Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte - Institut für Zeitgeschichte
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274 Theodor Eschenburg<br />
schwerden den parlamentarischen Interpellationen ähnlich, allerdings mit dem<br />
Unterschied, daß die Landrätetagung kein Parlament war.<br />
Sehr bald kam gesprächsweise <strong>für</strong> die Beschwerden die Bezeichnung „gravamina"<br />
auf. Seit dem 15. Jahrhundert wurden die Klagen über die Mißstände in der Kirche<br />
als weltlicher Anstalt und auf diese sich beziehende Verbesserungsvorschläge, die<br />
die Reichsstände einzeln oder auf dem Reichstag in ihrer Gesamtheit vorbrachten,<br />
„gravamina" genannt. Für den Reichstag zu Worms 1521 hatte ein Ausschuß aus<br />
Einzelbeschwerden von Angehörigen der Reichsstände die gravamina zusammengestellt.<br />
Gewiß lassen sich diese „gravamina nationis germaniae", wie sie offiziell<br />
hießen, mit den Klagen der Landräte in dem kleinen Württemberg-Hohenzollern<br />
kaum vergleichen, und doch bestand insofern eine gewisse Ähnlichkeit, als es sich<br />
bei den Landräteklagen um korporative Beschwerden handelte. Dadurch, daß der<br />
Sprecher der Landräte sie in Verhandlungen mit den Obleuten unter einer Vielzahl<br />
auswählte und vortrug, erhielten sie ein besonderes Gewicht. Die Sprecher der<br />
Landräte griffen auch auf früher vorgetragene Beschwerden zurück und mahnten<br />
die Abhilfe an. Dadurch, daß sich diese Bezeichnung einbürgerte, kam zum Ausdruck,<br />
daß sich die Landesdirektoren und Landräte des Wertes dieser <strong>Institut</strong>ion<br />
mehr und mehr bewußt wurden.<br />
Die Beschwerden, vor allem soweit sie auf der Landrätetagung selber nicht befriedigend<br />
erledigt werden konnten, wurden vielfach in den Sitzungen des Landesdirektoriums<br />
erneut erörtert. Ihm gegenüber mußte der betroffene Landesdirektor<br />
sich verantworten. Schmid erhielt dadurch eine Handhabe zur Aufsicht über die<br />
Landesdirektionen; die Landesdirektoren, die ja insgesamt eine Art Regierungskollegium<br />
bildeten, erhielten eine solche zur gegenseitigen Kontrolle, aber auch zur<br />
Überwachung ihrer Bürokratie. Eine Parlamentskontrolle gab es damals noch nicht,<br />
und der Pressekontrolle standen nur sehr begrenzte Möglichkeiten zur Verfügung.<br />
Über diese Auseinandersetzungen auf den Landrätetagungen wurden die Zeitungen<br />
auch nicht informiert. Aber durch die Anwesenheit der Landräte und Oberbürgermeister<br />
war ja eine Art begrenzter Öffentlichkeit entstanden.<br />
Die Landesdirektoren waren faktisch <strong>für</strong> ihre Äußerungen und Maßnahmen in<br />
erster Linie der französischen Militärregierung verantwortlich, die sich, abgesehen<br />
von gewissen institutionellen Grundsatzfragen, weitgehend an den Interessen der<br />
Besatzungsmacht, nicht an denen der Regierten orientierte. Die Landesdirektoren<br />
und deren Beamtenstab mußten bei ihren Maßnahmen von der Überlegung ausgehen,<br />
wie diese von der Landrätetagung aufgenommen wurden. Gewiß war diese<br />
kein Ersatz <strong>für</strong> ein Parlament, aber sie stellte gegenüber dem parlamentslosen Zustand<br />
eine wesentliche Verbesserung dar. Durch die Art und Weise, wie die Landrätetagung<br />
in Württemberg-Hohenzollern verhandelte, entwickelte sich extra<br />
legem eine politische Verantwortung innerhalb des mehr und mehr wachsenden<br />
deutschen Zuständigkeitsbereichs, und zwar einfach schon dadurch, daß die Re-<br />
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