufzuschließen.<br />

Deshalb gilt es auch hier, Kontrolle<br />

auszuüben. <strong>Das</strong> geschieht am besten,<br />

wenn jegliche Art von Faszination<br />

mitgeteilt wird, um, in der Auseinandersetzung<br />

mit anderen, weitere<br />

Einengungen zu vermeiden und weiterhin<br />

am Gesamtgeschehen agieren<br />

zu können. Gibt es niemanden, mit<br />

dem ich mich austauschen kann, dann<br />

gilt um so mehr, das mögliche Problem<br />

einer Fixierung mit ihren Wirkungen<br />

zu kennen und durch<br />

Selbstinstruktion 23 den Weg aus diesem<br />

Bann zu finden.<br />

In diesem Zusammenhang stellt sich<br />

eine interessante Frage: Was ist noch<br />

normales „scanning” und ab wann<br />

beginnt „Fixierung”? Im nächsten<br />

Abschnitt soll der Versuch einer<br />

annähernden Abgrenzung vorgenommen<br />

werden.<br />

<strong>Das</strong> <strong>Wahrnehmungs</strong>intervall<br />

Unsere Sinne nehmen Reize auf,<br />

indem sie Differenzmessungen / Kontrastmessungen<br />

durchführen. Bleiben<br />

Kontraste aus, wird nichts weitergeleitet<br />

und daher auch nicht wahrgenommen.<br />

24 Jeder gemessene Reiz<br />

schwingt am Ort der Messung für eine<br />

bestimmte Zeit nach. Die Zeiten liegen<br />

zwischen einem visuellen Reiz von ca.<br />

0,25 sec, bis zu 3 sec beim akustischen<br />

Reiz. Hier wird bereits nach Bedeutungskriterien<br />

vorgefiltert. Für die<br />

meisten Reize gilt die unbewusste<br />

Wahrnehmung. Diese Einzelheiten sollen<br />

nicht weiter vertieft werden.<br />

Es bleibt die Frage, ob dieses<br />

Verweilen am Geschehen auch für<br />

unser Bewusstsein gilt.<br />

Um es kurz zu machen, sie ist mit Ja<br />

zu beantworten. Auch unser Bewusst-<br />

18 I/2002 FLUGSICHERHEIT


sein verharrt in der Situation und<br />

erlebt dabei Gegenwart.<br />

In der Bewusstseinsgegenwart, in<br />

der wir unsere Umwelt erfassen und<br />

bewerten, bestimmen wir die Lebensqualität.<br />

Die Bewusstseinsgegenwart<br />

findet in 2 - 3-Sekundenpäckchen<br />

statt. Wir kennen diese Zeitabschnitte<br />

aus dem täglichen Leben wie z. B.:<br />

- der feste Blick in die Augen des<br />

anderen beim ersten Kennenlernen,<br />

- das Verharren in der Bewegung<br />

bei einer unglaublichen Nachricht,<br />

- das labende Gefühl beim ersten<br />

tiefen Schluck,<br />

- der erste Blick auf ein schönes<br />

Geschenk,<br />

- das Innehalten, unmittelbar bevor<br />

man die letzte richtige Zahl im<br />

Lotto gehört hat (kennt vielleicht<br />

noch nicht jeder).<br />

Beleg für diesen individuellen<br />

Zeitabschnitt, in dem wir Sinneseindrücke<br />

zusammenhängend erfassen<br />

können, ist der Wandel des Kippmodells<br />

25 (Neckerscher Würfel).<br />

Für uns ist es von Bedeutung, in<br />

beanspruchenden Situationen Informationen<br />

möglichst ohne Zeitverlust<br />

ins Bewusstsein des anderen einzufügen.<br />

Deshalb sollten Informationen<br />

korrekt, präzise und in 2-Sekundenpäckchen<br />

übermittelt werden.<br />

<strong>Das</strong> funktioniert nicht von selbst, sondern<br />

nur nach einem entsprechenden<br />

Training. Nähere Ausführungen dazu<br />

im Rahmen der Themen Kommunikation<br />

und Stress.<br />

Die Betrachtung des <strong>Wahrnehmungs</strong>intervalls<br />

gibt einen Hinweis<br />

darauf, wie sich der Übergang von<br />

Wahrnehmung zur Fixierung zeigt.<br />

Verweilen wir länger als die erforderliche<br />

Zeit, um Sinneseindrücke<br />

einmal zusammenhängend erfassen<br />

zu können (2-3 Sekunden),<br />

besteht die Gefahr der Fixierung<br />

mit all den negativen und gefährlichen<br />

Erscheinungen, die oben beschrieben<br />

worden sind. Daraus lassen sich<br />

Verhaltensstrategien ableiten.<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

Zusammenfassung<br />

Ohne Wahrnehmung ist kein bewusstes<br />

Leben möglich. Wahrnehmung<br />

ermöglicht es uns, auf alle<br />

Anforderungen des täglichen Lebens<br />

angemessen zu reagieren. Dennoch<br />

kann uns Wahrnehmung in die Irre<br />

führen, weil uns die Evolution nicht<br />

primär für ein Überleben in einer<br />

modernen, hoch technisierten Umwelt<br />

geformt hat.<br />

Kennen wir jedoch die wichtigsten<br />

Grenzen und Falltüren menschlicher<br />

Wahrnehmung, sind wir sehr wohl in<br />

der Lage, Grenzen frühzeitig zu erkennen<br />

und auf die Anforderungen des<br />

modernen Lebens angemessen zu reagieren.<br />

<br />

1 Zeitlich-, räumlich- selbstbezogene Orientiertheit<br />

2 Exzerpt aus: Guski, Rainer Wahrnehmen – ein<br />

Lehrbuch / W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart<br />

1996<br />

3 Div. Definitionen und Abgrenzungen aus der<br />

Fachliteratur.<br />

4 Krech/Crutchfield, Grundlagen der Psychologie,<br />

Beltz-Verlag<br />

5 Gadenne, Volker, Bewusstsein, Kognition und<br />

Gehirn / Verlag Hans Huber, Bern 1996<br />

6 <strong>Das</strong> limbische System wird auch als emotionaler<br />

Filter bezeichnet. Es verarbeitet Reize aus dem<br />

Körperinneren und solche von außen und bildet<br />

daher das Verbindungselement zwischen dem<br />

Bewussten und dem Unbewussten.<br />

7 Die ersten systematischen Experimente zur<br />

Wirkung eines solchen Reizentzuges (sensorischer<br />

Deprivation) führte ein Forschungsteam unter<br />

Leitung des kanadischen Psychologen Donald O.<br />

Hebb 1951 – 1954 durch.<br />

8 U.a. nach Legewie, Heiner und Ehlers,<br />

Wolfram: Handbuch moderne Psychologie /<br />

Bechtermünz Verlag.<br />

9 auch im täglichen Leben können diese<br />

Phänomene, meist in abgeschwächter Form,<br />

beobachtet werden, wenn Menschen extremer<br />

Reizarmut und Monotonie ausgesetzt sind, wie<br />

z.B. beim Liegen in einem großen Gipsverband,<br />

Nachtfahrten auf schwach befahrener Autobahn,<br />

Höhen- und Weltraumflüge, in Kontrollräumen<br />

der automatisierten Industrie, Grubenunglücke.<br />

Aber auch Überführungsflüge, späte Nachtflüge<br />

überland, TWR-Personal zwischen den Phasen<br />

Start und Landung.<br />

10 Siehe auch: „Menschliche Kapazitäten –<br />

Aktivation”<br />

11 „binary digits” dienen, wie in der Informatik, der<br />

Angabe von Speicher- und<br />

Informationsverarbeitungskapazitäten<br />

12 siehe auch: „Aufmerksamkeit”<br />

13 Gadenne, Volker, s.o.<br />

14 Natürlich mussten diese Automatismen in einem<br />

früheren Stadium erlernt und trainiert worden<br />

sein, bevor sie automatisiert und ohne spürbaren<br />

Ressourcenverbrauch aktiviert werden können.<br />

15 Perrig, Walter J. ...: Unbewusste<br />

Informationsverarbeitung / Verlag Hans Huber,<br />

Bern 1993<br />

16 Dörner, Dietrich: Die Logik des Misslingens /<br />

Rowohlt Verlag, Reinbeck 1992.<br />

17 Polany: Implizites Wissen 1985<br />

18 Die körperlichen Reaktionen sind mit denen einer<br />

hohen Aktivation vergleichbar; siehe dazu:<br />

„menschliche Kapazitäten – Aktivation”.<br />

19 Im Rahmen von CRM-Seminare/ -Trainings wurde<br />

von einigen Teilnehmern immer wieder das<br />

Argument vorgetragen, dass nur der bewusste<br />

Verstand zähle, Emotionen und Körperreaktionen<br />

seien hinderlich und unnütz.<br />

20 Perrig, Walter J. ...:s.o.<br />

21 Siehe auch: „Entscheidungsfindung – Rubikon”.<br />

22 <strong>Das</strong> mentale Modell eines Menschen umfasst folgende<br />

Wissensbereiche: fünf sinnspezifische,<br />

räumliche, prozedurale und konzeptuelle<br />

Wissensformen, die zusammen ein Bild von der<br />

umgebenden Umwelt projizieren.<br />

23 Auch wenn es seltsam erscheinen mag, hier ist<br />

das Selbstgespräch eine gute Methode, der drohenden<br />

Gefahr zu entrinnen. Natürlich braucht es<br />

auch hier wieder bekannte Grenzen, die, wenn<br />

ich sie überschreite, einen „mentalen Schalter”<br />

bewegen, der die Selbstinstruktion auslöst und<br />

eine systematische Erfassung des Gesamten wiederherstellt.<br />

24 Siehe auch: „Menschliche Kapazitäten –<br />

Aktivation”.<br />

25 Bei entspannter Betrachtung kippt die<br />

Wahrnehmung der vorderen Fläche.<br />

19


Aufmerksamkeit 1<br />

Grundlagen<br />

Wer kennt das nicht? Eine Person<br />

betritt einen Raum in einem Gebäude<br />

und kommt wieder heraus. Auf die<br />

Frage, „Was hast du alles in dem<br />

Raum, aus dem du gerade herausgekommen<br />

bist, gesehen?” antwortet<br />

sie: „Der von mir Gesuchte war nicht<br />

da. Was sonst noch los war, habe ich<br />

nicht gesehen!”<br />

Bei dem betreffenden Raum handelt<br />

es sich um den Restaurantteil<br />

einer Gaststätte zur Mittagszeit, voller<br />

Aktivitäten, Gerüchen und Geräuschen,<br />

und dennoch war die beschriebene<br />

Person nicht in der Lage, Einzelheiten<br />

wiederzugeben, die dort durchaus<br />

hätten wahrgenommen werden<br />

können.<br />

Eine andere Person antwortet auf<br />

der Grundlage des gleichen Szenarios<br />

vielleicht: „Eigentlich hätte ich dort<br />

etwas essen wollen, aber nachdem ich<br />

die ungepflegte Gestalt an der Theke<br />

gesehen hatte, war mir der Appetit<br />

vergangen. Wer hinter der Theke<br />

stand, wer dort bediente und ob alle<br />

Tische belegt waren, kann ich nicht<br />

sagen. Darauf habe ich nicht geachtet.”<br />

Dann, nach einer kurzen Pause:<br />

„Die Ausgangstür geht aber nach<br />

innen auf.”<br />

Was ist hier geschehen? Warum<br />

konnten so einfach klingende Fragen<br />

zur Wahrnehmung nicht beantwortet<br />

werden? An anderer Stelle 2 wurde<br />

doch u.a. davon gesprochen, dass der<br />

Mensch in der Lage sei,<br />

in komplexen und großen Datenmengen<br />

sehr schnell logische<br />

Zusammenhänge zu erkennen<br />

und belangloses „Rauschen” zu<br />

filtern,<br />

sein Gedächtnis, ausgerichtet auf<br />

zusammenhängende Datenpakete,<br />

zu gliedern,<br />

verschiedenste Sinneseindrücke<br />

frei miteinander zu verknüpfen.<br />

Wir werden auf diesen scheinbaren<br />

Widerspruch zurück kommen.<br />

Der physiologische Teilaspekt einer<br />

Wahrnehmung könnte detailliert beschrieben<br />

werden, da blieben keine<br />

Fragen offen. Anders, wie wir wissen,<br />

der Vorgang einer Wahrnehmung insgesamt.<br />

Dieser kann plakativ durchaus auch<br />

mit einer Fernsehübertragung verglichen<br />

werden, bei der ebenso der technische<br />

Teilaspekt der Entstehung des<br />

Bildes bis hin zur Mattscheibe auf dem<br />

Empfangsgerät verfolgt und erklärt<br />

werden könnte. Andere, nicht minder<br />

wichtige Informationen jedoch, blieben<br />

im Verborgenen. Wie z.B. die<br />

Beantwortung der Fragen, um im Bild<br />

einer Fernsehübertragung zu bleiben:<br />

Wer war der Programmdirektor,<br />

20 I/2002 FLUGSICHERHEIT


wer der Regisseur, wer der Kameramann?<br />

Wer hat demnach die Szene ausgewählt,<br />

die Beleuchtung geregelt<br />

und für die Scharfeinstellung<br />

gesorgt?<br />

Allgemein ausgedrückt: Wodurch<br />

wird bestimmt, was aus der Flut der<br />

Umweltreize für die bewusste Informationsverarbeitung<br />

ausgewählt wird,<br />

um sich im jeweiligen Umfeld zurecht<br />

zu finden?<br />

Die folgenden Ausführungen sollen<br />

Hintergründe aufhellen und sich der<br />

Beantwortung der Frage nähern,<br />

warum wir alle manchmal sehr aufmerksam<br />

sind und warum wir es<br />

manchmal nicht sind, obwohl die<br />

Ereignisse dies objektiv notwendig<br />

machen, um überhaupt erst in die<br />

Lage versetzt zu werden, Grenzen<br />

anerkennen zu können.<br />

Warum nutzen wir nicht immer<br />

unsere Kapazitäten angemessen,<br />

sachorientiert und zielgerichtet,<br />

sonder vergeuden dieses wertvolle<br />

Gut bisweilen zur falschen Zeit für<br />

Belanglosigkeiten?<br />

Dazu nun einige grundlegende<br />

Feststellungen.<br />

Aufmerksamkeit und<br />

Kapazitäten<br />

Es stellt sich die Frage, ob Aufmerksamkeit<br />

einen Denk- und Problemlösungsprozess<br />

darstellt, oder, ob sie<br />

etwas anderes ist. Wir kennen die<br />

Ausrufe „gib Acht!”, oder „konzentrier<br />

dich!” Was ist damit<br />

eigentlich gemeint?<br />

Umgangssprachlich bedeuten<br />

diese Ausrufe:<br />

tue das, was jetzt nötig ist,<br />

bleibe bei der Sache,<br />

erkenne Abweichungen,<br />

priorisiere,<br />

denke logisch,<br />

handele nach Konzept, usw.<br />

Es könnte der Eindruck entstehen,<br />

dass Aufmerksamkeit eine<br />

Ressource menschlicher Kapazitäten<br />

an sich sei. Dem ist jedoch<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

nicht so, denn Aufmerksamkeit „verwaltet”<br />

lediglich Ressourcen und<br />

weist dem <strong>Wahrnehmungs</strong>geschehen<br />

Kapazitäten zu.<br />

Aufmerksamkeit kann jedoch nur jene<br />

Kapazitäten bzw. Ressourcen verwalten<br />

und zuweisen, die verfügbar sind.<br />

Insofern ist es unsinnig, jemand<br />

aufzufordern, sich zu konzentrieren 3 ,<br />

wenn die Kapazitäten 4 des zu mehr<br />

Konzentration Aufgeforderten, für<br />

eine umfassendere, angemessene<br />

<strong>Wahrnehmungs</strong>dichte nicht mehr hinreichen.<br />

Wenn es denn so ist, das es sich bei<br />

der Verteilung von Aufmerksamkeit<br />

um einen quasi willentlichen Vorgang<br />

handelt, bei dem der Einzelne „irgendwie”<br />

entscheidet, was er in den Fokus<br />

seines Bewusstseins rückt, bleibt es<br />

zunächst unverständlich, dass eine<br />

sachgerechte Priorisierung nicht immer<br />

vorgenommen zu werden scheint und<br />

wichtige, elementare Informationen,<br />

die durchaus Grenzen objektiv und<br />

deutlich aufzeigen, zu spät oder gar<br />

nicht beachtet werden. Auch dafür<br />

gibt es Erklärungen, die einige der<br />

Geheimnisse um Aufmerksamkeit und<br />

deren Zuteilung lüften können.<br />

Wir wollen den Versuch unternehmen,<br />

diese Erklärungen zu finden und<br />

plausibel in Szene zu setzen. Es geht<br />

jedoch nicht ganz ohne Abgrenzungen<br />

und Definitionen.<br />

Definitionen<br />

Aufmerksamkeit ist kein Denk- und<br />

Problemlösungsprozess, gleichwohl ist<br />

sie Voraussetzung dafür und somit<br />

wesentlicher Teilaspekt des Denkens.<br />

Gleichzeitig ist sie unabdingbar für die<br />

meisten Vorgänge, die auf<br />

Gedächtnisinhalte zurückgreifen, wie:<br />

allen Informationsverarbeitungsprozessen,<br />

der Wahrnehmung,<br />

der Nutzung des Gedächtnisses,<br />

der Vorstellungskraft,<br />

der Sprache, usw.<br />

Aufmerksamkeit hat eine aktive<br />

und eine passive Seite und stellt sich<br />

nach einer entsprechenden „Voraktivierung”<br />

ein. Diese Aspekte werden<br />

weiter unten ausführlich dargestellt.<br />

Aufmerksamkeit kann nach Bedarf<br />

flexibel eingesetzt werden und kann<br />

zur subjektiv empfundenen gleichzeitigen<br />

Bearbeitung mehrerer Aufgabenstellungen<br />

herangezogen werden.<br />

Dennoch müssen die Kapazitäten,<br />

wie bereits erwähnt, für die Aufgabenstellung<br />

ausreichen, sonst kommt<br />

es zu Leistungseinbußen. Damit ist<br />

gemeint, dass genügend Ressourcen<br />

bzw. Kapazitäten in ausreichender<br />

Qualität bereitstehen müssen, damit<br />

die Aufmerksamkeit aus diese zurückgreifen<br />

kann.<br />

Aufmerksamkeit kann verschüttete<br />

Ressourcen nicht reaktivieren.<br />

Somit ist das Bereithalten<br />

von Ressourcen der wesentlichere<br />

Bestandteil bei der Diskussion um<br />

Aufmerksamkeit.<br />

Wer in der Aktivationskurve 5 sehr<br />

weit rechts angelangt ist, der wird seinen<br />

Aufmerksamkeitsfokus auf keine<br />

21


zusätzlichen Informationsquellen gewinnbringend<br />

richten können, er wird<br />

keiner angemessenen Interpretation<br />

mehr fähig sein, er wird zunehmend<br />

das berechtigte Gefühl haben, die<br />

Kontrolle zu verlieren – ein unangenehmes,<br />

stressförderndes Gefühl der<br />

erlebten Hilflosigkeit!<br />

Warum dringen Informationen, die<br />

ein Umfeld ständig auch oberhalb der<br />

messbaren Reizschwelle an den Rezeptoren<br />

der Sinne abliefert und<br />

davon insbesondere die wichtigste<br />

Information, nämlich Feedback 6 , nicht<br />

weiter vor? Wo gehen sie verloren,<br />

wenn sie doch da sind?<br />

Die Ein-Kanal-<br />

Hypothese<br />

Unser Organismus ist unter dem<br />

Aspekt sensorischer Sensibilität so ausgestattet,<br />

dass eine Vielzahl von<br />

Reizen registriert und weitergeleitet<br />

wird. Allein über das menschliche Ohr,<br />

seine Augen und Haut 7 können sensorisch<br />

insgesamt ca. 10 9 Bits/sec aufgenommen<br />

und weitergeleitet werden.<br />

Diese Vielzahl an Informationen<br />

könnte zu einer Vielzahl von Reaktionen<br />

führen. Es ist jedoch nicht sinnvoll,<br />

auf alle Inputs mit Reaktionen zu antworten,<br />

weil dies zu einem übersensiblen,<br />

andauernden Reiz-Reaktions-<br />

Muster des Verhaltens führen würde.<br />

<strong>Das</strong> mag für primitive Lebensformen<br />

überlebenswichtig sein, ein Mensch<br />

könnte so nicht Mensch sein.<br />

Dennoch werden alle Informationen,<br />

Reize bzw. Gegenreize 8 einer<br />

bestimmten Intensität im Bereich des<br />

Stammhirns aufgenommen 9 . Ein<br />

Mensch kann in seinem Bewusstsein<br />

nur einen Reiz nach dem anderen Reiz<br />

verarbeiten. Alle Reize müssen sich,<br />

bildlich gesprochen, in einer Reihe<br />

anstellen, um Beachtung zu finden.<br />

Zwar dauert eine „Zuwendung” des<br />

Bewusstseins zu einer einzelnen Information,<br />

unter Abzug aller Wegund<br />

Dämpfungszeiten, lediglich ca.<br />

0,1 sec. Dennoch ist diese an sich<br />

kurze Zeitspanne zu lang, um der Flut<br />

an Reizen Herr zu werden. Ein zweiter<br />

Reiz, der während der Verarbeitung<br />

des ersten Reizes auftritt, muss warten,<br />

bis der erste Reiz „verdaut” worden<br />

ist. In der Zwischenzeit hält sich<br />

der zweite Reiz in seinem Sensor<br />

bereit. Dauert es, zwischen Impulsbzw.<br />

Reizaufnahme und dem Abruf<br />

dieser Information durch das Bewusstsein,<br />

länger, als der Sensor in der<br />

Lage ist, den Reiz zwischenzuspeichern,<br />

ist dieser Reiz bzw. diese<br />

Information verloren.<br />

Die Menge an sensorischer<br />

Speicherkapazität wird Aufmerksamkeitsspannweite<br />

10 genannt und variiert<br />

je nach Sinnesorgan und Intensität<br />

der Zuwendung, liegt aber durchschnittlich<br />

in einem Bereich von<br />

7 (+/- 2) Einzelobjekten.<br />

Die Evolution hat uns mit einem<br />

<strong>Wahrnehmungs</strong>apparat ausgestattet,<br />

der mit einem „Flaschenhals” an bewusster<br />

Informationsverarbeitungskapazität<br />

ausgestattet wurde. <strong>Das</strong><br />

mag man bedauern, entspricht aber<br />

der Realität und deshalb ist es Unsinn,<br />

dagegen anarbeiten zu wollen. Wir<br />

haben uns damit zu arrangieren.<br />

Wenden wir uns den positiven<br />

Aspekten des „Flaschenhalses” zu,<br />

denn es gibt sie und diese positiven<br />

Aspekte machen uns zu dem, was wir<br />

sind – Menschen mit Bewusstsein und<br />

Plänen.<br />

Der Flaschenhals zwingt dazu,<br />

bewusst genau auszuwählen, was,<br />

wann, unter welchen<br />

Bedingungen in das Bewusstsein<br />

vordringen darf. Der Flaschenhals<br />

zwingt uns zur Priorisierung und so<br />

erreichen wir es im Prinzip, dass wir<br />

nur das tun, was jetzt wichtig ist und<br />

was deshalb wiederum die beste<br />

Voraussetzung für den nächsten<br />

Schritt sein kann. So werden wir in die<br />

Lage versetzt, unangemessene Ablenkungen<br />

auszublenden und konsequent<br />

„bei der Sache” zu bleiben.<br />

<strong>Das</strong> Ganze findet natürlich nicht<br />

isoliert, sondern in einem sich fortschreibenden<br />

Umfeld statt. <strong>Das</strong> heißt,<br />

dass der Flaschenhals einzelne<br />

Informationen in das Bewusstsein entlässt,<br />

die dort eine vorhandene Vorstellung<br />

über die Wirklichkeit ergänzen<br />

und fortschreiben.<br />

Diese Information trifft also auf<br />

mehr oder weniger erwartete Informationen.<br />

Sofern beide in akzeptablen<br />

Grenzen übereinstimmen, das Feedback<br />

des Umfeldes also den Erwartungen<br />

weitestgehend entspricht, kann<br />

nun gemäß Planung weiter verfahren<br />

werden. Allenfalls werden kleinere<br />

Korrekturen erforderlich, aus denen<br />

heraus sich wiederum ein neues<br />

Erwartungsspektrum entwickelt.<br />

Wir bestimmen also durch ganz<br />

persönliche Entscheidung, was<br />

unser Bewusstsein erreicht und<br />

was nicht. Hier liegt das eigentliche<br />

Problem. Wollen wir die weiter oben<br />

erwähnten und eingeklagten unersetzbaren<br />

menschlichen Fähigkeiten<br />

optimal, oder vielleicht besser gesagt,<br />

22 I/2002 FLUGSICHERHEIT


I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

menschengerecht nutzen, müssen die<br />

der jeweiligen Situation angemessenen<br />

„Zugangspforten” geöffnet werden,<br />

bevor die Signale der bedrohlichen<br />

Situation einer<br />

Grenzüberschreitung so stark werden,<br />

dass eine Kontrolle kaum noch möglich<br />

ist. <strong>Das</strong> heißt, dass ich mir im klaren<br />

darüber sein muss, was mich<br />

erwarten kann und wie ich darauf zu<br />

reagieren gedenke.<br />

Dabei bedarf es natürlich auch<br />

noch einer zusätzlichen Bewertung<br />

der zu erwartenden Risiken hinsichtlich<br />

ihres Bedrohungsgehaltes, um<br />

auch hier die bedrohlichsten Risiken<br />

zuerst erkennen zu können, bzw. ein<br />

bedrohlicheres Risiko in den Vordergrund<br />

meines Bewusstseins tritt,<br />

sobald es im Raume steht. Es sind also<br />

nicht nur Zugangspforten in inhaltlicher<br />

Sicht, sondern auch noch unter<br />

hierarchischen Gesichtspunkten zu<br />

öffnen.<br />

Aufmerksamkeit ist demnach<br />

niemals umfassend, sondern<br />

immer selektiv – wir sind unser<br />

eigener Regisseur und bestimmen<br />

das Szenario unserer Wahrnehmung<br />

durch die Steuerung<br />

unserer Aufmerksamkeit.<br />

<strong>Das</strong> hört sich alles sehr kompliziert<br />

an, jeder von uns praktiziert dies<br />

jedoch zu jedem Zeitpunkt seines<br />

Verhaltens – leider nicht immer den<br />

Herausforderungen einer Situation<br />

angemessen. Da liegt die eigentliche<br />

Problematik.<br />

Im Folgenden soll, neben den<br />

Fragen, durch was kommt es eigentlich<br />

zu der, gemäß obiger Grafik, wundersamen<br />

Vermehrung an Informationsgehalt<br />

von ≤ 10 2 Bits/sec im<br />

Flaschenhals zu 10 7 Bits/sec, die wir<br />

über Sprache, allgemeine Motorik und<br />

Mimik 11 wieder an unsere Umwelt<br />

abgeben und über welche „kleinen<br />

Helfer in der Not” wir noch verfügen,<br />

weiter nachgegangen werden.<br />

Zunächst zu der Frage, was steuert<br />

unseren Aufmerksamkeitsfokus generell,<br />

ohne unser Zutun, also eher unbewusst?<br />

Aufmerksamkeitssteuerung<br />

Vier Größen 12 nehmen auf den<br />

Kontroll- und Verteilungsprozess der<br />

Aufmerksamkeitskapazität direkten<br />

Einfluss:<br />

Die subjektiv empfundene<br />

Anstrengung.<br />

Je höher die Ablehnung entwickelt<br />

ist, eine bestimmte Handlung<br />

auszuführen, desto schwerer<br />

wird es empfunden, dagegen<br />

anzuarbeiten. Hier im Konkreten,<br />

Aufmerksamkeit für etwas zu<br />

verwenden, was einem unwichtig,<br />

oder abwegig, aber auch<br />

nicht wünschenswert erscheint.<br />

Die noch vorhandene Kapazität.<br />

Aufmerksamkeit bedient sich<br />

einer Verteilungsinstanz der Kontrolle<br />

und flexiblen Verteilung der<br />

Ressourcen. Jedoch nur jener Ressourcen,<br />

die (noch) vorhanden<br />

sind<br />

Überdauernde Einstellungen.<br />

Schnellbewertungen, die nicht<br />

durch systematische Analyse,<br />

sondern über die individuelle Einstellungen<br />

und deshalb prinzipiell<br />

vorgenommen werden, führen<br />

zu einer sehr auswählenden,<br />

Abweichendes ignorierenden<br />

Aufmerksamkeitszuwendung.<br />

Dabei kann leichtfertig wichtiges<br />

Feedback ignoriert werden.<br />

Momentane Ziele.<br />

Objekte und Vorgänge im weiteren<br />

Sinne, die der eigenen Zielerreichung<br />

dienen, werden vorrangig<br />

mit Aufmerksamkeit bedacht.<br />

Dabei kann es zu einem<br />

Zielkonflikt kommen, bei dem<br />

eine mögliche Fernwirkung, z.B.<br />

„wie sage ich es meinem Vorgesetzten?”<br />

wichtiger wird, als die<br />

Beantwortung der Frage: „was ist<br />

sachlich jetzt notwendig?”.<br />

Damit wird die einmal aktivierbare<br />

Ressource „Analysefähigkeit”<br />

für Inhalte verbraucht, die in der<br />

momentanen, vielleicht lebensbedrohenden,<br />

Situation vermutlich<br />

relativ unwichtig sind.<br />

Aus dieser Aufstellung wird deutlich,<br />

dass auch die Aufmerksamkeit,<br />

gerade weil sie in der Lage ist, in groben<br />

Kategorien die Hinwendung einer<br />

Person zu einem Problemfeld zu<br />

beeinflussen, in der Lage ist, das Überleben<br />

unter komplexen Bedingungen<br />

zu ermöglichen.<br />

In Situationen realer Bedrohung,<br />

aber auch potentieller Gefährdung,<br />

kommt es jedoch darauf an,<br />

sich nicht treiben zu lassen,<br />

sich nicht momentanen Bedürfnissen<br />

uneingeschränkt hinzugeben,<br />

nicht Vorurteile zu pflegen, oder<br />

nicht einer unangemessenen<br />

„Normentreue” 13 verhaftet zu<br />

sein.<br />

Es kommt also darauf an, Aufmerksamkeit<br />

dorthin zu steuern, wo der<br />

Brennpunkt des uns Grenzen aufzeigenden<br />

Geschehens liegt. <strong>Das</strong> kann,<br />

wie bereits erwähnt, unbewusst und<br />

auch bewusst geschehen.<br />

Unbewusste<br />

Aufmerksamkeit<br />

Der wesentlich größere Teil der<br />

Aufmerksamkeitsdiskussion müsste<br />

der unbewussten Aufmerksamkeit<br />

gewidmet werden, wenn die Menge<br />

an Aufmerksamkeitsvorgängen der<br />

Maßstab wäre.<br />

Alle verhaltensbezogenen Automatismen<br />

werden durch unbewusste<br />

Aufmerksamkeit kontrolliert und ausgelöst.<br />

Unser waches Bewusstsein<br />

könnte die Datenflut nicht verwalten,<br />

ohne hoffnungslos ins Hintertreffen zu<br />

geraten. Insofern ist unbewusste Aufmerksamkeit<br />

unabdingbar für die<br />

Ausführung komplexer Handlungen.<br />

Sie funktioniert, vereinfacht ausgedrückt,<br />

indem Soll-Ist-Vergleiche unterhalb<br />

der Ebene wacher Bewusstheit<br />

stattfinden. <strong>Das</strong> muss erklärt werden.<br />

Aus Erfahrungen ehemaliger Lernprozesse<br />

wurden Umrissschablonen<br />

des substantiellen Gehalts des Gelern-<br />

23


ten abgelegt 14 . Diese Schablonen liegen<br />

nicht nur im Langzeitspeicher<br />

unseres Gehirns, sondern auch im<br />

Nahbereich jener Stellen, die mit der<br />

Reizaufnahme während des Lernprozesses<br />

befasst waren 15 .<br />

Diesem Phänomen ist es zu verdanken,<br />

dass wir z.B. unser Lfz auch ohne<br />

Beleuchtung anlassen oder abstellen<br />

könnten, weil der jeweils nächste<br />

Schritt, die nächste Tätigkeit eines<br />

Handlungsabschnitts, räumlich und<br />

inhaltlich durch Motorik erinnert wird.<br />

Ist vielleicht im Rahmen der Modifizierung<br />

einer Cockpitauslegung ein<br />

Schalter umgesetzt worden, wird der<br />

Arbeitsfluss unterbrochen. Der Soll-Ist-<br />

Vergleich zwischen der unbewusst<br />

erwarteten Position des betreffenden<br />

Schalters und der realen Auslegung an<br />

der entsprechenden Stelle, stoppt den<br />

flüssigen Ablauf aller Handgriffe.<br />

Automatisch wird aus unbewusster<br />

Aufmerksamkeit, bewusste Aufmerksamkeit<br />

und wir lenken den Fokus<br />

unserer Wahrnehmung auf die betreffende<br />

Stelle.<br />

Auch und gerade unbewusste Aufmerksamkeit<br />

überwacht Grenzen und<br />

„weckt” uns bei Bedarf. Erst dann,<br />

wenn das Bewusstsein eingeschaltet<br />

wurde, spüren wir, dass Ressourcen<br />

verbraucht werden, weil die Aufmerksamkeit<br />

jetzt Wahrnehmung und<br />

Analyse von anderen Bereichen abzieht<br />

und an die betreffende Stelle<br />

lenkt. Unbewusste Aufmerksamkeit<br />

verbraucht subjektiv keine Ressourcen<br />

16 und läuft, solange man körperlich<br />

und geistig fitt ist, gleichsam unmerklich<br />

ab. Der Grund für dieses<br />

System der Aufmerksamkeitszuwendung<br />

liegt darin, dass ein <strong>Wahrnehmungs</strong>prozess<br />

mit begrenzter<br />

Aufmerksamkeitsspanne für den<br />

Organismus nur dann von Nutzen sein<br />

kann, wenn er sich trotz alledem sehr<br />

flexibel an eine Vielzahl von Umweltbedingungen<br />

und Bedürfnissen<br />

anpassen kann. <strong>Das</strong> heißt, dass ein<br />

momentan ablaufender Bewusstseinsprozess,<br />

jederzeit bei Gefahr unterbrochen<br />

und durch einen neuen ersetzt<br />

werden können muss. Die Evolution<br />

hat uns damit ausgestattet, wenn<br />

auch nur nach dem Ein-Kanal-Modell.<br />

Damit sind unbewusste Reaktionen<br />

gemeint, wie z.B.:<br />

Die Blickwendung hin zu einem<br />

Lichtimpuls.<br />

Die Wendung der Augen in die<br />

linke oder rechte Hälfte des<br />

Gesichtfeldes nach Änderung der<br />

Geräuschkulisse.<br />

Die Hinwendung zu einem<br />

Luftzug.<br />

Die Unruhe bei bestimmten Gerüchen.<br />

Diese Vorgänge dienen der Orientierung<br />

und sind kaum kontrollierbar.<br />

Je nach Ausprägungsgrad und Intensität<br />

des jeweiligen Reizes, sind die<br />

Körperreaktionen entsprechend 17 .<br />

Diese tief verankerten Reaktionen<br />

beeinflussen die Aufmerksamkeitssteuerung<br />

und binden Ressourcen.<br />

Ein unbewusst ausgelöster motorischer<br />

Impuls kann nicht gestoppt<br />

werden.<br />

Unabhängig von diesen reflexartigen<br />

Reaktionen steht fest, dass, je<br />

mehr Schablonen für die Bewältigung<br />

eines bestimmten Handlungsabschnitts<br />

im Langzeitspeicher eingelagert<br />

sind, das heißt, je mehr gelernte<br />

Verhaltensmuster für eine Aufgabe zur<br />

Verfügung stehen, desto mehr Abschnitte<br />

automatisierten Verhaltens<br />

sind möglich und desto mehr Ressourcen<br />

können für das Unvorhergesehene<br />

geschont werden.<br />

<strong>Das</strong> funktioniert jedoch nur, wenn<br />

der Übungsstand ständig angemessen<br />

hoch ist, denn auch Konturen eingelagerter<br />

Schablonen, oder besser gesagt<br />

Konturen automatisierter Verhaltensmuster,<br />

verblassen mit der Zeit, verlängern<br />

dadurch Reaktionszeiten und verbrauchen<br />

Ressourcen für Handlungsabschnitte,<br />

die ehemals unmerklich<br />

abliefen. Der Betroffene bemerkt<br />

davon erst etwas, wie bereits angedeutet,<br />

in der akuten Situation, in der<br />

er entsprechend handeln müsste –<br />

wissen hätte er es vorher können,<br />

denn diese Erfahrung gehört zum täglichen<br />

Leben.<br />

Deshalb ist es prinzipiell problematisch,<br />

sich auf eine ehemals erbrachte<br />

Leistung zu verlassen –<br />

das kann trügerisch sein 18 .<br />

Doch nun zum zweiten Aspekt<br />

menschlicher Zuwendung, der umgangssprachlich<br />

auch gemeint ist,<br />

wenn über Aufmerksamkeit gesprochen<br />

wird..<br />

Bewusste<br />

Aufmerksamkeit<br />

Im Gegensatz zur unbewussten<br />

Aufmerksamkeit, die den weiten und<br />

wichtigen Komplex jeglichen automatisierten<br />

Verhaltens abdeckt, kann der<br />

bewusste Teil der Aufmerksamkeitssteuerung<br />

mit dem Vorgang der<br />

„Kontrolle” 19 treffend beschrieben<br />

werden.<br />

Die physiologische Voraussetzung<br />

für bewusste Aufmerksamkeit ist<br />

Aktivation. Wie bereits weiter oben<br />

beschrieben, entspricht die Stärke der<br />

Aktivation der Stärke des resultierenden<br />

Reizes, der aus dem Bereich des<br />

Stammhirns auf die Grußhirnrinde<br />

wirkt. Dadurch wird die Intensität der<br />

Verhaltensbereitschaft des Organismus<br />

bestimmt. In einem mittleren, optimalen<br />

Reizzustand sind wir alle auch zu<br />

einer uns eigenen, optimalen Form des<br />

Verhaltens imstande.<br />

Bewusste Aufmerksamkeit ist aufgrund<br />

der Ein-Kanal-Problematik<br />

immer selektiv, niemals umfassend.<br />

Deshalb kommt es darauf an, die richtigen<br />

menschlichen Kapazitäten an<br />

den jeweils akuten „Knackpunkten”<br />

anzusetzen, um keine Ressourcen für<br />

Unwichtiges zu vergeuden 20 .<br />

Dieser für uns sehr wichtige Vorgang<br />

der Aufmerksamkeitssteuerung<br />

wird sehr treffend mit „situativer<br />

Aufmerksamkeit” beschrieben. Dazu<br />

nun mehr.<br />

24 I/2002 FLUGSICHERHEIT


Situative<br />

Aufmerksamkeit (SA)<br />

Oft eingeklagt, manchmal verloren,<br />

zu oft Anlass für Kontrollverlust, ist SA<br />

die entscheidende Größe, um sich in<br />

dynamische, komplexen Situationen<br />

angemessen verhalten zu können.<br />

Obwohl so wichtig, ist SA etwas<br />

Nebulöses, kaum treffend Definierbares,<br />

was jedoch keinen Fluglehrer,<br />

auch nicht GenFlSichhBw, davon<br />

abhält, unter bestimmten Bedingungen<br />

einen Verlust von SA festzustellen<br />

und Bewertungen vorzunehmen.<br />

Deshalb soll hier der Versuch unternommen<br />

werden, SA zu definieren, zu<br />

erklären und abzugrenzen, um einen<br />

einheitlichen Sprachgebrauch zu ermöglichen.<br />

Definitionen<br />

Wie so oft, bietet die amerikanische<br />

Fachliteratur treffende Definitionen in<br />

verständlicher Form, die das Wesentliche<br />

markant herausstellen. Deshalb<br />

soll hier eine sehr kurze Definition vorgestellt<br />

werden, die darüber hinaus in<br />

visualisierter Form wiedergegeben<br />

wird.<br />

SA ist das Bewusstsein der Crew<br />

über die momentane Lage und deren<br />

weiterer Entwicklung 21 .<br />

Es muss noch ergänzt werden, dass<br />

zur umfassenden Lageeinschätzung<br />

und deren Entwicklung natürlich auch<br />

bewusst zu sein hat, durch welche<br />

Vorgänge die Crew in die Lage hinein<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

versetzt wurde. Genau das möchte<br />

obige Grafik darstellen.<br />

Nur wenn sich das wache Bewusstsein<br />

aus der Schnittmenge<br />

dessen was war, mit dem was ist<br />

und dem was sein wird, zusammensetzt,<br />

kann von einer angemessenen<br />

SA gesprochen werden.<br />

Doch nun zu der Frage, auf was<br />

sich eigentlich SA einer Lfz-Besatzung<br />

bezieht?<br />

Abgrenzung<br />

Auch in Anlehnung an Tony Kern 22 ,<br />

soll der Versuch einer Abgrenzung vorgenommen<br />

werden. Er beschreibt SA<br />

als Voraussetzung für angemessene<br />

Beurteilungen (judgement) und unterteilt<br />

SA in fünf Kategorien:<br />

1. know yourself<br />

Kenne und beherrsche Deine<br />

psychophysiologischen Grenzen!<br />

Bringe Dich nur in Situationen,<br />

von denen Du ganz genau<br />

weißt, welche Möglichkeiten und<br />

Ressourcen Du persönlich hast,<br />

um wieder ´rauszukommen!<br />

Sei selbstkritisch ohne ängstlich<br />

zu sein!<br />

2. know your aircraft<br />

Kenne und beherrsche Dein Lfz<br />

in allen von Dir beherrschbaren<br />

Situationen!<br />

Habe Vertrauen in die Leistungsdaten,<br />

betrachte sie aber auch<br />

als Grenzen, die ohne Not nicht<br />

überschritten werden dürfen!<br />

3. know your crew<br />

Kenne die Leistungsfähigkeit<br />

Deiner Crew und setze sie situationsgerecht<br />

ein!<br />

4. know your environment<br />

Kenne und akzeptiere die Möglichkeiten,<br />

Besonderheiten und<br />

Grenzen Deines Umfeldes!<br />

5. know your risk<br />

Kenne vor Antritt eines Fluges<br />

alle Risiken Deines Einsatzes<br />

genau und sei Dir im klaren darüber,<br />

ob Du über die Ressourcen<br />

verfügst, die Risiken zu kontrollieren!<br />

Überwache den Fortgang der<br />

Ereignisse hinsichtlich neuer, bisher<br />

nicht bedachter Risiken und<br />

bewerte sie in jeder Hinsicht!<br />

Diese Kategorisierung ist umfassend<br />

und scheint selbstredend. Es entsteht<br />

der Eindruck, dass man das<br />

natürlich „schon immer wusste”. Der<br />

Umgang damit ist jedoch nicht ohne<br />

weiteres möglich. Vor allem drängt<br />

sich dieser Rückschluss auf, wenn man<br />

die bisherigen Passagen aufmerksam<br />

gelesen hat. Und dennoch ist es möglich,<br />

unter den gegebenen Bedingungen<br />

situative Aufmerksamkeit angemessen<br />

einzusetzen; wir brauchen<br />

dafür allerdings die Dienste einiger<br />

kleiner Helfer.<br />

Wir können uns der Lösung dieses<br />

Problems nähern, wenn wir uns<br />

erneut prinzipiell über Reaktionszeiten<br />

unterhalten 23 .<br />

Priming<br />

Unsere gesamten gespeicherten<br />

Erfahrungen weisen in unserem Gedächtnis<br />

prinzipiell einen relativ geringen<br />

Aktivierungsgrad auf. Demnach<br />

ist es nicht permanente menschliche<br />

Kapazität, Aufmerksamkeit schnell<br />

und zielgenau auf die Aspekte der<br />

aktuellen Ereignisse zu lenken. Obwohl<br />

Gedächtnis und Aufmerksamkeit<br />

ständig in enger Beziehung stehen,<br />

bestimmt die dritte Größe, das Niveau<br />

an Aktiviertheit, die Qualität des Zusammenwirkens<br />

von Gedächnis und<br />

Aufmerksamkeit. Der Grad an Aktiviertheit<br />

ist also eine Voraussetzung<br />

dafür, wie schnell und wie zielgenau<br />

die Hinwendung der Aufmerksamkeit<br />

auf einen bestimmten Sachverhalt<br />

erfolgen kann. Findet der Vorgang des<br />

Erkennen, Bewerten und Umsetzen<br />

von Informationen in Handlung im<br />

ungünstigsten Fall in einer Phase niedriger<br />

Aktivierung statt, im übertragenen<br />

Sinne aus einem „Ruhe-Modus”<br />

heraus, vergehen vom Auftreten<br />

des Reizes bis zur Handlung durchschnittlich<br />

15 sec – zu viel Zeit für<br />

dynamische, komplexe Situationen.<br />

25


Dabei legt der jeweilige<br />

Reiz den Weg vom Sensor<br />

(SR), über den Langzeitspeicher<br />

(LG), hin zum Arbeitsspeicher<br />

(AG) zurück 24 .<br />

Der Impuls aus der Sinneswahrnehmung<br />

trifft nun auf<br />

vorhandenen Erfahrungen<br />

und gespeicherte Informationen<br />

zum Sachverhalt, sowie<br />

die dazugehörigen Emotionen,<br />

im Langzeitgedächtnis.<br />

Die Überwachung erfolgt mittels<br />

unbewusster Aufmerksamkeit<br />

und unbewusster<br />

Wahrnehmung. <strong>Das</strong> Arbeitsgedächtnis<br />

wird anschließend<br />

mit Impulsen unterhalb der<br />

bewussten <strong>Wahrnehmungs</strong>schwelle<br />

versorgt, aufgrund<br />

derer motorische Reaktionen routinisiert<br />

25 , adäquate und unauffällig im<br />

„Stillen” ablaufen.<br />

Ab einer bestimmten Intensität des<br />

Reizes wird bewusste Aufmerksamkeit<br />

herbeigeführt. Diese lenkt den Fokus<br />

der bewussten Wahrnehmung auf<br />

den angesprochenen Sachverhalt,<br />

erkennt und bewertet ihn und folgert.<br />

Dieser Vorgang dauert, wie bereits<br />

erwähnt, ca. 15 sec – ist das mit Flugbetrieb<br />

vereinbar? Wohl kaum für alle<br />

Belange und jede Situation. Die meisten<br />

Ereignisse im Flugbetrieb von<br />

größerer Wichtigkeit verlangen schnelleres<br />

Reagieren.<br />

Um das zu erreichen, gibt es nur die<br />

Möglichkeit, gewisse Sachverhalte, die<br />

von besonderer Bedeutung sind, im<br />

Langzeitgedächtnis „vorzuwarnen”.<br />

<strong>Das</strong> geschieht, indem diese Sachverhalte<br />

bewusst aus den Tiefen des<br />

Erinnerungsvorrats unseres Langzeitspeichers<br />

hoch geholt, sprich in einen<br />

höheren Bereitschafts- und Sensibilitätsgrad<br />

überführt werden, damit<br />

Reaktionszeiten verkürzt werden können.<br />

Dieser Vorgang wird in der Fachliteratur<br />

„Priming”(PM) 26 genannt und<br />

kann bewusste Zuwendung und entsprechende<br />

Reaktionen auf ca. 2 sec<br />

reduzieren. Neben den unbewusst<br />

ablaufenden motorischen Reaktionen,<br />

die natürlich wesentlich kürzere<br />

Reaktionszeiten kennen, ist Priming<br />

das zweite Element, mit dem insgesamt<br />

Reaktionszeiten ermöglicht werden,<br />

die mit Flugbetrieb vereinbar<br />

sind. Es führt kein Weg daran vorbei.<br />

Der gesamte Vorgang des Primens verlangt<br />

natürlich Ressourcen, wie bereits<br />

mehrfach oben dargestellt, in diesem<br />

Falle kognitive Kapazitäten, die per<br />

Priming schnelle Wahrnehmung ermöglichen.<br />

Diesen Vorgang soll die obige Grafik<br />

verdeutlichen.<br />

Der Vollständigkeit halber muss<br />

erwähnt werden, dass es für jeden<br />

Menschen „vorgeprimte” Sachverhalte<br />

und Begriffe gibt, auf die er<br />

immer schnell reagiert, unabhängig<br />

von der jeweiligen Situation. Dazu<br />

zählen z.B. Stimmen der eigenen Kinder<br />

oder der Ehefrau. Dazu zählt aber<br />

auch der eigene Name, der durch<br />

jedes Nebengeräusch dringt und Aufmerksamkeit<br />

sogar dann noch erregen<br />

kann, wenn die Person eigentlich<br />

schon nicht mehr ansprechbar ist,<br />

nachdem sie in der Aktivationskurve<br />

sehr weit rechts ausgewandert ist. Es<br />

zählen allerdings auch schlechte, vielleicht<br />

traumatische Erlebnisse dazu,<br />

die über das gesamte Sinnesspektrum<br />

Zugang finden und in ihrer Tragweite<br />

dazu führen können, dass der<br />

Betroffene, in objektiv „normalen”<br />

Situationen, zur Überreaktion neigt.<br />

Es ist bemerkenswert, dass es eine<br />

übergeordnete Kategorie von unaufgefordertem<br />

Priming gibt, die, neben<br />

der Kategorie der Wichtigkeit eines<br />

Sachverhaltes, in ihrer Bedeutung und<br />

aktivierenden Wirkung alles in den<br />

Schatten stellt.<br />

Es handelt sich um den Selbstbezug,<br />

einer stillen, unbewussten<br />

Form des Primens und dabei geht es<br />

z.B. um folgende Fragen:<br />

Was habe ich davon.<br />

Welche Gefahr geht davon für<br />

mich ganz persönlich aus.<br />

Wie stehe ich da, wenn ich das<br />

mache bzw. unterlasse.<br />

Diese Form des Primens löst Verhaltensweisen<br />

aus, die sich bei dem<br />

einen oder anderen deutlich vom üblichen<br />

Verhalten absetzen. Hier wird<br />

sich plötzlich bemerkenswert nachhaltig<br />

interessiert, engagiert und durchgesetzt<br />

27 . Kein noch so kleines Detail<br />

bleibt unbeachtet und wird hin und<br />

her bewertet, nichts wird dem Zufall<br />

überlassen.<br />

Je höher das Maß an Selbstbezug,<br />

desto höher die Ebene der<br />

Aktivierung der Aufmerksamkeits-<br />

26 I/2002 FLUGSICHERHEIT


steuerung<br />

Anmerkung zur Grafik:<br />

Die Grafik „fiktive Aktivierung” soll<br />

modellhaft darstellen, dass die <strong>Wahrnehmungs</strong>bereitschaft<br />

bzw. Voraktivierung<br />

um so höher ist, je höher der Selbstbezug<br />

eine Rolle übernimmt. Aufbauend auf<br />

einer angenommenen Basis der beliebig<br />

gewählten Stärke „3” für die Situation von<br />

aufmerksamkeitslosen Tätigkeiten (a – l),<br />

steigt die Voraktivierung aufgrund des skalierten<br />

Selbstbezuges angenommen von 0<br />

– 10. Die beiden Stärken werden addiert<br />

und ergeben die resultierende Voraktivierung,<br />

wodurch der Grad der Aufmerksamkeitsintensität<br />

bestimmt wird.<br />

Ist diese Betrachtung für den täglichen<br />

Betrieb von Nutzen, oder hat sie lediglich<br />

akademischen Wert?<br />

Darüber soll der abschließende Absatz<br />

Auskunft erteilen.<br />

Der<br />

Aufmerksamkeitsverlauf<br />

Selektive Aufmerksamkeit, der<br />

Situation, nach den fünf Kriterien Toni<br />

Kerns, angemessen, ist der Schlüssel<br />

für Handlungsinhalte und Reaktionszeiten,<br />

die mit Flugbetrieb vereinbar<br />

sind. Obwohl das jedem klar ist und<br />

dabei auf der Hand liegt, welche Aufmerksamkeitsintensität<br />

Flugbetrieb erfordert,<br />

verhalten wir uns bisweilen<br />

gravierend abweichend.<br />

In der einen Situationen handeln<br />

wir ganz nah am Geschehen und sind<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

jederzeit darauf bedacht, jeder<br />

Abweichung vom Geplanten, jedem<br />

Hinweis auf eine ungewollte Entwicklung,<br />

nachzugehen<br />

und alle verfügbaren<br />

Ressourcen<br />

an der<br />

richtigen Stelle<br />

einzubringen, so<br />

dass angemessen<br />

und rechtzeitig<br />

reagiert<br />

werden kann.<br />

In der anderen<br />

Situation<br />

nehmen wir es<br />

nicht so genau,<br />

schon nicht fahrlässig, aber auch nicht<br />

besonders akribisch. Energiereserven<br />

bilden lautet die unausgesprochene<br />

Devise und das beginnt schon bei der<br />

Planung. Alles, was da kommen könnte,<br />

wird aus dem unerschöpflichen<br />

Erfahrungsvorrat des Langzeitspeichers<br />

„bedient”. Und was ich vielleicht<br />

vergessen habe, das weiß der andere.<br />

Wir sind erfahren, wir sind gut und vor<br />

allem, wir haben schon ganz andere<br />

Dinger gemacht.<br />

Diese beiden überzeichnet formulierten<br />

Gegenpole beschreiben die<br />

jeweilige Ausgangslage eines Besatzungsangehörigen,<br />

mit der er den<br />

Flugdienst antritt. Es ist sicherlich nicht<br />

abwegig anzunehmen, dass diese den<br />

meisten Lesern nicht unbekannt sein<br />

dürften. Vielleicht findet sich der eine<br />

oder andere sogar ganz persönlich<br />

darin wieder?<br />

Welche Situationen aus dem Tagesflugbetrieb<br />

der Bundeswehr sind<br />

damit gemeint?<br />

Zunächst die etwas lockerere Sichtweise<br />

der Dinge. Sie könnte aus dem<br />

Tagebuch des Routinebetriebes stammen.<br />

Alles ist schon X-Mal gemacht worden,<br />

alles ist bekannt, nichts kann die<br />

Besatzung schrecken. Dementsprechend<br />

sieht die Voraktivierung des<br />

Organismus aus und damit die Ebene,<br />

von der aus Aufmerksamkeit gestartet<br />

werden kann, mit den entsprechenden<br />

Zeitansätzen. Die gezeigte Grafik<br />

ist nach Befragung von Luftfahrzeugführern<br />

erstellt worden, die den<br />

selbst erfahrenen Aufmerksamkeitslevel<br />

bei der Durchführung von<br />

Flugbetrieb benennen sollten.Die<br />

Voraktivierungen wurden für die Bereiche<br />

Missionsgehalt (Grundpriming /<br />

Basiswahrnehmung), Einsatzkomplexität<br />

(Mission-Priming) und Selbstbezug<br />

nach der Skalierung gering, mittel und<br />

stark geschätzt und aufsummiert.<br />

Daraus lässt sich die Gesamtvoraktivierung<br />

und deshalb der Grad an<br />

Verhaltensbereitschaft abschätzen.<br />

Hier zunächst der Ablauf eines<br />

Routinefluges:<br />

27


Danach ist der höchste Grad an<br />

Voraktivierung / Priming der eigentlichen<br />

Mission vorbehalten und erreich<br />

hier den dimensionslosen Wert von<br />

maximal 20.<br />

Anders sieht die Sache unter realer<br />

Bedrohung aus:<br />

Hier kann festgestellt werden, dass<br />

die Verhaltensbereitschaft fast während<br />

der gesamten Mission mindestes<br />

auf dem Niveau angesiedelt ist, wie es<br />

im Routinebetrieb allenfalls im Kernbereich<br />

des Einsatzes zu finden war.<br />

Diese zweite Version ist zweifelsohne<br />

für die Besatzung die anstrengendere<br />

von den beiden dargestellten;<br />

aber sie ist nachweislich auch die<br />

Version, bei der in den vergangenen<br />

Jahren keine Unfälle oder schweren<br />

Zwischenfälle aufgrund des HUMAN<br />

FACTOR zu beklagen waren.<br />

Da sich diese Verhaltensweisen bei<br />

jedem Einzelnen wie von selbst generiert,<br />

also keine besondere Führungsleistung<br />

erforderlich wird, stellt sich die<br />

Frage nach den Bedingungen, unter<br />

denen sich akribisches, sachbezogenes,<br />

optimiertes Arbeiten selbsttätig<br />

einstellt.<br />

Die Beantwortung dieser Frage wird<br />

darauf hinaus laufen, dass es im<br />

wesentlichen der unterschiedliche<br />

Selbstbezug ist, der die beiden<br />

Ausgangslagen prinzipiell unterscheidet.<br />

Da es in und über den befriedeten<br />

Regionen dieser Welt nicht möglich<br />

ist und auch unsinnig wäre,<br />

Selbstbezug durch reale Bedrohung<br />

künstlich zu erzeugen, muss eine<br />

andere Diskussion geführt werden.<br />

Welche Kategorien, neben realer<br />

Bedrohung, generieren auch Selbstbezug?<br />

Dabei sollte darauf geachtet<br />

werden, dass die Diskussion nicht<br />

schnell in ein wehrdisziplinares Fachgespräch<br />

abgleitet. <strong>Das</strong> wäre ein Weg,<br />

der in Einzelfällen berechtigt sein mag,<br />

deshalb aber auch der Ausnahmesituation<br />

vorbehalten bleiben sollte.<br />

Aber, wie sähe es mit Selbstbezug<br />

aus:<br />

Wenn ich als Person, mit meiner<br />

Meinung und in meinem Handel<br />

ernst genommen würde?<br />

Wenn mir stets bewusst wäre,<br />

dass mich jede gravierende<br />

Fehlentscheidung potentiell schädigen<br />

kann?<br />

Wenn mir stets klar wäre, dass<br />

ich wichtiger Teil des Ganzen bin,<br />

welches das System fehlerverträglich<br />

zu machen hat und deshalb<br />

Teil der Lösung sein soll?<br />

Wenn mir mein Umfeld ständig<br />

rückmeldete, was der übergeordneten<br />

Norm des Verbandes entspricht<br />

und was nicht?<br />

Wenn ich in meinem Verhalten,<br />

wenn es angemessen war, auch<br />

bestärkt würde?<br />

Wenn ich lernte, mein Handeln<br />

so einzurichten, als wäre es das<br />

Handeln eines anderen, über das<br />

ich zu urteilen hätte?<br />

Wenn mir bewusst wäre, Vorbild<br />

zu sein?<br />

Wenn ich nicht vergäße, dass ich<br />

Verantwortung für meine Crew,<br />

für das Einsatzmittel, für die<br />

Angehörigen und für mich trage?<br />

Wenn ich wüsste, dass ich bei<br />

jeder gravierenden Abweichung,<br />

unabhängig von der Hierarchie,<br />

angesprochen würde?<br />

Wenn ich erfahren hätte, dass<br />

Fehler einzugestehen, der Weg<br />

zur Fehlerresistenz des Teams ist?<br />

Die Liste könnte fortgesetzt werden,<br />

und sicherlich fallen dem geneigten<br />

Leser noch mehr und für seinen<br />

Bereich noch treffendere Beispiele ein,<br />

um seine ganz persönliche Routine mit<br />

soviel Bedeutung anreichern zu können,<br />

dass er sich in den Zustand einer<br />

Verhaltensbereitschaft versetzt, die<br />

ihm angemessene, selektive Aufmerksamkeit<br />

in einer Zeitspanne zur Verfügung<br />

stellt, die immer etwas schneller<br />

ist, als der Ablauf der ihn umgebenden<br />

Wirklichkeit.<br />

<br />

1 Für die Bearbeitung dieses Beitrages stand folgende<br />

Literatur zur Verfügung:<br />

Krech/Crutchfield u.a.: Grundlagen der Psychologie<br />

/ Beltz Verlag, Weinheim 1992.<br />

Asanger; Wenninger: Handwörterbuch Psychologie<br />

/ Beltz Verlag, Weinheim 1999.<br />

Legewie Heiner, Ehlers Wolfram: Handbuch<br />

moderne Psychologie / Bechtermünz Verlag,<br />

Augsburg 2000.<br />

Forgas, Josef P.: Soziale Interaktion und<br />

Kommunikation / Beltz Verlag, Weinheim 1999.<br />

Hussy, Walter: Denken und Problemlösen /<br />

Kohlhammer, Stuttgart 1998<br />

Wessells, Michael. G.: Kognitive Psychologie / UTB<br />

für Wissenschaft, München 1994.<br />

Schwarzer, Ralf: Stress, Angst und Handlungsregulation<br />

/ Kohlhammer, Stuttgart 2000<br />

Heckhausen, Heinz: Motivation und Handeln /<br />

Springer-Verlag, Berlin 1989<br />

Orlady Harry W., Orlady Linda M.: Human Factors<br />

in Multi-Crew Flight Operations / Ashgate Publishing.<br />

Wiener Earl L., Helmreich Robert L., Kanki<br />

Barbara G.: Cockpit Resource Management /<br />

Academic Press, san Diego 1993.<br />

Kern Tony: Redefining Airmanship / Library of<br />

Congress, 1997.<br />

2 Siehe: „Menschliche Kapazitäten”.<br />

3 Bei präziser Begriffsabgrenzung geht die Fachliteratur<br />

davon aus, dass es im täglichen Leben<br />

nicht möglich ist, sich ohne weiteres bewusst in<br />

einen Zustand der Konzentration zu versetzen.<br />

Vielmehr stellt sich Konzentration ein, wenn Aufmerksamkeit<br />

und Interesse derselben Person am<br />

selben Sachverhalt festmachen. Konzentration,<br />

aus unserer Sichtweise, ist auch immer Fixation,<br />

also ein an sich, in Verbindung mit Flugbetrieb,<br />

unerwünschtes Verhalten. Darüber hinaus gehende<br />

Aspekte von Definitionsunterschieden zwischen<br />

Aufmerksamkeit und Konzentration sollten<br />

in unserem Kontext nicht überbewertet werden.<br />

4 Siehe auch: „Menschliche Kapazitäten – Kapazitätenmodell”.<br />

5 Siehe auch: „Menschliche Kapazitäten – Aktivation”.<br />

6 Siehe auch: „Kommunikation – Kommunikation<br />

und Wirklichkeit”.<br />

28 I/2002 FLUGSICHERHEIT


7 Siehe „Feedback” – Grafik weiter unten (O/A/H).<br />

8 Jedem neuronalen Impuls, der durch Botenstoffe<br />

übertragen wird, haftet ein entsprechender<br />

Dämpfungsreiz an, der den Ausgangsimpuls auf<br />

die gewünschte Amplitude begrenzt. Andernfalls<br />

wären keine koordinierten Bewegungen, geschweige<br />

denn Feinmotorik möglich. U.a. Alkohol<br />

stört dieses ausgewogene Impuls-Gegenimpuls-<br />

Verhältnis nachhaltig.<br />

9 Die resultierende Impulsgröße bestimmt den<br />

Grad der Aktivation und ist dadurch Voraussetzung<br />

für den Grad an Aufmerksamkeit, die<br />

ihrerseits wiederum für die Freisetzung ausgewählter<br />

Ressourcen verantwortlich zeichnet.<br />

10 In einem Test wurden gleichförmige Gegenstände,<br />

die auf einem Tisch lagen, für eine Sekunde gezeigt.<br />

Die Testpersonen konnten bis zu sieben<br />

Gegenständen die Anzahl richtig wiedergeben.<br />

Bei mehr als sieben nahm die Fehlerrate deutlich<br />

zu. Daraus konnte eine visuelle Aufmerksamkeitsspanne<br />

von Sieben hergeleitet werden.<br />

11 Siehe „Feedback” – Grafik (Sp/Mo/Mi).<br />

12 Natürlich gibt es auch andere, weiter führende<br />

Ansätze, die jedoch nur für akademische Betrachtungen<br />

von Bedeutung sind.<br />

13 Damit ist z.B. überzogenes „Schönfliegen” gemeint,<br />

wenn andere, übergeordnete Dinge wichtiger<br />

sind und Aufmerksamkeit verlangen. In<br />

„Limits” ja, jedoch nicht als „Null-Toleranz-Limit”.<br />

<strong>Das</strong> würde Aufmerksamkeit und damit Ressourcen<br />

auf Bereiche lenken, die, je nach Lage, unbedeutend<br />

sind.<br />

14 Siehe auch: „Wahrnehmung – unbewusste Wahrnehmung”.<br />

15 So ändert man z.B. die Sitzposition, bevor das<br />

Unbequeme der Sitzposition bewusst wird.<br />

16 Es ist bekannt, dass selbstverständlich auch dafür<br />

Ressourcen verbraucht werden. <strong>Das</strong> geschieht<br />

allerdings auf niedrigem Niveau. Erst bei Erschöpfung<br />

wird deutlich, dass auch unbewusst nicht<br />

mehr in erforderlichem Umfang Ressourcen abgerufen<br />

werden können, indem man erkennt, dass<br />

diese auch nicht mehr für die unbewusste Überwachung<br />

von Grenzen zur Verfügung stehen. Die<br />

Handlung geht nicht mehr flüssig von der Hand.<br />

Bewusste Überwachung muss übernehmen, was<br />

natürlich kein Ersatz sein kann. So ist z.B. Feinmotorik<br />

nur unbewusst möglich.<br />

17 Siehe auch: „Wahrnehmung – Orientierungswahrnehmung”.<br />

18 Stichwort: Erfahrung vs. Können bzw. experince<br />

vs. proficiency<br />

19 Der Begriff „Kontrolle” ist hier im Sinne des englischen<br />

„control” gemeint; eine Situation bewusst<br />

beherrschen und beeinflussen.<br />

20 <strong>Das</strong> ist nicht ohne weiteres möglich, denn auch<br />

die bewusste Aufmerksamkeitssteuerung wird u.a.<br />

von Werten und Normen, momentanen Befindlichkeiten,<br />

Zielen, Motiven, Einstellungen, sozialer<br />

Wahrnehmung, aber auch durch analytisches Vorgehen,<br />

bestimmt. Diese Wirkgrößen pulsieren in<br />

unterschiedlicher Ausprägung, beeinflussen den<br />

Betroffenen jedoch stets gleichzeitig.<br />

21 ...”the crew’s awareness of operational conditions<br />

and contingencies”<br />

22 Siehe Literaturhinweis weiter oben.<br />

23 Siehe auch: „Entscheidungsfindung – S-R-K-<br />

Modell”<br />

24 Natürlich ist diese Art der Beschreibung stark vereinfachend,<br />

dient aber dem leichteren Verständnis.<br />

25 Siehe auch: „Entscheidungsfindung – Merkmale<br />

der Entscheidungsebenen”<br />

26 Vor diesem Hintergrund gewinnen „Briefing” und<br />

„Feedback” neu an Gewicht.<br />

27 Diese übertriebene Darstellung möge verziehen<br />

werden, sie soll plakativ überzeichnen, um zu verdeutlichen.<br />

Im übrigen trifft derartiges Verhalten<br />

prinzipiell und tendenziell auf alle Menschen zu,<br />

auch auf den Verfasser.<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

Kommunikation<br />

Einleitung<br />

Es ist unmöglich nicht zu kommunizieren!<br />

Wir können nur richtig oder<br />

falsch, gut oder schlecht, angemessen<br />

oder sachfremd kommunizieren.<br />

Deshalb können wir es uns als „fliegende<br />

Besatzungen“ auch nicht leisten,<br />

Kommunikation in ihrer Form<br />

und Ausprägung dem Zufall zu überlassen.<br />

Eigene Erfahrungen, aber auch und<br />

dann immer dramatisch, die Auswertungen<br />

der „Voice Recorder“ nach<br />

Flugunfällen, legen Zeugnis darüber<br />

ab, dass die Qualität der Kommunikation<br />

in komplexen, dynamischen Situationen<br />

viel zu oft Teil des Problems war<br />

und nicht zur Lösung von Problemen<br />

eingesetzt wurde. Manchmal komprimiert<br />

sie sich nur noch zu einem<br />

Schrei, der dann zusammenfassend<br />

alles Entsetzen ausdrückt.<br />

Gute und richtige Kommunikation<br />

ist eine Fertigkeit, die zu einem hohen<br />

Grade erlernbar ist. Sie beeinflusst<br />

Entscheidungen, Arbeitsabläufe, Emotionen<br />

und Einstellungen. Somit kann<br />

Kommunikation unmittelbar auf das<br />

WAS einer Handlung einwirken, entlarvt<br />

aber auch:<br />

WIE wir miteinander umgehen.<br />

WIEVIEL Wert auf eine qualitativ<br />

gute Sacharbeit gelegt wird.<br />

WIE überzeugt eine eingeforderte<br />

Leistung erbracht wird.<br />

Kommunikation in unserem Sinne<br />

betrachtet den „anderen“ als ernstzunehmenden,<br />

würdigen Partner, spiegelt<br />

stets das wider, was der Kommunizierende<br />

wirklich meint, ist sachbezogen<br />

und funktioniert auch noch im<br />

Stress!<br />

Dabei spielen folgend Komponenten<br />

eine Rolle:<br />

Wer? Kommunikator, Sender<br />

Sagt was? Nachricht, Botschaft,<br />

Mitteilung, Message,<br />

Information<br />

Zu wem? Kommunikant, Empfänger,<br />

Adressat<br />

Womit? Zeichen, Signal, verbal,<br />

nonverbales Verhalten<br />

Durch welches Medium?<br />

Kanal, Modalität<br />

Mit welcher Absicht?<br />

Intention, Motivation,<br />

Ziel<br />

Mit welchem Effekt?<br />

was wird bewirkt,<br />

Feedback<br />

Kommunikation ist ein universelles<br />

Konzept, welches sich auf ein breites<br />

Spektrum von Phänomenen bezieht,<br />

die jedoch alle dem gleichen Ziel dienen<br />

– dem Austausch von Information<br />

innerhalb und zwischen biologischen<br />

Systemen.<br />

Die grundlegende Informationstheorie<br />

hat ihren Ursprung in der<br />

Kybernetik und der Nachrichtentechnik,<br />

die von der Regelung zwischen<br />

einem Sender und mindestens einem<br />

Empfänger ausgeht und dabei den<br />

Informationsgehalt von Signalen und<br />

deren Wirkung und Rückwirkung<br />

berücksichtigt.<br />

Auf die Darstellung des Sender-<br />

Empfänger-Modells soll hier verzichtet<br />

werden 2 .<br />

Allgemeines<br />

Wie bereits erwähnt, ist es nicht<br />

möglich, nicht zu kommunizieren.<br />

Selbst im Schlaf teilen wir uns unserer<br />

Umwelt und uns selbst mit. Tastsinn<br />

und Gehör sind ununterbrochen mit<br />

der „Außenwelt“ verbunden und wirken<br />

somit ständig in unser Bewusstsein<br />

hinein, wenn auch auf einer<br />

anderen <strong>Wahrnehmungs</strong>ebene.<br />

Vier Kommunikationssysteme transportieren<br />

Botschaften:<br />

1. natürliche Sprache:<br />

extrem komplexe kognitive<br />

Fertigkeit und ein System zur<br />

29


30 I/2002 FLUGSICHERHEIT


Übermittlung spezifischer Bedeutungen<br />

durch Wörter, die gesprochen,<br />

geschrieben, gezeichnet<br />

oder gesungen 3 werden können.<br />

2. künstliche Sprache:<br />

Musiknoten, mathematische<br />

Gleichungen und Computerprogramme,<br />

die spezialisierte Informationen<br />

genau und mit wenig<br />

Deutungsspielraum kommunizieren,<br />

indem sie von vereinbarten<br />

Systemen von Symbolen, Zeichen<br />

und Formeln Gebrauch machen.<br />

3. visuelle Kommunikation:<br />

Bilder und Diagramme als Mittel,<br />

um Vorstellungen oder Gefühle<br />

oder beides zu übermitteln.<br />

4. nonverbale Kommunikation:<br />

umfasst sowohl Körperbewegungen<br />

(Haltung, Gesten, Lächeln,<br />

Augenkontakt und die<br />

Benutzung des physikalischen<br />

Raums) als auch Eigenschaften<br />

der Sprache wie Stimmlage,<br />

Sprechgeschwindigkeit und Lautstärke.<br />

Nichtverbales Verhalten wird nicht<br />

zufällig gezeigt; es kann als eines von<br />

mehreren Fenstern zum Unbewussten<br />

gedeutet werden. So kann ein bestimmtes<br />

Blickverhalten, oder ein bestimmter<br />

Gesichtsausdruck, nicht über<br />

längere Zeit kontrolliert werden.<br />

Stimmen die emotionale Bedeutung<br />

des gesprochenen Wortes und die<br />

gezeigte mimische Aussage nicht überein,<br />

wirkt das Gesprochene fremd<br />

und die verbal kommunizierende Person<br />

wenig vertrauenswürdig.<br />

Sprache ist eine relativ späte Erfindung<br />

im Zeitplan der Evolution. Die<br />

nonverbale Kommunikation dagegen<br />

besteht von Anbeginn an, hat also tiefere<br />

und stärkere Wurzeln. Daher ist<br />

sie in jeder Hinsicht der stärkere<br />

Kommunikationskanal.<br />

Die prozentuale Verteilung zwischen<br />

verbaler und nonverbaler sozialer<br />

Wahrnehmung verdeutlicht die<br />

Gewichtung. Die Literatur spricht von<br />

einem Anteil von ca. 10 % – 15 %<br />

verbaler Wahrnehmung über das ge-<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

sprochene Wort; der Rest wird nonverbal<br />

zwischen Sender und Empfänger<br />

verarbeitet. Daraus ergeben sich<br />

Problemfelder, die jeder hinreichend<br />

aus dem eigenen Umfeld kennt.<br />

In einem militärisch-fliegerischen<br />

Umfeld tritt der Komplex nonverbaler<br />

Kommunikation zurück, sobald ein<br />

Flug konkret angetreten wird. Anzugordnung,<br />

Aufgabenverteilung und<br />

Cockpitkonfiguration verstärken diesen<br />

Effekt zusätzlich, so dass Kommunikation<br />

zu einem sehr hohen Anteil<br />

auf dem rein verbalen Kanal stattfinden<br />

muss, der nur bedingt dazu taugt,<br />

was noch bewiesen werden wird, die<br />

eigentliche Struktur des Denkens<br />

offenzulegen. Dennoch müssen 100%<br />

Kommunikation stattfinden, obwohl<br />

nur ca. 15% über den Bedeutungsgehalt<br />

von Begriffen transportiert werden<br />

können; aber auch mit diesem<br />

Problem leben wir ständig und im<br />

„Normalfall“ sogar recht komfortabel.<br />

Niemand will zurück zur Zeichensprache.<br />

Es ist jedoch auch hier wichtig,<br />

die Grenzen verbaler Leistungsfähigkeit<br />

zu kennen, um sich Überlegungen<br />

zu öffnen, die stressresistente<br />

Handlungsstrukturen benennen und<br />

vorschlagen.<br />

Gute und angemessene Kommunikation<br />

ermöglicht eine sachgerechte<br />

Vorstellung nah an der<br />

jeweiligen realen Situation.<br />

Kommunikation<br />

und Wirklichkeit<br />

Jedes Individuum steht in einer<br />

andauernden Wechselbeziehung mit<br />

seiner Umwelt, die ihm das Überleben<br />

ermöglicht, wenn, ja wenn das Individuum<br />

die Grenzen akzeptiert, innerhalb<br />

derer das Überleben für es möglich<br />

ist 4 . Um dieses Ziel zu erreichen ist<br />

es erforderlich, die wahrgenommene<br />

Welt ständig auf den Gehalt an<br />

Grenzen, die mit Überleben nicht vereinbar<br />

sind, zu überprüfen.<br />

<strong>Das</strong>s Wahrnehmung nicht dem realen<br />

Abbild der uns umgebenden physikalischen<br />

Umwelt entspricht, ist bekannt<br />

und hat Nachteile für uns, weil<br />

wir Gefahr laufen, aufgrund von<br />

<strong>Wahrnehmungs</strong>verzerrungen und anderen<br />

Besonderheiten in die falsche<br />

Richtung zu laufen 5 . Dieser Punkt<br />

wurde bereits hinreichend in einem<br />

anderen Beitrag erörtert.<br />

Kommunikation ermöglicht den<br />

lebensnotwendigen Informationsaustausch<br />

und dabei ist die eigene, individuelle<br />

Verhaltensweise nur die zweitwichtigste<br />

Quelle der Erkenntnis. Viel<br />

wichtiger ist die Frage nach der<br />

Reaktion des Umfeldes auf individuelles<br />

Verhalten. Viel wichtiger ist also die<br />

Frage nach dem “Feedback“. Lebende<br />

Organismen funktionieren prinzipiell<br />

nicht wie der geschlossene Regelkreis<br />

einer Dampfmaschine. Alles Lebende<br />

lebt überdauernd, weil es für den<br />

Informationsaustausch mit der Umwelt<br />

offen 6 ist, weil nur so ein Überleben<br />

durch Akzeptanz der Grenzen möglich<br />

wird. Wer sich abkapselt, das gilt im<br />

übrigen auch für Organisationen, wird<br />

mittelfristig übergeordnete Grenzen<br />

nicht mehr erkennen können und<br />

damit Überlebensfähigkeit einbüßen.<br />

Folglich ist ein immerfort währender<br />

Informationsaustausch mit der<br />

Umwelt in jeder Hinsicht von elementarem<br />

Interesse. Der Schwerpunkt liegt<br />

dabei, wie bereits erwähnt, auf der<br />

Suche nach Feedback. Wer Feedback<br />

ablehnt, lehnt wichtige Informationen<br />

ab, die Grundlage für die<br />

Bewertung einer nächsten Handlungsfolge<br />

sind. Feedback ermöglicht es,<br />

Folgehandlungen den realen Grenzen<br />

unterzuordnen und die Qualität der<br />

Basis für den nächsten Schritt zu verbessern.<br />

Feedback ist die wichtigste<br />

Stellgröße für Verhalten auf dem<br />

Weg zum Ziel!<br />

Kommunikation ermöglicht den<br />

Vergleich zwischen wahrgenommener<br />

Wirklichkeit und Realität, bzw. zwischen<br />

der Vorstellung über das Machbare<br />

und den realen Grenzen des<br />

Möglichen.<br />

Wer Feedback zulässt, versetzt sich<br />

in eine günstige Lage, um:<br />

31


eine Risikoanalyse durchzuführen<br />

Alternativen zu planen<br />

Entwicklungen vorherzusehen<br />

Reaktionszeiten zu verkürzen<br />

Diese vor allem kognitiven Fähigkeiten<br />

stehen allerdings, wie jeder<br />

weiß, nicht immer uneingeschränkt<br />

zur Verfügung. Bestimmte Einflussgrößen,<br />

wie z.B. Stress, können behindernd<br />

wirken.<br />

Kommunikation<br />

und Stress 7<br />

Stress wirkt sich unmittelbar auf<br />

Körper, Geist, Emotionen sowie die<br />

Kommunikation aus und zeigt Wirkungen,<br />

die mit Flugbetrieb kaum vereinbar<br />

sind. Im Folgenden sollen themenbezogen<br />

vor allem die Auswirkungen<br />

auf die Kommunikation erörtert<br />

werden.<br />

Prinzipiell kann an dieser Stelle<br />

jedoch bereits festgestellt werden,<br />

dass der Grund für Stress weniger<br />

bedeutungsvoll ist als die Antwort darauf,<br />

denn Stress ist im wesentlichen<br />

Folge eines Bewertungsvorgangs im<br />

Rahmen einer Auseinandersetzung<br />

des Betroffenen mit seinem Umfeld.<br />

Dabei erlebt er den höchsten Stress,<br />

wenn er erlebt, wie seine ganz persönlichen<br />

Ressourcen verloren gehen<br />

und dieser “Verbrauch“ an Ressourcen<br />

nicht durch einen adäquaten<br />

Gewinn an “Gegenwert“ kompensiert<br />

wird. <strong>Das</strong> heißt, höchster Stress wird<br />

im Moment der größten Hilflosigkeit<br />

erlebt 8 .<br />

Sprachlosigkeit<br />

Eine Statistik besagt, dass die<br />

Handlungen innerhalb der letzten 10<br />

bis 15 Sekunden eines kritischen Ereignisses<br />

über den weiteren Verlauf entscheiden<br />

und in den letzten drei bis<br />

acht Sekunden vor einem Unfall dann<br />

nicht mehr gesprochen wird, wenn<br />

sich die Besatzung über die Dramatik<br />

im klaren ist und keine Handlungsoption<br />

mehr erkannt wird. Der ganze<br />

Komplex der Sprachlosigkeit bei hoher<br />

Beanspruchung ist wissenschaftlich<br />

nicht umfassend erforscht. Ethische<br />

Gründe nach unserem Werteverständnis<br />

sprechen dagegen, Menschen zum<br />

Zwecke der Forschung immer wieder<br />

in Situationen real erlebter Sprachlosigkeit<br />

zu versetzen. Da bleibt uns<br />

nur der Blick zurück auf oft leidvolle<br />

und traumatische Erfahrungen in der<br />

Hoffnung, die richtigen Rückschlüsse<br />

für künftiges Verhalten zu ziehen.<br />

Anhand eines Modells soll der<br />

Versuch unternommen werden, verbale<br />

Kommunikation und ihre Grenzen<br />

aufzuzeigen, um so deutlich zu<br />

machen, wie schnell der einzig verbliebene<br />

Kommunikationskanal verloren<br />

gehen kann und was dieses bedeutet,<br />

auch für Prävention und Früherkennung.<br />

Sprachvolumen<br />

Der Erwerb der Sprache in den<br />

ersten Lebensjahren wird als die<br />

bedeutendste Leistung menschlicher<br />

Intelligenz angesehen. Der zentrale<br />

Prozess dabei ist die Umwandlung persönlicher<br />

Gedanken und Gefühle in<br />

Symbole, Zeichen oder Wörter die<br />

andere erkennen und wieder in<br />

Vorstellungen und Ideen zurückverwandeln<br />

können. Neben anderen<br />

Faktoren bestimmt die Prägung der<br />

ersten Jahre auch im Bereich der<br />

Kommunikation wesentlich den<br />

Ablauf der weiteren Entwicklung.<br />

Dabei wird klar, dass Sprache als<br />

Werkzeug des Denkens individuell ist<br />

und kein Mensch auf dieser Welt über<br />

ein Sprechvermögen verfügt, das mit<br />

dem eines anderen Menschen vergleichbar<br />

ist. In dem angekündigten<br />

Modell soll die Breite der Individualität<br />

verdeutlicht werden. Dabei ist es hilfreich,<br />

sich das individuelle Sprechvermögen<br />

als Kubus vorzustellen; aus<br />

dem Sprechvermögen wird so ein<br />

Sprachvolumen mit einer:<br />

intellektuellen Höhe (I):<br />

somit die Größe des Wortschatzes<br />

9 allgemein,<br />

emotionalen Breite (E):<br />

die je nach Befindlichkeit positiv<br />

oder negativ formuliert und,<br />

Temperamentstiefe (T):<br />

die kräftiger oder feiner formuliert.<br />

Alle Ausdehnungen der Ebenen in<br />

den x-, y- und z-Achsen des angenommenen<br />

rechtwinkligen Koordinatensystem,<br />

sind nicht klar definierbar<br />

und unterliegen starken Schwankungen,<br />

je nach Befindlichkeit, momentaner<br />

Motivation und Einstellung des<br />

Einzelnen.<br />

<strong>Das</strong> heißt, die Größe und Ausdehnung<br />

des Sprachvolumens hängt von der<br />

Tagesform ab, kann dabei jedoch, wie<br />

bereits angedeutet, starken Veränderungen<br />

unterliegen und sich im 2-3<br />

Sekundentakt anpassen 10 .<br />

Es kann sich dehnen, einschnüren,<br />

verlagern, verzerren und nicht zuletzt<br />

– es kann schrumpfen. Insbesondere<br />

dann, wenn Belastung zur Beanspruchung<br />

11 wird, kann sich das Sprachvolumen<br />

auf einen Punkt reduzieren<br />

oder gar vorübergehend auflösen –<br />

wie eine Wolke unter Hochdruckeinfluss.<br />

Wir stellen also fest, dass unser<br />

Sprachvolumen etwas ganz Persönliches<br />

ist und unter Druck an Niveau<br />

und Tiefe sowie an kreativer Aussagekraft<br />

verliert. Reduziertes Sprechvermögen,<br />

also die Reduzierung der<br />

Fähigkeit, sich verbal äußern zu können,<br />

auch Veränderungen der Ton-<br />

32 I/2002 FLUGSICHERHEIT


lage 12 , können für uns ein erstes sicheres<br />

Zeichen dafür sein, dass Aktivation<br />

13 den Bereich des Optimums zu<br />

verlassen droht und danach „alles sehr<br />

schnell gehen kann 14 “.<br />

Als Beispiel dafür soll folgendes<br />

Ereignis aus der Wirklichkeit beschrieben<br />

werden:<br />

Eine Lfz-Besatzung wird enroute<br />

über HF angesprochen, der vwt LFF<br />

möge den Gefechtstand in einer dringenden<br />

Angelegenheit nach der nächsten<br />

Landung anrufen. Auf Nachfrage,<br />

um was es denn ginge wurde mitgeteilt,<br />

dass man das über Funk nicht<br />

sagen könne.<br />

Im Cockpit wurde für den Rest des<br />

Fluges kein Wort mehr gesprochen,<br />

weil der vwt LFF das Schlimmste aus<br />

seinem Privatbereich befürchtete. Tatsache<br />

war, dass technisches Personal<br />

am Heimatflugplatz noch eine Frage<br />

zu einer vorausgegangenen technischen<br />

Störung klären wollte, die mit<br />

dem aktuellen Flug nichts zu tun<br />

hatte 15 .<br />

Es bleibt der Spekulation jedes<br />

Einzelnen überlassen, wie viel zusätzliche<br />

Belastung diese Besatzung in der<br />

beschriebenen Situation noch hätte<br />

kontrollieren können.<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

In einem Umfeld, in dem verbale<br />

Kommunikation das tragende Element<br />

zwischenmenschlicher Informationsverarbeitung<br />

ist, muss alles dafür<br />

getan werden, dass dieser „Flaschenhals“<br />

niemals verstopft. Gleichzeitig<br />

kann aufmerksame Selbstbeobachtung,<br />

aber auch die bewusste Wahrnehmung<br />

des anderen Besatzungsangehörigen,<br />

Aussage darüber treffen,<br />

wie stark eine momentane Belastung<br />

wirklich empfunden wird. Auch hier<br />

können bestimmte Strukturen, über<br />

die noch zu reden sein wird, in der Not<br />

helfen.<br />

Betriebssprache<br />

Betriebssprachen, oder auch Fachsprachen,<br />

prägen Kommunikation der<br />

modernen Zeit, weil der technische<br />

Fortschritt dies erforderlich gemacht<br />

hat. Lfz-Besatzungen bedienen sich<br />

einer Betriebssprache, weil sie komplexe<br />

Sachverhalte am besten beschreiben,<br />

konkrete Handlungen abrufen<br />

und Betriebszustände präzise beschreiben<br />

kann.<br />

Während in den Teilstreitkräften<br />

<strong>Luftwaffe</strong> und Marine eine Betriebssprache<br />

Luftfahrzeugmuster bezogen<br />

existiert und standardisiert angewendet<br />

wird, ist diese beim Heer nur auf<br />

einige Einsatzarten beschränkt, wie<br />

zum Beispiel: Feuerkampf des Panzerabwehrhubschraubers<br />

(PAH), Gebirgsflug<br />

oder Fliegen mit Bildverstärkerbrille<br />

(BIV) 16 .<br />

An eine Betriebssprache sind besondere<br />

Anforderungen zu stellen,<br />

damit diese auch gut und sachgerecht<br />

funktionieren kann.<br />

Standards mit:<br />

korrekter Begriffsbelegung, die keinen<br />

Zweifel daran lässt, was gemeint<br />

ist.<br />

Standardisierte Arbeitsabläufe,<br />

die allen Besatzungsangehörigen bekannt<br />

und vertraut sind, um auch das<br />

zu bewirken, was bewirkt werden soll.<br />

Check-/Recheckverfahren, die<br />

sicherstellen, dass die komplette Besatzung<br />

den gleichen Plan verfolgt<br />

und dabei Fehlentscheidungen und<br />

unsachgemäße Handlungen sofort<br />

erkannt und somit korrigiert werden<br />

können.<br />

Reversibilität<br />

die es ermöglicht, auch bei einem starken<br />

hierarchischen Gefälle 17 innerhalb<br />

der Besatzung, eine Anweisung zu<br />

einem bestimmten Verhalten per „Call<br />

Out“ unbefangen einzubringen, ohne<br />

sich Sorgen machen zu müssen, wie<br />

dies unter der Erwartungshaltung<br />

eines nach „oben“ gerichteten Respekts<br />

ankommt.<br />

Dadurch kann erreicht werden,<br />

dass, unabhängig von der momentanen<br />

Aufgabenverteilung an Bord<br />

(PF/PNF), jeder, allein aus seiner ausgeübten<br />

Tätigkeit heraus, Betriebssprache<br />

gut, sachgerecht und frei von<br />

der Sorge möglicher Sanktionen anwendet.<br />

Stressresistenz wird ermöglicht<br />

durch:<br />

Trainierte Standards, bei denen alle<br />

Arbeitsabläufe bekannt sind und<br />

nichts vergessen wird, ein Komplex<br />

nach dem anderen, je nach Priorität,<br />

abgearbeitet wird und keine Unterbrechung<br />

oder Ablenkung zugelassen<br />

wird.<br />

Optimierte Arbeitsabläufe, bei<br />

denen keiner überlastet, jeder beschäftigt,<br />

jeder wichtig ist.<br />

Standardisierte Call-Outs, die<br />

definierte Situationen mit „Keywords“<br />

und „Keyphrases“ 18 belegen und<br />

nicht länger als ca. zwei Sekunden sein<br />

sollten. Bestätigung, Ausführung und<br />

erneute Statusmeldung runden das<br />

Verfahren ab.<br />

Unstrittig ist dabei auch, dass zwischen<br />

den Phasen erhöhter Arbeitsund<br />

Entscheidungsdichte „normale /<br />

natürliche“ Sprache allgemeine soziale<br />

Wahrnehmung erleichtert und am<br />

besten dazu taugt, ein positives Klima<br />

an Bord zu schaffen. Hier liegt die<br />

Lösung nicht, wie so oft, in der Mitte.<br />

Mit ein bisschen von diesem und ein<br />

bisschen von jenem wird der babylonischen<br />

Sprachverwirrung nur noch<br />

mehr Vorschub geleistet.<br />

33


Klare Betriessprache auf der einen<br />

Seite, wenn Fliegerisches gemeint ist<br />

und normale Umgangssprache auf der<br />

anderen Seite, wenn auch normales<br />

Umgehen miteinander gemeint ist, bilden<br />

in ihrer Dynamik des jeweiligen<br />

situationsgerechten Wechsels ihrer<br />

Anwendung den Schlüssel für gute,<br />

sachgerechte und damit stressresistente<br />

Kommunikation. Betriebssprache<br />

ermöglicht es, allen Anforderungen<br />

angemessen zu begegnen und Informationsangebote<br />

so zu dosieren, dass<br />

Ziele ohne Umwege erreicht werden<br />

können.<br />

Betriebssprache optimiert den Informationsfluss<br />

zwischen Sender und<br />

Empfänger in anspruchsvollen Situationen<br />

und hält die Kommunikationsfähigkeit<br />

nach „außen“ länger aufrecht.<br />

Allerdings darf nicht unerwähnt<br />

bleiben, dass Betriebssprache nicht<br />

allein von sich aus funktioniert – der<br />

Mensch muss sie richtig und sinnvoll<br />

einsetzen.<br />

Gute Kommunikation hat gute<br />

Regeln.<br />

Kommunikation<br />

und Beziehung<br />

Kommunikation im hier beschriebenen<br />

Kontext versteht sich als Kommunikation<br />

zwischen Menschen, die<br />

im Rahmen einer gemeinsamen<br />

Aufgabe, eines gemeinsamen Auftrages,<br />

ein gemeinsames Ziel verfolgen.<br />

Selbst wenn konkretes Verhalten<br />

darauf deuten sollte, dass ein<br />

Beteiligter ein anderes Zwischenziel<br />

verfolgt, so bleibt sicherlich das übergeordnete<br />

Ziel einer insgesamt sicheren<br />

Durchführung des Auftrages<br />

bestehen.<br />

Wo liegen nun die Falltüren<br />

menschlicher Kommunikation?<br />

Kommunikationsviereck<br />

Es sind mehr als 2000 Jahre vergangen,<br />

seit Aristoteles die Ansicht<br />

vertrat, dass die Prozesse und Struk-<br />

turen des Denkens die Struktur der<br />

Sprache bestimmen; gleichsam<br />

Sprache ein Werkzeug des Denkens<br />

sei. Viel ist seither darüber geschrieben<br />

worden.<br />

Ein Modell jedoch aus neuerer Zeit<br />

beschreibt und erklärt Kommunikation<br />

anhand eines Vierecks plausibel, einfach<br />

und daher auch jederzeit umsetzbar.<br />

Es scheint, dass die Beschäftigung<br />

mit den Aspekten des Kommunikationsvierecks,<br />

im Zusammenhang mit<br />

Fragen der verbalen Kommunikation,<br />

besonders unter dem Gesichtspunkt<br />

der Beziehung, wichtig ist.<br />

Nach diesem Modell verfügt jede<br />

Nachricht über vier Seiten. Oder anders<br />

ausgedrückt, über vier Elemente<br />

in die eine Nachricht immer dann zerlegt<br />

werden kann, wenn sich jemand<br />

Gedanken über folgend Frage mache:<br />

„Was will mir diese Nachricht<br />

sagen?“<br />

Ein Gutteil dieser Gedanken wird<br />

gar nicht bewusst verarbeitet, sondern<br />

lässt Emotionen 19 aufkommen, die<br />

zunehmend Raum greifen können<br />

und so bekanntlich verfügbare Kapazitäten<br />

unter Umständen teilweise<br />

lahm legen. Es ist zu vermuten, dass es<br />

die Lebenserfahrung ist, die immer<br />

wieder dazu verleitet, Sachfremdes in<br />

eine Nachricht hinein zu interpretieren,<br />

obwohl objektiv nichts diesbezügliches<br />

gesagt wurde.<br />

Manchmal werden sachfremde<br />

Effekte allerdings auch provoziert.<br />

Sprache kann als Waffe eingesetzt<br />

werden und dabei:<br />

motivieren oder demotivieren,<br />

Menschen aufbauen oder in ihrer<br />

Persönlichkeit zerstören,<br />

Verhalten verstärken oder zur<br />

Hilflosigkeit erziehen.<br />

Doch nun zum Kommunikationsviereck.<br />

Jede Nachricht verfügt über vier<br />

Hauptbotschaften:<br />

1. Die Nachricht beschreibt einen<br />

Sachverhalt.<br />

2. Die Nachricht enthält einen Teil<br />

SelbstoffenbarungdesSenders.<br />

3. Die Nachricht sagt etwas über<br />

die Beziehung zwischen Sender<br />

und Empfänger aus.<br />

4. Die Nachricht beinhaltet einen<br />

Appell.<br />

Ein angenommenes Beispiel aus<br />

dem Bereich „Hubschrauber im Einsatz“:<br />

Nachdem der Kommandant (Kdt)<br />

das Landefeld im Gelände beschrieben<br />

hatte, der Pilot (PF) die Zielansprache<br />

des Kdt als „verstanden und erkannt“<br />

bestätigt hatte, setzte der PF zur<br />

Landung auf direktem Wege an, ohne<br />

dass er den Wind dabei berücksichtigte.<br />

Der Kdt erkannte die Absicht des<br />

PF und sagte mit leicht seufzendem<br />

Unterton: „ Na, landen wir heute wieder<br />

mit Rückenwind?“<br />

Was will uns diese Nachricht<br />

sagen?<br />

Oder anders ausgedrückt: Was ist<br />

ausdrücklich auf der Mitteilungsebene<br />

formuliert worden und was steckt<br />

noch an Botschaften in dieser Nachricht,<br />

auf der Meta-Ebene, ohne daß<br />

es direkt gesagt worden ist?<br />

1. Der Sachinhalt.<br />

<strong>Das</strong>s wir heute wieder mit Rückenwind<br />

landen deutet darauf hin, dass es<br />

sich um eine unerwünschte Wiederholung<br />

eines nicht angemessenen<br />

Verhaltens handelt. Rückenwind und<br />

Fliegerei vertragen sich prinzipiell<br />

nicht, der Anflug in dieser Form ist<br />

insofern falsch.<br />

2. Die Selbstoffenbarung.<br />

Mir ist nicht wohl bei dieser Landung,<br />

das erhöhte Risiko erscheint mir<br />

34 I/2002 FLUGSICHERHEIT


unnütz. Immer, wenn das Risiko nicht<br />

bewusst kalkuliert worden war, habe<br />

ich schlechte Erfahrungen mit solchen<br />

Landungen gemacht. Außerdem ist es<br />

sehr belastend, ständig mit solchen<br />

Anfängern zu fliegen.<br />

3. Die Beziehungsebene.<br />

Ohne meine Hilfe kann „er“ (PF)<br />

nicht die richtige Entscheidung treffen.<br />

Eine Sachauseinandersetzung ist „er“<br />

mir nicht wert. “Er“ kann mir ja doch<br />

nicht das Wasser reichen. Wenn „er“<br />

spürt, dass ich dominiere, wird „er“<br />

sich demnächst wohlgefälliger verhalten.<br />

4. Der Appell.<br />

Ändere die Anflugrichtung und<br />

lande nicht mit Rückenwind!<br />

Dieses Beispiel wirft nur einen kurzen<br />

Fokus auf einen vermutlich bereits<br />

länger andauernden Kommunikationsprozess<br />

innerhalb der Besatzung,<br />

der an dieser Stelle auch nicht beendet<br />

sein wird. Er wird sich dynamisch<br />

weiter entwickeln. Uns ist hier an folgenden<br />

Fragen gelegen:<br />

Bringt diese Art der Kommunikation<br />

die Besatzung am schnellsten<br />

dort hin, wo sie hin will?<br />

Taugt diese Art der Kommunikation<br />

dazu, schnell und präzise die<br />

eigene Vorstellung über die<br />

momentane reale Situation und<br />

den damit verbundenen eigenen<br />

Absichten stressresistent an den<br />

Empfänger weiterzugeben, so<br />

dass dieser Input sachgerecht<br />

und damit zügig und sicher verarbeitet<br />

werden kann?<br />

Setzt diese Art der Kommunikation<br />

Kapazitäten frei, oder blockiert<br />

sie eher, weil sich der<br />

Empfänger mehr mit der Frage<br />

auseinandersetzt „was will der<br />

jetzt von mir“, als das Risiko einer<br />

Rückenwindlandung richtig einzuschätzen.<br />

Natürlich liegt die Lösung auf der<br />

Hand. Der Kdt möchte eine Landung<br />

mit Rückenwind vermeiden; der PF hat<br />

nicht geäußert, dass er das erhöhte<br />

Risiko einer Landung mit Rückenwind<br />

erkannt hätte. Die Vorstellungen bei-<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

der Besatzungsangehörigen über den<br />

weiteren Verlauf des Fluges sind nicht<br />

deckungsgleich und die Zeit drängt. Es<br />

ist nicht die Zeit „Beziehungskisten“<br />

auszuleben, oder mit verkappten und<br />

missverständlichen Anmerkungen<br />

Handwerkliches (skill-/rule-knowledgebased)<br />

20 abzurufen. Kommunikation<br />

in diesem Beispiel verlangt nach sachbezogener<br />

Informationsverarbeitung<br />

und einer klaren Anweisung zu einem<br />

konkreten Verhalten.<br />

Fortsetzung des Beispiels mit geändertem<br />

Ablauf:<br />

Nachdem der Kdt die Absicht des<br />

PF erkannt hatte, sagte er: „ Der<br />

Rückenwind ist zu stark! Right-Hand-<br />

Pattern zur Landung.<br />

Hätte sachgerechte Kommunikation<br />

den gesamten Flug beherrscht,<br />

dann hätte der Informationsaustausch<br />

zwischen Kdt und PF in der Phase des<br />

Anfluges wie folgt ablaufen können 21 ,<br />

Kdt: “Landefeld 12 Uhr, Mittelgrund,<br />

Lichtung links des Weges,<br />

Wind 5 Uhr,<br />

Risiko Leewirbel.“<br />

PF:<br />

“Landefeld erkannt,<br />

Righthand Pattern gegen Wind,<br />

langes Final, kurze Landung<br />

wegen Leewirbel.“<br />

Diese Art der Kommunikation ist<br />

standardisiert, reversibel und funktioniert<br />

auch noch im “Stress“. Sie erfüllt<br />

die Vorgaben für eine sachgerechte<br />

Kommunikation.<br />

Stellt man sich das Kommunikationsviereck<br />

in einer anderen Art und<br />

Weise vor, nämlich als vierohrigen<br />

Empfänger, so kann anhand dieses<br />

Bildes verdeutlicht werden, dass die<br />

meisten Menschen auf einem Ohr<br />

überzogen „deutlich“ hören – meistens<br />

handelt es sich dabei um das<br />

„Beziehungsohr“.<br />

Wir wollen dies nur als Tatsache<br />

feststellen und nicht tiefere Ursachenforschung<br />

betreiben. Unsere Aufgabe<br />

als Besatzungsangehörige ist es, die<br />

richtigen Rückschlüsse daraus zu ziehen<br />

Transaktionsanalyse<br />

Die Transaktionsanalyse (TA) ist ein<br />

weiteres Modell, um kommunikative<br />

Abläufe, insbesondere auf der Beziehungsebene,<br />

plastisch darzustellen.<br />

Dabei hat dieses Modell den Vorteil,<br />

das Hin und Her einer fließenden<br />

Kommunikation sichtbar zu machen;<br />

sie soll deshalb kurz angesprochen<br />

werden.<br />

Die TA geht davon aus, dass drei<br />

„Herzen in unserer Brust schlagen“;<br />

genauer gesagt, drei Persönlichkeitsinstanzen,<br />

die sich als jeweilige Ich-<br />

Zustände abwechselnd als Eltern-Ich,<br />

Kindheits-Ich oder als Erwachsenen-<br />

Ich zu Wort melden können. Sie haben<br />

folgende Prägungen erfahren:<br />

Wenn sich zwei Individuen gegenüberstehen,<br />

mit je drei Herzen in jedermans<br />

Brust, so kann man sich leicht<br />

vorstellen, wie die Reaktionen auf<br />

bestimmte Aktionen aussehen, wenn<br />

35


Eltern-Ich<br />

Erwachsenen-Ich<br />

die Ebene der Ansprache nicht richtig<br />

gewählt ist.<br />

„Na, landen wir heute wieder mit<br />

Rückenwind“ entstammt dem Eltern-<br />

Ich und zielt auf das Kindheits-Ich<br />

des anderen. Dieser andere wird sich<br />

das nicht bieten lassen und je nach<br />

Prägung seines Kindheits-Ichs und<br />

seines Temperaments reagieren; offen<br />

rebellisch, oder vielleicht unterwürfig<br />

leise in sich hinein („so ein Spinner“),<br />

oder aber ganz anders. Auf jeden Fall<br />

ist die so eskalierende Auseinandersetzung<br />

nicht hilfreich und trägt nicht<br />

dazu bei, das Risiko einer Rückenwindlandung<br />

zu beseitigen.<br />

Wir alle kennen<br />

solche<br />

Situationen aus<br />

der Sichtweise<br />

der einen, aber<br />

auch der anderen<br />

Seite. Es ist wichtig,<br />

alle drei Ich-<br />

Zustände zu pflegen<br />

und angemessen<br />

einzusetzen.<br />

Im Cockpit<br />

allerdings muss<br />

das Erwachsenen-Ich der dominierende<br />

Ich-Zustand sein, um nicht nur<br />

sachlich und richtig zu kommunizieren,<br />

sondern auch noch zwischenmenschlich<br />

gut und einwandfrei dazu.<br />

Die Vorteile, die damit in Zusammenhang<br />

stehen, sind mit den<br />

angeführten Argumenten des vorangegangenen<br />

Abschnitts hinreichend<br />

erklärt und gelten hier uneingeschränkt.<br />

Angemessene und gute Kommunikation<br />

hält die Aufmerksamkeit<br />

mit relevanter Information im<br />

Cockpit und bei der Sache.<br />

Werte, Normen, Lebensweisheiten,<br />

Kritik sowie Hilfe und<br />

Behütung.<br />

sachlich, informierend, feststellend,<br />

analysierend, um<br />

Auskunft ersuchend.<br />

Kindheits-Ich natürlich ausgelassen, verspielt,<br />

spontan<br />

angepasst brav, unterwürfig<br />

rebellisch trotzig, patzig, wehleidig.<br />

Kommunikationsfertigkeiten<br />

Bekanntlich ist Kommunikation weder<br />

Energie noch Materie; unsere<br />

naturwissenschaftlichen Erklärungsmodelle<br />

stoßen an ihre Grenzen.<br />

Dennoch kann Kommunikation als<br />

Energieträger gesehen werden, weil<br />

beim jeweiligen Kommunikanten<br />

Energie freigesetzt wird, die ihn in die<br />

Lage versetzen, Aktivitäten zu vollziehen.<br />

Zweifelsohne bedarf es dafür<br />

Energie. Also stehen Kommunikation<br />

und Energie in engem Zusammenhang.<br />

Für uns bleibt also nur die Frage<br />

nach der Richtung der ausgelösten<br />

Energieströme und deren Vorzeichen.<br />

Wir wollen sachgerechte Energieströme,<br />

die Teil der Lösung und nicht<br />

Teil des Problems sind.<br />

<strong>Das</strong>s wir Energie sowohl per eigenem<br />

Bewusstsein (autosuggestiv) aktiv<br />

in uns selbst auslösen können, als<br />

auch passiv durch Verhalten anderer in<br />

uns ausgelöst wird, ist selbstredend<br />

und braucht nicht weiter vertieft werden.<br />

Ein großes Problemfeld steckt dabei<br />

in unserer Fähigkeit zur Grammatik.<br />

Wir können nicht nur beschreiben was<br />

jetzt gerade stattfindet, sondern auch<br />

das, was gewesen ist und das, was<br />

sein wird. Wir können sogar Dinge<br />

sagen, die wir gar nicht meinen, oder<br />

Vermutungen andeuten, die wir zwar<br />

meinen, aber nur vieldeutig verpacken<br />

ohne angreifbar zu sein.<br />

Wenn wir also davon ausgehen,<br />

dass Kommunikation in seiner Richtung<br />

sachgerecht und im Vorzeichen<br />

stark und positiv sein soll, bedarf es<br />

folglich einiger Regeln, damit keine<br />

Zeit mit “Beziehungskisten“ vertan<br />

wird, die in der Sache überhaupt nicht<br />

weiter helfen.<br />

Hier nun einige Gesprächsfertigkeiten<br />

zur Vermittlung von klaren Botschaften:<br />

1. Für sich selbst sprechen!<br />

Eine über sich selbst gemachte<br />

Aussage kann schwer angezweifelt<br />

werden.<br />

2. Sinneswahrnehmungen<br />

mitteilen!<br />

Konkrete Beobachtungen mit<br />

Schlussfolgerungen zu verbinden<br />

führt dazu,<br />

- dass allgemeines Gerede vermieden<br />

wird<br />

- mehr Objektivität möglich ist<br />

- klare und präzise Gedankengänge<br />

generiert werden und<br />

- der Zugang Dritter zu eigenen<br />

Schlussfolgerungen möglich<br />

wird.<br />

Wahrnehmungen müssen wie<br />

folgt beschrieben werden:<br />

- sachbezogen<br />

- wahrnehmbar<br />

- spezifisch<br />

- verständlich<br />

- verifizierbar<br />

3. Gedanken mitteilen!<br />

Wer seine Gedanken mitteilt, sagt,<br />

was sich seiner Meinung nach ereignet.<br />

Gedanken sind Hypothe-<br />

36 I/2002 FLUGSICHERHEIT


sen über eine Situation und deren<br />

Entwicklung. Sie sollen Reaktionszeiten<br />

verringen helfen 22 , stehen<br />

aber oft auf fragwürdigen Fundamenten<br />

und bedürfen deshalb der<br />

ständigen Überprüfung aufgrund<br />

exakter Wahrnehmungen 23 .<br />

Problemfelder:<br />

- Gedanken nicht mit Wahrnehmungen<br />

verwechseln<br />

- Meinungen werden oft durch<br />

noch mehr Daten unterstützt,<br />

die in Wirklichkeit nur mehr<br />

Begründungen für die eigenen<br />

Gedanken darstellen<br />

- Gedanken als das erkennen, was<br />

sie sind – Hypothesen. Man muß<br />

sie anzweifeln können/dürfen,<br />

wenn andere Informationen verfügbar<br />

werden<br />

- Annahmen sind besonders<br />

mächtige Interpretationen.<br />

Mentale Modelle sind stärker als<br />

jede Warnung oder sonstige<br />

Hinweise.<br />

4. Gefühle mitteilen!<br />

Gefühlsäußerungen sind:<br />

- direkte Enthüllungen der eigenen<br />

Befindlichkeit<br />

- Informationsfragmente, die dem<br />

anderen mitteilen, wie eine<br />

Situation erlebt wird<br />

- Thermometer und Barometer für<br />

das Situationserlebnis.<br />

Männer finden es gefährlich, ihre<br />

Gefühle mitzuteilen. Sie möchten<br />

nichts aufwühlen, was sie nicht<br />

kontrollieren können und verbinden<br />

Gefühle mit den Extremen<br />

“Explosivität“ und “Schwäche“<br />

und übersehen, dass der<br />

Gefühlsreichtum zwischen den<br />

Extremen genutzt werden kann 24 .<br />

Gegen Gefühle kann nicht argumentiert<br />

werden.<br />

5. Absichten ausdrücken!<br />

- verhindert unnötiges Raten der<br />

anderen<br />

- beseitigt versteckte Pläne<br />

- reduziert den allgemeinen Druck<br />

6. Handlungen mitteilen!<br />

Handlungsäußerungen beschreiben<br />

das Verhalten<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

- was gerade getan wurde<br />

- was gerade getan wird<br />

- was künftig getan werden wird.<br />

<strong>Das</strong> Aussprechen von Handlungen<br />

ist die Brücke zum Vertrauen,<br />

- dabei sollte auf nichtverbale<br />

Reaktionen der anderen geachtet<br />

werden<br />

- wer sein eigenes Verhalten<br />

akzeptiert, seine Handlungen<br />

äußert, beweist eine positive<br />

Selbsteinschätzung<br />

- Handlungsäußerungen über die<br />

Zukunft sind Führungsäußerungen<br />

25<br />

- auf eigene Körpersignale achten.<br />

Dieses Angebot an Verhaltensstrategien<br />

ermöglicht sachgerechte Kommunikation<br />

auch in Fällen, in denen<br />

persönliche Harmonie zwischen den<br />

Akteuren prinzipiell nicht sehr ausgeprägt<br />

ist. Profis können damit umgehen.<br />

Dennoch macht uns Stress manchmal<br />

zu schaffen.<br />

Stressresistente<br />

Kommunikation<br />

Wer den eigenen Druck in der akuten<br />

Situation kontrollieren möchte,<br />

dem bleibt oft nur die richtige Atemtechnik,<br />

um das “Gröbste“ schnell<br />

und heil zu überstehen. Darüber hinaus<br />

bleibt nur Denken, im Sinne von<br />

Umbewerten, oder Handeln, im Sinne<br />

von Veränderung der Situation.<br />

Im Umgang mit anderen hat schon<br />

der viel gewonnen, der es versucht,<br />

den jeweils anderen zu verstehen.<br />

Dadurch kann sehr viel Stress verhindert<br />

werden, weil klare Vorstellungen<br />

darüber bestehen, was der andere<br />

denkt und wo er die Grenzen des<br />

Möglichen sieht.<br />

Stressresistente Kommunikation ist<br />

die Voraussetzung dafür, das Crew-<br />

Concept unter allen Bedingungen<br />

anwenden zu können.<br />

<strong>Das</strong> gute Crewmitglied sagt das<br />

Richtige.<br />

<strong>Das</strong> bessere Crewmitglied sagt<br />

das Richtige zeitgerecht.<br />

<strong>Das</strong> beste Crewmitglied sagt das<br />

Richtige zeitgerecht und in angemessener<br />

Art und Weise.<br />

Zusammenfassung<br />

Angemessen zu kommunizieren ist<br />

sehr schwierig, denn Kommunikation<br />

will Einfluss auf die Vorstellungen des<br />

anderen nehmen, wobei nur die eigenen<br />

Vorstellungen als Grundlage dafür<br />

dienen.<br />

Unter Beanspruchung verliert sich<br />

in der Regel als erstes die Fähigkeit,<br />

verbal zu kommunizieren und damit<br />

die Fähigkeit, ein Luftfahrzeug sicher<br />

zu führen.<br />

HUMAN PERFORMANCE LIMITATI-<br />

ONS (HPL) setzen enge Grenzen des<br />

eigenen Handelns und der Einflussnahme<br />

in Krisen. Gute und richtige<br />

Kommunikation hält die Leistungsfähigkeit<br />

hoch und kann in kritischen<br />

Situationen Teil des Vorgangs der<br />

Problembeseitigung sein, weil sie<br />

Ressourcen für die Bewältigung des<br />

Unvorhersehbaren bereithalten kann.<br />

Allerdings nur dann, wenn Standards<br />

bestehen und diese trainiert werden.<br />

Die Annahme, sachgerechte Kommunikation<br />

würde schon angewendet<br />

werden, sobald es “eng“ würde, man<br />

bräuchte das nicht zu üben, ist falsch<br />

und verstellt den Blick für Grenzen, die<br />

es schließlich frühzeitig anzuerkennen<br />

gilt.<br />

Kommunikation ist in der Lage<br />

eine Besatzung qualitativ zu verändern;<br />

von einer Ansammlung<br />

von Individuen hin zu einem Team.<br />

<br />

1 Für die Bearbeitung dieses Beitrages stand folgende<br />

Literatur zur Verfügung:<br />

Krech/Crutchfield u.a.: Grundlagen der<br />

Psychologie / Beltz Verlag, Weinheim 1992.<br />

Asanger; Wenninger: Handwörterbuch<br />

Psychologie / Beltz Verlag, Weinheim 1999.<br />

Legewie Heiner, Ehlers Wolfram: Handbuch<br />

moderne Psychologie / Bechtermünz Verlag,<br />

Augsburg 2000.<br />

Forgas, Josef P.: Soziale Interaktion und<br />

Kommunikation / Beltz Verlag, Weinheim 1999.<br />

Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander<br />

37


eden Bd 1-3 / Rowohlt Verlag, Reinbeck 1981.<br />

Schmidt, Rainer: Immer richtig miteinander<br />

reden / Junfermann Verlag, Paderborn 1999.<br />

Watzlawick, Paul u.a.: Menschliche<br />

Kommunikation / Verlag Hans huber, Bern 1990.<br />

Cole, Kris: Kommunikation klipp und klar / Beltz<br />

Verlag, Weinheim 1999.<br />

Gehm, Theo: Kommunikation im Beruf / Beltz<br />

Verlag, 1999.<br />

Orlady Harry W., Orlady Linda M.: Human<br />

Factors in Multi-Crew Flight Operations / Ashgate<br />

Publishing.<br />

Wiener Earl L., Helmreich Robert L., Kanki<br />

Barbara G.: Cockpit Resource Management /<br />

Academic Press, san Diego 1993.<br />

Kern Tony: Redefining Airmanship / Library of<br />

Congress, 1997.<br />

2 Dieses Modell ist hinreichend bekannt.<br />

3 Anmerkung des Verfassers: demnach ist die<br />

Mundart “Kölsch“ ein eigenständiges<br />

Kommunikationssystem.<br />

4 Siehe auch: “Menschliche Kapazitäten – Grenzen<br />

anerkennen“.<br />

5 Siehe auch: “Wahrnehmung“.<br />

6 Der Mensch gehört zur Kategorie des Bio-Kybernetischen-Regelkreises.<br />

7 Der Begriff Stress wird hier als unerwünschter,<br />

schädlicher Stress verstanden, im Sinne einer<br />

hohen Aktivation mit ihren Symptomen..<br />

8 Deshalb wird auf einer international anerkannten<br />

Messskala für Stress der Verlust eines geliebten<br />

Angehörigen auch mit dem in dieser Skala maximal<br />

möglichen Wert von 100 angegeben.<br />

9 Die Literatur spricht davon, dass ein Student im<br />

ersten Semester über 2000-3000 Begriffe verfügt.<br />

Entsprechende Wissenserweiterung kann nach<br />

Abschluss des Studiums zu einem präsenten<br />

Wortschatz von ca.6000 Begriffen führen. Ein<br />

Ausbau bis ca. 9000 ist möglich.<br />

10 Siehe auch: “Wahrnehmung –<br />

<strong>Wahrnehmungs</strong>intervall“.<br />

11 Mit Beanspruchung ist hier den Umgang mit<br />

Belastung gemeint. Interne Bewertungsvorgänge<br />

lassen vergleichbare Ereignisse in unterschiedlichen<br />

Rahmenbedingungen unterschiedlich dramatisch<br />

erscheinen. „Stress findet im Kopf statt“!<br />

12 Die Stimmlage hebt an, wenn Beanspruchung<br />

steigt.<br />

13 Siehe auch: “Menschliche Kapazitäten –<br />

Aktivation“.<br />

14 Nicht mehr sprechen können, nicht mehr denken<br />

können, nicht mehr handeln können.<br />

15 <strong>Das</strong> Modell “Sprachvolumen 3 – Stressmodell“<br />

soll verdeutlichen, wie einzelne Besatzungsangehörige<br />

/ Crewmember (CM), in diesem Beispiel<br />

drei CM mit je einem individuellen Sprachvolumen,<br />

unter dem Einfluss von erlebtem Stress ihre<br />

Kommunikationsfähigkeit verlieren und u.U. ihre<br />

gesamte Leistungsfähigkeit einbüßen, wenn sie<br />

auf der “Aktivationsleiter“ zu weit nach rechts<br />

auswandern. Es ist nachweisbar, dass CM, je nach<br />

erlebter Bedeutung einer Situation, nacheinander<br />

das Kommunikationsvermögen verlieren, bis hin<br />

zur allgemeinen Sprachlosigkeit.<br />

16 Betriebssprache ist hier nicht durchgängig einheitlich,<br />

bisweilen individuell und außerhalb des<br />

„eigenen“ Verbandes können für fliegerisch vergleichbare<br />

Situationen andere Begriffe entwickelt<br />

worden sein.<br />

17 Gravierende Unterschiede in: Dienstgrad, Dienststellung,<br />

Zusatzberechtigungen, Flugstunden,<br />

Alter, usw.<br />

18 Siehe auch: “Menschliche Kapazitäten –<br />

Aktivation“ und “Wahrnehmung“, Keywords/-<br />

phrases kommen mentalen Schaltern gleich, die<br />

per Zuruf auch dann noch „umgelegt“ werden<br />

können, um eine Handlung einzuleiten, wenn<br />

kaum noch eigenständiges Handeln möglich ist.<br />

Auch das funktioniert nur nach vorherigem<br />

Training.<br />

19 Siehe auch: “Wahrnehmung – unbewusste<br />

Wahrnehmung“.<br />

20 Siehe auch: “Entscheidungsfindung – S-R-K-<br />

Modell“.<br />

21 Vorbehaltlich anders lautender Standardisierung in<br />

den TSK.<br />

22 Siehe auch: “Aufmerksamkeit – Priming“.<br />

23 Siehe auch: “Entscheidungsfindung – Rubikon“.<br />

24 Siehe auch: “Wahrnehmung – unbewusste<br />

Wahrnehmung“.<br />

25 Siehe auch: “Führungs- und Handlungsverantwortung“.<br />

38 I/2002 FLUGSICHERHEIT


Entscheidungsfindung<br />

Allgemeines<br />

Der Entscheidungsfindungsprozess<br />

gehört zur Kategorie menschlicher Informationsverarbeitung.<br />

Unser waches<br />

Leben ist ein kontinuierlicher Prozess<br />

ständiger Entscheidungen auf unterschiedlichen<br />

Bewusstseinsebenen 1 .<br />

Es darf festgestellt werden, dass<br />

Informationsverarbeitung immer wissensgestützt<br />

2 erfolgt und damit auch<br />

Entscheidungen auf jegliche Art von<br />

Wissen zurückgreifen.<br />

Unsere Entscheidungen betreffen<br />

viele Bereiche des täglichen Lebens.<br />

Eine Abgrenzung in groben Kategorien,<br />

über was wir entscheiden, könnte<br />

auszugsweise wie folgt aussehen:<br />

Körperbewegungen im weiteren<br />

Sinne,<br />

Objektauswahl,<br />

soziale Kontakte,<br />

Lebensplanung,<br />

Handlungen,<br />

Risikobereitschaft<br />

Dieser Beitrag wird sich im wesentlichen<br />

auf die Kategorie der Handlungen<br />

konzentrieren, weil diese in<br />

einem fliegerischen Umfeld, ungeachtet<br />

dessen, wodurch und wie sie ausgelöst<br />

wurden, in die eine oder andere<br />

Richtung unmittelbar sicherheitsrelevanten<br />

Charakter haben können.<br />

Da es sich bei einem Entscheidungsfindungsprozess,<br />

wie bereits<br />

oben erwähnt, immer um wissensgestützte<br />

Informationsverarbeitung handelt<br />

3 , wird klar, dass eine Entscheidung<br />

nur unter bestimmten Voraussetzungen<br />

herbeigeführt wird. Die fiktive<br />

Aufforderung ohne Kontext „entscheide<br />

mal was“ 4 , wird bei dem so<br />

angesprochenen Gegenüber sicherlich<br />

nur Unverständnis und Kopfschütteln<br />

hervorrufen.<br />

Was brauchen wir denn nun, um<br />

überhaupt entscheiden zu können?<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

Eine Triade 5<br />

Jeder Handlung geht ein Anstoß,<br />

ein Impuls voraus, aus dem heraus ein<br />

Entscheidungsfindungsprozess ausgelöst<br />

werden kann.<br />

Jede Variante von unterschiedlichen<br />

Entscheidungsfindungsprozessen läuft<br />

prinzipiell nach dem gleichen Muster<br />

ab. Zunächst muss ein Konflikt wahrgenommen<br />

6 werden, erst dann setzt<br />

ein Entscheidungsfindungsprozess ein,<br />

der mit einer Entscheidung abgeschlossen<br />

wird und aus der heraus<br />

letztlich ein Entschluss formuliert wird.<br />

Dabei ist für uns die Unterscheidung<br />

zwischen Entscheidung und<br />

Entschluss eher akademisch, sie soll<br />

der Vollständigkeit halber jedoch kurz<br />

vollzogen werden.<br />

Konflikt<br />

Unter einem Konflikt wird eine<br />

Situation verstanden, in der dem<br />

Individuum bewusst wird, zwischen<br />

mindestens zwei Verhaltensweisen<br />

39


wählen zu können. Die relative<br />

Schwere des Konflikts steigt mit der<br />

Unsicherheit der Person,<br />

wie sie wählen soll,<br />

ob schwerwiegende Folgen mit<br />

der Lösung des Konflikts verbunden<br />

sind, und<br />

ob sie selbst oder Mitmenschen<br />

von den Folgen der Lösung des<br />

Konflikts betroffen sein können.<br />

Entscheidung<br />

Die Situation wird zu einer Entscheidung,<br />

wenn die Person sich<br />

genötigt sieht, eine der wahrgenommenen<br />

Alternativen zu wählen, also<br />

die Alternativen zu vergleichen, sich<br />

auf eine festzulegen und entsprechend<br />

zu handeln.<br />

Entschluss<br />

Unter Entschluss versteht man die<br />

Festlegung des Wählenden vor sich<br />

und vielleicht auch vor anderen.<br />

An dieser Definition wird klar, dass<br />

für unsere Betrachtung Entscheidung<br />

gleich Entschluss ist, weil beide dieselbe<br />

Handlung auslösen.<br />

Merkmale eines Entscheidungsprozesses<br />

<strong>Das</strong>s wir gerade mal wieder etwas<br />

entscheiden, ist uns oft gar nicht so<br />

richtig bewusst. Es gibt einige Merkmale,<br />

an denen zu erkennen ist, dass<br />

ein Entscheidungsprozeß eingesetzt<br />

hat.<br />

Die Merkmale erstrecken sich auf<br />

die Bereiche des beobachtbaren Verhaltens<br />

und des persönlichen Erlebens.<br />

Beispiele dafür sind die Unterschiede<br />

im Verhalten und Erleben vor und<br />

nach einem Fallschirmsprung, vor und<br />

nach dem Rettungsausstieg aus dem<br />

gefluteten und gekippten Unterwasserausstiegstrainer<br />

im Seeüberlebens-<br />

Trainingsbecken, bzw. vor, während<br />

und nach einer Prüfung.<br />

Wie verhält sich nun jemand, bzw.<br />

wie äußert sich das Erleben, wenn<br />

jemand einen Entscheidungsprozess<br />

durchläuft?<br />

Verhalten<br />

jemand wählt eine bestimmte<br />

Alternative, wägt ab,<br />

die Zeit, die zwischen Beginn<br />

und Ende eines Entscheidungsprozesses<br />

zur Verfügung steht,<br />

beeinflusst das Verhalten maßgeblich,<br />

von nachdenklicher<br />

Ruhe bis hin zu selbstzerstörerischer<br />

Hektik,<br />

eine gezielte Suche nach Information<br />

7 mit all ihren möglichen<br />

Auswirkungen,<br />

Anzeichen von Unsicherheit.<br />

Erleben<br />

das Ausmaß subjektiver Sicherheit,<br />

der sogenannten Konfidenz<br />

8 , sich richtig entschieden zu<br />

haben,<br />

die erlebte Konfliktstärke,<br />

die Wichtigkeit der Entscheidung,<br />

das Bedürfnis an Information.<br />

Abgrenzung 9<br />

Eine mögliche Unterscheidung verschiedener<br />

Entscheidungsfindungsprozesse<br />

ist die Unterscheidung nach Art<br />

und Umfang des kognitiven 10 Aufwands.<br />

Der Aufwand hängt weitgehend<br />

davon ab, ob die entscheidungsrelevante<br />

Information vorliegt, oder ob<br />

das notwendige Wissen erst angeeignet<br />

und strukturiert werden muss.<br />

Zwischen weitgehend automatisierten<br />

und mühelos ablaufenden Entscheidungen<br />

einerseits, ausführliche Informationssuche<br />

und –verarbeitung erfordernde<br />

Entscheidungen andererseits,<br />

gibt es einen Anstieg der Nutzung<br />

kognitiver Ressourcen.<br />

Es können vier Ebenen unterschieden<br />

werden.<br />

Routinisierte Entscheidung<br />

Die erste Ebene von Entscheidungen<br />

ist dadurch charakterisiert, dass<br />

die möglichen Optionen stets gleich<br />

sind und zwischen ihnen routinemäßig<br />

oder automatisch gewählt wird. Solche<br />

Entscheidungen verlangen den<br />

geringsten kognitiven Aufwand. Der<br />

Aufwand besteht im wesentlichen im<br />

Abgleich der gegebenen Situation mit<br />

vorgespeicherten Situationen und den<br />

in ihnen fixierten Entscheidungen;<br />

man spricht hier von einem „Matching<br />

- Prozess“.<br />

Beispiele dafür sind:<br />

Die morgendliche Fahrt mit dem<br />

Auto zum Dienst,<br />

Der Landeanflug bei gutem<br />

Wetter am Heimatflugplatz,<br />

Die Vorflugkontrolle an einem<br />

Lfz,<br />

<strong>Das</strong> Führen eines Lfz im GCA-<br />

Pattern als GCA-Controller.<br />

Stereotype Entscheidung<br />

Diese Ebene unterscheidet sich von<br />

der vorherigen dadurch, dass hier eine<br />

Entscheidung nicht durch die Gesamtsituation<br />

ausgelöst wird, sondern<br />

durch die Art der möglichen Entscheidungsoptionen<br />

und dadurch, dass ein<br />

minimaler Bewertungsprozess abläuft.<br />

Hier stecken die meisten Alltagsentscheidungen<br />

drin, die nach erlernten<br />

Bewertungsschemata ablaufen,<br />

die nicht weiter hinterfragt werden.<br />

Die Bewertung reduziert sich so auf<br />

den unmittelbaren Gesamteindruck<br />

oder auf wenige hervorstechende<br />

Merkmale der Optionen.<br />

In dieser Entscheidungsebene finden<br />

wir vorrangig intuitive Entscheidungen,<br />

die aus „dem Bauch“ heraus<br />

getroffen werden, weil sie auf Erfahrung<br />

basieren. Nach einer stereotypen<br />

Entscheidung sind wir meist<br />

zufrieden, können jedoch den Prozess<br />

der Entscheidungsfindung nicht<br />

unmittelbar rational nachvollziehen<br />

oder formulieren.<br />

Als Beispiele dafür können folgende<br />

Überlegungen gelten:<br />

Kaufe ich mir eine bestimmte<br />

Marke eines Produkts, oder ist<br />

für mich die Funktionalität vorrangig<br />

wichtig?<br />

War für mich, bei meiner<br />

Berufswahl zum LFF Fliegen das<br />

Wichtigste, oder kam es für mich<br />

nur dann in Frage, wenn Fliegen<br />

auf einem bestimmten Lfz-<br />

40 I/2002 FLUGSICHERHEIT


Muster möglich war, oder eine<br />

ganz bestimmte Organisation<br />

mir das Fliegen ermöglichte?<br />

Reflektierte Entscheidung<br />

Reflektierte Entscheidungen sind<br />

dadurch charakterisiert, dass keine aus<br />

dem Verhalten oder stereotyp abrufbaren<br />

Vorentscheidungen für die<br />

wahrgenommenen Optionen vorhanden<br />

sind. Der Entscheider denkt darüber,<br />

welcher Option er den Vorzug<br />

geben soll. Er sucht nach Informationen<br />

in seinem Gedächtnis und gegebenenfalls<br />

auch in seiner Umgebung<br />

und setzt so sein Bewusstsein in<br />

einen Zustand, der ihm die Auswahl<br />

aus verschiedenen Optionen ermöglicht<br />

– hoffentlich eine angemessene<br />

Auswahl.<br />

Dies erfordert einen wesentlich<br />

höheren kognitiven Aufwand als die<br />

bisher beschriebenen routinisierten<br />

und stereotypen Entscheidungen.<br />

Beispiele dafür könnten sein:<br />

Der Überführungsflug mit einem<br />

bewusstlosen Herz - Lungen-<br />

Patienten bei sehr schlechtem<br />

Wetter, bedrohlich abnehmendem<br />

Kraftstoffvorrat und abnehmender<br />

Batteriespannung der<br />

Herz-Lungen-Maschine,<br />

Der Wiederstart am Zwischenlandeplatz<br />

mit ausgefallenem<br />

Fahrtmesser an einem Freitag,<br />

Die Faszination eines wenig vertrauten<br />

EMERGENCIES bei gleichzeitig<br />

unzureichendem technischen<br />

Sachverstand.<br />

Die Flugsicherungsfreigabe zum<br />

Überflug des Staffelgebäudes<br />

querab zur Start- und Landebahn<br />

(aus Anlass des letzten Fluges), bei<br />

gleichzeitig stattfindenden Anflügen<br />

und Durchstartverfahren.<br />

Konstruktive Entscheidung<br />

Für diese Entscheidungsebene sind<br />

zwei weitere Aspekte charakteristisch:<br />

Die Optionen sind entweder<br />

nicht vorgegeben oder nicht hinreichend<br />

genau definiert.<br />

Die für die Entscheidung relevan-<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

ten persönlichen Werte sind entweder<br />

unklar oder müssen erst<br />

entwickelt werden.<br />

Entscheidungen auf dieser Ebene<br />

verlangen den höchsten kognitiven<br />

Aufwand, insbesondere auf dem Gebiet<br />

der Informationsbeschaffung.<br />

Beispiele dafür sind alle grundlegenden<br />

Entscheidungen und solche<br />

Entscheidungen von strategischer<br />

Dimension.<br />

Merkmale der<br />

Entscheidungsebenen<br />

Alle hier aufgeführten und kurz<br />

definierten vier Entscheidungsebenen<br />

haben auch mit Flugbetrieb zu tun,<br />

wobei letztere, die konstruktive Entscheidung,<br />

im Cockpit direkt und auf<br />

der sonstigen Arbeitsebene eines Geschwaders/<br />

eines Regiments / einer<br />

Staffel, in der Regel nicht anzutreffen<br />

sein wird bzw. nicht anzutreffen sein<br />

dürften.<br />

Alle anderen Entscheidungsebenen<br />

jedoch begleiten das tägliche Leben<br />

aller in Führungs- und Handlungsverantwortung<br />

stehenden<br />

Luftfahrzeugbesatzung,<br />

Ebene<br />

Techniker, die Lfz bereitstellen,<br />

Personal der Flugsicherung, das<br />

den Flugverkehr koordiniert und<br />

steuert.<br />

Die anschließende Tabelle soll in<br />

übersichtlicher Form verdeutlichen,<br />

wie viele kognitiven Ressourcen die<br />

einzelnen Ebenen beanspruchen und<br />

welche sich deshalb für den unmittelbaren<br />

Flugbetrieb besonders eignen<br />

und welche eher in die Planungsphase<br />

gehören.<br />

<strong>Das</strong>s solche eindeutigen Trennungen<br />

nicht immer möglich sind, weil<br />

sich Unvorhergesehenes einstellen<br />

kann, ist klar. Dennoch darf die Verfügbarkeit<br />

von Ressourcen nicht leichtfertig<br />

aufs Spiel gesetzt werden, damit<br />

das wirklich Unvorhersehbare mit den<br />

in der Situation verfügbaren Ressourcen<br />

kontrolliert werden kann.<br />

Im Flugbetrieb durchdringen, wie<br />

bereits oben angedeutet, die Ebenen<br />

eins bis drei unser Handeln. Da die verschiedenen<br />

Ebenen unterschiedlich<br />

viele mentale / kognitive Ressourcen<br />

binden, dauert es auch unterschiedlich<br />

lange, bis eine Entscheidung je nach<br />

Ebene getroffen werden kann 11 .<br />

routiniert stereotyp reflektiert konstruktiv<br />

Bewusstheit nein niedrig hoch hoch<br />

Anforderung<br />

an Aufmerk- sehr gering gering hoch sehr hoch<br />

samkeit<br />

Generierung<br />

neuer Infor- nein nein ja ja<br />

mationen<br />

Zeitdauer schnell schnell schnell-lang lang<br />

Flexibilität kaum gering hoch sehr hoch<br />

Vorstrukturiertheit<br />

sehr hoch hoch hoch-mittel gering<br />

Gedächnis- Gewohn- Schemata, Ziele, allgemeines<br />

leistung heits- Konse- Wissen<br />

hierarchie Skripte quenzen<br />

kognitive Matching Schemata- Bewertung, Konstruktions-<br />

Prozesse aktivierung Abwägen prozesse<br />

41


<strong>Das</strong> S-R-K-Modell<br />

<strong>Das</strong> SRK - modell 12 zeigt in verblüffender<br />

Weise auf, unter welchen Bedingungen<br />

Verhalten, dem natürlich<br />

immer eine Entscheidung auf einer der<br />

oben dargestellten Ebenen vorausgeht,<br />

schnell oder nicht so schnell verfügbar<br />

ist.<br />

In einer Testreihe wurden Reaktionszeiten<br />

von Lfz - Führern für bestimmte<br />

Entscheidungsprozesse gemessen,<br />

die in folgende Kategorien<br />

gegliedert waren:<br />

1. Manuelle Fertigkeiten / Reflexe<br />

SKILL BASED BEHAVIOR 13<br />

Reflexe wurde bei LFF - Anwärtern<br />

mit 150-300 Sekunden -3 (ms) gemessen;<br />

nach Abschluss von Ausbildung<br />

und Training mit bis zu 60 ms.<br />

2. Regelanwendung<br />

RULE BASED BEHAVIOR 14<br />

Die Reaktionszeit, um eine bekannte<br />

Regel anzuwenden, die zusätzlich<br />

im Rahmen der Vorbereitung für die<br />

Durchführung der Mission „gebrieft“<br />

worden war, oder aufgrund anderer<br />

mentaler Vorbereitung (Priming) 15 erwartet<br />

wurde, dauerte 2-3 sec.<br />

Die gleiche bekannte Regel, die<br />

jedoch nicht „gebrieft / geprimed“<br />

wurde und die auch nicht aufgrund<br />

anderer mentaler Vorbereitung unmittelbar<br />

abrufbar war, konnte erst nach<br />

ca. 15 sec angewendet werden.<br />

3. Wissensanwendung KNOWLEDGE<br />

BASED BEHAVIOR 16<br />

Eine Situation, die weder mit Fertigkeiten,<br />

noch mit bekannten Regeln<br />

bewältigt werden konnte, setzte einen<br />

analytischen Denkprozess in Gang, der<br />

auf allgemeines Wissen und allgemeine<br />

Erfahrung zurückgreifen musste.<br />

Hier lagen die Reaktionszeiten bei 45 +<br />

sec.<br />

Diese Werte sind unter der Bezeichnung<br />

„Rasmussenleiter“ in der<br />

einschlägigen Literatur nachzulesen<br />

und ermöglichen interessante Rückschlüsse.<br />

Eine Statistik weist darauf hin, dass<br />

Handlungen im Flugbetrieb ca. 10 - 15<br />

sec nach Ausführung ihre volle Wir-<br />

Skill based<br />

behavior<br />

Rule based<br />

behavior<br />

Knowledge<br />

based<br />

behavior<br />

kung erzielen. Sollte diese Handlung<br />

eine Situation herbeiführen, die unerwünscht<br />

ist und unter Anwenden<br />

einer weiteren bekannten, allerdings<br />

nicht präsenten, Regel korrigiert werden<br />

muss, dauert es erneut 10 - 15<br />

sec, bis die korrigierende Handlung<br />

eingeleitet werden kann.<br />

Für kritische Situationen ist dies<br />

und alles was darüber hinaus geht,<br />

ein nicht hinnehmbarer Zeitansatz.<br />

Innerhalb dieser Zeiträume geschehen<br />

Unfälle.<br />

Wir können nicht unbedingt das<br />

Geschehen um uns herum beeinflussen<br />

- wir können allerdings<br />

unsere Reaktionszeiten drastisch<br />

reduzieren.<br />

Wir sind in der Lage innerhalb von<br />

2-3 sec angemessen auf kalkulierte<br />

Herausforderungen zu reagieren. Es<br />

liegt auf der Hand, diesen Zeitansatz<br />

anzustreben und deshalb Verfahren<br />

anzuwenden, die diese Reaktionszeiten<br />

ermöglichen.<br />

Voraussetzungen<br />

für Entscheidungen<br />

Wie bereits weiter oben erwähnt,<br />

brauchen Entscheidungen einen Anstoß,<br />

der das Entscheidungsbewusstsein<br />

aktiviert. Es lohnt sich, etwas<br />

genauer hinzuschauen, denn die<br />

Geschwindigkeit und die Qualität von<br />

Entscheidungsprozessen müssen mit<br />

der Komplexität und der Dynamik des<br />

Umfeldes mithalten können.<br />

ohne Training<br />

mit Training<br />

Regel bekannt<br />

gebrieft<br />

Regel bekannt<br />

nicht gebrieft<br />

≥ 45 sec<br />

ca. 0,3 sec<br />

≥ 0,06 sec<br />

ca. 2 sec<br />

ca. 15 sec<br />

<strong>Das</strong> größte Hindernis dabei ist, den<br />

entsprechenden Bewusstseinszustand<br />

herzustellen, denn viel zu oft gaukelt<br />

uns unser mentales Modell 17 einen<br />

Zustand über die uns beeinflussende<br />

Wirklichkeit vor, der mit Realität kaum<br />

vereinbar ist und dennoch halten wir<br />

allzu gern, auch unter Energieaufwand,<br />

an der eigenen Vorstellung fest.<br />

Im Folgenden soll der Versuch<br />

unternommen werden, bildhaft darzustellen,<br />

wie die Systematik eines Entscheidungsfindungsprozesses<br />

rechtzeitig<br />

ausgelöst werden kann.<br />

Der Weg-Ziel-Konflikt<br />

Die Entscheidung braucht einen<br />

wahrgenommenen Weg-Ziel-Konflikt.<br />

Damit ist gemeint, dass ein bekannter<br />

Plan nicht wie vorgesehen durchgeführt<br />

werden kann, weil etwas Unvorhergesehenes<br />

eingetreten ist, wodurch<br />

die Zielerreichung gefährdet sein<br />

könnte.<br />

Dinge, die vorhersehbar waren,<br />

wurden in die Planung mit einbezogen<br />

und für den Fall des Eintretens mit<br />

Ausweichplanungen bedacht. Um<br />

Plan „B“ oder „C“ anzuwenden, fände<br />

eine Entscheidung auf der „Ebene<br />

zwei“ statt, die unverzüglich umgesetzt<br />

werden könnte, weil alle dafür<br />

erforderlichen Parameter bekannt,<br />

durchdacht und gebrieft bzw. benannt<br />

worden sind.<br />

Tritt, wie in dem geschilderten Beispiel,<br />

etwas Unvorhergesehenes ein,<br />

erreicht der Entscheidungsfindungs-<br />

42 I/2002 FLUGSICHERHEIT


prozess die „Entscheidungsebene<br />

drei“, sofern mehrere Optionen für ein<br />

angemessenes Verhalten zur Verfügung<br />

stehen und Erfahrungen bzw.<br />

Wissen aus vorangegangenen ähnlichen<br />

Situationen vorliegen. Dennoch<br />

werden hier deutlich mehr Ressourcen<br />

verbraucht, um eine Entscheidung auf<br />

dieser Anforderungsebene herbeizuführen.<br />

Die Feststellung der Normabweichung<br />

Die Orientiertheit darüber bzw. das<br />

Bewusstsein, dass eine Entscheidung<br />

zu fällen ist, kann zeitgerecht erreicht<br />

werden, wenn die Grenze, an der<br />

spätestens eine Entscheidung zu fällen<br />

ist, bekannt ist. Doch damit nicht genug.<br />

Diese Grenze muss im Kontext<br />

des Vorhabens identifiziert und verbalisiert<br />

18 werden, damit die Reaktionszeiten<br />

nach der Rasmussenleiter<br />

entsprechend verkürzt werden<br />

können.<br />

Grundlage für die Beschreibung<br />

einer Grenze ist die Beschreibung der<br />

Norm mit ihren Toleranzen.<br />

In diesem Beispiel ist die Norm (nor-<br />

mal operating) einer Leistungsanforderung<br />

(LA) mit ihrer Toleranz (never<br />

exceed line) für Tätigkeiten (T) im<br />

Rahmen eines Handlungsabschnitts im<br />

Prinzip dargestellt.<br />

Weitere Leistungsanforderungen in<br />

einem fliegerischen Umfeld können<br />

sich in Anlehnung an Toni Kern (siehe<br />

„Aufmerksamkeit“) auf folgende Bereiche<br />

beziehen:<br />

Die eigene Leistungsfähigkeit<br />

Leistungsfähigkeit des Teams<br />

Leistungsfähigkeit des technischen<br />

Systems<br />

Einsatzbedingungen<br />

Rahmenbedingungen des Umfeldes<br />

Die nächste Grafik zeigt eine Abweichung<br />

von einer definierten Normtoleranz<br />

innerhalb eines Handlungsabschnitts,<br />

die eine Entscheidung erforderlich<br />

macht.<br />

Im günstigsten Fall würde die Entscheidung<br />

bereits mit der Wahrnehmung<br />

der Trendlinie getroffen<br />

werden.<br />

Mit der Benennung einer „never<br />

exceed line“ an der Toleranzgrenze<br />

von Normen ist nur ein Teil für das Ziel<br />

einer zeitlich und qualitativ angemessenen<br />

Entscheidungsfindung getan.<br />

Der andere Teil besteht daraus, diese<br />

Grenze effizient zu überwachen.<br />

Die Überwachung der Norm<br />

Die Qualität jeder Entscheidung<br />

hängt von dem Grad der jeweiligen<br />

Orientiertheit bezüglich des relevanten<br />

Umfeldes, oder anders formuliert, der<br />

jeweiligen Sensibilität des Bewusstseins<br />

ab.<br />

Ein situationsangemessenes Bewusstsein<br />

ist die Voraussetzung für<br />

gute Entscheidungen und gründet<br />

primär auf Fakten. Um die Kontrolle<br />

über den komplexen, dynamischen<br />

Ablauf eines Geschehens zu behalten,<br />

ist die ständige Überwachung der<br />

never exceed lines erforderlich. Dies<br />

geschieht mittels situativer Aufmerksamkeit<br />

(SA), die zielgerichtet<br />

Grenzen überwacht – eine hohe Anforderung<br />

an die menschlichen Fähigkeiten,<br />

die nur unter bestimmten Bedingungen<br />

erbracht werden kann 19 .<br />

Dieser Aspekt wird in einem eigenen<br />

Artikel behandelt.<br />

Nicht genug, dass das Bewusstsein<br />

eine entscheidende Rolle spielt. Nein,<br />

wir als Menschen unterliegen auch<br />

noch einem Bewusstseinswandel im<br />

Gesamtgeschehen von der Planung<br />

bis hin zur Durchführung.<br />

<strong>Das</strong> Bewusstsein in<br />

der Entscheidungsphase<br />

Gehen wir an die Planung eines<br />

Vorhabens, so beginnen wir mit einem<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

43


Vergleich zwischen der Ausgangslage<br />

und dem angestrebten Zielzustand.<br />

Die Lage wird deutlicher, wenn entsprechende<br />

Informationen vorliegen;<br />

also suchen wir Informationen, die wir<br />

zuordnen und bewerten. Wir halten<br />

dafür verschiedene Regeln und<br />

Strategien parat, die der jeweilige<br />

Situation angepasst werden.<br />

Es gilt das Prinzip:<br />

Je höher der Zeitdruck, desto einfacher<br />

die Regeln. Im Extremfall<br />

werden nur die wichtigsten Merkmale<br />

beachtet 20 .<br />

Diese Vorgänge sind nicht neu und<br />

werden in aller Regel systematisiert angewendet.<br />

Sie gelten im privaten wie<br />

auch im dienstlichen Bereich und müssen<br />

daher auch nicht weiter vertieft<br />

werden.<br />

Es ist jedoch bemerkenswert, dass<br />

der Grad an Intensität, mit der Informationen<br />

gesucht, zugeordnet und<br />

bewertet werden wesentlich davon<br />

abhängt, wie stark der Planende persönlich<br />

vomGeschehen, welches durch<br />

die angestrebte Entscheidung ausgelöst<br />

wird, betroffen ist 21 , wie hoch sein<br />

Selbstbezug ist.<br />

Neben dieser persönlichen Betroffenheit<br />

mit ihrer möglichen Sorge um<br />

Konsequenzen, spielen auch noch persönliche<br />

Motive eine Rolle 22 . Stark<br />

systematisierte Entscheidungsprozesse<br />

sind weitestgehend frei von solchen<br />

Erscheinungen. Individuelle Entscheidungsprozesse<br />

jedoch sind davon sehr<br />

stark geprägt. Oft spielt dabei auch die<br />

Gelegenheit für ein bestimmtes Verhalten<br />

eine entscheidende Rolle 23 .<br />

Stellvertretend für so Viele soll eine<br />

Episode aus der Lebensgeschichte<br />

Cäsars kurz geschildert werden, die<br />

das motivationale Abwägen vor einer<br />

wichtigen Entscheidung beschreibt:<br />

Cäsar war aus Gallien abberufen<br />

worden und sollte als Triumphator in<br />

Rom empfangen werden. Bedingung<br />

dafür war, dass er, wie jeder andere<br />

Feldherr vor ihm auch, vor Einzug in<br />

die Stadt seine Truppen aufzulösen<br />

hatte. Mit dieser Regel konnte und<br />

wollte er sich nicht abfinden, weil das<br />

seinen persönlichen Niedergang bedeutet<br />

hätte. Nun stand er im Jahre 49<br />

v.Ch. nördlich der Stadt Rom am Flüsschen<br />

RUBIKON 24 und wusste nicht so<br />

recht, wie er sich letztlich entscheiden<br />

sollte, denn ein Überschreiten des RU-<br />

BIKON mit seinen Legionen hätte<br />

sicher einen Bürgerkrieg mit ungewissem<br />

Ausgang ausgelöst. Eine ganze<br />

Nacht lang brauchte er, um sich immer<br />

wieder mit seinen engsten Vertrauten<br />

zu beraten, in sich zu gehen, sich wieder<br />

zu beraten, bis er endlich im<br />

Morgengrauen ausrief: „Die Würfel<br />

sind gefallen“. Er überschritt den RU-<br />

BIKON, löste den Bürgerkrieg aus, an<br />

dessen Ende er siegreich war. Für die<br />

nächsten Jahre sollte er als Kaiser die<br />

Geschicke Roms und seine eigenen<br />

bestimmen. 25<br />

Hier wird deutlich, dass auch Cäsar,<br />

unter dem Eindruck eines maximalen<br />

Selbstbezuges, jede Information, jede<br />

Bewertung, auch seiner Vertrauten,<br />

jedes Motiv und jedes Risiko identifizieren<br />

und in die Gesamtbeurteilung<br />

mit einbeziehen wollte und alles ihm<br />

mögliche daran setzte, dies auch zu<br />

tun. Am Ende dieses Entscheidungsprozesses,<br />

der<br />

hoch realitätsorientiert und<br />

offen für alle entscheidungsrelevanten<br />

Informationen<br />

war, stand die Entscheidung mit<br />

ihrem Entschluss. Doch wie sah die<br />

Bewusstseinslage Cäsars nach Überschreiten<br />

des RUBIKON aus?<br />

<strong>Das</strong> Bewusstsein<br />

in der Willensphase<br />

Nach einem Entschluss erfolgt in<br />

der Regel unmittelbar die Umsetzung.<br />

<strong>Das</strong> heißt, das im Anschluss an die<br />

Phase des planerischen Abwägens,<br />

nun die Willensphase einsetzt und mit<br />

ihr vollzieht sich eine Bewusstseinsänderung.<br />

Bis zu einem gewissen<br />

Grad muss das so sein, denn auch<br />

Cäsar hätte sein Ziel vermutlich nicht<br />

erreicht, wenn er sich immer wieder, in<br />

kurzen Abständen, Phasen des motivationalen<br />

Abwägens hingegeben<br />

hätte. Irgendwann muss eben konsequent<br />

gehandelt werden.<br />

Die Willensphase zeichnet sich<br />

dadurch aus, dass sich Menschen, im<br />

Gegensatz zur Entscheidungsphase,<br />

sehr hoch realisierungsorientiert verhalten.<br />

<strong>Das</strong> bedeutet, dass auch<br />

durchaus wichtige Informationen, die<br />

in der Entscheidungsphase gerne aufgenommen<br />

und verarbeitet worden<br />

wären, in der Willensphase einer<br />

Handlung jedoch nicht, oder nicht hinreichend,<br />

Beachtung finden 26 . Diese<br />

Veränderung des Bewusstseins im<br />

Übergang von der Entscheidungsphase<br />

zur Willensphase nennt man in<br />

der Fachliteratur, die sich mit menschlichen<br />

Prozessen der Entscheidungsfindung<br />

befasst, „Rubikoneffekt“.<br />

Ohne besonders sensibilisiertes<br />

Problembewusstsein, sucht der Betroffene<br />

jetzt nur noch Belege dafür, dass<br />

seine Entscheidung richtig war und<br />

nicht dafür, ob seine Entscheidung<br />

richtig war.<br />

Deshalb kann dieses Phänomen aus<br />

nahe liegenden Gründen für die sichere<br />

Durchführung von Flugbetrieb<br />

schädlich sein, ohne dass uns dieses<br />

bewusst wäre; lediglich der Organismus<br />

„spricht“ unter Umständen mit<br />

dem Betroffenen 27 und diese Sprache<br />

will erst einmal verstanden werden.<br />

Den Übergang des Bewusstseinswandels<br />

spüren wir nicht – er läuft einfach<br />

so ab. Deshalb könnten wir es kaum<br />

verstehen, dem Rubikon-Effekt erlegen<br />

zu sein, hatten wir doch alles akribisch<br />

und sachgerecht vorbereitet.<br />

Eine weitere Besonderheit liegt<br />

darin, das dieses Phänomen nicht nur<br />

beim Akteur auftritt, sondern auch<br />

beim außenstehenden Beobachter 28 .<br />

Beispiele dafür gibt es genügend aus<br />

dem alltäglichen Leben, aber auch im<br />

Flugunfallgeschehen der Bundeswehr.<br />

Es ist sicherlich eine Kunst genau<br />

festzustellen, wo vernünftiger Durchsetzungswille<br />

aufhört und wo „blinde<br />

Zielfixierung“ beginnt. Dennoch lohnt<br />

es, sich selbst den Spiegel vorzuhalten,<br />

um sich ehrlich die Frage nach Beispielen<br />

zu stellen, in denen man hin<br />

44 I/2002 FLUGSICHERHEIT


und wieder selber Opfer des Rubikon-<br />

Effekts war.<br />

Wer dieses Phänomen kennt, für<br />

den gewinnt die Forderung nach<br />

Handlungskontrolle an Bedeutung,<br />

denn nur durch strikte Kontrolle der<br />

eigenen Gedanken 29 kann die Wahrscheinlichkeit,<br />

dem Rubikon-Effekt zu<br />

verfallen, reduziert werden, können<br />

Grenzen leichter und rechtzeitig erkannt<br />

werden und Ressourcen werden<br />

nicht ungewollt verschüttet.<br />

Handlungskontrolle 30<br />

Eine Strategie zur willentlichen<br />

Entscheidungs- und Handlungskontrolle<br />

könnte wie folgt aussehen:<br />

Aufmerksamkeitskontrolle<br />

Mich interessieren im Moment<br />

nur die sachbezogenen Informationen;<br />

Persönliches wird bewusst<br />

ausgeblendet 31 :<br />

„first things first“.<br />

Motivationskontrolle<br />

Ich will das Sachproblem lösen,<br />

unabhängig von den Folgen für<br />

mich:<br />

„was ist jetzt wichtig; nicht: wem<br />

muss ich einen Gefallen tun?“<br />

Emotionskontrolle<br />

Emotionen sind auch Ergebnis<br />

aktueller Bewertungsprozesse.<br />

Ich bin sicher, dass ich die gestellte<br />

Aufgabe lösen kann, weil ich<br />

es kann und ich habe Vertrauen<br />

in das System:<br />

„Atem- Entspannungstechnik<br />

und Zuversicht in die eigene<br />

Leistungsfähigkeit“<br />

Handlungsorientierte Misserfolgskontrolle<br />

Ich setze mir erreichbare Ziele.<br />

Misserfolgen hänge ich nicht<br />

nach, sondern ich orientiere mich<br />

nach vorn auf der Grundlage<br />

meiner Ressourcen:<br />

„Welche Möglichkeiten bietet<br />

mir das Verbliebene?“<br />

Umweltkontrolle<br />

Ich begebe mich nur in ein Szenario,<br />

dessen Grenzen ich identifiziert<br />

habe und für das ich<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

immer einen Ausweg habe:<br />

„Steuere Dich nur in Situationen,<br />

von denen Du genau weißt, wie<br />

Du wieder raus kommst!“<br />

Ergebnisorientierte<br />

Informationsverarbeitung<br />

Ich vermeide übermäßig langes<br />

Abwägen von Handlungsalternativen.<br />

Im Zweifel entscheide ich<br />

auf einer Ebene höherer Kategorie:<br />

„Welcher Schritt ist der Schritt<br />

zur sicheren Seite?“<br />

Diese Strategie, die in allen Punkten<br />

faktisch gleichzeitig eingebracht werden<br />

muss, verlangt den ganzen Menschen<br />

mit all seinen unersetzbaren<br />

menschlichen Fähigkeiten. Ist er in der<br />

Lage, diese Strategie zur Handlungskontrolle<br />

bedingungslos einzusetzen,<br />

hat er eine sehr hohe Chance, in allen<br />

Lagen auf Leistungsanforderungen<br />

jeglicher Art angemessen reagieren zu<br />

können.<br />

Dennoch bleibt immer ein Quäntchen<br />

Unsicherheit.<br />

Entscheidungen<br />

unter Unsicherheit 32<br />

Entscheidungen finden oft „unter<br />

Unsicherheit“ statt. Im allgemeinen ist<br />

damit gemeint, dass für den Entscheider<br />

die möglichen Konsequenzen<br />

der Optionen unsicher sind, weil diese<br />

auch von anderen, von ihm nicht kontrollierbaren<br />

Ereignissen abhängig<br />

sind. Unsicherheiten können sich auf<br />

folgende Komplexe beziehen:<br />

Ereignisse und Zustände,<br />

Tatsachen und Informationen,<br />

Argumente und Gründe,<br />

Ziele und Werte und<br />

die Unsicherheit selbst.<br />

Ist jemand bezüglich seiner Entscheidung<br />

unsicher, so sollte man meinen,<br />

dass er auf konkrete Wahrscheinlichkeiten<br />

bzw. Algorithmen zur Berechnung<br />

von Wahrscheinlichkeiten<br />

zurückgreifen würde, um einer optimalen<br />

Entscheidung näher kommen<br />

zu können. Einschlägige Studien der<br />

vergangenen 25 Jahre belegen, dass<br />

sich der Mensch in unsicheren Situationen<br />

anders verhält – er folgt seiner<br />

(individuellen) Intuition.<br />

Intuition setzt dort ein, wo keine<br />

klaren Vorstellungen über Konsequenzen<br />

für das eigene Handeln bestehen<br />

33 , wo wir nicht ganz genau wissen,<br />

wie sich eine Situation aufgrund<br />

unserer Entscheidung entwickeln wird.<br />

Für komplexe, dynamische Abläufe<br />

gilt, dass stets ein mehr oder weniger<br />

kleiner Teil der Vorhersage, über das,<br />

was geschehen wird, unklar bleibt.<br />

Damit verbunden bleibt folglich auch<br />

immer ein kleiner Rest an Intuitionserfordernis,<br />

um überhaupt entscheidungsfähig<br />

zu bleiben. Deshalb kann<br />

prinzipiell angenommen werden, dass<br />

keine Entscheidung ohne Intuition<br />

möglich ist. Es stellt sich lediglich die<br />

Frage, wie viel Intuition unschädlich ist<br />

und ab wann Intuition mit Flugbetrieb<br />

nicht mehr vereinbar ist. In diesem Zusammenhang<br />

ist es erforderlich, die<br />

Besonderheiten menschlicher Intuition<br />

kurz herauszustellen.<br />

Menschen neigen dazu, aufgrund<br />

einer individuellen, inneren grundlegenden<br />

Ordnungsstruktur Situationen<br />

und ihre Entwicklung intuitiv zu beurteilen<br />

und unterliegen dabei Fehleinschätzungen;<br />

hier einige Beispiele:<br />

die Überschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit<br />

unwahrscheinlicher<br />

Ereignisse<br />

die Unterschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit<br />

wahrscheinlicher<br />

Ereignisse<br />

die Überschätzung der Wirkung<br />

von Bestrafung<br />

die Unterschätzung der Wirkung<br />

von Belohnung<br />

Beeinflussung durch die Lebhaftigkeit<br />

einer Erinnerung<br />

Beeinflussung durch überproportionale<br />

Hinwendung zu einem<br />

relativ seltenen Problem<br />

unrealistische Ereignisverknüpfungen<br />

Fehleinschätzung numerischer<br />

Größen<br />

Fehlerhafte und unzureichende<br />

Vorstellungen allgemein<br />

45


Insbesondere unsere Erinnerung<br />

spielt uns einen Streich, wenn wir intuitiv<br />

entscheiden und handeln sollen.<br />

Hier einige interessante Phänomene:<br />

„out of sight, out of mind“<br />

Die Unterschätzung eines Ereignisses,<br />

dessen Wahrnehmung<br />

lange nicht aufgefrischt wurde.<br />

„illusory correlation“<br />

Verbindung von Ereignissen, die<br />

es nicht gibt.<br />

„illusion of control“<br />

Die Über- bzw. Unterschätzung<br />

des Eintretens von Ereignissen in<br />

Abhängigkeit von eigenen Aktivitäten;<br />

die Illusion, die Zukunft<br />

beeinflussen zu können; ich<br />

mache das schon<br />

„wishful thinking“<br />

Die Überschätzung der Wahrscheinlichkeit<br />

angenehmer bzw.<br />

die Unterschätzung der Wahrscheinlichkeit<br />

unangenehmer Ereignisse.<br />

„unrealistic optimism“<br />

Die Einschätzung, dass der eigenen<br />

Person negative Ereignisse<br />

mit geringerer Wahrscheinlichkeit<br />

zustoßen als anderen (vergleichbaren)<br />

Menschen.<br />

Gibt es einen Wert, der eine Vorstellung<br />

davon vermitteln kann, wie<br />

groß die Ablage der Vorstellung über<br />

Ereignisse und Sachverhalte gegenüber<br />

der Realität bei Unsicherheit ist?<br />

Der nächste Absatz versucht, dieses<br />

Phänomen zu beleuchten.<br />

Confidence vs Overconfidence<br />

Im Rahmen einer Testreihe 34 wurde<br />

der Versuch unternommen festzustellen,<br />

ob eine messbare Größe für „overconfidence“<br />

berechnet werden kann –<br />

die Ergebnisse waren verblüffend.<br />

Probanden sollten sich zu einem<br />

Sachverhalt intuitiv äußern. Die Fragen<br />

wurden so ausgewählt, dass die Wahrscheinlichkeit<br />

relativ gering war, die<br />

Antwort aufgrund von Faktenwissen<br />

geben zu können 35 . Anschließend sollten<br />

die Probanden Auskunft darüber<br />

erteilen, wie sicher sie waren, dass ihre<br />

Antwort richtig war 36 .<br />

Wenn die Richtigkeit der Antwort<br />

mit 100% angegeben wurde, waren<br />

die Antworten nur zu 80% richtig.<br />

<strong>Das</strong> Verhältnis 100/80 wurde beibehalten,<br />

auch wenn geringere Wahrscheinlichkeiten<br />

über die Richtigkeit<br />

der Annahme geäußert wurden<br />

Die empirische Forschung hat diesen<br />

Wert auch für andere Bereiche des<br />

täglichen Lebens bestätigt – fragt sich<br />

nur, wie es sich damit leben lässt.<br />

Würden Sie mit einer zu erwartenden<br />

Trefferquote von 80% ins<br />

Spielkasino gehen? – Vermutlich „Ja“.<br />

Sollte Flugbetrieb mit einer Wahrscheinlichkeit<br />

für einen sicheren<br />

Ablauf von 80% durchgeführt werden?<br />

– es bleiben Fragen.<br />

Zum Glück ist es im täglichen Leben<br />

so, dass für die meisten immer wiederkehrende,<br />

ähnliche Fragen routinemäßig<br />

zu beantworten sind. Hier<br />

tendieren die Ergebnisse gegen<br />

100%. Damit lässt sich eigentlich<br />

komfortabel und sicher leben.<br />

Gefährlich wird „overconfidence“<br />

in wenig vertrauten Situationen geringer<br />

Informationsdichte. Wir greifen<br />

dann all zu gern auf Entscheidungsprozesse<br />

zurück, die uns kognitiv<br />

möglichst wenig belasten und viele<br />

der oben aufgeführten problematischen<br />

Merkmale für Entscheidungen<br />

unter Unsicherheit ausweisen. In diesem<br />

Fall verschärft „overconfidence“<br />

die potentielle Bedrohung einer Situation.<br />

Mit dem Phänomen „overconfidence“<br />

kann aber auch in einem fliegerischen<br />

Umfeld hinreichend sicher gelebt<br />

werden, wenn genau bedacht<br />

wird, an welcher Stelle, bei welchem<br />

Detail eines Sachverhalts „overconfidence“<br />

zugelassen werden kann:<br />

weil sich ein gewisses Maß an<br />

overconfidence nicht vermeiden<br />

lässt, da keine weitergehenden<br />

Informationen mit vernünftigem<br />

Aufwand beschafft werden können,<br />

weil die Auswirkungen dieses<br />

minimalen Details nicht erheblich<br />

sind, da diese durch andere Strukturen<br />

und Konzepte kompensiert<br />

werden könnten.<br />

Wird „overconfidence“ jedoch im<br />

großen Stil umfassend und „blauäugig“<br />

zugelassen, dann kann es sein,<br />

dass die Wirklichkeit eine harte andere<br />

Sprache spricht und den Betroffenen<br />

gnadenlos und aus seiner Sicht<br />

plötzlich mit den Grenzen seines<br />

Handeln konfrontiert – dann ist der<br />

Betroffene schnell überfordert.<br />

Intuition kommt „aus dem Bauch“<br />

und kann kaum rational begründet<br />

werden. Intuition ist die Summe aller<br />

Erfahrung, aller Wünsche, aller<br />

Wertmaßstäbe und aller Motive.<br />

Intuition – das sind wir selbst.<br />

Hier spielen Emotionen eine Rolle<br />

und manch einer glaubt, für Emotionen<br />

wäre im Flugbetrieb kein Platz,<br />

weil Emotionen notwendige Entscheidungsfindungsprozesse<br />

behindern<br />

und auf ein falsches Gleis führen. Ist<br />

das so?<br />

Entscheidung<br />

vs. Emotion?<br />

Gefühle sind nicht der Gegenspieler<br />

der Logik, sie stehen nicht in Konkurrenz<br />

– wenn es auch manchmal<br />

den Anschein hat.<br />

Wir brauchen unser Gehirn nicht so<br />

sehr, um damit logisch und widerspruchsfrei<br />

zu denken, sondern um in<br />

der Welt, in der wir leben, einigermaßen<br />

zurechtzukommen 37 . Bei diesem<br />

„Vorhaben“ ergänzen sich die<br />

Fähigkeiten zur Logik und zur Wahrnehmung<br />

von Gefühlen. Während wir<br />

immer dann, wenn es zweckmäßig ist,<br />

46 I/2002 FLUGSICHERHEIT


I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

rationale Kosten-Nutzen-Analysen<br />

durchführen, die vergleichsweise viel<br />

Zeit beanspruchen, hält unser Organismus<br />

auch eine Abkürzung bereit, um<br />

schnell zu angemessenen Ergebnissen<br />

eines unter Zeitdruck stehenden<br />

Entscheidungsprozesses zu kommen.<br />

Gefühle zeigen uns die Hauptrichtung<br />

für eine beabsichtigte Vorgehensweise<br />

an, indem die Auseinandersetzung<br />

mit der einen Option ein<br />

angenehmes bis neutrales Gefühl auslöst,<br />

die Auseinandersetzung mit einer<br />

anderen Option ein eher ungutes<br />

Gefühl bewirkt. So können durchaus<br />

Entscheidungen schnell mit hoher<br />

Treffsicherheit herbeigeführt werden,<br />

ohne dass der Weg zur Entscheidung<br />

genau nachvollziehbar erklärt werden<br />

könnte.<br />

Emotionen sind das Sprachrohr des<br />

Unbewussten 38 und sie haben einen<br />

tiefen Anker. Unsere gesamte interne<br />

Werteordnung und Lebenserfahrung<br />

teilt sich auf diesem Weg mit. Wer<br />

Emotionen nie zulassen möchte, blendet<br />

seine gesamte Lebenserfahrung<br />

aus; ob das wohl hilfreich ist? Er<br />

würde gleichsam, im übertragenen<br />

Sinne versuchen, den Deckel auf einen<br />

Topf mit siedendem Wasser zu<br />

drücken, um den Austritt von Dampf<br />

zu verhindern – ein aussichtsloses Vorhaben.<br />

Dennoch ist Vorsicht geboten,<br />

denn:<br />

Gefühle können übermächtig<br />

werden, alle anderen Gedanken<br />

verdrängen und uns lähmen. Dies<br />

trifft vor allem auf Angstgefühle<br />

zu.<br />

Gefühle können unkontrolliert<br />

ausbrechen. Vor allem Wutausbrüche,<br />

aber auch maßlose Sympathiebekundungen<br />

helfen uns<br />

in aller Regel nicht weiter, sondern<br />

zeigen nur eines: dass wir<br />

unbeherrscht sind.<br />

Wir können auch „falsche“ Gefühle<br />

haben. Eine gefährliche<br />

Situation erscheint uns harmlos,<br />

einen Mitmenschen, auf den wir<br />

dringend angewiesen sind, finden<br />

wir unsympathisch und lehnen<br />

seine Hilfe ab.<br />

Deshalb sind emotionalisierte Situationen<br />

im Flugbetrieb schlechte Ratgeber,<br />

denn „reine“ Gefühle entfalten<br />

eine ungute Eigendynamik. Dennoch<br />

müssen wir uns mit den Emotionen arrangieren,<br />

sie sind Teil unseres Wesens.<br />

Emotionen sollen dort, wo sie hilfreich<br />

sind und in dem Maße, wie es<br />

angemessen ist, auch zugelassen werden,<br />

weil Emationen ein wichtiger<br />

Ratgeber sein können. Wie fühle ich<br />

mich z.B. dabei:<br />

wenn ich beabsichtige, außerhalb<br />

der Norm zu handeln?<br />

wenn ich mich zur Landung entschlossen<br />

habe und eigentlich<br />

immer noch nicht geklärt ist, wo<br />

genau mein Notfalllandestreifen<br />

verläuft?<br />

wenn ich an einem Freitag mit<br />

ausgefallenem Fahrtmesser den<br />

Heimflug antrete?<br />

wenn ich in einer Wolke versuche,<br />

die Formation wieder einzunehmen,<br />

obwohl ich zuvor den<br />

Sichtkontakt zum „lead“ verloren<br />

hatte?<br />

Die Liste in Anlehnung an reales<br />

Zwischenfall- Unfallgeschehen könnte<br />

durchaus fortgesetzt werden. Was<br />

verbindet nun die angedeuteten Vorkommnisse?<br />

Eines war bei den Betroffenen<br />

sicherlich gleich. Im Moment des Entschlusses<br />

fühlten alle eine gewisse<br />

Unsicherheit, ein gewisses<br />

Unbehagen und sie haben dennoch<br />

gehandelt wie sie gehandelt haben.<br />

<strong>Das</strong> Gefühl der Unsicherheit war nicht<br />

so stark ausgeprägt, dass die jeweilige<br />

Absicht aufgegeben wurde. Heute<br />

wissen wir es und die Betroffenen<br />

wissen es auch – man hätte den<br />

Entschluss abändern, sich an Fakten<br />

und Grundsätze halten müssen. Die<br />

unbewusste Wahrnehmung hatte das<br />

längst erkannt und versucht,<br />

Verbindung aufzunehmen, was<br />

jedoch durch mentale „Leistung“<br />

unterdrückt wurde und deshalb nicht<br />

gelang.<br />

Die „emotionale Erdung“ war verloren<br />

gegangen, fand nicht den Weg<br />

ins Bewusstsein und konnte es deshalb<br />

nicht verhindern, Grenzen frühzeitig<br />

zu erkennen.<br />

Was sollte aus dem Bauch heraus<br />

entschieden werden?<br />

wenn schnell ein brauchbares Ergebnis<br />

erzielt werden muss,<br />

wenn über menschliche Beziehung<br />

zu entscheiden ist,<br />

wenn eine Entscheidung unter<br />

großer Unsicherheit entschieden<br />

werden muss.<br />

Was sollte überwiegend rational<br />

entschieden werden?<br />

komplexe Probleme, die erst einmal<br />

strukturiert werden müssen,<br />

wenn es auf Genauigkeit und<br />

Präzision ankommt,<br />

wenn der Eindruck entstanden<br />

ist, voreingenommen zu sein.<br />

Nun soll doch noch ein Modell vorgestellt<br />

werden.<br />

Ein Entscheidungsmodell<br />

Nach allem, was bisher dargestellt<br />

worden ist, könnte der Eindruck entstanden<br />

sein, dass wir es uns mit<br />

Entscheidungsfindungsprozessen bisweilen<br />

schwer machen. Zu viele Faktoren,<br />

die nicht immer hilfreich sind,<br />

spielen eine Rolle. Dennoch befreit uns<br />

niemand von der Notwendigkeit, laufend<br />

Entscheidungen zu treffen. Entscheidungsstrukturen<br />

helfen bei diesem<br />

Problem.<br />

<strong>Das</strong> folgend aufgeführte Entscheidungsmodell<br />

soll stellvertretend für so<br />

viele andere systematisch aufgebauten<br />

Entscheidungsfindungsmodelle kurz<br />

dargestellt werden. So, oder so ähnlich,<br />

findet jeder sachgerechte<br />

Entscheidungsvorgang statt.<br />

Es gilt das Prinzip:<br />

viel Zeit – detailliert mit vielen<br />

Fakten;<br />

wenig Zeit – grober mit weniger<br />

Fakten, dafür jene von übergeordneter<br />

Bedeutung.<br />

47


FOR DEC 39<br />

Ist das Entscheidungsbewusstsein<br />

vorhanden, weil eine nicht akzeptable<br />

Abweichung von der Norm festgestellt<br />

wurde, setzt nach diesem Modell ein<br />

systematischer Entscheidungsfindungsprozess<br />

ein. Es handelt sich hier<br />

um eine Art „Führungsvorgang für<br />

Lfz-Besatzungen im Fluge“.<br />

Die Systematik unterteilt sich in den<br />

Vorgang der Entscheidungsfindung<br />

und den Vorgang der Durchführung<br />

Facts<br />

Options<br />

Informationsbeschaffung:<br />

was steht mir an Faktenwissen<br />

zur Verfügung?<br />

Handlungsalternativen:<br />

welche Möglichkeiten des<br />

Handelns habe ich?<br />

Risks and<br />

Benefits Risiko – Nutzen – Analyse<br />

welche Lösung bringt mich<br />

am sichersten, am weitesten<br />

meinem Ziel entgegen;<br />

was spricht dagegen?<br />

Decision Entschluss<br />

ExecutionDurchführung<br />

Control<br />

läuft alles wie geplant, gibt<br />

es neue, wichtige Aspekte,<br />

die meinen Entschluss unbrauchbar<br />

machen?<br />

Entscheidungsfindung im Rahmen<br />

des Möglichen und im Rahmen des<br />

Vernünftigen ist ein höchst komplexes<br />

Gebilde, mit dem man umzugehen<br />

lernen muss. Hier zeigen sich bereits<br />

alle Facetten des Menschseins in<br />

unendlich vielen Ausprägungen.<br />

Auch hier gilt, dass Bedenken und<br />

Gefühle geäußert werden müssen, um<br />

den Focus der Aufmerksamkeit auf ein<br />

Problem lenken zu können, das vielleicht<br />

bisher vernachlässigt wurde.<br />

So können bis dahin unerkannte<br />

Grenzen erkannt und die entsprechenden<br />

Entschlüsse rechtzeitig<br />

und angemessen gefasst werden.<br />

<br />

1 Siehe auch: „Wahrnehmung“ und „Risiken vs<br />

Sicherheit“<br />

2 Asanger, Wenninger: Handwörterbuch<br />

Psychologie / Psychologie Verlags Union,<br />

Weinheim 1999<br />

3 Dieses Wissen, diese Information lagert an sehr<br />

unterschiedlichen Stellen im Organismus und verknüpft<br />

sich unter bestimmten Bedingungen zu<br />

Informationskomplexen und damit zu einer<br />

Lernwirkung zusammen. Nur manches davon<br />

dringt bis ins Bewusstsein vor. Die Information<br />

hat ihren Zweck auch für diesen Fall erfüllt.<br />

Siehe dazu auch: „Aufmerksamkeit“<br />

4 Vielleicht kennt mancher noch die ungeliebten<br />

Situationen einer Geländesprechung im Rahmen<br />

einer taktischen Lage, wenn man zu einer Entscheidung<br />

großer Tragweite aufgefordert wurde,<br />

der eigene Orientierungsprozess jedoch noch<br />

nicht zum Geschehen aufgeschlossen hatte –<br />

mentale Leere und Einsamkeit pur.<br />

5 Nach Asanger, Wenninger: s.o.<br />

6 Siehe auch: „Wahrnehmung“<br />

7 Siehe auch: „Menschliche Kapazitäten –<br />

Aktivation“<br />

8 Siehe auch weiter unten „confidence vs overconfidence“<br />

9 Helmut Jungermann, Hans-Rüdiger Pfister,<br />

Katrin Fischer: Die Psychologie der Entscheidung<br />

/ Spektrum Akademischer Verlag GmbH,<br />

Heidelberg 1998<br />

10 Kognition ist die Aktivität des Wissens, der Erwerb,<br />

die Organisation und der Gebrauch von Wissen.<br />

<strong>Das</strong> gelingt u.a. unter Beteiligung der Wahrnehmung,<br />

der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses,<br />

der Vorstellung, der Sprache und des Denkens.<br />

11 Siehe auch: „Aufmerksamkeit - .... „<br />

12 <strong>Das</strong> S-R-K-Modell wird, nach dem dänischen<br />

Professor für Psychologie Rasmussen,<br />

Rasmussenleiter genannt.<br />

13 Entsprechend der Entscheidungsebene eins<br />

14 Entsprechend den Entscheidungsebenen zwei und<br />

drei<br />

15 Siehe auch: „Aufmerksamkeit – Priming“<br />

16 Entsprechend den Entscheidungsebenen drei und<br />

vier<br />

17 Siehe auch: „Wahrnehmung – <strong>Wahrnehmungs</strong>abwehr“<br />

18 Siehe auch: „Aufmerksamkeit – Priming“<br />

19 Siehe auch: „Menschliche Kapazitäten“ und<br />

„Aufmerksamkeit – Priming“<br />

20 Nach Asanger, Wenninger: s.o.<br />

Es muss dabei noch angemerkt werden, dass<br />

Menschen dazu neigen, prinzipiell jene Regeln zu<br />

wählen, die weniger aufwändig sind und so die<br />

Kognition weniger belasten.<br />

21 Siehe auch: „Führungs- und Handlungsverantwortung“<br />

22 Siehe auch: „Motive“. Wegen der Bedeutung<br />

wird der Aspekt der Motivation hier eingebracht,<br />

weil Entscheidungen regelmäßig sehr stark von<br />

Motivationen geprägt sind.<br />

23 Der Volksmund spricht davon, dass Gelegenheit<br />

Diebe macht.<br />

24 Rheinberg, Falko: Motivation / Kohlhammer,<br />

Köln 1997<br />

25 Vandenberg, Philipp: Cäsar und Kleopatra /<br />

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch<br />

Gladbach 2000<br />

26 Der Volksmund spricht von „Augen zu und durch“<br />

27 Siehe auch: „Menschliche Kapazitäten –<br />

Aktivation“ und „Wahrnehmung“<br />

28 Viele sportlichen Veranstaltungen gewinnen an<br />

Reiz, weil der Beobachter „mitfiebert“ und mit<br />

dem Akteur emotional und mental eng verbunden<br />

ist.<br />

29 Achte auf Deine Gedanken – sie sind der Anfang<br />

Deiner Taten / chinesische Weisheit<br />

30 Rheinberg, Falko: s.o.<br />

31 Damit sind einerseits sachliche Aspekte der jetztbezogenen<br />

„Nahwirkung“, der wirklich akuten<br />

Probleme und andererseits, im Gegensatz dazu,<br />

die zukunftbezogenen „Fernwirkungen“ gemeint,<br />

die vielleicht erst nach der Landung, bzw. frei von<br />

dem akut wirkenden Problem, an Bedeutung<br />

gewinnen werden.<br />

32 nach Helmut Jungermann, ... s.o. und Hussi,<br />

Walter: Denken und Problemlösen / Verlag W.<br />

Kohlhammer, Stuttgart 1998<br />

33 Perrig, Walter J.; Wippich, Werner, Perrig-<br />

Chiello, Pasqualina: Unbewusste Informationsverarbeitung<br />

/ Verlag Hans Huber, Bern 1993<br />

34 Lichtenstein, Fischhoff & Phillips, 1977; 1982<br />

35 z.B.: welche Stadt hat mehr Einwohner? (a)<br />

Islamabad (b) Hyderabad<br />

36 Wie sicher sind Sie, dass Ihre Antwort richtig ist?<br />

50% 60% 70% 80% 90% 100%<br />

37 Nöllke, Mattias: Entscheidungen treffen / STS-<br />

Verlag, Planegg 2001<br />

38 Siehe auch: „Wahrnehmung – Unbewusste Wahrnehmung“<br />

39 FORDEC wurde in den 80ern vom Deutschen<br />

Institut für Luft- und Raumfahrt (DLR) enwickelt<br />

und wird verbreitet bei der CRM-Ausbildung<br />

genutzt.<br />

48 I/2002 FLUGSICHERHEIT


Motive<br />

Grundlagen 1<br />

Dieser Beitrag wird in seiner Zielsetzung<br />

so abgefasst sein, dass einige<br />

Grundlagen zum Thema Motivation /<br />

Motive dargestellt werden, um oft<br />

Gehörtes noch mal kurz aufzufrischen<br />

und dass im Endteil ein ganz bestimmtes<br />

Motiv herausgearbeitet wird, welches<br />

von den vielen Motiven und<br />

Motivationen, die ständig auf uns<br />

Menschen einwirken, in besonderer<br />

Weise heraussticht und sicherlich bei<br />

etlichen Verhaltensweisen am Rande<br />

und jenseits der Norm eine oft entscheidende<br />

Rolle gespielt hat und<br />

auch weiterhin spielen wird.<br />

Wir Menschen denken und handeln<br />

aus dem aktuell erlebten, persönlichen<br />

Werte-Motiv-System heraus,<br />

werden dabei von unserer Umwelt,<br />

aber auch von innen heraus angesprochen<br />

und stimuliert. Dieses persönliche<br />

Werte-Motiv-System ist die Grundlage<br />

für individuelles Verhalten in einer<br />

ganz bestimmten, für den Einzelnen<br />

charakteristischen Weise.<br />

Es gibt innere Motive (Ziele), von<br />

denen man gar nicht weiß, dass man<br />

ihnen erlegen ist und dennoch können<br />

sie uns dominieren. Manchmal sind<br />

wir nach einer Handlung nicht in der<br />

Lage zu erklären, warum wir uns in<br />

der einen oder anderen Weise verhalten<br />

haben und wir fühlen uns allein<br />

durch das Tun besser 2 – wer kennt das<br />

nicht.<br />

Die für den Einzelnen charakteristischen<br />

Motive stehen mit dem jeweiligen<br />

Umfeld in gegenseitiger Beeinflussung.<br />

Daraus ergibt sich die resultierende<br />

und wirkende Motivation.<br />

Dieser Zusammenhang wird weiter<br />

unten etwas näher erläutert.<br />

Allgemein gilt jedoch, dass Motivation<br />

nie unmittelbar wahrgenommen<br />

werden kann. <strong>Das</strong> gelingt uns nur<br />

über die Beobachtung des Verhaltens<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

im weitesten Sinne 3 , aus der heraus<br />

Rückschlüsse auf eine bestimmte Motivation<br />

gezogen werden können.<br />

Dennoch ist es so, dass die Äußerung<br />

eines Gesprächspartners bezüglich der<br />

Qualität seiner momentanen Motivation<br />

beim Zuhörer kaum Fragen hinterlässt.<br />

Wenn jemand zum Beispiel<br />

äußert: „Ich habe dazu absolut keinen<br />

Bock!”, kommt kaum ein Zuhörer<br />

49


auf die Idee z.B. zu hinterfragen: ”Was<br />

genau meinst Du?”, sofern er nicht<br />

von Amtes wegen derartige Statements<br />

provoziert.<br />

Der durchschnittliche Gesprächspartner<br />

ist mit der angeführten Feststellung<br />

des anderen zu dessen momentanen<br />

Gemütszustand bzw. Motivationslage<br />

vollauf zufrieden, weil es<br />

ihm eine exakte Vorstellung von der<br />

beschriebenen Gefühlslage des anderen<br />

vermittelt.<br />

Hier gibt es kaum Störgrößen in der<br />

Kommunikation – man versteht einander.<br />

Wie kann das sein, wo wir doch<br />

auf anderen Gebieten oft missverstehen<br />

oder missverstanden werden?<br />

Äußerungen zu motivationalen<br />

Befindlichkeiten beschreiben Binnenzustände,<br />

die jedem vertraut sind.<br />

Jeder kennt sie aus eigenem Erleben<br />

und hat deshalb eine klare, nachempfindbare<br />

Vorstellung davon, was der<br />

andere meint – in diesem Punkt können<br />

wir uns genau in die Lage des<br />

anderen versetzen und fast verzerrungsfrei<br />

wahrnehmen.<br />

Umgangssprachlich wird unter<br />

Motivation im allgemeinen verstanden,<br />

dass jemand:<br />

ein Ziel hat,<br />

sich anstrengt und<br />

ablenkungsfrei bei der Sache<br />

bleibt.<br />

Motivation wird gerne als eine<br />

milde Form von Besessenheit verstanden<br />

und an diesem Gradmesser wird<br />

Motivation bisweilen auch beurteilt.<br />

Uns reichen diese Vorstellungen<br />

über die Bedeutung von Motivation<br />

bzw. von Motiven nicht aus, denn sie<br />

könnten noch nicht viel erklären. Wir<br />

müssen etwas tiefer einsteigen.<br />

Der Unterschied<br />

Ohne zu theoretisch werden zu<br />

wollen, soll auf den Unterschied zwischen<br />

Motivation und Motiven hingewiesen<br />

werden, weil dieser feine<br />

Unterschied weiter unten in diesem<br />

Kapitel durchaus von Bedeutung sein<br />

wird.<br />

Motiv<br />

<strong>Das</strong> Motiv eines Menschen bringt<br />

ihn überdauerndineineganz bestimmte,<br />

grundsätzliche Richtung seines Verhaltens.<br />

Jemand tendiert immer wieder<br />

und dominierend z.B. zur Macht,<br />

oder zur Leistung, oder zu sozialen<br />

Kontakten, oder auch zur Hilfsbereitschaft.<br />

Diese deutlich erkennbaren<br />

Wesenszüge eines Menschen werden<br />

ihn in seinem Verhalten grundsätzlich<br />

von innen heraus immer wieder beeinflussen<br />

und er wird in allen Lebenslagen<br />

versuchen, seinem Handeln diese<br />

in einer Richtung besonders ausgeprägten<br />

Charakterzüge zu verleihen.<br />

Motivation<br />

Anders die Motivation. Sie ist, vereinfacht<br />

ausgedrückt, das Ergebnis aus<br />

dem Wechselspiel zwischen Motiven<br />

des Einzelnen und dem Umfeld, das<br />

auf den Einzelnen einwirkt. Daraus<br />

ergibt sich die Motivation, im Rahmen<br />

der Möglichkeiten und der äußeren<br />

Grenzen, sich eigenen Motiven entsprechend<br />

zu verhalten. Ein vereinfachtes<br />

Modell dazu könnte wie folgt<br />

aussehen:<br />

Danach wird die Motivationslage<br />

immer wieder nach zwei Gesichtspunkten<br />

überprüft:<br />

Wie erlebe ich mein Verhalten<br />

ganz persönlich, was bringt es<br />

mir?<br />

Wie reagiert mein Umfeld auf<br />

mein Verhalten?<br />

Hier ereignen sich Lernprozesse.<br />

<strong>Das</strong> Umfeld ist also in der Lage, gezielt<br />

auf die Motivation des Einzelnen einzuwirken.<br />

Voraussetzung dafür ist,<br />

dass das Umfeld die entsprechenden<br />

Rückmeldungen an den Handelnden<br />

heranträgt und durch eindeutige<br />

Reaktionen aufzeigt, was gewollt ist<br />

und was nicht; was wir tun und was<br />

wir nicht tun. Unterbleiben sachgerechte<br />

Reaktionen, oder werden irreführende<br />

Rückmeldungen gegeben,<br />

weil Falsches belohnt wird, z.B.<br />

Schnelligkeit als einziges Kriterium,<br />

kann es beim Handelnden zu einer<br />

Tendenz unangemessenen, mit Flugbetrieb<br />

der Bundeswehr unvereinbaren<br />

Motivationslage kommen 4 .<br />

<strong>Das</strong> Was und das Warum<br />

Vielleicht fragt sich der eine oder<br />

andere noch immer, warum die Beschäftigung<br />

mit der Frage nach den<br />

Motiven so wichtig ist. Um das zu<br />

klären ist es unumgänglich, ein wenig<br />

auszuholen.<br />

Die Abfolge von Ereignissen, die zu<br />

einem unerwünschten Vorkommnis<br />

führt, wird gerade im Rahmen von<br />

Unfall- und Zwischenfalluntersuchungen<br />

herausgearbeitet, um aus dem<br />

Dargestellten wirkungsvolle Unfallverhütungsarbeit<br />

ableiten zu können.<br />

Dabei geht das Untersuchungsteam<br />

prinzipiell so vor, dass vom Vor-<br />

50 I/2002 FLUGSICHERHEIT


kommnis ausgehend, der Weg des<br />

Geschehens auf der Zeitschiene rückwärts<br />

verfolgt wird, bis die erste bzw.<br />

früheste Abweichung von der Norm<br />

identifiziert worden ist, die das Geschehen<br />

entweder ausgelöst, oder die<br />

Auslösung wesentlich beeinflusst hat.<br />

Es geht darum, ein Ursachen- Wirkgefüge<br />

aufzubauen, welches möglichst<br />

präzise darstellt, was passiert ist.<br />

Es ist eine Diskussion wert, darüber<br />

nachzudenken, ob bei einer Darstellung<br />

des „Was“ hinreichende Grundlagen<br />

gelegt werden, um<br />

1. das Geschehene umfassend nachvollziehen<br />

zu können und<br />

2. daraus angemessene Verhütungsarbeit<br />

ableiten zu können.<br />

Auch bei einer lückenlosen und<br />

umfassenden Darstellung des „Was“<br />

bleibt die Frage nach dem „Warum“<br />

der individuellen Bewertung eines<br />

jeden Einzelnen, der das Dargestellte<br />

liest, ausgeliefert. Es wird dann vermutlich<br />

so viele individuelle „Warums”<br />

geben, wie es Leser dieses zum Vorkommnis<br />

angefertigten Berichts gibt 5 .<br />

Jedes interessierte Gehirn duldet zu<br />

keinem Sachverhalt Lücken. Lässt das<br />

Geschilderte Lücken, insbesondere zu<br />

den Fragen des „Warum“, so werden<br />

diese von der Vorstellungskraft des<br />

Einzelnen aufgefüllt und so weit interpretiert,<br />

bis das Geschehene in das<br />

Weltbild des Betrachters passt; er sich<br />

also das Geschehene für ihn plausibel<br />

erklären kann 6 – daraus entstehen<br />

dann Ideen für Verhütungsarbeit. Ob<br />

diese Ideen dann sachgerecht und hilfreich<br />

sind, bleibt fraglich.<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

Die Frage des „Warum“<br />

muss also geklärt werden –<br />

aber welches „Warum“ ist<br />

hier von Bedeutung? Sicherlich<br />

nicht jenes „Warum“:<br />

„was geschah vorher?”.<br />

Ein Beispiel soll das Problem<br />

verdeutlichen:<br />

Ein Hubschrauber bei<br />

Nacht unter BiV, stößt beinahe<br />

mit einem anderen<br />

Hubschrauber unter BiV in<br />

der Platzrunde zusammen.<br />

Dies konnte geschehen, weil:<br />

ein Lfz die Platzrunde kreuzte, das<br />

andere Lfz sich zur gleichen Zeit am<br />

gleichen Ort im Gegenanflug der<br />

Platzrunde befand, die unterschiedlichen<br />

Startzeiten am gemeinsam genutzten<br />

Heimatflugplatz durch die<br />

unterschiedlich langen Wegstrecken<br />

bis zum „Treffpunkt” kompensiert<br />

wurden, jede Besatzung glaubte, die<br />

jeweils andere sei woanders, der TWR-<br />

Controller die beiden Lfz in unterschiedlichen<br />

Platzrunden wähnte, das<br />

Briefing diesen Konfliktpunkt nicht<br />

identifizierte, die SOP ein<br />

Kreuzen von Flugwegen in<br />

der Platzrund zuließ.<br />

Obwohl in dieser Darstellung<br />

aus dem realen<br />

Zwischenfallgeschehen alle<br />

wesentlichen Kausalzusammenhänge<br />

geschildert wurden,<br />

spürt jeder Leser, dass<br />

irgendwie Entscheidendes<br />

fehlt.<br />

Irgendwie hört man die Nachricht<br />

wohl, versteht und begreift jedoch<br />

nicht das Vorkommnis, weil bestimmte<br />

Zusatzinformationen fehlen. Manch<br />

einer spürt vielleicht sogar den erfolglosen<br />

Suchvorgang in seinem Langzeitspeicher<br />

nach vergleichbaren Modellen<br />

mit anhaftenden vergleichbaren<br />

Erklärungen – Unruhe bricht aus, es<br />

drängt nach weiteren Erklärungen.<br />

Um diesem Phänomen auf den<br />

Grund gehen zu können, eine auf den<br />

ersten Blick provozierende und abwegig<br />

klingende Frage:<br />

„Was ist eigentlich bei der<br />

Betrachtung eines Sachverhalts, der<br />

mit menschlichem Verhalten in Verbindung<br />

gebracht wird, mit den<br />

Faktoren, die aus der Zukunft gewirkt<br />

haben?” Eine solche Frage löst im allgemeinen<br />

Verwunderung aus und<br />

muss erklärt werden.<br />

Jeder, der schon mal eine größere<br />

Anschaffung getätigt hat, wurde von<br />

Faktoren aus der Zukunft bestimmt.<br />

Der Kauf eines Hauses z.B. zu einem<br />

bestimmten, in der Zukunft liegenden<br />

Termin, macht es in aller Regel erforderlich,<br />

zu einem Zeitpunkt, der deutlich<br />

vor diesem Ereignis liegt, ein vertrauensvolles<br />

Gespräch mit der Bank<br />

hinsichtlich der Finanzierung zu<br />

führen. Somit hat ein geplantes<br />

Vorhaben früheres Verhalten ganz<br />

konkret bestimmt – ein Faktor aus der<br />

Zukunft hat Verhalten ausgelöst.<br />

Anders ausgedrückt, das Motiv, die<br />

Zukunft zu gestalten, in diesem Falle<br />

der Bau eines Hauses, hat das Heute<br />

und Jetzt bestimmt; das „Warum“ für<br />

das heutige Verhalten wird nun schlüssig<br />

erklärbar und verstehbar.<br />

Ergo: Motive wirken aus der<br />

Zukunft!<br />

Der zweite Teil der Wahrheit ist also<br />

neben der lückenlosen Aufklärung des<br />

„Was“, die möglichst lückenlose Aufklärung<br />

des „Warum“, also die lückenlose<br />

Aufklärung der Motive für<br />

ein konkretes Verhalten.<br />

Weil Motive aus der Zukunft auf<br />

momentanes Verhalten wirken, sind<br />

sie die zweite Seite derselben Medaille,<br />

die es für die Darstellung dessen, was<br />

geschehen ist, aufzuklären gilt. Dies ist<br />

fraglos schwierig und bleibt sicherlich<br />

in gewisser Weise angreifbar. Es führt<br />

jedoch kein Weg daran vorbei, will<br />

51


man gute Verhütungsarbeit leisten, die<br />

an den treibenden Stellen ansetzt.<br />

<strong>Das</strong> weiter oben geschilderte<br />

Beispiel des Beinahezusammenstoßes<br />

zweier Hubschrauber in der Platzrunde,<br />

der an dieser Stelle in der<br />

Schilderung fortgeführt werden müsste,<br />

kann noch nicht abschließend<br />

unter dem Aspekt der Motive bewertet<br />

werden, weil die Untersuchungen<br />

noch nicht abgeschlossen sind. <strong>Das</strong><br />

wird dem noch zu publizierenden Zwischenfallbericht<br />

vorbehalten bleiben.<br />

Motive sind Begründungen für<br />

Verhalten. Deshalb ist es so wichtig,<br />

auch über diese Aspekte menschlich<br />

normalen Verhaltens nachzudenken,<br />

um einige typische, für uns relevante<br />

Motive unseres fliegerischen Umfeldes<br />

herauszuarbeiten, damit das<br />

Unerklärliche vielleicht leichter erklärbar<br />

und dadurch begreifbar wird.<br />

Ein Überblick<br />

Seit mehr als 100 Jahren beschäftigt<br />

sich die moderne Wissenschaft mit<br />

den Fragen zur Begründung von<br />

menschlichem Verhalten. Es gab verschiedene<br />

Grundrichtungen, die<br />

unterschiedliche Ansätze verfolgten<br />

und jeweils anderen Aspekten Vorrang<br />

an Bedeutung einräumten. Hier einige<br />

wichtige Richtungen, die den meisten<br />

Lesern bekannt sind:<br />

Instinkte – als naturgegebener<br />

Antrieb.<br />

Triebe – als Kraftzentren innerhalb<br />

einer Person, die aus sich<br />

selbst heraus aktiv werden können<br />

und schwer kontrollierbar<br />

sind.<br />

Feldtheorie – als Modell, welches<br />

menschliches Verhalten als Ergebnis<br />

eines Entwicklungsprozesses<br />

in der Auseinandersetzung<br />

zwischen einer Person und der<br />

Umwelt und den daraus entstehenden<br />

Bedürfnissen sieht.<br />

Die maslowsche Bedürfnispyramide<br />

mit ihrer Beschreibung von<br />

Grundbedürfnissen bis hin zur<br />

Selbstverwirklichung von Menschen.<br />

All diesen Theorien liegt die gleiche<br />

Annahme zu Grunde, dass sich der<br />

Mensch so verhält, dass ein mehr oder<br />

weniger bewusster Mangel ausgeglichen<br />

werden kann 7 . Wird der Mangelzustand<br />

des Organismus beseitigt, ist<br />

das Motiv beseitigt 8 .<br />

Diese Theorien sollen hier nicht weiter<br />

vertieft werden, weil das den<br />

Rahmen sprengen würde, zumal zu<br />

diesen Themen detailliert nachgelesen<br />

werden kann und innerhalb der<br />

Bundeswehr auch diesbezüglich genügend<br />

inhaltliche Ausbildung erfolgt.<br />

Modernere Sichtweisen<br />

In den vergangenen 20 Jahren haben<br />

sich zunehmend Einsichten durchgesetzt,<br />

die nicht mehr davon ausgehen,<br />

dass Verhalten eine Reaktion auf<br />

eine objektive Situation ist, sonder Ergebnis<br />

der Wahrnehmung einer Situation<br />

(kognitive Repräsentation) und<br />

der daraus entstehenden Reaktion.<br />

Aus dem Gesamtkomplex werden<br />

nun das Anschlussmotiv, das Machtmotiv<br />

und das Leistungsmotiv als ausgewählte<br />

Motive herausgestellt, weil<br />

diese eine stark ausgeprägte und<br />

unmittelbare, kombinierte Wirkung<br />

auf menschliches Verhalten ausüben<br />

und, je nach Ausprägungsgrad, mit<br />

Führung und Flugbetrieb nicht immer<br />

vereinbar sind.<br />

<strong>Das</strong> Anschlussmotiv<br />

Der Mensch ist unbestritten ein<br />

soziales Wesen und nur in der Gemeinschaft<br />

überlebensfähig 9 . Jeder<br />

erwachsene Mensch gehört zu einer<br />

sozial engeren Gemeinschaft mitdurchschnittlicher<br />

Bandbreite von ca.<br />

20 bis 50 Personen. In dieser Gemeinschaft<br />

hat jeder Einzelne seinen Platz<br />

und jeder nimmt seine (unausgesprochen)<br />

zugewiesene Rolle war – man<br />

fühlt sich aufgehoben, wohl und<br />

sicher. Da der Einzelne sein engeres<br />

soziales Umfeld, in dem er aufgehen<br />

möchte, in der Regel weitestgehend<br />

selbst aussucht, ist jenes ausgewählte<br />

Umfeld geeignet, sich im vorgegebenen<br />

Rahmen frei zu entfalten und<br />

einen Teil Selbstverwirklichung zu betreiben.<br />

Der Drang, einer sozialen<br />

Gruppierung anzugehören, ist außerordentlich<br />

stark und fast triebhaft ausgeprägt.<br />

Nicht jeder Vorstoß eines Anschlusssuchenden<br />

wird mit der bereitwilligen<br />

Akzeptanz der Anschlussperson<br />

belohnt; dafür müssen Bedingungen<br />

erfüllt werden. Zum einen<br />

muss der Anschlusssuchende seinen<br />

Kontaktwunsch wahrnehmbar zu<br />

erkennen geben, zum anderen muss<br />

er in den Augen der Anschlussperson<br />

attraktiv erscheinen. Es muss deutlich<br />

werden, dass beide beteiligten<br />

Personen den jeweils anderen als<br />

gleichberechtigten Partner sehen 10 .<br />

Gelingt dies nicht, kann kein Anschluss<br />

entstehen.<br />

Die allgemeine Lebenserfahrung<br />

lehrt jedoch, dass Anschluss nicht immer<br />

gelingt, obwohl sozialer Anschluss<br />

für das seelische Gleichgewicht, in<br />

Extremfällen sogar für das Überleben,<br />

wichtig ist. Aus diesem Grund wird<br />

jeder Anschlussversuch von der „Hoffnung<br />

auf Anschluss” und gleichzeitig<br />

von der „Furcht vor Zurückweisung”<br />

begleitet.<br />

<strong>Das</strong> Anschlussmotiv ist das im<br />

Vergleich am stärksten ausgeprägte<br />

Motiv des Menschen. Es wird viel<br />

daran gesetzt, um einer Gruppierung<br />

anzugehören, auch im Umfeld eines<br />

Verbandes bzw. einer Staffel.<br />

Jeder neu zuversetzte Besatzungsangehörige<br />

wird es früher öder später<br />

versuchen, sich einer ihm genehmen,<br />

informellen Gruppe anzuschließen, die<br />

seinen Bedürfnissen entspricht. Dabei<br />

spielen Alter, Hobbies, Geisteshaltung,<br />

aber auch fliegerisches Können und<br />

Erfahrung eine Rolle.<br />

Der fliegerischen „Spitze” angehören<br />

zu wollen, ist ein Antrieb, dem<br />

jeder Besatzungsangehörige in unterschiedlicher<br />

Ausprägung unterliegt.<br />

Rückt dieses angestrebte Leistungsprofil<br />

durch erbrachte fliegerische Leistung<br />

in erreichbare Nähe und wird<br />

dies von den „alten Hasen” auch so<br />

52 I/2002 FLUGSICHERHEIT


wahrgenommen, dürfte der Anschluss<br />

an diese Gruppe problemlos gelingen.<br />

Werden diese Leistungen jedoch<br />

noch nicht deutlich erkennbar<br />

erbracht und ist der Drang, schnell<br />

dazu gehören zu wollen, stärker ausgeprägt,<br />

als es der Zuwachs an<br />

Leistungsfortschritt rechtfertigt, kann<br />

es beim Anschlusssuchenden zu einer<br />

<strong>Wahrnehmungs</strong>verzerrung kommen,<br />

die über den wahren, objektiven<br />

Leistungsstand hinweg täuscht und<br />

ein Gefühl des „eigentlich Dazugehörens”<br />

aufkommen lässt. Die<br />

Beweisführung vor sich selber und den<br />

anderen wird dadurch erbracht, dass<br />

punktuell vermeintliche Leistungsspitzen<br />

erbracht werden, die als statistisches<br />

Mittel eines eigentlich hohen<br />

Niveaus und damit als „Eintrittskarte”<br />

angesehen werden; objektive Defizite<br />

werden „weg rationalisiert”.<br />

Ein anderes Problem tritt auf, wenn<br />

die Anschlussperson bzw. die Anschlussgruppe<br />

die Meßlatte für den<br />

Anschluss hoch legt und hoch hält,<br />

um den Preis für einen Anschluss teuer<br />

zu gestalten. Die „Eintrittskarte“ für<br />

die Aufnahme in bzw. für den<br />

Anschluss an den elitären Kreis wird<br />

„ausgestellt”, wenn eine nachhaltige<br />

Beeindruckung stattgefunden hat.<br />

Unausgesprochen, vielleicht mit einem<br />

Augenzwinkern, wird der Anschluss<br />

vollzogen. Danach eröffnen sich für<br />

den ehemals Anschlusssuchenden<br />

Einblicke in Interna, die den Charakter<br />

von Informationen einer geheimbündlerischen<br />

Subkultur aufweisen.<br />

Natürlich war das in den letzten drei<br />

Absätzen Geschriebene völlig übertrieben.<br />

Dennoch sollte angemerkt<br />

werden, dass dynamische Prozesse<br />

dieser Art in früherer (damaliger) Zeit<br />

nicht ausgeschlossen waren. Als Lehre<br />

daraus darf nicht in Vergessenheit<br />

geraten, dass es die Kultur eines<br />

Verbandes ist, die so etwas ermöglicht<br />

bzw. sogar stillschweigend fördert,<br />

aber auch ausschließt.<br />

Menschen allgemein, aber natürlich<br />

auch Besatzungsangehörige und<br />

andere Angehörige des fliegerischen<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

Umfeldes, können über das Anschlussmotiv,<br />

durchaus unbewusst, in<br />

eine Situation abgleiten, die ihrem realen<br />

und objektiven Leistungsstand<br />

nicht entspricht. Dadurch werden<br />

Grenzen potentiell, aber auch real<br />

überschritten und Risiken verkannt.<br />

Es darf nicht unerwähnt bleiben,<br />

dass Luftfahrzeugbesatzungen, die an<br />

Einsätzen unter realer Bedrohung teilgenommen<br />

haben, weitestgehend<br />

nicht unter den geschilderten Symptomen<br />

im Flugbetrieb leiden. Jeder<br />

Teilnehmer hat vor sich und anderen<br />

bewiesen, dass er das Geforderte gut<br />

und auftragsgerecht leisten konnte –<br />

es bedarf keines weiteren Beweises.<br />

Nach hiesiger Beobachtung ist<br />

heutzutage ein zwischenmenschlich<br />

harmonisches und angemessenes<br />

Hineinwachsen in das geforderte<br />

Leistungsprofil weitestgehend gegeben,<br />

gerade vor dem Hintergrund realer<br />

Einsätze. Es bleibt die Frage zu diskutieren,<br />

wie dieses in sich ruhende,<br />

realitätsorientierte und stabile Gruppengefühl<br />

auch außerhalb von realen<br />

Einsätzen aufrecht erhalten werden<br />

kann.<br />

<strong>Das</strong> Machtmotiv<br />

Die richtungsweisenden Beobachtungen<br />

auf einem Hühnerhof im Jahre<br />

1922 11 brachten es ans Tageslicht. Es<br />

gibt eine Hierarchieform, in der Macht<br />

ungestraft ausgeübt werden kann.<br />

Diese Rückschlüsse aufgrund von<br />

Beobachtungen wurden über die<br />

Jahre bis heute weiter untersucht und<br />

auf das vielfältige Verhalten von<br />

Menschen übertragen.<br />

Neutral ausgedrückt beruhen Phänomene<br />

der Macht auf der Unvereinbarkeit<br />

von Zielen verschiedener Personen<br />

und Gruppen oder von Mitteln<br />

zur Zielerreichung.<br />

Der Begriff „Macht” hat einen eher<br />

negativen Beigeschmack, weil er<br />

gewöhnlich mit folgenden Vorstellungen<br />

verbunden wird:<br />

Zwang<br />

Unterdrückung<br />

Gewalt<br />

ungerechtfertigte Herrschaft<br />

Er hat in der Realität jedoch nicht<br />

weniger mit positiven bzw. nicht negativen<br />

Phänomenen zu tun, wie:<br />

legitimierte Herrschaft<br />

Autorität<br />

anerkannter Führung<br />

Einflussnahme<br />

Erziehung<br />

Interessenausgleich<br />

Gruppenzusammenhalt<br />

Aus dieser Gegenüberstellung wird<br />

ein Problemfeld zwischen notwendigem<br />

Machthandeln und wahrgenommener<br />

Machtausübung deutlich. Eine<br />

angemessene Einordnung im täglichen<br />

Leben verlangt von beiden Seiten<br />

Augenmaß in der Anwendung und<br />

Einsicht in die Notwendigkeit, in<br />

bestimmten Grenzen Macht ausüben<br />

zu müssen bzw. Machtausübung zu<br />

akzeptieren. Ohne kontrollierte und<br />

angemessene Machtstrukturen kann<br />

sich kein soziales Gebilde stabilisieren.<br />

Leider werden die Grenzen angemessener<br />

Machtausübung nicht<br />

immer eingehalten. <strong>Das</strong> ist vor allen<br />

dann der Fall, wenn eine Person oder<br />

eine Gruppe übertrieben nach Macht<br />

und Überlegenheit strebt und dabei<br />

berechtigten Widerstand anderer<br />

unterdrückt.<br />

Eine Machtstruktur kann sich unter<br />

folgenden Bedingungen entwickeln:<br />

1. Motivation des Machthandelnden.<br />

Sie entwickelt sich unter der<br />

Bedingung, dass der Bedürfniszustand<br />

eines potentiell Machtausübenden<br />

(Person A) nur dann<br />

befriedigt werden kann, wenn<br />

ein anderer (Person B) ein ganz<br />

bestimmtes Verhalten zeigt.<br />

2. Widerstand.<br />

Person B, deren Verhalten zur<br />

Befriedigung des Bedürfnisses<br />

der Person A erforderlich ist,<br />

muss sich widersetzen.<br />

3. Machtquellen.<br />

DerWiderstandmobilisiertMachtquellen<br />

bei Person A. Diese<br />

könne sich aus persönlichen 12<br />

53


oder institutionellen 13 Merkmalen<br />

ergeben.<br />

4. Machthemmung<br />

Ab einer bestimmten Grenze<br />

wird keine Macht mehr ausgeübt,<br />

oder das Machtmittel wird<br />

verändert. Die Grenze liegt individuell<br />

im Werte-Normen-System<br />

von Person A, vielleicht auch in<br />

dem Respekt vor der Gegenmacht<br />

von Person B.<br />

5. Machtmittel<br />

Die Machtmittel ergeben sich aus<br />

der Wahl eingesetzter Machtquellen.<br />

6. Machtwirkung<br />

Im Machtgeschehen spielt auch<br />

die Auswirkung des Machthandelns<br />

eine Rolle. Beim anderen<br />

können Nachgeben, Zustimmung,<br />

Respekt, Zorn oder Vergeltungsvorsätze<br />

auftreten, beim<br />

Machtausübenden die Befriedigung<br />

des auslösenden Bedürfniszustandes,<br />

aber auch das Gefühl,<br />

mächtig zu sein, oder Angst vor<br />

Vergeltung.<br />

Wodurch unterscheidet sich nun<br />

ein gesteigert Machtmotivierter im<br />

täglichen Leben von anderen, die ihr<br />

Machtmotiv situationsgerecht und<br />

kontrolliert einsetzen?<br />

Er fällt eher dadurch auf:<br />

dass er Situationen aufsucht, wo<br />

sich Chancen auf Einflussnahme<br />

und Prestigegewinn bieten,<br />

dass er herauszufinden versucht,<br />

wer gerade mit welchen Intrigen<br />

und Plänen befasst ist,<br />

dass er ständig bewertet, ob<br />

diese Gelegenheit für die eigene<br />

Person eher günstige oder ungünstige<br />

Konsequenzen hat.<br />

Auch in einem fliegerischen Umfeld<br />

einer großen Organisation, wie z.B.<br />

der Bundeswehr, gibt es häufig<br />

Situationen, die als anregend für das<br />

Machtmotiv gelten können. Vorgesetzte<br />

müssen folgenreiche Entscheidungen<br />

treffen, sich durchsetzen<br />

sowie Untergebene führen und motivieren.<br />

Nur optimal eingesetzte Macht<br />

generiert Leistungssteigerungen unter<br />

Beachtung von Grenzen und Normen.<br />

Unangemessen eingesetzte Macht fördert<br />

z.B.:<br />

Widerstand,<br />

Gleichgültigkeit,<br />

Aggression,<br />

Ablenkung,<br />

Autoritätsverlust usw.,<br />

alles überflüssige Erscheinungen,<br />

die Ressourcen sinnlos belegen und<br />

den Freiheitsgrad für angemessene<br />

Reaktionen beschneiden.<br />

<strong>Das</strong> Leistungsmotiv<br />

<strong>Das</strong> dritte und für den Flugbetrieb<br />

sicherlich interessanteste Motiv, das<br />

hier vorgestellt werden soll, ist das<br />

Leistungsmotiv. Leistungsmotivation<br />

und Leistungsgesellschaft sind<br />

Begriffe, die im engen Zusammenhang<br />

zu sehen sind. Die ersten strukturierten<br />

und bemerkenswerten Forschungen<br />

auf diesem Gebiet wurden<br />

Anfang der 60er Jahre durchgeführt.<br />

An deren grundlegenden Aussagekraft<br />

hat sich bis heute nichts geändert,<br />

obwohl natürlich die darstellenden<br />

Aspekte weiter entwickelt wurden.<br />

<strong>Das</strong> Leistungsmotiv eines Menschen<br />

ist ein Ein-Personen-Spiel und wird von<br />

einem inneren Gütemaßstab angeregt.<br />

Nur er weiß,<br />

welchen Anspruch er an sein<br />

eigenes Leistungsvermögen wirklich<br />

hat,<br />

welches<br />

Anspruchsniveau<br />

er verfolgt,<br />

ob ihm die erbrachte<br />

Leistung<br />

ein Erfolgserlebnis<br />

vermittelt,oder ein<br />

Misserfolgserlebnis.<br />

Diese Empfindungen<br />

werden wahrgenommen,<br />

unabhängig<br />

davon, ob etwas gelungen<br />

ist oder nicht, ob<br />

die Person von anderen gelobt wird<br />

oder nicht. Natürlich wird Lob gerne<br />

entgegen genommen, aber nur die<br />

Person selbst weiß, ob sie im Inneren<br />

zufrieden mit der erbrachten Leistung<br />

ist, oder nicht.<br />

<strong>Das</strong> Leistungsmotiv bringt den<br />

Einzelnen in jeder Phase seiner persönlichen<br />

Entwicklung weiter. <strong>Das</strong><br />

Leistungsmotiv mit seinen Erscheinungsformen,<br />

sich über Erfolg zu freuen<br />

und über Misserfolg in irgend einer<br />

Form zu grämen, kann vom frühen<br />

Kleinkind an beobachtet werden und<br />

begleitet den Menschen bis an sein<br />

Lebensende.<br />

<strong>Das</strong> Leistungsmotiv hat seine<br />

Auswirkungen also auch in der aktiven<br />

Phase des Berufslebens, auch und<br />

gerade im Umfeld von „Fliegerei”.<br />

Wie funktioniert es nun und kann<br />

es beherrscht werden? Um dieser<br />

Frage nachzugehen ist es erforderlich,<br />

noch einen weiteren Aspekt in die<br />

Betrachtung mit einzubeziehen.<br />

In seinem Streben nach Weiterentwicklung<br />

geht der Mensch Risiken ein,<br />

denn keine Weiterentwicklung ist<br />

ohne Gefahr des Misslingens möglich.<br />

Leistungsmotiv und Risikowahl stehen<br />

also in enger Beziehung.<br />

Wird von jemand Leistung gefordert,<br />

oder fordert er Leistung von sich<br />

selber ab, so schwindet die Aussicht<br />

auf Erfolg mit der Schwierigkeit der<br />

Aufgabe. Geradezu gegenläufig ist<br />

jedoch der Anreiz des Erfolges, der mit<br />

der Schwierigkeit der Aufgabe steigt.<br />

54 I/2002 FLUGSICHERHEIT


Legt man die Motivationskurve darüber,<br />

so wird deutlich, dass gerade<br />

dann die Motivation am höchsten ist,<br />

wenn die Aussicht auf Erfolg auf<br />

„Messers Schneide” steht. So weit zur<br />

Theorie.<br />

Im realen Leben jedoch gibt sich der<br />

Mensch nicht mit einer fifty-fifty-Lösung<br />

zufrieden. Im realen Leben werden<br />

Fortschritte in größeren Stufen<br />

angestrebt, weil der innere Gütemaßstab<br />

die Meßlatte auf die Höhe der<br />

gestrigen Leistung gelegt hat und nun,<br />

darauf aufbauend, mehr möchte.<br />

Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit des<br />

Misslingens ohne bestätigten Lerneffekt<br />

größer als 50%. Gelingt das<br />

Vorhaben, stellt sich ein Erfolgserlebnis<br />

ein und es hat vermutlich ein Lernprozess<br />

eingesetzt und das Leistungsmotiv<br />

beginnt bei nächster Gelegenheit<br />

im geschilderten Muster fortzufahren.<br />

Der hier beschriebene Vorgang<br />

könnte graphisch wie folgt dargestellt<br />

werden:<br />

ten Leistungsanforderung (LA) gerecht<br />

werden. <strong>Das</strong> trifft auch auf die<br />

Angehörigen des Verbandes in ihrer<br />

Funktion zu. Niemand bekommt die<br />

Qualifikation für eine berufliche Spezialaufgabe<br />

mit in die Wiege gelegt;<br />

man muss sie sich erwerben. Für diese<br />

Lebensabschnitte ist die „Linse” gut<br />

und hilfreich.<br />

Ohne das Leistungsmotiv mit dem<br />

ausgeprägten Effekt der ständigen<br />

Weiterentwicklung, könnte sich niemand<br />

hoch spezialisieren; insbesondere<br />

nicht Luftfahrzeugbesatzungen 14 .<br />

Zunächst wächst der Besatzungsangehörige<br />

in das geforderte Leistungsprofil<br />

seines Verbandes hinein und er<br />

wird irgendwann zu einem verlässlichen<br />

Leistungsträger. Er besucht weiterführende<br />

Lehrgänge und gehört<br />

vielleicht eines Tages zur Spitze seiner<br />

Staffel, der in der Lage ist, ständig,<br />

dauerhaft und nachweisbar am oberen<br />

Limit anforderungsgerecht Leistung<br />

abzugeben 15 .<br />

Doch was geschieht jetzt mit seinem<br />

Leistungsmotiv? Ist das Streben<br />

nach Weiterentwicklung nun zuende?<br />

An diesen Zusammenhängen wird<br />

klar, dass die Kategorie der durch<br />

Bewusstsein gesteuerten Motive nicht<br />

auf Ausgleich, nämlich Beseitigung<br />

eines Mangelzustandes ausgerichtet<br />

sind, sondern auf Mehrung an<br />

Erfahrung, auf Mehrung an Bewusstsein.<br />

Hilft uns diese Erkenntnis im täglichen<br />

Flugbetrieb?<br />

Ist die in der Grafik als Linse dargestellt<br />

Tendenz menschlichen Leistungsverhaltens<br />

gut oder schlecht mit<br />

Flugbetrieb vereinbar?<br />

Die weiterführende Betrachtung<br />

soll Aufschluss geben.<br />

Jeder Verband muss in Wahrnehmung<br />

seines Auftrages einer bestimm-<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

<strong>Das</strong> Leistungsmotiv bietet also die<br />

Möglichkeit, in die Leistungsanforderung<br />

eines Verbandes hineinzuwachsen.<br />

Doch wie geht es danach weiter?<br />

<strong>Das</strong> Leistungsmotiv wird nicht abgeschaltet<br />

werden – es wirkt immerfort<br />

und beeinflusst das Streben noch<br />

Höherem. Es verschiebt das Anspruchsniveau<br />

objektiv nach oben.<br />

Die Antwort liegt auf der Hand.<br />

Sofern weiterhin Interesse an der<br />

Ausübung des Berufs in all seinen<br />

Facetten besteht, wird auch das<br />

Leistungsmotiv weiterhin in diesen<br />

Bereich hinein wirken. Damit kann es<br />

gefährlich werden, wenn die obere<br />

Grenze des Zulässigen und des Machbaren<br />

erreicht wird. <strong>Das</strong> Leistungs-<br />

55


motiv kann wesentlich dazu beitragen,<br />

Grenzen nicht hinreichend<br />

anzuerkennen.<br />

Es gibt Beispiele aus dem Unfallgeschehen,<br />

die dieser Vermutung Raum<br />

geben.<br />

Es ist eine hochinteressante Führungsaufgabe<br />

sich mit der Frage auseinander<br />

zu setzen, wie das Leistungsmotiv<br />

kontrollier werden kann.<br />

Die unmittelbare Kontrolle kann<br />

aber auch vom Einzelnen ausgehen,<br />

wenn er sich als Mensch mit dem ihm<br />

innewohnenden Leistungsmotiv akzeptiert<br />

und deshalb erkennt, dass er<br />

sich selbst Grenzen zu setzen hat, die<br />

er ohne Not niemals überschreitet,<br />

indem er sich im entscheidenden Moment<br />

zurücknimmt – zum Glück ist<br />

der Mensch auch vernunftbegabt.<br />

Zusammenfassung<br />

Alle drei Motive, Anschluss- Machtund<br />

Leistungsmotiv, finden sich vereint<br />

in jedem Menschen wieder. Wir alle<br />

spielen auf dem Klavier in der Auseinandersetzung<br />

mit dem Umfeld, in<br />

dem wir uns bewegen. Je nach Herausforderung<br />

bevorzugen wir einen<br />

stärkeren Ausprägungsgrad des einen,<br />

des anderen, oder des dritten Motivs;<br />

eben der jeweiligen Situation angemessen.<br />

Es kann für den Einzelnen problematisch<br />

werden, wenn eines der<br />

Motive zu stark ausgeprägt ist und<br />

sich in jeder Situation als dominierende<br />

Stellgröße eines individuellen Verhaltens<br />

einbringt. Und nicht nur das –<br />

ein solcher Wesenszug wirkt auf<br />

Dauer auch ungünstig auf die Gruppen-<br />

bzw. auf die Teamleistung.<br />

Eine kurze Zusammenfassung mit<br />

plakativen Aussagen:<br />

1. Ein zu stark Anschlussmotivierter<br />

wird sich immer wieder in Abhängigkeiten<br />

begeben, die ihn<br />

letztlich überfordern werden, weil<br />

der Preis, den er für Anschluss zu<br />

zahlen bereit sein muss, auf<br />

Dauer zu hoch sein dürfte.<br />

Als Führungsperson gilt er als<br />

nett, aber weich und kann keine<br />

Ordnung schaffen oder Richtung<br />

geben. Bevor sich diese Person<br />

unbeliebt macht, würde sie lieber<br />

auf ihre Führungsrolle verzichten.<br />

2. Der überzogen Machtmotivierte 16<br />

wird immer wieder versuchen,<br />

Kontrolle über jene Mittel zu<br />

erlangen, mit denen sich andere<br />

beeinflussen lassen. In diesem<br />

Streben bleibt er nicht unerkannt<br />

und er wird es schwer haben,<br />

intensive Freundschaften bzw.<br />

Kameradschaften zu pflegen.<br />

Sein ständiger Begleiter wird der<br />

Hintergedanke sein, der ständige<br />

Begleiter derer, auf die er einwirkt,<br />

wird das Misstrauen sein.<br />

Bei legitimer Machtausübung<br />

einer Führungsperson würde die<br />

Kombination mit einem hohen<br />

Leistungsmotiv ein Team optimal<br />

zu Höchstleistungen anregen<br />

können.<br />

3. Der ungehemmt Leistungsmotivierte<br />

wird sich in Situationen<br />

bringen, von denen er nicht genau<br />

weiß, wie er da wieder rauskommen<br />

soll. Geschieht das an<br />

der Leistungsgrenze, können die<br />

Folgen fatal sein. <strong>Das</strong> Flugunfallgeschehen<br />

der Bundeswehr<br />

kennt viele Beispiele dafür. Leider<br />

werden daraus nur selten die angemessenen<br />

Rückschlüsse gezogen<br />

– beim Einzelnen, aber auch<br />

in der Organisation.<br />

Als Führungsperson setzt er<br />

falsche und gefährliche Maßstäbe<br />

für alle Untergebenen und begibt<br />

sich in Abhängigkeiten.<br />

Motive wirken aus der Zukunft.<br />

Ihren Zweck und ihren Nutzen, aber<br />

auch die mit den Motiven in Zusammenhang<br />

stehenden Risiken zu<br />

verstehen, ist Voraussetzung dafür,<br />

Grenzen frühzeitig zu erkennen und<br />

zu akzeptieren.<br />

<br />

1 Folgende Literatur stand für die Bearbeitung zur<br />

Verfügung:<br />

Rheinberg, Falko: Motivation; Grundriß der<br />

Psychologie / Kohlhammer, Stuttgart 1997<br />

Heckhausen, Heinz: Motivation und Handeln /<br />

Springer-Lehrbuch, Berlin 1989<br />

Dörner, Dietrich: Die Logik des Misslingens / Rowohlt<br />

Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck 1992<br />

Pethes, Nicolas; Ruchatz, Jens: Gedächtnis und<br />

Erinnerung; ein interdisziplinäres Lexikon / Rowohlt<br />

Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck 2001<br />

Asanger; Wenninger: Handwörterbuch<br />

Psychologie / Psychologie Verlags Union,<br />

Weinheim 1999<br />

Legewie, Heiner; Ehlers, Wolfram: Handbuch<br />

Moderne Psychologie / Bechtermünz Verlag,<br />

Augsburg 2000<br />

2 Hier ist der Bereich der intrinsischen Motivation<br />

gemeint, die aus sich selbst heraus als belohnend<br />

empfunden wird, wenn die Handlung aus anregenden<br />

Reizen der Umgebung mittlerer<br />

Ausprägungsintensität ausgelöst worden ist.<br />

3 Also auch Sprechweise, Gestik, Mimik, Motorik<br />

usw.; eben alle beobachtbaren<br />

Kommunikationskanäle.<br />

4 Hier spielen Dienstaufsicht und Kultur eine herausragende<br />

Rolle. Da auch Rückmeldungen eines<br />

Umfeldes wahrgenommen werden, also individuell<br />

aufgenommen und verarbeitet werden, können<br />

dort Missverständnisse auftreten zwischen<br />

dem, was der Rückmeldende beabsichtigt und<br />

dem, was der Wahrnehmende versteht.<br />

5 Siehe dazu auch: „Wahrnehmung – <strong>Wahrnehmungs</strong>verzerrung<br />

/ <strong>Wahrnehmungs</strong>abwehr”<br />

6 Hier liegt der Raum für das weite Feld der<br />

Vorurteile. Von einmal gefassten Vorurteilen wieder<br />

abzuweichen ist Schwerstarbeit.<br />

7 Hier bildet der Sexualtrieb eine Ausnahme, weil er,<br />

von einem mittleren Erregungsniveau ausgehend,<br />

zunächst den Erregungszustand erhöht, bis es zu<br />

einer Befriedigung kommen kann. Im Gegensatz<br />

dazu kann z.B. ein wenig Hunger mit ein wenig<br />

Nahrung gestillt werden.<br />

8 Mit dieser Beschreibung ist das „homöostatische<br />

Motivationskonzept” gemeint.<br />

9 Damit ist das seelische, aber durchaus auch das<br />

physische Überleben gemeint. Der Eremit ist kein<br />

widerlegendes Beispiel, weil auch er sich zu einer,<br />

wenn auch räumlich weit zerstreuten, Gemeinschaft<br />

zählen kann. Die Literatur beschreibt eindrucksvolle<br />

Beispiele, die die Richtigkeit der<br />

Behauptung bestätigen.<br />

10 Keiner der beiden Partner darf als Objekt instrumentalisiert<br />

werden, z.B. für das Erleben von<br />

Unabhängigkeit oder Abhängigkeit, Überlegenheit<br />

oder Unterlegenheit, Macht oder Ohnmacht,<br />

Hilfegeben oder Hilfesuchen.<br />

11 Schielderupp-Ebbes stellten fest, dass es eine<br />

Hierarchie gab, in der ranghöhere Tiere<br />

Schnabelhiebe an rangniedrigere Tiere ungestraft<br />

austeilen konnten, was letzteren gegenüber ersteren<br />

nicht möglich war.<br />

12 Körperliche oder geistige Überlegenheit,<br />

Attraktivität, Ausstrahlungskraft oder ähnlichem.<br />

13 Die Rolle von A und ihren rechtlichen und wirtschaftlichen<br />

Möglichkeiten.<br />

14 Hier soll das Beispiel LFB stellvertretend für alle<br />

anderen Bereiche eines Verbandes fortgeschrieben<br />

werden.<br />

15 Natürlich ist klar, dass es sich hier um eine theoretische<br />

Betrachtung handelt. In Wirklichkeit unterliegt<br />

auch die LFB einer Dynamik mit Tagesform<br />

abhängigen Leistungsparametern. Auf die<br />

Darstellung der Dynamik wurde zu Gunsten der<br />

Klarheit des Prinzips verzichtet.<br />

16 Hier ist die Kategorie der „personalisierten<br />

Machtorientierung” gemeint, die vor allem der<br />

Stärkung der eigenen Person dient. Im Gegensatz<br />

dazu ist die „sozialisierte Machtorientierung”<br />

stark fremddienlich, sie soll anderen nutzen.<br />

56 I/2002 FLUGSICHERHEIT


Führungs- und<br />

Handlungsverantwortung<br />

Allgemeines<br />

Verantwortung für Führungsentscheidungen<br />

und das Geradestehen<br />

für die Ergebnisse des eigenen Handelns<br />

sind uns in einem Umfeld, in<br />

dem Menschen geführt werden und<br />

gerichtetes Handeln für das Erreichen<br />

definierter Ziele erforderlich ist, ständige<br />

Begleiter.<br />

Der vorliegende Artikel soll einen<br />

Beitrag zu der Lösung von Fragen leisten,<br />

die im Zusammenhang mit Entscheidungen<br />

und deren Auswirkungen<br />

auftreten können.<br />

Natürlich können hier nicht alle<br />

Aspekte von Führungsverantwortung<br />

(FV) und Handlungsverantwortung<br />

(HV) besprochen werden. Allerdings<br />

erscheint eine etwas tiefer gehende<br />

und CRM-bezogene Betrachtung angezeigt,<br />

weil auch dieser Blickwinkel<br />

auf Vorgänge rund um das Verhalten<br />

und Erleben von Menschen eine Rolle<br />

spielen kann, wenn Ressourcen strukturell<br />

verschüttet, oder freigesetzt werden.<br />

Unsichere Vorstellungen darüber<br />

„wann bin ich für was verantwortlich“<br />

können die Leistungsfähigkeit eines<br />

Teams negativ beeinflussen – Beispiele<br />

gibt es genug:<br />

Eine PAH – Besatzung nähert sich<br />

einer Stellung an, der LFF verschätzt<br />

sich und es kommt zu<br />

einer Baumberührung:<br />

Ist der Kommandant (Kdt) verantwortlich?<br />

Im Rahmen eines IFR - Weiterbildungsfluges<br />

mit unerwartet<br />

viel Gegenwind entscheidet sich<br />

der Kdt, am Zielflugplatz, nachdem<br />

eine Landung bei Wetterbedingungen<br />

„zero / zero“ nicht<br />

möglich war, dort einige Übungsanflüge<br />

durchzuführen.Der Kraft-<br />

stoffvorrat entsprach vor Antritt<br />

des Fluges den Mindestanforderungen<br />

für einen Instrumentenflug<br />

mit einer Planung zum<br />

Ausweichlandeplatz. Am Ausweichlandeplatz<br />

entsprachen die<br />

zu erwartenden Wetterbedingungen,im<br />

entsprechenden Zeit-<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

57


fenster, den Mindestbedingungen.<br />

Die Entscheidung des Kdt<br />

Übungsanflüge durchzuführen,<br />

führte dazu, dass Reservekraftstoffleichtfertig<br />

1 verbraucht wird:<br />

Soll der LFF Widerspruch einlegen<br />

und dürfte er das überhaupt?<br />

Der Flugauftragserteilende und<br />

Nachtflugleiter eines Hubschrauberverbandes<br />

entscheidet sich für<br />

die Durchführung eines Nachtfluges<br />

bei 30%iger Eintreffwahrscheinlichkeit<br />

von flugausschließenden<br />

Wettererscheinungen<br />

(moderate ice in snow showers):<br />

Dürfen die Nachtflugteilnehmer<br />

diese Entscheidung hinterfragen<br />

oder wäre es sogar deren Pflicht?<br />

Der Kdt entscheidet sich für einen<br />

Startabbruch jenseits der Startabbruchgeschwindigkeit:<br />

Hätte ein Besatzungsangehöriger,<br />

unabhängig von der Aufgabe<br />

an Bord, wenn auch vielleicht<br />

nur verbal, eingreifen müssen?<br />

Diese wenigen Beispiele aus dem<br />

Flugunfall – und Zwischenfallgeschehen<br />

verdeutlichen die Notwendigkeit,<br />

folgenden Fragen nachzugehen:<br />

Wo liegen die Grenzen eigener Entscheidungskompetenz?<br />

BiszuwelcherGrenzemüssen Entscheidungen<br />

hingenommen werden,<br />

wo ist die Schmerzgrenze?<br />

Wann bin ich für Handlungen anderer<br />

verantwortlich?<br />

Wo wird Autorität durch Widerspruch<br />

untergraben und wie viel<br />

Widerspruch verträgt eine Hierarchie?<br />

Wann bin ich als Besatzungsangehöriger<br />

schuldig im Sinne einer<br />

Dienstpflichtverletzung?<br />

Wie können Erkenntnisse zur<br />

Thematik aufgearbeitet und vermittelt<br />

werden?<br />

Letztlich obliegen die Antworten<br />

den Truppenführern. Der vorliegende<br />

Beitrag versucht Hintergründe aufzuhellen,<br />

Vorurteile durch Definitionen<br />

und Sprachregelung abzubauen, sowie<br />

Hinweise für einen möglichen Um-<br />

gang mit FV und HV im Flugbetrieb zu<br />

geben.<br />

Definitionen<br />

Auftragsbezogener Flugbetrieb in<br />

einem militärischen Umfeld, nicht selten<br />

unter erhöhten Risiken und bisweilen<br />

unter realer Bedrohung, unterliegt<br />

außerordentlich vielen Sachzwängen,diejenseits<br />

der„normalen“Durchführung<br />

von Flugbetrieb nach dem<br />

Luftverkehrsgesetz liegen. Er benötigt<br />

deshalb in ganz besonderem Maße<br />

eine Struktur, die der objektiven Arbeitssituation<br />

im und für das „Cockpit“<br />

angepasst ist und angemessene<br />

Kontrollmöglichkeiten bietet.<br />

Die Auseinandersetzung mit den<br />

Fragen nach FV und HV verlangt eine<br />

Beschäftigung mit Begriffen die zwar<br />

bekannt sind, in ihrer Bedeutung jedoch<br />

zugunsten einer einheitlichen<br />

Sprachregelung definiert werden müssen.<br />

Kontrolle<br />

Mit Kontrolle ist nicht der Begriff<br />

aus dem Führungsvorgang als klassischen<br />

„Soll-Ist-Vergleich“ im Rahmen<br />

von Dienstaufsicht gemeint. Hier ist<br />

die Übersetzung des englischsprachigen<br />

Wortes „control“ gemeint, das<br />

Kontrolle „... als in dem Maße gegeben<br />

sieht, in dem eine Person oder<br />

eine Gruppe über die Möglichkeiten<br />

verfügt, relevante Bedingungen und<br />

Tätigkeiten entsprechend eigener<br />

Ziele, Bedürfnisse und Interessen zu<br />

beeinflussen“. Kontrolle wird als Eigenkontrolle<br />

aufgefasst, indem es<br />

sowohl um die Beeinflussung der Bedingungen<br />

als auch der eigenen<br />

Tätigkeit geht; diese Beeinflussung findet<br />

immer in Bezug auf ein Ziel statt<br />

und kann zwischen objektiver Kontrolle<br />

(wirklich vorhanden) und subjektiver<br />

Kontrolle (ich könnte, wenn ich<br />

müsste) unterschieden werden 2 .<br />

Drei Begriffe sind in diesem Kontext<br />

wesentlich:<br />

Freiheitsgrad<br />

... ist die Möglichkeit, zwischen<br />

unterschiedlichen, aber etwa gleich<br />

effizienten, Handlungsstrategien auswählen<br />

zu können, die alle zu der<br />

Erledigung des Auftrages führen. Ein<br />

aufwendiger Umweg ist also nicht als<br />

Freiheitsgrad zu interpretieren.<br />

Tätigkeitsspielraum<br />

... wird als Möglichkeit gesehen,<br />

unterschiedliche Handlungsvollzüge<br />

innerhalb einer Aufgabe ausführen zu<br />

können. Damit sind alle bewussten<br />

(nach kognitiver Leistung), aber auch<br />

weitestgehend unbewussten („skill<br />

based behavior 3 “) Einzelhandlungen<br />

gemeint, die eine gegebene Situation<br />

erfordert und die zielgerichtet ausgeführt<br />

werden.<br />

Zum Beispiel der Anlassvorgang,<br />

der bewusst und streng strukturiert<br />

(wenn auch bisweilen individuell)<br />

durchgeführt wird, oder der Endanflug<br />

zur Landung, der in seiner Anforderung<br />

an motorische Abläufe meist<br />

unbewusst gesteuert wird und nach<br />

„fließenden Momentbewertungen 4 “<br />

aus der Situation heraus bestimmt<br />

wird (rechts oder links am Hindernis<br />

vorbei). Gemeint ist der Spielraum in<br />

einer hierarchisch horizontalen Entscheidungsebene<br />

eines einzelnen Entscheidungsbereichs.<br />

Entscheidungsspielraum<br />

... benennt den vertikalen Spielraum,<br />

der die Entscheidungen über<br />

Strukturierungen der Auftragserfüllung<br />

meint (wer, macht was, wann?)<br />

wird aber auch in engen Grenzen prinzipiell<br />

von jedem wahrgenommen, der<br />

Handlungsverantwortung übernehmen<br />

soll (wie mache ich was?).<br />

... wird bei Handlungsvollzügen (s.<br />

o.) erforderlich, die mit Freiheitsgraden<br />

(s. o.) gekoppelt sind.<br />

Führungsverantwortung<br />

Wird häufig durch ein Prinzip der<br />

Delegation angestrebt, welches so<br />

gestaltet ist, dass die Rechte und die<br />

Verantwortungen des Handelnden<br />

dem Umfang der Aufgabe entsprechend<br />

übertragen werden. (Stichwort:<br />

58 I/2002 FLUGSICHERHEIT


„Der richtige Mann am richtigen<br />

Platz“).<br />

Handlungsverantwortung<br />

Handlungsverantwortung folgt dem<br />

Handlungsspielraum. Diese ergibt sich<br />

aus der Gleichzeitigkeit von Tätigkeitsspielraum<br />

(T-S) sowie Entscheidungs-<br />

und Kontrollspielraum (E-<br />

K-S) ergibt.<br />

Nur wem das Recht eingeräumt<br />

wird, neben manuellem Tätigkeitsspielraum<br />

auch alle der Tätigkeit<br />

entsprechend zugeordneten Entscheidungen<br />

zu treffen und darüber<br />

Kontrolle auszuüben, verfügt<br />

über Handlungsspielraum und<br />

wird so in der Lage versetzt, für<br />

sein Handeln Verantwortung übernehmen<br />

zu können.<br />

Wird eine Erweiterung nur in einer<br />

Dimension vorgenommen, so kann<br />

nicht von einer Erweiterung des Handlungsspielraums<br />

gesprochen werden.<br />

Abgrenzung<br />

<strong>Das</strong> bisher Gesagte verdeutlicht die<br />

Vielfalt der Betrachtungsmöglichkeiten<br />

und die Leichtigkeit mit der man<br />

aneinander vorbeireden kann, wenn<br />

Fragen nach Verantwortung im und<br />

für den Flugbetrieb gestellt und kontrovers<br />

diskutiert werden.<br />

Der vorliegende Beitrag möchte<br />

sich, wie bereits angedeutet, im<br />

Schwerpunkt mit Fragen auseinandersetzen,<br />

die Lfz-Besatzungen direkt<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

betreffen. Selbstverständlich liegt es in<br />

der Natur von Weg-Ziel-Konflikten,<br />

also in der Natur von Entscheidungsfindungsprozessen,<br />

dass bereits in<br />

einem sehr frühen Stadium Verantwortung<br />

zu übernehmen ist. Die Darstellung<br />

einer eher indirekten Wirkung,<br />

z. B. durch höherer Stäbe und Kommandobehörden<br />

aus der „Ferne“ auf<br />

konkrete Handlungen und Tätigkeiten<br />

der Arbeitsebene an der „Basis“, findet<br />

keine Erörterung.<br />

Die Aspekte von möglichen, schuldhaften<br />

Dienstpflichtverletzungen werden<br />

im folgenden dort angedeutet, wo<br />

der Bezug zu Gesetzen hergestellt wird.<br />

Eine Bewertung jedoch im Sinne einer<br />

Prüfung, ob ggf. eine Dienstpflichtverletzung<br />

vorliegt, soll nicht vorgenommen<br />

werden.<br />

Hauptteil<br />

Arbeitsteilung und Leistungssteigerung<br />

<strong>Das</strong> Prinzip der Leistungssteigerung<br />

durch Arbeitsteilung im Flugbetrieb<br />

kann auf eine lange Geschichte<br />

zurückblicken. Die „Partialisierung“<br />

von Arbeitsabläufen bis hin zu kleinsten<br />

Teiltätigkeiten, die ihrerseits einzelnen<br />

Personen übertragen wurden,<br />

folgten dem Prinzip der Trennung von<br />

„Kopf (geistiger Arbeit des Ingenieurs)<br />

und Hand (körperliche Arbeit des einfachen<br />

Mannes)“ aufgrund der Überlegung,<br />

dass das gemeinsame höhere<br />

Ziel, z. B. das Erreichen eines allgemeinen<br />

Wohlstandes, die Nachteile einer<br />

solchen Strukturierung neutralisieren<br />

würden. 5<br />

Die Geschichte hat gezeigt, dass<br />

diese Annahme in ihrer Konsequenz<br />

eine Illusion war. Heute leben wir in<br />

der Erkenntnis, dass Leistungssteigerung<br />

nur durch Erhöhung des Handlungsspielraums<br />

im Sinne obiger Definitionen<br />

erfolgen kann.<br />

Checklisten, Entscheidungsstrukturen<br />

und „Operating Procedures“<br />

sind Relikte dieser alten Prinzipien und<br />

haben dennoch in komplexen Umfeldern<br />

ihre Berechtigung, weil sie Fehlleistungen,<br />

insbesondere unter Zeitdruck,<br />

vorbeugen können.<br />

Im Gegenzug ist es erforderlich,<br />

auch die Kehrseiten dieser an sich<br />

positiven Effekte zu beleuchten. Arbeitsteilung<br />

kann persönlichkeitsfördernd<br />

sein, wenn die Humankriterien<br />

berücksichtigt werden. <strong>Das</strong> heißt u. a.<br />

wenn jeder Tätigkeit die entsprechende<br />

Entscheidungs- und Kontrollkompetenz<br />

zugestanden ist. Wer kennt<br />

nicht Situationen, in denen der steuerführende<br />

LFF als „lebender Roboter“<br />

betrachtet und quasi durch das<br />

Verfahren „gesprochen“ wurde, ohne<br />

dass Notwendigkeit dafür bestand.<br />

Oder der Kommandant „fühlte mal<br />

mit“ und niemand wusste nachher,<br />

wer eigentlich das Lfz gelandet hat;<br />

doch dazu gleich mehr.<br />

Wird jedoch Entscheidungs- und<br />

Kontrollspielraum sehr weit gefasst<br />

interpretiert, sehen wir uns dem anderen<br />

Phänomen gegenüber, dass plötzlich<br />

Verfahren abgekürzt, verändert<br />

oder weggelassen werden, weil sie<br />

einem beteiligten „Führungsverantwortlichen“<br />

überflüssig erscheinen.<br />

Auch dafür gibt es Beispiele: Es tritt<br />

eine Situation ein, in der die Regelung<br />

einer Vorschrift klar anzuwenden<br />

wäre. Im Rahmen eines Überprüfungsfluges<br />

wäre man bei einer Missachtung<br />

durchgefallen. Heute jedoch,<br />

im konkreten Einsatz wird diese Regelung,<br />

nur für diesen Einzelfall und „in<br />

guter Absicht“, gebeugt, um das<br />

Verfahren bzw. das Vorhaben zu beschleunigen<br />

oder überhaupt erst zu<br />

ermöglichen.<br />

Jeder der kritisch in sich hinein hört,<br />

wird feststellen, dass er über genügend<br />

Lebenserfahrung zu diesem<br />

Thema verfügt – Beispiele möge sich<br />

jeder geneigte Leser vergegenwärtigen.<br />

<strong>Das</strong> richtige Maß an Regulierungen<br />

einerseits und Freiheitsgraden andererseits<br />

zu finden, ist sehr schwierig,<br />

weil diese auch sehr individuellen<br />

Bedürfnissen angepasst sein müssten.<br />

Deshalb ist es so wichtig, dass der<br />

Kommandeur/Kommodore eines Ver-<br />

59


andes nicht müde wird, immer wieder<br />

deutlich zu vermittelt, wie er sich<br />

Auftragserfüllung in seinem Verband<br />

vorstellt und wie er die Kultur seines<br />

Verbandes sieht. Flugsicherheit ist vor<br />

allem eine Führungsaufgabe! 6<br />

Erlernte Hilflosigkeit<br />

Wie bereits dargestellt, ist die personellen<br />

Trennung von Tätigkeitsspielraum<br />

einerseits und Entscheidungsund<br />

Kontrollspielraum andererseits,<br />

ein entscheidender Faktor, an dem<br />

sich, je nach Ausprägung, der Grad an<br />

potentieller Sicherheit direkt ablesen<br />

ließe.<br />

Wenn jegliche Handlungsalternative<br />

im engen Rahmen einer Tätigkeit,<br />

für die eine Entscheidung erforderlich<br />

ist, zunächst genehmigt werden muss,<br />

bzw. erst „auf Zuruf“ ausgeführt werden<br />

darf, weil „man“ keine Fehler<br />

mehr macht, respektive keine Fehler<br />

anderer mehr duldet, führt das bei<br />

überdauernder Einwirkung zu einer<br />

Situation subjektiv erlebter Hilflosigkeit,<br />

die bereits aus sich selbst heraus<br />

beim Betroffenen zu erhöhtem Stresserleben<br />

führen kann 7 .<br />

Wenn nun eine solche Situation gegeben<br />

ist, weil:<br />

Arbeitsteilungskonzepte dies so<br />

vorsehen, oder<br />

Rollenverständnisse von Besatzungsangehörigen<br />

ein solches<br />

Verhalten erzwingt, oder<br />

das Arbeitsklima, welches von<br />

gegenseitigem Misstrauen geprägt<br />

ist, dazu führt,<br />

kann also davon ausgegangen werden,<br />

dass es sich für den Betroffenen<br />

um ein überdauerndes Erleben<br />

subjektiver Hilflosigkeit handelt<br />

und<br />

dass er sich dieser ihn schädigenden<br />

Situation nicht entziehen<br />

kann, verfügt er also über<br />

keine für ihn passende Lösungsstrategie<br />

in der zwischenmenschlichen<br />

Auseinandersetzung,<br />

dann wird er, der Betroffene,<br />

Schaden nehmen 8 , sofern er nicht in<br />

der Lage ist, den „Dauerstress“ abzuwenden<br />

9 .<br />

Beobachtungen zeigen, dass der so<br />

Geschädigte zunächst mit Aktivität<br />

und Widerstand, aber auch mit Aggressivität<br />

dagegenhält und, nach<br />

einer längeren Erfahrung der Erfolglosigkeit,<br />

mit „erlernter Hilflosigkeit“<br />

reagiert.<br />

Sowohl der Weg zur „erlernten Hilflosigkeit“,<br />

als auch das Verhalten in<br />

„erlernter Hilflosigkeit“, sind im Flugbetrieb<br />

auf jeden Fall höchst problematisch.<br />

Schauen wir uns um, wir<br />

sind nicht frei von solchen Beobachtungen.<br />

Natürlich gibt es auch Bereiche<br />

in unserer Bevölkerung, in<br />

denen „erlernte Hilflosigkeit“ im Berufsleben<br />

nicht negativ empfunden<br />

wird und diese auch keinerlei Schaden<br />

anrichtet, weil der Drang, sich mit<br />

ganzer Person und ganzem Herzen<br />

einzubringen, nicht besonders stark<br />

ausgeprägt ist; Nach dem Motto: der<br />

„Job“ bringt mir das Geld und das<br />

war es dann auch. Lfz-Besatzungen,<br />

Lfz-Techniker und Flugsicherungspersonal<br />

sollten nicht dazu gehören 10 .<br />

Dem geschilderten Phänomen kann<br />

in zweierlei Hinsicht begegnet werden,<br />

indem die Handlungsspielräume<br />

nach obiger Definition angepasst<br />

werden, und<br />

indem die soziale Unterstützung<br />

verbessert wird 11 .<br />

Wie viel Handlungsspielraum verträgt<br />

sich mit Flugbetrieb?<br />

Handlungsspielraum im Flugbetrieb<br />

Die Aufgaben in einem Lfz sind verteilt,<br />

die Rollen der Besatzungsangehörigen<br />

sind, je nach Lfz-Muster, Funktion<br />

und Teilstreitkraft (TSK), unterschiedlich<br />

genau definiert und zugewiesen<br />

– eigentlich dürfte nichts passieren,<br />

eigentlich müsste alles klar sein.<br />

Doch wie es in Wirklichkeit manchmal<br />

um Zusammenarbeit, um Kooperation,<br />

oder auch um Vertrauen in die<br />

Leistungsfähigkeit des anderen stehen<br />

kann, weiß jeder aus eigener Erfahrung<br />

und aus Erzählungen. Sehr oft<br />

haben wir es in diesen Fällen mit einer<br />

Art „Mischverhalten“ aus den verschiedenen<br />

Rollen heraus zu tun, insbesondere<br />

nachdem die Steuerführung<br />

übergeben worden ist und damit<br />

prinzipiell auch die Aufgaben komplett<br />

auf den jeweils anderen übergegangen<br />

sein sollten 12 Ausgangspunkt ist<br />

dabei oft der vwt LFF, der zwar die<br />

Aufgaben des anderen gerne übernimmt,<br />

aber seine eigenen Aufgaben,<br />

nach dem Rollentausch, nur partiell<br />

abgibt. Einige Beispiele:<br />

FLB / LÜB ohne Aus- oder Weiterbildungsauftrag<br />

13 .<br />

„Alte Hasen“ gegenüber „jungen<br />

Leuten“, wenn manches<br />

nicht sofort perfekt zustande<br />

kommt.<br />

Besatzungen, die üblicherweise<br />

daran gewöhnt sind ohne zweiten<br />

LFF zu fliegen 14 , beim Nachtflug<br />

jedoch gemeinsam fliegen<br />

müssen 15 .<br />

Der Steuerführende, der als „verlängerter<br />

Arm“ des vwt LFF angesehen<br />

wird 16 , gleichsam durch<br />

jedes Verfahren „getalkt“ wird,<br />

bzw. bei dem immer Mal ohne<br />

besonderen Anlass „mitgefühlt“<br />

wird.<br />

Angemessener Handlungsspielraum<br />

für das eigene Tun im vorgesehenen<br />

Rahmen aktiviert dagegen Ressourcen<br />

unmittelbar, weil<br />

Kapazitäten richtig einsetzt werden<br />

Beanspruchung reduziert wird<br />

Leistungsbereitschaft erhöht<br />

wird,<br />

das gegenseitige Vertrauen in die<br />

jeweilige Leistungsfähigkeit des<br />

anderen wächst,<br />

Ansatzpunkte für Weiterbildung<br />

erkannt werden,<br />

das Erleben einer gemeinsam<br />

bewältigten anspruchsvollen Aufgabe<br />

Zufriedenheit vermittelt.<br />

Wird Handlungsspielraum aufgabenbezogen<br />

ermöglicht, ist in keiner<br />

Weise Autorität oder Führungsverantwortung<br />

untergraben; im Gegenteil:<br />

Erst der gewährte Handlungs-<br />

60 I/2002 FLUGSICHERHEIT


spielraum für Andere ermöglicht<br />

Führungsverantwortung!<br />

Diese Weiterentwicklung des Modells<br />

„Handlungsspielraum“ kann natürlich<br />

auch noch auf weitere Besatzungsangehörige<br />

(Crew Member/CM)<br />

und andere Führungskonstellationen<br />

ausgedehnt werden - eine Darstellung<br />

erübrigt sich. Es bleibt anzumerken,<br />

dass die Grafik deutlich macht wie HV<br />

und FV in arbeitsteiligen Situationen<br />

vonstatten gehen sollte:<br />

Höherwertige Entscheidungskompetenzim<br />

Rahmen des E-K-S vonCM 1<br />

beinhaltet Tätigkeitsspielraum im eigenen<br />

Aufgabenbereich und gleichzeitig<br />

FV für den Handlungsspielraum von<br />

CM 2, ohne allerdings dessen Tätigkeitsspielraum<br />

und Entscheidungsund<br />

Kontrollspielraum unnötig zu<br />

beeinflussen oder zu beschneiden.<br />

Verantwortung für ...<br />

...als Führungsverantwortlicher<br />

Der Führungsverantwortliche hat<br />

dafür einzustehen, dass er seine<br />

Pflichten als Vorgesetzter gegenüber<br />

seinen Untergebenen nach obigem<br />

Modell erfüllt und damit „mittelbare<br />

Verantwortung“ übernimmt.<br />

Für Fehler seines Untergebenen<br />

ist er nur dann verantwortlich,<br />

wenn er eben diesen Führungspflichten<br />

nicht nachgekommen ist.<br />

Diese sind u. a.:<br />

die richtige bzw. auftragsorientierte<br />

Auswahl des Personals,<br />

deren Einweisung in den Auftrag,<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

die Information über Zielsetzung<br />

und der Formulierung des<br />

Schwerpunkts,<br />

die Verfügbarkeit der notwendigen<br />

Mittel und Unterstützung,<br />

Dienstaufsicht und Ausübung<br />

der Fürsorge insgesamt.<br />

...als Handlungsverantwortlicher<br />

Der Handlungsverantwortliche<br />

übernimmt „unmittelbare Verantwortung“<br />

für die konkrete Ausführungstätigkeit<br />

bzw. für die Erfüllung einer<br />

Ausführungsforderung schlechthin, im<br />

Rahmen des ihm zugewiesenen Handlungsspielraums.<br />

Dabei muss er sich im Sinne seiner<br />

Führung verhalten.<br />

Verantwortung vor ...<br />

Wiederholend kann gesagt werden,<br />

dass jeder, der über Entscheidungs-<br />

und Kontrollspielraum verfügt,<br />

Verantwortung übernimmt und zwar<br />

gegenüber demjenigen, der eine Tätigkeit<br />

oder ein bestimmtes Verhalten<br />

berechtigt einfordert.<br />

<strong>Das</strong> muss nicht immer nur der<br />

nächste Vorgesetzte sein. Es könnte<br />

sich auch um den nächsthöheren Vorgesetzten<br />

handeln, wenn z.B. Befehle<br />

für die Regelung des Flugbetriebes<br />

betroffen sind. Es könnte sich sogar<br />

gar um Interessen der Bundesrepublik<br />

Deutschland handeln, wenn Vorschriften<br />

und Gesetze einzuhalten sind.<br />

Klare Aufgabenbeschreibungen<br />

bzw. die Formulierung und das<br />

Vorleben eines Kodexes für den<br />

Verband durch den Kommandeur /<br />

Kommodore 17 , erleichtern die Orientierung,<br />

lassen den Maßstab für<br />

eigenes Verhalten leichter erkennen<br />

und fördern gegenseitige, helfende<br />

Kameradschaft.<br />

Verantwortung und Risikobereitschaft<br />

Die Risikobereitschaft von Gruppen<br />

ist prinzipiell höher als die Risikobereitschaft<br />

des Einzelnen 18 . Dieses<br />

Phänomen ist belegt, wird jedoch<br />

unterschiedlich begründet. Als plausibelster<br />

Grund wird die unausgesprochene,<br />

emotional getroffene Bewertung<br />

angenommen, eine Gruppe<br />

trage auch geteilt Verantwortung –<br />

„weil wir es alle wollen, ist es gut“<br />

oder „ wer sollte uns schon ‘was<br />

anhaben“.<br />

Doch wie steht es genau dort um<br />

Verantwortung für Entscheidungen<br />

oder Handlungen des Einzelnen, die<br />

unter Gruppendruck entstanden<br />

sind 19 ? Inwieweit kann dort noch jemand<br />

für sein eigenes Handeln einstehen,<br />

wo doch der Entscheidungs- und<br />

Kontrollspielraum formal ja, faktisch<br />

jedoch nicht oder kaum vorhanden<br />

war 20 ?<br />

Wichtiger als die Beantwortung dieser<br />

Frage ist die Erkenntnis, dass die<br />

Verantwortung für eine weitreichende<br />

Entscheidung, die unter Gruppenzwang<br />

entstanden ist, in erster Linie<br />

eine Führungsverantwortung ist, über<br />

die ggf. Rechenschaft abzulegen sein<br />

würde.<br />

Exkurs:<br />

Es ist in diesem Zusammenhang<br />

auch bekannt, dass die Argumente<br />

statushoher Personen auch dann besonders<br />

einflussreich sind, wenn die<br />

fachliche Kompetenz der Höhe des<br />

Status in keiner Weise entspricht.<br />

Vielleicht können wir aus der früheren<br />

deutschen Schifffahrt etwas lernen.<br />

Dort wurden bei Schiffsversammlungen<br />

die Lösungsvorschläge in<br />

umgekehrter Reihenfolge zur Hierarchie<br />

abgegeben, der Kapitän also<br />

zuletzt, nachdem er die Vorschläge zur<br />

Problemlösung aller anderen, die Meinung<br />

des Geringsten zuerst, gehört<br />

hatte. Es ist nicht bekannt 21 dass<br />

dadurch die Autorität der Kapitäne der<br />

früheren deutschen Schifffahrt gelitten<br />

hätte.<br />

Verantwortung in hierarchischen<br />

Strukturen<br />

Entscheidungs- und Kontrollspielraum<br />

in hierarchischen Strukturen orientiert<br />

sich in seinem Freiheitsgrad<br />

naturgemäß an der hierarchischen<br />

61


Ebene. Manche Entscheidungen stehen<br />

einem in der Hierarchie weiter<br />

unten Stehenden nicht zu. Vor allem<br />

auch deshalb, weil die Verantwortung<br />

für die Folgen von Entscheidungen<br />

großer Tragweite von einem Einzelnen<br />

der durchführenden Ebene nicht übernommen<br />

werden kann, wenn das<br />

Risiko wegen des zu erwartende<br />

Schadens bei hoher Eintreffwahrscheinlichkeit<br />

hoch ist. Solche Entscheidungen<br />

gehören auf die entsprechende<br />

Ebene 22 .<br />

Natürlich gibt es gerade im Flugbetrieb<br />

Ereignisse, in denen nicht lange<br />

nachgefragt werden kann, weil die<br />

Situation dies nicht zulässt – man<br />

denke nur an eine Luftnotlage. In solchen<br />

akuten Fällen ist, nach erfolgter<br />

Analyse, nur selten Verantwortung<br />

nach obiger Definition zu übernehmen,<br />

sofern bekannte Verfahren richtig<br />

angewendet wurden, weil Entscheidungs-<br />

und Kontrollspielraum<br />

kaum noch gegeben war. Gott sei<br />

Dank ist es so, dass diese Ereignisse,<br />

gemessen am flugbetrieblichen Gesamtaufkommen,<br />

relativ selten vorkommen<br />

und wenn ja, relativ schadlos<br />

ablaufen.<br />

Doch wie sieht es mit Verantwortung<br />

im Vorfeld zu diesen Konstellationen<br />

aus, wenn noch, je nach Ereignis,<br />

Entscheidungs- und Kontrollspielraum<br />

für alternative Entscheidungen möglich<br />

gewesen wäre?<br />

Handlungsverantwortung für falsche<br />

Entscheidungen anderer? 23<br />

Beispiel 1 (zur Verdeutlichung bewusst<br />

übertrieben):<br />

Der Kommandant beschließt,<br />

ohne die Steuerführung zu haben,<br />

nach seinem Start in Köln –<br />

Bonn in Richtung Nordwest, bei<br />

guten Wetterverhältnissen zwischen<br />

den Pfeilern der Severinsbrücke<br />

Köln hindurch fliegen zu<br />

lassen.<br />

Sofern der Steuerführende LFF erkennen<br />

kann, dass es sich bei dieser<br />

Anordnung um das Ergebnis einer<br />

offenkundig nicht angemessene Entscheidung<br />

eines anderen handelt, die<br />

er auszuführen hat, trägt er Verantwortung<br />

für die Auswirkungen seines<br />

eigenen Handelns, weil er den Kontroll-<br />

und Entscheidungsspielraum des<br />

anderen widerspruchslos hingenommen<br />

24 , quasi sich zu eigen gemacht<br />

habt.<br />

Kann der LFF dieses jedoch im Vorfeld<br />

nicht erkennen, so trägt er auch<br />

keine Verantwortung für eine falsche<br />

Entscheidung, auch wenn er den ihm<br />

verbleibenden Handlungsspielraum im<br />

Rahmen der zugewiesenen Tätigkeiten<br />

nutzt.<br />

Dazu Beispiel 2:<br />

Der neue / junge SAR-Pilot fliegt<br />

den Landeplatz an, weiß dass es<br />

„eng“ wird, fragt die Hindernisfreiheit<br />

ab, bekommt von links<br />

und hinten „Klarmeldung“ und<br />

hört die Aufforderung „ jetzt<br />

´runter!“. Auf der linken Seite,<br />

für ihn nicht einsehbar, ein<br />

Kiesbett neben einem Parkplatz,<br />

mehrere Autos werden „sandgestrahlt“.<br />

Es gilt also:<br />

Der Handelnde trägt für Entscheidungen<br />

anderer dann Verantwortung<br />

mit, wenn er diese Entscheidung<br />

kritiklos hingenommen<br />

hat und umsetzt, obwohl er die<br />

Fragwürdigkeit der Entscheidung<br />

erkannt hatte.<br />

Führungsverantwortung für<br />

falsche Handlungen?<br />

Beispiel 3:<br />

Ein LFF, von dem der vwt LFF<br />

weiß, dass er alle geforderten<br />

Verfahren beherrscht, produziert<br />

eine „harte Landung“, ohne<br />

dass er noch rechtzeitig eingreiffen<br />

konnte.<br />

Beispiel 4:<br />

Die Besatzung landet im Schnee,<br />

die Schneewalze kommt und<br />

der LFF meldet: „ich sehe nichts<br />

mehr“. Der vwt LFF sagt: „nur<br />

die Ruhe, der Boden kommt von<br />

selbst“. Die Limitations werden<br />

überschritten, das Landegestell /<br />

Fahrwerk wird beschädigt.<br />

In beiden Fällen muss geprüft werden,<br />

ob der vwt LFF hätte erkennen<br />

können, dass der Handlungsspielraum<br />

des LFF für das Vorhaben einer sicheren<br />

Landung nicht ausreicht.<br />

Nur für den Fall, dass diese Frage<br />

mit „Ja“ beantwortet wird, ist der Führungsverantwortliche<br />

für die Handlung<br />

des anderen mitverantwortlich.<br />

Es gilt also:<br />

Jeder Führungsverantwortliche<br />

muss sich der Frage stellen, nachdem<br />

die Auftragsausführung eines<br />

anderen einen Schaden oder eine<br />

Gefährdung bewirkt hatte, ob er,<br />

der Führungsverantwortliche, hätte<br />

erkennen können, dass die<br />

Freiheitsgrade und die Kontrolle<br />

des Auftragsausführenden für eine<br />

ordnungsgemäße Durchführung<br />

nur bedingt vorhanden waren.<br />

Lösungsansätze<br />

Verantwortung zu übernehmen will<br />

gelernt sein!<br />

Verantwortung in einem fliegerischen<br />

Umfeld zu übernehmen, will<br />

neu gelernt sein, denn:<br />

die Dynamik der Ereignisse,<br />

die Komplexität der Zusammenhänge,<br />

der stets im Hintergrund stehende,<br />

maximal mögliche Schadensfall<br />

für direkt Agierende, Passagiere<br />

und Außenstehende,<br />

unterscheiden Verantwortung für<br />

ein fliegerisches Umfeld prinzipiell von<br />

anderen Bereichen, in denen Entscheidungen<br />

zu treffen sind. Deshalb ist es<br />

erforderlich eine Auseinandersetzung<br />

mit den Fragen nach Verantwortung,<br />

die diesen Besonderheiten zusätzlich<br />

angepasst ist, voranzutreiben.<br />

Was soll damit gesagt werden?<br />

Obwohl alle LFF und andere Besatzungsangehörige<br />

der Bundeswehr<br />

allgemeinmilitärisch und fachspezifisch<br />

gut ausgebildet worden sind, stellt sich<br />

natürlich regelmäßig die Frage nach<br />

fortgesetzter Aus- und Weiterbildung,<br />

denn:<br />

alte Ausbildungen liegen lange<br />

zurück, sie verblassen,<br />

62 I/2002 FLUGSICHERHEIT


Inhalte und der Erkenntnisstand<br />

ändern sich,<br />

Aufgaben, Szenarien, Waffensysteme<br />

ändern sich,<br />

der Zeitgeist ändert sich,<br />

der Wissensbedarf ändert sich,<br />

erweitertes Einsatzspektrum bedingt<br />

erweiterte Verantwortung.<br />

Die Liste ließe sich sicherlich fortsetzen.<br />

Reichen jedoch die Laufbahnlehrgänge<br />

und die fliegerische Aus- und<br />

Weiterbildung in Theorie und Praxis,<br />

mit ihren guten Grundlagen, aus, um<br />

den Herausforderungen des täglichen<br />

Einsatzflugbetriebes, der sich in aller<br />

Regel erst Jahre nach den genannten<br />

Ausbildungsgängen einstellt, auch<br />

unter den Aspekten FV / HV zu begegnen?<br />

Als Anregung zur kritischen Betrachtung<br />

soll hier noch ein kleiner Exkurs<br />

zum Thema „Führung und Verantwortung<br />

im Flugbetrieb“ unternommen<br />

werden.<br />

Führungsverhalten und Verantwortung<br />

Führungsmodelle sind uns allen<br />

mehr oder weniger geläufig, zumindest<br />

wurde irgendwann einmal prüfungsrelevant<br />

danach gefragt. Deshalb<br />

darf unterstellt werden, dass die<br />

Kenntnisse darüber noch einigermaßen<br />

zugänglich sind. Was haben<br />

nun Führungsverhalten und Hierarchie<br />

mit Verantwortung im und für den<br />

Flugbetrieb zu tun?<br />

Diesem Aspekt soll nun nachgegangen<br />

werden. Jeder kennt das Standard-<br />

Hierarchiemodell mit Instanzen<br />

(Ebenen) und Linien (Schnittstellen<br />

zwischen Instanzen; vertikal und horizontal),<br />

nicht zuletzt aus unzähligen<br />

Gliederungsbildern von Einheiten und<br />

Verbänden der Bundeswehr.<br />

Kann dieses Modell, welches, wie in<br />

der Abbildung gezeigt, eher autoritär<br />

geprägt ist, in jeder Hinsicht auf ein<br />

Cockpit in und für jede Situation übertragen<br />

werden?<br />

Manch einer glaubt, dass „Ja“ und<br />

betrachtet die Diskussion zu diesem<br />

Thema bereits als Anstiftung zum<br />

Aufruhr und Gefährdung der Disziplin.<br />

Dennoch soll hier der Versuch<br />

unternommen werden, einige zusätzliche<br />

Aspekte zu diesem Thema einzubringen,<br />

um so auch die Brücke zu<br />

„Verantwortung im Flugbetrieb und<br />

Dienstpflicht“ schlagen zu können,<br />

obwohl dieser Bezug hier lediglich<br />

angedeutet, nicht jedoch vertieft werden<br />

kann.<br />

Folgende Argumente und Schlagworte<br />

werden u. a. von den Kritikern<br />

ins Feld geführt:<br />

Nur einer an Bord kann das<br />

Sagen haben.<br />

Wo kommen wir denn da hin,<br />

wenn wir aus einer Crew eine<br />

„Laberrunde“ machen.<br />

Um es noch mal deutlich zu<br />

machen – es ist richtig, dass eine<br />

Hierarchie existiert und letztlich nur<br />

einer das Sagen hat 25 . Es ist allerdings<br />

nicht richtig, wenn daraus hergeleitet<br />

wird, dass die daraus erwachsende<br />

Gesamtverantwortung bedeute, niemand<br />

an Bord habe, neben dem<br />

Kommandanten, etwas eigenständig<br />

beizutragen, anzubieten, einzufordern<br />

oder zu hinterfragen.<br />

Eine solche Auffassung senkt die<br />

Leistungsfähigkeit einer Crew / eines<br />

Teams und ist nicht im Interesse der<br />

Flugsicherheit. Deshalb soll an dieser<br />

Stelle auch das Hierarchiemodell des<br />

Teams in Erinnerung gerufen werden.<br />

Hier gibt es nach wie vor den<br />

Gesamtverantwortlichen, aber Kommunikation,<br />

läuft nicht in einer Einbahnstraße<br />

als Informationsweitergabe<br />

von oben nach unten.<br />

Hier ist jeder wichtig, jeder bringt<br />

sich ein, die Ressourcen aller werden<br />

genutzt, die anfallenden Arbeiten /<br />

Handlungen werden vernünftig aufgeteilt<br />

und der Kommandant überhäuft<br />

sich nicht selbst mit Aufgaben,<br />

in Situationen, in denen Aufgaben<br />

geteilt werden müssten, sondern er<br />

erhält und pflegt seine eigenen Ressourcen<br />

und die der anderen.<br />

Konkretes Führungsverhalten jedoch<br />

pauschal zu empfehlen, im Sinne<br />

von: soll ich mich eher direktiv, eher<br />

kollegial oder eher sachbezogen verhalten,<br />

wäre vermessen und unglaubwürdig.<br />

Die Vielschichtigkeit persönlicher<br />

Beziehungen und gruppendynamischer<br />

Prozesse lassen einfache<br />

Empfehlungen nicht zu und können<br />

deshalb hier auch nicht diskutiert werden.<br />

Es gibt allerdings einige belegte und<br />

bestätigte Erkenntnisse zur Problematik<br />

der Leistungsfähigkeit von Gruppen<br />

in unterschiedlich erlebten Situationen.<br />

Ein in diesem Zusammenhang<br />

angebotenes Modell zum Führungsverhalten<br />

unterscheidet z.B. nach<br />

„Gruppenklima“, „Strukturiertheit der<br />

Aufgabe“ und „Positionsmacht des<br />

Führers“ und leitet daraus ab, ob eine<br />

„situative Günstigkeit“ besteht oder<br />

nicht besteht 26 Nach dieser Theorie<br />

bietet sich ein eher sachbezogenes /<br />

aufgabenorientiertes Führungsverhalten<br />

in extrem günstigen und extrem<br />

ungünstigen Situationen an, wo hingegen<br />

in mäßig günstigen Situationen<br />

ein eher kollegial / kameradschaftlicher<br />

Führungsstil die Leistungsfähigkeit fördern<br />

kann.<br />

Die folgenden Beispiele nehmen<br />

aus Gründen der Übersichtlichkeit ausschließlich<br />

die „Strukturiertheit der<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

63


Aufgabe“ als Maßstab dafür, die<br />

„situative Günstigkeit“ zu bewerten.<br />

1. Beispiel:<br />

Der Verband befindet sich im Auftrage<br />

der UNO im Einsatz und findet<br />

eine klare Auftragslage, eine definierte<br />

Leistungsanforderung an jeden einzelnen<br />

und einen geregelten Ablauf vor.<br />

Die Strukturiertheit der Aufgabe ist<br />

hoch und deshalb ist auch die „Situation“<br />

für eine hohe Leistungsfähigkeit<br />

der Gruppe extrem günstig, denn:<br />

- jeder kennt genau seine Rolle und<br />

die Anforderungen an seine Person,<br />

- jeder beherrscht die ihm übertragene<br />

Aufgabe,<br />

- jeder ist anerkannt und wichtig.<br />

In dieser Situation fördert aufgabenorientiertes<br />

Führungsverhalten die<br />

Leistungsfähigkeit der Gruppe, weil<br />

jeder seinen (wichtigen) Beitrag leisten<br />

will und die Auswirkungen seines<br />

eigenen Handelns unmittelbar wahrnehmen<br />

kann.<br />

2. Beispiel:<br />

Der Verband wird ad hoc zum Katastropheneinsatz<br />

abgestellt, die Lage<br />

ist weitestgehend unklar.<br />

Die Strukturiertheit der Aufgabe ist<br />

niedrig und deshalb ist die „Situation“<br />

für eine hohe Leistungsfähigkeit der<br />

Gruppe extrem ungünstig, denn:<br />

- niemand weiß so recht, was von<br />

ihm verlangt werden wird,<br />

- die Wichtigkeit und Bedeutung<br />

der eigenen Aufgabe wird noch<br />

nicht überblickt,<br />

- der Einzelne braucht noch Orientierung.<br />

In dieser Situation fördert aufgabenorientiertes<br />

Führungsverhalten die<br />

Leistungsfähigkeit der Gruppe ebenso,<br />

weil in der „Findungsphase“ Sachargumente<br />

wichtiger sind als gutgemeinte,<br />

freundliche, aber inhaltslose<br />

Äußerungen, die in unklaren Situationen<br />

eher als wenig hilfreiche Belanglosigkeiten<br />

empfunden werden.<br />

3. Beispiel:<br />

Der Verband nimmt an einer Großübung<br />

teil, die meisten Fakten sind<br />

bekannt. Unklarheiten entstehen nur<br />

aus dem Tagesgeschehen.<br />

Die Strukturiertheit der Aufgabe ist<br />

mäßig und deshalb ist auch die<br />

„Situation“ für eine hohe Leistungsfähigkeit<br />

der Gruppe mäßig günstig,<br />

denn:<br />

- jeder weiß, dass das Geforderte<br />

vermutlich geleistet werden kann,<br />

- Abgrenzungen der wahrzunehmenden<br />

Rolle werden noch nicht<br />

ganz klar gesehen.<br />

In dieser Situation fördert vor allem<br />

kameradschaftliches Führungsverhalten<br />

die Leistungsfähigkeit der Gruppe,<br />

weil erhöhte soziale Wahrnehmung<br />

die Leistungsbereitschaft steigert,<br />

wenn die genaue Aufgabe noch nicht<br />

exakt definiert ist.<br />

Die genannten Beispiele können in<br />

das Cockpit hinein und auf eine<br />

Besatzung projiziert werden, aber<br />

auch in alle anderen Bereiche, in<br />

denen „an der Person“ geführt wird.<br />

Diese Zusammenhänge können in<br />

Erinnerung zurückgerufen werden,<br />

wenn es vielleicht einmal darum<br />

gehen sollte, möglichen Konflikten bei<br />

der Durchsetzung von Verantwortung<br />

in unterschiedlich strukturierten Situationen<br />

begegnen zu wollen.<br />

Deshalb:<br />

In kritischen (extremen) Situationen<br />

des Flugbetriebes bestimmt<br />

nicht der Grad an durchgesetzter<br />

Autorität die Aussicht auf Erfolg,<br />

sondern das Maß an Sachbezogenheit,<br />

mit der ein Problem gelöst<br />

wird.<br />

In „normalen“, ausgeglichenen<br />

(mäßig günstigen) Situationen,<br />

bestimmt das Maß an sozialer<br />

Wahrnehmung und echter Zuwendung,<br />

ob die Leistungsfähigkeit<br />

einer Gruppe hoch bleibt.<br />

Wechselt die Situation, muss Führungsverhalten<br />

angepasst werden –<br />

soweit nichts Neues! Diese Fähigkeit<br />

wird von einem in Verantwortung stehenden<br />

Führer verlangt. Nur dann<br />

kann er auch für eigenes Handeln<br />

guten Gewissens einstehen, denn er<br />

hat die Handlungsverantwortung anderer<br />

nicht durch unpassendes Führungsverhalten<br />

negativ beeinflusst.<br />

Wenn es denn in Wirklichkeit nur<br />

so leicht wäre – im „richtigen“ Leben<br />

sind die Zusammenhänge noch vielschichtiger<br />

und daher komplizierter.<br />

Ohne weitere Modelle und Theorien<br />

ansprechen zu wollen, muss an dieser<br />

Stelle jedoch der Hinweis gegeben<br />

werden, dass neuere Forschungen sich<br />

grundlegend von den älteren Modellen<br />

unterscheiden. Es ist mittlerweile<br />

belegt, dass es keinen Grund gibt, wie<br />

in früheren Modellen unterstellt, anzunehmen,<br />

Führer verhielten sich immer,<br />

allem und jedem gegenüber in jeder<br />

Situation gleich 27 . Tatsache ist, dass in<br />

Gruppen ein sehr vielschichtiges, interaktives<br />

Beziehungsgeflecht zwischen<br />

allen Beteiligten besteht 28 und die<br />

Ausgangssituation für ein angemessenes,<br />

bevorzugtes Führungsverhalten<br />

dadurch nicht leichter wird.<br />

Verantwortungskompetenz<br />

im Flugbetrieb<br />

Verantwortung zu übernehmen ist<br />

das eine; Verantwortungskompetenz<br />

zu erwerben ist das andere.<br />

Was steckt hinter dieser plakativen<br />

Aussage?<br />

Jede Kompetenz muss erworben<br />

werden – sie überträgt sich nicht von<br />

selbst aus einmal in der Theorie<br />

Erlerntem in dynamische und komplexe<br />

Realanforderungen hinein. Sachbezogene<br />

Aus- und Weiterbildung im<br />

konkreten und relevanten Umfeld ist<br />

erforderlich, um allgemeingültige Ansätze<br />

/ Theorien im täglichen Dienstgeschäft<br />

angemessen einsetzen zu lernen.<br />

Vielleicht kann auf diesem Sektor<br />

das Ausbildungskonzept noch weiter<br />

verbessert werden, denn es gibt nicht<br />

überall Ausbildungsgänge zum Kdt, es<br />

gibt keinen Schwarmführerlehrgang<br />

und es gibt noch nicht überall den<br />

EinsatzStOffz-Lehrgang. Dort könnte<br />

Verantwortungskompetenz system-<br />

64 I/2002 FLUGSICHERHEIT


und führungsebenenbezogen vermittelt<br />

und optimiertes Führungsverhalten<br />

konkret erlernt werden.<br />

Schlussbetrachtung und Zusammenfassung<br />

Führungs- und Handlungsverantwortung<br />

ist „ein weites Feld“.<br />

Wer jedoch der erforderlichen<br />

Sorgfaltspflicht nachkommt, die<br />

seiner Aufgabe zugeordnet ist, der<br />

wird immer für sein Handeln einstehen<br />

können - ob als Führer, der<br />

Handlungen einfordert, oder als<br />

jener, der eine Tätigkeit ausführt<br />

und seinen angemessenen Spielraum<br />

ausnutzt.<br />

<strong>Das</strong> menschlich Normale, wie es<br />

CRM thematisiert, zählt auch zu<br />

jenen Faktoren, für die man unbeschadet<br />

einstehen können muss. Es<br />

gilt jedoch, die Frage beantworten<br />

zu können, was der Einzelne in seinem<br />

Bereich strukturell, durch<br />

konkretes Führungsverhalten und<br />

Nutzung des eigenen Handlungsspielraums,<br />

dafür getan hat, das<br />

System „Mensch – Maschine – Umwelt“<br />

fehlerverträglicher zu gestalten?<br />

Wenn dieser Artikel, dessen Bogen<br />

sehr weit gespannt ist, dazu beigetragen<br />

hat bei dem einen oder anderen<br />

I/2002 FLUGSICHERHEIT<br />

eine angemessene Sichtweise für<br />

das jeweilige Maß an Verantwortung<br />

in der jeweiligen Rolle<br />

zu entwickeln, und<br />

wenn dabei klar geworden ist,<br />

dass mancher vwt LFF durchaus<br />

weniger Gesamtverantwortung<br />

träg, als er bis dato glaubte, und<br />

wenn manchem LFF klar geworden<br />

ist, dass er mehr Verantwortung<br />

trägt, als er bisher glaubte,<br />

auch wenn ein anderer an Bord<br />

„Verantwortlicher“ ist,<br />

dann hat der Artikel den Beitrag<br />

geleistet, den er leisten wollte.<br />

Grenzen eigenen Verhaltens<br />

anzuerkennen, die einengend wirken<br />

und Teamleistung reduzieren<br />

können, ist der erste Schritt zu<br />

Übernahme einer angemessenen<br />

Führung- und Handlungsverantwortung,<br />

für die jederzeit eingestanden<br />

werden kann. <br />

1 Der Aspekt der Vorschriftwidrigkeit soll hier nicht<br />

vertieft werden.<br />

2 Frese (1978), Oesterreich (1988) Intensitätsstufen<br />

von Kontrolle:<br />

Kontrolle 1<br />

Aktive Handlungskontrolle; man kann die Ereignisse<br />

und Ergebnisse selbst gestalten und herbeiführen.<br />

Kontrolle 2<br />

Passive Handlungskontrolle; man kann sich den<br />

Ereignissen, die man selbst nicht beeinflussen konnte,<br />

rechtzeitig anpassen.<br />

Kontrolle 3<br />

Kognitive Kontrolle; man kann Ereignisse, die man<br />

nicht gestalten und denen man sich nicht anpassen<br />

konnte, wenigstens nachträglich erklären und verstehen.<br />

3 siehe auch: „Entscheidungsfindung - SRK-Modell“<br />

4 Siehe auch: „Wahrnehmung - unbewusste<br />

Wahrnehmung“,<br />

5 Siehe Frederic Winslow Taylor (1856 – 1915),<br />

Prinzipien der wissenschaftlichen Betriebsführung,<br />

gemeinsamer Vorteil durch gegenseitige, arbeitsteilige<br />

Ergänzung der Interessen. W. Taylor glaubte an<br />

„the one best way“, den es zu entwickeln galt und<br />

er war u. a. Wegbereiter für die Fließbandarbeit.<br />

6 ZDv 44/30 Die Verhütung von Unfällen mit<br />

Luftfahrzeugen der Bundeswehr, Kapitel 1 / I. / 4<br />

7 In den vergangenen Jahren wurde in vielen Organisationen<br />

„abgeschichtet“. Leider kam es dabei<br />

immer wieder vor, dass zwar die manuelle Tätigkeit<br />

für einen bestimmten Arbeitskomplex auf eine niedrigere<br />

Hierarchiestufe „abgeschichtet“ wurde, die<br />

jeweilige Entscheidungskompetenz jedoch bei der<br />

„abschichtenden“ Ebene verblieb. Wer „abschichtet“,<br />

muss auch den entsprechenden<br />

Entscheidungsspielraum mit „abschichten“, damit<br />

Verantwortung auf der unterstellten Ebene für eigenes<br />

Handeln übernommen werden kann.<br />

8 Seligmann (1975) Reaktionen in dreifacher Weise<br />

1. Motivational: Die Person resigniert („...ich kann<br />

sowieso nichts ändern / auf mich hört ja doch keiner“)<br />

2. Kognitiv: Die Person verliert die Fähigkeit zur<br />

Lösung kognitiv komplexer Aufgaben<br />

3. Emotional: Die Person wird traurig und depressiv<br />

(„ ... mir doch egal“).<br />

9 Die Stichworte dazu lauten „Denken oder<br />

Handeln“. <strong>Das</strong> heißt, die Situation entweder neu zu<br />

bewerten, oder sie Situation im eigenen Sinne zu<br />

verändern; in beiden Fällen kann sich der<br />

Betroffene so den Auswirkungen entziehen. Die<br />

Umbewertung muss natürlich auf gesicherter Basis<br />

stehen, weil sich das Unterbewusste mit seinem<br />

Langzeitgedächtnis nicht täuschen lässt: „Positives<br />

Denken“ – aber richtig!<br />

10 Selbstverständlich gehört sonstiges Personal der<br />

Bundeswehr prinzipiell auch nicht dazu. <strong>Das</strong> soll<br />

jedoch im hier gesteckten Rahmen nicht weiter verfolgt<br />

werden.<br />

11 Frese und Semmer (1991), S. 153: „... dass es oft<br />

lohnenswert ist, nicht nur die Stressoren zu verringern,<br />

sondern den Handlungsspielraum zu erhöhen<br />

und die soziale Unterstützung zu verbessern“<br />

12 Ein Lehrer – Schülerverhältnis unterscheidet sich<br />

natürlich prinzipiell und muss selbstredend anders<br />

bewertet werden, insbesondere in der Anfangsphase<br />

einer Ausbildung.<br />

13 Der Verfasser klopft an die eigene Brust.<br />

14 Hier kann es auch dazu kommen, dass, weil nicht<br />

daran gewöhnt, der „zweite Mann“ nicht richtig<br />

oder gar nicht eingesetzt wird, somit der Handlungsspielraum<br />

des Steuerführenden zu weit gefasst<br />

und damit die „workload“ für ihn und die „stressload“,<br />

wegen des „Sandsackgefühls“, für den<br />

inaktiven LFF unnötig erhöht wird.<br />

15 Damit sind speziell Besatzungen von Verbindungshubschraubern<br />

gemeint.<br />

16 Was in der Anfangsphase einer Musterausbildung<br />

seine Berechtigung hat, darf in einem arbeitsteilig<br />

organisierten Lfz ohne Not prinzipiell nicht stattfinden.<br />

17 Eine Verbandsphilosophie ist überdauernder, formulierter<br />

Wille des Verbandsführers und kann die<br />

Denkweise aller ihm Unterstellten in seinem Sinne<br />

einen.<br />

18 Die Risikoforschung spricht dabei vom Phänomen<br />

der „risky shift-Problematik“<br />

19 Man denke an ein Briefing vor einem anspruchsvollen<br />

fliegerischen Vorhaben mit Besatzungen, die<br />

unterschiedlich erfahren und unterschiedlich leistungsfähig<br />

sind. Die „Unerfahreneren“ sagen bzw.<br />

fragen nichts, weil die „Erfahrenen“ nichts sagen<br />

bzw. nichts fragen.<br />

20 Im Strafrecht kenn man den Begriff des „Rädelführers“,<br />

der in einem Konglomerat von Verantwortungsgeflechten<br />

höhere Verantwortung übernehmen<br />

muss, weil er führend auf andere negativ<br />

eingewirkt hat. Ob der Tatbestand einer objektiven<br />

Duldung von derartigen Vorgängen auch das<br />

Kriterium einer „Rädelführerschaft“ erfüllt, konnte<br />

nicht abschließend geklärt werden.<br />

21 nach Aussage des früheren Marineverbindungsoffiziers<br />

(MVO) im Dezernat „c“<br />

22 Entscheidungsnotstand ist hier ausdrücklich nicht<br />

gemeint, denn dann gelten wieder jene Grundsätze,<br />

die nach bestem Wissen und Gewissen fragen<br />

23 §10 (4) SG; Pflichten des Vorgesetzten, § 11 SG;<br />

Gehorsam<br />

24 div. Kommentare zum Wehrrecht leiten in diesem<br />

Zusammenhang aus § 7 SG (Pflicht zum treuen<br />

Dienen) eine Pflicht zur Gegenrede ab, wenn zu<br />

vermuten ist, dass derjenige, der die Entscheidung<br />

getroffen hat, die Entscheidung anders getroffen<br />

hätte, wenn er über alle Informationen im<br />

Zusammenhang verfügt hätte.<br />

25 In der Bundeswehr gilt das Unteilbarkeitsprinzip der<br />

Verantwortung<br />

26 Kontingenzmodell der Führung nach Fiedler<br />

27 Gewusst haben wir das schon immer, nur wissenschaftlich<br />

nachgewiesen war es lange Zeit nicht<br />

28 Vertical – Dyad – Linkage – Ansatz, Graen &<br />

Schiemann 1978, Liden & Graen 1980. Danach<br />

können sich Führungspersonen offenbar zur gleichen<br />

Zeit gegenüber verschiedenen Sub-Gruppen<br />

und Einzelpersonen unterschiedlich verhalten. Bei<br />

diesem Ansatz werden einzelne, bipolare<br />

Beziehungen zunächst getrennt untersucht und<br />

anschließend in ihrer Gesamtheit bewertet.<br />

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