Vorbemerkungen zum Heft 9
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<strong>Vorbemerkungen</strong> <strong>zum</strong> <strong>Heft</strong> 9<br />
Nach AVWS in <strong>Heft</strong> 1 von 2007 ist in <strong>Heft</strong> 9 wieder ein sprachorientiertes Thema<br />
im Mittelpunkt. Sie fragen vielleicht, ob dieses Thema für die Beratungsfachkräfte<br />
relevant ist. Die Inzidenzrate beträgt nur 0,2 %. Das Problem ist also eher selten<br />
vorhanden. Gleiches gibt aber auch für Autismus, trotzdem ist dieses Thema bei<br />
Beratungslehrkräften sehr intensiv vorhanden. Ähnlich sehen wir den Ansatz bei<br />
dem Thema Mutismus auch. Die Auftretenshäufigkeit ist gering, wenn sie aber in<br />
der Beratung vorkommt, gibt es wenig Kompetenz und Erfahrung. Insbesondere<br />
die Differentialdiagnose und die Abgrenzung zu anderen Diagnosen wie Autismus<br />
ist bei Mutismus wichtig.<br />
Interessanterweise sind von dieser psychischen Erkrankung mehr Mädchen als<br />
Jungen betroffen, eine seltene Ausnahme.<br />
Mutismus ist in der Klassifizierung psychischer Störungen (ICD 10) nicht unter<br />
Sprachstörungen (F 80) kodifiziert, sondern unter der Bezeichnung<br />
F94 "Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und<br />
Jugend"<br />
F94-0 elektiver Mutismus<br />
F94-1 reaktive Bindungsstörungen des Kindesalters<br />
F 94-2 Bindungsstörungen des Kindesalters mit Enthemmung<br />
F 94-8 sonstige Störungen sozialer Funktionen des Kindesalters<br />
F 94-9 nicht näher bezeichnete Störung sozialer Funktionen des Kindesalters<br />
Unter der Rubrik Termine sind diesmal auch einige Informationen aus dem<br />
Sachgebiet 41 zusammengestellt. Die Sammlung von "Koordinatoren,<br />
Multiplikatoren etc." wird aktualisiert und vervollständigt.<br />
Der MSD erhält neue Formulare zur Abrechnung der Tätigkeit. Insbesondere wird<br />
berücksichtigt, dass sich die Arbeit des MSD auf viele neue Felder spezialisiert<br />
hat, z. B. Kooperationsklassen, Einzelintegration, Beratungszentrum und<br />
Fallmanager.<br />
Das SVE-Konzept wird im neuen Schuljahr herausgegeben.<br />
Unter der Rubrik Börse gibt es zuerst unter Diagnostik Informationen zu den<br />
beiden nonverbalen SON-Tests. Dann wird das informelle Verfahren DIFMaB<br />
(Diagnostisches Inventar zur Förderung Mathematischer Basiskompetenzen)<br />
vorgestellt.<br />
Bei den Buchbesprechungen gibt es eine Auswahl an neueren Veröffentlichungen<br />
zu Mutismus, Inklusion, Verhaltensstörungen und ein neues Buch von Gerhard<br />
Roth, dem bekannten Neurobiologen.<br />
FORUM TERMINE<br />
BÖRSE<br />
Frau Ohrner sei herzlich gedankt. Sie hat an diesem <strong>Heft</strong> den Hauptteil beigetragen<br />
und zeigt damit ihre hohe Kompetenz zu diesem Thema.<br />
Dr. Werner Laschkowski<br />
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 1
(S)elektiver<br />
Mutismus<br />
Schweigende Kinder in der Schule<br />
Erscheinung und Therapie<br />
In Anlehnung an Dr. Boris Hartmann (Hrsg.):<br />
Gesichter des Schweigens,<br />
Die Systemische Mutismus-Therapie/SYMUT, 2010<br />
Zusammengestellt von Maria Ohrner, BRin, Dipl.-Päd.<br />
1 Das System Mutismus<br />
Der Terminus „Mutismus“ (lat. mutus = stumm) bezeichnet das Schweigen nach<br />
abgeschlossener Sprachentwicklung und bei organischer Funktionsfähigkeit<br />
aller am Sprechvorgang beteiligten Hirnzentren, Nervenbahnen und<br />
Sprechwerkzeuge (Ausnahme: akinetischer Mutismus) und betrifft nicht nur den<br />
Schweigenden selbst, sondern bald das gesamte soziale System, mit dem der<br />
Betroffene verbunden ist; insbesondere die Kernfamilie, Verwandtschaft,<br />
institutionalisierte Personengruppen (Kindergarten und Schule), Personen des<br />
alltäglichen Lebens (Ärzte...).<br />
Es entwickelt sich eine spezifische Beeinflussungsstruktur - eine<br />
Wechselbeziehung der unbewussten Aufmerksamkeitsfixierung, Lenkung und<br />
Anpassung auf beiden Seiten.<br />
Auch innerhalb der betroffenen Person werden seelische Mechanismen in Gang<br />
gesetzt, die in Wechselwirkung zueinander stehen und aufrechterhalten.<br />
Die Inzidenzrate von ca. 0,2 % ist niedrig. Es wird jedoch von einer hohen<br />
Dunkelziffer ausgegangen.<br />
Die Identifikation ist auch für Ärzte und Psychologen teilweise schwierig, da erste<br />
Hinweise in eine Entwicklungsphase fallen, in denen Kinder häufig fremdeln. Zu<br />
den Definitionsmerkmalen gehört der totale Unterschied im kommunikativen und<br />
psychosozialen Verhalten - in der Familie der Redselige und außerhalb der<br />
Schweiger.<br />
Die Geschlechterverteilung beträgt 2 w : 1 m.<br />
Hallo!<br />
Guten Morgen!<br />
- - - !<br />
Schweigen geht nicht selten auch mit einer Tendenz zur körperlichen Erstarrung<br />
einher, was den kommunikativen Spielraum des Kindes zusätzlich einengt.<br />
Obwohl nonverbale Signale typische Ausdruckformen mutistischer Kinder sind<br />
(z.B. deutender Blick), können diese wichtigen Zuhörerreaktionen wie Kopfnicken<br />
ausbleiben und zur Verunsicherung des Gesprächspartners führen.<br />
FORUM TERMINE<br />
BÖRSE<br />
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 2
Kommunikation macht den Betroffenen Beschwerden, kommunikative Vermeidung<br />
wird allmählich zu ihrem Lebensstil. Schweigen ist als Bewältigungsversuch<br />
zu verstehen.<br />
Aufgrund der Unterversorgung mutismusspezifischer Behandlungsangebote<br />
werden häufig andere Therapien ausprobiert; wertvolle Zeit verstreicht, das Kind<br />
schweigt weiterhin und wird ermutigt nonverbale Verhaltensmuster auszubauen.<br />
Für die Eltern ein Wechselbad der Gefühle. Die Interpretationsrichtung kann sich<br />
weg vom Störungsbild zur Gesellschaftskritik drehen. Die über Jahre entstehende<br />
Spirale der Dauerfrustration kann als Höhepunkt zu fünf Phänomenen führen:<br />
• Ausblendung des mutistischen Verhaltens als Störungsbild seitens der<br />
Eltern<br />
• Überbetonung der „verdeckten“ Leistungsfähigkeit ihres Kindes als<br />
Kompensation<br />
• mütterliche Fixierung auf das „schlimme Schicksal“ ihres Kindes als<br />
Unverzichtbarmachung der eigenen Rolle und identitätsstiftendes Kriterium,<br />
das von den Schweigenden im Kindesalter zur eigenen, fast schon zwanghaften<br />
Zentrierung genutzt wird<br />
• ambivalente Abwehr dieser mütterlichen Fixierung im späteren Jugend- und<br />
Jungerwachsenenalter durch latente oder offene Aggression der Schweiger;<br />
gleichzeitig schmerzhafte Erkenntnis, dass ihr Leben ohne die Mutter nicht<br />
funktioniert, vor allem nicht im Kontakt zur Außenwelt<br />
• sukzessives Aufkommen ehelicher Spannungen, wenn diese Nutzsymbiose<br />
zwischen Mutter und Kind nicht eine Abschwächung erfährt; Wunsch nach<br />
„Normalität“<br />
1.1 Klassifikation<br />
Die Internationale Klassifikation von psychischen Erkrankungen, kurz: ICD-10 der<br />
Weltgesundheitsorganisation zählt (s)elektiven Mutismus zu den psychisch<br />
begründeten Verhaltenauffälligkeiten und listet sie unter F94 Störung sozialer<br />
Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend. Die beim Kind emotional<br />
bedingte Selektivität des Sprechens ist häufig mit Sozialangst verbunden.<br />
Üblicherweise können auch die Persönlichkeitsmerkmale Rückzug, besondere<br />
Empfindsamkeit oder Widerstand gefunden werden.<br />
Im DSM-IV / Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen<br />
zählt selektiver Mutismus zu den emotionalen Störungen.<br />
(S)elektiver Mutismus muss differentialdiagnostisch von anderen Krankheitsbildern<br />
abgegrenzt werden, die in ihrer Phänomenologie des dauerhaften Schweigens<br />
eine gewisse Ähnlichkeit haben können, z.B. Autismus, Tiefgreifende<br />
Entwicklungsstörung oder Schizophrenie.<br />
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BÖRSE<br />
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 3
1.2 Nachteilsausgleich<br />
Einen Nachteilsausgleich gibt es nicht. Im Zeugnis kann jedoch vermerkt werden,<br />
dass das Kind an einer Sprechhemmung (Sprechverweigerung) leidet. Die genaue<br />
Formulierung der Bemerkung im Zeugnis mit den eventuellen Auswirkungen auf<br />
die Noten kann mit den Eltern vorab besprochen werden.<br />
Ein offizielles Aussetzen der mündlichen Benotung ist nicht empfehlenswert, da<br />
bei Mutismus der subjektive Krankheitsgewinn therapeutische Bemühungen<br />
erschwert.<br />
Die Bezeichnungen elektiver und selektiver Mutismus werden parallel verwendet.<br />
2 Behandlung des Schweigens – mehr Fluch als Segen?<br />
• Mutismus wird immer noch mit Autismus verwechselt<br />
• Suche nach frühkindlichem Trauma, das es mehrheitlich nicht gibt<br />
• Ursache wird in der Familienkonstellation gesucht<br />
• männliche Familienmitglieder werden als Anfangsverdacht oder offensiv mit<br />
dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs konfrontiert<br />
Kritisch zu hinterfragen sind Aufenthalte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, mit<br />
angstverstärkender Atmosphäre, wenn:<br />
• therapeutische Konzeption nicht mutismusspezifisch ausgerichtet ist<br />
• Behandlung womöglich vor allem in Druckerzeugung besteht (Wenn du<br />
nicht sprichst, dann dürfen dich deine Eltern am Wochenende nicht<br />
besuchen“)<br />
• erzwungenes Aussitzen des Schweigens erfolgt (Du bleibst so lange im<br />
Therapieraum bis du sprichst“)<br />
• Therapien mit dem Hinweis : „XY spricht nicht, mehr können wir nicht mehr<br />
tun“ abgebrochen werden<br />
In der klinischen Behandlung von Schweigenden ergeben sich noch zwei weitere<br />
Problemstellungen:<br />
1. Weiterführende Diagnostik impliziert häufig keine Untersuchung einer<br />
möglichen Depression, Sozialphobie oder eines erhöhten<br />
Stressempfindens.<br />
Geeignete Nonverbale Testverfahren sind: Depressions-Inventar für<br />
Kinder u. Jugendliche (DIDJ), Sozialphobie und Angstinventar für<br />
Kinder (SPAIK), Fragebogen zur Erhebung von Stresserleben und<br />
Stressbewältigung (SSK)<br />
2. Bei ausgeprägten Befunden der beiden erstgenannten Störungsbilder,<br />
die kausal oder komorbid mit Mutismus verbunden sein können<br />
und ab der Pubertät in der Regel mit Mutismus verbunden sind, die<br />
stationäre Behandlung dahingehend modifiziert wird, dass eine<br />
medikamentöse Einstellung mit so genannten Serotonin-<br />
Wiederaufnahmehemmern (SSRI =Antidepressiva) vorgenommen<br />
wird (Serotonin ist Neurotransmitter; Substanz im ZNS die z.B. Angst,<br />
FORUM TERMINE<br />
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Stimmungen beeinflusst), damit therapeutische Bemühungen von<br />
außen überhaupt eine Chance haben.<br />
3 Konsequenzen bei der Aufrechterhaltung des Schweigens<br />
• Massive Schulprobleme, nicht nur wegen der mündlichen Benotung<br />
• Links-liegen-Lassen oder „gut gemeintes“ Mitziehen und damit erhöhte<br />
Wahrscheinlichkeit eines subjektiven Krankheitsgewinns, der sich durch<br />
Befreiung von Pflichten, Sonderstellung, erhöhte Aufmerksamkeit und den<br />
Lerneffekt: „Es geht auch ohne Sprechen“ auszeichnet<br />
• Druckverhalten von Lehrern, Erziehern, da das Schweigen als bloßes<br />
Trotzverhalten oder Kaschierung einer Minderbegabung fehlinterpretiert wird<br />
• allgemeine, bedrückende Ratlosigkeit<br />
• Klassenwiederholungen<br />
• Rückstufungen vom Gymnasium auf die Realschule usw.<br />
• Antrag auf Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs<br />
• stark eingeschränkte berufliche Perspektiven<br />
Innerhalb der Kindergartengruppe oder des Klassenverbandes führt das<br />
Schweigen eines Mitgliedes der Gruppe zu einer spezifischen und teilweise<br />
konträren Beziehungsdynamik:<br />
• Selektive Akzeptanz: Der/die Schweigende wird von einem kleinen Teil der<br />
Gruppe angenommen. Ein „beste/-r Freund/-in übernimmt die Rolle des<br />
kommunikativen Mediums, analog zur Mutter im familiären Rahmen. Das<br />
bedeutet, dass phonisch transportiert wird, was von der mutistischen Person<br />
zugeflüstert wird.<br />
• Rollenkonfusion durch Überakzeptanz: Mitglieder der Gruppe bezeugen<br />
übereifrig ihre Loyalität und Anteilnahme, indem sie für das mutistische Kind<br />
antworten, ohne dass dieser dazu ein Zeichen gegeben hat. Eine eigene<br />
Meinungsbildung nach außen wird verhindert. Die Folge ist ein Identitätskonflikt,<br />
der aufgrund der Nichtmitteilbarkeit und stressvermeidenden Angepasstheit<br />
nicht aufgelöst werden kann.<br />
• Ausblendung: Nach anfänglicher Empathie schwächen sich durch ungebrochene<br />
Konstanz das Interesse und die Anteilnahme. Es kommt zu einer<br />
Nichtbeachtung. Eine weitere Folge: Betroffene werden zu Fremdkörpern in<br />
der vertrauten Umgebung.<br />
• Ablehnung und Mobbing<br />
Die ersten beiden Verhaltensmuster ermöglichen eine Integration der<br />
Schweigenden. Bei Ausblendung bzw. Ablehnung und Mobbing ist eine soziale<br />
Isolation programmiert. Die psychosoziale Entwicklung der Betroffenen gerät ins<br />
Stocken, stagniert und verliert in der Pubertät schließlich, um Jahre zurückversetzt,<br />
den Anschluss. In der Regel haben sie keine Freunde, werden nicht mehr<br />
zu Partys eingeladen, gehen nicht <strong>zum</strong> Tanzen, halten sich nur noch zu Hause auf<br />
und ziehen sich irgendwann depressiv vom Alltagsleben der Familie zurück.<br />
FORUM TERMINE<br />
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Menschliche Freunde werden gegen Computerspiele, fiktive Chatfreunde oder<br />
Fernsehen eingetauscht. In der Pubertät entwickeln sich mit dem Aufwachen des<br />
Ich-Bewusstseins verstärkt die Wahrnehmung der eigenen Einschränkung und<br />
Selbstwertminderung und/oder ausgeprägte Depressionen mit erhöhter<br />
Suizidgefährdung.<br />
Obwohl es Einzelfälle gibt, wo das Schweigen auch ohne Therapie überwunden<br />
wurde, weitet sich die Gefahr sprachlicher Inkompetenzgefühle, eine Beschädigung<br />
des Selbstkonzepts und die Gefahr depressiver Verstimmungen ohne<br />
eine Therapie aus.<br />
4 Epochaltypische Sichtweisen, Legenden und Analogismen<br />
• Verursachung des Mutismus durch ein singuläres Ereignis bzw. Trauma in<br />
der frühen Kindheit ist in der Regel nicht gegeben. Gegenbeispiel: Totaler<br />
Mutismus bei dem Mädchen, das bei Geiseldrama von Gladbeck (1988) die<br />
Erschießung seines älteren Bruders im gekaperten Bus miterlebte und<br />
daraufhin mit niemandem mehr sprach.<br />
• Mutismus als familienbedingtes Phänomen: „Das Kind als Symptomträger“ war<br />
bis Anfang der 90er Jahre Slogan und Vorgabe für das therapeutische<br />
Vorgehen. Mit den Kindern wurde großteils gar nicht mehr gearbeitet. Ein<br />
Paradigmenwechsel wurde notwendig, da die komplette Analyse des familiären<br />
Umfeldes das Schweigen des Kindes nicht beeinflusste. Heute geht man von<br />
einer Anlage (Disposition) in der Generationenfolge und der Diathese, d.h.<br />
Neigung bestimmte Störungsbilder zu entwickeln aus (im Wechselspiel von<br />
Anlage und Umwelt)<br />
• Schuldzuweisungen innerhalb der Familie oder von außen sorgen bei Eltern<br />
auf verschiedenen Ebenen für Wiedergutmachung und damit für<br />
Aufrechterhaltung des Schweigens<br />
• Parallelen bei der Therapiesuche und Therapieversuchen und bei der somit<br />
ausgelösten elterlichen oder eigenen Ambivalenz gegenüber einer<br />
Behandelbarkeit des Mutismus<br />
• trotz Forschung in Form von Einzelfalldarstellungen, lassen sich die oben<br />
genannten mutismusspezifischen Wechselwirkungen zwischen dem Schweiger<br />
und den Personen seines Umfeldes finden<br />
• Faktoren der Aufrechterhaltung des Schweigens werden mit Faktoren der<br />
Ursache des Schweigens verwechselt, z.B. Identifikation der Mutter-Kind-<br />
Symbiose als Ursache<br />
• Gipfel der psychologischen Interpretationsvielfalt ist in der Begründung durch<br />
Ödipuskonflikt anzusehen; Schweigen verursacht durch libidinöse Fixierung auf<br />
die Mutter bzw. ödipales Verlangen gegenüber dem Vater; Scham wird durch<br />
neurotischen Konflikt aufzuarbeiten versucht<br />
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5 Systemische Grundlegung<br />
Bei (s)elektivem Mutismus geht man nicht von linearen Verursachungsmustern<br />
aus, sondern von zirkulären Wechselbeziehungen.<br />
Die sechs wichtigsten Phänomene:<br />
1. Ursache für Mutismus sind in der Regel keine seelische Traumata, sondern<br />
Dispositionen für einen kommunikativen und/oder sozialen Rückzug sowie<br />
für Depressionen bzw. Angststörungen<br />
2. Dispositionell bedingte Angststörung als Hauptursache für Mutismus, kann<br />
durch sprachheiltherapeutische und verhaltenstherapeutische Strategien<br />
sukzessive reduziert werden<br />
3. Sprechanbahnung und Angstbewältigung unterliegen einer wechselseitigen<br />
Beeinflussung und damit Zirkularität – trotz Disposition.<br />
4. Mutistische Jugendliche und Jungerwachsene leiden auffallend oft unter<br />
Depressionen und/oder Sozialphobie<br />
5. Bei Aufrechterhaltung des Mutismus spielen familiäre und institutionell<br />
bedingte Erziehungsmerkmale (Kindergarten, Schule) die Hauptrolle für<br />
subjektiven Krankheitsgewinn<br />
6. Die Schweigenden, die außerhalb der Familie den Eindruck eines<br />
außerordentlich gehemmten, ängstlichen Wesens hinterlassen, verhalten<br />
sich zu Hause ungehemmt, narzistisch und vor allem: dominant. Die erlernte<br />
Zentrierung der Familie um die Bedürfnisse des mutistischen Kindes<br />
scheint eine zwangsläufige Konsequenz und Hauptvariante des subjektiven<br />
Krankheitsgewinns.<br />
5.2 Direktives versus nondirektives Vorgehen<br />
Die Systemische Mutismus-Therapie (SYMUT) ist direktiv ausgerichtet, was sie<br />
von der nondirektiven Spieltherapie unterscheidet. So soll die Chance auf eine<br />
Fortsetzung des Verhaltens unterbrochen werden. Da nicht von der Verursachung<br />
durch ein seelisches Trauma ausgegangen wird, geht der Blick nicht zurück,<br />
sondern die Ist-Situation ist Ausgangspunkt zukunftsorientierter Verhaltensmodifikation.<br />
Bei Abwehr zeigt sich dieser Therapieansatz anfangs auch konfrontativ:<br />
„Du bist hier, weil du ein Problem hast.“ Aber reicht auch sofort die Hand:<br />
„Wenn du mit ganzer Kraft raus willst, werden wir das gemeinsam schaffen.“<br />
Wichtige Stützen der SYMUT sind Suggestion und Autosuggestion bzw. die<br />
Vermittlung von Zuversicht und Ich-Stärkung. Die Weichen hierfür werden in der<br />
ersten Behandlungsstunde gestellt. Darüber hinaus stellt ein Störungsbewusstsein,<br />
das zu einem Leidensdruck führt, die Voraussetzung für eine<br />
Therapiemotivation dar.<br />
FORUM TERMINE<br />
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5.3 Acht-Stufen-Diagnostik<br />
= Maximalangebot, nicht alle Stufen müssen zwangsläufig abgearbeitet werden<br />
1. Mutismusdiagnostik und Differenzialdiagnostik mit Hilfe der ICD-10 bzw. des<br />
DSM-IV<br />
2. Neurologische Untersuchung <strong>zum</strong> Ausschluss hirnorganischer Abbauprozesse<br />
3. HNO-ärztliche Untersuchung<br />
4. Patienten- und Familienuntersuchung<br />
5. Psychologische Interpretation<br />
6. Sprachdiagnostik mit der Definition des aktuellen Sprachstatus<br />
7. Bewertung des sozialen Kommunikationsverhaltens mit dem Mutismus-<br />
Soziogramm und dem Evaluationsbogen für das sozialinteraktive<br />
Kommunikationsverhalten bei Mutismus (siehe Kopiervorlage)<br />
8. Beschreibung emotionaler Motivationskriterien<br />
Zu Stufe eins: Diagnostische Leitkriterien für (s)elektiven Mutismus nach<br />
ICD-10 und DSM-IV<br />
1. Liegt eine abgeschlossene Sprachentwicklung im Sinne einer kommunikativen<br />
Grundfähigkeit vor?<br />
2. Ist das Sprachverständnis (noch) altersentsprechend?<br />
3. Lässt sich ein Unterschied im kommunikativen Verhalten feststellen:<br />
hier der Schweigende, dort der Redselige; Janusgesichtigkeit?<br />
4. Gibt es eine Voraussagbarkeit dieses unterschiedlichen<br />
Kommunikationsverhaltens, d.h., können Sie Situationen nennen, in denen<br />
Sie im Voraus wissen, dass geschwiegen wird<br />
5. Dauert die Störung mindestens einen Monat an und ist nicht auf die<br />
Anfangszeit im Kindergarten, der Schule bzw. der Klasse beschränkt<br />
6. Die Störung kann nicht besser durch eine Kommunikationsstörung und/oder<br />
eine tiefgreifende Entwicklungsstörung (z.B. Autismus) erklärt werden<br />
Anamnese bei (s)elektivem Mutismus nach Leitlinien der Deutschen Gesellschaft<br />
für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie:<br />
• Fragen <strong>zum</strong> Störungsbild<br />
• Fragen zur störungsspezifischen Entwicklungsgeschichte<br />
• Fragen zur allgemeinen Entwicklungsgeschichte und Lebenssituation<br />
In der Anamnese nach kritischen Lebensereignissen fragen, aber in der Regel<br />
keine Traumatisierung oder Missbrauch als Verursachung für Mutismus!<br />
FORUM TERMINE<br />
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Differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber Autismus:<br />
a) Konstanz: Autisten verhalten sich gleich bleibend zurückgezogen,<br />
kontaktarm und abwehrend gegenüber Wahrnehmungsanreizen des<br />
Umfeldes und bevorzugen selbststimulierende visuelle und auditive<br />
Stereotypien, während Mutisten zwei völlig unterschiedliche „Gesichter“ zu<br />
haben scheinen<br />
b) Emotionalität: Autisten zeigen sich gefühlsmäßig meistens unterkühlt,<br />
können nur schwer einen emotionalen Kontakt selbst zu ihren Eltern und<br />
Geschwistern aufbauen, machen sich schon im Säuglingsalter beim<br />
Hochheben durch die Mutter steif. Mutisten können in bestimmten<br />
Situationen überaus emotional sein und suchen den äußeren Kontakt zu<br />
einem Elternteil<br />
c) Sprachentwicklung: Autisten entwickeln aufgrund neurolinguistischer und<br />
neuro-motorischer Störungen nur eine redundante und bei der pragmatischkommunikativen<br />
Kompetenz auffällig abweichende Sprache. Bei Mutisten ist<br />
der Spracherwerb altersgerecht. Insbesondere der schriftliche Ausdruck ist<br />
sogar oft überdurchschnittlich gut.<br />
Zu Stufe zwei: Neurologische Untersuchung<br />
Bei der Entstehung eines totalen Schweigens innerhalb weniger Monate kann das<br />
Landau-Kleffner-Syndrom vorliegen. Eine neurologische Erkrankung, die mit einem<br />
fortschreitenden Anfallsleiden und raschem sprachlichem Rückzug verbunden ist.<br />
<br />
siehe Kopiervorlage: Diagnostische Hilfen bei (s)elektivem Mutismus<br />
Zu Stufe vier: Familienanamnese umfasst drei Generationen<br />
• Geschwister der Schweiger<br />
• Mutter und Vater inklusive Geschwister sowie<br />
• Großeltern<br />
Sie gibt Auskunft über das Vorhandensein und die Entwicklung weiterer<br />
Familienmitglieder, die<br />
a) in der Kindheit oder im Jugendalter gehemmt, einsilbig und/oder sozial<br />
zurückgezogen waren oder es als Erwachsene noch sind<br />
b) zeitlich begrenzt oder in Phasen an Depressionen litten bzw. leiden<br />
c) zeitlich begrenzt oder in Phasen Angststörungen zeigen bzw. zeigten<br />
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Häufig können Familienmitglieder den drei Merkmalen zugeordnet werden.<br />
Schweiger kommen also nicht aus Familien von "Partylöwen".<br />
In der Eigenanamnese werden Schwangerschaft und Geburt, die Meilensteine in<br />
der Entwicklung (Motorik und Sprache), erste Signale Richtung Rückzug sowie der<br />
weitere Verlauf im Kiga bzw. in der Schule thematisiert. Rückblickend werden erste<br />
Anzeichen bereits in der Krabbelgruppe und am häufigsten mit Eintritt in den Kiga<br />
genannt.<br />
Zu Stufe fünf: Psychologische Interpretation<br />
Da Mutismus mit zunehmendem Alter mit einer Depression und/oder einer<br />
Sozialphobie verbunden sein kann, sollte eine weiterführende Diagnostik in beide<br />
Richtungen vorgenommen werden (Depressions-Inventar für Kinder u. Jugendliche/<br />
DIKJ; Sozialphobie und -angstinventar für Kinder/ SPAIK; bei PR < 90<br />
Kinder- und Jugendpsychiater hinzuziehen). Beide Tests sind nonverbal und<br />
deshalb gut geeignet.<br />
Zu Stufe sechs: Sprachtherapeutische Diagnostik<br />
Erst möglich, wenn im therapeutischen Setting gesprochen wird. Studien der<br />
letzten Jahre zeigen, dass 33% bis ca. 52% der untersuchten mutistischen<br />
Personen Sprach- und Sprechstörungen und weitere 21,5% sprachliche<br />
Anpassungsstörungen aufgrund Migration aufweisen. (Ggf. Sprachverständnis<br />
überprüfen) Sprachliche<br />
Beeinträchtigungen sind zusätzlich zu behandeln, da sie Hemmnisse im<br />
angstfreien Umgang mit Sprechen darstellen und daher einen Behandlungserfolg<br />
verzögern können.<br />
Zu Stufe sieben: Mutismus-Soziogramm<br />
Das Mutismus-Soziogramm ermöglicht die schriftliche Dokumentation des<br />
aktuellen mündlichen Kommunikationsverhaltens und ermittelt also den<br />
Ist-Zustand des personenbezogenen Sprechens.<br />
Mit dem Evaluationsbogen für das sozialinteraktive Kommunikationsverhalten<br />
bei Mutismus kann der Ist-Zustand des situationsbezogenen Sprechens sowie<br />
Einsatz von Mimik, Gestik und Schriftsprache festgehalten werden.<br />
Bei einer Minimum-Maximum-Verteilung von 0-46 Punkten gilt, je niedriger die<br />
Gesamtpunktzahl, desto geringer die Mutismussymptomatik; ab 25-30 Punkten<br />
schwere Symptomatik. Dieser Diagnosebogen ermöglicht ebenfalls Transparenz<br />
von Behandlungsfortschritten bzw. -stillständen.<br />
<br />
Download unter: www.boris-hartmann.de<br />
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Zu Stufe acht: Beschreibung emotionaler Motivationskriterien<br />
Die Bedürfnisebene hinsichtlich der Frage analysieren, welche emotionalen<br />
Zustände von der schweigenden Person (unbewusst) anvisiert oder abgelehnt<br />
bzw. als Motiv für Auslösung und Aufrechterhaltung des Schweigens verwendet<br />
werden.<br />
Dabei lassen sich drei Typen natürlicher Reize (Motive) unterscheiden:<br />
• Kontakt-Anreize, die im Umgang mit Gruppenmitgliedern oder<br />
Bezugspersonen entstehen. Das Anschlussmotiv hat normalerweise<br />
Aufforderungscharakter für sprachliche Mitteilungen. Bei Schweigenden ist<br />
es allerdings negativ besetzt und damit vermeidungswürdig.<br />
• Abwechslungs-Anreize, die bedingt durch das Interesse an Neuem wirksam<br />
werden. Daraus kann ein Leistungsmotiv entstehen, das normalerweise zu<br />
Mitteilungen auffordert, um das Können zu zeigen. Bei Schweigenden<br />
negativ besetzt und somit vermeidungswürdig.<br />
• Einwirkungs-Anreize mit dem Wunsch nach Einflussnahme auf die soziale<br />
Umwelt, d.h. Kontroll- und Machtmotiv. Bei Schweigenden positiv besetzt,<br />
da sich mit dem Schweigen vieles durchsetzten lässt: Mittelpunktstellung in<br />
der Familie, Verweigerung von Pflichten, Sonderbehandlung im Kiga bzw. in<br />
der Schule.<br />
5.4 Zwei vorrangige Therapieziele<br />
1.) Dialogfähigkeit im Sinne von Rede und Gegenrede, z.B. Fragen stellen<br />
und beantworten, Meinungen und Bedürfnisse äußern<br />
2.) Alltagstauglichkeit im Sinne von altersadäquater Bewältigung von täglichen<br />
Lebensaufgaben, z.B. im Vorschulalter Begrüßung<br />
und Verabschiedung, Bestellen von Brötchen beim<br />
Bäcker, Telefonieren, selbstständige Bildung von<br />
Freundschaften<br />
5.5 Grundlegendes zur Mutismus-Therapie<br />
Übereinstimmend wird heute ein mehrdimensional angelegter Therapieansatz<br />
empfohlen, d.h. er sollte verschiedene Behandlungselemente umfassen. Bei dem<br />
Ansatz von B. Hartmann stehen eine sprachheilpädagogisch ausgerichtete<br />
Behandlung ergänzt mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen bei der<br />
Behandlung des Mutismus im Vordergrund, da in vielen Fällen Mutismus u.a. als<br />
erlerntes Verhalten interpretiert wird.<br />
Wenn sich Anzeichen einer depressiven Verstimmung häufen, sollte über<br />
Medikamention nachgedacht werden. Die Abklärung obliegt dem Kinder- und<br />
Jugendpsychiater. Der Einsatz von Antidepressiva sollte immer in<br />
Gesamtbehandlungsplan integriert werden.<br />
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Die interne Motivation der Betroffenen spielt für den Erfolg der Therapie eine<br />
entscheidende Rolle. Um Einsicht in die Notwendigkeit des Sprechens zu erzeugen,<br />
ist es erforderlich, die Sinnhaftigkeit von Sprechen zu veranschaulichen.<br />
Das Verstummen kann für das schweigende Kind eine Strategie zur Problemlösung<br />
sein, deshalb muss deutlich gemacht werden, dass Schweigen kein<br />
günstiges Vorgehen ist.<br />
In der Behandlung schweigender Kinder hat sich gezeigt, dass negative<br />
Verarbeitungsmuster eher durch Erfahrung verändert werden, als durch Einsicht.<br />
Hier kann, neben den Eltern, auch die Lehrkraft einen wertvollen Beitrag <strong>zum</strong><br />
Durchbrechen des Schweigens leisten.<br />
Im Durchschnitt ist bei mutistischen Kiga-Kindern bzw. Grundschülern von 6 bis 9<br />
Mon. auszugehen, bis sie die zwei vorrangigen Therapieziele Dialogfähigkeit und<br />
Alltagstauglichkeit erreicht haben. Bei Jugendlichen verlängert sich der<br />
Therapieprozess aufgrund der häufigen Verknüpfung mit Depressionen und/oder<br />
Sozialphobie.<br />
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Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 12
5.6 Die Mutismus-Therapie in vier Phasen<br />
4. Nachbetreuungsphase<br />
4. • Nachbetreuungsphase<br />
Erneute Vorstellung nach 3<br />
und 9 Monaten<br />
•<br />
•<br />
Erneute<br />
Nachuntersuchung<br />
Vorstellung nach 3<br />
und 9 Monaten<br />
• Beratung bei aktuellen<br />
• Nachuntersuchung<br />
Fragestellung<br />
• Beratung bei aktuellen<br />
• Gemeinsame Erarbeitung<br />
Fragestellung<br />
von Zukunftsperspektiven<br />
• Gemeinsame Erarbeitung von<br />
Zukunftsperspektiven<br />
3. Kommunikativ-sozialinteraktive<br />
Phase<br />
• Dialogschema<br />
• Vorlesen/ Nacherzählen<br />
und Versprachlichen<br />
• Telefonieren<br />
• Training durch In-vivo-<br />
Therapie<br />
1. Präverbale Phase<br />
1. • Präverbale Aufbau einer Phase<br />
therapeutischen Beziehung<br />
•<br />
Aufbau<br />
Beratung<br />
einer<br />
und<br />
therapeutischen<br />
Elternarbeit<br />
Beziehung<br />
• Welche Bedeutung hat das<br />
Beratung und Elternarbeit<br />
Sprechen?<br />
Welche Bedeutung hat das<br />
• Evozierung der ersten Laute<br />
Sprechen?<br />
• Evozierung der ersten Laute<br />
Mutismus-Therapie in vier Phasen<br />
2. Lexikalisch-syntaktische Phase<br />
• Wort- und Satzeräußerungen<br />
• Begrüßung und Verabschiedung<br />
• Therapeutischer Vertrag mit<br />
Dokumentation der Kommunikation<br />
• Interdisziplinäre Gesprächsrunden<br />
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•<br />
6 Beratung und Elternarbeit<br />
Ein wichtiger Baustein in der präverbalen Phase ist der Beginn der Beratung<br />
und Elternarbeit. Hier geht es darum:<br />
• über das Störungsbild Mutismus aufzuklären,<br />
• einen Elternteil (oft die Mutter) von bereits internalisierten Vorwürfen<br />
hinsichtlich der Verursachung des Schweigens zu befreien,<br />
• einen Elternteil über die eigene Rolle bei der (unbewussten) Aufrechterhaltung<br />
des Schweigens zu informieren,<br />
• Risikofaktoren für die Entstehung des subjektiven Krankheitsgewinns zu<br />
analysieren,<br />
• einen bereits eingetretenen subjektiven Krankheitsgewinn abzubauen,<br />
• Kontrollmechanismen des Kindes zu erkennen und zu unterbrechen,<br />
• Erziehung zu Selbstständigkeit als Gegeninstrument zur Überbehütung zu<br />
installieren<br />
• das Thema Angstbewältigung im Freizeitverhalten anzugehen wie Fahrrad<br />
fahren, Schwimmen, Schaukeln, Skaten ...<br />
• das Verhalten der Schweiger gegenüber weiteren Verwandten zu<br />
modifizieren (oft werden weitere Familienmitglieder nicht nur angeschwiegen,<br />
sondern ausgeblendet),<br />
• Entscheidung Regelschule vs. Förderschule zu diskutieren und<br />
• Eltern als Kotherapeuten zu gewinnen, um über einen Brückenbauer zu<br />
verfügen, der Therapieinhalte in das soziale Umfeld des Mutisten<br />
transferiert,<br />
• mit Eltern niederschwellige Kommunikationsformen/ -anlässe erschließen.<br />
Eines der größten Probleme ist es, die Eltern, speziell die Mütter, von den<br />
Selbstvorwürfen zu befreien. „Was habe ich falsch gemacht?“ ist eine der<br />
häufigsten Fragen zu Beginn der Behandlung. An dieser Stelle empfiehlt es sich<br />
zu erklären, dass die Eltern einen Mutismus nicht durch Erziehungsfehler<br />
verursachen, wohl aber aufrechterhalten können. Enge Zusammenarbeit mit Eltern<br />
und anderen betreuenden Diensten bzw. Einrichtungen ist unerlässlich.<br />
Wichtige pädagogische Empfehlungen für Eltern und Lehrer/innen:<br />
1.) Stellen sie sich nicht als kommunikatives Medium, d.h. Sprachrohr, zur<br />
Verfügung.<br />
2.) Gleiche Verteilung von Rechten und Pflichten<br />
3.) Keine Sonderstellung<br />
4.) Keine Sonderstellung auch in der Schule<br />
5.) Beurteilung des Mündlichen in der Schule<br />
6.) Misserfolgserlebnisse im kommunikativen Bereich vermeiden<br />
7.) Kommunikation anbahnen<br />
8.) Anbahnung eines altersadäquaten Freizeitverhaltens<br />
9.) Kindergeburtstage<br />
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10.) Einmal pro Woche Besuch mindestens eines Kindes<br />
11.) Förderung der Selbstständigkeit<br />
12.) Wiederentdeckung/ Belebung der Vaterrolle<br />
<br />
siehe Kopiervorlage: Empfehlungen bei (s)elektivem Mutismus für Eltern und<br />
Lehrer/innen<br />
Zeigen Kinder über einen längeren Zeitraum Anzeichen mutistischen Verhaltens,<br />
ist mutismusspezifische Beratung dringend angezeigt, da die betroffenen Kinder<br />
ihre Strategien rasch festigen und ausbauen.<br />
Adressen<br />
www.mutismus.de<br />
Mutismus Selbsthilfe Deutschland e.V.<br />
www.selektiver-mutismus.de<br />
Literatur<br />
• Dobslaff, Otto: Mutismus in der Schule, Berlin 2005<br />
• Hartmann, Boris (Hrsg.): Gesichter des Schweigens, Die systemische<br />
Mutismus-Therapie, Idstein 2010<br />
• Hartmann, Boris und Lange, Michael: Mutismus im Kindes-,und Jugendalter,<br />
Ratgeber für Angehörige, Betroffene und Fachleute, Idstein 2007<br />
• Katz-Bernstein, Nitza, et al: Mut <strong>zum</strong> Sprechen finden, München 2007<br />
• Katz-Bernstein, Nitza: Selektiver Mutismus bei Kindern, München 2005<br />
• Mutismus Selbsthilfe Deutschland e.V.: Das Schweigen überwinden - ein<br />
Verein stellt sich vor 2004<br />
• Mutismus Selbsthilfe Deutschland e.V.: Lebenslinien - Biografien mutistischer<br />
Menschen 2004<br />
• Mutismus Selbsthilfe Deutschland e.V.: Mutismus und Schule, Tipps für den<br />
Unterricht 2005<br />
• Petermann, Franz u. Ulrike: Training mit sozial unsicheren Kindern,<br />
Weinheim 2003<br />
Maria Ohrner, BRin<br />
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Die folgenden Übersichten zur Diagnostik und Empfehlungen für Eltern und<br />
Lehrkräften wurden ebenso von Fr. Ohrner zusammengestellt.<br />
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 15
Diagnostische Hilfen bei (s)elektivem Mutismus<br />
Anamnese<br />
nach Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- u. Jugendpsychiatrie u. -<br />
psychotherapie<br />
<br />
Fragen <strong>zum</strong> Störungsbild:<br />
1) Wie lange dauert das Schweigen schon an?<br />
2) Wem gegenüber spricht das Kind?<br />
- Wo / wann?<br />
3) Wem gegenüber spricht das Kind nicht?<br />
- Wo / wann?<br />
4) Welche Maßnahmen wurde bisher ergriffen?<br />
5) Welche kommunikativen Hilfsmittel kommen bereits <strong>zum</strong> Einsatz?<br />
<br />
Fragen zur störungsspezifischen Entwicklungsgeschichte:<br />
1) Wie ist die Sprachentwicklung verlaufen?<br />
2) Wann trat das Schweigen <strong>zum</strong> ersten Mal auf?<br />
3) Wie war der Verlauf bisher?<br />
4) Ist das Kind besonders ängstlich?<br />
- empfindlich?<br />
5) Liegen Besonderheiten im Verhalten vor (z.B. Trennungsangst, Schlaf- oder<br />
Essstörungen)?<br />
<br />
Fragen zur allgemeinen Entwicklungsgeschichte und Lebenssituation:<br />
1) Wie ist der motorische Entwicklungsstand?<br />
2) Sind die Eltern scheu oder ängstlich?<br />
3) Was ist über die soziale Einbindung der Familie bekannt?<br />
4) Ist Mutismus in der Familiengeschichte schon mal aufgetreten?<br />
5) Sind weitere Sprach- bzw. Sprechstörungen in der Familie bekannt?<br />
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BÖRSE<br />
6) Wie schätzen Sie das Erziehungsverhalten der Eltern ein?<br />
7) Liegt Zwei- oder Mehrsprachigkeit vor?<br />
8) Wie sind die familiären Verhältnisse?<br />
9) Gibt es belastende Umstände in der Gruppe/ Schule?<br />
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 16
Diagnostische Leitkriterien<br />
nach ICD-10 und DSM-IV<br />
I<br />
Liegt eine abgeschlossene Sprachentwicklung im Sinne einer<br />
kommunikativen Grundfähigkeit vor<br />
ja nein<br />
II<br />
Ist das Sprachverständnis (noch) altersentsprechend<br />
ja nein<br />
III<br />
Lässt sich ein Unterschied im kommunikativen Verhalten feststellen: hier der<br />
Schweigende, dort der Redselige; Janusgesichtigkeit<br />
ja nein<br />
IV Gibt es eine Voraussagbarkeit dieses unterschiedlichen<br />
Kommunikationsverhaltens, d.h. können die Haupterziehungspersonen<br />
Situationen nennen, in denen sie im Voraus wissen, dass geschwiegen wird<br />
ja nein<br />
V<br />
Dauert die Störung mindestens einen Monat an und ist nicht auf die Anfangszeit<br />
im Kindergarten, der Schule bzw. der Klasse beschränkt<br />
ja nein<br />
VI Die Störung kann nicht besser durch eine Kommunikationsstörung und/oder<br />
eine Tiefgreifende Entwicklungsstörung (z.B. Autismus) erklärt werden<br />
ja nein<br />
FORUM TERMINE<br />
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Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 17
In der, in Europa häufiger verwendeten, Internationalen Klassifikation von<br />
psychischen Erkrankungen, kurz: ICD-10, ist Mutismus unter F 94.0 Störung<br />
sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend gelistet (siehe dazu<br />
auch Seite 1).<br />
Im DSM-IV / Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen<br />
zählt (s)elektiver Mutismus zu den emotionalen Störungen.<br />
Sehr oft ist (s)elektiver Mutismus mit einer psycho-sozialen Phobie, einer<br />
emotional bedingten Hemmung bzw. Angst vor sprachlicher Kommunikation,<br />
verbunden. Trotz organischer Funktionsfähigkeit aller am Sprechvorgang<br />
beteiligten Hirnzentren, Nervenbahnen und Sprechwerkzeuge und einer<br />
abgeschlossenen Sprachentwicklung im Sinne einer kommunikativen Grundfähigkeit<br />
schweigen die betroffenen Kinder in bestimmten und vorhersagbaren<br />
Situationen. Mutismus ist also gekennzeichnet durch (s)elektives Sprechen mit<br />
bestimmten Personen oder in definierten Situationen.<br />
FORUM TERMINE<br />
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Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 18
Differenzialdiagnostische Anamnese<br />
in Anlehnung an Dr. Boris Hartmann, 2003<br />
(S)elektiver Mutismus muss differentialdiagnostisch von anderen Krankheits-<br />
bildern abgegrenzt werden, die in ihrer Phänomenologie des dauerhaften<br />
Schweigens eine gewisse Ähnlichkeit haben können, z.B. Autismus,<br />
Posttraumatische Belastungsstörung, Tiefgreifende Entwicklungsstörung oder<br />
Schizophrenie.<br />
Achtung: In der Regel keine Traumatisierung oder Missbrauch als Verursachung!<br />
Als Verursachungstheorie wird das Zusammenwirken verschiedenster<br />
Risikofaktoren, ungünstiger personeller Reaktionsformen sowie Stressquellen im<br />
Zusammenhang mit inadäquater Bindungs- und Trennungserfahrung können in<br />
einem komplexen Wirkgefüge zu Mutismus führen. Das Schweigen kann also<br />
sozial nicht akzeptierte Bewältigungsstrategie verstanden werden<br />
<br />
Differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber Autismus:<br />
a) Konstanz: Autisten verhalten sich gleich bleibend zurückgezogen, kontaktarm<br />
und abwehrend gegenüber Wahrnehmungsanreizen des Umfeldes und<br />
bevorzugen selbststimulierende visuelle und auditive Stereotypien, während<br />
Mutisten zwei völlig unterschiedliche „Gesichter“ zu haben scheinen.<br />
b) Emotionalität: Autisten zeigen sich gefühlsmäßig meistens unterkühlt,<br />
können nur schwer einen emotionalen Kontakt selbst zu ihren Eltern und<br />
Geschwistern auf- bauen, machen sich schon im Säuglingsalter beim<br />
Hochheben durch die Mutter steif. Mutisten können in bestimmten<br />
Situationen überaus emotional sein und suchen den äußeren Kontakt zu<br />
einem Elternteil.<br />
c) Sprachentwicklung: Autisten entwickeln aufgrund neurolinguistischer und<br />
neuro- motorischer Störungen nur eine redundante und bei der pragmatischkommunikativen<br />
Kompetenz auffällig abweichende Sprache. Bei Mutisten ist<br />
der Spracherwerb altersgerecht. Insbesondere der schriftliche Ausdruck ist<br />
sogar oft überdurchschnittlich gut.<br />
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Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 19
Differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber Landau-Kleffner-<br />
Syndrom:<br />
Bei der Entstehung eines totalen Schweigens innerhalb weniger Monate kann das<br />
Landau-Kleffner-Syndrom vorliegen. Eine neurologische Erkrankung, die mit einem<br />
fortschreitenden Anfallsleiden und raschem sprachlichem Rückzug verbunden ist.<br />
Bei Verdacht ist eine neurologische Untersuchung notwendig.<br />
Differenzialdiagnostische Abgrenzung zu kritischen/ traumatischen<br />
Lebensereignissen:<br />
Sind kritische/traumatische Ereignisse bekannt: ja nein<br />
(ICD-10: F43.0 Reaktion auf schwere Belastungen und Anpassungsstörung, F43.1<br />
Posttraumatische Belastungsstörung / DSM-IV: 309.81 unter Angststörungen)<br />
ggf. welche: _____________________________________________________<br />
diagnostiziert von / am: _____________________________________________<br />
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Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 20
Empfehlungen bei (s)elektivem Mutismus<br />
für Eltern und Lehrer/innen<br />
1) Stellen Sie sich nicht als kommunikatives Medium, d.h. Sprachrohr, zur<br />
Verfügung. Achten Sie darauf nicht für Ihr Kind zu antworten, da es<br />
daraus lernt: „Es geht auch ohne Sprechen!“ Diese Erfahrung wird zu einer<br />
Aufrechterhaltung des Schweigens führen.<br />
2) Gleiche Verteilung von Rechten und Pflichten.<br />
Wichtig für den Zusammenhalt der Familie ist die Fortführung der<br />
Gemeinsamkeit. Ein Sich-einigeln-können im eigenen Zimmer, die<br />
Abwehr von häuslichen Pflichten, die Verweigerung von gemeinsamen<br />
Mahlzeiten oder die Einforderung von immer mehr Freiheiten sind hier<br />
schädlich. Unterstützen Sie diesen Trend nicht. Eine ungleiche Verteilung<br />
von Rechten und Pflichten innerhalb der Geschwister schafft zudem ein<br />
ungleiches Erzieherverhalten seitens der Eltern und damit zu Spannungen<br />
in der Familie.<br />
3) Keine Sonderstellung.<br />
Ihr schweigendes Kind fordert vermehrte Aufmerksamkeit ein und stellt sich<br />
damit in den Mittelpunkt der Familie. Achten Sie auf eine annähernd gleiche<br />
Verteilung von Zuwendung und emotionaler Nähe gegenüber allen Kindern.<br />
Vor allem die Mütter merken oft erst im Jugendalter, dass sie jahrelang als<br />
Bedürfnisbefriedigungstankstelle eingesetzt wurden.<br />
4) Keine Sonderstellung auch in der Schule.<br />
Auch in der Klasse sollten alle Aufgaben gleich verteilt werden. Ob Blumenoder<br />
Tafeldienst oder Sportunterricht alles sollte mit einer Mischung aus<br />
Sanftmut, Konsequenz und Vermittlung von Freude gleichermaßen an die<br />
schweigenden Schüler herangetragen werden. Nehmen Sie sie wie<br />
selbstverständlich mit auf Klassenfahrten. Bahnen Sie Kommunikation an,<br />
egal auf welchem Niveau, auch nonverbal. Verteilen Sie Lob für gezeigte<br />
Leistungen und kleinste Signale der kommunikativen und sozialen Öffnung<br />
bzw. Einsatzbereitschaft. Ihre schweigenden Schüler werden es Ihnen danken.<br />
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Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 21
5) Beurteilung des Mündlichen in der Schule.<br />
Dieses Thema spaltet die Fachwelt in zwei Lager. Eine völlige Befreiung<br />
vom Mündlichen fördert wieder eine Sonderstellung, die den subjektiven<br />
Krankheitsgewinn fördert. Die Faustformel 80/20 könnte eine sinnvolle<br />
Orientierung sein. In die Benotung fließen also zu 20% die mündlichen<br />
Leistungen ein. So können Leseaufgaben oder Gedichte zu Hause oder im<br />
Gruppenraum auf Kassetten aufgenommen werden.<br />
6) Misserfolgserlebnisse im kommunikativen Bereich vermeiden.<br />
Im Unterricht / In der Gruppe sollten mutistische Schüler nicht bloßgestellt<br />
und nicht in den Mittelpunkt gestellt werden. Bei dieser sensiblen<br />
Gratwanderung darf aber auch kein subjektiver Krankheitsgewinn, durch<br />
eine Sonderbehandlung zugelassen werden.<br />
7) Anbahnung eines altersadäquaten Freizeitverhaltens<br />
Häufig können mutistische Kinder nicht ohne Stützräder Fahrrad fahren, sie<br />
schwimmen nicht oder klettern nicht auf Klettergerüste. Das ist verständlich,<br />
haben diese Freizeitgestaltungen doch etwas mit Angstbewältigung zu tun.<br />
Bahnen Sie das normale Freizeitverhalten von heutigen Kindern an. Sie<br />
trainieren damit auch etwas absolut Notwendiges: Angstbewältigung.<br />
8) Kindergeburtstage<br />
Finden Sie einen Rahmen in dem Ihr Kind seinen Geburtstag mit ein paar<br />
anderen Kindern feiert auch wenn Ihr Kind das nicht unbedingt wünscht.<br />
Sie dürfen folgende Selbstverständlichkeit nicht vergessen: Kinder brauchen<br />
Kinder!<br />
9) Einmal pro Woche Besuch mindestens eines Kindes<br />
Das kann der Besuch eines Kindes aus dem Kindergarten oder der Schule,<br />
aus der Nachbarschaft oder von Freunden sein. Das ist eine Hausaufgabe<br />
auch für die Eltern, in dem vorgegebenen Rhythmus soziale Kontakte zu<br />
begleiten. Die Eltern sollten hier als Vorbilder vorangehen und ihr Kind so<br />
unterstützen.<br />
FORUM TERMINE<br />
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Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 22
11) Förderung der Selbstständigkeit<br />
Auch wenn Ihr Kind die elterliche Fürsorge stark einfordert, sollten Sie eine<br />
altersgemäße Entwicklung der Selbstständigkeit im Auge behalten. Ob es<br />
nun um das Zähneputzen, das Sich-Anziehen oder das Schmieren von<br />
Broten geht, bei zu viel Schutz- und Hilfeleistung wird die Entwicklung Ihres<br />
Kindes nach hinten verschoben.<br />
11) Zur Wiederentdeckung der Vaterrolle<br />
Erziehung ist ein Gemeinschaftsprojekt. Ein Kind braucht beides: das<br />
Beschützende der Mutter sowie das Herausfordernde des Vaters. Ein<br />
Elternteil ist nur so gut in der Entfaltung seiner Möglichkeiten, wie<br />
der andere ihn lässt. Sprechen Sie mit Ihrem Partner über die Erziehung!<br />
FORUM TERMINE<br />
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Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 23
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 24<br />
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Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 25<br />
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Einführung für neue Kolleginnen in MSH<br />
Do. 13.10. 2011 8.30 - 16.00, SFZ Neuendettelsau<br />
Das seit Jahren bewährte Team stellt die Arbeitsweise der MSH vor, insbesondere<br />
organisatorische Dinge wie Meldung, Abrechnung und Führung von schriftlichen<br />
Unterlagen. Die drei Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und sozial-emotionale<br />
Entwicklung werden exemplarisch vorgestellt.<br />
Zeitnah im Herbst erfolgt auch für die neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
im MSD eine ganztägige Einführung. Der Termin wird zu Beginn des neuen<br />
Schuljahres bekannt gegeben.<br />
Sprachkoordinatoren am SFZ<br />
Mo. 24. - Di. 25. 10. 2011, Hesselberg<br />
Die Gruppe der Koordinatoren Sprache am SFZ wird sich <strong>zum</strong> Thema mündlicher<br />
Sprachgebrauch / Erzählen weiter bilden. Diese Erkenntnisse werden dann an die<br />
Kollegien der SFZ weiter gegeben. Anmeldung über FIBS.<br />
SVE-Tag<br />
Di. 25. Oktober 2011, 8.30 - 16.00 Uhr<br />
SFZ Nürnberg, Glogauer Straße<br />
An diesem Tag erfolgen am Vormittag zwei Hauptreferate (das erste über<br />
Verhaltensprobleme im Vorschulalter), das zweite über FAS (Fetales<br />
Alkoholsyndrom), am Nachmittag parallel mehrere Workshops in zwei Reihen, so<br />
dass jede Teilnehmerin die Möglichkeit hat, von den etwa 10 Beiträgen zwei zu<br />
besuchen. Anmeldung über FIBS.<br />
Sonderpädagog. Tag 2012<br />
Mittwoch 28.3. und Donnerstag 29.3. 2012<br />
SFZ Erlangen, Stintzingstraße<br />
Mittlerweile sind die Hauptreferate schon gesichert.<br />
Am Mittwoch 28.3. spricht Frau MRin Götz vom KM über den Stand der Inklusion<br />
in Bayern, insbesondere über schulrechtliche Veränderungen<br />
Am Donnerstag 29.3. konnte Prof. Breitenbach aus Berlin gewonnen werden, <strong>zum</strong><br />
Thema Leserechtschreibschwäche und deren Förderung zu referieren<br />
Wie immer ist der Eintritt mit 3 € für beide Tage sehr preiswert, ebenso der<br />
Sammelband mit den Kurzfassungen aller Referate. Keine Anmeldung nötig. Wer<br />
da ist, ist herzlich eingeladen.<br />
FORUM TERMINE<br />
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Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 26
Weitere Informationen<br />
Es wird eine Sammlung aller Multiplikatoren und Koordinatoren herausgegeben. In<br />
Kurzform sollen alle Gruppen ihre Tätigkeit beschreiben und vor allem die<br />
Möglichkeit der Zugangswege bzw. der Anforderung dieser Personen darstellen.<br />
Diese Sammlung soll jährlich aktualisiert werden.<br />
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Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 27
Neuer MSD Jahresbericht:<br />
An drei Stellen wird der MSD-Jahresbericht, sowohl die Abrechnung jeder MSD-<br />
Lehrkraft, als auch der Gesamtbericht der Schule durch die Schulleitung an einigen<br />
Stellen grundlegend verändert:<br />
1. Tätigkeiten der MSD-Lehrkraft:<br />
Ausgehend von den in BayEUG beschriebenen Tätigkeiten wurde unterschieden<br />
zwischen Diagnostik, Beratung und Förderung. Dazu wurden diese Tätigkeiten<br />
noch genauer aufgeschlüsselt. Dies wird ab sofort grundlegend geändert. Wir<br />
unterscheiden zwischen Tätigkeiten mit dem betroffenen Kind und Tätigkeiten für<br />
das betroffene Kind.<br />
2. Tätigkeitsfelder:<br />
Hier wird nun unterschieden in<br />
• traditionelle Arbeit des MSD<br />
• Kooperationsklassen<br />
• Einzelintegration<br />
• sonderpädagogische Beratungsstelle<br />
• Fallmanager<br />
3. Ausgefallene Stunden:<br />
Hier wollen wir auch genauer unterscheiden in<br />
• ausgefallen Stunden wegen Krankheit / Schwangerschaft<br />
• Vertretung an der eigenen Schule<br />
• eigene Fortbildungen (die selbst gehaltenen Fortbildungen werden unter<br />
Tätigkeiten des MSD abgerechnet)<br />
Auf der folgenden Seite ein vorläufiger Entwurf des Jahresberichts der Schulleitung.<br />
Analog sind die Vordrucke für die Lehrkräfte aufgebaut.<br />
FORUM TERMINE<br />
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Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 28
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 29<br />
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Nach jahrelanger Ruhezeit wird das SVE-Konzept nun an alle SVE-<br />
Gruppenleitungen am SVE-Tag (25.10.2011) verteilt.<br />
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 30
Diagnostik:<br />
Messung der nonverbalen Intelligenz mit den beiden Tests<br />
SON 2 ½ -7 und SON 5 ½ - 17<br />
Zu beiden Tests sind Materialien erschienen. Im Schuljahr 2011/12 werden die<br />
Verfahren von Fr. Walden, Herrn Hähnlein, Herrn Sauer und mir vorgestellt. Wir<br />
stellen fest, dass die Ermittlung der nonverbalen Intelligenz sicher keine<br />
Routinediagnose darstellt, aber für manche Fälle notwendig ist. Dafür sind die<br />
beiden Verfahren sehr geeignet und die Ergebnisse sind von höherer Qualität als<br />
andere Verfahren, die auch vorgeben, nonverbale Intelligenz zu messen.<br />
SON 2 ½ - 7 wurde in gut beraten 1/2007 vorgestellt.<br />
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In diesem Fallbuch - aus dieser Reihe ist uns wahrscheinlich das Fallbuch<br />
(Vorstellung in gut beraten <strong>Heft</strong> 6, 2010) <strong>zum</strong> HAWIKIV bekannt - wird in einem<br />
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 31
Artikel von Frau Walden und mir der Einsatz des SON für die jüngeren Kinder <strong>zum</strong><br />
Zwecke der sonderpädagogischen Begutachtung vorgestellt.<br />
FORUM TERMINE<br />
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Diese Arbeitsmaterialien <strong>zum</strong> SON für die älteren Kinder wurden erst kürzlich<br />
fertiggestellt und sind frei erhältlich über unser Internetportal<br />
ASCHUM - Förderschulen -Arbeitskreise<br />
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 32
Dr. Werner Laschkowski<br />
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Carin de Fries: DIFMaB (Diagnostisches Inventar zur Förderung<br />
Mathematischer Basiskompetenzen) verlag modernes lernen, Dortmund, 2008,<br />
22,50 € ISBN 978-3--8080-0624-5<br />
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 33
Vor vielen Jahren hat eine Arbeitsgruppe der Regierung von Mittelfranken<br />
Materialien zur Erfassung der mathematischen Basiskompetenzen erstellt. In der<br />
Zwischenzeit wurden auch einige Tests zu diesem Bereich entwickelt (z. B.<br />
BADYS 1-4, gut beraten <strong>Heft</strong> 4 2009, ZAREKI-K gut beraten <strong>Heft</strong> 5 2009).<br />
Auf der informellen Ebene und damit für die Förderung besser anwendbar,<br />
erscheint das Verfahren DIFMaB gut geeignet, preiswert und theoretisch gut<br />
fundiert. Es liegen zu allen Aufgaben gedruckte Materialien vor, die allerdings<br />
vorher ausgeschnitten werden müssen und ev. laminiert gehören. Das ist der zu<br />
leistende Aufwand. Dafür ist der Preis für ein diagnostisches Inventar sehr günstig.<br />
Ausgehend von einem auf drei Ebenen aufbauenden Modell<br />
und den drei Zugangswegen (nach Bruner und auch Aebli)<br />
KAS (Konkret, Abbildung, Symbole)<br />
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ist das Diagnostische Inventar sowohl im Vorschulalter als auch in der 1. - 2.<br />
Klasse einsetzbar. Bei rechenschwachen Kindern muß uns bewusst sein, dass die<br />
Defizite sehr tief reichen können, also bei Schulkindern durchaus im<br />
pränumerischen Bereich liegen können (Beispiel: Jutta Schäfer: Rechenschwäche<br />
in der Eingangsstufe der Hauptschule, 2005. Selbst bei Fünftklässlern wurden<br />
noch Schwächen in der Pränumerik - Mengenauffassung - und im Zahlenraum bis<br />
20 festgestellt).<br />
Zu drei grundlegenden Bereichen (Pränumerik, Zahlenraum und<br />
Operationsverständnis im Zahlenraum) werden Aufgaben mit den drei<br />
Repräsentationsebenen (konkret-handelnd, bildhaft und symbolisch) gestellt. Mit<br />
dem Begleitbogen können die Ergebnisse übersichtlich protokolliert werden.<br />
FORUM TERMINE<br />
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Ziel ist dabei nicht eine Klassifikation sondern das Finden von Ansatzpunkten der<br />
Förderung. Dies ist direkt möglich nach dem Begleitbogen. Auch zur Evaluation der<br />
Förderung kann der Bogen eingesetzt werden.<br />
Dr. Werner Laschkowski<br />
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 35
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 36<br />
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Buchbesprechungen<br />
Ratgeber Mutismus im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter<br />
von Dr. Boris Hartmann und Michael Lange<br />
Reihe: Ratgeber, Schulz-Kirchner-Verlag, 2003, 4. Auflage 2007<br />
ISBN 978-3-8248-0506-8<br />
64 Seiten, Preis: 8,40 Euro<br />
Diesen sehr preiswerten Ratgeber empfehlen wir zur ersten Information zu dem<br />
Thema. Wir schlagen ihn auch vor, wenn Eltern nach Literatur zu Mutismus fragen.<br />
Weitergehende Literatur ist im Literaturverzeichnis am ende des Artikels von Frau<br />
Ohrner zu finden. Insbesondere das Fachbuch von Prof. Dobslaff kann dazu<br />
dienen.<br />
Doch für die allgemeine Information reicht der Ratgeber aus.<br />
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Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 37
Die Zusammensetzung des Autorenteams ist bemerkenswert: Ein erfahrener<br />
Sprachheiltheraut und ein von Autismus Betroffener, der eine bundesweite<br />
Selbsthilfeorganisation mit gründete und leitet.<br />
In der Begriffsbestimmung wird zwischen selektiven und totalen Mutismus<br />
unterschieden. Entscheidend ist, dass eine Sprachentwicklung schon erfolgt ist.<br />
Die soziale Problematik der Isolation und des Rückzugs sind kennzeichnend, nicht<br />
die Sprachproblematik als solche. Ein weiteres Kennzeichen ist auch der häufig<br />
fehlende Blickkontakt.<br />
Die Diagnostik hat auf mehreren Ebenen zu erfolgen und ist immer fachärztlich<br />
abzuklären (Neurologie, HNO, Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Gefahr der<br />
Fehldiagnose ist groß und die Abgrenzung z. B. zu Autismus ist schwierig.<br />
Deshalb ist eine sorgfältige Differentialdiagnose wichtig.<br />
Als Ursachen konnten drei Bereiche nachgewiesen werden:<br />
Psychologisches Erklärungsmodell: Lernpsychologische (gelernte Modelle) und<br />
tiefenpsychologische (Verlustängste, Traumen) Ursachen sind bekannt.<br />
Organische Ursachen: Hirnverletzungen, Dispositionen<br />
Gentische Ursachen: Störungen des Neurotransmitters Serotonin, Störungen im<br />
limbischen System.<br />
In drei sozialen Lebensbereichen, Kindergarten, Schule, Erwachsenenwelt,<br />
kann Mutismus vorkommen. Praktikable Beratungshilfen werden angeboten. Als<br />
Erzieherin und Lehrkraft ist auch entscheidend die umgebenden Kinder mit<br />
einzubeziehen.<br />
Zuletzt werden drei therapeutische Ansätze vorgestellt: Psychiatrische Behandlung,<br />
psychotherapeutische Behandlung, Sprachtherapie / Logopädie.<br />
Abwarten oder fahrlässiges Kleinreden ("das wächst sich aus") sind völlig falsch.<br />
Eine gelingende Schullaufbahn steht auf dem Spiel!<br />
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Dr. Werner Laschkowski<br />
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 38
Lienhard-Tuggener u.a. Rezeptbuch schulische Integration<br />
Haupt Verlag, Bern, 2011, 32,90 €, ISBN 978-3-258-07488-7<br />
Schulische Integration auf schweizerisch? Ein weiteres Buch, das den<br />
(schwierigen) Weg der Integration - Inklusion beschreibt?<br />
Mitnichten!!<br />
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Der Beginn ist sehr schweizerisch orientiert. Wir erfahren, was wir schon ahnen,<br />
dass das (deutsch)schweizerische Schulwesen, ähnlich dem bayerischen, sehr<br />
separierend organisiert ist. Der Anteil der Kinder, die eine Förderschule besuchen<br />
beträgt in der Deutschschweiz 6 - 9 Prozent eines Jahrganges und liegt damit über<br />
den Zahlen der Bundesrepublik und auch über den bayerischen Zahlen. Die<br />
Forderung nach Inklusion hat aber auch die Schweiz erreicht und auch dort muss<br />
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 39
man sich Gedanken gemacht werden, wie die zukünftige schulische Organisation<br />
auszusehen hat. Doch das ist nicht Thema des Buches.<br />
Es geht vielmehr, nach einer kurzen Begriffsbestimmung, um die Beantwortung der<br />
Frage, wie gemeinsames Lernen, insbesondere gemeinsamer Unterricht ermöglicht<br />
werden kann. Dass die organisatorischen Randbedingungen wichtig sind, ist<br />
selbstverständlich, darf aber nicht als "Killerargument" missbraucht werden (Seite<br />
51).<br />
Entscheidend für das Gelingen von Integration ist guter Unterricht. Die<br />
Lernumgebung muß für die heterogene Schülergruppe besonders vorbereitet sein.<br />
10 didaktische Prinzipien werden aufgelistet und erläutert.<br />
1. Lebenswelten der Lernenden einbeziehen<br />
2. Inhalte variantenreich anbieten<br />
3. Aufgaben in verschiedenen Schwierigkeiten anbieten<br />
4. Beim Vorwissen an den Erfahrungen der Lernenden ansetzen<br />
5. Lernende mit einer Lernumgebung herausfo5ern<br />
6. Lernende nutzen das (Vor)Wissen<br />
7. Zeit nehmen für vollständige Lernprozesse<br />
8. Fertigkeiten und Wissen immer wieder repetieren<br />
9. Ziele vereinbaren und den Erfolg positiv verstärken<br />
10. Minimale Unterstützung bieten!<br />
Gelten diese Grundsätze nicht für jeden guten Unterricht?<br />
Im folgenden Kapitel werden praktikable Vorschläge zur Förderdiagnostik und<br />
Förderplanung gemacht.<br />
Im nächsten Kapitel wird zusammengetragen, was <strong>zum</strong> Gelingen schulischer<br />
Integration beiträgt: Als wichtigste Zutaten - gemäß dem Titel Rezeptbuch- gilt eine<br />
integrative Haltung. Dazu kommen Zusammenarbeit, guter Unterricht und<br />
Förderung und Steuerung und Qualitätsentwicklung. Die Autoren sehen den<br />
Weg zur integrativen Schule als einen umfassenden Schulentwicklungsprozess<br />
an.<br />
Empfehlenswerte Bücher und Materialien und ein Glossar schließen das<br />
lesenswerte und praxisorientierte Buch ab.<br />
Dr. Werner Laschkowski<br />
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Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 40
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verlag modernes lernen, Dortmund, 2. Auflage 2010, 19,50 €, ISBN 978-3-8080-<br />
0602-3<br />
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 41
Winfried Palmowski zählt in der Sonderpädagogik zu den profiliertesten Vertretern<br />
und ist vielen von uns schon bekannt als Autor von so anregenden Büchern wie<br />
"Anders handeln" , "Normal bin ich nicht behindert" oder "Der Anstoß des Steins".<br />
Er vertritt konsequent den systemisch-konstruktivistischen Ansatz.<br />
Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die Feststellung, dass personenbezogene<br />
Theorien in der Verhaltensgestörtenpädagogik (in der allgemeinen Pädagogik<br />
auch) wenig hilfreich sind. Die Feststellung, jemand ist immer störend, immer<br />
aggressiv etc., ist einfach falsch. Entscheidend ist, wie der Titel des Buches, der<br />
Kontext. Mit eindrucksvollen Beispielen wird dies überzeugend nachgewiesen.<br />
Nach der Darstellung von überholten Theorien aus dem personenbezogenen und<br />
soziologischen Bereich wird die systemische Sichtweise dargestellt. Dabei ist nicht<br />
alles sytemisch, was als solches verkauft wird. Beispielsweise ist in der Beratung<br />
das Sprechen mit allen Beteiligten noch nicht systemisch, ebenso wenig eine Kind-<br />
Umfeld-Analyse. Was genau das Systemisch-Konstruktivistische ausmacht, wird<br />
schrittweise erläutert.<br />
Im zweiten (praktischen) Teil des Buches möchte uns der Autor zeigen, wie aus<br />
einer systemischen Haltung systemische Handlungsansätze erfolgen können. Aus<br />
systemischer Sicht der Verhaltensgestörtenpädagogik steckt hinter jedem<br />
Störverhalten Sinnhaftigkeit und Funktionalität. An den klassischen Beispielen wie<br />
"Faulheit", "Schulverweigerung" und "Hyperaktivität" wird dies gezeigt.<br />
Systemisches Verhalten beinhaltet auch professionelle Beziehungskompetenz.<br />
Das was wir versuchen möglichst optimal zu gestalten, nämlich Diagnostik, wird<br />
als überflüssig angesehen. Das müssen wir als Leser erst mal verdauen. Zuletzt<br />
für uns als Sonderpädagogen mit tendenziellem Helfersyndrom verstörend: "Das<br />
Recht auf ein gescheitertes Leben ist unantastbar."<br />
In andere Worte gefasst: "Man kann das Pferd <strong>zum</strong> Wasser führen, aber man<br />
kann es nicht <strong>zum</strong> Trinken zwingen. Aber selbst wenn ihr Pferd durstig ist, kann es<br />
nicht trinken, solange sie es nicht <strong>zum</strong> Wasser führen. Das Hinführen ist ihre<br />
Sache" (Seite 185. Das Zitat ist von Bateson, einem Theoretiker der<br />
Systemtheorie). Dies soll eine professionelle Verhaltensgestörtenpädagogik nicht<br />
überflüssig machen, aber deutlich die Grenzen aufzeigen.<br />
Dr. Werner Laschkowski<br />
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Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 42
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Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 2011, 19,95 €, ISBN 978-3-608-94655-0<br />
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 43
Das ist eine Überraschung: Ein höchst anerkannter Neurobiologe kommt bei der<br />
Erklärung des Lernens nicht <strong>zum</strong> Schluss, dass "gehirngerechtes" Lernen sich<br />
neurobiologisch zu orientieren hat, wie manche Vertreter dieses Faches uns<br />
Lehrkräften weismachen wollen. Wir denken nur an den Hype, den Manfred<br />
Spitzer vor einigen Jahren erzeugte. Zum Glück hat Elsbeth Stern aus<br />
psychologisch-pädagogischer Sicht schnell geantwortet. Nun hat sich diese Welle<br />
etwas beruhigt.<br />
In Abgrenzung zur Psychologie stellt Roth ein neurobiologisches Modell der<br />
Persönlichkeit vor. Vier Ebenen interagieren und haben ihren materiellen Grund in<br />
bestimmten Hirnregionen:<br />
1. Vegetativ-affektiver Bereich<br />
2. Unbewusstes Selbst (hat nichts mit Freud und Tiefenpsychologie zu tun)<br />
3. Individuell-soziales Ich<br />
4. Kognitiv-kommunikatives Ich<br />
Wie das Gehirn aufgebaut ist und funktioniert, ist zwar interessant, aber<br />
letztendlich verzichtbar (sieh Anhang des Buches).<br />
Was entscheidend ist, sind psychologisch fundierte Aspekte wie Motivation, Fleiß<br />
und Intelligenz. Diese sind zwar <strong>zum</strong> großen Teil genetisch fundiert, aber haben<br />
hohes Entwicklungspotenzial.<br />
Das was sich daraus entwickelt ist Persönlichkeit.<br />
Ziel von Lernen, wir denken an den Untertitel des Buches ("Wie Lernen gelingt"),<br />
ist Bildung. Bildung und Persönlichkeit hängen auf doppelte Weise zusammen<br />
(Seite 308):<br />
1. Das Ziel von Schule ist die Entwicklung einer Persönlichkeit. Dazu gehören<br />
Aspekte wie Stressverarbeitung, Frustrationstoleranz, Emotionsregulation,<br />
Entwicklung von Selbstmotivation.<br />
2. Die Lehrkraft benötigt ebenso Persönlichkeit. "Der Lehrende ist kein bloßer<br />
Sender von Informationen, die vom Lernenden aufgenommen werden"<br />
(Seite 309)<br />
Das was Roth den Lehrkräften rät, ist nichts Neues, z. B. Abwechslung der<br />
Darbietung des Stoffes, Üben und Wiederholen, Sinnhaftigkeit der Inhalte,<br />
Förderung von Motivation und Selbstvertrauen, Angstfreiheit in der Schule,<br />
Teamarbeit unter Lehrkräften usw.<br />
Wenn dies ein Neurobiologe sagt, hat dies vielleicht größere Wirkung!<br />
Zuletzt noch ein prägantes Zitat (Seite 312): " Generell gilt: Der Frontalunterricht<br />
eines kompetenten, einfühlsamen und begeisternden Lehres ist allemal wirksamer<br />
als eine wenig strukturierte Gruppenarbeit und ein nicht überwachtes Einzellernen."<br />
Dr. Werner Laschkowski<br />
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Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 44
Regierung von Mittelfranken – Förderschulbereich – <strong>Heft</strong> 9/Sept. 2011 45<br />
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