Die Sprache der Bilder - enostopos
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Ingeborg Bachmann<br />
Der Bär<br />
"Anrufung des großen Bären<br />
Großer Bär, komm herab,<br />
zottige Nacht,<br />
Wolkenpelztier mit den alten<br />
Augen,<br />
Sternenaugen,<br />
durch das Dickicht brechen<br />
schimmernd<br />
deine Pfoten mit den Krallen,<br />
Sternenkrallen,<br />
wachsam halten wir die<br />
Herden,<br />
doch gebannt von dir, und<br />
misstrauen<br />
deinen müden Flanken und<br />
den scharfen<br />
halbentblößten Zähnen,<br />
alter Bär.<br />
Ein Zapfen: eure Welt.<br />
Ihr: die Schuppen dran.<br />
Ich treib sie, roll sie<br />
von den Tannen im Anfang<br />
zu den Tannen am Ende,<br />
schnaub sie an, prüf sie im<br />
Maul<br />
und pack zu mit den Tatzen.<br />
Fürchtet euch o<strong>der</strong> fürchtet<br />
euch nicht!<br />
Zahlt in den Klingelbeutel und<br />
gebt<br />
dem blinden Mann ein gutes<br />
Wort,<br />
daß er den Bären an <strong>der</strong> Leine<br />
hält.<br />
Und würzt die Lämmer gut.<br />
s´ könnt sein, daß dieser Bär<br />
sich losreißt, nicht mehr droht<br />
uns alle Zapfen jagt, die von<br />
den Tannen<br />
gefallen sind, den großen,<br />
geflügelten,<br />
die aus dem Paradiese<br />
stürzten."<br />
<strong>Die</strong> metaphorischen Beziehungen<br />
zwischen Mensch und Bär sind eng.<br />
Das Grimmsche Märchen vom<br />
Bärenhäuter gibt Aufschluss: ein<br />
Mann verfällt <strong>der</strong> Wildheit, er<br />
rasiert sich nicht, seine Nägel<br />
wachsen, seine Haare decken den<br />
ganzen Leib, sein Kleid besteht aus<br />
speckigem Le<strong>der</strong>.<br />
Das Wi<strong>der</strong>borstige und Gepanzerte<br />
steht für erste Schritte auf dem Weg<br />
zum Humanen. Vor <strong>der</strong> sozialen<br />
Kooperation kommt grimmig<br />
Brummiges.<br />
<strong>Die</strong> Hieroglyphen des Horapollo (II,<br />
83) lenken den Blick auf die Welt<br />
des Krüppels (n. 147); sie folgen<br />
Ovid.<br />
"Wie sie einen bei <strong>der</strong> Geburt<br />
Missgebildeten kennzeichnen<br />
Wenn Sie einen Menschen <strong>der</strong><br />
verkrüppelt geboren ist<br />
Wenig später aber Schönheit<br />
erlangt<br />
Zeigen wollen zeichnen sie<br />
recht lebendig<br />
Eine trächtige Bärin<br />
Sie gebiert ein schieres Stück<br />
Blut und Fleisch<br />
Um es umzuformen netzt sie<br />
es mit Speichel<br />
Daut es an macht es lebendig<br />
und formt es<br />
Und gibt ihm mit ihrer Zunge<br />
vollendete Gestalt."<br />
Der Bärenmutter wird eine<br />
schöpferische Kraft zugeschrieben,<br />
die ein "missgebildetes Wesen"<br />
nachträglich heilt. Erst durch