DAYLIGHT & ARCHITECTURE - Grado Zero Espace Srl
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FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05 TEXTUR & LICHT 10 EURO<br />
FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05 TEXTUR & LICHT 10 EURO<br />
<strong>DAYLIGHT</strong> &<br />
<strong>ARCHITECTURE</strong><br />
ARCHITEKTUR-<br />
MAGAZIN VON<br />
VELUX<br />
<strong>DAYLIGHT</strong> & <strong>ARCHITECTURE</strong> ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX
<strong>DAYLIGHT</strong> & <strong>ARCHITECTURE</strong><br />
ARCHITEKTURMAGAZIN<br />
VON VELUX<br />
FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />
Herausgeber<br />
Michael K. Rasmussen<br />
VELUX-Redaktionsteam<br />
Christine Bjørnager<br />
Nicola Ende<br />
Lone Feifer<br />
Lotte Kragelund<br />
Torben Thyregod<br />
Redaktionsteam<br />
Gesellschaft für Knowhow-<br />
Transfer<br />
Thomas Geuder<br />
Annika Dammann<br />
Jakob Schoof<br />
Korrektorat englisch<br />
Tony Wedgwood<br />
Korrektorat deutsch<br />
Gisela Faller<br />
Bildredaktion<br />
Torben Eskerod<br />
Adam Mørk<br />
Website<br />
www.velux.de/Architektur<br />
Auflage<br />
90,000 Stück<br />
ISSN 1901-0982<br />
Dieses Werk und seine Beiträge sind<br />
urheberrechtlich geschützt. Jede<br />
Wiedergabe, auch auszugsweise,<br />
bedarf der Zustimmung der VELUX<br />
Gruppe.<br />
Die Beiträge in Daylight&Architecture<br />
geben die Meinung der Autoren wieder.<br />
Sie entsprechen nicht notwendigerweise<br />
den Ansichten von VELUX.<br />
© 2007 VELUX Group.<br />
® VELUX und das VELUX Logo sind<br />
eingetragene Warenzeichen mit Lizenz<br />
der VELUX Gruppe.<br />
Art Direction und Layout<br />
Stockholm Design Lab ®<br />
Sharon Hwang<br />
Kent Nyberg<br />
www.stockholmdesignlab.se<br />
Umschlagbild<br />
Hands, 1997<br />
Foto: Gary Schneider<br />
Umschlagbild innen<br />
Orion-Nebel, aufgenommen vom<br />
Hubble Space Telescope<br />
Foto: NASA
DISKURS<br />
VON<br />
ARTHUR<br />
ZAJONC<br />
Arthur Zajonc ist Professor der Physik am Amherst<br />
College in Amherst, Massachusetts, USA, wo er seit<br />
1978 lehrt. Seine Forschungsschwerpunkte sind die<br />
experimentellen Grundsätze der Quantenphysik und<br />
die Beziehung zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften.<br />
Sein Buch „Catching the Light“ über die<br />
Geschichte des Lichts in der menschlichen Kultur<br />
erschien 1993. 1997 und 2002 war Arthur Zajonc<br />
wissenschaftlicher Koordinator für die „Mind and Life“-<br />
Dialoge mit dem Dalai Lama. Zudem war er Präsident<br />
der Anthroposophischen Gesellschaft in Amerika.<br />
Die Berührung des Lichts verändert alles. Was im Dunkeln verborgen<br />
lag, wird enthüllt, und versteckte Orte werden unter dem Tanz<br />
des Lichtes sichtbar. Obgleich Licht selbst unsichtbar ist, sehen<br />
wir durch seine selbstlose Aktivität. In der Physik wird die Feinheit<br />
der Lichtberührung anhand seiner Wellenlänge gemessen.<br />
Die fast unmessbare innere Bewegung des sichtbaren Lichts<br />
garantiert, dass selbst das winzigste Detail, die subtilste Textur<br />
sichtbar bleibt. Die raue Oberfläche des Metalls und die faserartigen<br />
Fäden des Spinnennetzes würden in der Unsichtbarkeit verschwinden,<br />
wenn Licht ‚größer‘, seine Wellenlänge länger wäre.<br />
Einstein hat uns auf die einzigartige Funktion der Lichtgeschwindigkeit<br />
hingewiesen, die ein universelles Absolutes in<br />
einem relativen Universum ist, eine ultimative Begrenzung in einem<br />
grenzenlosen Universum. Er und Max Planck haben entdeckt, dass<br />
Licht, obwohl es keine Masse besitzt, sein kleinstes Teil hat – das<br />
Quant oder Photon. Und doch entzieht sich dieses Quant, wie das<br />
Licht selbst, unserem konzeptuellen Verständnis, indem es seine<br />
subtile Mehrdeutigkeit und Ganzheit bei allen Versuchen, es<br />
einzugrenzen und zu definieren, beibehält. Endlose Jahre reist das<br />
Sternenlicht durch die weitesten Weiten des Raums und vom<br />
Beginn der Zeit, um unsere Augen zu erreichen. Durch das Wunder<br />
der Gegenseitigkeit sind unsere Augen so perfekt an das Licht<br />
angepasst, dass nur ein paar wenige Quanten zum Sehen benötigt<br />
werden. Was in unseren Augen eine Reise des Lichts von zehn Milliarden<br />
Jahren durch den Kosmos bedeutet, ist für das Photon nur<br />
ein kleiner Augenblick – das sind die Mysterien der Relativität.<br />
Durch die Beherrschung des Feuers haben wir das Licht vom<br />
Himmel in unsere Häuser gebracht. Im Licht der Kerze denken wir<br />
nach, lesen, zeichnen oder beten. Seine zeitlose Helligkeit breitet<br />
sich aus, um mit einer kleinen Flamme einen ganzen Raum zu<br />
erhellen, doch dann strömt es über uns hinweg in den Nachthimmel,<br />
den Sternen entgegen: unser Licht von Angesicht zu<br />
Angesicht mit dem Sternenlicht.<br />
Wenn Licht unsere Körper streift, erwärmen und öffnen wir<br />
uns, wie dunkle Heiligtümer sich der Leuchtkraft der Sonne und<br />
des Himmels öffnen. Es ist nicht verwunderlich, dass Kathedralenbauer<br />
im Dienste der Theologie die Geometrie mit dem Licht<br />
verknüpft haben; und es ist ebenso wenig verwunderlich, dass die<br />
Evolution im Dienste des Lebens Verwendung für die stillen Kräfte<br />
des Sonnenlichts hat. Licht ist der Architekt der organischen Welt,<br />
und im Gegensatz dazu ist in der Architektur „die Struktur der<br />
Spender des Lichts“, wie Louis Kahn einmal schrieb.<br />
1
VELUX EDITORIAL<br />
‚ZUGREIFEN!’<br />
Form und Fläche verleihen jeder Struktur ihre endgültige<br />
materielle Gestalt. Die Struktur wiederum<br />
ist greifbare oberste Schicht aller Dinge und Substanzen.<br />
Diese Zusammenhänge erfassen wir<br />
durch das Auge.<br />
Seit Anbeginn der Menschheit vertrauen<br />
wir auf unser Urteilsvermögen, das maßgeblich<br />
von unserer optischen Wahrnehmung abhängt.<br />
Manchmal aber entspricht das, was wir sehen,<br />
nicht unseren Erwartungen – vor allem dann, wenn<br />
wir uns auf den Tastsinn verlassen und Materialien<br />
durch Hautkontakt ‚erspüren’. Unsere Wahrnehmung<br />
und unser Verständnis von Flächen und Gegenständen<br />
passen wir dementsprechend an.<br />
Die aktuelle Ausgabe von Daylight & Architecture<br />
kratzt an der Oberfläche, um herauszufinden,<br />
was sich hinter dem Sichtbaren verbirgt.<br />
Begeben wir uns auf die Suche nach Wundern<br />
oder treffen wir möglicherweise auf ein dunkles<br />
Nichts? Wir möchten das Äußere nach innen und<br />
das Innere nach außen kehren. „Das habe ich mit<br />
eigenen Augen gesehen“ – wird diese gern verwendete<br />
Phrase in Zukunft noch Bedeutung haben?<br />
Wir befragten 13 Experten aus verschiedenen<br />
Bereichen der Kunst und Wissenschaft zu ihrer<br />
Auffassung von Oberflächen in Wechselwirkung<br />
mit natürlichem Licht. Ihre Antworten geben Aufschluss<br />
über das, was dem bloßen Auge verborgen<br />
bleibt, und liefern interessante Denkansätze, unser<br />
Lebensgefüge neu zu reflektieren.<br />
Fassade und Dach eines Gebäudes ähneln der<br />
menschlichen Haut. Sie reagieren auf wechselnde<br />
Umwelteinflüsse und dienen nicht nur als Schutz,<br />
sondern schaffen auch notwendige Bedingungen<br />
für Gesundheit und Wohlbefinden. Ohne Tageslicht<br />
gibt es kein Leben: Das Licht bestimmt unsere<br />
räumliche Wahrnehmung und beeinflusst unseren<br />
Gemütszustand. VELUX möchte neue Standards<br />
für Raumkomfort und effiziente Energienutzung<br />
setzen, um heutige Lebensqualität und moderne<br />
Arbeitsbedingungen noch zu verbessern. Das Konzepthaus<br />
Atika von VELUX, das wir ebenfalls in<br />
dieser Ausgabe vorstellen, lässt diese Vision im<br />
Maßstab 1:1 Wirklichkeit werden.<br />
Viel Vergnügen beim Lesen der 5. Ausgabe von<br />
Daylight&Architecture.<br />
VELUX<br />
FRÜHJAHR 2007<br />
AUSGABE 05<br />
INHALT<br />
1 Diskurs von Arthur Zajonc<br />
2 VELUX Editorial<br />
3 Inhalt<br />
4 Jetzt<br />
8 Mensch und Architektur<br />
Tendenzen des Lichts<br />
14 Tageslicht<br />
Unter die Haut<br />
74 Licht Europas<br />
Ostanatolien, Türkei<br />
76 Reflektionen<br />
Abbild und Realität<br />
84 Tageslicht im Detail<br />
Virtuelles Licht und digitale Schatten<br />
90 VELUX Einblicke<br />
Hinter schweren Mauern<br />
Museum in Brie-Comte-Robert<br />
98 VELUX Panorama<br />
Über den Dächern Europas<br />
Konzepthaus ATIKA<br />
Cabrio aus Lärchenholz<br />
Haus Klimczyk in Rieden<br />
108 VELUX im Dialog<br />
Light of Tomorrow<br />
Interview mit Louise Grønlund<br />
Interview mit Gonzalo Pardo<br />
Interview mit Anastasia Karandinou<br />
116 Bücher<br />
Rezensionen<br />
Empfehlungen<br />
120 Vorschau<br />
4<br />
8<br />
JETZT<br />
Le Corbusiers wohl letztes Meisterwerk ist im<br />
französischen Firminy eingeweiht worden. Das<br />
Haus der Kunst in München lädt zur Andreas-<br />
Gursky-Retrospektive. Ein Apartmenthaus in<br />
Mexiko City schmückt sich mit mundgeblasenen<br />
Glaskugeln, eines in München mit siebgedruckten<br />
Kastanienblättern. Außerdem: das neue Konzerthaus<br />
in Badajoz von José Selgas und Lucia Cano.<br />
MENSCH UND ARCHITEKTUR<br />
TENDENZEN DES LICHTS<br />
Ideologien, aber auch regional unterschiedliche<br />
Lichtverhältnisse und Bautraditionen haben den<br />
Umgang der modernen Architektur mit Licht und<br />
Oberflächen geprägt. Wie sich Architekten im<br />
Spannungsfeld zwischen konstruktiver Ehrlichkeit<br />
und geschickter Verkleidung bewegten und<br />
wie sie mit Licht und Schatten, Reflexionen und<br />
Transluzenz arbeiteten, erläutert Richard Weston<br />
in seinem Beitrag.<br />
2 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
TAGESLICHT<br />
UNTER DIE HAUT<br />
14<br />
Was geschieht, wenn Licht auf Oberflächen trifft?<br />
Wie tief reicht seine Wirkung? Und wie hat sich<br />
unsere Wahrnehmung von Texturen und Licht<br />
im Laufe der Jahrhunderte verändert? Ein Essay<br />
und 13 Interviews mit Künstlern, Architekten und<br />
Naturwissenschaftlern geben Auskunft.<br />
REFLEKTIONEN<br />
ABBILD UND REALITÄT<br />
76<br />
Zweidimensionale Bilder werden auch künftig<br />
unsere Architekturwahrnehmung bestimmen,<br />
prognostiziert Ivan Redi. Denn sie helfen uns, gedachte<br />
Realitäten zu überprüfen. In seinem Beitrag<br />
beschreibt Redi den Weg, den die Architekturdarstellung<br />
in den vergangenen 250 Jahren genommen<br />
hat, von Piranesis ‚Carceri‘ bis zu den heutigen fotorealistischen<br />
Lichtsimulationen.<br />
VELUX EINBLICKE<br />
HINTER SCHWEREN MAUERN<br />
90<br />
Das archäologische Museum in der Burg von<br />
Brie-Comte-Robert ist nicht für die Ewigkeit<br />
gebaut. Leicht konstruiert und im Bedarfsfall<br />
schnell wieder zu entfernen, besitzt es doch all<br />
die Qualitäten eines vollwertigen Museums – allen<br />
voran ein angenehmes Innenraumklima und Säle<br />
voller Tageslicht.<br />
VELUX PANORAMA<br />
98<br />
104<br />
Nach dem Prinzip eines Cabriolets konstruierten<br />
Becker Architekten das Haus Klimczyk in<br />
Rieden: Die Lärchenholzverkleidung der großen<br />
Loggien lässt sich komplett zur Seite falten. Auch<br />
das mobile Konzepthaus Atika besticht durch<br />
seine ausdifferenzierte, dem Lauf der Sonne angepasste<br />
Architektur. Es beweist, dass Leichtbau auch<br />
in südlichen Breiten sinnvoll sein kann.<br />
3
JETZT<br />
Was Architektur bewegt: Veranstaltungen,<br />
Wettbewerbe und ausgewählte Neuentwicklungen<br />
aus der Welt des Tageslichts.<br />
FOTO: FERNANDO CORDERO<br />
FASSADENKUNST,<br />
MUNDGEBLASEN<br />
Es behaupte noch jemand, Handarbeit<br />
spiele in der modernen Architektur<br />
keine Rolle mehr: In der<br />
Colonie Polanco in Mexico City haben<br />
Alejandro Vilareal und sein Architektur-<br />
und Designbüro Hierve Diseñería<br />
unlängst das Apartmenthaus ‚Hesiodo‘<br />
fertig gestellt, dessen schroffe<br />
Betonfassaden von insgesamt<br />
7723 mundgeblasenen Glaskugeln<br />
wie von einem überdimensionalen<br />
Perlenvorhang umspielt werden. Die<br />
Inspiration zu diesem ungewöhnlichen<br />
Fassadenschmuck erhielt Alejandro<br />
Vilareal auf den Straßen seiner<br />
Heimatstadt: „Die Idee stammt von<br />
den Märkten in Mexico City und der<br />
Art, wie das Obst und Gemüse dort<br />
gestapelt werden; vom Anblick der<br />
Kinder, die auf einem öffentlichen<br />
Platz mit Seifenblasen spielen, aus der<br />
Notwendigkeit, Magie und Unschuld<br />
in unser Alltagsleben zu bringen, und<br />
hauptsächlich aus der Erinnerung,<br />
dass Schönheit in unserem Alltag<br />
eine Rolle spielen kann, wenn wir ihr<br />
eine Chance geben.“<br />
Das Haus steht in einer kleinen<br />
Straße in einer Wohngegend von<br />
Mexico City, unweit eines belebten<br />
Einkaufsgebiets. Seine beiden Gebäudeteile<br />
– ein viergeschossiges<br />
Vorderhaus im Norden und ein fünfgeschossiges<br />
Hinterhaus im Süden –<br />
bieten Platz für 13 Wohnungen und<br />
eine Tiefgarage. Eine zentral gelegene<br />
Erschließungszone mit Lobby,<br />
Treppen und Aufzügen verbindet die<br />
beiden Gebäudeteile miteinander. Auf<br />
der nördlichen, niedrigeren Gebäudehälfte<br />
wurde eine Dachterrasse angelegt,<br />
die allen Hausbewohnern für<br />
Feste und Veranstaltungen zur Verfügung<br />
steht. Die zerbrechlichen ‚Vorhänge‘<br />
aus Glaskugeln schützen die<br />
Nord- und Südfassaden des Hauses<br />
sowie die Dachterrasse vor allzu direkten<br />
Einblicken. Von innen gesehen,<br />
legen sie sich wie ein weicher, grüner<br />
Schleier vor das mitunter chaotisch<br />
anmutende Stadtpanorama von Mexico<br />
City. Die Kugeln wurden in einer<br />
Glasbläser-Werkstatt in Guadalajara<br />
hergestellt und anschließend mit handelsüblichen<br />
Muttern und einer Zwischenlage<br />
aus EPDM-Gummi an<br />
Drahtseilen befestigt. Jedes der vor<br />
die Fassaden gespannten Seile trägt<br />
maximal 27 Kugeln. Der Witterung<br />
hat die ungewöhnliche Fassadenkonstruktion<br />
nach Aussage von Alejandro<br />
Vilareal bislang bestens standgehalten;<br />
lediglich die Reinigung gestaltet<br />
sich etwas aufwändig: Sie nimmt<br />
rund doppelt so viel Zeit in Anspruch<br />
wie bei einer ‚normalen‘ Fassade.<br />
4 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
ANDREAS GURSKY<br />
IM HAUS DER KUNST<br />
ANDREAS GURSKY: BAHRAIN I, 2005 C-PRINT, 299 × 215 CM. COPYRIGHT ANDREAS GURSKY / VG BILD-KUNST. COURTESY MONIKA SPRÜTH / PHILOMENE MAGERS<br />
Seine Fotografien monumentaler<br />
Architekturen, gigantischer<br />
Menschenmengen und greller<br />
Konsumwelten, meist aus der<br />
Vogelperspektive aufgenommen und<br />
im Großformat reproduziert, haben<br />
Andreas Gursky zum – gemessen am<br />
Verkaufspreis seiner Bilder – erfolgreichsten<br />
lebenden Fotografen gemacht.<br />
Noch bis zum 13. Mai 2007<br />
zeigt das Münchner Haus der Kunst<br />
nun eine Werkschau mit fünfzig Aufnahmen<br />
des 1955 geborenen Künstlers.<br />
„Noch größer“ lautet einer<br />
der Leitsätze für die neue Gursky-<br />
Ausstellung: Nicht nur die Ausstellungsfläche<br />
ist opulente 1800<br />
Quadratmeter groß, auch viele Fotografien<br />
wurden mittels der heute zur<br />
Verfügung stehenden Möglichkeiten<br />
neu überarbeitet und größer reproduziert.<br />
Die größten unter ihnen messen<br />
nun 188 x 508 Zentimeter.<br />
Andreas Gursky studierte Anfang<br />
der 80er-Jahre an der Staatlichen<br />
Kunstakademie in Düsseldorf<br />
unter Bernd und Hilla Becher. Schon<br />
bald löste sich Gursky jedoch von<br />
deren minimalistischer, streng dokumentarischer<br />
Fotografie und begann,<br />
die Warenkultur, Architektur<br />
und Kulturlandschaft des Menschen<br />
in sorgfältig komponierten Monumentalbildern<br />
festzuhalten, die er<br />
digital nachbearbeitete, um die Bildaussage<br />
zu schärfen. Der Einzelne<br />
wird in Gurskys Bildern zum Mitspieler<br />
in einer scheinbar maßstabslosen<br />
Maschinerie, die als ravende<br />
Menschenmasse ebenso in Erscheinung<br />
treten kann wie in Form überdimensionierter<br />
Hotelfoyers oder eines<br />
voll besetzten Börsenparketts.<br />
Als weitere Stationen der Münchner<br />
Andreas-Gursky-Ausstellung<br />
sind derzeit das Istanbul Modern,<br />
das Sharjah Art Museum, das House<br />
of Photography in Moskau und die<br />
National Gallery of Victoria in Melbourne<br />
vorgesehen.<br />
5
FOTO: KATHRIN SCHÄFER<br />
FOTO: ROLAND HALBE<br />
STRASSENGRÜN ALS<br />
KUNSTOBJEKT<br />
LEUCHTKRANZ AUF DER<br />
MAUERKRONE<br />
Die Gabelsbergerstraße im Münchner<br />
Stadtteil Maxvorstadt hat sich<br />
in den Nachkriegsjahrzehnten zu<br />
einer „Rennstrecke“ für den Durchgangsverkehr<br />
entwickelt. Tausende<br />
Fahrzeuge nutzen die Einbahnstraße<br />
täglich, um in die Innenstadt zu gelangen.<br />
Nicht ein Baum belebt den trostlosen<br />
Straßenraum, der von wenig<br />
attraktiven Nachkriegsbauten flankiert<br />
wird. Zu ihnen gehörte lange<br />
Zeit auch das Haus Gabelsberger<br />
Straße 30: Seine Fassade war in den<br />
70er-Jahren durch ein Rautenmuster<br />
in Ocker und Braun ‚verziert‘ worden<br />
und wirkte doch trist und kahl.<br />
2004 erhielt der junge Münchner<br />
Architekt Jakob Bader den Auftrag,<br />
das fünfgeschossige Wohnhaus<br />
umzubauen und aufzuwerten. Zum<br />
Ausgangspunkt seines Entwurfs<br />
machte Bader den eklatanten Mangel<br />
an Straßengrün. Bäume, eine<br />
Allee, so sein erster Gedanke, würden<br />
Schatten spenden, den Verkehrslärm<br />
mindern und dem gesamten<br />
Straßenraum ein attraktiveres Gepräge<br />
geben. Da es nicht möglich war,<br />
einfach einige Bäume auf dem Gehsteig<br />
zu pflanzen, beauftragte Bader<br />
die Foto-Künstlerin Kathrin Schäfer<br />
mit Aufnahmen von Kastanienlaub.<br />
Die in München sehr populären Allee-<br />
und Biergartenbäume sollten, auf<br />
Glasscheiben gedruckt, die Hausbewohnern<br />
zumindest dem Gefühl nach<br />
‚im Grünen‘ wohnen lassen. Maler<br />
strichen das Haus in frischer grüner<br />
Farbe; ein Schlosser montierte rund<br />
120 laufende Meter Stahlschienen<br />
wie Eisenbahnschienen vor die Fassade.<br />
In ihnen laufen insgesamt 56<br />
Schiebeläden aus bedrucktem Glas:<br />
eine bewegliche Allee, saftig leuchtend<br />
und wildromantische Blätterschatten<br />
nach drinnen werfend, die<br />
vom ‚Original‘ auf den ersten Blick<br />
nicht zu unterscheiden sind.<br />
Badajoz, die spanisch-portugiesische<br />
Grenzstadt am Ufer des Guadiana,<br />
hat sich auch in Zeiten der<br />
europäischen Einigung noch ihr<br />
wehrhaftes Äußeres erhalten. Eine<br />
weitläufige, im portugiesischen Unabhängigkeitskrieg<br />
1640 – 1668<br />
nach dem Vorbild des französischen<br />
Ingenieurs Vauban errichtete Festungsmauer<br />
umgibt den Stadtkern.<br />
Sie diente in den folgenden Jahrhunderten<br />
nicht immer nur kriegerischen<br />
Zwecken: Schon im 18. Jahrhundert<br />
erhielt eine der weit ausgreifenden<br />
Bastionen eine kreisrunde Vertiefung,<br />
die als Stierkampf-Arena oder<br />
Freilufttheater genutzt werden<br />
konnte. Oder als Kongresszentrum:<br />
So sahen es die Vorgaben für den Architektenwettbewerb<br />
1999 vor, den<br />
das Büro selgascano von José Selgas<br />
und Lucia Cano gewann. „Alles, was<br />
wir suchten, war immer schon vorhanden<br />
– direkt vor unseren Augen“,<br />
sagen die Architekten heute. Folgerichtig<br />
gab das kreisrunde ‚Loch‘<br />
nicht nur die Form des Neubaus vor,<br />
es diente auch dazu, dessen 17 500<br />
Quadratmeter Nutzfläche und das<br />
bis zu 25 Meter hohe Bühnenhaus<br />
des Auditoriums fast vollständig im<br />
Inneren der Bastion verschwinden<br />
zu lassen. Lediglich durch zwei transluzente<br />
Kunststoffzylinder gibt sich<br />
das Gebäude von außen überhaupt<br />
zu erkennen. Der äußere Zylinder, eigentlich<br />
nur Sichtblende und Schattenspender,<br />
besteht aus schlanken,<br />
glasfaserverstärkten Polyesterstäben<br />
auf einer Stahl-Unterkonstruktion.<br />
Der zweite, innere Zylinder<br />
wirkt wie eine räumliche Verdichtung<br />
des ersten; er besteht aus transluzentem<br />
Polyacrylat, das tagsüber<br />
zu einer gigantischen Projektionsfläche<br />
für die von außen aufgestrahlten<br />
Lichter und Schatten wird und<br />
nachts, künstlich hinterleuchtet, seinerseits<br />
nach draußen strahlt. Mit<br />
äußerster Kunstfertigkeit lenkten<br />
selgascano das Tageslicht auch in die<br />
tief in der alten Bastion gelegenen<br />
Räume, zumal in das große, 1000<br />
Zuschauer fassende Auditorium unterhalb<br />
des Plexiglaszylinders. Durch<br />
ein rundes Dachoberlicht fällt das Tageslicht<br />
auf eine wellenförmig geschwungene<br />
Lamellendecke, die das<br />
Licht gleichförmig im Raum verteilt.<br />
Die Projektion des runden ‚Sonnenflecks‘<br />
bleibt dabei von innen jederzeit<br />
sichtbar und lässt die Zuschauer<br />
den Weg der Sonne um das Gebäude<br />
nachvollziehen.<br />
6 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
FOTO: ROLAND HALBE<br />
FOTO: ROLAND HALBE<br />
LICHT-TONLEITER<br />
SPÄTVOLLENDETES<br />
MEISTERWERK<br />
Auf den Mühlbachäckern im Süden<br />
der Universitätsstadt Tübingen ist<br />
in den vergangenen Monaten ein<br />
Gewerbegebiet der besonderen Art<br />
entstanden. Nicht nur Privatunternehmen,<br />
sondern auch das Tübinger<br />
Landratsamt ließen sich hier, zentral<br />
gelegen und doch von einem Park umgeben,<br />
nieder. Das größte Gebäude<br />
im Quartier, die neue Hauptverwaltung<br />
der Tübinger Stadtsparkasse,<br />
wurde von den Stuttgarter Architekten<br />
Auer+Weber+Assoziierte geplant<br />
und fällt äußerlich nicht eben<br />
durch Extravaganz ins Auge. Den<br />
im Grundriss quadratischen, sechsgeschossigen<br />
Kubus umgibt ein frei<br />
stehendes Stahlgerüst, das die Sonnenschutz-Jalousien<br />
aufnimmt und<br />
ungewöhnlich stark an die Spätwerke<br />
Mies van der Rohes aus den<br />
USA erinnert. Und auch in punkto<br />
Offenheit durchweht den Neubau<br />
der Mies’sche Geist: Sofern der Sonnenschutz<br />
gerade nicht die Sicht<br />
verdeckt, genießen die Büroangestellten<br />
durch raumhohe Dreifachverglasung<br />
den ungehinderten Blick<br />
nach draußen. Die Innenräume wurden<br />
für deutsche Verhältnisse außerordentlich<br />
weitläufig angelegt;<br />
abgetrennte Einzelbüros erhielten<br />
lediglich die leitenden Angestellten.<br />
Das lichterfüllte Herz des so genannten<br />
‚Sparkassen Carrés‘ ist das glasüberdeckte<br />
Forum im Innenhof, das<br />
500 Personen fasst und für Veranstaltungen<br />
genutzt wird. Mit Leben<br />
erfüllen diesen Raum indes nicht nur<br />
die Nutzer: Die in das Glasdach integrierte<br />
Glasskulptur ‚chromatic<br />
scale‘ des Künstlers Bernhard Huber<br />
filtert und färbt das einfallende Tageslicht<br />
in einem sonnigen Gelbton.<br />
Der englische Begriff ‚Scale‘ steht für<br />
‚Skala‘ oder ‚Tonleiter‘, und als solche<br />
möchte auch Huber sein Kunstwerk<br />
verstanden wissen. Er unterteilte<br />
das Glasdach in einzelne, parallele<br />
Streifen, innerhalb derer sich klare,<br />
weiße und gelbe Glasflächen in unregelmäßigen<br />
Rhythmen abwechseln.<br />
„Wie bei einer Melodie gibt es<br />
mehrschichtige Überlagerungen im<br />
Duktus der verschiedenen räumlichen<br />
Glasträgeranordnungen“, so<br />
Huber. In ihrer Gesamtheit erinnert<br />
die ‚chromatic scale‘ damit an die abstrakte<br />
Notation eines Musikstücks<br />
oder an die Dezibelskala eines elektronischen<br />
Verstärkers – in jedem<br />
Fall aber erweist der Künstler damit<br />
dem Bauwerk, in dem sich letztlich<br />
alles um Zahlen und Skalen dreht,<br />
seine Reverenz.<br />
Fast drei Jahrzehnte stand die von<br />
Le Corbusier 1962-64 geplante Kirche<br />
Saint-Pierre als halbfertige<br />
Ruine in dem Arbeiterstädtchen Firminy<br />
am Ostrand des französischen<br />
Massif Central. Es hätte den Schlussstein<br />
bilden sollen für ‚Firminy-Vert‘,<br />
einer in den 50er-Jahren begonnenen<br />
Stadterweiterung im Geiste<br />
der Charta von Athen, zu der auch Le<br />
Corbusier ein Stadion, ein Kulturzentrum<br />
und eine ‚Unité d’habitation‘<br />
beisteuerte.<br />
Die rund 7,6 Millionen teure Fertigstellung<br />
des Bauwerks ist nicht<br />
zuletzt staatlichen Fördergeldern<br />
verdanken. Da diese im streng laizistischen<br />
Frankreich jedoch nicht<br />
für Sakralbauten aufgewendet werden<br />
dürfen, gilt Saint-Pierre offiziell<br />
als Museum. Im Sockel, der einst<br />
für die Gemeinderäume vorgesehen<br />
war, wurden eine Zweigstelle des<br />
Musée d’art moderne in Saint-Etienne<br />
und ein Le-Corbusier-Museum<br />
untergebracht. Die Kirche selbst ist<br />
geweiht, doch es ist fraglich, ob hier<br />
jemals ein Gottesdienst stattfinden<br />
wird. Unter ihrem hoch aufragenden,<br />
schräg gestutzten Kegeldach öffnet<br />
sich ein höhlenartiger Raum aus<br />
Sichtbeton, der tagsüber nur durch<br />
wenige Tageslichtöffnungen erhellt<br />
wird. Schmale, in Kopfhöhe umlaufende<br />
Fensterschlitze lösen das Dach<br />
optisch von seinem Unterbau. Über<br />
den rauen Sichtbeton des Gewölbes<br />
streicht das Licht aus vier weit oben<br />
angebrachten ‚Lichtkanonen‘ – Betonröhren<br />
unterschiedlichen Querschnitts,<br />
die innen rot, gelb, blau und<br />
grün gestrichen wurden. Ergänzt<br />
wird die Lichtszenerie in Saint-Pierre<br />
durch einen ‚Sternenhimmel‘ in<br />
der Ostwand, über dem Altar: Mit<br />
kleinen, runden Öffnungen in der Betonhülle<br />
wurden hier die Sternbilder<br />
Orion und Zwillinge nachgebildet, die<br />
in dieser Richtung am Nachthimmel<br />
zu sehen sind.<br />
Die Oberleitung über den Bau der<br />
Kirche hatte José Oubrerie, ein ehemaliger<br />
Mitarbeiter Le Corbusiers.<br />
Die Fondation Le Corbusier, Gralshüterin<br />
des Erbes des Architekten, hat<br />
ihr ‚Plazet‘ für den Bau bereits gegeben.<br />
Trotz einiger „persönliche Ergänzungen<br />
und Korrekturen durch<br />
Oubrerie“, schreibt der Architekturhistoriker<br />
Gilles Ragot, der von der<br />
Stiftung mit einem Gutachten beauftragt<br />
wurde, sei „die Kirche selbst<br />
[...] von einer Qualität und räumlichen<br />
Originalität, die in den größten Werken<br />
von Le Corbusier und im modernen<br />
Kulturgut zu finden sind.“<br />
7
MENSCH<br />
UND ARCHITEKTUR<br />
Der Mensch als Mittelpunkt der Architektur:<br />
Innenansichten einer wechselvollen Beziehung.<br />
TENDENZEN DES<br />
LICHTS<br />
1<br />
FOTO: HISAO SUZUKI
Von Richard Weston.<br />
Drei Jahre dauerte es, bis Jørn Utzon die passenden<br />
Fliesen für die majestätischen Kuppelschalen seiner Oper<br />
in Sydney entwickelt hatte – Fliesen, die exakt die von<br />
ihm gewünschte Wirkung unter wechselnden Lichtverhältnissen<br />
erzielten. Utzons Oper ist nur ein Beispiel von<br />
vielen für die Sensibilität, die die Architekten des 20.<br />
Jahrhunderts bei ihrem Spiel mit Strukturen und Licht<br />
an den Tag legten.<br />
Carl Petersen, der Architekt des viel beachteten Fåborg Museums,<br />
diskutierte bereits 1919 in seinen Lehrvorträgen zur Struktur<br />
an der Königlich Dänischen Kunstakademie die „unerfreulichen<br />
Auswirkungen unbeständiger Strukturen“, wenn zum Beispiel<br />
eine polierte Granitfläche aufgrund der ungleichmäßigen Transparenz<br />
einzelner Steinelemente uneben wirkt. „Ziel sollte sein“,<br />
so erklärte er, „eine Solidität der Materialoberfläche zu erreichen.“<br />
Eine klare Form erfordere somit eindeutige Oberflächen, die durch<br />
Licht und Schatten zusammen mit eventuellen Farb- und Strukturwechseln<br />
modelliert werden und nicht auf „vage oder zufällige<br />
Effekte“ abzielen.<br />
Im selben Jahr entwarf Mies van der Rohe ein gläsernes Hochhaus<br />
für die Berliner Friedrichstraße. Dabei nutzte er exakt die von<br />
Petersen abgelehnten Effekte als Basis einer völlig neuen Architektur.<br />
Durch das unregelmäßige, facettenreiche Profil des Gebäudes<br />
wurde ein ‚Wandteppich’ ständig wechselnder Reflexionen<br />
geschaffen. Er zielt vermutlich darauf ab, die Gezeiten von Ebbe<br />
und Flut im Stadtleben darzustellen – ein seit Baudelaire populäres<br />
Thema des Modernismus.<br />
Wenngleich in nördlichen Gefilden kundgetan, gründete<br />
Petersens Aufruf zur Solidität auf den Vorzügen des konstanten<br />
Lichts im Süden. Dort schaffen Licht und Schatten beeindruckende<br />
Modellierungen, die durch Struktur und Farbeffekte<br />
allein unerreichbar sind. Diese Meinung vertrat auch Alberti in<br />
seinen ‚Zehn Büchern über die Baukunst’. Sein Plädoyer für das<br />
Reine und Weiße als Ausdruck höchster Architekturkunst wurde<br />
zum Bekenntnis der Neoklassizisten. Mies van der Rohe hingegen<br />
orientierte sich bei seinen Glaskonstruktionen an den flüchtigen<br />
Eigenschaften des nördlichen Lichts, die er zehn Jahre später<br />
unter südlicher Sonne im Barcelona-Pavillon aufleben ließ. Dort<br />
erzeugte das komplexe und beeindruckende Spiel des Lichts, das<br />
durch farbiges Glas fällt und von polierten, ornamentalen Steinoberflächen<br />
und Wasserbecken reflektiert wird, einen der atmosphärisch<br />
dichtesten Räume in der Architektur des 20. Jahrhunderts.<br />
regionale lichtunterschiede und ihr einfluss auf die<br />
architektur<br />
Gehen wir einmal davon aus, dass der Norden und der Süden<br />
in ihrer Gegensätzlichkeit von Dematerialisation unter atmosphärischem<br />
Licht und den von Sonnenlicht und Schatten klar<br />
modellierten Formen die Pole des (europäischen) Architekturverständnisses<br />
manifestieren. Dann lassen sich die Architekturströmungen<br />
des 20. Jahrhunderts nicht nur nach den traditionellen<br />
räumlichen und konstruktiven Kriterien, sondern auch nach ihrem<br />
Umgang mit Licht und Material einteilen: Die einen Architekten<br />
nutzen das ausdrucksstarke Potenzial von Materialien und Strukturen,<br />
die anderen unterdrücken dieses Vermögen radikal und<br />
erzielen bestimmte Effekte allein durch natürliches Licht.<br />
Letzterer Ansatz hat die Architektur im Norden und im Süden<br />
gleichermaßen beeinflusst. So hat beispielsweise Juha Leiviskä in<br />
Finnland eine ‚De Stijl’-ähnliche Formensprache aus scheinbar<br />
schwerelosen, durch Licht belebten Ebenen entwickelt: In der Kirche<br />
von Myyrmäki sind alle Flächen weiß und eben deshalb so<br />
faszinierend. Nach seiner eigenen Aussage wollte Leiviskä einen<br />
immateriellen ‚Lichtschleier’ erzeugen; als Vorbild diente ihm die<br />
Doppelschalenkonstruktion von Rokoko-Kirchen. Bei einem späteren<br />
Projekt in Kuopio gestaltete er die versteckten Seitenflächen<br />
rund um den Altar farbig und tauchte die Umgebung in sanft<br />
schimmernde Farben. Denselben Effekt erzielte Steven Holl später<br />
in der St. Ignatius-Kapelle in Seattle.<br />
Unter der hoch stehenden und intensiven Sonne im Süden<br />
Spaniens interpretierte Campo Baeza das Haus Gaspar in Zahora<br />
als befestigten Paradiesgarten. Aber statt auf die Farbenpracht<br />
üppiger Pflanzen und Blumen setzte er voll und ganz auf die Wirkung<br />
natürlichen Lichts und Wassers, die in diesem Projekt die<br />
Natur verkörpern. Die Böden drinnen und draußen sind mit Kalkstein<br />
ausgelegt; das Innere, nahtlos umrahmt von weiß getünchten<br />
Wänden, wird lediglich durch vier große Fensteröffnungen mit,<br />
wie Baeza es nennt, ‚horizontalem’ Licht erfüllt. Durch die Vermeidung<br />
von Schatten verlieren sämtliche Formen ihre Dimensionen,<br />
und unsere Sinne für subtilste Variationen der Lichtfarbe<br />
werden geschärft.<br />
Das von Campo Baeza 1991 fertiggestellte Haus kann teilweise<br />
als Reaktion auf die nachhaltig dogmatische Betonung der Materialqualitäten<br />
verstanden werden, wie sie diverse Architekturschulen<br />
der Nachkriegszeit kennzeichnete. Als deren Vorreiter gilt Le<br />
Corbusier mit seinem béton brut der Unité d’habitation von Marseille<br />
und dem ‚bäuerlichen’ Ziegelmauerwerk der Maisons Jaoul<br />
in Neuilly. Ihren überzeugendsten Ausdruck gewann diese Betonung<br />
des Materials dort, wo sie durch die Anpassung an regionale<br />
Gegebenheiten einen verstärkten Ortsbezug entstehen ließ.<br />
D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />
9
1. Alberto Campo Baeza: Casa<br />
Gaspar in Cadiz (1992)<br />
Glatte Flächen, perfekte Symmetrie<br />
und perfektes Weiß bilden<br />
in Campo Baezas Wohnhaus<br />
den Rahmen für eine aufs Äußerste<br />
reduzierte Essenz der Natur<br />
ringsum.<br />
„Das Licht in diesem Haus ist horizontal<br />
und kontinuierlich, was sich in der Ost-<br />
West-Ausrichtung der Hofeinfassung<br />
widerspiegelt. Das horizontale Licht<br />
spannt hier ganz einfach einen horizontalen,<br />
kontinuierlichen Raum auf.“<br />
Alberto Campo Baeza<br />
Für das Rathaus von Säynätsalo gab Alvar Aalto die Anweisung,<br />
alle Ziegel in leichtem Winkel zu versetzen, was dem Mauerwerk<br />
im sanften Sommerlicht eine strukturierte Oberfläche und<br />
außergewöhnliche Wirkung verleiht. Später, beim Rathaus von<br />
Seinäjoki, sind die Flächen noch deutlicher auf das nördliche Licht<br />
abgestimmt. Der hohe, keilförmige Bau ist mit dunkelblau glasierten<br />
Fliesen verkleidet. Aufgrund der Gebäudeform, im Querschnitt<br />
ein gestauchter Halbkreis, wurden die Fliesen vertikal in<br />
einer Art Streifenmuster verlegt, das die tief stehende Sonne einfängt<br />
und durch seinen reflektierenden Charakter an Cordstoff<br />
erinnert. Wenn das Sonnenlicht schräg auf seine Oberflächen<br />
trifft, schimmert das solide und imposante Gebäude ganz in Preußischblau,<br />
während bei direkter Sonneneinstrahlung die schmalen,<br />
hellen Rauputzstreifen zwischen den Fliesen dominieren und<br />
die blaue Farbe verwaschen. Bei den oft bestaunten ‚experimentellen<br />
Wänden’ seines Sommerhauses in Muuratsalo ließ Aalto seinen<br />
persönlichen Ideen freien Lauf, indem er verschiedene Ziegel,<br />
glatte und glasierte Fliesen und unterschiedliche Fugentechniken<br />
miteinander kombinierte und so Flächen schuf, deren Aussehen<br />
sich mit dem Lauf der Sonne ständig verändert. Man kann das<br />
Ganze schlicht als eine abstrakte Komposition von Struktur und<br />
Farbe betrachten, aber gleichzeitig wird ein intensiver Ortsbezug<br />
heraufbeschworen – allerdings nicht zu Finnland, sondern<br />
zum verwitterten Flickwerk der Mauern in Aaltos geliebtem Italien.<br />
Warum sonst braucht das Rechteck azurblauer Fliesen einen<br />
exponierten Sturz, wenn nicht dazu, den Eindruck eines Fensters<br />
unter südlichem Himmel zu vermitteln?<br />
licht und genius loci: carlo scarpas innenräume<br />
Carlo Scarpa orientiert seine Bauwerke an den Bautraditionen<br />
Venedigs, wo – um John Ruskin zu zitieren – „die Verblendung<br />
von Ziegeln mit wertvolleren Materialien“ einerseits auf die weite<br />
Entfernung der Stadt zu Steinbrüchen zurückzuführen ist und<br />
andererseits als Stilmittel eingesetzt wird, um eine durchdringende<br />
und überall spürbare Lichtüberflutung zu evozieren: Die mit einem<br />
Rautenmuster verkleideten Mauern des Dogenpalastes wirken im<br />
Tageslicht wie gespannter Stoff, die vielfarbigen Cosmati-Böden<br />
sehen aus wie eine Versteinerung gebrochener Wasserreflexionen,<br />
und die von Scarpa besonders geliebten, typisch venezianischen<br />
Terrazzo-Böden (pavimenti alla veneziana) scheinen von einem<br />
dünnen Regenfilm überzogen zu sein. In dem Geschäft, das er<br />
für Olivetti an der Piazza San Marco entwarf, kombinierte Scarpa<br />
Terrazzo- und Mosaikböden, indem er kleine unregelmäßige Viereckmosaike<br />
aus reflektierenden Glassteinchen in parallelen Bahnen<br />
in ein Bett aus hellem Zementmörtel einarbeitete. Die Bahnen<br />
wirken in einer Richtung wie ein markanter ‚Kettfaden’, während<br />
die Mosaiksteine wegen ihrer Unregelmäßigkeit und großen<br />
Abstände eine Art ‚Schussfaden’ bilden, der auf subtile Weise an<br />
eine gekräuselte Wasseroberfläche erinnert.<br />
Für die Decken in der Galerie der Fondazione Querini Stampalia<br />
erweckte Scarpa eine andere lokale Tradition zum Leben – den<br />
stucco alla veneziana. Bei der als marmorino bekannten Variante<br />
wird Marmorstaub in den Deckanstrich gemischt und vermittelt<br />
den Eindruck steinähnlicher Härte, der durch einen mittels<br />
Heißbearbeitung erzeugten reflektierenden Schimmer noch verstärkt<br />
wird. Im Ergebnis hat diese Technik nicht nur praktische<br />
Vorzüge, da sie große Mengen an Wasser aus der feuchten Luft<br />
aufnehmen kann, sie ist auch äußerst lichtwirksam.<br />
Das Bestreben, Materialien den gegebenen Ortsverhält nissen<br />
anzupassen, lässt sich auch in den späten Kirchen von Sigurd<br />
Lewerentz erkennen, wo das Mauerwerk in einer Mörtelschicht zu<br />
fließen scheint und unterschwellig an die unregelmäßige Musterung<br />
von Birkenrinde erinnert. In Klippan wird das trockene und<br />
raue Ziegelwerk kontrastiert durch ungerahmte Doppelverglasungen,<br />
die nicht in, sondern vielmehr vor den Fensteröffnungen<br />
liegen. Der grünliche Glanz des Glases verschmilzt mit Reflexionen<br />
von Gras, Bäumen und Himmel und verwandelt die elementaren<br />
Fenster in ‚Teiche’ flüssigen Lichts.<br />
Beim Bau der Oper in Sydney lässt sich Ähnliches erkennen –<br />
allerdings in gänzlich anderen Dimensionen. Die rekonstruierte<br />
Verkleidung der großen Plattform aus rotem Sandstein, der hier<br />
überall zu finden ist, bildet einen sichtbaren Kontrast zu den reflektierenden<br />
Fliesenflächen der Schalen. Jørn Utzon ließ sich sowohl<br />
von der Architektur als auch von der Natur inspirieren; etwa von<br />
den gefliesten Kuppeln, die wie ätherisch über den Ziegelbauten<br />
orientalischer Städte zu schweben scheinen, oder schneebedeckten<br />
Bergen, auf denen frisch gefallener Schnee vom Wind verweht wird<br />
und die gefrorene Schicht darunter offenlegt. Utzon verwandte<br />
drei Jahre auf den Entwurf dieser Verkleidung. Das Ergebnis ist<br />
eine Kombination glatter und glasierter Fliesen, wobei Erstere sich<br />
der konischen Geometrie der darunter liegenden Rippen anpas-<br />
10 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
2 3<br />
4 5<br />
6<br />
7 8<br />
9 10<br />
FOTOS: 2/3 – PAUL WARCHOL PHOTOGRAPHY. 4 – MARTTI KAPANEN, ALVAR AALTO MUSEUM. 5/6 – RICHARD WESTON. 7/8 – GASTON WICKY. 9 – HISAO SUZUKI. 10 – STEVEN HOLL ARCHITECTS.<br />
11
11<br />
12<br />
FOTOS: 12/13 – RICHARD WESTON<br />
sen und Letztere, diagonal verlegt, eine viereckige Füllung bilden,<br />
in die klein gemahlene Stückchen gebrannten Tons eingestreut<br />
sind und die Oberfläche aufrauen. Perfekt auf den Kugelflächen<br />
der Schalen arrangiert, erzielen die Fliesen einen wunderbaren<br />
kumulativen Effekt, greifen auf nahezu unheimliche Weise die<br />
Farben des Himmels und das Zusammenspiel von Schatten und<br />
reflektiertem Licht zwischen den Schalen auf.<br />
autonomie des materials: architektur seit den 80er-jahren<br />
Trotz aller Aufmerksamkeit, die Aalto, Lewerentz und Utzon den<br />
Qualitäten von Material und Licht widmeten, standen diese traditionell<br />
zweitrangigen architektonischen Elemente in ihren Werken<br />
im Dienst einer größeren Idee; in der Architektur von Scarpa wurde<br />
diese ‚Idee’ häufig durch den Rahmen eines bestehenden Gebäudes<br />
bestimmt. Für eine Generation von Architekten, die sich in den<br />
80er-Jahren bildete, wurde jedoch die Ausdrucksstärke der Materialien<br />
zur zentralen Idee. Als Schlüsselinspiration diente die Kunst<br />
des Minimalismus, vor allem die Werke von Donald Judd. Indem<br />
er die Trennung von Materialoberfläche und formaler Struktur<br />
aufhob, wollte Judd eine ästhetische Wirkung seiner Arbeiten erzeugen,<br />
die direkt aus visuellen ‚Fakten’ entsteht, die vom Betrachter<br />
unmittelbar wahrgenommen werden.<br />
Durch die Reduktion von Gebäuden auf einfache oder tradierte<br />
Formen und durch ihre Verkleidung mit nur einem einzigen<br />
Material konnte sich das architektonische Interesse nahezu<br />
ausschließlich auf die Eigenschaften von Flächen und das Spiel<br />
des Lichts konzentrieren. Mit vertikalen oder horizontalen Holzlatten<br />
verkleidete Konstruktionen – wie Peter Zumthors Einfriedung<br />
römischer Funde in Chur oder der Anbau von Burkhalter<br />
und Sumi an das Zürichberg-Hotel – können am Tag verschlossen<br />
wirken, bei Nacht aber mysteriös schimmern. Auf ähnliche<br />
Weise erweisen sich in Herzog & de Meurons Weinkellerei im<br />
Napa Valley massive und scheinbar undurchsichtige Korbwände<br />
völlig unerwartet als lichtdurchlässig.<br />
Mit der Verlagerung des Interesses von undurchsichtigen und<br />
matten zu reflektierenden, transparenten oder lichtdurchlässigen<br />
Materialien ergaben sich auch neue Ausdrucksformen. Durch die<br />
Verwendung von Strukturglasscheiben als Wetterhaut an ihrem<br />
Anbau an die Kunstgalerie in Winterthur schufen Gigon/Guyer<br />
eine stark geriefelte Hülle aus feinen Schichten, die durch Umge-<br />
bungs- und Lichtreflexionen das Licht eher auszuströmen denn zu<br />
absorbieren scheint. Ähnliche, wenngleich weniger frappieren de<br />
Effekte werden im Liner Museum in Appenzell erzielt, wo sowohl<br />
die Wände als auch das Sheddach mit viereckigen Edelstahlplatten<br />
verkleidet sind. Für das Kunstmuseum in Bregenz kreierte<br />
Peter Zumthor eine vorgehängte Außenfassade aus stockwerkhohen,<br />
satinierten Glasscheiben, hinter denen schemenhaft der<br />
Aufbau der Geschossebenen erkennbar ist. Die Fassaden reagieren<br />
subtil auf Lichtveränderungen, vor allem nachts, wenn sie von<br />
innen beleuchtet werden.<br />
In Anlehnung an diese Schweizer Modelle platzierte Steven<br />
Holl am Bloch Building im Nelson-Atkins Museum of Art in<br />
Kansas City fünf rechtwinklige Glaskonstruktionen in der Landschaft,<br />
die als Dachoberlichter für ein weitestgehend unterirdisches<br />
Gebäude dienen. Durch die Nutzung von eisenfreiem Glas wurde<br />
die in Winterthur so offensichtlich hervortretende grüne Farbe<br />
eliminiert, und dies mit erstaunlichem Ergebnis: Während das<br />
Gebäude von Gigon/Guyer optisch mit seiner Umgebung interagiert,<br />
steht Holls Bauwerk in kristallinem Kontrast zur Landschaft.<br />
Diese kristalline Qualität von Holls ‚Linsen’, wie er sie nennt, wird<br />
noch dadurch verstärkt, dass die Glasscheiben offensichtlicher<br />
Teil einer konstruierten Ordnung sind. Nachdem fast zwei Jahrzehnte<br />
lang verführerische Vorhangfassaden aus nahezu jedem<br />
erdenklichen Material angefertigt wurden, angefangen von den<br />
extremen Formen der ‚Schweizer Boxen’ bis hin zu Frank Gehrys<br />
barocken Draperien, könnten sich nun ‚handfeste’ Konstruktionen<br />
wied er gegen leichtes Design behaupten. Wenn ich an das<br />
Vergnügen denke, zwischen Tadao Andos Betonwänden im exquisiten<br />
Koshino-Haus oder unter den weiß getünchten Betongewölben<br />
in Jørn Utzons Kirche in Bagsværd zu stehen, kann ich mich<br />
nicht des Eindrucks erwehren, dass derart harte Formen in gewisser<br />
Weise anmutiger sind: Beide Bauwerke zeichnen sich durch ihre<br />
Strukturierung und die offengelegten Details wie Schraubenlöcher<br />
und Bretter aus, und beide erscheinen in bestimmten Lichtsituationen<br />
wie verwandelt. Nirgendwo vielleicht kann man die Transformationskraft<br />
des Lichts deutlicher spüren als auf der Veranda<br />
von Louis Kahns Kimbell Art Museum, wenn die sichelförmigen<br />
Lichtflecken über den Beton und die Travertinflächen wandern.<br />
Von Kahn stammt der berühmte Spruch: „Die Sonne wusste nie,<br />
wie groß sie ist, bis ihr Licht auf die Seite eines Hauses fiel.“ In<br />
Kimbell versteht man, was er meint.<br />
12 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Richard Weston ist Professor für Architektur an der Cardiff University<br />
und Herausgeber der Zeitschrift Architectural Research Quarterly, die von<br />
der Cambridge University Press veröffentlicht wird. Zu seinen Büchern<br />
gehören eine mit dem Sir-Banister–Fletcher-Preis ausgezeichnete Studie<br />
zu Alvar Aalto und das Buch ‚Utzon. Inspiration, Vision, Architecture‘. Seine<br />
neueren Publikationen beschäftigen sich mit der Erforschung natürlicher<br />
Materialien als Quelle für verschiedene digitale Herstellungstechniken;<br />
diese werden in seinem jüngsten Buch ‚Formations: images from rocks‘ und<br />
unter www.naturallyexclusive.com diskutiert.<br />
13<br />
FOTO: GASTON WICKY<br />
licht und energie:<br />
materialentwicklung im zeichen der ökologie<br />
Neben diesen Experimenten mit der visuellen Wechselwirkung<br />
zwischen Material und Licht eröffnen die Entwicklungen in der<br />
Materialwissenschaft ein neues, kaum erforschtes Gebiet. Auf den<br />
ersten Blick könnte man das Seniorenwohnheim von Dietrich<br />
Schwarz in Domat/Ems für einen konventionellen Vertreter der<br />
Schweizer Moderne halten. Tatsächlich aber reihen sich an der höher<br />
gelegenen Südseite des Gebäudes Fenster mit Dreifachverglasung<br />
aneinander, die ein Salzhydrat enthalten, das in flüssigem Zustand<br />
Solarenergie speichern kann. Bei einem Temperaturabfall kristallisiert<br />
die Lösung und ist nicht mehr transparent, sondern wird<br />
undurchsichtig und setzt bei diesem Prozess Wärme frei. Solche<br />
phasenveränderlichen Materialien sind nur ein Beispiel für zahlreiche<br />
Erfindungen, die neue Wege für Gebäudefassaden eröffnen,<br />
um mit natürlichem Licht zu interagieren. Einige sind teuer<br />
und exotisch, zum Beispiel holografisch- optische Elemente (HOE),<br />
deren Farbe je nach Blickwinkel und Sonnenstand variiert und<br />
die der Architektur so den Charakter einer Chamäleonhaut verleihen.<br />
Andere hingegen, wie die in Großbritannien von Digital<br />
Glass entwickelten Druckfolien, sind sehr kosteneffektiv. Sie könnten<br />
bestehende Sonnenschutzsysteme ersetzen und gleichzeitig<br />
neue gestalterische Möglichkeiten schaffen – angefangen von der<br />
Verwandlung von Glasfassaden in riesige Bilder bis hin zu blickdichten,<br />
aber lichtdurchlässigen Trennwänden.<br />
Für moderne, selbstreinigende Materialien – seit jeher ein ‚Heiliger<br />
Gral’ der Glasproduzenten – wird vermehrt das Tageslicht<br />
genutzt, um eine hydrophile Oberfläche zu schaffen, welche die<br />
Reinigung der Gebäudefassade vereinfacht. Die erfolgreichsten<br />
dieser Materialien basieren bislang auf Titandioxid. Sie bieten<br />
den zusätzlichen Vorteil, Sauerstoff zu erzeugen und Schadstoffgase<br />
zu eliminieren; hierdurch ließe sich die Luftqualität in den<br />
Städten wesentlich verbessern.<br />
Angesichts dieser Extreme – einerseits minimalistische Versuche<br />
in Weiß, andererseits die faszinierenden visuellen Eigenschaften<br />
einer Vielzahl von Materialien – könnte man meinen, die<br />
Architektur habe die Grenzen der Interaktion zwischen Material<br />
und Licht ausgelotet. Da aber neue Generationen ‚intelligenter’<br />
Materialien nunmehr erschwinglich sind, eröffnen sich für Bautechnik<br />
und Architektur bislang ungeahnte Möglichkeiten.<br />
2–3. Steven Holl Architects: St.<br />
Ignatius Chapel in Seattle (1997)<br />
Streiflicht, das durch Wandschlitze<br />
und schmale Fenster in<br />
den Kirchenraum fällt, macht<br />
die unregelmäßige Struktur der<br />
Putzoberflächen an den Wänden<br />
und Deckengewölben sichtbar.<br />
4. Alvar Aalto: Versuchshaus in<br />
Muuratsalo (1953)<br />
Die Ziegelwand in seinem Sommerhaus<br />
auf der Insel Muuratsalo<br />
diente Alvar Aalto als<br />
Experimentierfläche für unterschiedliche<br />
Ziegelverbände und<br />
deren Wechselwirkung mit dem<br />
Licht.<br />
5. Sigurd Lewerentz:<br />
Kirche in Klippan (1966)<br />
Einheitlich aus dunklem Backstein<br />
gemauerte Wände, Böden<br />
und Deckengewölbe verleihen<br />
dem Kircheninnenraum einen<br />
höhlenartigen Ausdruck.<br />
6. Jørn Utzon:<br />
Oper in Sydney (1973)<br />
Die im Tagesverlauf ständig<br />
wechselnde Licht- und Farbwirkung<br />
der Oper beruht maßgeblich<br />
auf der Fliesenverkleidung,<br />
auf deren Entwicklung Utzon<br />
drei Jahre verwandte.<br />
7–8. Gigon/Guyer: Liner Museum<br />
in Appenzell (1998)<br />
Die Schuppenhaut aus Chromstahlblechen<br />
konterkariert die<br />
industriell anmutende Sheddachform<br />
des Museums und lässt sie<br />
als eine in der Sonne glänzende<br />
Schatulle erscheinen.<br />
9. Peter Zumthor: Kunsthaus<br />
in Bregenz (1997)<br />
Mit den Phänomenen der Schichtung<br />
und Transluzenz spielt<br />
Peter Zumthor bei seinem<br />
Kunsthaus-Kubus. Die Hülle<br />
lässt die innere Struktur des<br />
Gebäudes nur erahnen.<br />
10. Steven Holl Architects: Bloch<br />
Building, Kansas City (2007)<br />
Maßstabslos und immateriell<br />
durch seine Fassade aus Strukturglastafeln,<br />
bricht Steven<br />
Holls Museumserweiterung<br />
bewusst mit dem gewohnten<br />
Repräsentationsbedürfnissen<br />
dieses Bautypus.<br />
11–12. Tadao Ando: Koshino<br />
House in Ashiya (1981)<br />
Noch nicht ganz die samtige<br />
Glätter seiner späteren Bauten<br />
erreichen die Betonoberflächen<br />
in Tadao Andos frühem Wohnhaus.<br />
Ihre Struktur tritt im<br />
Streiflicht deutlich zutage. .<br />
13. GLASSX AG, Dietrich<br />
Schwarz: Seniorenwohnungen in<br />
Domat/Ems (2004)<br />
Für die transluzenten Fassadenflächen<br />
dieser Wohnanlage verwendete<br />
Dietrich Schwarz ein<br />
Salzhydrat als Wärmespeicher.<br />
Es ändert unter Wärmeeinwirkung<br />
seinen Aggregatzustand<br />
und kann so Wärme aufnehmen,<br />
ohne sich aufzuheizen.<br />
13
FOTO: DAVID MAISEL<br />
Unter die Haut<br />
Von Jakob Schoof.<br />
Sie gelten als Inbegriff für schönen Schein, mangelnden<br />
Tiefgang und flüchtige Eindrücke. Dennoch bilden sie<br />
die Grundlage unseres Weltbildes: Eine Reise zu den<br />
Oberflächen der Erde – und darunter.<br />
14
Vorangehende Doppelseite<br />
David Maisel: The Lake Project<br />
9816-11, 2002<br />
Die Erde blutet: Jahrzehnte<br />
diente der kalifornische Owens<br />
Lake als Trinkwasserreservoir<br />
für Los Angeles. Heute bildet das<br />
größtenteils trockengefallene,<br />
hochgradig verseuchte Seebett<br />
ein irritierendes Bild aus<br />
schwarzen Venen, Blasen und<br />
durch Bakterien rot gefärbten<br />
Wassertümpeln.<br />
PHOTO: NASA JPL<br />
Gegenüber<br />
Antennae Galaxis. Aufnahme<br />
des Hubble Space Telescope<br />
Die Oberflächen der Dinge bestimmen unser Weltbild: Ihre<br />
Wechselwirkung mit Licht bildet die Grundlage unseres<br />
Sehens. Sie bilden die Schnittstelle für den Austausch von<br />
Materie und Information – und damit für die Prozesse des<br />
Lebens. Der Stoffwechsel jeder lebenden Kreatur vollzieht<br />
sich durch deren Haut oder Hülle – sei es durch Verdunstung,<br />
Speicherung von Sonnenenergie, Nahrungsaufnahme oder<br />
Wärmeaustausch. Tageslicht, das auf die Oberflächen lebender<br />
Organismen fällt, liefert uns lebenswichtige Energie.<br />
Doch längst sind die Oberflächen unserer Welt nicht mehr<br />
naturgesetzlich vorherbestimmt: In einem wechselseitigen<br />
Geben und Nehmen lernt der Mensch von den Oberflächen<br />
der Natur und formt sie nach seinen Vorstellungen. Haifisch-<br />
Schuppen sind Vorbild für Schwimmanzüge, Lotosblätter für<br />
schmutzabweisende Fassadenanstriche und Straußeneier für<br />
antimikrobielle Frischhaltefolien. Gleichzeitig ist kaum ein Quadratkilometer<br />
Erdoberfläche noch nicht vom Menschen überformt<br />
– selbst die Weltmeere verwandeln sich in den Visionen<br />
einiger Wissenschaftler schon in riesige Algenfarmen. Fast<br />
jede gewünschte Oberfläche kann heute mit künstlichen Mitteln<br />
erzeugt werden – auch solche, von denen niemand weiß,<br />
ob und wie sie sich der Mensch einmal zunutze machen wird.<br />
Und doch ist unsere Fähigkeit, Oberflächen richtig zu deuten,<br />
mit entscheidend für das Überleben auf unserem Planeten.<br />
Es lohnt also, einen Blick unter die Oberflächen der Welt zu<br />
werfen.<br />
D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />
17
FOTO: DAVID MAISEL
VERÄNDERTE<br />
WELTSICHTEN<br />
Gegenüber:<br />
David Maisel: Terminal Mirage<br />
980-1, 2003<br />
Seit 2003 fotografiert David<br />
Maisel die Landschaft des Großen<br />
Salzsees im US-Bundesstaat Utah.<br />
Kaum etwas lässt dabei den genauen<br />
Maßstab, den Ort oder die Zweckbestimmung<br />
des aufgenommenen<br />
Objekts erahnen. Vielmehr sind die<br />
Bilder Chiffren für den ständig wachsenden<br />
Einfluss des Menschen auf<br />
seine natürliche Umwelt.<br />
Galileo Galilei reichte eine kleine Apparatur,<br />
um das Weltbild der Menschheit zu<br />
verändern. Im Jahr 1609 richtete der italienische<br />
Mathematiker und Astronom eines<br />
seiner ersten selbstgebauten ‚Perspektivgläser’<br />
(heute würden wir ‚Teleskop’ dazu<br />
sagen) auf den Mond und erkannte, dass der<br />
Begleitstern der Erde keinesfalls die glatte,<br />
makellose Kugel war, die Aristoteles fast<br />
zwei Jahrtausende zuvor in seinen Theorien<br />
beschrieben hatte. In seiner Schrift ‚Über den<br />
Himmel‘ hatte der griechische Philosoph ein<br />
Weltbild entworfen, das bis ins 16. Jahrhundert<br />
Gültigkeit behalten sollte: Die Erde als<br />
unbewegliches Zentrum des Universums war<br />
demzufolge von konzentrischen Schichten<br />
umgeben – zunächst von den vier Elementen<br />
(Erde, Wasser, Luft und Feuer), dann von den<br />
Bahnen der sieben kugelförmigen Planeten<br />
Mond, Venus, Merkur, Sonne, Mars, Jupiter<br />
und Saturn. Jenseits des Mondes bestand<br />
das Universum aus einer ätherischen, unzerstörbaren<br />
‚Quintessenz’ (wörtlich: dem<br />
‚fünften Element‘), die sich nur in perfekten<br />
Kreisen bewegen konnte. Da alle Himmelskörper<br />
aus dieser Quintessenz bestünden,<br />
müssten sie naturgemäß eine perfekte und<br />
makellose Kugelform besitzen. 1<br />
Die Erkenntnisse Galileis stürzten nicht<br />
nur die katholische Kirche in ihre bis dato<br />
größte Krise, sondern markierten auch<br />
den Übergang von der transzendentalen,<br />
mystischen Auffassung des Lichts im Mittelalter<br />
zum wissenschaftlichen Lichtbegriff<br />
des modernen Zeitalters. Von der Inquisition<br />
verfolgt, musste Galilei seinen ketzerischen<br />
Lehren im Jahr 1633 abschwören.<br />
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass seine<br />
Schriften mehr als zwei Jahrhunderte auf<br />
dem Index verbotener Bücher des Vatikans<br />
standen und Galilei erst 1992 von Papst<br />
Johannes Paul II. offiziell rehabilitiert wurde.<br />
Hier zeigt sich die Bedeutung, die die Kirche<br />
der Interpretation des Lichts beimaß: Wenn<br />
das Licht nicht mehr göttlichen Ursprungs,<br />
sondern vielmehr eine profane Naturerscheinung<br />
und der Himmel nicht länger<br />
eine von der Erde losgelöste Sphäre wäre,<br />
wo sollte sich dann das Reich Gottes befinden?<br />
Abgesehen von der offensichtlichen<br />
Befürchtung, seine Deutungshoheit über<br />
Himmel und Erde einzubüßen, offenbarte<br />
sich in der Reaktion des Klerus auch ein allgemeines<br />
Problem menschlicher Wahrnehmung:<br />
Das Sehen allein reicht zum Erkennen<br />
nicht aus. Erkennen bedeutet, ein visuelles<br />
Bild mit einer dinglichen Vorstellung zu vergleichen,<br />
die im menschlichen Gehirn angelegt<br />
ist. Diese Erkenntnis ist keinesfalls neu.<br />
Schon die Philosophie von Aristoteles‘ Lehrer<br />
Plato gründete auf dieser Dualität von<br />
Phänomenen (die durch unsere Sinne wahrnehmbar<br />
sind) und Vorstellungen oder Ideen<br />
(denen allein durch den menschlichen Verstand<br />
Gestalt verliehen wird). Nach der<br />
Lehre Platos gehen die allgemeinen Ideen<br />
den Dingen voraus und sind von diesen unabhängig.<br />
Wo allgemeine Ideen fehlen, ist auch<br />
kein Verstehen bislang unbekannter Phänomene<br />
möglich, wie die Reaktionen zahlreicher<br />
Zeitgenossen Galileos beweisen:<br />
Sie schenkten weder seinen Erkenntnissen,<br />
geschweige denn seinen Schlussfolgerungen<br />
Glauben, nicht nur, weil sie diese<br />
als möglicherweise gefährlich betrachteten,<br />
sondern weil ihnen die Fähigkeit fehlte,<br />
diese Erkenntnisse mit ihrer Weltsicht zu<br />
vereinbaren. Die moderne Forschung belegt,<br />
dass sowohl Vorstellungskraft als auch tatsächliche<br />
Phänomene für die menschliche<br />
Wahrnehmung unabdingbar sind. So haben<br />
von Geburt an blinde Menschen, die nach<br />
jahrelangem Leben in Dunkelheit durch eine<br />
Operation Sehkraft erlangen, oft Schwierigkeiten,<br />
diesen neu gewonnenen Sinn zu<br />
nutzen. Sie erkennen zwar Bilder, Formen<br />
und Farben, können deren ‚Bedeutung’ aber<br />
kaum interpretieren, bevor sie diese nicht<br />
durch andere Sinne (hauptsächlich durch<br />
den Tastsinn) verifiziert haben.<br />
1<br />
s. Arthur Zajonc: Catching the Light. Oxford<br />
University Press 1993, S. 73–76.<br />
D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />
19
TERRA INCOGNITA:<br />
DER UNBEKANNTE PLANET<br />
Gegenüber:<br />
Vulkan Sakura-Jima, Kyushu,<br />
Japan<br />
An den Plattenrändern und<br />
Rissen der Erdkruste treten<br />
die gewaltigen Energiemengen<br />
zutage, die im Inneren unseres<br />
Planeten schlummern. Die Satelliten-Radaraufnahme<br />
zeigt den<br />
relativ jungen Vulkan Sakura-<br />
Jima, der auf einer Halbinsel in<br />
der Bucht von Kagoshima<br />
entstanden ist und seit 1955<br />
ohne Unterbrechung aktiv war.<br />
350 Jahre nach Entdeckung der Mondkrater<br />
markierten die ersten Weltraumflüge einen<br />
nicht minder wichtigen historischen Wendepunkt:<br />
Erstmals konnte der Mensch seinen<br />
Planeten als Ganzes betrachten – nicht<br />
nur anhand von Karten, Globen und anderen<br />
Modellen, sondern mit bloßem Auge. Seitdem<br />
wurden per Satellit immense Datenmengen<br />
über die Beschaffenheit der Erde<br />
gesammelt – angefangen von der Vegetation<br />
bis hin zur Luftverschmutzung oder zur<br />
Bewegung des grönländischen Inlandeises.<br />
Websites wie Google Earth ermöglichen es<br />
heutzutage, per Computer zu jedem noch so<br />
entlegenen Punkt auf der Erde zu ‚reisen‘ und<br />
diesen detailliert zu betrachten. Doch trotz<br />
der rapide wachsenden Zahl an wissenschaftlichen<br />
Beweisen, Modellen und Bildern fällt es<br />
uns schwer, eine konkrete Vorstellung von der<br />
Erdoberfläche und den gewaltigen, heute oft<br />
künstlich erzeugten Kräften zu entwickeln,<br />
die sie verändern. Dies zeigt sich an Bildern<br />
von Fotografen wie David Maisel. Seine<br />
Black Maps von hoch verseuchten Gebieten<br />
wie dem Great Salt Lake in Utah oder dem<br />
Owens Lake in Kalifornien zeigen zerklüftete,<br />
blasige Strukturen in Rot, Schwarz und<br />
Weiß, die nur schwer zu interpretieren sind,<br />
obgleich sie größtenteils durch Menschenhand<br />
entstanden. Was auf den ersten Blick<br />
schön erscheint, löst bei genauerem Hinsehen<br />
Entsetzen aus, wenn der Betrachter erfährt,<br />
was er auf den Bildern eigentlich sieht. „Die<br />
Erde blutet. Ein roter Fluss windet sich wie<br />
eine Schneise durch ein ausgebleichtes Tal zu<br />
einem See, der nicht mehr existiert. Aus der<br />
Luftperspektive wirken der Fluss und sein<br />
trockener Endpunkt wie Erscheinungen aus<br />
dem Jenseits“, schrieb Diana Gaston über<br />
Maisels Bilderserie Lake Project in der Zeitschrift<br />
‚Aperture‘ 2 . Maisel selbst beschreibt<br />
seine Werke an der Grenze zwischen Schönheit<br />
und Zerstörung so: „Mein Interesse gilt<br />
Bildern, die einerseits grausam oder abstoßend<br />
wirken, andererseits aber eine gewisse<br />
Formschönheit und emotionale Resonanz in<br />
sich tragen. Die Fotografien der Black Maps<br />
betrachte ich als Elegien verwüsteter Landschaften<br />
[....]. Aus der Luftperspektive können<br />
die kümmerlichen Überreste des Sees<br />
unterschiedlichste Gestalt annehmen: ein<br />
blutiger Strom, ein Mikrochip, eine durchtrennte<br />
Vene oder eine galaktische Karte.<br />
Wenn der Tod die Mutter der Schönheit ist,<br />
wie Wallace Stevens sagte, kann man das<br />
Lake Project als Autopsie des Sees verstehen<br />
– eine moderne Version der Erhabenheit,<br />
die ich höchst beeindruckend finde.” 3<br />
Während David Maisel die (zerstörte)<br />
Erdoberfläche durch ‚scheinbar schöne‘ Luftaufnahmen<br />
dokumentiert, dient sie dem britischen<br />
Bildhauer Andy Goldsworthy als<br />
Ausgangspunkt für seine zumeist vergänglichen<br />
Kunstwerke auf einer ganz anderen<br />
Maßstabsebene. Natürliche Materialien, die<br />
Goldsworthy meist ohne mechanische Hilfsmittel<br />
bearbeitet und sorgfältig neu arrangiert,<br />
zeugen in diesen Werken nicht von<br />
ökologischen Katastrophen, sondern erzählen<br />
von den leisen, langfristigen und oftmals<br />
subkutanen Veränderungen in unserer Kulturlandschaft.<br />
Laut Goldsworthy „ist die<br />
Natur von immenser Schönheit, gleichzeitig<br />
aber äußerst enervierend und manchmal<br />
durchaus erschreckend. Wer jemals in einem<br />
vom Sturm verwüsteten Wald stand oder<br />
Naturgewalten hautnah miterlebte, weiß,<br />
wovon ich rede. In der Natur trifft man allerorts<br />
auf Vernichtung, Absterben und Verfall,<br />
aber auch auf Wachstum und Leben. Manchmal<br />
fällt es schwer, mit dieser unglaublichen<br />
Lebenskraft und Energie umzugehen. Ich<br />
möchte die Natur keinesfalls romantisieren,<br />
sicher aber spüre ich deren Schönheit –<br />
eine Schönheit allerdings, die unterschwellig<br />
extreme Gefühle auslöst.“ 4<br />
Sowohl Maisels als auch Goldsworthys<br />
Werke sind so ausdrucksstark, dass sie eine<br />
nachhaltige Veränderung unserer Wahrnehmung<br />
der Umwelt bewirken und vermutlich<br />
auch unsere Einstellung zur Natur beeinflussen.<br />
Interessanterweise behauptet aber keiner<br />
der beiden Künstler, diesen Effekt auf den<br />
Betrachter bewusst erzielen zu wollen. „Auch<br />
wenn ich dies mit meinen Arbeiten nicht beabsichtige,<br />
richten sie doch das Augenmerk auf<br />
die Belange der Umwelt“, sagt Goldsworthy.<br />
„Ich weiß nicht, wie oder warum sie das tun,<br />
aber ich bin froh, dass es so ist. Doch wenn<br />
diese Wirkung auf den Betrachter zur Intention<br />
meiner Arbeit würde, würde das die<br />
Bedeutung der Werke als solche mindern.“ 5<br />
Ebenso schreibt Anne Wilkes Tucker über<br />
David Maisel: „Obgleich [er] die Misshandlung<br />
der Umwelt durch den Menschen verurteilt,<br />
gelten seine vorwiegenden Interessen<br />
ästhetischen und philosophischen Aspekten.<br />
Bestens vertraut mit den Ideen und Kunstwerken<br />
von Robert Smithson, stellt Maisel<br />
genau wie dieser den Prozess von Wahrnehmung<br />
und Erkenntnis in Frage.” 6<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
http://www.davidmaisel.com/<br />
fine_bl_lake_info.asp<br />
http://www.davidmaisel.com<br />
/infopages/inf_his.html<br />
Zitiert in einem Artikel von Oliver Lowenstein;<br />
siehe http://www.resurgence.org/resurgence/issues/lowenstein207.htm<br />
Lowenstein, s.o.<br />
http://www.davidmaisel.com/<br />
fine_bl_term_info.asp<br />
20 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
21<br />
FOTO: NASA JPL
22<br />
GARY SCHNEIDER
MATERIE UND METAPHER:<br />
DIE MENSCHLICHE HAUT<br />
Gegenüber:<br />
Gary Schneider: John In Sixteen<br />
Parts, 1995<br />
Wie in vielen seiner Porträts<br />
dekonstruiert Gary Schneider<br />
auch hier das menschliche<br />
Antlitz. Obwohl keine der Aufnahmen<br />
das Gesicht als Ganzes<br />
zeigt, ergänzen sich die Einzelansichten<br />
im Unterbewusstsein<br />
des Betrachters doch zu einem<br />
Gesamtbild.<br />
In ihrem Buch ‚Skin. Surface, Substance<br />
+ Design‘ schreibt Ellen Lupton: „Die Haut<br />
ist ein vielschichtiges und multifunktionales<br />
Organ, das unseren gesamten Körper<br />
bedeckt, sei sie dick oder dünn, fest oder lose,<br />
feucht oder trocken. Dank ihrer ‚Lernfähigkeit’<br />
reagiert die Haut auf Wärme und Kälte,<br />
leichte Berührung und Schmerz. Grenzenlos<br />
bekleidet sie unsere gesamte äußere Körperhülle<br />
und erstreckt sich bis in unsere inneren<br />
Organe. Sie ist sowohl lebendig als auch tot –<br />
ein selbstheilendes, selbsterneuerndes Material,<br />
dessen Außenhülle gefühllos und inert<br />
ist, dessen innere Schichten aber von Nerven,<br />
Drüsen und Kapillaren durchzogen sind.” 7<br />
Flächenmäßig gesehen ist die Haut unser<br />
größtes Körperorgan. Sie ist nicht nur verantwortlich<br />
für unseren Tastsinn, sondern<br />
dient auch anderweitig der Kommunikation<br />
mit der Umwelt: „Haut kann erröten oder verblassen,<br />
sich sträuben und schwitzen, blau<br />
vor Kälte oder rot vor Ärger und im metaphorischen<br />
Sinne grün vor Neid werden. Die Haut<br />
kommuniziert durch Hormonsignale – so<br />
genannte Pheromone –, die vermutlich durch<br />
spezielle Geruchszellen aufgenommen werden.”<br />
8 Die Haut schützt den menschlichen<br />
Körper gerade deshalb, weil ihre äußeren<br />
Schichten aus toten, komprimierten Zellen<br />
bestehen, durch Lipide zu einer wasserabweisenden<br />
Oberfläche zusammengefügt.<br />
Die vermutlich faszinierendste Eigenschaft<br />
der Haut ist ihre Fähigkeit der Selbstheilung:<br />
An Wundstellen bildet sich heilender Schorf,<br />
aktive Hautzellen wandern von den Rändern<br />
der Wunde zur Mitte und tragen zu deren<br />
Heilung bei.<br />
Auf Sonnenlicht reagiert die Haut unterschiedlich<br />
– durch Bräune und durch Rötung –,<br />
und diese Zwiespältigkeit reflektiert die Einstellung<br />
des Menschen zur Sonne, die seit<br />
jeher von einer Mixtur aus Anbetung und<br />
Furcht geprägt war. Die Hautfarbe (also ihr<br />
‚Dunkelungsgrad’) ist abhängig von Stärke<br />
und Art der hautimmanenten Melaninpigmente,<br />
die nicht nur genetisch bedingt sind,<br />
sondern auch von dem Maß der UV-Strahlung<br />
abhängen, der wir uns aussetzen. Die<br />
Anthropologen Nina Jablonski und George<br />
Chaplin fanden sogar heraus, dass sich die<br />
Hautfarbe von Urvölkern trotz ihrer vorhandenen<br />
genetischen Veranlagung in weniger<br />
als 1000 Jahren dauerhaft veränderte,<br />
wenn sie ihr Siedlungsgebiet in andere Breitengrade<br />
verlagerten. 9<br />
Melanin bestimmt nicht nur unsere Hautfarbe,<br />
sondern hat noch eine zweite Funktion:<br />
Es schützt die tieferen Hautschichten<br />
vor übermäßiger UV-Strahlung, die zu vorzeitiger<br />
Hautalterung führt und die Vitamin-B-Synthese<br />
spaltet. Andererseits ist<br />
ultraviolettes Licht notwendig für die Produktion<br />
von Vitamin D in unserem Körper, das<br />
seinerseits dafür sorgt, dass wir Calcium aus<br />
unserer Nahrung in unser Verdauungssystem<br />
aufnehmen können.<br />
Haut ist aber auch die ‚Leinwand‘, auf<br />
die jede Kultur ihren eigenen Begriff von<br />
Schönheit und sexueller Attraktivität projiziert.<br />
Diese Vorstellungen ändern sich mit<br />
der Zeit und variieren auch zwischen verschiedenen<br />
Gruppen innerhalb einer Gesellschaft.<br />
In den meisten westlichen Kulturen<br />
wird eine ‚gesunde’ Sonnenbräune als so<br />
attraktiv angesehen, dass hiervon ein ganzer<br />
Industriezweig – die Sonnenstudios – lebt. Im<br />
mittelalterlichen Europa und China hingegen<br />
war gebräunte Haut das Merkmal der Bauern<br />
und anderer Arbeiter unter freiem Himmel;<br />
der Adel legte daher Wert auf blasse Haut<br />
als Indikator für Wohlstand und griff hierfür<br />
sogar auf Blei und andere giftige Substanzen<br />
in Kosmetika zurück, „um den erlauchten weißen<br />
Teint zu erlangen, der für viele im sechzehnten<br />
Jahrhundert und später entstandene<br />
Porträts charakteristisch ist.“ 10<br />
Jugendliche, makellose Haut ist bereits<br />
seit der Antike ein gesellschaftliches Schönheitsideal.<br />
Ohne Unterlass wird sie von der<br />
Kosmetikindustrie propagiert; in der Werbefotografie<br />
werden Falten, Flecken, Härchen<br />
und Poren peinlich genau wegretuschiert.<br />
Andererseits sind Künstler seit den Zeiten<br />
Leonardo da Vincis und Dürers (die als ersten<br />
Maler gelten, die ältere Personen auf realistische<br />
Weise porträtierten) der Faszination<br />
darüber erlegen, was mit der Haut geschieht,<br />
wenn sie altert, beschädigt oder künstlich<br />
verändert wird.<br />
Neuerdings ermöglicht uns die Schönheitschirurgie<br />
sogar, den von Jablonski und<br />
Chaplin beschriebenen Adaptionsprozess zu<br />
beschleunigen: Innerhalb weniger Jahre können<br />
durch den Einsatz rein künstlicher Mittel<br />
‚schwarze’ Menschen zu Weißen werden,<br />
wie ein prominenter Vertreter aus der Welt<br />
des Pop beweist. Das ‚Tissue Engineering‘, ein<br />
Fachgebiet zur „Entwicklung biologischer<br />
Ersatzstoffe, die die Gewebefunktion wiederherstellen,<br />
erhalten, verbessern oder gar<br />
ganze Organe ersetzen“ 11 , ist einer der florierendsten<br />
Bereiche im medizinischen Sektor.<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
Ellen Lupton (Hrsg.): Skin. Surface, Substance<br />
+ Design. Smithsonian Institution / Princeton<br />
Architectural Press 2002, S. 23<br />
Jennifer Tobias in: Ellen Lupton (Hrsg.): Skin.<br />
Surface, Substance + Design, p. 44<br />
www.bgsu.edu/departments/chem/faculty/<br />
leontis/chem447/PDF_files/<br />
Jablonski_skin_color_2000.pdf<br />
http://en.wikipedia.org/wiki/<br />
Semiotics_of_Ideal_Beauty<br />
Langer, R & Vacanti JP, Tissue engineering.<br />
Science 260, 920-6; 1993<br />
D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />
23
Unten:<br />
Corpo Nove / <strong>Grado</strong> <strong>Zero</strong> <strong>Espace</strong> /<br />
Mauro Taliani: Oricalco, 2001<br />
Für dieses Hemd wurde ein<br />
Gewebe aus Titanlegierung<br />
entwickelt, das bei Temperaturveränderungen<br />
in eine vorprogrammierte<br />
Form übergeht.<br />
Das Hemd kann dadurch so eingestellt<br />
werden, dass es zum<br />
Beispiel bei Wärmeeinfluss<br />
automatisch die Ärmel ‚hochkrempelt‘.<br />
FOTO: GRADO ZERO ESPACE<br />
24 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
KÜNSTLICHE HÜLLEN UND<br />
‚INTELLIGENTE’ MATERIALIEN<br />
Der Einfluss menschlicher Haut und anderer<br />
natürlicher Hüllen auf Technologie, Design<br />
und Architektur ist vielfältig; er reicht von<br />
ihrer erotischen Anziehungskraft, Flexibilität<br />
und Weichheit bis zu ihren Fähigkeiten, sich<br />
der Temperatur und Lichteinwirkung anzupassen.<br />
Ellen Lupton schreibt: „Moderne<br />
Designer betrachten die Oberflächen von<br />
Produkten und Gebäuden als ähnlich komplex<br />
und multifunktional [wie die Haut]. Künstlich<br />
hergestellte ‚Hüllen’ sind hoch reaktionsfähige<br />
Substanzen, die die Bedeutung, Funktion<br />
und Dimension von Objekten modulieren.” 12<br />
Bis zu einem gewissen Grad finden sogar<br />
die selbstheilenden Eigenschaften der Haut<br />
Anwendung in der modernen Technik; so können<br />
beispielsweise Autolacke dank ihrer viskosen,<br />
zähflüssigen Konsistenz kleine Kratzer<br />
‚ausbügeln’. Anderes Beispiel sind ‚selbstheilende‘<br />
Hüllen für pneumatische Strukturen,<br />
auf deren Innenfläche eine dünne Schicht aus<br />
Polyurethanschaum aufgetragen wird. Bei<br />
Durchbohrung der Membran wird der PU-<br />
Schaum durch den Überdruck in der Kammer<br />
in das Loch gepresst und verschließt die<br />
undichte Stelle.<br />
Kleidung und Gebäude werden oft als<br />
zweite und dritte ‚ Häute’ des Menschen<br />
bezeichnet, die die Aufgabe haben, den<br />
menschlichen Körper zu schützen. Im Idealfall<br />
sollten sie daher ähnlich anpassbar sein wie<br />
unsere Haut. Entsprechende Möglichkeiten<br />
bietet die Entwicklung ‚intelligenter’ Materialien,<br />
die ihre Eigenschaften dem jeweiligen<br />
Umfeld anpassen, sobald sie wechselnden<br />
Einflüssen wie Wärme, Licht, Druck, elektrischen<br />
oder magnetischen Feldern ausgesetzt<br />
sind. Italienische Textiltechniker<br />
haben einen Stoff aus einer Form-Gedächtnis-Legierung<br />
(Shape Memory Alloy) entwickelt,<br />
der dafür sorgt, dass sich Hemdärmel<br />
bei einer bestimmten Temperatur automatisch<br />
hochziehen. In andere Kleidungsstücke<br />
werden Peltier-Elemente eingearbeitet, die<br />
unter Stromeinwirkung für aktive Kühlung<br />
sorgen. Die amerikanische ‚No Contact-Jacke’<br />
hält auf Knopfdruck mögliche Angreifer<br />
durch Erzeugung einer elektrischen Spannung<br />
auf ihrer Oberfläche ab. 13 Kluge Technik<br />
hat aber durchaus auch poetische Seiten:<br />
Die von dem italienischen Unternehmen Cute<br />
Circuit entwickelten ‚F+R Hugs’-T-Shirts<br />
werden im Doppelpack geliefert und kommunizieren<br />
mittels Bluetooth-Technologie<br />
miteinander. Wird ‚sein‘ oder ‚ihr‘ T-Shirt an<br />
einer bestimmten Stelle berührt, sorgen integrierte<br />
Stromleitungen im Shirt des Partners<br />
für eine ähnliche ‚Streichelbewegung’ an entsprechender<br />
Stelle.<br />
In einem Buch über den Ingenieur Werner<br />
Sobek vergleicht Werner Blaser den Bewohner<br />
eines traditionellen Hauses mit einem Einsiedlerkrebs,<br />
der seine Behausung immer dann<br />
wechselt, wenn sie zu klein oder zu groß wird<br />
oder ansonsten unangemessen ist. Blaser<br />
fragt dann: „Doch ist es richtig, in dieser veränderten<br />
und sich stets verändernden Welt<br />
‚konstant’ zu bauen? [...] Die physikalischen<br />
Eigenschaften unserer Gebäude sind konstant,<br />
obwohl die Innen- wie die Außenwelt<br />
permanent veränderlich auf sie einwirken.” 14<br />
Blasers Buch wurde 1999 veröffentlicht,<br />
und die Bautechnik hat seither viele Neuerungen<br />
erlebt. Dennoch ist das von Sobek in<br />
den 90er-Jahren entwickelte Konzept einer<br />
idealen Gebäudehülle auch heute noch aktuell.<br />
Anstatt die Hülle eines Gebäudes als multifunktionalen<br />
‚Allrounder’ zu betrachten,<br />
plädierte Werner Sobek dafür, sie ähnlich<br />
wie die menschliche Haut aus hochspezialisierten<br />
monofunktionalen ‚Zellen’ zusammenzusetzen,<br />
die jeweils unterschiedliche<br />
Aufgaben wie Lichtübertragung, Energieaufnahme<br />
oder Belüftung erfüllen. Abhängig<br />
von Budget und Verfügbarkeit könnten<br />
diese Zellen auf unterschiedlichem technischen<br />
Niveau produziert werden, angefangen<br />
von mechanisch oder elektromechanisch<br />
betriebenen Elementen bis hin zu solchen, die<br />
auf chemischer oder mikrobiologischer Basis<br />
arbeiten. Werner Sobek schreibt: „Adaptive<br />
Systeme und Mechanismen werden in<br />
wenigen Jahren ein fester Bestandteil des<br />
täglichen Lebens sein. Automatische, selbstlernende<br />
Abstandsregelungen bei Automobilen<br />
sind bereits heute verfügbar. Adaptive<br />
Herzschrittmacher, die nicht mit einer konstanten<br />
Frequenz arbeiten, sondern auf<br />
äußere physiologische Randbedingungen<br />
wie Bewegungen reagieren, sind genauso in<br />
der Entwicklung wie aktive Prothesen und<br />
Implantate mit sensorischen Funktionen [...]<br />
Adaptive Systeme zur Geräuschreduktion<br />
und Gläser mit variabler Lichttransmission<br />
werden im Bauwesen genauso selbstverständlich<br />
werden wie die aktive Beeinflussung<br />
von Kraftzuständen, Verformungen und<br />
Schwingungen, insbesondere bei den Tragwerken<br />
des Leichtbaus.”<br />
2004 konstruierten Werner Sobek und<br />
sein Assistent Markus Holzbach am ILEK-<br />
Institut der Universität Stuttgart den experimentellen<br />
Pavillon ‚Paul’, um das Potenzial<br />
adaptiver Materialien im Bauwesen zu<br />
demonstrieren. ‚Paul’ ist eine kokonartige<br />
Leichtbaustruktur, deren Hülle aus mehreren<br />
Membranschichten besteht. Diese übertragen<br />
nicht nur Tageslicht und strahlen künstliches<br />
LED-Licht aus, sondern sorgen auch für<br />
eine adäquate Wärmeisolierung durch einen<br />
neuartigen, keramischen Werkstoff und speichern<br />
die Sonnenwärme in einem PCM-Material.<br />
(Bei solchen Speicherstoffen handelt es<br />
sich um mikroverkapselte Paraffine, die bei<br />
Wärmeeinwirkung von festem in flüssigen<br />
Zustand übergehen und somit die Wärmeenergie<br />
speichern können, ohne ihre Temperatur<br />
zu verändern.) Pauls Außenhaut ist<br />
zwar nur 1,4 Zentimeter dick, ihre thermische<br />
Masse entspricht jedoch einer 15 Zentimeter<br />
starken Massivwand. Technisch gesehen ist<br />
die Konstruktion des Pavillons äußerst simpel;<br />
die einzelnen Segmente sind nur durch<br />
Klettverschlüsse verbunden und können<br />
problemlos manuell montiert und demontiert<br />
werden. 15<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
Ellen Lupton (Hrsg.): Skin. Surface, Substance<br />
+ Design, S. 23<br />
Axel Ritter: Smart Materials. Birkhäuser Verlag<br />
2007, S. 16-19<br />
Werner Blaser: Werner Sobek. Ingenieurkunst.<br />
Birkhäuser Verlag 1999, S. 50<br />
http://www.tec21.ch/pdf/<br />
tec21_4120052942.pdf<br />
25
PURISMUS UND ORNAMENTIK<br />
IN DER MENSCHLICHEN<br />
ZIVILISATION<br />
Gegenüber:<br />
SANAA: Dior Omotesando, Tokio,<br />
2003<br />
Mit dem Dior-Flagshipstore<br />
schufen SANAA eine Ikone des<br />
sinnlichen Minimalismus, mit dem<br />
sich viele Mode- und Kosmetikhersteller<br />
seit den 90er-Jahren<br />
umgeben. Die milchig schimmernde<br />
Fassade besteht aus einer<br />
äußeren, glatten Glashülle und<br />
einer inneren Fassadenschicht<br />
aus Acryl, die wie die Falten eines<br />
Gewandes gewellt wurde.<br />
FOTO: SHINKENCHIKU-SHA<br />
Den meisten Architekten dürfte Adolf Loos’<br />
Verachtung für Verzierungen bekannt sein,<br />
die er in seinem Essay ‚Ornament und Verbrechen‘<br />
von 1908 als Zeichen für Degeneration<br />
und Verderbtheit bewertet. Eines seiner<br />
Lieblingsbeispiele sind die auffälligen Tätowierungen<br />
indigener Völker, die nach Loos’<br />
Ansicht nicht denselben Grad an Moral und<br />
Zivilisation erreicht haben wie der moderne<br />
Mensch. Loos schrieb: „Der moderne Mensch,<br />
der sich tätowiert, ist entweder kriminell<br />
oder entartet.” Ähnliche Attribute gelten<br />
Loos zufolge für jede stark ornamentierte<br />
Architektur. 99 Jahre nach Ornament und<br />
Verbrechen hat sich diese Einstellung ganz<br />
offensichtlich geändert: „Heutzutage sind<br />
Tattoos hip und zieren den Körper etlicher<br />
Promis wie Angelina Jolie, Gwyneth Paltrow<br />
und Supermodel Linda Evangelista“, schreibt<br />
Pernilla Holmes 2001 in einem Bericht über<br />
eine Tätowierungsmesse 16 und fährt fort:<br />
„Außerdem sind und bleiben Tattoos provokanter<br />
Ausdruck von Individualität, um sich<br />
von der Masse abzuheben.” Gleiches gilt für<br />
die moderne Architektur, in die das Ornament<br />
mit Macht zurückgekehrt ist. Hierfür<br />
gibt es vor allem zwei Gründe: Zum einen<br />
wurden neue Herstellungsprozesse entwickelt,<br />
die eine wirtschaftliche Produktion<br />
ornamentierter Flächen in Einzelanfertigung<br />
ermöglichen (ein unbedingtes Muss,<br />
wenn Oberflächen ein ‚provokanter Ausdruck<br />
von Individualität’ sein sollen), zum<br />
anderen hat der Trend zum Ornament viel<br />
mit den durchlässig gewordenen Grenzen<br />
zwischen Architektur und anderen Kunstgattungen<br />
zu tun.<br />
Als Alternative zum Ornament setzte<br />
Adolf Loos auf die Ästhetik edler Materialien<br />
wie warmem Holz und Naturstein oder auch<br />
den Glanz von Metall, der im Laufe der Zeit<br />
von einer edlen Patinaschicht überzogen<br />
wird. Eine ähnliche, in vielerlei Hinsicht auch<br />
heute noch aktuelle Bewegung entstand in<br />
den späten 80er-Jahren, als Architekten<br />
begannen, sich von den semantischen Extremen<br />
des Dekonstruktivismus und Postmodernismus<br />
abzuwenden. Im Gegensatz zu<br />
deren Formbesessenheit befasste sich eine<br />
neue, vor allem in der Schweiz beheimatete<br />
Architektengeneration mit Materialien und<br />
deren Beziehung zum Ort eines Gebäudes<br />
und dessen spezifischen Lichtverhältnissen.<br />
Andreas Ruby hat darauf hingewiesen,<br />
dass dieser neue Materialismus, der später<br />
als ‚minimalistisch’ bezeichnet wurde,<br />
fest in der kalvinistischen Tradition der<br />
Schweiz verankert ist: Er diente nicht der<br />
ostentativen Zurschaustellung von Wohlstand,<br />
sondern investierte Arbeit und Geld<br />
in das demonstrative ‚Nicht-Zeigen’ von<br />
Verzierungen und Details. Interessanterweise<br />
prägt eine entschieden puristische,<br />
sinnliche Variante des Minimalismus seit<br />
Mitte der Neunziger das kreative Selbstverständnis<br />
vieler Luxus-Modedesigner<br />
wie Armani und Prada. Für diese Entwicklung<br />
gibt es zwei Gründe: Erstens bauen<br />
die Modehäuser auf Understatement und<br />
bevorzugen eine museumsähnliche Atmosphäre<br />
zur Präsentation ihrer Kreationen;<br />
zweitens legte die Modeindustrie (die schon<br />
damals zu einer ‚Schönheitsindustrie’ mit<br />
Kosmetika und Accessoires mutiert war)<br />
eine wahre Besessenheit mit der Reinheit<br />
ihrer Oberflächen, inklusive der architektonischen,<br />
an den Tag. In seinem Essay Alabasterhaut<br />
von 1993 sinnierte Wiel Arets über<br />
dieses Verhältnis zwischen Purismus und<br />
Realität, wobei er Vergleiche zog zur Dualität<br />
zwischen architektonischen Ideen und<br />
der Realität des gebauten Objekts: „Architektur<br />
könnte als ein Wunsch nach Reinheit<br />
betrachtet werden, als Streben nach<br />
Vollendung. Die Hauptfarbe Weiß markiert<br />
einen Prozess, in dem das Unentscheidbare<br />
respektiert wird; es geht nicht um bedeutungsvoll<br />
oder bedeutungslos. Das Weiß<br />
des frisch gefallenen Schnees im Morgenlicht,<br />
das Weiß einer makellosen Haut, das<br />
Weiß von Papier, auf dem der Entwurf<br />
skizziert wird – Weiß ist überall und kann<br />
als Farbe des Ursprungs und des Anfangs<br />
betrachtet werden. [...] Architektur ist<br />
unbefleckt. Ihre ganze Logik wagt etwas,<br />
das nur von kurzer Dauer ist. Sie erscheint<br />
nur, um wieder zu verschwinden. [...] Sie<br />
beschenkt uns kurze Zeit mit Frische und<br />
Reinheit, aber nur, um diese Eigenschaften<br />
gerade dadurch wieder zu verlieren, indem<br />
sie uns diese anbietet. Architektur ist deshalb<br />
ein Dazwischen, eine Membran, eine<br />
Alabaster-Haut, undurchsichtig und durchsichtig<br />
zugleich, bedeutungsvoll und bedeutungslos,<br />
wirklich und unwirklich. Um sie<br />
selbst zu werden, muss Architektur ihre<br />
Unschuld verlieren; sie muss eine gewaltsame<br />
Verletzung akzeptieren. Sie kann nur<br />
Teil der Wirklichkeit werden, indem sie mit<br />
ihrer Umgebung eine Verbindung eingeht.“<br />
16<br />
http://www.artnet.com/magazine/reviews/<br />
holmes/holmes7-23-01.asp<br />
26 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
28 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />
FOTO: NOX
SEHEN UND ERKENNEN:<br />
EINIGE REFLEKTIONEN ÜBER<br />
PROJEKTIONEN<br />
Gegenüber:<br />
NOX / Q.S. Serafijn: D-tower,<br />
Doetinchem, 2004<br />
Diese Großskulptur ändert ihre<br />
Farbe entsprechend den Emotionen<br />
der Einwohner, die über<br />
eine Internet-Umfrage erfasst<br />
werden. Sein Entwerfer Lars<br />
Spuybroek bezeichnet den<br />
Turm als „Umkehr des Wegs zur<br />
Abstraktion“: ein konkretes<br />
Objekt, das eine kaum zu greifende<br />
öffentliche Sphäre repräsentiert.<br />
Als die Gebrüder Lumière im Jahr 1895 in<br />
Paris einen der ersten Stummfilme der Welt<br />
vorführten – einen in einen Bahnhof einfahrenden<br />
Postzug – reagierten die Zuschauer<br />
auf diese neue Erfahrung ähnlich wie im wirklichen<br />
Leben: Sie wichen vor dem scheinbar<br />
sich nähernden Zug zurück, manche flüchteten<br />
sogar aus dem Raum. Heute wäre es<br />
schwierig, wenn nicht gar unmöglich, durch<br />
einen Film ähnliche Reaktionen beim Publikum<br />
auszulösen. Ebenso wie mit jedem anderen<br />
Medium hat der Mensch auch mit dem<br />
Medium Film ‚umzugehen‘ gelernt.<br />
Dennoch hat die Erfindung beweglicher<br />
Bilder die visuelle Wahrnehmung im 20. Jahrhundert<br />
geprägt. Der französische Philosoph<br />
Paul Virilio behauptet, dass sich sogar die<br />
menschliche Auffassung von Transparenz<br />
wandelte 17 : von der Darstellung dessen, was<br />
sich hinter der Oberfläche verbirgt, zur Darstellung<br />
dessen, was uns der Filmregisseur<br />
und sein Kameramann (oder der Grafikdesigner)<br />
sehen lassen möchten. Ein Fernsehbild<br />
verdeutlicht dies: Jedem Betrachter ist<br />
bewusst, dass er nichts als rote, grüne und<br />
blaue Lichtpunkte auf einer Glasscheibe<br />
sieht. Dennoch rückt dieses Faktum beim<br />
Fernsehen in den Hintergrund, ebenso wie<br />
die Tatsache, dass wir überhaupt auf einen<br />
Bildschirm schauen.<br />
In seinen Büchern ‚Lost Dimension‘ und<br />
‚Die Sehmaschine‘ aus den frühen 90er-Jahren<br />
beklagt Paul Virilio, dass die Menschheit<br />
ihr ursprünglich unmittelbares Sehbewusstsein<br />
verloren habe, mit anderen Worten, dass<br />
sich unsere Wahrnehmung der materiellen<br />
Objektwirklichkeit zu einer mittelbaren Realität<br />
ähnlich wie im Film verschoben habe.<br />
Laut Virilio gibt es kein ‚Sehen’ mehr, sondern<br />
nur noch ein ‚Wieder-Sehen’: Wir nehmen nur<br />
das wahr, was das ‚Auge’ der Kamera zuvor<br />
gesehen oder was der Animationskünstler<br />
entworfen hat. Bei modernen ‚Sehmaschinen’<br />
wurde der natürliche Lichtfluss durch<br />
Elektrodenstrahlen ersetzt, und in der Computergrafik<br />
wird sogar die Sichtrichtung<br />
umgekehrt: Durch Raytracing erzeugte Bilder<br />
basieren nicht auf den von Lichtquellen<br />
ausgesandten Strahlen, sondern vielmehr auf<br />
(virtuellen) Sehstrahlen’, die vom Auge ausgehen<br />
und durch unterschiedliche Oberflächen<br />
reflektiert, gebrochen oder absorbiert<br />
werden. Bereits vor mehr als zweitausend<br />
Jahren versuchte Aristoteles, das menschliche<br />
Sehvermögen mit einem ähnlichen (später<br />
aber verworfenen) Modell zu erklären,<br />
demgemäß das Auge winzige Lichtstrahlen<br />
ausstoße, die unsere Umgebung erhellen und<br />
diese somit für uns sichtbar machen.<br />
In modernen Städten hat unser Auge heutzutage<br />
kaum mehr Gelegenheit zum kontemplativen<br />
Sehen. Stattdessen wird es ständig<br />
und überall von wechselnden Bildern, grellen<br />
Farben und schnellen Bewegungen gefangen<br />
genommen. Symptome dieses Wettlaufs<br />
um Aufmerksamkeit sind die Entwicklung der<br />
Medienfassade und die inflationäre Verbreitung<br />
von Bildschirmen aller Art in unserer<br />
gebauten Umwelt. Gemäß dem Prinzip ‚viel<br />
Bild, wenig Worte, großer Effekt‘ 18 appellieren<br />
solche Flächen an unseren angeborenen<br />
Orientierungsreflex – eine Art Überlebensmechanismus,<br />
der unsere Aufmerksamkeit<br />
sofort auf jedes große, auffällige und bewegliche<br />
Objekt in unserem Umfeld lenkt. Videoleinwände<br />
und Medienfassaden sind die bislang<br />
letzte Stufe in der zunehmenden Entfremdung<br />
von Gebäudeoberflächen und -inhalten,<br />
die in den letzten Jahren zu beobachten war.<br />
Dynamische Lichteffekte und bewegte Bilder<br />
haben unseren Gebäuden eine neue Bedeutungsebene<br />
verliehen und den Architekten<br />
und Gebäudebetreibern neue Mittel an die<br />
Hand gegeben, um Atmosphären zu schaffen<br />
und einen sinnvollen Dialog mit dem Nutzer<br />
zu etablieren – aber auch, um den bereits allgegenwärtigen<br />
‚Informationsüberfluss’ noch<br />
zu steigern.<br />
Lars Spuybroeks illuminierter ‚D-Tower’<br />
in der niederländischen Stadt Doetinchem,<br />
dessen Farbe entsprechend den Stimmungen<br />
und Emotionen der Stadtbewohner wechselt<br />
(die ihrerseits per Website ermittelt werden),<br />
ist nur ein Beispiel für einen bewusst spielerischen<br />
Dialog zwischen Gebäuden und<br />
öffentlichem Leben. Im Gegensatz zu herkömmlichen<br />
Medienfassaden senden dieser<br />
Turm und ähnliche Installationen keine vorgefertigten<br />
‚Botschaften‘ an ein anonymes<br />
Publikum; vielmehr ist (zumindest potenziell)<br />
jeder Betrachter zugleich ein Absender.<br />
Letztlich sind diese Installationen Experimentieranordnungen,<br />
mit denen erforscht<br />
werden kann, wie neue Kommunikationswege<br />
in der Öffentlichkeit aufgenommen<br />
werden. In den meisten Fällen ist die Wahrnehmung<br />
eines neuartigen Mediums nämlich<br />
nur so lange besonders attraktiv, wie es neu<br />
ist. Langfristig werden die inhaltliche Qualität,<br />
die Gestaltung sowie das Potenzial eines<br />
bestimmten Mediums, unsere Lebensqualität<br />
zu steigern, entscheidend. Inhaltliche<br />
Qualität hat hierbei wenig mit ‚Hoch’- oder<br />
‚Populär’-Kultur zu tun: Sie muss vor allem<br />
vereinbar sein mit den Erwartungen des<br />
Anwenders und den Möglichkeiten, die das<br />
Medium bietet.<br />
17<br />
Paul Virilio: Sehen, ohne zu sehen.<br />
Benteli Verlag Bern 1991<br />
18<br />
Wolfgang Lanzenberger: Medien zwischen-<br />
Himmel und Erde; see http://regisseur.<br />
wolfgang-lanzenberger.de/filmografie/pub_<br />
mediafassade.html<br />
29
VERFÜGBARKEIT UND<br />
VERANTWORTUNG<br />
Die bislang angeführten Beispiele lehren uns<br />
zweierlei: Erstens lassen sich von Oberflächen<br />
nicht mehr zwangsläufig Rückschlüsse<br />
auf die darunter liegenden Strukturen oder<br />
die physikalischen Eigenschaften eines<br />
Objekts ziehen. Aus der Ferne betrachtet<br />
kann selbst Umweltverschmutzung<br />
ästhetisch wirken, schwarze Haut kann in<br />
weiße verwandelt werden, hart aussehende<br />
Gegenstände erweisen sich als weich,<br />
und augenscheinlich solides Mauerwerk<br />
ist in Wirklichkeit nur eine wenige Zentimeter<br />
dünne Verkleidung. Zweitens haben<br />
uns Wissenschaft und Technik in die Lage<br />
versetzt, die Erdoberfläche radikal zu verändern<br />
und nach unseren Vorstellungen zu<br />
gestalten, anstatt umgekehrt unsere Vorstellungen<br />
– ähnlich wie es die Zeitgenossen<br />
Galileis noch mussten – an scheinbar<br />
unverrückbare Realitäten anzupassen. Die<br />
Verantwortung, die dies mit sich bringt, ist<br />
offensichtlich. Nur ein kritisches Bewusstsein<br />
erlaubt uns, wirkliche Innovationen von<br />
kosmetischen Veränderungen zu unterscheiden<br />
und diese Neuerungen auch sinnvoll einzusetzen.<br />
Falsche Mythen und Trugbilder<br />
sind in unserer Welt (auch in der Architektur)<br />
allgegenwärtig. Schon Hans Christian<br />
Andersen erkannte dies, als er ‚Des Kaisers<br />
neue Kleider‘ schrieb. Der Schlüsselinhalt<br />
dieser Geschichte ist nicht die Tatsache,<br />
dass zwei Betrüger verkünden, dem Kaiser<br />
die schönsten und feinsten Kleider weben zu<br />
können, sondern dass sie behaupten, diese<br />
seien nur für denjenigen sichtbar, der hierfür<br />
intelligent genug sei. Am Ende spricht<br />
ein Kind, dem derlei Eitelkeit gewiss fremd<br />
sein muss, die Wahrheit aus: „Aber der Kaiser<br />
hat ja gar nichts an!“<br />
Es ist gelegentlich hilfreich, sich mit derselben<br />
kindlichen Skepsis eine Reihe simpler<br />
Frage zu stellen: Wie viel Energie wollen<br />
wir darauf verwenden, unsere (ersten, zweiten<br />
und dritten) ‚Häute’ attraktiv und anpassungsfähig<br />
zu machen, wenn die gleiche<br />
Wirkung womöglich mit viel einfacheren<br />
Mitteln zu erreichen ist? Wem nutzen gut<br />
gestaltete Autos und Fassaden, wenn die<br />
darunter liegende Maschinerie zu viele oder<br />
die falschen Ressourcen verbraucht? Und<br />
was geschieht mit diesen ‚Häuten‘, wenn<br />
sie einmal abgeworfen sind? Enden sie auf<br />
Schutthalden oder werden sie einem Recycling-<br />
und Wiederverwertungssystem zugeführt,<br />
in dem nichts verloren geht?<br />
Auf diese Fragen werden wir in unserer<br />
hochkomplexen Welt meist keine eindeutigen<br />
Antworten bekommen. Die Fragen<br />
können uns aber dabei unterstützen, Neues<br />
ebenso wie scheinbar Selbstverständliches<br />
auf Herz und Nieren zu prüfen. Der amerikanische<br />
Architekt James Wines schrieb an<br />
der Schwelle zum neuen Jahrtausend: „Das<br />
einundzwanzigste Jahrhundert als ökologisches<br />
Zeitalter ist eine Zeit des Übergangs.<br />
Für das Selbstverständnis einiger Architekten<br />
mag dies wie eine Plage erscheinen,<br />
die ihre gefestigten Vorstellungen, stilistischen<br />
Präferenzen und gewohnheitsmäßigen<br />
Arbeitsmethoden ins Wanken<br />
bringt. Für andere hat es sich als Gelegenheit<br />
zur Entwicklung neuer revolutionärer<br />
und ressourcenschonender Technologien<br />
erwiesen. Wieder andere, zum Nachdenken<br />
fähige Architekten sehen hierin die Chance,<br />
ein tieferes Bewusstsein für den Zustand<br />
unserer Erde zu erlangen und die Grundprinzipien<br />
der Architektur durch Einbindung von<br />
Kunst, Philosophie, Technologie und natürlichen<br />
Systemen zu überdenken. Diese dritte,<br />
vermutlich einflussreichste Gruppe hat aber<br />
immer wieder mit immensen Herausforderungen<br />
zu kämpfen, die ein ständiges Abwägen<br />
und Infragestellen erfordern. Sie vertritt<br />
letztendlich vielleicht Konzepte, die dem<br />
herkömmlichen Verständnis von Religion,<br />
Wirtschaft und Politik zuwiderlaufen und<br />
viele Aspekte der Baukunst in Frage stellen,<br />
die sich seit dem Aufkommen der industriellen<br />
Revolution bewährt haben.” 19<br />
Die Chancen, die dies mit sich bringt, liegen<br />
auf der Hand. Doch James Wines erkennt<br />
auch die Fallstricke der ‚schönen grünen Welt’:<br />
„… die Attribute ‚grün’ und ‚nachhaltig’ werden<br />
mittlerweile so übergreifend und allgemein<br />
angewandt, dass sie ungeachtet ihrer<br />
einstigen Aussagekraft und Legitimität [...]<br />
im Sinne der Schriftstellerin Cathy Ho nur<br />
noch als ‚green washing’ oder ‚Grünfärberei‘<br />
zu verstehen sind. Offenbar macht sich jeder<br />
ein grünes Mantra zu eigen, um sein soziales<br />
Bewusstsein und seine politische Korrektheit<br />
zu beweisen. […] Das ‚Grünsein’ wurde<br />
zum neuen Gütesiegel jedes guten Haushalts<br />
– angefangen von Baustoffen bis hin<br />
zu Müsli, Toilettenpapier und Kondomverpackungen.“<br />
20 James Wines’ Aufruf zu neuer<br />
Skepsis in der Umweltfrage mag ketzerisch<br />
klingen, trifft aber den Kern der Dinge. Nur<br />
die fortwährende kritische Beurteilung dessen,<br />
was sich unter der ‚Haut’ unserer materiellen<br />
Welt abspielt, wird uns in die Lage<br />
versetzen, unsere Zukunft selbst in die Hand<br />
zu nehmen.<br />
19<br />
James Wines: Green Architecture.<br />
Taschen Verlag, 2000<br />
20<br />
James Wines in: [ark] 1-2007,<br />
März 2007<br />
30 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
INTERVIEWS<br />
01<br />
Roberto<br />
Casati<br />
02<br />
03<br />
04<br />
Nina<br />
Jablonski<br />
05<br />
Gary<br />
06<br />
Schneider<br />
Aziz +<br />
Cucher<br />
09<br />
10<br />
Kengo<br />
Kuma<br />
11<br />
Ulrike<br />
12<br />
Brandi<br />
13<br />
David<br />
Maisel<br />
A.S.<br />
Raghavendra<br />
Ellen<br />
Lupton<br />
Thea<br />
Bjerg<br />
Dietmar<br />
Eberle<br />
Steven<br />
Scott<br />
Michael<br />
Bleyenberg<br />
07 08<br />
31
01<br />
Roberto<br />
Casati<br />
Roberto Casati, Forschungsleiter<br />
des Staatlichen Instituts für Forschung<br />
und Entwicklung (CNRS) in<br />
Paris, lehrt an der Universität IUAV<br />
in Venedig. 1985 schloss er sein Diplomstudium<br />
der Sprachphilosophie<br />
an der Universität Mailand ab, zusammen<br />
mit Andrea Bonomi, unter<br />
dessen Leitung er 1991 im Fachbereich<br />
Philosophieforschung promovierte.<br />
Im selben Jahr erhielt er an der<br />
Universität Genf ein Forschungsdoktorat;<br />
hier arbeitete er mit Kevin Mulligan<br />
zusammen und beschäftigte<br />
sich mit Farb- und Lautlehre. Sein<br />
Buch ‚Die Entdeckung des Schattens‘<br />
wurde in sieben Sprachen übersetzt<br />
und mit diversen Literaturpreisen<br />
ausgezeichnet (Premio Fiesole, Premio<br />
Castiglioncello und Prix de La<br />
Science Se Livre).<br />
www.shadowes.org<br />
Herr Casati, was haben die Kultur, in der Sie aufgewachsen<br />
sind, und Ihre Ausbildung Ihnen über<br />
Licht vermittelt?<br />
Welche Eigenschaften des Lichts haben Sie selbst<br />
entdeckt, die Sie faszinieren?<br />
In Italien, wo ich geboren und aufgewachsen bin, müssen sich die Menschen<br />
oft eher vor dem Licht schützen, als es zu suchen. Meistens sind die in dicke<br />
Hausmauern eingelassenen Fenster recht klein, und fast immer sind sie mit<br />
Rollläden oder Vorhängen versehen. Hier wird das Licht weniger als Ressource,<br />
sondern vielmehr als Problem betrachtet. In den Ländern nördlich der Alpen<br />
gilt das Gegenteil. In Paris wohne ich in einem Gebäude, dessen Wahrzeichen<br />
Licht und Helligkeit sind: Le gratte ciel n° 1, der erste von Edouard Albert in<br />
Frankreich errichtete Wolkenkratzer, zeichnet sich durch große Glasfronten,<br />
leichte Mauerstrukturen und nach außen aufgehende Fenster aus. Trotzdem<br />
wohne ich – was einerseits widersprüchlich erscheinen mag, andererseits seinen<br />
Ursprung in meinem cis- und transalpinen ‚Doppelleben‘ hat – unten im<br />
zweiten Stock nach Nordwesten, und einer meiner Wohnräume hat überhaupt<br />
kein Fenster (da der Wolkenkratzer in der Talmulde der Bièvre liegt, sind die<br />
rückwärtigen Untergeschosse fensterlos).<br />
Diese nicht nur geografische, sondern auch kulturelle Wasserscheide<br />
spiegelt sich meines Erachtens auch in der Umweltpolitik und unterschiedlichen<br />
Bauplanung im Norden und Süden Europas wider. Zu einem der interessantesten<br />
Forschungsprojekte der Zukunft gehört für Architekten sicherlich<br />
die Aufwertung des Lichts in südlichen Breiten zum Zweck seiner künstlerischen<br />
und ökonomischen Nutzung – kurz gesagt, das Licht als Ressource<br />
und nicht als Problem anzusehen.<br />
Ein wichtiger Aspekt meiner Forschung sind die informativen Eigenschaften<br />
des Lichts. Im Gegensatz zu bestimmten Grundmerkmalen, die sich aus der<br />
Interaktion zwischen Licht und Materie ergeben, handelt es sich hierbei um<br />
höherrangige Eigenschaften. Sie sind vom Vorhandensein diverser Objekte in<br />
der Umgebung sowie davon abhängig, wie diese das Licht reflektieren und dadurch<br />
unterschiedliche, facettenreiche Muster schaffen. Bei meiner jüngsten<br />
Studie spielt der Schatten innerhalb dieser informativen Strukturen eine wichtige<br />
Rolle. Die Kontraste zwischen Licht und Schatten sind eine sehr einfache<br />
Art der Information (on/off) und ermöglichen uns die visuelle Wahrnehmung<br />
eines dreidimensionalen Raums und der Anordnung der darin befindlichen<br />
Objekte.<br />
Zur Rekonstruktion der wahrgenommenen Welt nutzt unser Sehvermögen<br />
in erster Linie die Informationen, die an den Grenzen zwischen einzelnen<br />
Oberflächen zu Tage treten. Dies hat einen entscheidenden Vorteil: Da sich<br />
das Licht in einer Umgebung niemals völlig gleichmäßig verteilt, sondern fast<br />
immer graduell abgestuft ist, würden wir, wenn sich unsere Sehkraft auf das<br />
Licht fernab der Flächengrenzen konzentrierte, Informationen erhalten, die<br />
weniger die Oberflächen, sondern vor allem das Umgebungslicht beträfen.<br />
Ein Beispiel: Die Mitte eines weißen Papiers in größerer Entfernung von einer<br />
Lichtquelle könnte weniger Licht reflektieren als die Mitte eines schwarzen<br />
Papiers in Lichtnähe. An der Grenze zwischen dem weißen und dem schwarzen<br />
Papier hingegen verteilt sich das Umgebungslicht recht gleichmäßig und<br />
erlaubt einen zuverlässigen (nicht absoluten, sondern relativen) Vergleich zwischen<br />
den Flächen.<br />
In der Darstellung von Adelson (gegenüber) reflektieren die Felder a und b<br />
exakt die gleiche Lichtmenge. Unser Sehsystem aber ist in der Lage, die Intensität<br />
des vom Zylinder geworfenen Schattens mit einzuberechnen und die Farbe<br />
der Felder a und b dem Rest des Schachbrettmusters anzugleichen.<br />
32 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
EDWARD H. ADELSON<br />
Schatten komplizieren unsere Wahrnehmung, da unser Sichtfeld lernen muss,<br />
zwischen einer lichtbedingten Grenze (eines Schattens) und einer lichtunabhängigen<br />
Grenze (zwischen einem weißen und einem schwarzen Papier) zu<br />
unterscheiden. Wäre dies nicht möglich, würden wir Schatten als permanente<br />
Objekteigenschaften wahrnehmen. Seltener Gegenbeweis ergibt sich, wenn<br />
die Lichtgrenze mit einer lichtunabhängigen Grenzlinie übereinstimmt. In diesem<br />
Falle ist unser Wahrnehmungssystem gestört. Daher riet Leonardo anderen<br />
Malern davon ab, eine Linie um Schatten zu ziehen.<br />
Sie haben einen großen Teil Ihrer Forschung den<br />
Fehleinschätzungen und Täuschungen gewidmet,<br />
denen unsere Sinne unterliegen. Sind nach Ihrer Erfahrung<br />
einige Sinne leichter zu täuschen als andere?<br />
In Ihrem Buch ‚Die Entdeckung des Schattens’ berichten<br />
Sie von der Hypothese, dass Kinder eine<br />
angeborene Vorstellung davon haben, was ein Objekt<br />
ist, aber nicht davon, was ein Schatten oder<br />
eine Projektion sind. Was, so glauben Sie, sind die<br />
Gründe für diesen Unterschied?<br />
Der Mensch hat lange gebraucht, um die Eigenart<br />
von Schatten zu verstehen, und lange Zeit waren<br />
Schatten mit Mythen und Glaubensinhalten verbunden.<br />
Was bleibt heute noch von diesen Mythen?<br />
Die Erforschung von Wahrnehmungsillusionen (wie oben von Adelson demonstriert)<br />
ist wichtiger Bestandteil der Studien psychologischer Wahrnehmung.<br />
Eine Rangfolge der Sinne kann man meines Erachtens nicht festlegen. Zwar<br />
haben Philosophen lange Zeit die Meinung vertreten, dass der Tastsinn der sicherste<br />
Sinn sei, aber ebenso wie visuelle Illusionen gibt es auch solche taktiler<br />
Art. Neuerdings wird auch die Klassifizierung der Sinne in Zweifel gezogen. Für<br />
die exakte Definition eines ‚Sinnes‘ gibt es keine stabilen Kriterien. Wir wissen<br />
nicht, ob Fledermäuse ‚die Formen fühlen‘ oder ‚mit den Ohren sehen‘. Die Unterscheidung<br />
zwischen den Sinnen basiert auf unserem Menschenverstand, kann<br />
aber sicherlich keine wissenschaftlich fundierte Differenzierung sein.<br />
Heutige Erkenntnisse zum Objektbegriff verdanken wir vor allem der Psychologin<br />
Elizabeth Spelke in Harvard, die eine einfallsreiche Methodik entwickelte,<br />
um zu verstehen, wie Kinder die materielle Welt sehen und wahrnehmen<br />
(und altersbedingt nicht verbalisieren können). Mit bestimmten Situationen<br />
konfrontiert, zeigen sich Kinder überrascht, und diese Überraschung wird<br />
als Indiz dafür interpretiert, dass jedes Kind präzise Erwartungen hegt. Die<br />
Wahrnehmung von Schatten stellt einen interessanten Fall dar, da Schatten<br />
(zum Beispiel im Gegensatz zu Träumen) physische Wirklichkeit besitzen,<br />
nichtsdestotrotz aber immateriell sind (sie bestehen aus ‚nichts‘). Warum<br />
es trotz gewisser Wahrnehmungssensibilität keine angeborene Vorstellung<br />
eines Schattens gibt, liegt eventuell daran, dass die Menge angeborener Vorstellungen<br />
recht beschränkt ist und die Auffassung von Schatten in gewisser<br />
Weise von der Objektvorstellung abgeleitet wird. Tatsächlich behandeln Kleinkinder<br />
(unter zwölf Monaten) Schatten wie Objekte und können diese nicht<br />
als Projektionen oder lichttechnische Phänomene erkennen. Im Gegensatz zu<br />
Erwachsenen sind sie beispielsweise überrascht, dass sich ein Schatten bewegt,<br />
wenn das schattenwerfende Objekt verschoben wird.<br />
Die meisten Mythen sind fest in Bildern und Symbolen des allgemeinen menschlichen<br />
Denkens verankert. Daher wird ihnen, mögen sie auch vorübergehender<br />
Natur sein und von Kultur zu Kultur leicht abweichen, stets große Bedeutung<br />
beigemessen. Schatten sind häufig metaphorische Quelle für die Mythen in<br />
Bezug auf die Seele: Ähnlich der Seele ist der Schatten körperabhängig (wenngleich<br />
nicht absolut, denn schließlich können wir uns selbst nicht von unserem<br />
Schatten lösen), er ist immateriell und gleicht der Person, die ihn erzeugt, und<br />
so weiter und so fort. Solange dies unsere Fantasie anregt, wird es immer<br />
möglich sein, Mythen um die Schatten zu schaffen oder solche aus anderen<br />
Kulturen zu übernehmen.<br />
33
02<br />
David<br />
Maisel<br />
David Maisel, 1961 in New York<br />
City geboren, graduierte als BA an<br />
der Princeton University und als MFA<br />
am California College of the Arts und<br />
studierte zudem an der Graduate<br />
School of Design der Harvard University.<br />
Maisels Werke sind Teil der<br />
Daueraustellungen im Metropolitan<br />
Museum of Art, im Los Angeles<br />
County Museum of Art, im Brooklyn<br />
Museum of Art und in anderen Museen.<br />
Seine Monographie ‚The Lake<br />
Project‘ (Nazraeli Press, 2004),<br />
wurde 2004 von dem Kritiker Vince<br />
Aletti in die Top 25 der Fotobände<br />
gewählt. Seine zweite Monographie<br />
‚Oblivion‘ wurde 2006 von Nazraeli<br />
Press veröffentlicht.<br />
www.davidmaisel.com<br />
Herr Maisel, was haben Sie die Kultur, in der Sie<br />
aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung über die<br />
Erde und ihre Oberflächen gelehrt?<br />
Was hat Sie Ihre eigene Erfahrung über die Erdoberfläche<br />
gelehrt? Haben Sie neue Erkenntnisse<br />
über die Erde gewonnen – vielleicht etwas entdeckt,<br />
was Sie zuvor noch nicht kannten oder gesehen<br />
haben?<br />
Als Student an der Princeton University begleitete ich 1983 meinen Professor<br />
für Fotografie Emmet Gowin auf einer Fotoexpedition zum Vulkan Mount Saint<br />
Helens. Die Eruption des St. Helens war der schlimmste und verheerendste Vulkanausbruch<br />
in der Geschichte der Vereinigten Staaten, der, gemessen an der<br />
Atombombendetonation über Hiroshima, eine 27.000fache Energie freisetzte.<br />
Ich war nicht nur von der natürlichen Zerstörungskraft des Vulkans fasziniert,<br />
sondern auch verblüfft angesichts der gewaltigen kataklystischen Energie, welche<br />
die Holzfällerindustrie beim Kahlschlag dieses Gebiets an den Tag legte. Als<br />
Kind der Ostküste, aufgewachsen in einem Vorort New Yorks, empfand ich die<br />
Zerstörung biblischen Ausmaßes durch den Menschen – vor allem aus der Luft<br />
betrachtet - ebenso beeindruckend wie beängstigend. Dieses apokalyptische<br />
Empfinden war richtungsweisend für meine zukünftige Arbeit.<br />
Seither habe ich mich einem fortlaufenden Projekt von Luftaufnahmen<br />
zerrütteter Landschaften gewidmet. Ich gab dieser Bilderserie den Titel Black<br />
Maps. Ihr Hauptgegenstand ist das verheerende Wirken des Menschen in der<br />
Landschaft, das Kultur und Natur in einem schwindelerregenden Verfall mit<br />
ungewissem Ausgang miteinander verschmelzen lässt. Aus der Luftperspektive<br />
betrachtet, muten die zerstörten Gebiete, in denen die natürliche Ordnung<br />
durch den Eingriff des Menschen auf den Kopf gestellt wird, ebenso schön wie<br />
erschreckend an. Mit meinen Bildern möchte ich dies weder verdammen noch<br />
glorifizieren, sondern vielmehr unser Augenmerk auf die Bedeutung der Landschaft<br />
bzw. der Landschaftsdarstellung in unserem postnatürlichen Zeitalter<br />
richten.<br />
Die Erforschung umweltbelasteter Gebiete veranlasste mich, das ‚Mining Project‘<br />
zu starten, meine Luftaufnahmenserie von Tagebaugruben, die in den<br />
USA überall zu finden sind. Die Betrachtung der Gruben aus der Luft eröffnete<br />
mir eine neue Sichtweise, die meine Faszination von der Zerstörung der Landschaft<br />
noch verstärkte, sowohl im Sinne formaler Schönheit als auch unter umweltpolitischen<br />
Aspekten. Erst aus der Luft wurde ich der Verunstaltung und<br />
Transformation der Erdoberfläche gewahr. Ich begann, solche unnatürlichen<br />
Landschaften wie Tagebaugebiete, Cyanid-Laugereifelder und Absetzanlagen<br />
als Kontemplationsgärten unserer heutigen Zeit anzusehen; für mich vermitteln<br />
sie ein Gefühl unterirdischer Traumwelten, die nur darauf warten, ans<br />
Tageslicht zu treten. Fortan betrachtete ich meine Bilder nicht nur als simple<br />
Dokumentationen zerstörter Gebiete, sondern vielmehr als poetische Interpretationen<br />
und Reflexionen des menschlichen Geistes, dessen Wirken sich<br />
hier deutlich abzeichnet.<br />
Die Luftfotografie als solche interessiert mich weniger im methodischen<br />
Sinne als vielmehr als Möglichkeit, etwas zu sehen, was ansonsten unsichtbar<br />
und unvorstellbar ist, und Weg, Zeit und Raum miteinander zu verbinden. Als<br />
Fotograf aus der Luft befinde ich mich nie zweimal an exakt demselben Ort –<br />
kein Bild kann also wiederholt werden. Ebenso verändern sich die Lichtverhältnisse<br />
ständig: Beim Rundflug über eine Landschaft wechselt meine Position je<br />
nach Sonnenstand. Somit variieren auch Farben und Formen von Aufnahme zu<br />
Aufnahme. In einer solchen Situation wird dem Fotografen erhöhte Aufmerksamkeit<br />
abverlangt: Die Erscheinungen wie Formen, Farben und Strukturen<br />
sind ständig ‚im Fluss‘, und er muss spontan darauf reagieren. Das Erleben eines<br />
solchen Stroms von Bildern und möglichen Einstellungen ähnelt dem menschlichen<br />
Bewusstseinsstrom. Durch die Fotografie aus der Luft wird die Bewegung<br />
zergliedert und neu gestaltet.<br />
34 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
In unserem Zeitalter erfuhr die Bildtechnik viele radikale Veränderungen. Die<br />
Mondbilder und die Aufnahmen der NASA von der Mars-Oberfläche, einst spektakulär<br />
und mysteriös, sind mittlerweile auf jeden Heimcomputer herunterzuladen.<br />
In Nullkommanichts lassen sich Satellitenaufnahmen unseres Planeten<br />
auf jeden Bildschirm projizieren, angefangen von Bildern des Irak-Kriegs bis<br />
hin zu Aufnahmen unseres eigenen Hauses per Google Earth. Luftbilder sind<br />
zum Bestandteil unserer visuellen Kommunikation geworden. Satellitenbilder<br />
und Luftaufnahmen sind Beispiele für fotografische Kartierung und Oberflächendarstellung,<br />
können aber gleichzeitig zur selektiven Überwachung genutzt<br />
werden. Für mich waren Satellitenbilder und topographische Karten stets eine<br />
Quelle der Inspiration, wenngleich die Kartendarstellung notwendigerweise<br />
immer vom kartierten Gegenstand abweicht: Sie ist eine parallele Realität.<br />
Der Fotograf Garry Winogrand sagte einmal: „Die Fotografie ist nicht das fotografierte<br />
Objekt – vielmehr ein anderes, neues Faktum.“ Die Fotografie erfasst<br />
nicht die Realität, sondern das Wesen – sie wird zum Schöpfungsmythos<br />
und Versuch, der Welt Sinn abzugewinnen.<br />
FOTOS: DAVID MAISEL<br />
Ihre Fotografien in den ‚Black Maps‘ und dem ‚Lake<br />
Project‘ offenbaren eine verstörende, trügerische<br />
Ästhetik. Was auf den ersten Blick anmutend ist,<br />
erweist sich bei genauerer Betrachtung als grauenvoll<br />
und gefährlich. Sehen Sie hier Analogien zu unserem<br />
täglichen Leben und Konsumverhalten?<br />
Themen wie Verführung und Täuschung haben mein Denken und meine Arbeiten<br />
nachhaltig beeinflusst, vor allem beim Lake Project. Alltäglich sehen wir<br />
uns mit neuen und verlockenden Konsumangeboten konfrontiert – sei es der<br />
jahrelang begehrte Neuwagen, der iPod oder der Flachbildschirm. Meiner Meinung<br />
nach lassen wir uns von diesen Wünschen und begehrten Objekten trügen,<br />
da sie uns nicht wirklich befriedigen, sondern unser Verlangen nur noch weiter<br />
schüren. So betrügen wir schließlich auch die Natur, indem wir sie ausbeuten<br />
und ausnutzen – in dem vergeblichen Bemühen, unser maßloses und unstillbares<br />
Verlangen zu erfüllen. Dieser Prozess spiegelt sich in meinen Bildern wider: Sie<br />
sind eindrucksvoll und anregend, von fesselnder Schönheit. Dringt man jedoch<br />
unter die augenscheinliche Schönheit der Bilder, erkennt man den Bildgegenstand<br />
als einen vergifteten, gewissermaßen aufgegebenen Ort der Verwüstung,<br />
so dass auch hier eine Art Betrug vorliegt. Wir als Gesellschaft aber sind Komplizen<br />
bei der Umweltzerstörung – die Verlockung führt zum Betrug.<br />
Auch hier werden also Verlockung und Trug miteinander verflochten: Der<br />
Betrachter lässt sich möglicherweise von den Farben und Formen der Bilder<br />
verführen, fühlt sich dann aber auf eine gewisse Weise betrogen, sobald der<br />
Bildgegenstand deutlich wird. Wir fordern der Umwelt ständig Tribute ab; die<br />
Parallelen zu der Art und Weise, wie wir uns von der Konsumgier verführen<br />
und schließlich betrügen lassen, sind offensichtlich. Ja, ich will einen Geländewagen,<br />
einen Flachbildschirm, und … hoppla! Weg ist die Ozonschicht, das<br />
stelle man sich mal vor!<br />
Ein wenig zum Hintergrund: Owens Lake, Gegenstand des Lake Project, ist<br />
ein Gebiet an der Ostseite der Sierra Mountains, an dem sich einst ein See über<br />
150 Quadratmeilen erstreckte. 1913 wurde der Owens River zum Aquädukt<br />
im Owens Valley umgeleitet, um die florierende Wüstenstadt Los Angeles mit<br />
Wasser zu versorgen. 1926 war der See vollkommen trockengelegt und hinterließ<br />
riesige Ablagerungen von Mineralien und Salzschichten. Nach der Austrocknung<br />
des Sees wirbelten starke Winde im Tal mikroskopische Partikel<br />
aus dem trockenen Seebett auf und formierten sich zu Stürmen aus krebserregendem<br />
Staub. Das Seebett entwickelte sich zum größten Verursacher von<br />
Feinstaubverschmutzung in den USA – hier werden jährlich 300.000 Tonnen<br />
Arsen, Kadmium, Chrom, Chlorgas, Schwefel und andere Materialien ausgestoßen.<br />
Die Mineralkonzentration in dem kläglichen Wasserrestbestand des<br />
Owens Lake ist so unnatürlich hoch, dass hier überall Bakterien und andere Organismen<br />
gedeihen, die das verbleibende Wasser tief blutrot färben.<br />
Während meiner Arbeit an diesem Projekt im Jahr 2001 ergriffen das Umweltamt<br />
und die Behörde für Wasser- und Stromversorgung der Stadt Los Angeles<br />
auf Grund eines neuen Gesetzes neue Maßnahmen, um das Gebiet erneut<br />
umzustrukturieren. Zur Vermeidung toxischer Staubstürme wurde ein Großteil<br />
des Seebetts in eine riesige Flutungszone umgewandelt, die sich wie die versunkene<br />
Stadt Atlantis aus dem Seebett erhebt. Nach der Fertigstellung meines<br />
Luftprojekts besichtigte ich die Oberfläche des Seebetts auch aus der Erdperspektive<br />
und besuchte das Kontrollzentrum, in dem der Salzgehalt und die relative<br />
Feuchtigkeit in der Be- und Entwässerungsanlage überprüft und gemessen<br />
werden, die sich kreuz und quer über 60.000 Meilen durch die Flutungszone<br />
zieht. Auf den Computerbildschirmen traten die bekannten Formen der Flutungszone<br />
zu Tage, aufgenommen durch Luftfotografie und Satellitenbilder.<br />
Meine Aufnahmen haben eine Vermittlungsfunktion. So richten die Fotografien<br />
im ‚Lake Project‘ das Augenmerk zwar auf einen speziellen Ort – den<br />
Owens Lake -, sind aber ebenso mehrdeutig als neue geografische Psycho-<br />
35
gramme zu interpretieren, als ursprüngliche Szenarien von Gewalt und Zerstörung,<br />
die sich in diesen Orten der Verwüstung offenbaren. Es liegt mir fern,<br />
den Bildern eine bestimmte Bedeutung zuzuschreiben; sie sind vielmehr als<br />
Metaphern für den entropischen Verfall von Raum und Zeit in der postmodernen<br />
Kultur zu verstehen.<br />
Bei der Bilderserie ‚Terminal Mirage‘ ließ ich mich durch Robert Smithsons<br />
Schriften über den Great Salt Lake inspirieren und konzentrierte mich auf die<br />
rasterförmig angelegten Gebiete rund um den See – riesige Verdunstungsbecken<br />
inmitten des Militärgebiets des Tooele-Waffenlagers, wo abgelaufene<br />
chemische Waffen gelagert und verbrannt werden. Diese Aufnahmen sind<br />
nicht maßstabsbezogen, die fotografierten ‚Fakten‘ sind vielmehr eine Reihe<br />
verwirrender Wendungen. Terminal Mirage beschäftigt sich ebenfalls mit den<br />
Grenzen rationaler Kartographie. Die rasterförmig angelegten Verdunstungsbecken<br />
offenbaren eine Art transgressiver Architektur, ein endloses Labyrinth<br />
über der Oberfläche des Sees und an dessen Ufern. Seinen Namen verdankt<br />
das Projekt Terminal Mirage der Tatsache, dass der Great Salt Lake wirklich<br />
ein abgeschlossener See ohne natürliche Zu- und Abflüsse ist. Dieser klaustrophobische,<br />
ausweglose, existenzialistische Aspekt weckte meine Neugier. Mit<br />
dem Wort ‚mirage‘ soll zum Einen der nachhaltig halluzinatorische Charakter<br />
der Ausdehnung des Great Salt Lake beschrieben werden – das beständige<br />
Licht, das auf ihn strahlt und von seiner Oberfläche reflektiert wird -, zum Anderen<br />
soll betont werden, wie diese Bilderserie unsere Sichtweise und Wahrnehmung<br />
grundsätzlich in Frage stellt.<br />
Wie reagieren wir Menschen Ihrer Erfahrung nach<br />
auf Zerstörung und Verschmutzung der Umwelt?<br />
Nehmen die meisten von uns den Blickwinkel des<br />
Luftfotografen ein, um sich von diesem ‚wunden<br />
Punkt‘ zu distanzieren und aus der Ferne nur das<br />
Positive wahrzunehmen?<br />
Vorhergehende Doppelseite:<br />
David Maisel: The Lake Project<br />
9823-4, 2002<br />
David Maisel: Terminal Mirage<br />
206-7, 2003<br />
Gegenüber:<br />
David Maisel: The Lake Project<br />
9802-1, 2002<br />
Die verführerische, aber trügerische<br />
Schönheit seiner Luftaufnahmen<br />
ist für David Maisel<br />
eine Metapher für die Haltung<br />
des Menschen gegenüber der<br />
Natur: „Unsere heutige Gesellschaft<br />
wird zu dem Glauben verführt,<br />
dass es unwichtig sei, wie<br />
wir leben.“<br />
Konfrontiert mit der Zerstörung unserer Erde durch unser eigenes Wirken, die<br />
Zivilisation und den industriellen Fortschritt, fühlen sich die meisten Menschen<br />
beim Betrachten meiner Bilder verwirrt, entsetzt und alarmiert. Ob sie meine<br />
Bilder als Aufruf zum Handeln verstehen, weiß ich nicht. Ich bin mir auch nicht<br />
sicher, ob meine Bilder eine derart direkte Wirkung zeigen sollen. Meine Motivation<br />
ist, Orte zu entdecken, die anderenfalls unbekannt oder unbeachtet blieben–<br />
seien es Kahlschlaggebiete, Tagebaue, Cyanid-Laugereifelder oder andere.<br />
Meine Aufnahmen sollen innere psychische Landschaften reflektieren, sind aber<br />
gleichermaßen als Dokumentationen spezieller Gebiete anzusehen. Ich selbst<br />
verstehe mich in erster Linie als visuellen Künstler, im Gegensatz vielleicht zu<br />
Fotojournalisten und Dokumentarfilmern. Mein Hauptinteresse gilt der Aufnahme<br />
von Bildern, die in visuellem Sinne unter die Haut gehen und eine gewisse<br />
poetische oder metaphorische Wirkung erzielen.<br />
Kunst kann durchaus politische Züge haben, und auch ich verfolge mit meinen<br />
Bildern eine politische Botschaft (ich glaube nicht, dass irgendjemand jahrzehntelang<br />
Fotoaufnahmen von mehr oder minder zerstörten Naturgebieten<br />
machen kann, ohne hierbei ein politisches Bewusstsein zu entwickeln!). Trotzdem<br />
möchte ich mit meinen Werken niemanden anklagen oder verurteilen – ich<br />
denke, diese Aufgabe haben wir gemeinsam als Gesellschaft zu erfüllen. So einfach<br />
liegen die Dinge nicht, als dass man mit erhobenem Zeigefinger auf dieses<br />
oder jenes Industrieunternehmen zeigen könnte. Meine Arbeiten sind keinesfalls<br />
dokumentarisch, dazu fehlt ihnen die nötige Objektivität. Sie haben theoretischen,<br />
nicht kartographischen Charakter und dienen vielmehr der Erforschung<br />
des Unbewussten denn der objektiven Darstellung. Allesamt tragen sie meinen<br />
persönlichen Stempel und verkörpern eine Form der Meditation.<br />
Vorwiegend interessieren mich die ineinandergreifenden Welten von Ethik<br />
und Ästhetik. Im Grunde geht es, denke ich, um eine Art von ‚ästhetischem‘<br />
oder ‚unterbewusstem‘ Aktivismus, womit ich direkt zu Ihrer Frage nach dem<br />
schönen Schein komme. Schönheit offenbart sich für mich nicht darin, einfach<br />
‚nur schön‘ zu sein. In den visuellen Künsten wird Schönheit allgemein mit<br />
Skepsis betrachtet, da wir auf sie als seriöses Darstellungsmittel nicht länger<br />
vertrauen. Doch sie kann durchaus eines sein: Schönheit prägt sich dem<br />
künstlerischen Raum strukturartig auf, um etwas darzustellen, das uns bislang<br />
noch unbekannt oder unbegreiflich ist. Ein schönes Objekt oder Bild muss<br />
nicht zwangsläufig oberflächlich sein, sondern kann durchaus eine Bedeutung<br />
oder eine beunruhigende, subversive Wirkung haben, die uns zusammenzucken<br />
lässt. Mein Interesse gilt vorwiegend einer Form von Schönheit, die ein<br />
gewisses Entsetzen und Erschrecken in sich birgt – Schönheit nicht als Balsam<br />
für die Seele, sondern als eine Art Waffe, sozusagen als moderne Fortführung<br />
der Auffassung von Erhabenheit im neunzehnten Jahrhundert, was<br />
uns einigen Aufschluss über unseren heutigen Entwicklungsstand in der Geschichte<br />
liefern sollte. In seinem Essay ‚Notes on Beauty‘ schreibt der Kritiker<br />
Peter Schjeldahl: „Die Schönheit, als solche gegenstandslos, kann mentales<br />
Heilmittel sein, das andere Elemente auflöst und überstrahlt.“<br />
36 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
FOTO: DAVID MAISEL
03<br />
A.S.<br />
Raghavendra<br />
Professor Agepati S. Raghavendra<br />
promovierte 1975 an der Sri Venkateswara<br />
University, Tirupati, Indien.<br />
Danach arbeitete er ab 1985<br />
als Associate Professor am Department<br />
of Plant Sciences, University of<br />
Hyderabad, wurde 1996 zum Professor<br />
ernannt und ist seit 2004 Dekan<br />
der School of Life Sciences an der<br />
University of Hyderabad. Prof. Raghavendra<br />
ist Vizepräsident der A. P.<br />
Akademi of Sciences und Herausgeber<br />
des ‚Journal of Plant Biology‘.<br />
Sein Buch ‚Photosynthesis: A Comprehensive<br />
Treatise‘ ist bei The Cambridge<br />
University Press erschienen.<br />
Professor Raghavendra, was haben Ihnen die<br />
Kultur, in dem Sie aufgewachsen sind, und Ihre Erziehung<br />
und Ausbildung bezüglich des Lichts vermittelt?<br />
Welche für Sie faszinierenden Eigenschaften des<br />
Lichts haben Sie selbst entdeckt?<br />
Was sind für Sie als Forscher auf dem Gebiet der<br />
Photosynthese die vielversprechendsten Lösungen<br />
für die künftige Energieversorgung der Erde? Inwieweit<br />
sind diese mit der Sonne als Quelle verbunden?<br />
Die Photosynthese verfügt über die seltene Eigenschaft,<br />
nicht nur Sonnenlicht in nutzbare Energie<br />
umwandeln, sondern auch CO ² aus der Erdatmosphäre<br />
abbauen zu können. Sehen Sie hierin ein<br />
Vorbild für künftige technische Entwicklungen?<br />
Ich meine, dass Licht immer stimuliert und Kraft und Begeisterung vermittelt.<br />
An Sonnentagen ist der Mensch aktiv, munter und selbstbewusst. Obwohl es<br />
keine wissenschaftliche Erklärung dafür gibt, kann man sagen, dass das Morgenlicht<br />
die Aufmerksamkeit und rezeptive Funktion des Gehirns steigert. Das<br />
Auge empfindet das Licht beim Aufgang und Untergang der Sonne als angenehm.<br />
Die positive Wirkung des Lichts – vor allem während der frühen Morgenstunden<br />
– wird nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Pflanzen festgestellt.<br />
Einige photomorphogenetische und biochemische Mechanismen bei Pflanzen<br />
werden unmittelbar vor Sonnenaufgang ausgelöst.<br />
Als Kind war mir nur bewusst, dass Tageslicht aufmunternd wirkt. Später, als ich<br />
mich mit der Photosynthese beschäftigte, entdeckte ich die Wirkung des Sonnenlichts<br />
auf die Funktion von Pflanzen. Das Licht aus dem sichtbaren Bereich<br />
liegt größtenteils im Feld von 400 bis 700 nm. Daneben enthält das Sonnenlicht<br />
jedoch auch einen beträchtlichen Anteil an ultravioletten (700 nm). Pflanzen ‚sehen‘ – beziehungsweise empfangen –<br />
Licht hauptsächlich dank zweier wichtiger Pigmente. Das erste ist Chlorophyll,<br />
das den meisten von uns bekannt sein dürfte. Das zweite ist Phytochrom, das<br />
der Mensch ohne Hilfsmittel nicht wahrnehmen kann. Es ist aber für die meisten<br />
photomorphogenetischen Effekte verantwortlich, wie Phototropismus,<br />
Blühen und Keimen von Saatgut. Das Studium der Mechanismen, wie Pflanzen<br />
Licht aufnehmen und das Signal weiterleiten, ist faszinierend. Ich selbst war an<br />
der Entwicklung eines Konzepts beteiligt, das erklärt, wie die Aufnahme des<br />
Lichtsignals und seine Übertragung tief in das Gewebe hinein vonstatten geht.<br />
Dieses Phänomen der Weiterleitung (Transduktion) von Lichtsignalen ist interessant,<br />
da auch Bereiche der Pflanze, die das Licht nicht wahrnehmen, reagieren<br />
können. Außerdem können sich Pflanzen durch Veränderung der Menge und<br />
der Verteilung des Chlorophylls an das verfügbare Licht anpassen. So haben<br />
beispielsweise Pflanzen, die unter direktem Sonnenlicht wachsen, in der Regel<br />
dünne, kleine und hellgrüne Blätter, während die Blätter bei Gewächsen, die<br />
im Schatten aufwachsen, dick, groß und dunkelgrün sind.<br />
Die Sonne ist schon immer die vielversprechendste Energiequelle für die Erde<br />
gewesen. Ihr Licht kann jedoch nicht nur für die Lebensmittelproduktion verwendet<br />
werden, sondern auch für viele andere Zwecke. Die effiziente Nutzung<br />
der Solarenergie ist daher von essenzieller Bedeutung. In der Suche nach neuen,<br />
erneuerbaren Ressourcen liegt der Schlüssel für viele Anwendungen. Gleichzeitig<br />
muss der Verbrauch von Brenn- und Kraftstoffen auf Erdölbasis auf ein<br />
Minimum reduziert werden, um die weltweite Erwärmung zu verringern. Die<br />
Entwicklung von Leben auf der Erde ist in erster Linie auf die Solarenergie zurückzuführen,<br />
die vom Menschen über das Auge und von Grünpflanzen über<br />
ihre Blätter aufgenommen wird. Es ist möglich, dass die grüne Farbe des Chlorophylls<br />
von Pflanzen als Reaktion auf das Spektrum des Sonnenlichts entstanden<br />
ist. Eine andere starke Lichtquelle als die Sonne hätte möglicherweise dazu<br />
geführt, dass sich ein anders farbiges Pigment durchgesetzt hätte.<br />
Die Photosynthese führt zu einer Bindung von anorganischem Kohlenstoff, unter<br />
anderem in Kohlenhydraten, Lipiden und Proteinen. Zur Photosynthese sind<br />
nicht nur Sonnenlicht, sondern auch CO ² und Sauerstoff erforderlich. Eine der<br />
wichtigsten Anwendungsmöglichkeiten der Photosynthese bei Pflanzen ist offensichtlich<br />
deren Fähigkeit zur Bindung von CO ² aus der Atmosphäre. Dennoch<br />
38 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Ohne den grünen Farbstoff Chlorophyll<br />
sähen nicht nur unsere<br />
Wälder, sondern auch unsere<br />
Nahrungskette anders aus.<br />
Dennoch trägt die Vegetation<br />
der Landoberflächen, verglichen<br />
mit Meeresorganismen, nur<br />
einen kleinen Teil zur Photosyntheseleistung<br />
der Erde bei.<br />
FOTO: INGRID BALABANOVA<br />
ist die photosynthetische Assimilationsfähigkeit der Flora nicht in der Lage, mit<br />
den vom Menschen verursachten CO ² -Emissionen Schritt zu halten. Eine Erhöhung<br />
der photosynthetischen Kohlenstoff-Assimilation ist unbedingt erforderlich,<br />
um die Erhöhung der CO ² -Werte und die daraus entstehende globale<br />
Erwärmung zu verhindern. Es sind nicht die Wälder und Bäume auf dem Land,<br />
die ein Maximum an CO ² aufnehmen – wie man vielleicht denken könnte – sondern<br />
die Meere und Ozeane mit dem darin enthaltenen Phytoplankton. Diese<br />
Lebensräume auf den Oberflächen der Meere, aber auch die Wälder, müssen<br />
erhalten bleiben. Außerdem sollten die Bemühungen um die Entdeckung und<br />
Verwertung neuer pflanzlicher Energieträger intensiviert werden.<br />
Wie würde die globale Nahrungskette ohne Photosynthese<br />
aussehen?<br />
Werden wir uns bei einer Weltbevölkerung, die<br />
in der nächsten Generation 10 bis 11 Milliarden<br />
erreicht, immer noch mit Lebensmitteln aus natürlichem<br />
Anbau ernähren können? Welche Änderungen<br />
an der Landwirtschaft in der gegenwärtig<br />
betriebenen Form halten Sie für notwendig?<br />
Wenn das Licht auf die menschliche Haut trifft, erzeugt<br />
es auf den ersten Blick eine intensive, aber<br />
oberflächliche Wirkung. Die Auswirkungen des<br />
Lichts gehen jedoch weit tiefer, und gerade diese<br />
nicht-oberflächliche Wirkung ist oft von essenzieller<br />
Bedeutung für das Leben. Gibt es hierzu<br />
Parallelen in Ihrer eigenen Forschung?<br />
Sie wäre ohne Photosynthese kaum vorstellbar, da die Sonne die Hauptenergiequelle<br />
der Erde ist. Pflanzen absorbieren das Sonnenlicht und werden von<br />
Tieren verzehrt. Damit ist die heutige Nahrungskette fast vollständig von der<br />
Photosynthese abhängig. Alternativen zu photosynthetischen Verfahren sind<br />
Mikroorganismen wie chemotrophische Bakterien, die auch unter schwierigen<br />
Bedingungen ohne Sonnenlicht und sogar ohne Sauerstoff gedeihen können.<br />
Formen des organischen Lebens auf der Erde enthalten in der Regel Kohlenstoff,<br />
Wasserstoff und Sauerstoff. Es ist möglich, dass auf anderen Planeten des Universums,<br />
die nicht von Licht bestrahlt werden, Organismen bestehen, die kein<br />
Chlorophyll haben, die keine Photosynthese ausführen und dann aus anderen<br />
Elementen als Kohlen-, Wasser- und Sauerstoff bestehen.<br />
Die Zunahme der Weltbevölkerung ist ein ernstes Problem. Für die nächste<br />
Generation sehe ich keine wesentlichen Einschränkungen bezüglich der Lebensmittelversorgung.<br />
Ich bin mir aber nicht sicher, ob den danach folgenden<br />
Generationen ausreichend Lebensmittel natürlicher Herkunft zur Verfügung<br />
stehen werden. Es sind mehrere Schritte erforderlich, um die Versorgung mit<br />
diesen Lebensmitteln sicherzustellen. Unkonventionelle und neue Technologien,<br />
darunter auch die Gentechnik, können eine gewisse Abhilfe schaffen. Aber der<br />
Erhalt und die optimierte Verwertung der vorhandenen natürlichen Ressourcen<br />
sind unabdingbar.<br />
Dass Licht nicht nur oberflächlich wirkt, gilt nicht allein für unsere Haut, sondern<br />
auch für die Oberflächen von Pflanzen und Mikroorganismen. Pflanzliches<br />
Gewebe ist bekanntlich nicht nur zu einer vertikalen, sondern auch zu einer lateralen<br />
Lichtübertragung in der Lage. Licht ist nicht nur Energiequelle: es ist auch<br />
ein Signal, das viele Prozesse in Pflanzen und Tieren auslöst. Man nimmt an, dass<br />
die am Tage auftretenden Leistungs- und Stimmungsschwankungen beim Menschen<br />
mit der Länge der Tageszeit verbunden sind. Wegen dieser direkten und<br />
indirekten Auswirkungen des Lichts ist die Übertragung des Lichtsignals ein<br />
Schwerpunktgebiet der biologischen Forschung. Photosensitive Moleküle wie<br />
Chlorophylle, Carotenoide und Rhodopsin (das Pigment im menschlichen Auge)<br />
nehmen das Licht direkt auf und reagieren mit einer internen Neugruppierung<br />
und Erregung ihrer Reaktionszentren. Das Lichtsignal, das auf der Oberfläche<br />
des Menschen oder einer Pflanze auftritt, wird wahrgenommen, umgewandelt<br />
und dann an andere Teile der Pflanze oder des Tiers in Form von Sekundär-Botenstoffen<br />
oder Signalkomponenten weitergegeben. Dazu zählen zum Beispiel<br />
der pH-Wert, das Membranpotenzial, der elektrochemische Gradient und Kationenwerte<br />
wie zum Beispiel Natrium und Kalzium.<br />
39
04<br />
Nina<br />
Jablonski<br />
Nina Jablonski ist vergleichende<br />
Anthropologin und Paläontologin.<br />
Sie studierte 30 Jahre lang die Fossilfunde<br />
von Primaten und Menschen.<br />
In den letzten 15 Jahren haben sich<br />
ihre Interessen auf diejenigen Fragen<br />
der menschlichen Evolution verlagert,<br />
die durch die Fossilfunde nicht vollständig<br />
beantwortet werden können.<br />
Dazu gehören unter anderem<br />
die Evolution der menschlichen Haut<br />
und der Hautfarbe. Nina Jablonski<br />
lebt und arbeitet zur Zeit in Pennsylvania<br />
im Osten der USA, nachdem sie<br />
ihre Feldforschungen unter anderem<br />
nach China, Kenia und Nepal geführt<br />
haben. www.anthro.psu.edu/facul<br />
ty_staff/jablonski.shtml<br />
Mrs. Jablonski, was haben Ihnen die Kultur, in der<br />
Sie aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung über<br />
die menschliche Haut vermittelt?<br />
Welche Entdeckungen über Haut haben Sie selbst<br />
gemacht, die Sie fasziniert haben?<br />
Konnten Sie bei Ihren Forschungen etwas darüber<br />
herausfinden, wie sich Schönheitsideale bezüglich<br />
der Haut in verschiedenen Kulturen unterscheiden?<br />
Die meisten Menschen, einschließlich mir, haben in ihrer Jugend nur nebenbei<br />
von diesem Thema erfahren, ohne dass es zum Beispiel in der Schule eine Rolle<br />
gespielt hätte. Dennoch interessiere mich schon seit vielen Jahren dafür und<br />
habe einige Forschungen darüber betrieben.<br />
Wir sehen unsere Haut als selbstverständlich an, obwohl sie biologisch und<br />
kulturell sehr wichtig für uns ist. Wenn Sie innehalten und Ihr eigenes Leben und<br />
Verhalten, aber auch die Verhaltensweisen Ihrer Mitmenschen betrachten, beginnen<br />
Sie zu verstehen, was die Haut für uns tut. Die Haut sagt über uns eine<br />
Menge aus. Wenn wir jemanden anschauen, können wir allein an der Haut das<br />
Alter oder den Gesundheitszustand erkennen. Die Hautfarbe lässt zudem erahnen,<br />
woher eine Person oder ihre Vorfahren stammen könnten. Die wichtigsten<br />
zwischenmenschlichen Beziehungen werden über unsere Haut vermittelt. Als<br />
Tastorgan ist sie eine der wichtigsten Schnittstellen, über die wir miteinander<br />
kommunizieren und durch die wir Informationen aus der Welt erhalten. Obwohl<br />
wir als Primaten sehr visuell orientierte Tiere sind, ist der Tastsinn für unsere<br />
Entwicklung und unser Wohlbefinden unerlässlich.<br />
Meine eigene Forschung hat sich hauptsächlich auf die Evolution der Hautfarbe<br />
konzentriert. Die Pigmentanzahl in unserer Haut steht im Verhältnis zur<br />
ultravioletten Strahlung des Sonnenlichts, dem unsere Vorfahren ausgesetzt<br />
waren. Diejenigen von uns, deren Vorfahren in der Nähe des Äquators lebten,<br />
haben dunkel pigmentierte Haut entwickelt, die sie vor Schäden durch hohe UV-<br />
Strahlung schützt. Diejenigen, deren Vorfahren außerhalb der Tropen lebten,<br />
entwickelten einen helleren Hauttyp, der die Produktion von Vitamin D in der<br />
Haut durch UV-Strahlung begünstigt. Das Faszinierende dabei ist für mich die<br />
Tatsache, dass sich die Menschen heute viel schneller bewegen als früher. Wir<br />
können Tausende von Kilometern in ein paar Stunden zurücklegen und uns in<br />
sonnenreiche Gebiete begeben, die sich deutlich von den Lebensräumen unserer<br />
Vorfahren unterscheiden. Als Menschen gehen wir davon aus, dass dabei schon<br />
alles gut geht. Manchmal ist das allerdings nicht der Fall. Menschen mit hellerer<br />
Hautfarbe leiden an schwerwiegenden biologischen Problemen, wenn sie ihre<br />
Körper für längere Zeit intensivem Sonnenlicht aussetzen. Ähnlich leiden dunkelhäutige<br />
Menschen an anderen biologischen Problemen, wenn sie sich länger<br />
außerhalb der Tropen aufhalten, weil ihre Körper in dem dort relativ schwachen<br />
Sonnenlicht nicht genug Vitamin D aus UV-Strahlung erzeugen können. Die<br />
Lehre hieraus ist, dass wir unserer Biologie nicht entfliehen können!<br />
Schönheitsideale unterscheiden sich dramatisch von einer zur anderen Kultur.<br />
Ein wundervolles Beispiel dafür sind Augenbrauen. In den meisten amerikanischen<br />
und europäischen Kulturen achten Frauen darauf, dass ihre<br />
Augenbrauen deutlich getrennt und genau definiert sind. Unter den Uiguren<br />
in Westchina ist es dagegen üblich, dass die Augenbrauen bei Frauen voll und<br />
zusammengewachsen sind, so dass ein ausdrucksstarker Akzent über der Augenpartie<br />
entsteht. Sie gehen sogar so weit, sich eine spezielle Creme zwischen<br />
die Augen zu reiben, um den Haarwuchs zu verstärken.<br />
Auch in Zusammenhang mit der Hautfarbe gibt es in ästhetischer Hinsicht<br />
große Unterschiede. In Japan zum Beispiel werden Frauen mit sehr blasser Haut<br />
als attraktiv und begehrenswert angesehen, da die helle Haut deutlich zeigt,<br />
dass die Frau nicht im Freien arbeiten muss und daher wahrscheinlich einen<br />
hohen Status besitzt. Im Gegensatz dazu gelten in vielen amerikanischen und<br />
europäischen Ländern braungebrannte Frauen als attraktiver, da ihre Haut auf<br />
40 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
0º<br />
Durchschnittliche UV-Strahlungseinwirkung<br />
pro Jahr auf<br />
der Erdoberfläche (gemessen<br />
vom NASA-Satelliten TOMS-7).<br />
Helle Rosa- und starke Blaufärbungen<br />
zeigen hohe UV-Strahlungen,<br />
die sich auf Bereiche<br />
am Äquator sowie auf andere<br />
trockene oder hochgelegene<br />
Gebiete konzentrieren.<br />
180º<br />
75º<br />
60º 60º<br />
45º<br />
45º<br />
30º 30º<br />
15º 15º<br />
0º<br />
0º<br />
15º<br />
15º<br />
30º<br />
30º<br />
45º<br />
45º<br />
75º<br />
ZEICHNUNG: GEORGE CHAPLIN<br />
60º<br />
60º<br />
75º<br />
75º<br />
180º<br />
0º<br />
Gesundheit und viel Zeit für Freizeitaktivitäten im Freien hinweist. In beiden<br />
Beispielen ist das Ideal das gleiche – eine Frau mit hohem Status und viel Freizeit<br />
–, aber das ‚ideale‘ Aussehen ist aufgrund der unterschiedlichen Geschichte<br />
der beiden Regionen sehr verschieden. Heute beginnen sich Schönheitsideale<br />
bezüglich der Haut jedoch aneinander anzugleichen, da die Globalisierung der<br />
Bilder und der Werbung die ästhetische Wahrnehmung der Menschen beeinflusst.<br />
In manchen Fällen übernehmen Frauen dadurch Schönheitsideale, die<br />
sowohl unrealistisch als auch ungesund sind.<br />
Inwiefern spielt die Haut, als Oberfläche und Begrenzung<br />
des menschlichen Körpers, eine Rolle in<br />
der Kommunikation neben dem Tastsinn?<br />
Seit der Entdeckung des Ozonlochs spielen die<br />
Sonne und ihr Licht eine ambivalente Rolle bezüglich<br />
der menschlichen Haut: Sie sind gewissermaßen<br />
sowohl Freund als auch Feind. Gibt es<br />
Parallelen hierzu in der Menschheitsgeschichte,<br />
und inwiefern hängt diese Ambivalenz von geografischen<br />
und kulturellen Hintergründen ab?<br />
Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt<br />
es auf den ersten Blick einen intensiven, aber oberflächlichen<br />
ästhetischen Effekt. Doch die Auswirkungen<br />
dieser ‚Berührung’ gehen weit tiefer. In der<br />
Biologie und Medizin ist gerade diese nicht-visuelle<br />
und nicht-oberflächliche Wirkung essenziell für<br />
das Leben. Inwieweit ist diese Tatsache für Ihre eigene<br />
Forschung relevant?<br />
Das Aussehen der menschlichen Haut spielt eine wichtige Rolle in der Kommunikation,<br />
da sie uns viel über eine Person erzählt. Wie ich bereits erwähnt habe,<br />
übermittelt die Haut Informationen über das Alter und die Gesundheit anderer<br />
Menschen. Sie sagt zudem viel über ihren physischen Zustand aus. Schwitzen<br />
sie? Sind ihre Gesichter gerötet oder sehr blass? Diese Dinge können uns viel<br />
über den emotionalen Zustand einer Person sagen. Darüber hinaus ist es wichtig<br />
zu beachten, wie Menschen vorsätzlich das Aussehen ihrer Haut verändern,<br />
um gewisse Botschaften auszusenden. Benutzt eine Person Kosmetika, die zum<br />
Beispiel ihre Augen größer erscheinen oder die Haut stärker glänzen lassen? Ist<br />
sie tätowiert oder hat sie andere Arten von permanentem Hautschmuck? Kosmetika<br />
und permanenter Hautschmuck sind unterschiedliche Formen der Selbstdarstellung,<br />
die uns viel über unsere Ziele und unsere Identität erzählen.<br />
Meistens wurde das Sonnenlicht in der Geschichte der Menschheit als positiver<br />
Einfluss betrachtet, da es Wärme brachte und weil in den sonnigen Jahreszeiten<br />
die Ernte gedieh und die Menschen genug zu essen hatten. Da Sonnenlicht die<br />
Produktion von Vitamin D in der Haut fördert, wird es für seine positiven Auswirkungen<br />
auf das menschliche Gemüt geschätzt. Die Ambivalenz des Sonnenlichts<br />
für die menschlichen Haut ist ein relativ neues Phänomen, das in den letzten<br />
5000 Jahren nur in einigen landwirtschaftlich geprägten Gesellschaften vorkam,<br />
nämlich hauptsächlich dort, wo die Jahreszeiten sich stark unterschieden,<br />
mit enorm hoher Sonnenstrahlung im Sommer und wenig Sonnenlicht im Winter.<br />
Dort wurde Sonnenlicht mit der Arbeit im Freien und körperlicher Anstrengung<br />
verbunden und ein Leben außerhalb der Sonne galt als besser, überlegen und<br />
privilegiert. Hellhäutigere Menschen wurden daher in diesen landwirtschaftlich<br />
geprägten Gesellschaften fast immer als begehrenswerter angesehen, da<br />
sie nicht hart in der Sonne arbeiten mussten, um zu überleben. ‚Braun‘ zu sein<br />
oder nicht war ein sichtbares Merkmal für die Klassenzugehörigkeit.<br />
Der ‚Wohlfühl‘-Effekt des Sonnenlichts basiert teilweise auf dessen physiologischen<br />
Wirkungen auf der Haut. Die UV-Strahlen in starkem Sonnenlicht<br />
fördern die Produktion von Vitamin D, und dies erzeugt ein vorübergehendes<br />
Gefühl der Entspannung und des Wohlbefindens. Sonne kann die Haut bräunen,<br />
was viele Menschen bei sich und anderen als attraktiv empfinden. Diese beiden<br />
Faktoren sind nur zwei Gründe dafür, warum zum Beispiel viele Menschen<br />
ihre Winterferien in tropischen Gebieten verbringen. Selbst in einem Gebäude,<br />
in dem das Fensterglas die meisten UV-Strahlen abblockt, erzeugt das durch<br />
das Fenster einfallende Sonnenlicht körperliche Wärme und Helligkeit, die oft<br />
als anregend empfunden werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu<br />
beachten, dass der Mensch die meiste Zeit seiner sechsmillionenjährigen Existenz<br />
in den Tropen verbracht hat. Von einem evolutionären Standpunkt aus<br />
betrachtet, sind wir Kreaturen der Sonne.<br />
41
05<br />
Gary<br />
Schneider<br />
Gary Schneider wurde 1954 in Südafrika<br />
geboren. Er wuchs in Kapstadt<br />
auf und zog 1977 nach New York.<br />
Seine Erfahrungen im Bereich Malerei,<br />
Theater und Film führten ihn zur<br />
Fotografie. Gary Schneiders Installation<br />
Genetic Self-Portrait wurde<br />
1998 im Musee de l’Elysee in Lausanne<br />
sowie im Santa Barbara Museum<br />
in Kalifornien ausgestellt und<br />
in einem Buch von LightWork veröffentlicht.<br />
Eine Retrospektive seiner<br />
Portraits wurde 2004 im Sackler<br />
Museum in Harvard, Boston ausgestellt<br />
und in einem Katalog der Yale<br />
Press veröffentlicht. 2005 wurde<br />
das Buch Nudes veröffentlicht und<br />
die darin enthaltenen Fotografien<br />
von Aperture in New York ausgestellt.<br />
http://museum.icp.org/museum/<br />
exhibitions/schneider/<br />
Mr. Schneider, was haben Ihnen die Kultur, in der<br />
Sie aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung über<br />
die menschliche Haut vermittelt?<br />
Inwiefern hat diese Wahrnehmung der Haut Ihren<br />
Karriereweg verändert?<br />
Auf den meisten Ihrer Portraits nähern Sie sich der<br />
Haut einer Person sehr oder schauen sogar buchstäblich<br />
darunter – wie zum Beispiel in Ihrer Serie<br />
‚Genetic Self-Portrait‘. Denken Sie, dass Sie eine<br />
Person – oder sich selbst in diesem Fall – dadurch<br />
besser kennenlernen?<br />
Ihre Serien ‚Genetic Portraits‘ und ‚Nudes‘ haben<br />
nichts mit den landläufigen Assoziationen eines<br />
Portraits gemein wie etwa ‚Schönheit‘ oder<br />
‚Charakterausdruck‘. Sie sind eher eine wissenschaftliche<br />
und methodische Untersuchung des<br />
menschlichen Körpers. Entsprechen sie damit dem<br />
Bild, das wir in der Zukunft von uns selbst haben<br />
werden, nach der Erfindung von DNA-Tests und biometrischen<br />
Ausweisen?<br />
Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt<br />
es auf den ersten Blick einen intensiven, aber oberflächlichen<br />
ästhetischen Effekt. Doch die Auswirkungen<br />
dieser ‚Berührung’ gehen weit tiefer.<br />
Inwieweit ist gerade diese nicht-visuelle und nichtoberflächliche<br />
Wirkung für Ihre Arbeit relevant?<br />
Meine Jugend in Südafrika hat mich gelehrt, misstrauisch gegenüber rassistischen<br />
Vorurteilen zu sein. Ich habe früh erkannt, dass Bedeutung nicht auf<br />
der Oberfläche liegt.<br />
Seit 1975 habe ich mich sehr genau mit der Oberfläche der Haut und anderen<br />
Themen aus der Biologie befasst. Ich habe entdeckt, dass das Studium der<br />
Oberfläche mich zur Meditation führt. Meditation oder ritualisiertes Verhalten<br />
erlaubt meinem Motiv, sich zu offenbaren. Die Haut ist unwichtig. Sie ist lediglich,<br />
was wir sehen, und nicht, was wir fühlen. Ich habe gelernt, dass Licht<br />
dazu benutzt werden kann, die Oberfläche zu transformieren, so dass sie nicht<br />
länger im Vordergrund steht.<br />
Meine Arbeiten sind so strukturiert, dass meine Motive und ich sich während<br />
des Prozesses gegenseitig kennenlernen können. Wir lernen durch den Austausch<br />
bei der Erstellung des Portraits. Ich interpretiere diese Informationen<br />
für Sie, den Betrachter. Beim ‚Genetic Self-Portrait‘ habe ich mit Wissenschaftlern<br />
und bei den Portraitfotografien, die ich mit meiner eigenen Kamera aufgenommen<br />
habe, mit Freunden und Verwandten zusammengearbeitet. Meine<br />
Erfahrung des Portraits unterscheidet sich von den Erfahrungen, die der Portraitierte<br />
oder der Betrachter damit machen. Meine Portraits sind Meditationen<br />
über Privatsphäre und Sterblichkeit.<br />
Identität ist der Hauptfokus meiner Portraits. Das fotografische Portrait verbindet<br />
häufig Schönheit und Glamour. Schönheit motiviert mich, aber meine<br />
Arbeiten sind niemals glamourös. Jede Arbeit entspricht einer reduktiven und<br />
rigorosen Methodik, so dass ein Vergleich zwischen den Portraits möglich ist.<br />
Ich versuche stets eine Situation herzustellen, in der ich voll kontrollieren kann,<br />
wie ich die Informationen sammle, und in der das Motiv nicht kontrollieren kann,<br />
was es preisgibt. Davon abgesehen, unterscheiden sich die Werkgruppen fundamental<br />
voneinander. Die genetischen Portraits sind ein Archiv der Geschichte<br />
der forensischen Wissenschaften. Die ‚Nudes‘ und die ‚Heads‘, die ich 1989 begann,<br />
wurden dagegen alle im Dunkeln fotografiert, mit einer kleinen Lichtquelle,<br />
mit der ich die Details jeder Person nachzeichnete. Die Sequenz der Bilder ist<br />
für jede Serie die gleiche. Alle Bilder werden auf Film über einen Zeitraum von<br />
ein bis zwei Stunden aufgenommen.<br />
Licht ist mein Zeichenmaterial. In den Kameraportraits erzählt es mir die<br />
Geschichte meiner Beziehung zum Motiv. In den Abdruckportraits, wie zum<br />
Beispiel bei den Handabdrücken oder Masken, ist das Licht ausschließlich metaphorisch,<br />
da die Lichtbereiche aus Schweiß und Hitze entstehen, wenn die<br />
Haut die Filmemulsion berührt. Sie sehen wie Licht aus. Licht erzählt mir immer<br />
die Geschichte. Licht hat mir ermöglicht, so nah an die Wahrheit heranzukommen<br />
wie möglich.<br />
FOTO: GARY SCHNEIDER<br />
Links: Gary Schneider: Genetic Self-Portrait<br />
Mask, 1999<br />
‚Kontaktabzüge‘ des menschlichen Körpers<br />
stellt Gary Schneider mit seinen ‚Imprints‘<br />
her. Was aussieht wie ein geheimnisvolles<br />
Licht, sind in Wirklichkeit Schweiß und<br />
Körperwärme, die auf die Film-Emulsion<br />
einwirken .<br />
D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />
43
06<br />
Ellen<br />
Lupton<br />
Ellen Lupton ist Autorin, Kuratorin<br />
und Grafikdesignerin. Zu ihren<br />
jüngsten Veröffentlichungen gehören<br />
‚D.I.Y: Design It Yourself‘ (2006)<br />
und ‚Thinking with Type‘ (2004). Sie<br />
ist Leiterin des MFA-Programms in<br />
Grafikdesign am Maryland Institute<br />
College of Art (MICA) in Baltimore.<br />
Zudem arbeitet Ellen Lupton als Kuratorin<br />
für modernes Design am<br />
Cooper-Hewitt National Design Museum<br />
in New York, wo sie zahlreiche<br />
Ausstellungen organisierte und Kataloge<br />
veröffentlichte, so auch das<br />
Buch ‚Skin: Surface, Substance + Design‘<br />
(2002).<br />
www.designwritingresearch.org<br />
Mrs. Lupton, was hat Ihnen die Kultur, in der Sie<br />
aufgewachsen sind, über die ‚Haut‘ von Menschen<br />
und Gegenständen vermittelt, und wie hat sich<br />
diese Vorstellung im Laufe der Jahre gewandelt?<br />
Ich wurde 1963 geboren und habe somit die 70er-Jahre als Teenager und<br />
junge Frau erlebt. In dieser Zeit sexueller Freiheit und Experimentierfreude<br />
bekam man Haut überall zu sehen. Mit dem Aufkommen von AIDS Anfang<br />
der 80er haben die Menschen dann begonnen, die menschliche Haut mit anderen<br />
Augen zu betrachten. Heute verbinden wir den Begriff ‚Haut‘ eher mit<br />
technischen Begriffen wie Schutz, Reparatur und Ausbesserung. Die natürliche<br />
Haut und direkter Körperkontakt haben an Bedeutung verloren. Statt<br />
dessen wird viel Gewicht auf künstliche Hüllen und Oberflächen gelegt. Die<br />
Idee von Oberflächen mit aufgeprägten Bildern und Informationen gewinnt<br />
zunehmend an Bedeutung.<br />
War dieser Wandel der Oberflächen zum Bild- und<br />
Informationsträger auf neue digitale Bild- und Produktionstechniken<br />
zurückzuführen, oder war dies<br />
einfach eine Gegenbewegung zu den überwiegend<br />
schlichten, unverzierten Oberflächen der Dinge<br />
während der Moderne?<br />
Teilweise ist dieser Wandel sicher technisch bedingt, da digitale Technologien<br />
den Planungs- und Produktionsprozess nachhaltig verändert haben und es<br />
heute ermöglichen, Sensoren, LEDs und andere ‚intelligente’ Bauteile in die<br />
Oberfläche von Gegenständen zu integrieren. Andererseits dürften die Veränderungen<br />
auch auf die wachsende Bedeutung der Kommunikation in allen Lebensbereichen<br />
zurückzuführen sein. Heute muss alles und jeder sprechen und<br />
eine Botschaft vermitteln. Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat<br />
diese globale Entwicklung bereits Ende der sechziger Jahre in seinen Schriften<br />
zur ‚Herrschaft der Zeichen’ thematisiert. Etwa zur selben Zeit begannen experimentelle<br />
Designer, die gängigen Vorstellungen von Design, das aus der<br />
Struktur eines Objekts entsteht, zu kritisieren und ihre Tätigkeit stattdessen<br />
als eine Art von Publizität anzusehen.<br />
Neue, künstlich hergestellte Hüllen laufen oft den<br />
Sehgewohnheiten zuwider: Harte Gegenstände<br />
wirken weich und umgekehrt, raue Flächen wirken<br />
glatt ... Wird unser Sehvermögen zunehmend unzuverlässig<br />
bei der Wahrnehmung von Oberflächen?<br />
Seit dem Aufkommen der Digitaltechnik können wir uns bei der Einschätzung<br />
der Wahrheit nicht mehr allein auf unsere visuelle Wahrnehmung verlassen.<br />
Sichtbare Flächen können uns täuschen, sie können uns aber auch konkrete Realitäten<br />
vermitteln. Wir haben uns an anpassbare und veränderliche digitale<br />
Oberflächen gewöhnt; sie sind ein Teil unseres Alltags geworden.<br />
Produktdesign und Architektur orientieren sich zunehmend<br />
an den Eigenschaften menschlicher Haut<br />
und natürlicher Oberflächen. Welche Aspekte sind<br />
Ihrer Meinung nach für Designer hier besonders<br />
interessant?<br />
Die Konzeption von Materialien, die Licht sowohl absorbieren als auch ausstrahlen,<br />
ist sehr überzeugend. Heutzutage sind Materialien nicht mehr Nebensache,<br />
sondern Träger von Informationen und Strukturen. Oberflächen<br />
erhalten damit eine wesentliche, nicht mehr nur sekundäre Bedeutung.<br />
Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt<br />
es auf den ersten Blick einen intensiven, aber oberflächlichen<br />
ästhetischen Effekt. Doch die Auswirkungen<br />
dieser ‚Berührung‘ gehen tiefer, unter die<br />
Oberfläche. Inwieweit ist diese unsichtbare Tiefenwirkung<br />
des Lichts für Ihre Arbeit relevant?<br />
Wie schon erläutert, gehört die Fähigkeit einzelner Materialien, Licht aufzunehmen<br />
und auszustrahlen, für mich zu den wichtigsten Errungenschaften moderner<br />
Materialtechnologie und ist somit essentiell für das Design der Zukunft:<br />
Solarmaterialien werden die entscheidende Energiequelle für unseren Lebensraum<br />
sein, sei es durch Licht oder andere Formen nutzbarer Energie.<br />
44 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
07<br />
Aziz + Cucher<br />
Anthony Aziz und Sammy Cucher<br />
erstellen seit 1991 digitale Fotografien,<br />
Skulpturen, Videos und architektonische<br />
Installationen. Sie leben<br />
und arbeiten in New York City. Als<br />
Vorreiter der digitalen Bilddarstellung<br />
wurden die Werke von Aziz +<br />
Cucher weltweit in großen Museen<br />
ausgestellt. Beide sind Fakultätsmitglieder<br />
der Parsons School of Design<br />
in New York.<br />
www.azizcucher.net<br />
Mr. Aziz, Mr. Cucher, was hat Ihnen die Kultur, in<br />
der Sie aufgewachsen sind, über Haut vermittelt,<br />
und wie hat sich diese Vorstellung im Laufe der<br />
Jahre gewandelt?<br />
Ihre ‚Hautlandschaften‘ lassen sich als Reaktion auf<br />
zwei wichtige Phänomene moderner Design- und<br />
Technikentwicklung interpretieren: die Prothetik,<br />
also die Erweiterung oder der Ersatz menschlicher<br />
Körperteile durch technologische Mittel, und die Bionik,<br />
also die Nachbildung natürlicher Strukturen<br />
in künstlich hergestellten Objekten. Welche Hoffnungen<br />
und Befürchtungen verbinden Sie damit?<br />
Beim Betrachten Ihrer Serien ‚Chimera‘ und ‚Interiors‘<br />
habe ich mich gefragt: Wie würden sich diese<br />
Skulpturen und Gebilde, wären sie echt, anfühlen?<br />
Wären sie hart oder weich, trocken oder feucht,<br />
glatt oder rau, warm oder kalt?<br />
Wenn Sie einen architektonischen Raum entwerfen<br />
müssten, welche Aufgabe würde dann seinen<br />
Oberflächen zukommen?<br />
Nächste Doppelseite:<br />
Aziz + Cucher: Interior Study #3, 2000<br />
Aziz + Cucher: Interior #6, 2000<br />
Die ‚Interiors‘ der Künstler Anthony Aziz<br />
und Sammy Cucher oszillieren zwischen<br />
zwei Welten: der Architektur und dem<br />
menschlichen Körper.<br />
Mit unserem kulturellen Hintergrund und unserer Erziehung verbinden wir<br />
keine spezielle begriffliche Vorstellung von Haut. Erst nachdem wir persönlich<br />
und künstlerisch mit der AIDS-Krise konfrontiert wurden, hat die Haut<br />
nicht nur für unsere Arbeit, sondern auch für uns persönlich eine wichtige<br />
Bedeutung gewonnen, obgleich wir AIDS niemals zum direkten Gegenstand<br />
unserer Werke machten. AIDS hat uns nicht nur die Fragilität des menschlichen<br />
Körpers vor Augen geführt, sondern auch die von unserer Spezies entwickelten<br />
raffinierten Immunitäts- und Abwehrmechanismen. Natürlich ist<br />
Haut die wichtigste physische Barriere zwischen unserem Körperinneren und<br />
der Außenwelt. Den vielen mit dieser Dualität von Begrenzung und Abtrennung<br />
verbundenen Metaphern widmen wir uns seitdem mit zunehmendem Interesse,<br />
weniger im biologischen und immungenetischen Sinne als eher unter<br />
einem philosophischen Blickwinkel. So versuchen wir, die Grenzen des menschlichen<br />
Daseins und unseres Bewusstseins auszuloten.<br />
Die Kunst der Prothetik hat uns erstmals während unserer Arbeit an ‚ausradierten‘<br />
Porträts für unsere Serie ‚Dystopia‘ fasziniert. Diese Porträts veranlassten<br />
uns dazu, Objekte zu erfinden, die die Welt dieser ihrer Sinnesorgane<br />
beraubten und nach innen gekehrten Wesen bevölkern könnten. Die so entstandenen<br />
Skulpturen und Fotografien für die Serie ‚Plasmorphica‘ wirkten extrem<br />
kalt. Sie verkörperten unsere Befürchtung, dass moderne Technologien einen<br />
katastrophalen Verlust an Menschlichkeit bedeuten könnten.<br />
Diese negative Sichtweise haben wir in der Serie ‚Interiors‘ leicht abgeschwächt;<br />
hier verschmolz der menschliche Körper mit seiner architektonischen<br />
Umgebung in lyrischer und gleichzeitig unheimlich anmutender<br />
Metamorphose. Heute stehen wir der Technik neutraler gegenüber, da wir ihr<br />
enormes Potenzial (je nach ihrer Nutzung zum Guten oder Schlechten) erkannt<br />
haben. Unsere jüngeren Arbeiten seit der Serie ‚Synaptic Bliss‘ lassen sich als<br />
Hommage an eine technische Art des Sehens interpretieren, die uns tiefere<br />
und vielfältigere Wahrnehmungsmöglichkeiten offenbart.<br />
Ihre Fragen zielen genau auf die Art imaginativer Reaktion ab, die wir bei den<br />
Menschen beim Betrachten dieser Werke evozieren möchten. Natürlich sind<br />
wir keine Wissenschaftler und daher kaum daran interessiert, irgendeine unserer<br />
Kreaturen ‚zum Leben zu erwecken‘. Uns genügt es vollkommen, uns im<br />
Reich von Sinnbildern und Spekulationen zu bewegen. Müssten wir ihnen aber<br />
spezifische Eigenschaften zuweisen, würden sich unsere Hautgebilde vermutlich<br />
weich, warm und vielleicht ein wenig feucht anfühlen.<br />
Die Haut zeichnet sich durch starke metaphorische Bedeutung und zahlreiche<br />
Funktionen aus – wäre es da nicht reizvoll, Gebäude zu entwerfen, deren ‚Hülle‘<br />
nicht nur Gefäß ist, sondern zugleich Sensor und Übermittler lebenswichtiger<br />
Informationen? Porosität und Elastizität sind zwei Eigenschaften, mit denen<br />
sich in der Architektur sicherlich interessant experimentieren ließe.<br />
45
AZIZ + CUCHER<br />
46 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
AZIZ + CUCHER<br />
47
08<br />
Thea<br />
Bjerg<br />
Thea Bjerg ist eine international anerkannte<br />
Textilkünstlerin und -designerin.<br />
Sie arbeitet und experimentiert<br />
seit mehr als zwei Jahrzehnten mit<br />
Licht und Schatten bei textilen Materialien.<br />
Für ihre Arbeiten erhielt sie<br />
unter anderem den japanischen Nagoya<br />
Design DO Award und das große<br />
dänische Stipendium für Kunsthandwerker<br />
aus der Kold-Christensen-<br />
Stiftung. Thea Bjergs Textilien sind<br />
unter anderem in Museen in Peking,<br />
London, Köln und Mexico City ausgestellt.<br />
Ihre Arbeiten werden unter<br />
anderem in den MoMA Stores des<br />
Museum of Modern Art in New York<br />
verkauft. www.theabjerg.com<br />
Frau Bjerg, was haben Ihnen die Kultur, in der Sie<br />
aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung über Textilien<br />
und deren Verhältnis zum menschlichen Körper<br />
vermittelt?<br />
Welche Eigenschaften von Textilien haben Sie im<br />
Laufe Ihrer eigenen Arbeit für sich entdeckt?<br />
Sind Textilien für Sie ein Mittel menschlicher Kommunikation?<br />
Können sie etwas signalisieren – zum<br />
Beispiel durch die Art und Weise, wie sie Teile des<br />
Körpers verdecken und andere enthüllen, und wie<br />
sie den Blick des Betrachters auf diese Weise lenken?<br />
Ich wurde in den 80er-Jahren an der Fakultät für Textildesign der Dänischen<br />
Designschule ausgebildet. Wir beschäftigten uns dort hauptsächlich mit Musterdesign,<br />
also mit der Frage, wie sich ebene, eindimensionale textile Flächen<br />
mit Farben und Mustern ‚ausfüllen’ lassen. Textilien waren für mich damals<br />
noch kein besonders sinnliches und kommunikatives Material, und wir hatten<br />
während unserer Ausbildung auch nur ein sehr eingeschränktes Verhältnis zur<br />
körperlichen Dimension unserer Arbeiten. An der Fakultät gab es jedoch eine<br />
Textilingenieurin, die ein wenig als ‚Freak‘ angesehen wurde. Sie experimentierte<br />
im Kleinen mit besonderen Techniken und Materialien, und ich glaube,<br />
dass ich ihre Herangehensweise später verinnerlicht habe.<br />
Seit ich die Designschule verlassen habe, habe ich meine Arbeit sehr stark auf<br />
das Experimentelle ausgerichtet. Ungefähr ab 1990 begann mich die Frage zu<br />
interessieren, wie man der textilen Fläche einen dreidimensionalen Ausdruck<br />
verleihen könnte. Meine Arbeitsweise wurde ausgesprochen forschungsorientiert,<br />
baute jedoch noch immer auf einer künstlerischer Grundlage auf. Ich arbeite<br />
fast ausschließlich handwerklich mit meinen Textilien, und es bedeutet für mich<br />
eine enorme Freiheit, mit Techniken zu experimentieren, zu denen ich mich selbst<br />
vorgearbeitet habe und die sich schlechterdings nicht auf eine maschinelle Herstellung<br />
übertragen ließen. Je mehr ich Textilien dreidimensional gestalte, desto<br />
sinnlicher und kommunikativer wird dieses Material für mich. Dies hat natürlich<br />
stark mit der dabei entstehenden Räumlichkeit und den Strukturen zu tun, also<br />
mit den Licht- und Schattenwirkungen in den Stoffen. Dass sich meine Textilien<br />
ebenso wie das Licht und das Wetter draußen im Laufe des Tages verändern und<br />
dass sie auch auf diese Weise mit dem Betrachter kommunizieren, wirkt nach<br />
meiner Erfahrung faszinierend und inspirierend auf viele Menschen.<br />
In meinem Projekt AQUATIC aus dem Jahr 2004 wird ein sehr direktes Verhältnis<br />
zum menschlichen Körper spürbar. Ich arbeite hier mit Falten und Plisseetechniken,<br />
die ich im Laufe der Jahre entwickelt habe und die ich teilweise<br />
mit Druck- und Schweißverfahren kombiniere. Diese Werke nenne ich ‚Körperskulpturen‘,<br />
weil sie dem Träger eine stoffliche Silhouette verleihen. Sie sind zugleich<br />
weich und geschmeidig, sie lassen sich um den Körper herum drapieren<br />
und senden starke Signale, dass etwas Besonderes im Spiel ist, etwas Sinnliches.<br />
Textilien sind in meinen Augen ein sehr feminines Material ...<br />
Gleichzeitig lenkt die skulpturale Gestaltung den Blick in vorgegebene<br />
Richtungen und fordert dazu auf, in einem sinnlichen Universum auf Entdeckungsreise<br />
zu gehen. Das geschieht nicht zuletzt, indem ich den Körper verdecke<br />
und enthülle und dabei Licht und Schatten zur Geltung bringe. Es wäre<br />
allerdings verfehlt anzunehmen, dass ich mich mit Textilien ausschließlich<br />
im Verhältnis zum Körper beschäftige. Das Material greift in ebenso hohem<br />
Maße in den Raum ein, entweder skulptural oder als eine bearbeitete Fläche,<br />
und einige meiner künftigen Projekte werden von Textilien als Rauminstallation<br />
oder Raumschmuck handeln. Das kann in Form von Tapeten, Strukturen,<br />
als Abschirmung oder als Lichtfilter geschehen.<br />
Für mich wäre es eine Herausforderung, zum Beispiel mit Architekten zusammenzuarbeiten<br />
und Visionen zu entwickeln, wie sich Textilien als integrierter<br />
Bestandteil eines Bauwerks und anderer räumlicher Zusammenhänge<br />
zur Geltung bringen lassen. Dies meine ich sowohl im praktischen als auch im<br />
dekorativen Sinne. In einer solchen Zusammenarbeit ließen sich einzigartige<br />
textile Konstruktionen und Raumwirkungen erzeugen.<br />
48 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Rechts: Thea Bjerg: Opaline Sea Anemone,<br />
AQUATIC, 2004<br />
In ihrem „Aquatic“-Projekt setzt Thea Bjerg<br />
hauchdünne, plissierte Polyesterstoffe ein,<br />
die den menschlichen Körper verschleiern<br />
und seine Silhouette dennoch durchscheinen<br />
lassen.<br />
Unten:<br />
Thea Bjerg: White Flowers, 1995<br />
FOTO: JEPPE GUDMUNDSEN-HOLMGREEN<br />
Folgende Doppelseite:<br />
Thea Bjerg: Dark Black Scorpion Fish,<br />
AQUATIC, 2004<br />
Welche technischen Entwicklungen haben das<br />
Textildesign in den vergangenen Jahren beeinflusst<br />
und werden es in der nahen Zukunft beeinflussen?<br />
Hat sich auch Ihre Arbeitsweise unter diesen Einflüssen<br />
verändert?<br />
Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt<br />
es auf den ersten Blick einen intensiven, aber oberflächlichen<br />
ästhetischen Effekt. Doch die Auswirkungen<br />
dieser „Berührung“ gehen weit tiefer. In<br />
der Biologie und Medizin ist gerade diese nicht-visuelle<br />
und nicht-oberflächliche Wirkung essenziell<br />
für den Organismus. Sehen Sie hier Parallelen zu<br />
Ihrer eigenen Arbeit?<br />
Ich habe in den letzten Jahren stark mit neuen Techniken wie Lasercut und Ultraschallschweißen<br />
experimentiert; Methoden, mit denen man Textilien sehr<br />
präzise schneiden und schweißen kann. Sie haben mir zum Teil völlig neue gestalterische<br />
Perspektiven eröffnet. Beispielsweise habe ich Muster aus Stoffen<br />
ausgeschnitten und danach plissiert, so dass eine gebrochene und gleichzeitig<br />
strukturierte Oberfläche entstand. Dies ist eine inspirierende und äußerst<br />
dekorative Technik, und bezogen auf die Projekte, die ich weiter oben genannt<br />
habe, wäre es höchst interessant, damit im Hinblick auf Beleuchtung, Lichtabschirmung<br />
und Raumwirkung zu experimentieren.<br />
Die Natur ist für meine Arbeit als Textilkünstlerin eine wichtige Inspirationsquelle.<br />
Die Strukturen im Gefieder eines Vogels, die Schichten der Blüten-blätter<br />
einer Blume, die Art, in der ein Stein geriffelt ist, Licht und Schatten auf<br />
der Haut eines Kriechtieres – ich beobachte diese Vorbilder nicht mit der Absicht,<br />
sie zu kopieren, sondern um sie in einen textilen Ausdruck zu transformieren.<br />
Im AQUATIC-Projekt zum Beispiel hat mich das Universum unter der<br />
Meeresoberfläche mit seinen Korallen, seiner Flora und Fauna sowie seinen<br />
Farben, Muster und Formen intensiv beschäftigt. Und natürlich das Licht, wie<br />
es durch die Wasseroberfläche gebrochen und transformiert und dadurch für<br />
die darin eingebundenen Strukturen und Formationen zu etwas essenziell Lebensspendendem<br />
wird.<br />
FOTO: ROBERTO FORTUNA<br />
49
D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
FOTO: JEPPE GUDMUNDSEN-HOLMGREEN
09<br />
Dietmar<br />
Eberle<br />
Dietmar Eberle leitet gemeinsam mit<br />
Carlo Baumschlager das Architekturbüro<br />
Baumschlager Eberle mit Niederlassungen<br />
in Lochau, Vaduz, Wien,<br />
Peking und St. Gallen. Seit mehr als 20<br />
Jahren lehrt Dietmar Eberle an internationalen<br />
Hochschulen, unter anderem<br />
in Hannover, Wien, Linz, Syracuse<br />
und Zürich, wo er von 2003 bis 2005<br />
Dekan der Architekturabteilung der<br />
Eidgenössischen Technischen Hochschule<br />
(ETH) war. Dietmar Eberle ist<br />
Ehrenmitglied im American Institute<br />
of Architects.<br />
www.baumschlager-eberle.com<br />
Herr Eberle, was haben die Kultur, in der Sie aufgewachsen<br />
sind, und Ihre Ausbildung zum Architekten<br />
Ihnen über Gebäudehüllen vermittelt?<br />
Welche eigenen neuen Erkenntnisse haben Sie in<br />
Ihrer Arbeit als Architekt gewonnen?<br />
Über den Technologiegehalt von Architektur –<br />
Stichwort ‚High Tech kontra Low Tech‘ – wurde und<br />
wird vor allem bei Gebäudehüllen viel diskutiert:<br />
Welche grundsätzlichen Interessen sehen Sie hier<br />
im Spiel, und wie ist Ihre Haltung in dieser Frage?<br />
Welche Auslöser werden die Entwicklung von Gebäudehüllen<br />
in naher Zukunft beeinflussen; und<br />
welche Entwicklungen sehen Sie voraus?<br />
Ich bin in Vorarlberg aufgewachsen, einer gebirgigen und ursprünglich strukturschwachen<br />
Region, in der über Jahrhunderte mit Bedacht und äußerster<br />
Sparsamkeit gewirtschaftet werden musste. Das größte Interesse lag hier<br />
immer beim Nutzen, also beim Verhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis.<br />
Traditionelle Gebäude sind hinsichtlich Konstruktion, Form und Ausgestaltung<br />
der Fassade optimal an das regionale Klima angepasst. In ihnen steckt<br />
ein überzeugendes physikalisches Wissen, das auf jahrhundertealten Erfahrungen<br />
aufbaut und den Weg für einen haushälterischen Umgang mit beschränkten<br />
Ressourcen aufzeigt. Im Studium habe ich mir das erforderliche<br />
Rüstzeug erworben, um das physikalische und technisch-konstruktive Potenzial<br />
unterschiedlicher Materialien auszureizen. Ich habe gelernt, die Gebäudehülle<br />
nicht als feststehende Größe zu begreifen, sondern als eine aus<br />
mehreren Ebenen bestehende Übergangszone, die zwischen den Polen innen<br />
und außen, hell und dunkel, kalt und warm, öffentlich und privat vermittelt.<br />
Gerade Räume wie überdeckte Vorplätze, Eingangshallen, Loggien, nicht beheizte<br />
Wintergärten oder auch Fensterlaibungen sind von großem Reiz, weil<br />
sie immer beide Optionen beinhalten.<br />
Mir wurde klar, dass das Erscheinungsbild der Gebäudehülle eine Schlüsselposition<br />
in der Nachhaltigkeitsdebatte einnimmt. Wie die Erfahrung zeigt, ist es<br />
nicht die technische Qualität, die über die Lebensdauer eines Gebäudes entscheidet,<br />
sondern dessen soziale und kulturelle Dimension. Gebäude werden<br />
nur alt, wenn sie in der gesellschaftlichen Akzeptanz einen besonderen Stellenwert<br />
besitzen – und dieser entscheidet sich in erster Linie auf der sinnlichwahrnehmbaren<br />
Ebene. Architektur teilt sich dem Betrachter vor allem über<br />
ihre Oberfläche mit; bei einer Gebäudebeschreibung ist die Materialisierung<br />
der Gebäudehülle das meistgenannte Merkmal. Als Architekt lege ich deshalb<br />
großen Wert auf natürliche Materialien, die in Würde altern. Außerdem habe<br />
ich erkannt, dass die gerade erwähnte Verräumlichung der Fassade eine besondere<br />
Qualität darstellt in der Kommunikation des Gebäudes nach außen.<br />
Bei all diesen Diskussionen um den Technologiegehalt von Gebäuden gerät<br />
doch das eigentliche Thema gerne in Vergessenheit: die Behaglichkeit. Dabei<br />
ist sie es, um die es beim Bauen letztlich geht. Was interessiert es die Leute,<br />
ob das Gebäude ein paar Watt mehr oder weniger verbraucht; stattdessen<br />
zählen für sie in erster Linie der Komfort und die Aufenthaltsqualität in den<br />
Räumen. Ich persönlich bin der Meinung, dass alles an Technik, was dem Komfortbegriff<br />
nicht direkt und unbedingt zuträglich ist, weggelassen werden<br />
sollte. Gerade bewegliche Techniken, die einer konstanten mechanischen Beanspruchung<br />
ausgesetzt sind, bedingen periodische Instandhaltungsarbeiten.<br />
Sie unterliegen meist einem schnelleren Verfallsprozess, als dies beispielsweise<br />
bei statischen Elementen der Fall ist. Im Übrigen besteht Komfort auch darin,<br />
dass so wenig Bedienung wie möglich erforderlich ist. Damit ein Gebäude<br />
nachhaltig und langfristig funktioniert, muss man die Technik nicht optimieren,<br />
sondern minimieren.<br />
Ein Thema von großer gesellschaftlicher Relevanz ist die Senkung des Energieverbrauchs.<br />
In den entwickelten Gesellschaften werden 50 bis 60 % des<br />
Primärenergiebedarfs allein für die Errichtung und das Betreiben von Gebäuden<br />
aufgewendet. Wir, die wir im Bauwesen engagiert sind, können, müssen<br />
also die wesentlichen Beiträge zur Verbesserung der Ressourcenproblema-<br />
52 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Rechts: Baumschlager Eberle:<br />
Verwaltungsgebäude Saeco,<br />
Lustenau, 1998<br />
Ganz rechts: Baumschlager<br />
Eberle: Wohnen am Lohbach,<br />
Innsbruck, 2000<br />
Folgende Doppelseite:<br />
Baumschlager Eberle:<br />
BTV, Wolfurt, 1998<br />
Wohnanlage Eichgut,<br />
Winterthur, 2005<br />
PHOTOS (PAGES 53–55): EDUARD HUEBER<br />
tik erbringen. Unser Ziel muss es sein, Gebäude so zu bauen, dass sie in einem<br />
höheren Maße selbstregulierend sind und sehr präzis auf die örtlichen Klimatologien<br />
reagieren. Bemühungen zur energetischen Fassadenoptimierung<br />
machen allerdings nur dann Sinn, wenn eine Betrachtung des Gebäudes als<br />
Gesamtsystem erfolgt. Gebäudehülle und Technik stellen darin die wichtigsten<br />
Teilsysteme dar, die miteinander in Interaktion stehen. Insgesamt werden<br />
uns immer mehr hochwertige, physikalisch effektive Materialien zu ökonomisch<br />
sinnvollen Preisen zur Verfügung stehen. Diese Entwicklung ist besonders<br />
stark im Bereich der Glastechnologie zu erkennen. Hier geht es vor allem<br />
in die Richtung, dass Gläser zunehmend imstande sind, sich selbstständig an<br />
Umwelteinflüsse wie zum Beispiel wechselnde Lichtverhältnisse anzupassen.<br />
Große Veränderungen sind auch in der Dämmtechnik abzusehen, wo die<br />
Reduktion der Dämmstärken mit einer gleichzeitigen Qualitätsverbesserung<br />
einhergeht. Für gemäßigtere Klimazonen bedeutet dies, dass sich bereits in<br />
naher Zukunft eine Heizung erübrigen wird. Ganz allgemein werden wesentlich<br />
weniger haustechnische Anlagen notwendig sein.<br />
Welche Lichtqualitäten suchen Sie mit den Gebäudehüllen,<br />
die Sie entwerfen, den Innenräumen zu<br />
verleihen?<br />
Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt<br />
es auf den ersten Blick einen intensiven, aber<br />
oberflächlichen ästhetischen Effekt. Doch die<br />
Auswirkungen dieser ‘Berührung’ gehen weit tiefer,<br />
unter die Oberfläche. In der Biologie und Medizin<br />
ist gerade diese nicht-oberflächliche Wirkung<br />
essenziell. Sehen Sie hier Parallelen zu Ihrer eigenen<br />
Arbeit, und welche Konsequenzen ziehen<br />
Sie daraus?<br />
Zuerst einmal bin ich der Meinung, dass – unabhängig davon, ob es sich um<br />
ein Wohn- oder Bürohaus oder auch um ein öffentliches Bauwerk handelt –<br />
bei allen Gebäuden dasselbe im Vordergrund steht: das Wohlergehen und die<br />
Behaglichkeit des Menschen. Bauen ist die Unterscheidung zwischen Innen<br />
und Außen. Es ist ein Akt der Ausgrenzung einer kleinen Einheit, deren fundamentale<br />
Eigenschaften in einer Ergänzung des jeweils anderen Zustands liegen;<br />
also im Dunkeln, in der Geborgenheit und im Geschütztsein vor Wind und<br />
Wetter. Tageslicht bindet das Innen ans Außen. Seine vermittelnde Wirkung<br />
kann es allerdings nur ausüben, wenn zwischen dem Innen- und dem Außenraum<br />
ein Gefälle hinsichtlich der Helligkeit besteht. Dieses Gefälle hängt ab<br />
von der Beschaffenheit der Gebäudehülle bzw. der Anzahl an lokalen Durchbrechungen.<br />
Je mehr Licht sie einlässt, umso mehr verliert das Innere von seiner<br />
spezifischen Innenraumwirkung und dem damit verbundenen Gefühl der<br />
Geborgenheit. Ich halte es für einen Denkfehler, wenn man die Lichtverhältnisse<br />
des Innenraums jenen des Außenraums anzugleichen sucht. In meinen<br />
Projekten versuche ich, technische und bauliche Strukturen schaffen, die spannungsreiche<br />
Übergangszonen zwischen Hell und Dunkel anbieten und Mehrdeutigkeiten<br />
zulassen.<br />
Wie in der Medizin interessiert auch in der Architektur nicht die unmittelbare<br />
physikalische Lichteinstrahlung, sondern vielmehr das, was der Lichteinfall<br />
im Zusammenspiel mit seinem Gegner, dem Schatten, in der Summe bewirkt:<br />
die Erzeugung einer bestimmten Atmosphäre. Diese erleben wir allerdings nur<br />
in der leibhaftigen Begegnung mit Bauwerken und in ihrer Begehung. Im Architekturentwurf<br />
werden indessen Licht- oftmals mit Sichtbedingungen verwechselt<br />
und neben dem Auge die übrigen Sinne vergessen. Man versucht,<br />
möglichst helle und ‚optimale‘ Lichtverhältnisse herzustellen, die dem Kunstlicht<br />
nahe kommen und das Sehen erleichtern sollen. Tageslicht unterliegt hingegen<br />
einem zeitlichen Wandel. Untersuchungen zeigen, dass es gerade diese<br />
Eigenschaft seiner Veränderlichkeit ist, die das Wohlbefinden des Menschen<br />
im Raum positiv beeinflusst. Es ist mir deshalb wichtig, Tageslicht nicht als<br />
statische Größe zu begreifen, sondern als einen dynamischen Parameter in<br />
den Entwurf miteinzubeziehen und damit auch Zwischentöne, Diffusionen und<br />
Verschleierungen zuzulassen.<br />
53
10<br />
Kengo<br />
Kuma<br />
Kengo Kuma wurde 1954 in der<br />
japanischen Präfektur Kanagawa<br />
geboren. 1979 schloss er sein Architekturstudium<br />
an der Universität in<br />
Tokio ab. Nach einem Graduiertenstipendium<br />
an der Columbia University<br />
gründete er 1987 das Büro Spatial<br />
Design Studio und 1990 sein heutiges<br />
Büro Kengo Kuma & Associates.<br />
Von 1998 bis 1999 lehrte er an der Fakultät<br />
für Umweltinformationen und<br />
seit 2001 an der Fakultät für Wissenschaft<br />
und Technologie der Keio Universität<br />
in Tokio. www.kkaa.co.jp<br />
Herr Kuma, was hat Ihnen die Kultur in der Sie<br />
aufgewachsen sind, über Licht vermittelt?<br />
Inwieweit hat sich Ihre Auffassung von Licht im<br />
Laufe der Jahre verändert<br />
In seinem Buch ‚Lob des Schattens‘ erläutert Junichiro<br />
Tanizaki die kulturellen Unterschiede im<br />
Bezug auf Licht und seine Wechselwirkungen mit<br />
Oberflächen, die zwischen der traditionellen japanischen<br />
und modernen westlichen Kulturen bestanden.<br />
In welcher dieser Kulturen sehen Sie Ihre<br />
eigene Arbeit verankert?<br />
Sie haben mehrfach gesagt, dass auf das 20. Jahrhundert,<br />
das in der Architektur ein ‚Jahrhundert<br />
der Form‘ gewesen sei, nun das 21. Jahrhundert als<br />
‚Jahrhundert des Lichts‘ folge. Was bestärkt Sie in<br />
dieser Überzeugung?<br />
Das Haus, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, lag in einem Vorort von<br />
Yokohama. Es war ein kleines Holzhaus aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg und<br />
hatte eine ganz andere Architektur als das Haus meines Freundes, das in den<br />
60er-Jahren gebaut worden war. Es hatte ein langes Vordach, die Fensterrahmen<br />
waren aus Holz und vor den Glasfenstern waren auf der Innenseite Schiebetüren<br />
aus japanischem Papier. Es gab zwar nur ein Zimmer, das mit Tatami<br />
(Reisstrohmatten) ausgelegt war, aber es war das Zimmer, das mir am besten<br />
gefiel. Auf diesen Tatami zu sitzen und mit meinen Bauklötzen zu spielen, während<br />
das warme Licht der Abendsonne, das durch die Schiebetüren drang, auf<br />
mich fiel, waren für mich glückliche Stunden.<br />
Die Architektur, die man uns an der Universität lehrte, basierte auf Beton, Eisen<br />
und Glas und war damit ganz anders als die meines Zuhauses. Auch über die<br />
Handhabung von Licht habe ich an der Universität nichts gelernt. Wie wichtig<br />
das Verhältnis von Architektur und Licht ist, wurde mir erneut 1985, als in<br />
New York wohnte, durch den Austausch mit dem Leuchtendesigner Edison<br />
Price bekräftigt. Ich hatte in meiner New Yorker Wohnung Tatami ins Wohnzimmer<br />
gelegt und dort öfter mit Freunden Tee getrunken und dort hörte ich<br />
von ihm eine Episode aus der Zeit, als er mit Mies van der Rohe und Louis Kahn<br />
gearbeitet hatte. „Haben Mies und Kahn sich auch intensiv mit Licht auseinandergesetzt?“,<br />
fragte ich erstaunt und dachte, dass auch ich eine Art von Architektur<br />
entwerfen möchte, die sich mit Licht beschäftigt. Damals beschloss ich,<br />
noch einmal das traditionelle japanische Licht, das mir aus meiner Kindheit vertraut<br />
war, zu untersuchen. Jene New Yorker Tatami habe ich Edison geschenkt<br />
und ich habe gehört, dass er auf diesen Tatami gestorben ist.<br />
Der ‚Lob des Schattens‘ von Tanizaki ist ein wunderbares Werk. Darin wird<br />
deutlich beschrieben, dass die Unterschiede zwischen zwei Kulturen mit dem<br />
unterschiedlichen Umgang mit Licht zu begründensind. So wichtig ist der Faktor<br />
Licht für eine Kultur! Aber leider kam nach dem 2. Weltkrieg der Beton aus<br />
dem Westen nach Japan und hat die Städte und Architektur in Japan gründlich<br />
zerstört. Es wurde nicht nur die Hardware ‚Stadt‘ zerstört; sondern auch<br />
die Software ‚Kultur‘ hat einen entscheidenden Schaden erlitten. Was ich<br />
versuche, ist diesen Schaden zu beheben. Daher ist es notwendig, auch in<br />
großen Gebäuden natürliche Baustoffe wie Holz zu verwenden, und wichtig,<br />
auch dort den sensiblen Umgang mit Licht, wie er von Tanizaki gepriesen<br />
wurde, beizubehalten.<br />
Das 20. Jahrhundert war ein Zeitalter, in dem Architektur durch die Fotografie<br />
erfahren wurde. Einfach ausgedrückt war diejenige Architektur beliebt, die<br />
man gut auf Fotos darstellen konnte. Und fotogene Architektur ist eine Architektur<br />
der charakteristischen Formen. Im 21. Jahrhundert wird jedoch die<br />
direkte Erfahrung durch einen Besuch vor Ort für die Menschen immer wichtiger.<br />
Durch das direkte Erleben des Objekts und des Raumes erhoffen sich die<br />
Menschen einen emotionalen Input. In dieser Situation werden Licht und Material<br />
zu den wichtigsten Faktoren eines Entwurfs. Es entsteht eine direkte<br />
Kommunikation zwischen Material, Licht und dem menschlichen Körper. Wir<br />
leben in einem Zeitalter, in dem Architektur unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge<br />
neu definiert werden muss.<br />
56 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Rechts: Kengo Kuma & Associates:<br />
Büro und Showroom Z58,<br />
Shanghai, 2006<br />
Ganz rechts und folgende Doppelseite:<br />
Kengo Kuma & Associates: Ginzan<br />
Onsen Fujiya,Obanazawa, 2006<br />
Durch die Auflösung des Lichts in ein<br />
dichtes Gewebe aus Licht- und Schattenflächen<br />
lässt Kengo Kuma in vielen<br />
seiner Bauten das Halbdunkel traditioneller<br />
japanischer Häuser wieder<br />
erstehen, das Junichiro Tanizaki in<br />
‚Lob des Schattens‘ beschrieben hat.<br />
PHOTO: MITSUMASA FUJITSUKA<br />
PHOTO: DAICI ANO<br />
Wie werden sich die Prinzipien der Materialverwendung<br />
in der Architektur verändern?<br />
In unserer visuell dominierten Kultur funktioniert<br />
das Erkennen eines Ortes oder Raumes in der Regel<br />
primär über dessen Elemente und ihre Form, weniger<br />
über Materialien, Gerüche und Geräusche.<br />
Welche Rolle spielt das Licht in diesem Zusammenhang?<br />
Was genau verstehen Sie unter der ‚Auflösung‘ des<br />
Lichts, einer Strategie, die Sie häufig in Ihren Entwürfen<br />
verwenden, und welche Bedeutung hat sie<br />
für Sie?<br />
Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt<br />
es auf den ersten Blick einen intensiven, aber oberflächlichen<br />
ästhetischen Effekt. Doch die Auswirkungen<br />
dieser ‚Berührung‘ gehen tiefer, unter die<br />
Oberfläche, und genau diese unsichtbare Tiefenwirkung<br />
des Lichts ist für uns lebensnotwendig.<br />
Inwiefern ist diese Analogie für Ihre Arbeit relevant?<br />
Beton und Eisen waren funktionale Materialien, die eine freie Form ermöglicht<br />
haben. In diesem Sinne war die Form das oberste Ziel und die Materialien<br />
haben sich der Form untergeordnet. Aber im 21. Jahrhundert kommunizieren<br />
die Materialien mit dem menschlichen Körper. Der Körper erhofft sich durch<br />
die Materialien eine Heilung. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis muss man<br />
das Material für einen Bau auswählen. Natürliche Materialien wie Holz, Papier<br />
oder Stein werden gemäß der neuen Maxime des Zusammenspiels mit<br />
dem Körper erneut die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.<br />
Bei dem Bewusstsein für einen Ort spielt das Licht eine große Rolle. Besonders<br />
das Licht bei Schnee oder Regen ist je nach Ort charakteristisch. Deshalb lasse<br />
ich, obwohl ich Architekturfotografie eigentlich nicht mag, Aufnahmen meiner<br />
Gebäude gerne an Regen- oder Schneetagen machen, weil ich so dieses einmalige<br />
‚Zusammenkommen‘ dieses besonderen und einzigartigen Lichts mit<br />
dem Bauwerk festhalten kann.<br />
‚Auflösung von Licht‘ bedeutet, dem genauen Ausdruck, den sowohl Licht als<br />
auch Schatten hervorbringen, Bedeutung beizumessen. Das traditionelle japanische<br />
Fenstergitter ist ein hervorragendes Detail zur Auflösung von Licht.<br />
Weil an der Grenze zwischen Licht und Schatten der schönste Ausdruck eines<br />
Materials sichtbar wird, widme ich dieser Grenze beim Entwerfen mein besonderes<br />
Augenmerk.<br />
Ich denke in Analogie an die Haut von verschiedenen Menschen über meine Architektur<br />
nach. Wir sehen die Oberfläche einer Haut, aber auch die Unterseite<br />
mit all den dort übereinanderliegenden Dingen wird auf die Oberfläche projiziert.<br />
Durch die Betrachtung der Oberfläche können wir nämlich alles, was darunter<br />
liegt – Gesundheitszustand, Alter, Kraft, Energie – erspüren.<br />
Aus diesem Grund entwerfe ich die Konstruktion auf der Unterseite genauso<br />
sorgfältig wie die Oberfläche der Haut. Zum Beispiel bilden Steine, die<br />
in einer zwei Zentimeter dicken Schicht auf Beton befestigt sind, eine deutlich<br />
andere Haut als Steine, die vertikal aufeinandergeschichtet wurden. Ich<br />
bemühe mich um eine Detailliertheit, die den Menschen diesen Unterschied<br />
deutlich macht.<br />
57
D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
FOTO: DAICI ANO
11<br />
Ulrike<br />
Brandi<br />
Ulrike Brandi leitet gemeinsam mit<br />
Dr. Christoph Geissmar-Brandi das<br />
Büro Ulrike Brandi Licht in Hamburg,<br />
mit dem sie Lichtplanungskonzepte<br />
unter anderem für das British Museum<br />
in London, das Mercedes-Benz-<br />
Museum in Stuttgart, den Pudong<br />
Airport in Shanghai und die Elbphilharmonie<br />
Hamburg entwickelt hat.<br />
Neben ihrer praktischen Tätigkeit initiierte<br />
Ulrike Brandi zahlreiche Forschungsvorhaben,<br />
unter anderem<br />
zur Verwendung von Glas im Museumsbau<br />
sowie zur Entwicklung von<br />
Leuchtdioden. Sie ist Autorin mehrerer<br />
Fachbücher zum Thema Licht,<br />
unter anderem dem ‚Lichtbuch‘ , das<br />
2001 bei Birkhäuser erschienen ist.<br />
www.ulrike-brandi.de<br />
Frau Brandi, was haben die Kultur, in der Sie aufgewachsen<br />
sind, und Ihre Ausbildung Ihnen über<br />
Licht vermittelt?<br />
Noch stärker und unmittelbarer als die Kultur hat die Landschaft, in der ich<br />
aufgewachsen bin, mein Licht-Bewusstsein beeinflusst. In Norddeutschland<br />
gibt es Tageslicht aus einer 180°-Himmelskuppel über einer flachen grünen<br />
Landschaft. Wohnungen mit Westfenstern erlauben den Blick auf den Sonnenuntergang,<br />
der wie Feuer aussehen kann. Bei seinem Anblick gerate ich<br />
ins Schwärmen.<br />
Gleichzeitig beeinflussen die großen Physiker und Astronomen wie Johannes<br />
Kepler, Isaac Newton, Galileo Galilei meinen Umgang mit Licht. Ich bewunderte<br />
ihre Entdeckungen über Eigenschaften des Lichtes und die Formulierungen<br />
von Gesetzen. Spektralanalysen erzählen von Materie in unvorstellbarer Ferne.<br />
Mit Licht messen wir Bewegungen von Himmelskörpern. Licht ist schnell – und<br />
trotzdem erlaubt es uns den Blick in die Vergangenheit des Weltalls.<br />
Was unsere Kultur angeht, fallen mir einige schöne Gedichte über das Licht ein;<br />
zum Beispiel ‚Das Fräulein stand am Meere’ von Heinrich Heine:<br />
Das Fräulein stand am Meere<br />
Und seufzte lang und bang,<br />
Es rührte sie so sehre<br />
Der Sonnenuntergang.<br />
„Mein Fräulein! Sein Sie munter,<br />
Das ist ein altes Stück:<br />
Hier vorne geht sie unter<br />
Und kehrt von hinten zurück.“<br />
Übrigens, meine Ausbildung bezüglich des Lichts findet weiter dauernd statt,<br />
insofern gibt es da keine fertigen Lehren aus einer früheren Zeit. – Als ich mich<br />
auf Lichtplanung spezialisierte, hatte ich Angst, dass dieses vermeintlich ‚eingeschränkte‘<br />
Thema für ein ganzes Leben nicht reichen könnte – heute weiß<br />
ich, dass ein ganzes Leben für das Thema Licht nicht ausreicht.<br />
Oft wird behauptet, Licht sei in der zeitgenössischen<br />
Architektur zu einem ‚Material‘ im eigenen<br />
Sinne geworden oder werde wie ein solches<br />
verwendet. Trifft das Ihrer Meinung nach zu?<br />
Nein, Licht spielt mit verschiedensten Materialien und Oberflächen, aber es<br />
ist kein ‚Baustein‘ von Häusern. Es ist einfach da, oder es wird geschickt zum<br />
Fenster hereingelassen, fein reflektiert – es hat eine völlig andere Existenz<br />
als jedes Material.<br />
In der Lichtplanung wird heute nicht länger über die<br />
Alternative ‚Tages- oder Kunstlicht‘ diskutiert, sondern<br />
immer häufiger über die gegenseitige Ergänzung<br />
von Tages- und Kunstlicht. Ist die Arbeit des<br />
Lichtplaners dadurch leichter, schwieriger oder einfach<br />
interessanter geworden?<br />
Tages- und Kunstlicht alternativ zu diskutieren wäre dumm, vielleicht passiert<br />
das, wenn man einen rein ‚elektrotechnischen‘ Zugang wählt. Für mich beginnt<br />
schon immer Kunstlichtplanung mit einer Betrachtung des spezifischen Tageslichts<br />
des besonderen Ortes. Steht die Sonne im Sommer hoch? Wie weit<br />
fällt das Sonnenlicht abends in den Raum hinein? Zieht sich die Dämmerung<br />
lange hin? Ist das Wetter eher klar oder wolkenreich? Ähnlich wird der Architekt<br />
denken, bevor er sich für bestimmte Materialien entscheidet und am<br />
schönsten ist es, wenn er sich mit mir darüber austauscht.<br />
60 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Below UN Studio: Mercedes<br />
Museum in Stuttgart, 2006<br />
Für den Neubau des Mercedes-<br />
Museums in Stuttgart konzipierte<br />
Ulrike Brandi ein Tages- und<br />
Kunstlichtkonzept, das die Dualität<br />
von stark extrovertierten<br />
‚Kollektionsräumen‘ und innen<br />
liegenden ‚Mythenräumen‘ aufgreift<br />
und weiterführt.<br />
Derzeit werden in schneller Abfolge immer neue<br />
Materialien für die Architektur entdeckt, tauchen<br />
auf und verschwinden oftmals auch rasch wieder.<br />
Wie stellen Sie sich in Ihrer Arbeit auf deren lichtspezifische<br />
Eigenschaften ein?<br />
Wenn wir (Architekten und Lichtplaner) gemeinsam Lichtwirkungen an neuen<br />
Materialien ausprobieren, entwickeln wir ein Gefühl dafür, was passt und was<br />
Räumen neue, auch unvermutete Qualitäten gibt. Wir erkennen auch, wo ein<br />
Material eine Erwartung nicht erfüllt und wo verblüffende Effekte entstehen,<br />
die einfach lustig sind. Es macht Spaß, das alles zu wissen. Die Kunst – oder die<br />
eigene Sicherheit – ist es dann, nur die Elemente einzusetzen, die einen Raum<br />
schöner, angenehmer und stimmiger machen.<br />
Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt<br />
es auf den ersten Blick einen intensiven, aber<br />
oberflächlichen ästhetischen Effekt. Doch die<br />
Auswirkungen dieser ‚Berührung’ gehen weit tiefer,<br />
unter die Oberfläche. Sehen Sie hier Parallelen zu<br />
Ihrer eigenen Arbeit?<br />
Selbstverständlich. Ich würde mir wünschen, dass unsere Lichtatmosphären<br />
den Benutzern „unter die Haut gehen“ – vor Schönheit, weil sie genau den Bedürfnissen<br />
entsprechen, weil sie entspannend und angenehm oder aufregend<br />
sind. Tief berührt ist man ja oft erst nach einer Weile oder wenn man nach häufigen<br />
Besuchen eines Ortes immer noch diese besondere Nähe spürt.<br />
FOTO: DAIMLERCHRYSLER AG<br />
61
12<br />
Steven<br />
Scott<br />
Steven Scott, Jahrgang 1955, lebt<br />
und arbeitet in Kopenhagen. Er begann<br />
seine Karriere als Lichtgestalter<br />
für Theaterbühnen in ganz Europa.<br />
Seit 1997 stellt er seine Arbeiten<br />
regelmäßig in europäischen Galerien<br />
aus. Steven Scott wird von der<br />
Galleri Weinberger in Kopenhagen<br />
und der Galerie König in Frankfurt<br />
vertreten. Seine Lichtkunstwerke<br />
wurden in öffentliche Sammlungen<br />
in Österreich, Dänemark, Deutschland,<br />
Holland und Großbritannien<br />
aufgenommen. 2006 erschien das<br />
Buch ‘Seventy Seven’ über seine<br />
Lichtinstallation in der Deloitte-<br />
Hauptverwaltung in Kopenhagen.<br />
www.stevenscott.dk<br />
Mr. Scott, was haben die Kultur, in der Sie aufgewachsen<br />
sind, und Ihre Ausbildung Ihnen über das<br />
Thema Licht vermittelt?<br />
Inwieweit hat sich Ihre Vorstellung von Licht im<br />
Laufe Ihrer Karriere verändert?<br />
Sie haben oft in Theatern gearbeitet, die hinsichtlich<br />
der Beleuchtung eigentlich ‚black boxes‘ sind.<br />
Was war Ihre größte Herausforderung, als Sie aus<br />
dem Dunkeln heraustraten und begannen, an Orten<br />
mit Umgebungs- und Tageslicht zu arbeiten?<br />
Farben spielen eine große Rolle in Ihren Arbeiten,<br />
und doch sind die Fähigkeiten des Menschen, Farben<br />
zu unterscheiden, begrenzt. Kann diese Fähigkeit<br />
geschult oder verbessert werden, wenn man<br />
oft mit farbigem Licht arbeitet?<br />
Ich bin im Zentrum von London aufgewachsen, und meine Gedanken über das<br />
Licht waren immer mit der sich verändernden Skyline der Stadt und den Farben<br />
ihres Himmels verbunden. Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, nahm mich<br />
mein Vater, der beim Theater arbeitete, mit hinter die Bühne. Ich war von der<br />
Atmosphäre fasziniert, die in dieser illusionären Welt erschaffen wurde, und<br />
ich denke, mein Gespür für die beiden Welten des Realen und des Un-Realen<br />
haben sich in dieser Zeit entwickelt.<br />
Meine frühe Arbeit im Theater am Royal Court und in den Riverside Studios hat<br />
meine Arbeitsweise und meinen Werdegang enorm beeinflusst. Die Lichtgestalter<br />
jener Zeit, wie etwa Andy Phillips oder Rory Dempster, arbeiteten viel<br />
mit der Intensität von Lampentemperaturen, um Farben zu erzeugen: Niedrige<br />
Temperaturen ergaben ein warmes, hohe Temperaturen ein eher kühles Licht.<br />
Nur wenige Farbfilter wurden dabei benutzt. Die sparsame Verwendung von<br />
Farben und die gleichzeitige Vielzahl wahrgenommener Farbtöne waren ein<br />
Auslöser für meine weiteren Experimente mit diesem Thema. Die Regisseure<br />
und Lichtgestalter im Royal Court führten seinerzeit eine Tradition fort, die von<br />
George Devine über die Motleys bis zum großen Edward Gordon Craig Anfang<br />
des 20. Jahrhunderts reichte. Obwohl ich Craigs Arbeit nur aus alten Drucken<br />
kannte, konnte ich erkennen, dass er den Raum mit Licht formte. Die Werte<br />
von Licht, Raum und Form haben mich seitdem immer begleitet.<br />
Meinen ersten Schritt habe ich bereits im Theater gemacht, als ich bei Freilichtveranstaltungen<br />
arbeitete. Die meisten Vorstellungen begannen bei Anbruch<br />
der Dunkelheit, und dies wurde als massives Problem betrachtet, da die<br />
Bühne in diesem Fall keine ‚black box‘ war und die Kontrolle der Beleuchtung<br />
dementsprechend schwer fiel. Ich habe schnell erkannt, dass die untergehende<br />
Sonne einen Teil der Lichtszenerie der Vorstellung bildete. Die Langsamkeit der<br />
ersten Ausblendung (des Sonnenuntergangs) und die Art und Weise, wie sich<br />
die Augen allmählich an die Dunkelheit und das künstliche Licht gewöhnten,<br />
habe ich sehr intensiv erfahren. Diese frühen Erfahrungen im Theater haben<br />
mir bei meinen Experimenten geholfen, die in Kunstwerke für Galerien und später<br />
auch für die Architektur und Landschaftsgestaltung mündeten.<br />
Ich bin mir nicht sicher, ob die Farbwahrnehmung eines Menschen jemals mit der<br />
eines anderen übereinstimmt, obwohl wir natürlich Tabellen und Definitionen<br />
von spezifischen Farben haben. Das ist eine Wissenschaft für sich.<br />
Als Künstler arbeite ich mit Farben im Licht, die sich konstant verändern<br />
und die zudem von der Oberfläche und Textur beeinflusst werden, auf die das<br />
Licht fällt. Wenn sich das Umgebungslicht also konstant verändert, wird die<br />
Art, wie wir sehen, in mehrfacher Weise komplett transformiert. Die Oberfläche<br />
beeinflusst die Farbe, die Textur beeinflusst die Farbe und das Umgebungslicht<br />
beeinflusst natürlich die Arbeit im Ganzen. Ich habe gelernt, dieses<br />
sich ändernde Umgebungslicht zu akzeptieren, so dass es meinen sich ständig<br />
verändernden Arbeiten eine neue Qualität verleiht. Meine Arbeiten werden<br />
nie mehrmals auf die exakt gleiche Weise wahrgenommen. In sich selbst verändern<br />
sie sich nur innerhalb vorbestimmter Rahmenbedingungen, aber sie<br />
werden in einem sich stets verändernden Umfeld betrachtet. Ich gebe die Kontrolle<br />
ab und lasse diese Veränderung Teil der Arbeit werden.<br />
62 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Diese Seite und folgende Doppelseite:<br />
Steven Scott: Seventy-Seven, 2006<br />
Steven Scotts Lichtinstallation für<br />
die Deloitte-Hauptverwaltung in<br />
Kopenhagen setzt dem Wechsel des<br />
Tageslichts und der Bewegung der<br />
Menschen im Atrium eine eigene<br />
Dynamik entgegen. Breite schwarze<br />
Streifen rhythmisieren die Unterseiten<br />
der Treppen und Stege, auf denen<br />
unterschiedlich farbige Flächen<br />
scheinbar ‚entlangwandern‘.<br />
FOTOS (SEITEN 63–65): ADAM MØRK<br />
Sind Ihnen bei der Arbeit mit Farben die Gefühle<br />
und Stimmungen bewusst, die sie bei Menschen<br />
hervorrufen? Gibt es eine intersubjektive<br />
Wahrnehmung von Farben und den Stimmungen,<br />
die sie hervorrufen?<br />
Wie sollten Tageslicht und künstliches Licht in der<br />
Architektur interagieren? Gibt es Verwendungszwecke,<br />
für die sich nur künstliches Licht oder<br />
nur Tageslicht eignen?<br />
Inwieweit sehen Sie die Veränderlichkeit und Periodizität<br />
von natürlichem Licht als ein Vorbild für<br />
die Arbeiten von Lichtkünstlern und Lichtchoreografen<br />
wie Ihnen an?<br />
Gefühle und Stimmungen sind von Person zu Person sehr unterschiedlich, und<br />
ich bin mir dieser individuellen Sichtweise sehr wohl bewusst. Ich glaube jedoch,<br />
dass die meisten Menschen nach einer Ausgeglichenheit und Harmonie<br />
streben, wie sie in weißem Licht gegeben ist; also nach einer Balance der Farben,<br />
die sich zu weißem Licht addieren. Wenn ich eine Farbmischung in den<br />
Rot/Grün-Teil des Spektrums verschiebe, vermisse ich die Farbe Blau. Diese<br />
persönliche Erfahrung ist der Grund dafür, dass die meisten meiner Arbeiten<br />
das volle Farbspektrum einbeziehen, kombiniert mit einer unmerklichen Veränderung<br />
der Farben. Ich möchte, dass das Auge diese Harmonie zwischen<br />
Farbe und Veränderung wahrnimmt.<br />
Ganz allgemein glaube ich, dass die meisten Gebäude überbeleuchtet und die<br />
meisten städtischen Räume schlecht beleuchtet sind. Ich würde eine genauere<br />
Untersuchung darüber begrüßen, wie Tageslicht und direktes Sonnenlicht in<br />
einen Raum einfallen, um Tageslichtbedingungen zu schaffen, die im Einklang<br />
mit dem im Raum installierten Kunstlicht stehen. Die ‚zwei Lichter‘ müssen<br />
miteinander in Harmonie gebracht werden.<br />
Tageslicht ist ein primärer Bestandteil meiner Arbeiten. Dieser Grundsatz gilt<br />
meiner Ansicht nach für die meisten Künstler, die mit Licht in der Architektur<br />
arbeiten. Das Verständnis von der Richtung, der Tageszeit, der Jahreszeit<br />
und des Einfallswinkels der Sonne auf eine Oberfläche sind wichtige Elemente,<br />
um eine erfolgreiche Arbeit zu erschaffen, die vom natürlichen Licht der Umgebung<br />
und dem direkten Sonnenlicht beeinflusst werden. Eine erfolgreiche<br />
Arbeit bezieht immer das natürliche Licht mit ein.<br />
63
D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
13<br />
Michael<br />
Bleyenberg<br />
Michael Bleyenberg studierte Kunst<br />
in Düsseldorf/Münster und Braunschweig.<br />
Nach der Meisterklasse bei<br />
Norbert Thadeusz und dem Staatsexamen<br />
arbeitete er in Ateliers in den<br />
USA und in Mexiko, bevor er sich 1985<br />
in Köln niederließ. Seit 1992 widmet<br />
sich Michael Bleyenberg der Arbeit<br />
mit Holographie, Lasertechnik und<br />
elektronischen Medien. 1994 erhielt<br />
er ein Diplom für audiovisuelle<br />
Medien an der Kunsthochschule für<br />
Medien in Köln, wo er 1994-2002<br />
auch als künstlerisch/wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter tätig war. Michael<br />
Bleyenberg wurde mehrfach<br />
für seine holographischen Arbeiten<br />
ausgezeichnet und ist seit 2006 Mitglied<br />
der Internationalen Kepes Society<br />
in Ungarn.<br />
http://holonet.khm.de/eyefire/<br />
vita.html<br />
Herr Bleyenberg, was haben die Kultur, in der Sie<br />
aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung Ihnen<br />
über Licht vermittelt?<br />
Welche Eigenschaften des Lichts haben Sie im<br />
Laufe Ihrer eigenen Arbeit mit diesem Medium<br />
entdeckt?<br />
Die Holographie benutzt einen zweidimensionalen<br />
Bildträger, wird aber dreidimensional wahrgenommen.<br />
Wie unterscheidet sich die Arbeit mit diesem<br />
Medium für den Künstler einerseits von Fotografie<br />
und Malerei und andererseits von der Skulptur?<br />
Als Kind hinterließen Bilder, Kopien und Drucke christlicher Kunst im Haus<br />
eines Dorfpfarrers, bei dem ich gelegentlich die Ferien verbrachte, die ersten<br />
bleibenden Eindrücke bei mir. Meine Entscheidung für die Malerei – und<br />
nicht, nach langjähriger Ausbildung, für eine Musikerlaufbahn – ist wahrscheinlich<br />
auch auf meine christliche Erziehung in einem katholischen Umfeld<br />
zurückzuführen.<br />
Die Malerei beschäftigte mich während meiner Ausbildung an der Akademie<br />
und später weitere 10 Jahre lang ausschließlich. Mit dem Interesse für die<br />
Malerei wurde ich auch mit dem Phänomen Licht konfrontiert. Licht ist ein bedeutendes<br />
Kraftfeld der Malerei. Licht, seine Manifestation in Farbe und sein<br />
Anteil an der Generierung von Räumen war der wesentliche Gegenstand meiner<br />
Untersuchungen, nachdem ich mich von den Konventionen der Perspektive<br />
und der Figuration befreit hatte. Anfangs waren vor allem die Vertreter<br />
des europäischen Expressionismus, etwa die Fauves und die Maler der ‚Brücke’,<br />
später amerikanische Farbfeldmaler wie Ellsworth Kelly, Kenneth Noland<br />
und Barnett Newman meine Vorbilder.<br />
Der vorläufig letzte Schritt meiner malerischen Entwicklung zu einer konzentrierten,<br />
abstrakten Licht- und Raumbehandlung war die Abkehr von der<br />
Malerei und der Wechsel zu neuen Medien wie Holographie und deren ebenfalls<br />
auf Interferenz basierten Nebenformen.<br />
Etwa 10 Jahre lang habe ich im Licht- und Laserlabor der Kunsthochschule<br />
für Medien in Köln experimentell die ästhetischen Qualitäten von Interferenzund<br />
Lasermedien untersucht. Gleich zu Beginn meiner Labortätigkeit war ich<br />
gefesselt von der besonderen Lichtsituation bei der Aufnahme und von der<br />
besonderen Lichtqualität im Ergebnis des Hologramms. Sowohl das Laserlicht<br />
als auch die rekonstruierten Hologramme besaßen im Gegensatz zu den<br />
mir bis dahin bekannten Lichtquellen eine außerordentliche atmosphärische<br />
und emotionale Kraft. Der Aufbau einer holographischen Kamera war nicht<br />
nur Mittel zum Zweck, sondern erschien wie ein architektonisches Lichtszenarium<br />
in Form eines Modells. Eine ganz neue Welt tat sich auf, und ich spürte<br />
die Nähe neuer Grenzen, die es zu überschreiten galt.<br />
Während ich Erfahrungen mit der Holographie sammelte, begann ich die<br />
Bedeutung zu erahnen, die dieses Medium einmal auf der Bühne, für die mediale<br />
Inszenierung und für die Architektur haben könnte. Die speziellen Eigenschaften<br />
des gebrochenen Laserlichts und sein Gestalt generierendes<br />
Potenzial haben in mir relativ früh die Vision entstehen lassen, ‚mit Licht bauen<br />
zu wollen’, was Anfang der neunziger Jahre noch utopisch schien. Vieles ist<br />
dann auch vorerst modellhaft geblieben, weil die technischen Voraussetzungen<br />
noch nicht geschaffen waren. Erst später hat mir die (ursprünglich für<br />
das Bauwesen entwickelte) Folientechnologie Wege aufgezeigt, wie die Visionen<br />
vom ‚Bauen mit Licht’ Wirklichkeit werden können.<br />
Ihre Frage zielt auf das klassische dreidimensionale Abbildungsverfahren, das<br />
allerdings in der künstlerisch-gestalterischen Produktion nur eine untergeordnete<br />
Rolle spielt. Ich bin der Überzeugung, dass es nicht die Aufgabe der Kunst<br />
ist, abzubilden, sondern Neues zu schaffen. Die Möglichkeiten technischer Medien<br />
für die künstlerische Gestaltung liegen generell nicht in der Simulation des<br />
schon Bekannten, sondern in der Schaffung potenzieller Räume.<br />
Doch die Holographie ist nicht nur ein Raum-, sondern auch ein Lichtmedium.<br />
Ich habe mich zum Beispiel in den letzten Jahren mehr und mehr mit<br />
66 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
den Lichtqualitäten der Lasermedien beschäftigt. Dabei habe ich versucht, die<br />
Möglichkeiten der ‚engelgleichen’, immateriellen ‚Lichtwesen ohne Bodenhaftung’<br />
auszuloten. Wie viele Künstler war und bin ich fasziniert von Schwerelosigkeit<br />
und der Aufhebung materieller Zwänge. Dies lässt sich einzigartig mit<br />
technischen Mitteln thematisieren. Charakteristisch für meine Arbeit mit den<br />
auf Interferenz basierenden Medien ist das Schweben der Räume. Deren Elemente<br />
durchdringen sich gegenseitig, sie schaffen eine permanente Transparenz,<br />
sichtbar nur durch die Farben des spektralen Lichts, die Zuordnungen in<br />
einer vexierbildartigen Unbestimmtheit belassen. Sie hinterlassen das unbestimmte<br />
Gefühl, nie alles gesehen zu haben. So werden sie zu Projektionsflächen<br />
möglicher Bedeutungen.<br />
Das Verbindende zwischen Holographie und Malerei habe ich schon erwähnt.<br />
Holographische Artefakte sind sowohl Skulptur als auch Architektur<br />
und insofern vollkommen eigenständig, als sie nicht nur visuell, sondern auch<br />
begrifflich schwer fassbar sind. Dieser Umstand und das Fehlen der Zugehörigkeit<br />
zu einem kommunikativen System innerhalb der Gesellschaft erschwert<br />
die künstlerische Rezeption. Eine konservative, geisteswissenschaftlich geprägte<br />
Kunstkritik ist kaum gewillt oder in der Lage, die Erweiterung künstlerischer<br />
Potenziale durch technische Entwicklung zu akzeptieren.<br />
Sie sprachen Ihre eigenen Laborversuche an. Wie<br />
sind Sie dabei vorgegangen?<br />
In jüngerer Zeit haben Sie zunehmend ortspezifische<br />
Installationen, etwa für Kirchenräume,<br />
geschaffen. Welche Wirkungen beobachten<br />
Sie, wenn Ihre weder ‚greifbaren‘ noch klar begrenzten<br />
holographischen Bilder mit dem scharf<br />
umrissenen architektonischen Raum in Wechselbeziehung<br />
treten?<br />
Im Labor habe ich die Schnittstellen der Lasermedien zu allen konventionellen<br />
und technischen Medien untersucht. Dabei erwies es sich damals als vorteilhaft,<br />
dass die Kreativität bei der Produktion holographischer Darstellungen<br />
schon mit dem Aufbau des Apparates, der holographischen Kamera, beginnt.<br />
Eine solche Kamera hatte nichts gemein mit einer technisch kompakten Fotokamera.<br />
Auf einem festen Tisch wurden Laser, Linsen, optische Geräte<br />
sowie ‚kannibalisierte’ Teile von Videoprojektoren und Fotokameras so arrangiert<br />
und von Computern gesteuert, dass sich meine Erwartungen realisierten<br />
oder neue, aus kalkulierten Zufällen entstehende Optionen sichtbar<br />
wurden. Mit der Unterstützung von Technikern habe ich nahezu alle Möglichkeiten<br />
durchgespielt und durchspielen lassen, die sich aus meiner Erfahrung<br />
mit den konventionellen Medien anboten. Ergebnisse dieser Untersuchungen<br />
sind die Weiterentwicklung multimedialer Aufnahmeverfahren wie der holographischen<br />
Stereographie – das sind mehrdimensionale Bildsequenzen nach<br />
Video-, Foto- oder Filmvorlagen –, oder die Weiterentwicklung historischer<br />
Vorläufer, etwa eine Lichtkinetik, die an die kinetische Objektkunst aus der<br />
Mitte des letzten Jahrhunderts anknüpft.<br />
Mit meiner Fokussierung auf Kunst am und im Bau sowie auf realisierbare<br />
Projekte im öffentlichen Raum bediene ich mich heute hauptsächlich industrieller<br />
Produkte aus den Bereichen Licht-, Bau- und Fotoindustrie. Ich stehe<br />
in engem Kontakt mit Ingenieuren und modifiziere die Materialien, die ich<br />
verwende, gemeinsam mit ihnen nach meinen Bedürfnissen. Viele der in meiner<br />
früheren Experimentierphase entwickelten Visionen und Vorstellungen<br />
scheinen mir mit den fortlaufend weiterentwickelten Materialien umsetzbar<br />
geworden zu sein.<br />
Zunächst einmal sind meine Installationen ungeachtet der oben erwähnten<br />
christlichen Einflüsse nicht als Beitrag zur Sakralkunst zu verstehen, sondern<br />
als Beitrag weltlicher Kunst, die mit kirchlichen Inhalten, liturgischen und architektonischen<br />
Positionen in einen Dialog tritt. Andererseits ist das Licht natürlich<br />
ein zentrales Gottessymbol, nicht nur in den christlichen Religionen. Nichts<br />
vermag die göttliche Selbstoffenbarung, die Erscheinung Gottes, besser ins<br />
Bild zu setzen als eine Darstellung, bei der Licht als wesentliches Mittel gewählt<br />
wurde, sei es in der Malerei oder in Form einer technischen Applikation.<br />
Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten des Umgangs mit ortspezifischen<br />
Installationen. Die (museale) ‚White Cube’- oder ‚Black Box’-Situation blendet<br />
den Umgebungsraum zugunsten des Objekts fast vollständig aus. Die Wahrnehmung<br />
konzentriert sich auf das Objekt.<br />
Ich bevorzuge dagegen sowohl in Räumen als auch im Außenbereich die<br />
zweite Möglichkeit, die Integration des Objekts in den Umgebungsraum. Gestaltetes<br />
Licht braucht nicht notwendigerweise und ausschließlich Dunkelheit.<br />
In vielen meiner Arbeiten überlagert die scheinbar nicht greifbare Lichtapplikation<br />
die materiell manifestierte Umgebung oder erscheint dieser wie hinterlegt.<br />
Konkret erfahrbarer Ort und prismatisches Lichtphänomen durchdringen<br />
sich und gehen einen dynamischen Dialog ein, der von den wechselnden Lichtverhältnissen<br />
abhängt.<br />
Bei der ‚Black Box’-Situation beruht der Lichteffekt auf der (statischen)<br />
Dialektik von Licht und Dunkelheit.<br />
67
Gegenüber: Michael Bleyenberg:<br />
Spero Lucem, 2002/03<br />
Statt mit Farbe auf Leinwand ‚malte‘<br />
Michael Bleyenberg dieses Bildnis<br />
eines Kreuzes mit Licht. Anders als<br />
klassische Altarbilder greift ‚Spero<br />
Lucem‘ – deutsch: ‚ich erhoffe Licht‘<br />
– aktiv in den Raum ein. Wie es gesehen<br />
wird, hängt entscheidend vom<br />
Standpunkt des Betrachters ab.<br />
Ein interessanter Aspekt an der Holographie ist,<br />
dass der materielle Bildträger und die Position des<br />
(virtuellen) Abbildes im Raum nicht identisch sind.<br />
Wie gehen Sie mit diesem Phänomen in Ihren Arbeiten<br />
um?<br />
Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt<br />
es auf den ersten Blick einen intensiven, aber oberflächlichen<br />
ästhetischen Effekt. Doch die Auswirkungen<br />
dieser ‚Berührung’ gehen weit tiefer, unter<br />
die Oberfläche. Sehen Sie hier Parallelen zu Ihrer<br />
eigenen Arbeit?<br />
Neue Qualitäten des Lichts ermöglichen aber auch dynamischere Wirkungsprozesse.<br />
Sie sind Ergebnis fortschreitender technischer Entwicklungen im<br />
Bereich der Photonik und in der Bautechnologie. Beispiele sind prismatische<br />
Folien und spezielle, auch von mir genutzte Projektionsfolien, die das Umgebungslicht<br />
ausblenden und nur auf das künstliche Projektionslicht reagieren.<br />
Für den Einsatz meiner Arbeit mit diesen Medien in der Architektur bedeutet<br />
dies, dass das Licht oder die Lichtkunst mit der Architektur interferiert.<br />
Sie spielt mit den Oberflächen und den Strukturen, unterstützt Transparenz<br />
oder konterkariert und unterminiert Masse und Bauvolumen. Die Wahrnehmung<br />
von Stabilität wird scheinbar, und nur optisch, in Frage gestellt, aber<br />
letztlich dadurch intensiviert.<br />
Gerade in der Kombination mit Glasflächen, Fenstern und Fassaden entfalten<br />
die von mir genutzten Folien ihre Wirkung. Daneben ermöglichen sie die<br />
gleichzeitige ästhetische Formung des einfallenden Lichts und die optisch-ästhetische<br />
Signalwirkung nach außen. Ein Beispiel hierfür ist mein im Jahr 2000<br />
fertig gestelltes holographisches Wandbild ‚Augenfeuer/Eyefire’ bei der Deutschen<br />
Forschungsgemeinschaft (DFG) in Bonn. Im lichtdurchfluteten Sitzungssaal<br />
des Hauptgebäudes, das in den 50er-Jahren von Sep Ruf entworfen wurde,<br />
werden weitreichende Entscheidungen für die Zukunft getroffen. Mit dem<br />
Anbau eines Ergänzungsgebäudes war der freie Blick von dort auf die Rheinaue<br />
und das gegenüberliegende Siebengebirge von einer 13 x 5 m großen Betonwand<br />
zugestellt. Die Idee, diesen Ausblick virtuell mit Hilfe der Holographie<br />
wieder herzustellen, war nur mit prismatischen Folien möglich, die, auf Spiegel<br />
montiert, die Wandfläche bedecken. Der große ‚Wandspiegel’ hat zwei Funktionen:<br />
einerseits die Rekonstruktion des Hologramms (durch Transmission<br />
und Spiegelung des von vorn einfallenden Rekonstruktionslichts) und andererseits<br />
die optische Öffnung des Raums. Das Hologramm scheint zwischen den<br />
Gebäuden zu schweben. Darüber hinaus wird es in den Fensterfronten des gegenüberliegenden<br />
Sitzungssaales gespiegelt, wobei sich durch die veränderte<br />
Wahrnehmungsgeometrie des Betrachters Form und Farbe verändern. Das Hologramm<br />
und sein Spiegelbild überschreiten die Grenzen des reinen Wandbildes<br />
zu einem komplexen Lichtkorpus, der das gesamte Gebäude definiert.<br />
Bildträger und Abbild zusammen sind ‚das Hologramm’. Das Abbild erscheint<br />
aber an einer anderen Stelle im Raum als der Bildträger. Dies ist sicherlich ein<br />
immer wieder spektakulärer Anblick, besonders bei einer Rekonstruktion mit<br />
Laserlicht. Dies ist auch das Phänomen, das zu vielen fantastischen, aber unrealistischen<br />
Spekulationen über die Holographie geführt hat. Wenn es gelänge,<br />
die technischen Voraussetzungen in der Laborsituation auch für größere Produktionen<br />
zu gewährleisten, wären große holographische Lichtinstallationen<br />
als Applikation in und um die Architektur denkbar, Räume, wie sie zum Beispiel<br />
Stanislaw Lem im Roman ‚Transfer‘ beschreibt oder M. C. Escher in seinen ‚unmöglichen<br />
Bildern‘ und Metamorphosen.<br />
Eigentlich ist es jetzt schon möglich, ähnliche Effekte aus Kombinationen mit<br />
Spiegeln, optischen Linsen und Projektionen zu verwirklichen. Aus meiner Praxis<br />
weiß ich aber, wie schwer es ist, Auftraggeber davon zu überzeugen. Mehrmals<br />
sind Entwürfe abgelehnt worden mit der Begründung, man könne sich<br />
nicht vorstellen, dass mein Vorschlag realisierbar sei.<br />
Natürlich ist für den bildenden Künstler die visuelle Wirkung konstitutiv, sie<br />
ist aber bestimmt nicht oberflächlich. Die Wirkung des Lichts auf die Psyche<br />
und seine Bedeutung für die Gesundheit sind mir bewusst. All meine erwähnten<br />
Versuche mit und über Licht beschränkten sich allerdings auf seine<br />
Wirkung auf unsere Wahrnehmung. Wir suchen die Sonne und sehnen uns danach,<br />
wenn wir länger darauf verzichten müssen. Wir fühlen uns wohl im Licht.<br />
Auch ich möchte die Menschen in ein „angenehmes Licht tauchen“, wobei der<br />
Wohlfühleffekt sich nicht rein emotional einstellt, sondern auch als ein Ergebnis<br />
von geistiger, meditativer Auseinandersetzung.<br />
Mein Objekt ‚Spero Lucem’ wurde vom Bildungswerk der Erzdiözese Köln<br />
in Auftrag gegeben und der Kirchengemeinde St. Agnes in Köln als Dauerleihgabe<br />
überlassen. Als Auflage erklärt sich die Gemeinde bereit, die Arbeit an<br />
andere Kirchen des Erzbistums auszuleihen. ‚Spero Lucem’ ist dann Anlass<br />
für zahlreiche unterschiedliche Bildungsaktivitäten, Seminare, Meditationen,<br />
Gesprächsgruppen etc., an denen ich auch gelegentlich beteiligt bin. Die meistens<br />
positiven bis euphorischen Reaktionen auf die Lichtskulptur erinnern<br />
mich daran, dass das eigentliche, idealistische Ziel von Bildung der Zustand<br />
von Glück ist. In meinem Fall hat das Licht, beziehungsweise die Art, wie ich<br />
es gestalte und präsentiere, möglicherweise seinen Anteil daran.<br />
FOTO: MICHAEL BLEYENBERG<br />
68 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
1 2<br />
3 4<br />
5<br />
FOTOS: 1 – AZIZ + CUCHER. 2– MICHAEL BLEYENBERG. 3 – GARY SCHNEIDER. 4 – JEPPE GUDMUNDSEN-HOLMGREEN 5 – WERNER SOBEK ARCHITEKTEN + INGENIEURE.<br />
70 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
8 9<br />
10 11<br />
6 7<br />
FOTOS: 6/7 – MITSUMASA FUJITSUKA. 8 – DAVID MAISEL. 9 – RENDERING: HERZOG & DE MEURON. 10 – EDUARD HUEBER. 11 – RENDERING: HERZOG & DE MEURON. 12 – MICHAEL HEINRICH.<br />
1. Aziz + Cucher: Interior #2, 1999<br />
2. Michael Bleyenberg: New Burlington<br />
Flare/Three Prisms, 2006<br />
3. Gary Schneider: Helen, 2000<br />
4. Thea Bjerg: Zig Zag Scarf, 2006<br />
5. Werner Sobek Architekten +<br />
Ingenieure: Stadionüberdachung in<br />
Hamburg-Rothenbaum<br />
6. Kengo Kuma & Associates:<br />
Museum für Hiroshige Ando, Batou,<br />
2000<br />
7. Kengo Kuma & Associates:<br />
Chokkura Plaza, Takanezawa, 2005<br />
8. David Maisel: The Lake Project<br />
9831-2, 2002<br />
9. Herzog & de Meuron:<br />
Elbphilharmonie, Hamburg, 2007–<br />
(Konzertsaal)<br />
10. Baumschlager Eberle:<br />
Ökohauptschule in Mäder, 1998<br />
11. Herzog & de Meuron:<br />
Elbphilharmonie, Hamburg, 2007–<br />
(Gesamtansicht)<br />
12. Hild und K. Architekten:<br />
Fassadenrenovierung in Berlin, 1999<br />
12<br />
71
13 14<br />
13/17. ILEK/Universität<br />
Stuttgart, Markus Holzbach:<br />
Pavillion ‚paul’, Stuttgart, 2004<br />
14. NOX / Q.S. Serafijn:<br />
D-tower, Doetinchem, 2004<br />
15. Herzog & de Meuron:<br />
Forumsgebäude in Barcelona,<br />
2004<br />
16. Steven Scott:<br />
Seventy-Seven, 2006<br />
P ARKUS HOLZBACH. 14 – NOX. 15 – JAKOB SCHOOF. 16 – ADAM MØRK.<br />
15 16<br />
17<br />
72 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Häuser der Zukunft<br />
Wenn neue Entwicklungen verlangt<br />
werden, könnte man sich fragen,<br />
warum.<br />
73
Jedes Foto ist der Beginn einer<br />
Geschichte, die erste Einstellung<br />
eines Films.<br />
Wim Wenders, Regisseur.<br />
74 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Foto: Nuri Bilge Ceylan, Regisseur und Fotograf<br />
www.nuribilgeceylan.com<br />
75
REFLEKTIONEN<br />
Neue Perspektiven:<br />
Ideen abseits der Alltagsarchitektur<br />
ABBILD UND<br />
REALITÄT<br />
Erich Kettelhut: Entwurfsskizze<br />
zur Filmkulisse von ‚Metropolis‘‘<br />
In dramatischen Licht- und<br />
Schatteneffekten zeigt diese<br />
Entwurfszeichnung die hypertrophe<br />
Architektur von Fritz Langs<br />
Filmstadt ‚Metropolis‘.<br />
Die von einer Kommandozentrale<br />
im ‚Neuen Turm Babel‘ aus<br />
gesteuerte Stadt kann als<br />
pessimistischer Gegenentwurf<br />
zu den fast zeitgleichen, rationalen<br />
Großstadtvisionen von<br />
Le Corbusier und anderen Architekten<br />
verstanden werden.<br />
ZEICHNUNG: DEUTSCHE KINEMATHEK MUSEUM FÜR FILM UND FERNSEHEN / NACHLASS ERICH KETTELHUT
Von Ivan Redi.<br />
Architekturzeichnungen sind ein vielseitiges Medium:<br />
Sie können das Abbild künftiger Realitäten sein oder<br />
bloße Denkfiguren, sie können zum Radikalumbau der<br />
Welt aufrufen oder nur zum Kauf eines Eigenheims. In<br />
jedem Fall aber werden sie auch in der Architektur des<br />
21. Jahrhunderts konkurrenzlos bleiben. Denn, so Ivan<br />
Redi, Zeichnungen helfen uns, unsere Vorstellungen<br />
bezüglich der beiden Phänomene zu überprüfen, für die<br />
Architekten künftig einzig und allein noch zuständig<br />
sein werden: des Raumes und des Lichts.<br />
Es ist dunkel. Nichts ist zu sehen. Plötzlich geht das Licht an,<br />
ein Lichtstrahl, und wir erkennen den Schauspieler auf der Bühne<br />
– es ist König Lear. Wenn Goethe sagt: „Ein alter Mann ist stets<br />
ein König Lear“, denke ich, dass die architektonische Zeichnung<br />
heute stets ein König Lear ist. Lears patriarchalisch e Herrschaft<br />
führt ihn zur Ungerechtigkeit gegenüber seiner jüngsten Tochter<br />
und letztlich in den Untergang. Cordelia sagte ihm lediglich,<br />
dass sie ihn genau so liebe, wie eine Tochter ihren Vater zu lieben<br />
hat – nicht mehr und nicht weniger.<br />
Die Zeichnung herrscht, auch im 21. Jahrhundert, in der<br />
Architektur ohne Konkurrenz. Wenn wir ins Theater gehen, lassen<br />
wir uns auf einen Zauber ein. Wir stimmen einer Art Ver trag<br />
zu, uns auf Imaginationen einzulassen. Jedoch bleiben wir im<br />
Dunklen sitzen und nehmen die Vorstellung passiv wahr. Der<br />
konstruierte Blick der Zentralperspektive ist der einzige, der uns<br />
über diese ‚Realität‘ informiert. In der Realität ist das Eindringen<br />
von Körpern in eine kontrollierte architektonische Ordnung<br />
dagegen unvermeidlich (so ist zum Beispiel der Eintritt in das<br />
Gebäude ein Akt, der die Balance präzise geordneter Architektur<br />
stört). Hier ist Architektur ein Organismus, der in ständiger Interaktion<br />
mit dem Nutzer steht, dessen Körper unentwegt gegen die<br />
bestehenden architektonischen Regeln rebelliert. Dieses menschliche<br />
Verhalten können wir in den seltensten Fällen erfassen oder<br />
voraussehen. Die Funktionsabläufe ergeben zwar einen Handlungsraum,<br />
aber vieles ist weder planbar noch durch die klassische<br />
architektonische Zeichnung auszudrücken.<br />
Es ist absurd, ein zweidimensionales Medium zu verwenden,<br />
um die mehrdimensionale Welt inklusive vorher unbestimmbarer<br />
Ereignisse zu beschreiben und zu versuchen, darin irgendeinen<br />
Wahrheitsgehalt zu erkennen. Das Bild kann sich – um Wittgenstein<br />
zu paraphrasieren – nicht außerhalb seiner Darstellungsform<br />
stellen. Aus dem Bild allein ist nicht zu erkennen, ob es wahr oder<br />
falsch ist. „Ein Sachverhalt ist denkbar“ heißt: Wir können uns<br />
ein Bild von ihm machen. Was denkbar ist, ist auch möglich.<br />
Wir können nichts Unlogisches denken, weil wir sonst unlogisch<br />
denken müssten. Trotzdem gibt es kein a priori wahres Bild. Das<br />
Bild ist ein Modell der Wirklichkeit, mehr nicht. Es kommuniziert<br />
über eine Möglichkeit, es regt die Imagination an, und<br />
wir denken uns: „Ah, so könnte es aussehen.“ Genau und ausschließlich<br />
in diesem Kontext dürfen wir uns für die Zeichnung<br />
interessieren, nicht mehr und nicht weniger.<br />
‚carceri‘ und die folgen: piranesis langer schatten<br />
Im theoretischen Denken von Piranesi, welches keinesfalls statisch<br />
war, erkennt der Künstler die Dualität aufklärerischen<br />
Denkens, die sich aus dem Konflikt zwischen Rationalität und<br />
Empfindung ergibt, als Kriterien an, anhand derer er die Werke<br />
der Vergangenheit und der Gegenwart beurteilt und als ‚vero‘<br />
oder ‚falso‘ (wahr oder falsch) bezeichnet.<br />
Giovanni Battista Piranesi zählt zu den bedeutendsten<br />
Künstlern auf dem Gebiet der Radierung und der Vedute. Von<br />
seinen Werken sind vor allem die Carceri (Entwürfe von Kerkern)<br />
und Campo Marzio (die Metapher des Universums, die<br />
sich in den Carceri bereits ankündigte) bis heute von Bedeutung.<br />
Unter anderem nahmen der Pionier des modernen Films, Sergej<br />
Eisenstein, der bildende Künstler Peter Weiss, die Schriftsteller<br />
Hans Magnus Enzensberger und Erich Fried, aber auch<br />
Comic-Autoren wie François Schuiten oder die zeitgenössischen<br />
Architekten Lebbeus Woods und Daniel Libeskind die phantastische<br />
Welt der Carceri zum Ausgangspunkt für eigene Werke.<br />
Es gibt kaum einen Architekturinteressierten, der nicht auf<br />
Piranesi gestoßen ist. Unabhängig von emotionalen Reaktionen,<br />
die dabei entstehen können, geht es hier um die systematische<br />
Kritik des Raumkonzeptes mit den Instrumenten<br />
visueller Kommunikation. Eisenstein fragt in seinem Text, ob<br />
man bei Piranesi sogar chiaroscuro entdecken kann, was formal<br />
durch die Einschränkungen der Radierungstechnik nicht möglich<br />
sei. Möglich wird es jedoch, wenn man sich im Sinne der<br />
räumlichen Komposition, des Spiels mit Licht und Schatten<br />
und der Erzeugung einer fesselnden Atmosphäre mit Piranesis<br />
Werk auseinandersetzt. Seine Zeichnungen sind wie Bühnenbilder,<br />
die eine akrobatische Performance liefern und den<br />
Betrachter in das virtuose Raumerlebnis hineinsaugen. Auf der<br />
anderen Seite brachte die seltsame Kombination von Opulenz<br />
und Strenge in Eisensteins Konzeption Bilder von ungeheurer<br />
Wirkung und bizarrer Schönheit hervor – die Spiegelung des<br />
Geschehens an Gemälden und Wandfresken verleiht seinem<br />
Film eine mythische Dimension.<br />
Die Filmwelt war immer eine willkommene Gelegenheit für<br />
Architekten, sich phantasievoll ‚auszutoben‘ und Illusionen zu<br />
realisieren. Mit Manifesten und utopischen Zeichnungen wurden<br />
revolutionäre neue Konzepte ausgearbeitet und präsentiert,<br />
D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />
77
Gegenüber:<br />
Giovanni Battista Piranesi:<br />
Carceri d’invenzione, 1745<br />
Blatt VI: Das rauchende Feuer /<br />
Il fuoco fumante<br />
Piranesis Radierungen der<br />
‚Carceri‘ haben bis heute Scharen<br />
von Künstlern und Architekten<br />
inspiriert. Ihre eindrucksvolle<br />
Wirkung ist indes vermutlich<br />
Piranesis Verleger Bouchard<br />
zu verdanken: Dieser ließ die<br />
16 ursprünglich eher hell angelegten<br />
Platten 1761 nachbearbeiten,<br />
um ihre dramatische<br />
Wirkung durch stärkere<br />
Kontraste zu erhöhen.<br />
die frei von wirtschaftlichen und strukturellen Beschränkungen<br />
waren, wie sie Bauherren und Baubehörden sonst auferlegen.<br />
Die ‚expressionistischen‘ Filme zum Beispiel waren meist reine<br />
Studioproduktionen mit raffinierten Beleuchtungseffekten und<br />
aufwändigen Filmdekorationen, die alles Zufällige ausschlossen<br />
und nur das psychisch Bedeutsame zuließen. Es wurde auf<br />
Tages- und Sonnenlicht verzichtet, um jede Natürlichkeit oder<br />
naturähnlichen Zustand auszuschalten. Selbst wo sie zum Teil<br />
realen Schauplätzen entstammte, hatte die Architektur mehr<br />
als bloße Kulisse zu sein. Unter der expressionistischen Gestaltung<br />
von Licht, Bildausschnitt und Motiv zeigten sich sonst<br />
unscheinbare Funktionsbauten und lieblich-romantische Ruinen<br />
als Orte kommenden Unheils. Sie waren ‚Stimmungsarchitekturen‘,<br />
überspitzt durch die magische ‚sfumato‘-Lichtregie.<br />
Die Metaphorik des Dekors wurde teilweise so weit reduziert,<br />
dass die Dynamik und Lichtmodellierung der Bildkomposition<br />
durchgängig auf dem Prinzip von Expansion und Kontraktion<br />
heller und dunkler Valeurs aufbaute und man tatsächlich<br />
von ‚abstrakter‘ Architektur sprechen kann. Der Betrachter<br />
wird durch Dekor und Licht in einen Traum ‚eingestimmt‘.<br />
Das Licht hat Vorrang, die Dinge haben keine eigenen Formen,<br />
erst das Licht gibt sie ihnen, indem es sie modelliert. Das<br />
Licht allein existiert, der Gegenstand tritt als Lichtquelle oder<br />
Spiegel desto voller in Erscheinung, je mehr er sich mit dem<br />
Licht identifiziert.<br />
Auch Bruno Taut war von der Auseinandersetzung mit dem<br />
Film angetan, besonders von seiner Eigenschaft als Kollektivkunstwerk.<br />
Er wollte seine phantastischen Pläne wenigstens auf<br />
Zelluloid ausleben, als Ersatz für ihre materielle Undurchführbarkeit<br />
in der Realität. Das Kino bot die Möglichkeit, Alltag<br />
und Phantasie, Wirklichkeit und Utopie zusammenzuführen,<br />
wenn auch nur für kurze Zeit.<br />
Bei der architektonischen Stadtsymphonie ‚Der Weltbaumeister‘<br />
wurde ganz auf Handlung und Darsteller verzichtet und<br />
lediglich ‚der Wandel und das Vergehen phantastischer Architekturformen<br />
als Thema‘ ins Auge gefasst. Sein Filmszenario<br />
enthielt über dreißig Kohlezeichnungen mit breiten Graphitzügen<br />
und drama tischen Lichteffekten auf der schwarz-weiß<br />
kontrastierenden Leinwand. Wenn auch der epische ‚Weltbaumeister‘<br />
unrealisiert blieb, war Tauts Engagement für den Film<br />
doch sehr stark und sein Einfluss von nachhaltiger Wirkung.<br />
Coop Himmelb(l)au und der Komponist Jens-Peter Ostendorf<br />
haben dieses Stück 1993 im Rahmen des Steirischen Herbsts,<br />
eines Festivals in Graz, als Oper realisiert.<br />
Zeitgleich, aber ergebnisreicher war die filmische Beschäftigung<br />
Hans Poelzigs. Die Filmarchitektur für Wegeners Der<br />
Golem, wie er in die Welt kam war ein ‚kunstgewerblicher‘<br />
Ausdruck mit einigen wirksamen Gruseleffekten, der die Massen<br />
mehr anzog als die esoterischen Versuche anderer. Auch<br />
deckte sich Poelzigs eruptiver mittelalterlicher Alptraum keinesfalls<br />
mit der eher naiven Gotik-Utopie der gralsuchenden<br />
Romantiker um Taut, die einer Kristallmanie von Licht domen,<br />
Kristall palästen und kristallenen Weltgebäuden huldigten.<br />
Poelzigs Architekturmassen, erdig und expressionistisch verzerrt,<br />
waren dem genau entgegengesetzt: eine Art Anti-Utopie.<br />
Er versuchte nicht nur den Habitus eines expressionistischen<br />
Bildes auf ein Bauwerk zu übertragen, sondern brachte auch<br />
das Innenleben der Architektur eines gotischen Traumes zur<br />
Darstellung.<br />
In diesem Zusammenhang ist auch Fritz Langs ‚Metropolis‘<br />
zu erwähnen, der auf subtilste Weise das Umkippen der Superstadt<br />
zum Wolkenkratzergefängnis zeigt und die kapitalistische<br />
Skyline durch die Konfrontation der inneren Widersprüche als<br />
neue Unterdrückungsmaschine entlarvt. Bezeichnend dabei<br />
ist die Spaltung der architektonischen Formen in die jeweilige<br />
soziale Klassensprache, denn die Zukunftsstadt ‚oben‘ ist ausschließlich<br />
für die Reichen gemacht. Darunter liegt die Stadt<br />
des Pöbels, und zuunterst befindet sich die unterirdische ‚Produktionsstadt‘,<br />
die den Reichtum der ‚Oberstadt‘ garantiert.<br />
Die moderne Technik erscheint hier als Instrument zur Herrschaft<br />
und Unterdrückung.<br />
Die Zeichensprache ist durchaus hybrid, fast ambivalent,<br />
zum einen ist sie verwandt mit den klassizistischen Repräsentationsbauten,<br />
zum anderen weist sie auf die megalomane<br />
Städtebau-Utopie des italienischen Futuristen Antonio Sant Elia<br />
(Citta nuova, 1914), während die Kubenhäuser der Schlafstadt<br />
mit ihren gleichförmigen Fensteröffnungen und purifizierten<br />
prismatischen Formen die Elemente einer ‚Neuen Sachlichkeit‘<br />
evozieren. Es scheint, als habe Lang neben den menschlichen<br />
Figuren auch die architektonische Form einer diabolischen Dialektik<br />
zwischen Gut und Böse unterziehen wollen.<br />
78 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
„Piranesis Zeichnungen sind wie<br />
Bühnenbilder, die eine akrobatische<br />
Performance liefern und den<br />
Betrachter in das virtuose<br />
Raumerlebnis hineinsaugen.”<br />
Ivan Redi<br />
ZEICHNUNG: GIOVANNI BATTISTA PIRANESI<br />
79
zeigen, andeuten, weglassen:<br />
der informationsgehalt von zeichnungen<br />
ZEICHNUNG: SIN CITY © FRANK MILLER, INC. ALL RIGHTS RESERVED. ZEICHNUNG: GOTTFRIED BÖHM / ARCHIV DEUTSCHES ARCHITEKTURMUSEUM<br />
Um besser zu erklären, was ich hier meine, werde ich als vergleichendes<br />
Beispiel die Entwurfszeichnung von Gottfried Böhm<br />
für die Kirche in Neviges und den Comic ‚Silent Night‘ aus der<br />
Serie ‚Sin City‘ von Frank Miller heranziehen. Beide sind Schwarz-<br />
Weiß-Zeichnungen mit extremen Kontrasten, wobei bei Miller<br />
Graustufen praktisch nicht vorhanden sind. Man erkennt<br />
lediglich die Konturen, und diese sind reduziert auf das Minimum.<br />
Die Bildaussage baut auf der Dichte an Information auf.<br />
Das Bild regt zur Imagination an, man kann sich die Grundzüge<br />
des Raums vorstellen, und der Rest ist Interpretation. In<br />
der Kunst oder beim Comic funktioniert diese Strategie problemlos.<br />
In der Architektur wird es dagegen schwieriger, denn es<br />
handelt sich um eine persönliche Zeichnung autobiografischen<br />
Charakters, die sich schwer beurteilen lässt, weil sie lediglich die<br />
künstlerische Absicht zeigt. Selbst die ‚räumlichen‘ plakativen<br />
Darstellungen von Archigram, die der Pop- und Comic-Kultur<br />
sehr nahe waren, geben keine weiteren Auskünfte über den<br />
simulierten Raum. Die 2D-Collagen, für die sich der Betrachter<br />
spontan oder willkürlich (es fehlen die Entscheidungsparameter)<br />
begeistern kann oder eben nicht, bleiben dem Papier<br />
verhaftet. Man kann diese Zeichnungen nur als Konzeptdiagramme<br />
verstehen.<br />
Setzt man jedoch voraus, dass man mit dem Auge auch denken<br />
kann, und begreift man die architektonische Zeichnung als<br />
Medium, mit dem man zukünftige Umgebungen kommunizieren<br />
und simulieren und auch eine Idee prüfen kann, bevor sie realisiert<br />
wird, ist das zu wenig. Abgesehen von ästhetischen (Skizzen<br />
und Zeichnungen) und funktionalen Überlegungen (ein technischer<br />
Plan, Grundrisse, Schnitte und Ansichten) müssen wir<br />
wissen, was unser Tun tatsächlich anstellt. Aber wird da nicht<br />
zu viel von der Zeichnung verlangt? Wieder auf den Vergleich<br />
mit König Lear zurückkommend, muss man vielleicht erkennen,<br />
dass wir dieses Medium nur so lieben können, wie ein Entwerfer<br />
sein Werkzeug zu lieben hat – nicht mehr und nicht weniger<br />
–, und dass wir die Grenzen dieser Ausdrucksweise bereits<br />
erreicht haben und uns fragen müssen, welche neuen Instrumente<br />
im 21. Jahrhundert notwendig sind, um die Welt von<br />
morgen entwerfen zu können. Dies ist eine inhaltlich konzep-<br />
80 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
ZEICHNUNG: SIN CITY © FRANK MILLER, INC. ALL RIGHTS RESERVED.<br />
Gegenüber (oben):<br />
Gottfried Böhm: Wallfahrtskirche<br />
in Neviges, 1965<br />
Flächenhaft und stark vereinfacht,<br />
aber deutlich erkennbar gibt Gottfried<br />
Böhm hier die Ku batur des<br />
Kirchenbaus mit seinem expressiven<br />
Faltwerkdach wieder. Starke<br />
Licht- und Schattenkontraste sind<br />
charakteristisch für die<br />
Kohlezeichnungen des Pritzker-<br />
Preisträgers von 1986.<br />
Oben & gegenüber (unten):<br />
Frank Miller: Sin City, 1991<br />
Wie Böhm gelingt es auch Frank<br />
Miller, ausschließlich mit weißen<br />
und schwarzen Flächen Raum,<br />
Volumen und Strukturen anzudeuten.<br />
Die mitunter düsteren<br />
Zeichnungen entsprechen dem<br />
Inhalt der Comics, die in der<br />
kriminellen Unterwelt der Großstädte<br />
spielen.<br />
tionelle und nicht eine stilistische Frage. Was würde ein Piranesi<br />
heute tun, wenn er die neuen technologischen Werkzeuge zur<br />
Verfügung hätte?<br />
In der Dokumentation von Sydney Pollack über Frank Gehry<br />
spricht Gehry in einer Szene über sein eigenes Haus und die<br />
schräge Überkopfverglasung in der Küche. Das Glas reflektiert<br />
immer etwas anderes, einmal die vorbeifahrenden Autos, dann<br />
wieder Bäume, Wolken, Sternenhimmel, abhängig von der Tagesund<br />
Jahreszeit, dem Wetter oder ganz einfach abhängig davon, ob<br />
es geputzt wurde oder nicht. Besonders spannend findet Gehry<br />
es am Abend in einer hellen Nacht, wenn der Mond plötzlich<br />
an der ‚falschen‘ Stelle auftaucht. Ein wenig später ist die Mondreflexion<br />
woanders, und so weiter, bis sich niemand mehr auskennt,<br />
was ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ist.<br />
Die Reflexionen sind ein perfektes Beispiel für die Entortung:<br />
Dinge erscheinen in einer gebrochenen Form dort, wo sie eigentlich<br />
nicht sein sollten. Wenn es sich um Tageslicht handelt, ist<br />
dieses Spiel noch unvorhersehbarer. Reflexionen sind Entropien,<br />
die kommen und plötzlich wieder verschwinden, unerwartet,<br />
denn sie selbst hängen von nicht-linearen schwer begreifbaren<br />
Systemen ab, wie zum Beispiel dem Wetter oder von der Struktur<br />
der Materialoberflächen und Texturen. Letztere können auf<br />
Grund der Ungenauigkeit bei der Ausführung oder später der<br />
Abnutzung praktisch nie regelmäßig sein. Selbst die Fotografie<br />
tut sich hier schwer, denn der ‚richtige‘ Blick hängt vom richtigen<br />
Moment ab, und sobald der Auslöser gedrückt wird, wird auch<br />
das Objektiv zum Subjektiv, und die Authentizität geht verloren.<br />
Wenn man zusätzlich die Möglichkeiten eines Fotolabors<br />
oder der digitalen Bildbearbeitung bedenkt, ist eine Fotografie<br />
im Wesentlichen ein konstruierter Blick und konstruierte Schatten,<br />
kommuniziert durch für uns von jemand anderem genau<br />
bestimmte Ausschnitte.<br />
licht, raum und imagination:<br />
die zeichnung als modell<br />
Mit Licht Architektur zu erzeugen versucht der amerikanische<br />
Architekt Steven Holl, dessen Projekt für die St.-Ignatius-Kapelle<br />
in Seattle als gelungenes Beispiel für den Umgang mit Tageslicht,<br />
Materialien und Texturen sowie reflektierenden Oberflächen<br />
gilt. Das konzeptionelle Leitbild des Bauwerks sind sieben<br />
81
Rechts:<br />
Steven Holl: Konzeptskizze für<br />
die St. Ignatius Chapel in Seattle<br />
Sieben ‚Flaschen aus Licht‘ in<br />
einem Kasten aus Stein – so<br />
beschreibt Steven Holl das<br />
Entwurfskonzept für seine<br />
Kapelle auf dem Universitätscampus<br />
von Seattle. In diesem<br />
Aquarell gibt er ihre ungefähren<br />
Volumina wieder und deutet<br />
überdies die funktionale Gliederung<br />
des Bauwerks an.<br />
Gefäße mit Licht in einer Schachtel aus Stein. Die Metapher<br />
des Lichtes wird durch unterschiedliche Volumina geformt –<br />
ausgehend vom Dach, dessen Unregelmäßigkeit unterschiedliche<br />
Lichtqualitäten erzeugt, vereint in einer gemeinsamen<br />
Zeremonie. Die Frage ist nur, ob die konzeptionelle Wasserfarbenzeichnung<br />
Holls in der Lage ist, dem komplexen Spiel zwischen<br />
Raum, Licht, Schatten und Reflexion tatsächlich gerecht<br />
zu werden, und ob wir auf andere (sogar messbare oder simulierbare)<br />
Erfahrungen vertrauen können als auf die persönliche<br />
und künstlerische.<br />
Meiner Meinung nach werden wir Architekten in Zukunft<br />
nur noch für zwei Dinge zuständig sein: den Raum und das<br />
Licht, vor allem das Tageslicht. Darin besteht konkurrenzlos<br />
unsere ganze Kompetenz. Ich schreibe hier bewusst ein wenig<br />
polemisch, denn die genaue Erklärung würde den Rahmen dieses<br />
Textes sprengen. Dabei werden uns neue Computertechnologie<br />
und Rendering-Verfahren von Nutzen sein. Allerdings ist die<br />
Lichtsimulation nicht nur Erzeugung eines wissenschaftlichen<br />
Bildes, sondern hat auch einen künstlerischen Anspruch. Abgesehen<br />
von den Informationen technischer Natur lässt sich mit<br />
diesem Werkzeug auch eine entwerferische Absicht überprüfen<br />
und dem Betrachter verdeutlichen. Es wäre ein Irrtum zu glauben,<br />
dass die Renderings nur Oberflächenmalerei seien. Bilder,<br />
Images und Zeichnungen bilden Wirklichkeit nicht einfach ab,<br />
sondern sind das Ergebnis eines simulierenden Prozesses. Dieses<br />
Bild ist kein Portrait, sondern ein Modell, beleuchtet mit virtuellen<br />
Lichtquellen, wobei Parameter durch komplexe Verfahren<br />
determiniert sind.<br />
Die Bilder werden immer interpretiert und unterschiedlich<br />
gelesen, und sehr selten denkt man mit den Augen. Viel öfter<br />
sucht man nach einer Empfindung und Stimmung, also einer<br />
völlig subjektiven Betrachtungsweise. Das ist eine Herausforderung<br />
für die Bilder, die auch einen wissenschaftlichen Charakter<br />
haben sollen. Wissenschaftliche Bilder sind Produkte eines<br />
langwierigen und komplexen Herstellungs- und Selektionsprozesses<br />
mit vielen Verarbeitungsschritten, Entscheidungen und<br />
Kontingenzen. So können sie sich irgendwann von ihrem Herstellungskontext<br />
lösen und eine eigene Realität gewinnen. Der<br />
Eindruck, auf einen objektiven Zustand der realen Welt gestoßen<br />
zu sein, stellt sich erst dann ein, wenn die experimentell<br />
erzeugten Phänomene ‚Sinn‘ machen, das heißt, wenn es gelungen<br />
ist, zwischen den theoretischen Erwartungen, den beobachteten<br />
Ereignissen und dem Verständnis der Funktionsweise der<br />
verwendeten Rechen- und Auswertungsverfahren eine Übereinstimmung<br />
herzustellen.<br />
Die Bilder sind Werkzeuge, mit denen gearbeitet wird. Um<br />
ihren Zweck zu erfüllen, sollten sie als Arbeitsinstrumente verstanden<br />
werden, auch dann, wenn es nicht nur um pragmatische<br />
und objektive Qualitäten der Räume geht. Man sollte sie nicht<br />
als eine ‚Beilage‘ verstehen, die dazu dient, ein Projekt zu erklären<br />
oder gar zu verschönern. Im Prozess der computerbasierten<br />
Bildgenerierung erweist sich die Interaktivität als grundlegendes<br />
Mittel, um Entwürfe besser prüfen und verbessern zu können,<br />
nicht bloß, um sie darzustellen. Der Bildergebrauch erweist sich<br />
hier als Arbeitsprozess, in den der Computer und das menschliche<br />
Auge integriert sind und der sich, aufgrund bildtechnologischer<br />
Entwicklungen, auf einen Raum visueller Virtualität<br />
hinbewegt. Wenn die Science-fiction-Vision ‚Virtual Light‘ von<br />
William Gibson wahr wird, steuern wir in eine Zukunft, in der<br />
die optische Sensation direkt im Auge entsteht, ohne Photonen<br />
als Lichtträger.<br />
‚Imagining‘ (die Vorstellung) und ‚Imaging‘ (die Erzeugung<br />
von Bildern) fallen dann in eins, aber das endgültige Bild wird<br />
sich weiter entwickeln, wenn wir lernen, mit dem Auge zu verstehen,<br />
und wenn wir die Bilder nicht lesen, um sie zu deuten,<br />
sondern um reale oder virtuelle Umgebungen zu simulieren und<br />
sie auf ihre Qualitäten zu überprüfen. Dabei ist es gleichgültig,<br />
ob es sich um logisch greifbare oder um sensuelle Eigenschaften<br />
handelt. Das bedeutet, dass die neue Zeichnung nicht nur der<br />
exakten, technischen und fotorealistischen Darstellung der erdachten<br />
zukünftigen Welten dient, sondern auch die künstlerisch<br />
optionale Erfassung der räumlichen Wahrnehmung voraussagen<br />
kann.<br />
Ivan Redi leitet gemeinsam mit Andrea Redi das Büro ORTLOS (www.<br />
ortlos.com) für innovative Architektur und Interface-Design. Er studierte<br />
Architektur bei Günter Domenig an der Technischen Universität Graz und<br />
arbeitete danach unter anderem bei Morphosis in Santa Monica/USA.<br />
Derzeit arbeitet Ivan Redi an seiner Dissertation über neue Entwurfsmethoden<br />
in der Architektur und lehrt architektonisches Entwerfen an der<br />
TU Graz. Daneben ist er Mitherausgeber des Buchs ‚ORTLOS: Architecture<br />
of the NetWORKS‘ (erschienen 2005 bei Hatje Cantz).<br />
ZEICHNUNG: STEVEN HOLL ARCHITECTS<br />
82 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Unten:<br />
Lebbeus Woods: System Wien, 2005<br />
In seinem Projekt ‚System Wien‘<br />
interpretiert Lebbeus Woods<br />
Architektur als „Organisation von<br />
Energie“. Mit nur wenigen ‚fliegenden‘<br />
Strichen gibt Woods in dieser<br />
Zeichnung den Straßenraum, die ihn<br />
rahmenden Fassaden und sogar eine<br />
Andeutung von Licht und Schatten<br />
wieder.<br />
ZEICHNUNG: LEBBEUS WOODS<br />
83
TAGESLICHT<br />
IM DETAIL<br />
Genauer hingesehen: Wie Tageslicht<br />
in Gebäude gelangt.<br />
VIRTUELLES LICHT UND<br />
DIGITALE SCHATTEN<br />
GRAFIK: DYLAN COLE<br />
D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Von Eric Hanson.<br />
Von den ersten, flächigen und ‚tapetenhaften‘ Lichtund<br />
Materialdarstellungen bis zur heutigen, hyperrealistischen<br />
Wiedergabe von Strukturen und<br />
Oberflächen hat die Computergrafik enorme Fortschritte<br />
erzielt. Diese Entwicklung ist vor allem<br />
höheren Rechnerleistungen und besseren Software-<br />
Algorithmen zu verdanken. Doch standardisierte<br />
Rendering-Tools machen es für die Grafiker auch<br />
zunehmend schwierig, ihre künstlerische Freiheit bei<br />
der Darstellung von Licht und Schatten zu bewahren.<br />
Das Licht spielt in allen Kunstformen eine wesentliche Rolle,<br />
hat aber vielleicht nirgends eine so zentrale Bedeutung wie im<br />
Film. Angefangen vom klassischen Film Noir wie Der Malteserfalke<br />
bis zur modernen Chiaroscuro-Technik wie in Sin City<br />
trägt das Licht wesentlich zu Charakter und Inhalt jedes Films<br />
bei. Revolutionäre Digitaltechnik hat die moderne Filmproduktion<br />
nachhaltig verändert: Die Kunst synthetischer Lichtsimulation<br />
wurde zum zentralen Thema. Während frühere digitale,<br />
zweidimensionale Filmeffekte (das sogenannte ‚Compositing‘)<br />
an collagenartige Fotosequenzen erinnerten, gehört heute die<br />
dreidimensionale Rendering- und Animationstechnik zum<br />
Standardrepertoire jedes Films und bietet die Möglichkeit, komplett<br />
synthetische Welten und Charaktere zu schaffen, ohne auf<br />
die hohe Kunst des lebendigen Schauspiels zurückzugreifen.<br />
Schon 1981 formulierte der französische Sozialtheoretiker Jean<br />
Baudrillard in seiner Abhandlung Simulacra and Simulation<br />
über die Gefahren der Künstlichkeit die nihilistische Befürchtung,<br />
dass die Wertschätzung des Überrealen die fundamentale<br />
Bedeutung des Realen ablösen werde – ein jüngst in der Matrix-<br />
Serie thematisierter Aspekt. Die Qualität digitaler Beleuchtung,<br />
allein auf die exakte Reproduktion der komplexen Nuancen<br />
echten Lichts ausgerichtet, wird stets an der Realität gemessen,<br />
kann diese aber niemals erreichen. Eine passende Analogie für<br />
künstlich erzeugtes Licht ist René Magrittes Bild Ceci n‘est Pas<br />
Une Pipe, das uns davor warnt, das Abbild höher als die Realität<br />
zu bewerten. In der Praxis digitaler Beleuchtung wird dies<br />
berücksichtigt: Die synthetische Bilderzeugung ist stets an der<br />
Fülle und Komplexität der Wirklichkeit orientiert.<br />
Technisch gesehen war dies nicht immer der Fall. Die ersten<br />
digitalen Beleuchtungsmethoden waren stark vereinfachend<br />
und in ihrer Darstellung der Lichtkomplexität äußerst begrenzt.<br />
Die vielfältigen Möglichkeiten computertechnischer Bilderzeugung<br />
(englisch: Computer Graphics Imagery oder CGI)<br />
zeigten sich erstmals in Filmen wie Jurassic Park oder Terminator<br />
2: Hier ließ sich das unglaubliche Potenzial der Computergrafik<br />
für das Filmgeschäft erahnen, wenngleich die durchaus<br />
geschickt eingesetzte Beleuchtung hauptsächlich der Charakterzeichnung<br />
diente. Spätere Versuche, allumfassende fotorealistische<br />
Welten wie in Final Fantasy zu schaffen, konnten<br />
nicht überzeugen, da die damalige Technologie gewisse Grenzen<br />
setzte. Die ursprüngliche Form der computergrafischen<br />
Beleuchtung (Direct Illumination) zeichnet sich dadurch aus,<br />
reale Lichtquellen wie Spots und bewegliche Scheinwerfer in<br />
die dreidimensional dargestellte Welt einzubeziehen. Solche<br />
Lichtquellen können zwar physikalische Lichteigenschaften wie<br />
Trübung und Abschwächung oder auch Farbgebungen simulieren;<br />
doch die abstrakten Lichtstrahlen werden sofort unterbrochen,<br />
wenn sie auf eine Oberfläche treffen. Die begrenzten<br />
Möglichkeiten dieser Technik offenbaren sich dadurch, dass<br />
das Licht mit den Oberflächen nicht interagieren kann. Da die<br />
Rechenzeit (ein stetes Problem bei der CGI-Animation) aber<br />
idealerweise auf ein Minimum beschränkt sein sollte, greifen<br />
Filmproduzenten dennoch gerne auf diese ‚primitive‘ Beleuchtungsmethode<br />
zurück. Die direkte Illuminationstechnik etablierte<br />
sich nicht zuletzt durch die Einführung von RenderMan<br />
in Feature-Filmen.<br />
RenderMan, maßgeblicher Standard für das CGI-Rendern<br />
in moderner Filmtechnik, wurde ursprünglich in den Achtziger<br />
Jahren von den Pixar Animation Studios entwickelt und<br />
wird auch heute noch häufig zur Erzeugung von Spezialeffekten<br />
eingesetzt. Pixar, damals im Bereich der Computergrafik<br />
führend, wollte ein standardisiertes Verfahren für das 3D-Rendering<br />
etablieren. RenderMan wurde zunächst als zukünftiger<br />
Postscript-Standard im 3D-Bereich gerühmt – wegen der auf die<br />
Programmierer beschränkten Zugriffsmöglichkeiten bewahrheitete<br />
sich dies aber allenfalls für High End-Projekte wie Feature-Filme.<br />
Für diese Industrie nachhaltiger von Bedeutung<br />
hingegen war die von Pixar agressiv betriebene Patentpolitik<br />
zur Lösung zahlreicher Grundprobleme beim Rendering, so z.B.<br />
die Bewegungsverfremdung oder das Antialiasing 1 . Daher können<br />
bis heute nur wenige Entwickler mit der eleganten und effizienten<br />
Technologie von RenderMan konkurrieren. Sogar mit<br />
den ursprünglich begrenzten (mittlerweile weiterentwickelten)<br />
Möglichkeiten einfacher Direktbeleuchtung avancierte RenderMan<br />
zum Standard bei der Produktion von Feature-Filmen.<br />
Für die CG-Lichtexperten bedeutete dies allerdings, sich<br />
angesichts beschränkter realer Lichtmittel zunehmend auf ihr<br />
künstlerisches Geschick verlassen zu müssen, um per Software<br />
überzeugende Spezialeffekte zu erzeugen – ähnlich einer blanken<br />
Leinwand, die durch bloße Vorstellungskraft des Künstlers<br />
gefüllt werden will. In den Anfängen ließen die per CGI-Technik<br />
erstellten Objekte häufig die komplexe Wechselwirkung<br />
D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />
85
S .84:<br />
Bei der Technik des ‚Matte<br />
Painting‘ hängt die Überzeugungskraft<br />
der Lichteffekte<br />
allein vom Auge und den Fähigkeiten<br />
des Künstlers ab. Neue<br />
Methoden beziehen 3D-Modelle<br />
mit ein, aber die Künstler verlassen<br />
sich weitgehend noch immer<br />
auf ihre Maltechniken statt auf<br />
Renderings aus dem Rechner.<br />
Gegenüber:<br />
Die ‚Radiosity‘-Technik war<br />
die erste globale Beleuch tungslösung<br />
und bietet die<br />
akkura teste Abbildung des<br />
Licht transports durch den<br />
architektonischen Raum.<br />
zwischen Tageslicht und künstlichen Lichtquellen vermissen<br />
und wirkten daher stark vereinfacht und synthetisch. Erstes<br />
Ziel aller Experten für Spezialeffekte aber ist es, eine absolut<br />
fotorealistische Illusion zu erzeugen; noch bis Ende der Neunziger<br />
Jahre offenbarte die angewandte Technik allerdings mehr<br />
oder minder große Mängel, welche die illusionistische Wirkung<br />
beeinträchtigten. Spezialeffekte sind nur dann erfolgreich<br />
umgesetzt, wenn sie als solche nicht erkennbar sind und der<br />
Zuschauer seine emotionale Eingebundenheit in das Filmgeschehen<br />
nicht verliert. Viele Regisseure nutzen Spezialeffekte<br />
aber auch in spektakulären und entscheidenden Filmszenen,<br />
wo deren Unsichtbarkeit weniger wichtig ist.<br />
Die fortschrittliche Computergrafik schafft Grundlagen für<br />
neueste Techniken, die zwar mit der aktuellen Computertechnik<br />
noch nicht angewandt werden können, sich aber zukünftig<br />
durchsetzen werden, sobald sich die Rechnerleistung gemäß dem<br />
Mooreschem Gesetz erhöht. Die Berechnung des physikalischen<br />
Lichttransports wurde in den Anfängen der Bildbearbeitung<br />
zwar in Betracht gezogen, dann allerdings wegen ihrer Komplexität<br />
und der daraus resultierenden Schwierigkeiten rasch<br />
wieder verworfen. Mit der Verbreitung der Direktbeleuchtung<br />
aber entwickelte sich eine spezielle Simulationsmethode, um<br />
die Mängel der direkten Beleuchtungstechnik auszugleichen:<br />
die sogenannte Radiosität (englisch radiosity). Hierbei dienen<br />
die thermischen Energiegesetze als Basis für den Lichttransport.<br />
Ein Grundprinzip der Wärmeübertragung lautet, dass Oberflächen<br />
Wärme abgeben, übertragen oder reflektieren können;<br />
diese Eigenschaften werden bei der Radiositätstechnik zur Erzielung<br />
effektiver Lichtsimulation eingesetzt. Vereinfacht gesagt<br />
heißt dies, dass die Oberflächen in einem Radiositätsmodell alle<br />
Lichtstrahlen im Raum aufnehmen und entsprechend reagieren.<br />
Die Oberflächen in einem Radiositätsmodell werden auf<br />
ein Rastermedium übertragen, in dem jede einzelne Masche als<br />
Kameralinse fungiert. Die Verarbeitung eines solchen Modells<br />
kann allerdings sehr viel Zeit in Anspruch nehmen und erfordert<br />
einen großen RAM-Speicher für die Kalkulationen. Die<br />
Radiosität gehört nach wie vor zu den präzisesten Lichtsimulationen,<br />
die der Wirklichkeit sehr nahe kommen. Leider ist diese<br />
Technik für wirksame Filmeffekte grundsätzlich zu langsam; in<br />
dem Film Casino, der am Las Vegas Strip früherer Zeiten spielt,<br />
wurde sie dennoch wirkungsvoll eingesetzt.<br />
Auch wenn sich die direkte Illumination für visuelle Effekte<br />
in Feature-Filmen immer mehr durchsetzte, blieben künstlerisches<br />
Geschick und Sensibilität der Spezialisten gefragt, um<br />
die inhärenten Mängel dieser Technik ‚auszubügeln’. Was normalerweise<br />
der Computer erledigt, musste hier künstlerisch<br />
durch Zeichnungen sanfter Schattierung und Lichtwirkung in<br />
die Szenen eingearbeitet werden. Die Radiosität erwies sich als<br />
vielversprechende Möglichkeit akkurater Lichtsimulation, war<br />
aber nach wie vor in der Filmproduktion unüblich. Einige Feature-Projekte<br />
wie Final Fantasy nutzten das Radiositäts-Rendering<br />
schlichtweg als Schablone, um dessen Wirkung dann durch<br />
direkte Illumination nachzuzeichnen. Aber erst die Neuentdeckung<br />
einer bereits früher entwickelten Technik – das Raytracing<br />
– sorgte für entscheidende Impulse auf diesem Gebiet. Das Raytracing<br />
gehört zu den ältesten Mechanismen in der Computergrafik<br />
und wurde lange Zeit angewandt, um in Ergänzung zur<br />
direkten Illumination überzeugende Reflexionen und Schattenbilder<br />
zu schaffen. Diese Methode arbeitet mit ausgesandten<br />
Vektorstrahlen und ermöglicht im Vergleich zur direkten Illumination<br />
eine komplexere Lichtwanderung, bot aber ursprünglich<br />
nicht die Möglichkeit, das Licht als eine Einheit physikalischer<br />
Teilchen zu berechnen, da sich das Licht sowohl als mikroskopische<br />
Welle als auch in realen Partikeln offenbart. Diese<br />
Erkenntnis machte sich das sogenannte Monte Carlo Raytracing<br />
zunutze, gestützt auf den von Marco Fajardo in den späten<br />
Neunzigern entwickelten Rendering-Code namens Arnold. Die<br />
ersten allein durch diesen Renderer erzeugten Bilder veränderten<br />
und revolutionierten die CG-Beleuchtung so nachhaltig, dass<br />
dieses Verfahren auch noch heute in der modernen 3D-Computergrafik<br />
angewandt wird.<br />
Das Monte Carlo Raytracing verdankt seinen Namen der<br />
Tatsache, dass die Quantenphysik des Lichts niemals wirklich<br />
vollständig per Computer dargestellt werden kann, da<br />
das Niveau der Computerisierung auch bei einfachsten Szenen<br />
unvorstellbar hoch ist. Die Monte Carlo-Technik beruht<br />
auf der Kalkulation eines verschwindend geringen Teils dieser<br />
Komplexität, zunächst durch Nutzung einer Monte Carlo-Statistik<br />
2 , um die Wertigkeit zu reduzieren, anschließend durch<br />
einen Kammfilter 3 , um eine größtmögliche Vereinfachung dieser<br />
komplizierten Wechselwirkungen zu erreichen. Da das Licht<br />
ein natürliches Phänomen ist, nimmt der menschliche Verstand<br />
86 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
RENDERING: CHEN QINGFENG<br />
87
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
Antialiasing: Eine in der Computergrafik übliche Technik<br />
zur Glättung grober Strukturen.<br />
Monte Carlo-Statistik: Eine Glockenkurve zur Darstellung<br />
von Häufigkeiten.<br />
Kammfilter: Mittel zur Reduzierung eines Datenkomplexes<br />
durch wiederholte Stichprobenentnahme kleiner Wertbereiche<br />
über eine bestimmte Länge.<br />
Flags: Ein in der Beleuchtungstechnik eingesetztes Stück<br />
Stoff, das die Lichtstreuung einfängt und zur Erzielung dramatischer<br />
Effekte genutzt wird.<br />
auch eine Simulation als real wahr, die ansonsten recht wenig<br />
mit Wirklichkeit zu tun hat. Wegen ihrer Komplexität führt<br />
die Monte Carlo-Technik zwar selbst modernste Prozessoren<br />
an ihre Grenzen, hat sich aber dennoch als wichtiger Durchbruch<br />
erwiesen, um echtes Licht durch bloße Computersimulation<br />
innerhalb kürzester Bearbeitungszeit zu imitieren.<br />
Mit dem Aufkommen von Arnold tauchten zahlreiche<br />
Monte Carlo-Renderer auf und verwiesen die traditionelle<br />
Technik direkter Illumination in die zweite Reihe. Neuester<br />
Forschungsgegenstand beim CG-Rendering ist die zunehmend<br />
verfeinerte Global Illumination (GI). Viele Türen, dem Fotorealismus<br />
bislang verschlossen, stehen nun weit offen, da mit der<br />
GI-Technik eine Vielzahl komplexer Lichtwirkungen und -phänomene<br />
dargestellt werden kann. Komplexe Effekte, angefangen<br />
von subtiler interner Lichtkonzentration durch Glas bis hin<br />
zu exakter Tageslichtschattierung und –farbe, sind mittlerweile<br />
gang und gäbe, so dass die CGI-Technik nunmehr auch im Film<br />
überzeugt. Charaktere wie der Gollum, King Kong oder Davy<br />
Jones sind mittlerweile – vor allem dank des GI-Renderings –<br />
legitimer Ersatz für echte Schauspieler. Zu den interessantesten<br />
Neuentwicklungen gehört zweifellos das ‚unabhängige’ Rendering,<br />
eine auf der Spektralwellenform echten Lichts basierende<br />
Technik der Lichtsimulation mit hervorragenden Ergebnissen.<br />
Wichtiger Vorreiter ist der Maxwell-Renderer, der Bilder erzeugt,<br />
die von üblichen Fotografien nicht mehr zu unterscheiden sind.<br />
Der Maxwell-Spezialist arbeitet wie ein Fotograf und nutzt alle<br />
realen Fotobelichtungstechniken wie Flags 4 , Diffusoren und<br />
Gegenlichtblenden. Das Licht kann in einem Komponentfarbspektrum<br />
gebrochen werden, exakte Farbtemperaturen ausstrahlen,<br />
die komplexe Streuung des Tageslichts wiedergeben<br />
und auf die Ablenkungen durch eine echte Glaslinse reagieren.<br />
Anhand einer gespiegelten Fotoserie kann der reale Lichteinfall<br />
an einem spezifischen Ort mit Hilfe einer CGI-Technik<br />
namens ‚Image-based Lighting’ vollständig und übergangslos<br />
dargestellt werden.<br />
Wie bei jeder neu eingeführten bahnbrechenden Technologie<br />
stehen auch hier die Vorteile außer Frage, wenngleich diese<br />
zu Lasten langjährig bewährter Prozesse gehen – in diesem Falle<br />
auf Kosten der künstlerisch orientierten Praktiken direkter Illumination.<br />
Was einst dem künstlerischen Geschick und Verstand<br />
vorbehalten war, wird nun mechanisch vom Computer erledigt.<br />
Bevor sich die GI-Technik durchsetzte, resultierte (und variierte)<br />
die bildliche Darstellung aus der jeweils eigenen Optik und dem<br />
individuellen Verständnis jedes Lichtexperten. Diese ‚intentionale<br />
Beleuchtung’ ist aber nach wie vor wichtiger Bestandteil<br />
der Feature-Animation, wo Stilisierung und Formgenauigkeit<br />
gefragt sind. Zur Erzielung fotorealistischer optischer Effekte ist<br />
die GI-Technik mittlerweile allerdings unverzichtbar. Fotorealismus<br />
ist immer das Ziel, und künstlerische Variationen können<br />
zu problematischer Inkonsistenz führen. Trotzdem mag<br />
man irgendetwas vermissen – wie damals, als klassische Hollywood-Metiers<br />
wie die Erstellung von Miniaturen oder traditionelle<br />
Mattzeichnungen langsam vom Bildschirm verschwanden.<br />
Letztendlich geht es wohl um den klassischen Konflikt des<br />
Künstlers und um die Frage, inwieweit er bei seiner Arbeit auf<br />
Werkzeuge zurückgreift. Dies erinnert an die einstigen Vorbehalte,<br />
die Fotografie als Kunst anzuerkennen: Wer schafft das<br />
Bild – das Werkzeug oder der Künstler? Wie bei jeder Kunstform<br />
ist auch hier der Künstler, geleitet und gesteuert durch seine<br />
Sensitivität und sein Geschick, Urheber des kreativen Schaffensprozesses,<br />
ungeachtet der eingesetzten technischen Mittel.<br />
Die grundsätzliche Frage, die sich uns bei Spezialeffekten im<br />
Film stellt, lautet vielmehr, ob hierdurch die Handlung und der<br />
Inhalt eines Films wesentlich unterstützt und bereichert werden,<br />
um natürliche, ‚nichttechnische’ Emotionen hervorzurufen.<br />
Werden Filme hierdurch besser? Wie auch immer man<br />
diese Frage beantworten mag: Die Kraft und das Mysterium des<br />
Lichts werden immer eine zentrale Rolle im Film und in jeder<br />
zukünftigen Medienform spielen und wesentliches Ausdrucksmittel<br />
menschlicher Gefühle und Erfahrung bleiben.<br />
Eric Hanson ist Spezialist für visuelle Effekte in Feature-Filmen.<br />
Als studierter Architekt etablierte er bereits früh 3D-Visualisierungsstudios<br />
für große Architekturbüros wie The Callison Partnership und Gensler<br />
and Associates. Seit seinem Wechsel ins Filmgeschäft arbeitet er mit<br />
führenden Produzenten von Spezialeffekten wie Digital Domain, Sony<br />
Imageworks, Dream Quest Images und Walt Disney Feature Animation<br />
zusammen. Er war an der Produktion von Filmen wie Stealth – Unter dem<br />
Radar, The Day After Tomorrow, Cast Away – Verschollen, Hollow Man –<br />
Unsichtbare Gefahr, Atlantis, Fantasia 2000 und Das fünfte Element<br />
maßgeblich beteiligt. Derzeit ist Eric Hanson Dozent für Spezialeffekte an<br />
der University of South California School of Cinema/TV.<br />
88 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Oben links & rechts:<br />
Der Maxwell-Renderer erlaubt die<br />
äußerst realistische Darstellungen<br />
von Materialien aus der ‚realen‘<br />
Welt, von spiegelndem Glas bis zu<br />
Kohlefasern.<br />
Unten links & rechts:<br />
Die Monte Carlo Raytracing-<br />
Methode zeichnet ein besonders<br />
ausdifferenziertes Bild von Licht,<br />
Raum und Oberflächen, indem sie<br />
auf stark vereinfachte Weise die<br />
Bewegung einzelner Lichtphotonen<br />
nachvollzieht.<br />
CHRISTOPHER NICHOLS / WWW.REDEYETALES.COM<br />
HENRIK WANN JENSEN<br />
NEXT LIMIT TECHNOLOGIES<br />
NEXT LIMIT TECHNOLOGIES<br />
89
VELUX EINBLICKE<br />
Architektur für den Menschen – Bauen mit VELUX.<br />
HINTER SCHWEREN MAUERN<br />
Museum in Brie-Comte-Robert
Von Jakob Schoof.<br />
Fotos von Adam Mørk.<br />
Ein Bauwerk ohne Ewigkeitsanspruch sollte das ‚Interpretationszentrum<br />
für das historische Erbe’ in der Burg von Brie-<br />
Comte-Robert werden: leicht, transparent und im Zweifel<br />
schnell wieder abzubauen. Hinter seiner Lärchenholzfassade<br />
birgt das Museum Säle voller Tageslicht, in denen die alten<br />
Fundstücke, die rekonstruierten Burgmauern und die moderne<br />
Holzkonstruktion gleichwertig nebeneinander stehen.<br />
Rund 30 Kilometer südöstlich von Paris<br />
steht inmitten der Hügellandschaft der Brie<br />
ein Baudenkmal, das nur die wenigsten Reiseführer<br />
verzeichnen und das doch, glaubt<br />
man den Historikern, Modellcharakter<br />
besitzt für viele mittelalterliche Burgen in<br />
Frankreich. Das Château du Brie-Comte-<br />
Robert, ein quadratischer Bau mit runden<br />
Ecktürmen, liegt nur wenige Schritte vom<br />
Marktplatz entfernt im Zentrum der gleichnamigen<br />
Kleinstadt. Über einen breiten<br />
Wassergraben führen heute wie vor Jahrhunderten<br />
zwei Brücken auf die beiden,<br />
durch quadratische Türme geschützten<br />
Burgtore zu. Diese Öffnung nach zwei Seiten<br />
und der daraus resultierende Durchgangscharakter<br />
der Burg sind, soweit man weiß,<br />
in der Region einzigartig.<br />
Errichtet wurde die Burg Ende des 12.<br />
Jahrhunderts von Robert I. von Dreux, dem<br />
Herrscher über die Brie und Bruder des<br />
französischen Königs Louis VII. Von seinem<br />
Bauwerk war 1982 nicht mehr viel erhalten<br />
außer einigen Resten der rund 2,30 Meter<br />
dicken Kalksteinmauern. Seither jedoch<br />
haben die Amis du Vieux Château, eine Vereinigung<br />
ehrenamtlicher Helfer, Bemerkenswertes<br />
geleistet: Ein großer Teil der<br />
Burgmauer sowie ihrer insgesamt acht<br />
Türme wurde wieder aufgebaut. Ausgrabungen<br />
im Innenhof förderten außerdem<br />
zahlreiche Mauer reste ehemaliger Wohntrakte<br />
zutage. Unterstützt wurden die Ausgräber<br />
dabei von einer Vielzahl privater und<br />
öffentlicher Geldgeber. Diese ermöglichten<br />
es der Vereinigung auch, 2003 ihr bislang<br />
ambitioniertestes Projekt in Angriff zu nehmen:<br />
den Bau eines kombinierten Betriebsund<br />
Ausstellungsgebäudes oder, in der<br />
französischen Amtssprache, eines CIP (‚Centre<br />
d’interprétation du patrimoine’). Darin<br />
sollten neben einem Ausstellungssaal auch<br />
Räume für die Museumspädagogik sowie<br />
Büros und ein großer Gruppenraum für die<br />
Ausgrabungshelfer Platz finden.<br />
Geplant wurde der 400 Quadratmeter<br />
große, rund 725 000 Euro teure Neubau<br />
von den Architekten Semon Rapaport aus<br />
Brie-Comte-Robert und dem Museumsgestalter<br />
Lorenzo Piqueras. Wie stets, wenn<br />
inmitten historischer Mauern Neues entstehen<br />
soll, hatte auch die nationale Denkmalschutzbehörde<br />
ACMH ein gewichtiges<br />
Wörtchen mitzureden. Ihr Chefarchitekt<br />
Jacques Moulin erstellte für das Projekt ein<br />
Pflichtenheft, das einen Holzbau verlangte –<br />
zum einen, weil sich dieses Material deutlich<br />
von den alten Mauern unterscheiden würde<br />
und zum anderen, weil eine Holzkonstruktion<br />
für spätere, weitere Ausgrabungen relativ<br />
leicht wieder abgebaut werden könnte.<br />
Auch aus ästhetischen Gründen gab Moulin<br />
dem Holz den Vorzug: „Die mittelalterlichen<br />
Monumente, die auf uns gekommen<br />
sind, ähneln oft Muscheln, von denen nichts<br />
mehr außer der Schale übrig geblieben ist.<br />
Alle leichten Bauteile sind verschwunden.<br />
[…] Es erscheint mir daher wünschenswert,<br />
diese Materialvielfalt in den Bauwerken, die<br />
wir restaurieren, wieder neu entstehen zu<br />
lassen, da sie ein charakteristischer Wesenszug<br />
westlicher Baukonstruktionen war.“<br />
Schließlich gab auch das geringe<br />
Gewicht den Ausschlag für eine Holzkonstruktion:<br />
Am Standort des Gebäudes,<br />
in der Nordecke der Burg, haben bislang<br />
keine Ausgrabungen stattgefunden. Um<br />
die hier möglicherweise noch verborgenen<br />
Funde zu schützen, durfte der Boden weder<br />
durch schwere Konstruktionen noch durch<br />
schweres Baugerät belastet werden. Das<br />
92 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Links:<br />
Das Ausstellungs- und Betriebsgebäude<br />
wurde komplett aus<br />
Holz errichtet. Eine Wandscheibe<br />
aus Sichtbeton am<br />
Eingang ist – mit Ausnahme<br />
der Fundamente – das einzige<br />
massive Bauteil.<br />
Unten:<br />
Ein hoch- und ein tiefgelegenes<br />
Fensterband belichten den Ausstellungssaal.<br />
Die dazwischen<br />
liegende Fassadenfläche kann<br />
innen für Exponate genutzt<br />
werden und wird nur gelegentlich<br />
durch Fensteröffnungen<br />
unterbrochen.<br />
Gegenüber:<br />
Das dritte Fensterband besteht<br />
aus Dachwohnfenstern und<br />
belichtet den hinteren Teil der<br />
Ausstellungsflächen.<br />
94 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Fakten<br />
Bauherr<br />
Architekten<br />
Ausstellungsgestaltung<br />
Wissenschaftliches Konzept und<br />
archäologische Forschung<br />
Commune de Brie-Comte-Robert<br />
SCP Semon Rapaport,<br />
Brie-Comte-Robert<br />
Lorenzo Piqueras<br />
Amis du Vieux Château,<br />
Brie-Comte-Robert<br />
Links oben:<br />
Detailschnitt durch das<br />
Fensterband im Dach<br />
Links Mitte:<br />
Axonometrie des Neubaus<br />
Links unten:<br />
Wandernde Lichtflecken gleiten<br />
im Tagesverlauf über die<br />
Kalksteinmauern im Ausstellungssaal.<br />
Gegenüber:<br />
Das Ausstellungsmobiliar ist<br />
schlicht und hell. Gemeinsam<br />
mit dem Parkettboden, der alten<br />
Burgmauer, den Rundstützen<br />
und der Gipskartondecke ergibt<br />
sich ein Wechselspiel aus strukturierten,<br />
natürlich gewachsenen<br />
und glatten, industriell<br />
gefertigten Oberflächen.<br />
96
D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />
97
VELUX PANORAMA<br />
Architektur mit VELUX aus aller Welt.<br />
1<br />
FOTOS (S. 74–77): ADAM MØRK<br />
ÜBER DEN DÄCHERN EUROPAS<br />
KONZEPTHAUS ATIKA<br />
Fakten<br />
Vorläufiger Standort<br />
Art des Gebäudes<br />
Kunde<br />
Architekten<br />
Fertigstellung<br />
Getxo (Bilbao), Spanien. Wanderausstellung<br />
Konzepthaus (modulare Dachaufstockung)<br />
VELUX A/S, Hørsholm, Dänemark<br />
ACXT/IDOM, Bilbao, Spanien<br />
2006<br />
98 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
1. Mit seiner markanten Silhouette<br />
überragt Atika das<br />
Stadtbild. Das modulare Konzepthaus<br />
wurde erstmals im<br />
Oktober 2006 im Hafen von<br />
Getxo (Spanien) vorgestellt.<br />
Die traditionelle Architektur Südeuropas<br />
zeichnet sich durch ihre<br />
intelligente und einfache Nutzung<br />
vorhandener Ressourcen aus: Sonne<br />
und Luft, die im Überfluss zur Verfügung<br />
stehen, und Wasser – mitunter<br />
ein seltenes Gut – werden seit Jahrhunderten<br />
zum Kühlen und Heizen<br />
verwendet, um den Bewohnern bestmöglichen<br />
Komfort zu bieten.<br />
Dicke und schwere Mauern als<br />
thermischer Puffer, weißer Kalk<br />
als reflektierende Schicht auf den<br />
Außenwänden, Fensterläden, Schatten<br />
von Gebäuden und Dachüberhängen,<br />
enge Straßen und Höfe, die<br />
Schatten spenden und zugleich die<br />
Luft zirkulieren lassen, sowie die Verwendung<br />
fließenden Wassers zum<br />
Kühlen gehören zu den traditionellen<br />
Lösungen der Architektur rund um<br />
das Mittelmeer.<br />
Atika ist von dieser mediterranen<br />
Bautradition inspiriert. Das Projekt ist<br />
der Versuch, mit einfachen, aber wirkungsvollen<br />
Lösungskonzepten mehr<br />
Komfort bei geringerem Energieverbrauch<br />
zu erreichen. Entworfen als<br />
Konzepthaus für warme Klimazonen,<br />
soll Atika ein gesundes Wohnumfeld<br />
mit hohem Raumkomfort und ganzjährig<br />
optimalen Tageslichtbedingungen<br />
bieten. Es ist damit der Prototyp eines<br />
energiesparenden Hauses in Regionen<br />
mit viel Sonne, heißen Sommern und<br />
milden Wintern, wo Belüftungs- und<br />
Kühlsysteme traditionell viel Energie<br />
verbrauchen.<br />
„Normalerweise werden Dächer<br />
im Mittelmeerraum nicht als Wohnraum<br />
benutzt. Doch Atika ist ein<br />
Dachhaus und zugleich ein Haus unter<br />
dem Dach”, sagt Javier Aja Cantalejo<br />
von ACXT Arquitectos, der für den<br />
Entwurf verantwortlich zeichnete.<br />
Das Gebäude, das der Öffentlichkeit<br />
zum ersten Mal im Oktober 2006<br />
im Hafen von Getxo bei Bilbao vorgestellt<br />
wurde, ist in zwei Teile gegliedert:<br />
das Haus selbst und einen<br />
gerüstartigen Unterbau, der ein bestehendes<br />
Gebäude mit Flachdach<br />
symbolisiert. Javier Aja Cantalejo<br />
zufolge liegen die konzeptionellen<br />
Vorteile von Atika im schnellen Aufbau<br />
vor Ort und der geringen Belästigung<br />
der Nachbarn. Zudem bietet<br />
das Haus zusätzliche Mietflächen<br />
und schützt die bestehende Dachoberfläche<br />
vor Regen.<br />
Die Silhouette von Atika wird<br />
durch sein weißes, zickzackförmiges<br />
Dach geprägt. Als Re-Interpretation<br />
der traditionellen Mittelmeerarchitektur<br />
besitzt das Haus einen zentralen,<br />
offenen Patio, der mit einem<br />
schattenspendenden Vordach, einem<br />
Wasserbecken und Grünpflanzen als<br />
Klimaregulator dient. Atika-Häuser<br />
sind typische Einfamilienhäuser. Ihr<br />
Grundriss mit 10 x 10 Metern Kantenlänge<br />
ist in drei Teile gegliedert. Die<br />
beiden Flügel im Westen und Osten –<br />
je 10 Meter lang und 3,5 Meter breit –<br />
enthalten die Wohn- und Schlafräume.<br />
Sie werden durch den Eingangsbereich<br />
und die zentrale, offene Patio-<br />
Terrasse miteinander verbunden. Die<br />
Dächer sind nach Norden und Süden<br />
geneigt, wobei jedem Raum im Haus<br />
eine eigene Dach geometrie zugeordnet<br />
wurde. Die genaue Dachform<br />
von Atika variiert je nach Standort,<br />
abhängig von der geografischen Lage,<br />
der Ausrichtung, der Art der Raumnutzung<br />
sowie von den Ansprüchen an<br />
Tageslicht und Raumklima. Dies macht<br />
Atika zu einem flexiblen Organismus,<br />
der sich öffnen und schließen, atmen,<br />
Sonnenenergie einfangen und diese je<br />
nach Jahreszeit umwandeln kann.<br />
Die natürliche Belüftung und<br />
nächtliche Abkühlung werden von<br />
einer elektronischen Steuerungsanlage<br />
optimiert, die automatisch<br />
das Raumklima überwacht. Die Anlage<br />
regelt das Raumklima durch automatisches<br />
Öffnen und Schließen<br />
der Fenster sowie der Jalousien und<br />
Rollläden und durch Aktivierung des<br />
Kühl- und Heizsystems gemäß voreingestellter<br />
Parameter wie Temperatur,<br />
Luftfeuchtigkeit, Tageszeit, Jahreszeit<br />
und Einbruchschutz.<br />
Das Konzepthaus wird über<br />
die Straße zum Aufbauort transportiert.<br />
Die Tragkonstruktion besteht<br />
aus einem Stahlrahmen für<br />
die Boden- und Dachflächen. Stahlstützen<br />
tragen die Wände, diagonale<br />
Streben stabilisieren sie. Der Boden<br />
besteht aus Stahlbetonplatten auf<br />
einer Wellblechschicht. Die 16 Zentimeter<br />
dicke Wärmedämmung wird<br />
im Dach von einer weiteren Wellblechschicht<br />
und in den Außenwänden<br />
von einem leichten, verzinkten<br />
Stahlrahmen gehalten. Dächer und<br />
Fassaden sind außen mit Hochdrucklaminat-Platten<br />
und innen mit Gipskarton<br />
verkleidet. Die Innenwände<br />
be stehen ebenfalls aus einer doppelten<br />
Schicht Gipskarton mit innen<br />
liegender Schalldämmung. Auf den<br />
Böden im Inneren des Hauses wurden<br />
Keramikfliesen, im Patio und auf<br />
den Terrassen Holz verlegt.<br />
Das für Atika verwendete Baukastenprinzip<br />
sowie die Vorfertigung in<br />
der Fabrik haben große Vorteile gegenüber<br />
konventionellen Baumethoden:<br />
Sie reduzieren die Bauzeit um<br />
etwa ein Drittel, machen die Konstruktion<br />
stabiler und präziser und<br />
vereinfachen die Nutzung von Spezialprodukten<br />
und techniken für eine<br />
bessere Wärme- und Schalldämmung.<br />
Zudem verbessert die Herstellung<br />
in der Fabrikhalle die Qualität<br />
und die Kontrolle des Bauprozesses.<br />
Die Gebäudetechnik von Atika<br />
ist insofern innovativ, als Solarkollektoren<br />
heißes Wasser nicht<br />
nur zum Heizen, sondern auch zum<br />
Kühlen liefern. Sie stellen rund 70 %<br />
des Warmwasserbedarfs und 30 %<br />
des Heizenergiebedarfs bereit und<br />
versorgen zugleich die Klimaanlage<br />
des Hauses. Die insgesamt rund 10<br />
Quadratmeter großen Solarkollektoren<br />
wurden auf den südlichen<br />
Dach flächen des Hauses installiert<br />
und sind zwischen 15 und 60 Grad<br />
aus der Horizontalen geneigt. Die<br />
Kollektoren versorgen ein Heißwassersystem,<br />
das an ein zusätzliches<br />
Kühlwassersystem angeschlossen<br />
ist. Dieses Kühlwassersystem wird<br />
für die Luftkühlung in den heißen<br />
Jahreszeiten benutzt.<br />
Das Heizen, als Raumheizung<br />
in Gebäuden, für die Warmwassergewinnung<br />
und für Industrieprozesse,<br />
macht heutzutage die Hälfte des<br />
gesamten Weltenergieverbrauchs<br />
aus. Die Nutzung erneuerbarer<br />
Ener gien – solarthermisch, geothermisch<br />
oder Biomasse – bietet eine<br />
gute Alternative zu fossilen Brennstoffen<br />
und Elektrizität als Wärmequellen.<br />
In dieser Hinsicht kann Atika<br />
zur Lösung der Aufgabe beitragen,<br />
die der EU-Kommissar für Energie,<br />
Andris Piebalgs, als eine der größten<br />
künftigen Herausforderungen für die<br />
Architektur ausgemacht hat: „Durch<br />
energetische Verbesserungen in unseren<br />
Gebäuden erreichen wir nicht<br />
nur mehr für uns selbst, sondern wir<br />
sparen auch für unsere Kinder.“<br />
Mehr Informationen unter:<br />
atika.VELUX.com<br />
99
2<br />
ZEICHNUNGEN: ACXT/IDOM<br />
2. Schnitte und Grundriss .<br />
3. Atika überrascht mit seiner<br />
für das mediterrane Klima ungewohnten<br />
Offenheit. Trotz der<br />
Leichtbauweise und des hohen<br />
Fensteranteils gewährleistet<br />
ein intelligentes Klima- und Lüftungssystem<br />
einen hohen Innenraumkomfort.<br />
4. Der Schlafraum liegt im höchsten<br />
Teil des Gebäudes. Durch<br />
sechs Dachfenster genießen die<br />
Hausbewohner freien Blick in<br />
den Himmel.<br />
5. Blick durch den Wohnraum,<br />
der im Süden in einer Art Wintergarten<br />
voller Tageslicht<br />
endet. Beide Gebäudeflügel<br />
sind 10 Meter lang und 3,5 Meter<br />
breit und können damit per<br />
LKW transportiert werden.<br />
6. Der Patio zwischen dem<br />
Schlaf- und dem Wohntrakt<br />
öffnet sich nach Süden zum<br />
Hafen hin. Die Fassaden des<br />
Konzepthauses sind mit HPL-<br />
Platten verkleidet; ein flaches<br />
Wasserbecken dient als zusätzlicher<br />
Wärmepuffer.<br />
4<br />
3<br />
5<br />
100 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
7<br />
D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
8<br />
7. Im Norden verbindet der Eingangsbereich<br />
die beiden Gebäudeflügel<br />
zu einem u-förmigen<br />
Grundriss. Der mit Holz bedeckte<br />
Patio ist so vor der Meeresbrise<br />
und vor Einblicken geschützt.<br />
8. Nach Norden hin ist Atika<br />
weitgehend geschlossen.<br />
Lediglich die sechs Dachfenster<br />
über dem Schlafzimmer strahlen<br />
ihr Licht in die Nacht hinaus.
FOTOS (S. 80–83): RAINER VIERTLBÖCK<br />
1<br />
104
CABRIO AUS LÄRCHENHOLZ<br />
HAUS KLIMCZYK IN RIEDEN<br />
Fakten<br />
Standort<br />
Gebäudetyp<br />
Bauherr<br />
Architekt<br />
Fertigstellung<br />
Osterreinen, Rieden am Forggensee, D<br />
Einfamilienhaus (Doppelhaushälfte)<br />
Familie Klimczyk, Rieden, D<br />
Becker Architekten, Kempten, D<br />
Februar 2006<br />
Rieden am Forggensee liegt in einer<br />
jener Gegenden in Deutschland, die<br />
im Ausland als Inbegriff für das<br />
‚Pitto reske‘ in der deutschen Landschaft<br />
gelten und deshalb schon früh<br />
vom internationalen Tourismus entdeckt<br />
wurden. Burgruinen und Badeseen<br />
(allein sieben im Umkreis<br />
von 12 Kilometern), „lauschige<br />
Winkel und malerische Ecken“<br />
führt die Website des Orts als<br />
Argumente an, hier seine Ferien zu<br />
ver bringen. Am gegenüberliegenden<br />
Seeufer, in Sichtweite von Rieden,<br />
erhebt sich Neu schwanstein, das<br />
Märchenschloss des exzentrischen<br />
Bayernkönigs Ludwig II. über den<br />
dichten Nadelwald.<br />
So attraktiv jedoch die landschaft<br />
liche Schönheit Oberbayerns<br />
auf den Touristen wirkt, so hindernisreich<br />
gestaltet sich oft der Versuch,<br />
hier zeitgemäße Neubauten<br />
zu errichten. Die Architektur-Avantgarde<br />
hat es – anders als etwa in der<br />
Schweiz oder in Österreich – noch<br />
immer schwer, in der Region Fuß zu<br />
fassen. Als ungeschriebene Norm<br />
gilt der Bautypus, der im Laufe des<br />
20. Jahrhunderts eher unreflektiert<br />
als der ‚alpenländische‘ akzeptiert<br />
wurde: flach gedeckte, meist<br />
weiß verputzte Häuser mit weit<br />
auskragenden Dächern und ebenso<br />
ausladenden Holzbalkonen. Auch der<br />
Riedener Ortsteil Osterreinen folgt<br />
mit seinen meist aus den 70er-Jahren<br />
stammenden Häusern dieser<br />
Vorgabe. Lediglich vereinzelt findet<br />
man noch die so genannten ‚Schwangauer<br />
Häuser‘, die die Gegend früher<br />
prägten – Holz ständerbauten mit<br />
traufseitiger, meist nach Süden orientierter,<br />
offener Laube.<br />
Ein solches, regionaltypisches<br />
Bauernhaus nahmen sich Becker<br />
Architekten zum Vorbild für den<br />
Entwurf des Hauses Klimczyk. Es<br />
handelt sich um eine Doppelhaushälfte<br />
in der Dorfmitte, deren Pendant<br />
von den Nachbarn zu einem<br />
späteren Zeitpunkt mit einem anderen<br />
Architekten realisiert werden<br />
sollte. Fest stand indessen bereits,<br />
dass der Nachbar ein Massivhaus<br />
wünschte, und so konzipierten die<br />
Architekten Haus Klimczyk als hölzernen<br />
‚Anbau‘, der sich wie der Stalloder<br />
Wirtschaftsteil eines Hofes an<br />
seinen steinernen Widerpart anschließen<br />
sollte. Um dieses Konzept<br />
zu unterstreichen, erhielt das Haus<br />
eine Lärchenholzverschalung mit integrierten<br />
Schiebe-Faltläden, die im<br />
Laufe der Jahre silbergrau verwittern<br />
wird. Durch die Läden lassen<br />
sich die Loggien an der Nord- und<br />
Südseite nahezu komplett öffnen. In<br />
geschlossenem Zustand verschmelzen<br />
Fensterläden und Fassade dagegen<br />
zu einer einzigen, homogenen<br />
Hülle, die in der Tat etwas ‚Scheunenhaftes‘<br />
ausstrahlt. In der Nutzung<br />
erhält das Haus so eine enorme<br />
Flexibilität: Wie ein Cabriolet lässt<br />
es sich an alle denkbaren Licht- und<br />
Wettersituationen anpassen.<br />
Das Leben im Inneren des Hauses<br />
spielt sich auf allen vier Etagen ab,<br />
wobei das Untergeschoss separat<br />
als Einliegerwohnung nutzbar ist.<br />
Sie ist winkelförmig um einen Innenhof<br />
angelegt und wird separat von<br />
außen erschlossen. Die Innenräume<br />
gruppieren sich um einen von oben<br />
belichteten Treppenhauskern, der<br />
der Doppelhaushälfte eine überraschende<br />
Großzügigkeit verleiht. Das<br />
Licht fällt durch Dachwohnfenster<br />
ein, unter denen neun so genannte<br />
‚Lichtkanonen‘ – Lichtschächte aus<br />
weiß lackierten MDF-Platten – für<br />
eine blendfreie, gleichmäßige Lichtverteilung<br />
sorgen. Auch die übrigen<br />
Oberflächen im Haus wurden weiß<br />
gehalten und sorgen so für eine<br />
bestmögliche Lichtausbeute: In den<br />
Wohnräumen wurde weiß geöltes<br />
Parkett verlegt; die Wände bestehen<br />
aus weiß gestrichenen Gipskartonplatten<br />
sowie (im Treppenhaus)<br />
weiß lackierten Hartgipsplatten.<br />
D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />
105
1. Wie ein Schleier verhüllen<br />
die Lärchenholzlamellen die<br />
Loggien an den Längsseiten des<br />
Hauses. Während das Gebäude<br />
bei geschlossenen Läden tags<br />
eher massiv und undurchdringlich<br />
wirkt, wird es nachts zum<br />
allseits ausstrahlenden Lichtkörper.<br />
2. Längs- und Querschnitt<br />
2<br />
ZEICHNUNGEN: BECKER ARCHITEKTEN<br />
3. Das innen liegende Treppenhaus<br />
dient nicht nur als Erschließungszone.<br />
Der großzügig<br />
bemessene Raum stellt auch die<br />
visuelle Verbindung zwischen<br />
den Ebenen her.<br />
4. Neun markante ‚Lichtkanonen‘<br />
unter den Dachflächenfenstern<br />
spenden blendfreies<br />
Licht für das Treppenhaus.<br />
3<br />
106 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
4<br />
107
VELUX DIALOG<br />
Architekten im Gespräch mit VELUX.<br />
LIGHT OF<br />
TOMORROW<br />
Wettbewerbe sind seit jeher ein wichtiges<br />
Instrument für die Architektur,<br />
insbesondere dann, wenn das gestellte<br />
Thema genügend Spielraum<br />
für individuelle Interpretation lässt,<br />
eine Herausforderung an die Teilnehmer<br />
darstellt und Impulse für künftige<br />
Entwicklungen gibt. Dann steht auch<br />
nicht mehr der Wettbewerbscharakter<br />
im Vordergrund der Veranstaltung,<br />
sondern ihre Funktion als Forum für<br />
räumliche Diskussionen, die ein tieferes<br />
Verständnis spezifischer architektonischer<br />
Lösungen ermöglichen.<br />
Qualifizierte Wettbewerbe sorgen<br />
für frischen Wind und dienen den Teilnehmern<br />
als Anregung, um Inhalte, die<br />
heute noch Zukunftsmusik sind, kurzfristig<br />
Realität werden zu lassen. Die<br />
zeitliche Dimension spielt bei Wettbewerben<br />
eine entscheidende Rolle,<br />
denn schließlich müssen die Ergebnisse<br />
innerhalb einer gesetzten Frist<br />
präsentiert werden, was großes Talent<br />
und höchste Konzentration erfordert.<br />
Vielleicht aber schöpfen die<br />
Teilnehmer ihre Inspiration bei solchen<br />
Wettbewerben, bei denen der kreative<br />
Schaffensakt im Vordergrund<br />
steht, genau aus dieser Kombination<br />
aus Nervenanspannung und Hingabe.<br />
Architektur mit sozialem Bewusstsein<br />
ist für unsere Lebensqualität<br />
und unser Wohlbefinden von<br />
entscheidender Bedeutung. Weder<br />
können wir die Architektur losgelöst<br />
von unserer Kultur betrachten,<br />
noch die Tatsache verdrängen, dass<br />
sie unseren natürlichen Lebensraum<br />
immer stärker prägt. Architektur als<br />
räumliches Gestaltungsmittel betrifft<br />
jeden von uns, denn uns allen obliegt<br />
die Verantwortung, unser bauliches<br />
Lebensumfeld zu verbessern. Architekturschulen<br />
gehören zweifellos zu<br />
den wichtigsten Institutionen, mit<br />
denen wir diesem globalen Anspruch<br />
gerecht werden können.<br />
VELUX ist klug genug, den Blick<br />
in die Zukunft zu richten und auf kommende<br />
Generationen zu bauen, um<br />
neue Entwicklungen frühzeitig zu erkennen<br />
und innovative Ideen aufzugreifen.<br />
Das Unternehmen setzt auf<br />
junge Leute und deren Vermögen, Zukunftsvisionen<br />
konkrete Gestalt zu<br />
verleihen. Die junge Generation wird<br />
nicht als profitversprechender Markt,<br />
sondern als Inspirationsquelle angesehen.<br />
Auf einzigartige Weise engagiert<br />
sich VELUX seit vielen Jahren in der<br />
Architektenausbildung.<br />
Der VELUX-Wettbewerb ‚Light<br />
of Tomorrow‘ bot Architekturstudenten<br />
und -lehrern die Gelegenheit,<br />
sich mutig an räumliche Experimente<br />
zu wagen. Als die Jury (der japanische<br />
Architekt Kengo Kuma, die irische Architektin<br />
Roisin Heneghan, Dr. Omar<br />
Rabie vom Massachusetts Institute<br />
of Technology, der Präsident der AIA<br />
Douglas Steidl, der General Manager<br />
von VELUX Italien Massimo Buccilli<br />
und ich) im Sommer 2006 in Madrid<br />
tagte, fühlten wir uns alle sehr<br />
geehrt, an diesem Projekt teilnehmen<br />
zu dürfen. Als Hochschullehrer<br />
und Architekten sind wir mit den<br />
Mühen, der kreativen Energie und den<br />
Hoffnungen bestens vertraut, die in<br />
jedem Projekt stecken. Im Gegensatz<br />
zu den ausgereiften Arbeiten erfahrener<br />
Kollegen zeichneten sich die<br />
von der kommenden Architektengeneration<br />
vorgelegten Pläne durch frische<br />
Ideen und Experimentierfreude<br />
aus und zeigten erste Zeichen und gelungene<br />
Interpretationen des ‚Lichts<br />
von morgen‘. Mit jeder neuen Generation<br />
erfährt die Auffassung von Kontext,<br />
Zeit und Raum einen gewissen,<br />
manchmal kaum spürbaren Wandel,<br />
der ein Indikator für zukünftige Entwicklungen<br />
sein kann. Daher habe ich<br />
immer großen Respekt vor Studentenwettbewerben.<br />
Die eingereichten<br />
Arbeiten sind in ihrer Gesamtheit<br />
so beeindruckend, dass die Jury allen<br />
Teilnehmern gratulieren und auch<br />
VELUX große Anerkennung dafür<br />
aussprechen möchte, sich einer solchen<br />
Herausforderung auf professio-<br />
108 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
‚Light of tomorrow‘ lautete das<br />
Motto des International VELUX<br />
Award 2006. Seine Interpretation<br />
war den einzelnen Studenten<br />
überlassen: Konkrete<br />
Gebäudeentwürfe wurden<br />
ebenso eingereicht wie sehr<br />
konzeptionelle Arbeiten die die<br />
Grenzen der Architektur mit<br />
Skulptur, Landschaftsplanung,<br />
Energietechnik, Biologie und<br />
vielen anderen Bereichen ausloteten.<br />
DORTE MANDRUP ARKITEKTER IN ZUSAMMENARBEIT MIT B&K+ BRANDLHUBER & CO / FOTO: TORBEN ESKEROD<br />
nelle und großzügige Weise zu stellen<br />
und damit der jungen Generation ein<br />
Forum zur Selbstverwirklichung und<br />
zum Experimentieren zu geben. Bei<br />
der Jury löste der Ausschreibungstext<br />
zum International VELUX Award folgende<br />
Gedanken aus:<br />
„Der Preis stellt das Tageslicht in<br />
den Vordergrund, soll aber gleichzeitig<br />
dazu anregen, die Rolle des<br />
Tageslichts zu diskutieren und zu<br />
überdenken. Licht ist nicht mehr nur<br />
als dienliches Hilfsmittel in der Architektur,<br />
sondern als primäres und entscheidendes<br />
Gestaltungsmittel zu<br />
verstehen.“<br />
„Mit dem Preis sollen Projekte<br />
gefördert werden, die über die alleinige<br />
Existenz des Lichts hinausgehen<br />
– experimentelle Projekte, die<br />
sich am Unbekannten orientieren, an<br />
Grenzen gehen, wesentliche Erkenntnisse<br />
gewinnen und nicht nur mit der<br />
menschlichen Wahrnehmung arbeiten,<br />
sondern auch soziale und umweltbezogene<br />
Aspekte des Lichts<br />
aufzeigen.“<br />
„Mit diesem Preis werden nicht nur<br />
Studenten, sondern auch ihre Lehrer<br />
und Betreuer gewürdigt.“<br />
Insgesamt wurden bei der Jury<br />
557 Arbeiten aus aller Welt eingereicht,<br />
die durch eine bemerkenswerte<br />
Vielfalt von Ideen und Ansätzen bestechen.<br />
Die Einsendungen überzeugten<br />
durch ihre facettenreiche Behandlung<br />
des Lichts als wesentliches Gestaltungsmittel<br />
der Architektur. Die<br />
Möglichkeiten, das Licht und seine<br />
Kapazitäten immer wieder neu zu interpretieren,<br />
scheinen schier unbegrenzt.<br />
Die aufstrebende Generation junger<br />
Architekten, die sich an diesem<br />
Wettbewerb beteiligte, hat mannigfaltige<br />
Methoden und Denkansätze<br />
gezeigt, wie der architektonischen<br />
Bedeutung des Tageslichts auch in<br />
Zukunft gerecht zu werden ist. Die<br />
Transformation des räumlichen Potenzials<br />
von Licht wird immer wieder<br />
Anstöße zur Umsetzung persönlicher<br />
Motivation und Interessen geben.<br />
Während einige Teilnehmer eine direkte<br />
räumliche Interpretation bevorzugten,<br />
erfanden andere raffinierte<br />
Mechanismen, um dem Licht besondere<br />
Identität zu verleihen. In ihrer<br />
Vielfalt verdeutlichen die Arbeiten,<br />
dass moderne Architektur weder ein<br />
allgemein gültiges Anliegen noch eine<br />
einheitliche Raumvorstellung verfolgt.<br />
Viele Projekte beschäftigten sich mit<br />
dem Thema auf allgemeiner Ebene,<br />
andere hingegen konzentrierten sich<br />
auf spezifische konzeptionelle Ideen.<br />
Doch trotz dieser Vielfalt ist Licht<br />
nach wie vor ein ‚gemeinsamer Nenner‘<br />
und eine unentbehrliche Inspirationsquelle<br />
für die Architektur.<br />
Die Jury war offen für alle unterschiedlichen<br />
Ansätze, denn entscheidend<br />
ist schließlich die Qualität eines<br />
Projekts und dessen Vermögen, eine<br />
themenbezogene Diskussion in der Architektur<br />
anzustoßen. Dieser Aspekt<br />
war ausschlaggebend für die letztendliche<br />
Auswahl. Die Jurymitglieder<br />
empfanden es als große Ehre, Teil<br />
dieses Wettbewerbs zu sein. Mitunter<br />
entfachte sich zwischen ihnen eine<br />
lebhafte und provokative Debatte angesichts<br />
der zahlreichen Beiträge mit<br />
unterschiedlichen und anspruchsvollen<br />
Ansätzen. Die drei Siegerprojekte<br />
wurden von der Jury einstimmig<br />
gewählt.<br />
1. Preis<br />
Louise Grønlund<br />
Museum der Fotografie<br />
2. Preis<br />
Gonzalo Pardo<br />
Leseplatz im Wald<br />
3. Preis<br />
Anastasia Karandinou<br />
Unsichtbare Lichtbrücken<br />
Per Olaf Fjeld<br />
Vorsitzender der Jury
INTERVIEW<br />
MIT<br />
LOUISE<br />
GRØNLUND<br />
Louise Grønlund lebt in Kopenhagen,<br />
wo sie seit Januar 2007 im<br />
Architekturbüro Lundgaard & Tranberg<br />
arbeitet. Daneben hat sie eine<br />
Teilzeitstelle als Lehrkraft an der<br />
Königlichen Dänischen Kunstakademie<br />
in Kopenhagen.<br />
D&A Was haben Ihnen die Kultur,<br />
in der Sie aufgewachsen sind, und<br />
Ihre Ausbildung zur Architektin über<br />
Licht vermittelt?<br />
LG Das Licht in Dänemark und im<br />
gesamten Norden ist etwas ganz<br />
Besonderes. Es spiegelt sich in unserer<br />
Kultur auf verschiedenen Ebenen<br />
wider, auch in der Art und Weise,<br />
in der wir wohnen und bauen. Ich<br />
glaube, dass alle Architekten, sowohl<br />
Praktiker als auch Theoretiker,<br />
diesem ‚nordischen Licht’ mit seinem<br />
weichen, diffusen und etwas weniger<br />
intensiven Charakter sehr viel Aufmerksamkeit<br />
widmen. Das Besondere<br />
am Licht in Dänemark sind die<br />
mit den Jahreszeiten verknüpften,<br />
sehr unterschiedlichen Helligkeitszustände.<br />
Doch auch innerhalb der<br />
einzelnen Jahreszeiten gibt es kleine,<br />
aber wichtige Unterschiede. Für Architekten<br />
im Norden ist dies eine Gegebenheit,<br />
mit der viele sehr bewusst<br />
umgehen, und dieses Bewusstsein<br />
vermitteln die Lehrer an den Architekturschulen<br />
in Dänemark auch<br />
an ihre Studenten weiter. Über die<br />
Lichtverhältnisse kann man nachlesen<br />
oder sich etwas erzählen lassen,<br />
aber erst durch eigene Erfahrungen<br />
wird man sich der Wirkung bewusst,<br />
die es im Raum entfaltet.<br />
D&A Welche wichtigen Eigenschaften<br />
des Lichts haben Sie bei<br />
Ihrer Arbeit für sich entdeckt?<br />
LG Ich habe während der letzten Semester<br />
an der Architekturschule und<br />
besonders in meinem Abschlussprojekt<br />
‚Museum für Fotografie’ die Wirkung<br />
des Lichts im Raum aus einem<br />
phänomenologischen Blickwinkel<br />
untersucht, das heißt, wie wir mit<br />
unserem Körper Raum und Licht<br />
sinnlich wahrnehmen. Insofern interessieren<br />
mich eigentlich gerade die<br />
Nuancen und feinen Unterschiede<br />
des nordischen Lichts und die Frage,<br />
wie man durch bewusstes und präzises<br />
Arbeiten mit diesen Unterschieden<br />
Gebäude entwerfen kann, die<br />
diese Wahrnehmungsweise deutlich<br />
machen. Ich will mit Architektur so<br />
arbeiten, dass sie das besondere Phänomen<br />
des Lichts verdeutlicht – Architektur<br />
als Lichtmaschine.<br />
D&A In welche Richtung wird sich die<br />
Verwendung von Licht in der Architektur<br />
im 21. Jahrhundert entwickeln?<br />
Wird sie eher technologiegetrieben<br />
oder von den Bedürfnissen des Menschen<br />
geprägt sein, oder von der Notwendigkeit,<br />
Energie zu sparen, oder<br />
von allen drei Faktoren?<br />
LG Ich glaube, dass das Licht in der<br />
Architektur des 21. Jahrhunderts<br />
viele unterschiedliche Rollen und<br />
‚Funktionen’ bekommen wird. Schon<br />
seit längerer Zeit ist es konstruktiv<br />
möglich, Häuser fast vollständig aus<br />
Glas zu bauen und damit sehr große<br />
Mengen an Tageslicht einzufangen,<br />
aber es wird auch wieder eine Gegenreaktion<br />
darauf erfolgen. Sie wird<br />
teilweise von der Frage ausgehen, ob<br />
primär die Menge an Tageslicht im<br />
Mittelpunkt des Interesses stehen<br />
sollte, aber auch von der Frage der<br />
Ressourceneffizienz. Daher meine<br />
ich, dass wir eine Architektur erleben<br />
werden, die viel bewusster und<br />
präziser mit dem Tageslicht arbeitet<br />
als bisher. Teils wird sie auf den Bedürfnissen<br />
des Menschen basieren,<br />
teils auf rein architektonischen Gesichtspunkten.<br />
D&A Stellen Sie mit Ihrem Projekt<br />
‚Museum für Fotografie’ die traditionelle<br />
Auffassung von Ausstellungsräumen<br />
in Frage, die vor allem in<br />
Museen meist als ‚neutrale’ Kisten<br />
mit einer tageszeitunabhängigen,<br />
unveränderlichen Beleuchtung konzipiert<br />
sind?<br />
LG Im Museum für Fotografie habe<br />
ich versucht, optimale Voraussetzungen<br />
für das Sehen des Betrachters<br />
zu schaffen, das heißt, dass er<br />
einerseits die ausgestellten Fotografien<br />
sieht und andererseits auf<br />
sein eigenes Sehen aufmerksam gemacht<br />
wird. Dass er den Raum sieht,<br />
in dem er sich befindet, das Licht im<br />
Raum spürt und die Ausdehnung des<br />
Raums wahrnimmt. Gerade mit diesen<br />
unterschiedlichen Helligkeitszuständen<br />
oder ‚Lichtwelten’ in den<br />
einzelnen Ausstellungsräumen, und<br />
damit auch mit den Unterschieden<br />
von einem Raum zum nächsten, habe<br />
ich sehr bewusst gearbeitet.<br />
D&A Was kann man in diesem<br />
Sinne von historischen Museen wie<br />
der Glyptothek in Kopenhagen mit<br />
ihren großen, von oben beleuchteten<br />
Räumen lernen, deren Atmosphäre<br />
sich abhängig von den Tageslichtverhältnissen<br />
im Freien teils dramatisch<br />
verändert?<br />
LG Gerade der Raum in der Glyptothek<br />
ist ja interessant, da er das Licht<br />
zeigt und damit uns, den Betrachtern,<br />
den Einfluss des Lichts auf die Art<br />
und Weise, wir wir den Raum erleben<br />
und sehen, vor Augen führt. Diese<br />
Erfahrung führt vielleicht dazu, dass<br />
sich der Betrachter mit der Zeit des<br />
Lichts und dessen Wirkung im Raum<br />
deutlicher bewusst wird. Aber der<br />
Raum in der Glyptothek bewirkt noch<br />
etwas anderes, weil er nämlich den<br />
Kontext und die ‚reale Welt’ draußen<br />
nicht ausschließt, sondern mit in den<br />
Raum einbezieht.<br />
110 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Unten Nicht nur in ihrem Siegerprojekt<br />
setzte sich Louise Grønlund<br />
mit der Fotografie auseinander.<br />
Auch privat zeigt sie eine<br />
hohe Affinität zu diesem Medium,<br />
wie diese äußerst reduzierten<br />
Aufnahmen von Räumen unter<br />
verschiedenen Lichtbedingungen<br />
zeigen.<br />
111
INTERVIEW MIT<br />
GONZALO<br />
PARDO<br />
Gonzalo Pardo lebt und arbeitet in<br />
Madrid, wo er an seinem Abschlussprojekt<br />
an der Escuela Tecnica Superior<br />
de Arquitectura de Madrid<br />
(ETSAM) arbeitet. Darüber hinaus<br />
lehrt er, finanziert durch ein zweijähriges<br />
Stipendium, an der ETSAM und<br />
arbeitet an Wettbewerben und eigenen<br />
Projekten.<br />
D&A Was haben Ihnen die Kultur, in<br />
der Sie aufgewachsen sind, und Ihre<br />
Ausbildung zum Architekten über<br />
Licht vermittelt?<br />
GP Wenn man in einem Land wie<br />
Spanien aufwächst, erlangt man ein<br />
‚Bewusstsein‘ für das Licht, das heißt,<br />
man nimmt wahr, wie es sich verändert.<br />
Im Laufe des Jahres, der Jahreszeiten<br />
und selbst der einzelnen<br />
Tage bleibt das Licht niemals gleich.<br />
Darüber hinaus vermitteln einem die<br />
Professoren an der Hochschule das<br />
Wissen darüber, wie man mit Licht<br />
arbeitet und seine Potenziale nutzt.<br />
Das bedeutet nicht nur, das Licht bei<br />
Entwürfen zu berücksichtigen, sondern<br />
auch, es als Einflussgröße zu<br />
betrachten, die ein ganzes Gebäude<br />
organisieren kann. Dies ist wirklich<br />
eine Herausforderung.<br />
D&A Welche Eigenschaften des<br />
Lichts sind für Sie derzeit besonders<br />
von Interesse?<br />
GP Zur Zeit interessiere ich mich<br />
dafür, mit Licht als einem Material<br />
wie Stein oder Beton zu arbeiten<br />
und seine Möglichkeiten zu erforschen.<br />
Ich denke, dass die Lichteigenschaften<br />
in jedem Projekt die<br />
Wahrnehmung des Orts durch eine<br />
Vielfalt gegensätzlicher räumlicher<br />
Eigenschaften verändern sollten,<br />
das heißt durch Kontraste wie dunkel<br />
und hell, öffentlich und privat,<br />
offen und geschlossen, innen und<br />
außen, oben und unten oder leicht<br />
und schwer.<br />
D&A Wie werden sich die Art, wie<br />
Menschen Licht nutzen, und das<br />
Verhältnis zwischen Tageslicht und<br />
künstlichem Licht im 21. Jahrhundert<br />
verändern?<br />
GP Ich glaube, dass künstliches<br />
Licht und Tageslicht zur Zeit gleich<br />
wichtig sind. Neue Technologien erlauben<br />
es, auch mit künstlichen Systemen<br />
Tageslichtatmosphären zu<br />
erzeugen. Das ist wichtig, da diese<br />
Entwicklung in der Zukunft die Form<br />
von Gebäuden verändern und neue<br />
Arten von Raumprogrammen hervorbringen<br />
kann.<br />
D&A In Ihrem Projekt für den Internationalen<br />
VELUX Award haben Sie<br />
ein architektonisches ‚Feld‘ mit unterschiedlichen<br />
Raum- und Lichtsituationen<br />
entworfen. Beobachten Sie<br />
in der Architektur derzeit eine Tendenz<br />
zu vielfältigeren, nicht standardisierten<br />
Lichtlösungen? Und auf<br />
welche Aspekte bezieht sich diese<br />
neue Vielfalt?<br />
GP Mein Projekt ‚Leseplatz im Wald‘<br />
und die Forschungen, die ich im Vorfeld<br />
angestellt habe, konzentrieren<br />
sich auf die Erzeugung von Komplexität,<br />
sowohl bezüglich des Raums als<br />
auch des Lichts. Der ‚Leseplatz‘ ist<br />
ein dreidimensionales Netzwerk und<br />
kein Gebäude. Daher habe ich mich bei<br />
der Entwurfsarbeit ganz darauf konzentriert,<br />
dieses Netzwerk anhand<br />
verschiedener Arbeitsmodelle zu gestalten.<br />
In diesem Prozess waren Organisationsstrukturen<br />
wichtiger als<br />
formale Aspekte. Die verschiedenen<br />
Strukturen haben durch die Arbeit<br />
mit Licht eine Vielfalt von Formen,<br />
Farben und Proportionen an einem<br />
einzigen Tag hervorgebracht. Meiner<br />
Meinung nach sollten lediglich<br />
Konzepte bestehen bleiben: Die Anziehungskraft<br />
der Architektur liegt<br />
in der Fähigkeit, einer Idee, die zunächst<br />
mit Konzepten und nicht mit<br />
Formen verbunden ist, verschiedene<br />
formale Ausprägungen zu geben. Die<br />
Herausforderung in meinem Projekt<br />
bestand darin, etwas aus dem Material<br />
‚Licht‘ zu erschaffen.<br />
D&A Nicht nur Licht, sondern auch<br />
das Gleichgewicht zwischen Licht<br />
und Schatten spielt eine große Rolle<br />
in Ihrem Projekt. Inwiefern wurzelt<br />
dies in Ihren persönlichen Erfahrungen?<br />
GP Ich glaube, dass das Konzept von<br />
Licht nicht nur Licht bedeutet, sondern<br />
auch mit anderen Begriffen wie Schatten,<br />
Texturen, Reflektionen, kraftvoll,<br />
statisch, farbig und so weiter verbunden<br />
ist. In meinem Wettbewerbsprojekt<br />
habe ich viel mit dem Kontrast<br />
zwischen Licht und Schatten gearbeitet.<br />
Das Thema Licht hat mir ermöglicht,<br />
mir ein System von abstrakten<br />
Regeln vorzustellen, das die Entscheidungen<br />
und Aktionen im gesamten Gestaltungsprozess<br />
regelt. Das Ergebnis<br />
war ein Raum voll unterschiedlicher<br />
Lichter und unterschiedlicher Wahrnehmungen:<br />
Ein Ort zum Lesen, des<br />
Lichts und der Wahrnehmung ...<br />
D&A Kengo Kuma, ein Mitglied der<br />
Jury, hat in einem Interview gesagt:<br />
„Material und natürliches Licht sind<br />
das Gleiche.“ Würden Sie dem zustimmen,<br />
und welche Konsequenzen<br />
hat diese Betrachtungsweise für Ihre<br />
eigene Arbeit?<br />
GP Ich stimme dem vollkommen zu.<br />
In meinem Projekt habe ich mit Materialien<br />
und Tageslicht gearbeitet<br />
und dabei den Raum benutzt, den ein<br />
Baum um sich herum erzeugt, sein<br />
‚Feld‘. Ein Baum bietet, besonders als<br />
Teil einer Baumgruppe, die Privatsphäre,<br />
die der Akt des Lesens erfordert.<br />
Eine enge Beziehung zwischen<br />
der Person, dem Buch und der Umgebung<br />
entsteht. Das Ergebnis ist eine<br />
neue, kontinuierliche Landschaft voller<br />
Lichtsäulen, die den Raum organisieren.<br />
Diese Säulen haben einen<br />
Einfluss auf das Spiel des ‚Sehen und<br />
nicht gesehen werden‘ und bieten dadurch<br />
Spielräume für die Individualität,<br />
die das Lesen voraussetzt.<br />
112 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Links Alles kann Architektur<br />
sein – selbst ein gefaltetes<br />
Stück Papier. Diese konzeptionelle<br />
Haltung formulierte Gonzalo<br />
Pardo bereits in seinem<br />
Entwurf für einen ‚Palast der<br />
kleinen Prinzessin Leonore‘ von<br />
2006. Sie ist auch in seinem<br />
preisgekrönten Projekt für den<br />
International VELUX Award<br />
deutlich zu spüren.<br />
113
INTERVIEW MIT<br />
ANASTASIA<br />
KARANDINOU<br />
Anastasia Karandinou stammt aus<br />
Athen, wo sie ihr Architekturdiplom<br />
an der Nationalen Technischen Universität<br />
erhielt. Momentan arbeitet<br />
sie an ihrer Doktorarbeit (PhD) zum<br />
Thema „Materialität und Immaterialität<br />
in der Architekturtheorie und im<br />
architektonischen Entwurf“ an der<br />
Universität von Edinburgh.<br />
D&A Was haben Ihnen die Kultur, in<br />
der Sie aufgewachsen sind, und Ihr Architekturstudium<br />
Ihnen über Licht vermittelt?<br />
AK Für die griechische Kultur, in der ich<br />
groß wurde, ist das Tageslicht von großer<br />
Bedeutung. Sowohl Licht als auch<br />
Schatten können hier sehr intensiv<br />
und hart sein. In Teilen Griechenlands<br />
wird die Architektur stark durch die<br />
dort herrschenden Lichtverhältnisse<br />
beeinflusst. Das Erscheinungsbild von<br />
Objekten und Formen bei bestimmtem<br />
Lichteinfall und die Notwendigkeit,<br />
sich vor Licht und Hitze zu schützen<br />
oder das Licht zu filtern und zu lenken,<br />
erzeugen eine spezifische Atmosphäre,<br />
die für die lokale Architektur<br />
kennzeichnend ist.<br />
Während unseres Studiums an<br />
der Architekturfakultät der Nationalen<br />
Technischen Universität von<br />
Athen befassten wir uns mit einer<br />
Reihe von Theorie- und Entwurfsprojekten,<br />
bei denen das Licht stets eine<br />
elementare Rolle spielte. Ich persönlich<br />
verstehe unter ‚Licht’ das gesamte<br />
Beleuchtungsspektrum, angefangen<br />
von greller Beleuchtung natürlicher<br />
oder künstlicher Art über weiches,<br />
diffuses Licht bis zur totalen, lichtlosen<br />
Finsternis. Bei Dunkelheit (als<br />
einer Form des Lichts) rückt die visuelle<br />
Wahrnehmung in den Hintergrund,<br />
während unsere anderen Sinne deutlich<br />
geschärft werden.<br />
D&A Welche Eigenschaften des<br />
Lichts sind für Ihre Arbeit besonders<br />
wichtig?<br />
AK Die von meinen Professoren in<br />
Athen, Eindhoven und Edinburgh geleiteten<br />
Studien und Projekte waren<br />
extrem anspruchsvoll und provokativ<br />
und regten uns dazu an, eigene Vorstellungen<br />
von Architektur und Licht<br />
zu entwickeln. So wird in meinem Projekt<br />
für Shanghai, das ich zum International<br />
VELUX Award eingereicht habe,<br />
das Licht zum verbindenden und zugleich<br />
trennenden Element zwischen<br />
den beiden Ufern des Suzhou River.<br />
Als unsichtbare, immaterielle Brücke<br />
verbindet und trennt das Licht die<br />
beiden Stadtteile in Anlehnung an die<br />
bewegte Geschichte der Stadt (ehemals<br />
fungierte der Fluss als Trennlinie<br />
zwischen den britischen und amerikanischen<br />
Besiedlungen). Abgesehen<br />
von bloßer ‚Dekoration’ übernimmt<br />
das Licht gleichzeitig eine sehr präzise<br />
und rationale Funktion: Im Open-<br />
Air-Kino wird es zur Projektion, in den<br />
Telefonzellen zur Beleuchtung genutzt<br />
und bei der unterirdischen Filmschule<br />
als dramatischer Effekt eingesetzt.<br />
Durch diese Auffassung von Licht<br />
bieten sich mir zwei verschiedene Interpretationen:<br />
Einerseits schafft das<br />
Licht als immaterielle Brücke eine<br />
Verbindung und Trennung zwischen<br />
den beiden Stadtteilen, andererseits<br />
greift die entworfene Beleuchtung die<br />
vor Ort existierenden Lichtquellen auf,<br />
die gleichermaßen beweglich und veränderlich<br />
sind, wie Autoscheinwerfer,<br />
mobile Verkaufsstände und Hausbeleuchtungen.<br />
Licht und Beleuchtung<br />
eines Ortes vermitteln uns einen Eindruck<br />
des dort herrschenden Lebens.<br />
Eine Lichtkarte einzelner Gebiete<br />
Shanghais würde vermutlich deren<br />
jeweilige Charakteristika offenbaren<br />
und uns dazu veranlassen, bestimmte<br />
Gegenden näher zu betrachten, um herauszufinden,<br />
was dort passiert.<br />
Das Licht kann aber auch als Malwerkzeug,<br />
als ‚Stift’ genutzt werden.<br />
Bei meiner Interpretation und Darstellung<br />
der Stadt Shanghai nutzte ich es<br />
auch als Planungsinstrument. Wir erstellten<br />
mehrere Modelle der Stadt aus<br />
verschiedenen Materialien wie Plastik,<br />
Gips und Wachs, in die wir Routen, Aktivitäten<br />
und Informationen eingravierten.<br />
Diese Modelle projizierten<br />
wir mit einem Overheadprojektor auf<br />
eine Wand und zeichneten die Projektionen<br />
ab. Das Ergebnis waren unsere<br />
Stadtpläne.<br />
In Shanghai trafen wir am Fluss<br />
auf einen alten Chinesen, der pausenlos<br />
mit Wasser etwas auf den Boden<br />
schrieb. Bevor er einen Satz beendete,<br />
war dessen Anfang zwar bereits wieder<br />
verschwunden, aber schon gelesen<br />
worden – ähnlich einer Lichtfackel, die<br />
Zeichen in den Himmel ‚schreibt’.<br />
D&A In Ihrem Projekt für den International<br />
VELUX Award nutzen Sie das<br />
Licht, um eine Verbindung zwischen<br />
bislang voneinander getrennten Räumen<br />
und Menschen zu schaffen. Inwieweit<br />
greifen Sie hierbei auf eigene,<br />
persönliche Erfahrungen zurück?<br />
AK Licht kann in verschiedenster<br />
Weise als Verbindung dienen; so<br />
führt zum Beispiel ein Leuchtturm<br />
den Betrachter oder Reisenden zu<br />
einem bekannten Punkt. Es kann den<br />
Weg weisen oder auch Räume und<br />
Menschen durch gelungene Inszenierung<br />
eines Ortes einander näher<br />
bringen. Das Licht schafft die Voraussetzungen<br />
für bestimmte Aktivitäten,<br />
und die spezielle Beleuchtung<br />
eines Ortes lässt auf die dort stattfindenden<br />
Aktivitäten schließen.<br />
Auf dem Schouwburgplein in<br />
Rotterdam dienen beispielsweise<br />
die dort installierten Strahler, deren<br />
Position und Ausrichtung beliebig<br />
verändert werden kann, als Verbindungsglied<br />
zwischen den Besuchern<br />
und dem Ort selbst, der in diesem<br />
Falle eine Art Bühne bildet. In anderen<br />
Fällen verbindet das Licht –zum<br />
Beispiel Feuer – die Menschen, wenn<br />
sie sich um die Lichtquelle herum versammeln.<br />
Anders herum kann auch<br />
das Nichtvorhandensein von Licht<br />
zu einer Konzentration oder Verbindung<br />
der Menschen führen – zum<br />
Beispiel, wenn sich an einem heißen,<br />
sonnendurchfluteten Ort viele Leute<br />
im Schatten zusammenfinden. Licht<br />
hat aber noch weitere verbindende<br />
Eigenschaften: Es bildet eine Synthese<br />
zwischen anderen Elementen<br />
oder Merkmalen eines Ortes. Die<br />
immateriellen Lichtbrücken verbinden<br />
das Leben am Ufer des Suzhou<br />
nicht nur mit dessen Vergangenheit,<br />
sondern auch mit diffusen, weniger<br />
offensichtlichen Fragmenten der Gegenwart.<br />
Bei entsprechender Interpretation<br />
und Darstellung schaffen<br />
sie eine Verbindung zwischen einzelnen<br />
Fragmenten der Stadt – zwischen<br />
kleinen Details und scheinbar nebensächlichen<br />
Ereignissen.<br />
D&A Mit Ihrem Projekt wollen Sie<br />
Licht nach Shanghai bringen, in eine<br />
Stadt, die größtenteils – gelinde gesagt<br />
– schon reichlich beleuchtet ist.<br />
Gleichzeitig diskutieren Lichtplaner in<br />
aller Welt das Problem der ‚Lichtverschmutzung’.<br />
Wie vermeiden Sie es,<br />
durch Ihr Projekt einfach etwas hinzuzufügen,<br />
das bereits im Übermaß<br />
vorhanden ist?<br />
AK Einige Teile Shanghais mögen<br />
durchaus gut oder auch überbeleuchtet<br />
sein; die Ufergegenden des Suzhou<br />
erscheinen hingegen in einem<br />
sehr ‚speziellen‘ Licht. Angesichts<br />
mangelnder Straßenbeleuchtung<br />
sorgen nahezu ausschließlich bewegliche<br />
und unvermittelt ein- oder<br />
ausgeschaltete Lichtquellen wie Autoscheinwerfer,<br />
mobile Verkaufsstände<br />
und Hausbeleuchtungen für<br />
Helligkeit. Für die Gestaltung urbaner<br />
Beleuchtung ist dies eine durchaus<br />
reizvolle Herausforderung. Mein<br />
Entwurf ist eine Interpretation dieser<br />
Umstände: Licht sollte nicht als reines<br />
Beleuchtungsmittel angesehen, sondern<br />
planungstechnisch und ergebnisorientiert<br />
als narratives Instrument<br />
verstanden werden. Die Lichter in<br />
meinem Entwurf bewegen und verändern<br />
sich abhängig von ihrer Funktion,<br />
ähnlich der bereits existierenden<br />
Lichtquellen. So wechselt die Helligkeit<br />
des Open-Air-Kinos und der Telefonzellen<br />
je nach Tageszeit sowie in<br />
Abhängigkeit von ihrer Nutzung.<br />
114 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
Oben Auch bei der Arbeit an ihrem<br />
Projekt für Shanghai war das Licht<br />
für Anastasia Karandinou ein<br />
wichtiges Hilfsmittel. Aus<br />
Materialien wie Wachs oder Gips<br />
wurden abstrakte ‚Pläne‘ der Stadt<br />
geformt, mittels eines Overheadprojektors<br />
an eine Wand projiziert<br />
und dort in großem Maßstab<br />
abgezeichnet.<br />
115
BÜCHER<br />
REZENSIONEN<br />
Zum Weiterlesen:<br />
Aktuelle Bücher,<br />
präsentiert von D&A.<br />
DESIGN LIKE YOU GIVE<br />
A DAMN<br />
Herausgeber:<br />
Architecture for Humanity<br />
Metropolis Books 2006<br />
ISBN 1–933045–25–6<br />
Wir schreiben das Jahr 2006. Alle<br />
Welt blickt gebannt auf das Wachstum<br />
Shanghais, die künstlichen Inseln<br />
vor der Küste Dubais und den Wiederaufbau<br />
des World Trade Center. Alle<br />
Welt? Nicht ganz. Eine wachsende<br />
Gemeinschaft vor allem jüngerer Architekten<br />
entzieht sich dem Wettlauf<br />
um den repräsentativsten Firmensitz,<br />
das luxuriöseste Holiday-Resort und<br />
den höchsten Wolkenkratzer der<br />
Welt und widmet sich einer noch größeren<br />
Herausforderung: für die mehr<br />
als eine Milliarde Katastrophenopfer<br />
und Bürgerkriegsflüchtlinge, Slumbewohner<br />
und Obdach lose auf der Erde<br />
menschenwürdige Behausungen zu<br />
schaffen. Zu den führen den Köpfen<br />
der Bewegung gehören der amerikanische<br />
Architekt Cameron Sinclair<br />
und seine Ehefrau, die Journalistin<br />
Kate Stohr, die mit ihrer Organisation<br />
Architecture for Humanity für ‚Design<br />
Like You Give A Damn’ verantwortlich<br />
zeichneten. Eingangs des Buchs beschreibt<br />
Sinclair seinen eigenen Werdegang,<br />
der symptomatisch für den<br />
so vieler Aktivisten in der Entwicklungs-<br />
und Katastrophenhilfe ist: Eine<br />
berufliche Sinnkrise („Ich war dabei,<br />
Verkaufsautomaten für Lippenstifte<br />
für einen Ort zu entwerfen, an dem<br />
der durchschnittliche Wochenlohn<br />
dem Kaufpreis eines Lippenstifts entsprach“),<br />
ein sozial engagierter Mentor<br />
und eine Reise in eine notleidende<br />
Region (das von HIV/AIDS heimgesuchte<br />
Südafrika) führten ihn zur<br />
Gründung seiner Organisation, die anfangs<br />
vor allem durch Ausstellungen<br />
und Architekturwettbewerbe bekannt<br />
wurde.<br />
In ‚Design Like You Give A Damn’<br />
dokumentieren Sinclair und Stohr<br />
die Entwicklung von Notunterkünften<br />
und Interims-Wohnbauten der<br />
vergangenen 100 Jahre; genauer:<br />
seit dem Erdbeben von 1906 in San<br />
Francisco, sowie die Rahmenbedingungen,<br />
unter denen diese entstanden<br />
sind. Vor allem jedoch zeigen sie<br />
aktuelle Lösungsansätze auf, denn<br />
noch nie folgten den Statistiken zufolge<br />
humanitäre und Naturkatastrophen<br />
so rasch aufeinander wie heute.<br />
Dabei ist das Medieninteresse, das<br />
eine Katastrophe hervorruft, nicht<br />
immer ein objektiver Gradmesser.<br />
Denn verheerender noch als Erdbeben<br />
oder Sturmfluten sind oftmals<br />
lang anhaltende Bürgerkriege, Dürreperioden<br />
oder die HIV/AIDS-Epidemie<br />
in Afrika, die Hilfsorganisationen<br />
bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit<br />
fordert. ‚Design Like You Give A<br />
Damn’ macht deutlich, wie vielfältige<br />
Formen ‚Architektur’ für Bedürftige<br />
weltweit annehmen kann. Sie reicht<br />
von den Zeltstädten des UNHCR bis<br />
zur Schlafsack-Spendenaktion für<br />
Obdachlose in Baltimore und vom<br />
Frauenhaus im Senegal bis zu den<br />
Bauten des ‚Rural Studio’ im Süden<br />
Alabamas. In mehreren Interviews<br />
haben die Herausgeber die Protagonisten<br />
‚humanitärer Architektur’ zu<br />
ihren Erfahrungen befragt. Die Antworten<br />
ringen Bewunderung ab und<br />
desillusionieren zugleich: Deutlich<br />
wird darin, wie viel selbst Einzelpersonen<br />
mit beschränkten Budgets erreichen<br />
können, aber auch, welche<br />
Hürden sich ihnen in den Weg stellen.<br />
Zu Bürokratie und Korruption gesellen<br />
sich logistische Probleme und kulturelle<br />
Barrieren. Vorfabrizierte, über<br />
alle Kulturgrenzen hinweg ‚gültige’<br />
Einheitslösungen sind daher selbst<br />
im Wohnbau der niedersten Preiskategorie<br />
auf dem Rückzug; das Bauen<br />
mit lokalen Ressourcen – Materialien<br />
ebenso wie Arbeitskräften – scheint<br />
zur Erfolgsvoraussetzung geworden<br />
zu sein.<br />
Man möchte ‚Design Like You<br />
Give A Damn’ einen breiten Leserkreis<br />
wünschen; wohl wissend, dass<br />
damit allein noch nichts erreicht ist.<br />
Denn, in den Worten eines Entwicklungshelfers,<br />
„Wir brauchen nicht<br />
eure Aufmerksamkeit, wir brauchen<br />
eure Unterstützung!“. Diese erfordert,<br />
wenn sie ernst gemeint ist, meist ein<br />
Umdenken bei den Architekten. Oftmals<br />
wissen die Betroffenen viel besser,<br />
was sie benötigen, als die selbst<br />
ernannten ‚Experten‘. Zum Beispiel<br />
sauberes Trinkwasser statt neuer<br />
Fenster oder Arbeit statt gepflasterter<br />
Gehwege. Das wirft die Frage<br />
auf, inwieweit der Architekt in diesen<br />
Projekten überhaupt noch als Gestalter<br />
benötigt wird. Der Architekt Maurice<br />
D. Cox aus Charlottesville, der mit<br />
dem Bayview Rural Village an der<br />
US-amerikanischen Ostküste ein viel<br />
beachtetes humanitäres Siedlungsprojekt<br />
realisiert hat, gibt in seiner<br />
Antwort gleichsam die Quintessenz<br />
des ganzen Buchs wieder: „Wir müssen<br />
dort sein, wo Probleme existieren.<br />
Wenn die Entscheidungen getroffen<br />
werden, müssen wir anwesend sein,<br />
um unsere Meinung äußern zu können.<br />
Dann werden auch unsere Fähigkeiten<br />
nachgefragt werden, und<br />
wir werden erreichen, dass auch Gestaltungsfragen<br />
ernst genommen<br />
werden. Entwerfer müssen sich als<br />
Führungspersonen in der Zivilgesellschaft<br />
engagieren und zur rechten<br />
Zeit am richtigen Ort sein.“<br />
THE EXPANDED EYE<br />
Herausgeber: Kunsthaus Zürich,<br />
Bice Curiger<br />
Hatje Cantz Verlag 2006<br />
ISBN 3–7757–814–1<br />
,Sehen – entgrenzt und verflüssigt‘<br />
lautet der Untertitel dieses Katalogs<br />
und der gleichnamigen Ausstellung,<br />
die im Sommer 2006 im Kunsthaus<br />
Zürich stattfand. Wer dabei an Drogenrausch<br />
und Technikbegeisterung<br />
denkt, liegt gar nicht so falsch:<br />
Die Kunst der 60er-Jahre spielt die<br />
Hauptrolle in ‚The Expanded Eye‘,<br />
namentlich die Erforschung des<br />
menschlichen Sehens und seines<br />
Wahrnehmungsapparates aus Auge<br />
und Gehirn, den die Op-Art und der<br />
Experimentalfilm mit ihren ‚entgrenzenden‘<br />
Vexier- und Flimmerbildern in<br />
seiner Fehlbarkeit und Manipulierbarkeit<br />
darzustellen suchten. Der viel zitierte<br />
und gelegentlich missbrauchte<br />
Begriff vom ‚Aufbrechen der Sehgewohnheiten‘<br />
entstand seinerzeit und<br />
mit ihm die Idee, das ‚Sehen sehen zu<br />
lernen‘, die bis heute zum Beispiel in<br />
der Arbeit von Olafur Eliasson fortlebt.<br />
Die Auswahl der mehr als 100<br />
Kunstwerke in Ausstellung und<br />
Buch beginnt bei Marcel Duchamps<br />
frühen ‚Rotoreliefs‘ aus den 30er-<br />
Jahren – runde Scheiben mit asymmetrischen,<br />
farbigen Mustern, die<br />
bei schneller Rotation zu konzentrischen<br />
Farbkreisen verlaufen – und<br />
reicht über die ‚Licht-Raum-Modulatoren‘<br />
von Laszlo Moholy-Nagy und<br />
die Op-Art bis in die heutige Zeit –<br />
116 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
zum Beispiel zu Olafur Eliasson, dessen<br />
‚The Inner Kaleidoscope‘ in Zürich<br />
gezeigt wurde. Ebenso vielfältig wie<br />
die Kunstgattungen sind die Medien,<br />
derer sich die Künstler bedienen: Gemälde<br />
von Salvador Dalí und Josef Albers,<br />
im Meskalinrausch entstandene<br />
Federzeichnungen von Henri Michaux,<br />
kinetische Skulpturen von Jean Tinguely,<br />
Drahtreliefs von Jesús Rafael<br />
Soto, Hologramme von Bruce Nauman,<br />
Lichtkunst von James Turrell<br />
und ‚The Exploding Plastic Inevitable‘,<br />
ein berauschendes Gesamtkunstwerk<br />
aus Lichtprojektionen und der<br />
Musik von Velvet Underground, mit<br />
dem Andy Warhol die Clubkultur der<br />
späteren 60er- und der 70er-Jahre<br />
prägte. Erstaunlicherweise sind<br />
die Nachfolger der damaligen Undergroundinszenierungen,<br />
die Musikvideos<br />
heutiger Tage, im Buch<br />
überhaupt nicht vertreten. Gezeigt<br />
werden statt dessen ausschließlich<br />
Erzeugnisse der ‚hochkulturellen‘<br />
Kunstproduktion. Die Grenzen zwischen<br />
Kunst und Kommerz scheinen,<br />
selbst Jahrzehnte nachdem Warhol<br />
ihre Auflösung predigte, zumindest<br />
im musealen Bereich noch so unpassierbar<br />
wie immer schon.<br />
Wer mehr über die Wechselbeziehung<br />
zwischen Op-Art und Populärkultur<br />
erfahren möchte, wird auch im<br />
Textteil des Buchs kaum fündig werden.<br />
Lesenswert sind die sechs einleitenden<br />
Essays dennoch, allen voran<br />
‚Kritik des Auges – Auge der Kritik‘ von<br />
Diedrich Diederichsen, in dem der Berliner<br />
Kulturwissenschaftler erläutert,<br />
warum das Auge ausgerechnet in den<br />
60er-Jahren so nachhaltig ‚außer<br />
Rand und Band geriet‘ und warum<br />
die Op-Art lediglich für kurze Zeit ‚en<br />
vogue‘ war: Ihre Nähe zum Dekorativen<br />
und ihr Mangel an Inhalten jenseits<br />
des bloß Sichtbaren ließen sie<br />
auf Dauer repetitiv und ermüdend<br />
wirken.<br />
Ergänzt werden die sechs Aufsätze<br />
und zahlreichen Abbildungen<br />
in ‚The Expanded Eye‘ durch eine Anthologie<br />
aus Textbeispielen und lexikalischen<br />
Stichworten aus Kunst,<br />
Kulturtheorie, Psychologie und Physiologie.<br />
Die Auswahl reicht von Rudolf<br />
Arnheims ‚Kunst und Sehen‘ über<br />
Josef Albers‘ ‚Interaction of Color‘<br />
bis zu Susan Sontags ‚Über Fotografie‘<br />
[On Photography], streift also nahezu<br />
alle Aspekte des menschlichen<br />
Sehens. Wem dieser Blickwinkel noch<br />
zu eng erscheint, dem sei der Beitrag<br />
des Biologen Rüdiger Wehner empfohlen.<br />
Dieser hat sich mehr als 30<br />
Jahre lang mit Cataglyphis beschäftigt,<br />
einer Ameisenart aus der Sahara.<br />
Sie kann zwar keine Farben auseinanderhalten,<br />
findet jedoch dank ihrer Fähigkeit,<br />
die Polarisationsmuster des<br />
Sonnenlichts zu erkennen, in der eintönigen<br />
Wüstenlandschaft über Hunderte<br />
von Metern immer wieder in<br />
ihren Bau zurück. Die Natur hält, wie<br />
es scheint, auch für das ‚entgrenzte<br />
Sehen‘ das beste Paradigma bereit.<br />
INVISIBLE<br />
<strong>ARCHITECTURE</strong><br />
Experiencing Places through the<br />
Sense of Smell<br />
Autoren: Anna Barbara,<br />
Anthony Perliss<br />
Skira Editore 2006<br />
ISBN 88–7624–267–8<br />
Als Grenouille, der tragische Held in<br />
Patrick Süskinds Roman ‚Das Parfum‘,<br />
erstmals die Straßen von Paris betritt,<br />
sind es weniger die eindrucksvollen<br />
Bauten, die Farben und das Stimmengewirr<br />
der Stadt, die ihre Faszination<br />
auf ihn ausüben, sondern die tausend<br />
Düfte und ebenso vielen Nuancen<br />
abscheulichen Gestanks, die die Luft<br />
der französischen Metropole erfüllen.<br />
Wie kaum einem Schriftsteller zuvor<br />
gelingt es Süskind in seinem Roman,<br />
seine Leser in die Welt der Gerüche zu<br />
entführen. Doch obwohl ‚Das Parfum‘<br />
hunderttausendfach verkauft und<br />
jüngst auch verfilmt wurde, fristet<br />
sein Thema, die olfaktorische Wahrnehmung<br />
von Orten, Menschen und<br />
Gegenständen, in der Gegenwartsliteratur<br />
eher ein Mauerblümchendasein.<br />
Nun haben Anna Barbara und Anthony<br />
Perliss das Sujet wieder aufgenommen.<br />
In ‚Invisible Architecture‘<br />
unternehmen sie den Versuch, die<br />
Geschichte der menschlichen Kultur<br />
und mit ihr der Architektur aus<br />
dem Blickwinkel des Geruchssinns,<br />
der Düfte und des Gestanks neu zu<br />
schreiben. Glaubt man ihren Ausführungen,<br />
so waren (und sind) Gerüche<br />
von wahrhaft evolutionärer Bedeutung.<br />
Schon die Entwicklung des Urmenschen<br />
vom Vier- zum Zweibeiner<br />
entfernte die menschliche Nase, rein<br />
räumlich, vom Erdboden und den Gerüchen,<br />
die er verströmte. Auch die<br />
spätere Menschheits- und Technikgeschichte<br />
kann, so vermittelt es das<br />
Buch, als sukzessive Ausrottung der<br />
meisten Gerüche interpretiert werden,<br />
die uns einst umgaben. Noch<br />
nicht einmal die meisten Baumaterialien,<br />
die wir heute verwenden, verströmen<br />
– im Gegensatz etwa zu Holz,<br />
Stroh und Lehm – noch nennenswerte<br />
Gerüche. Statt dessen wird der ‚domestizierte<br />
Duft‘ in allen Bereichen des<br />
zwischenmenschlichen Zusammenlebens<br />
ganz gezielt eingesetzt – vom<br />
Parfüm bei der Partnersuche bis zum<br />
‚government standard bathroom malodor‘,<br />
einem vom US-Verteidigungsministerium<br />
entwickelten Kampfstoff,<br />
dessen Gestank beim Feind sofortige<br />
Fluchtreflexe auslösen soll.<br />
Auf die chronologische Aufarbeitung<br />
des Themas verzichteten<br />
Barbara und Perliss; statt dessen<br />
gliederten sie ihr Buch in sieben Kapitel<br />
wie ‚Emotionen und Riten‘, ‚Identität<br />
und Gedächtnis‘oder ‚Körper<br />
und Entfernungen‘. Daneben baten<br />
sie je fünf Parfümeure und fünf Architekten<br />
zum Gespräch an Orte, die<br />
ungewöhnlich eng mit Düften verbunden<br />
sind – zum Beispiel in die Katakomben<br />
und in die ‚Atéliers Hermès‘ in<br />
Paris, in den Meatpacking District von<br />
New York, in eine holländische Windmühle<br />
oder in den Giardino dei Semplici<br />
in Florenz.<br />
Dass ausgerechnet das Kapitel<br />
‚Tod und Entropie‘ ganz am Anfang<br />
von ‚Invisible Architecture‘ steht,<br />
macht den Einstieg ins Buch etwas<br />
unappetitlich; allein sollte die Erwähnung<br />
von Kloaken und Menschenopfern,<br />
chemischer Kriegsführung und<br />
verrottenden Nahrungsmitteln niemandem<br />
das Weiterlesen verleiden.<br />
‚Invisible Architecture‘ ist eine Achterbahnfahrt<br />
durch fünf Jahrtausende<br />
Geruchsgeschichte; die Erzählreihenfolge<br />
wirkt mitunter verworren,<br />
doch hinter jeder Kurve lauern neue<br />
Erkenntnisse über ein Thema, das<br />
in der bisherigen Geschichtsschreibung<br />
eindeutig unterrepräsentiert<br />
ist. Selbst die knifflige Aufgabe, ihr<br />
Buch über Gerüche zu illustrieren,<br />
haben die Autoren ansprechend gelöst.<br />
Sie verwendeten ganzseitige<br />
Fotografien von Wohnräumen, Kultstätten<br />
und Stadtplätzen, Orten und<br />
Un-Orten aus aller Welt, die von feinen,<br />
nachträglich retuschierten ‚Geruchsschwaden‘<br />
durchzogen sind.<br />
Dass ein solches Verfahren leicht<br />
ins Kitschige abgleiten kann, dürfte<br />
einleuchten, doch in ‚Invisible Architecture‘<br />
wurde es mit der gebotenen<br />
Subtilität gehandhabt und macht das<br />
Buch damit zu einem durchaus gelungenen<br />
Gesamtkunstwerk.<br />
117
BÜCHER<br />
EMPFEHLUNGEN<br />
Europäische Architekten empfehlen<br />
ihre LIeblingsbücher in D&A.<br />
1 3<br />
2 3<br />
1 RAINER MAHLAMÄKI<br />
EMPFIEHLT<br />
Alvar Aalto – Designer<br />
Herausgeber: Tuukkanen, Pirkko<br />
Alvar Aalto Museum/<br />
Alvar Aalto Foundation, Helsinki<br />
ISBN 952-5371-04-2<br />
Juha Leiviskä<br />
Herausgeber: Marja-Ritta Norri,<br />
Kristiina Paatero<br />
Finnisches Architekturmuseum,<br />
Helsinki<br />
ISBN 952-5195-09-0<br />
Donald Judd: Architektur –<br />
Architecture<br />
Herausgeber: Peter Noever<br />
Hatje Cantz Verlag<br />
ISBN 3-7757-1132-5<br />
Louis Kahn – Essential Texts<br />
Herausgeber: Robert Twombly<br />
W. W. Norton & Company; 2003<br />
ISBN 0-393-73113-8<br />
Das Buch ist die erste umfassende<br />
Veröffentlichung über das Möbelund<br />
Produktdesign Alvar Aaltos. Die<br />
auf 240 Seiten versammelten 300<br />
zum Teil bisher unveröffentlichten<br />
und farbigen Fotografien illustrieren<br />
Alvar Aaltos Schaffen als Designer.<br />
Sie werden begleitet von zahlreichen<br />
Textbeiträgen, unter anderem von<br />
Timo Keinänen, Pekka Korvenmaa<br />
und Ásdís Ólafsdóttir. Neben dem<br />
Design für Kristallgläser und Leuchten<br />
hat sich Aalto auf den Entwurf<br />
von Möbeln konzentriert. Diesen ist<br />
der größte Teil des Buchs gewidmet.<br />
Einen Überblick über die historische<br />
Entwicklung des Möbeldesigns und<br />
des Kunsthandwerks seit 1920 bietet<br />
Kaarina Mikontranta, Chefkuratorin<br />
des Alvar Aalto Museums in<br />
Helsinki.<br />
Juha Leiviskä gilt als einer der<br />
wichtigsten zeitgenössischen Architekten<br />
Finnlands. Er hat sich besonders<br />
durch seine Sakralbauten<br />
wie die Myyrmäki-Kirche in Vantaa<br />
oder die Männistö-Kirche in Kuopio<br />
sowie durch den Einsatz des Tageslichts<br />
in seinen Bauten einen Namen<br />
gemacht. Das 216-seitige, auf Englisch<br />
und Finnisch verfasste Buch<br />
präsentiert 43 gebaute und ungebaute<br />
Projekte und ein komplettes<br />
Werkverzeichnis. Ein Textbeitrag<br />
des Architekten führt in den Katalog<br />
ein. Des Weiteren finden sich autobiografische<br />
Notizen und Kenneth<br />
Framptons Artikel ‚Landform, Fabric<br />
and Light‘ zum Werk von Juha<br />
Leiviskä.<br />
Die 144 Seiten starke, erstmals zweisprachige<br />
Neuauflage des 1991 zur<br />
Ausstellung im MAK – Museum für<br />
Angewandte Kunst Wien erschienenen<br />
Buches zeigt eine weniger bekannte<br />
Seite des amerikanischen<br />
Minimalisten Donald Judd: den Architektur-<br />
und Möbelentwurf. Zeichnungen,<br />
Entwurfsskizzen, Pläne,<br />
Fotografien und Textbeiträge, unter<br />
anderem von Donald Judd selbst,<br />
veranschaulichen seinen architektonischen<br />
und designerischen Standpunkt.<br />
Vorgestellt wird das von Judd<br />
1971 zu einem Ensemble von Gegenwartskunst<br />
ausgebaute Militärfort<br />
in Marfa, Texas. Die darin ausgestellten<br />
Möbelobjekte sind, dem Material<br />
und der Form verpflichtet, vor allem<br />
auf die Benutzbarkeit ausgelegt. Die<br />
formale Verwandtschaft zu Judds<br />
Skulpturen ist in ihnen jederzeit wiederzuerkennen.<br />
Robert Twombly, Professor für Architekturgeschichte<br />
an der City University<br />
of New York, präsentiert in<br />
seinem Buch eine einzigartige Auswahl<br />
teilweise bisher unveröffentlichter<br />
Reden, Essays und Interviews<br />
mit und von Louis Kahn. Seine architektonische<br />
Entwicklung von 1940<br />
bis zum Tod 1974, seine Grundsätze<br />
und Lehren sind hier auf 256 Seiten<br />
umfassend wiedergegeben. Eine<br />
Einführung und zahlreiche Anmerkungen<br />
Robert Twomblys erläutern<br />
das mündliche und schriftliche Werk<br />
des großen amerikanischen Architekten.<br />
118 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
2 PAUL DIEDEREN AND<br />
BERT DIRRIX<br />
EMPFEHLEN<br />
Dom Hans van der Laan<br />
Autor: Alberto Ferlenga<br />
Architectura & Natura Uitgevers<br />
ISBN 9076863059<br />
Atlas of the Dutch Urban Block<br />
Autoren: Susanne Komossa,<br />
Max Risselada<br />
Thoth Uitgeverij<br />
ISBN 9068683829<br />
The Capsular Civilization<br />
Autor: Lieven de Cauter<br />
NAi Publishers<br />
ISBN 9056624075<br />
Richard Hutten: Works in Use<br />
Autorin: Brigitte Fitoussi<br />
Stichting Kunstboek<br />
ISBN 9058561763<br />
Nur wenige Bauten des 20. Jahrhunderts<br />
sind so von Einfachheit, Harmonie<br />
und dem Streben nach perfekter<br />
Proportion geprägt wie diejenigen<br />
des holländischen Priesters, Architekten<br />
und Theoretikers Dom Hans<br />
van der Laan (1904–1991). Die Autoren<br />
Alberto Ferlenga und Paola<br />
Verde arbeiteten beide lange Zeit<br />
im Kloster Vaals bei Aachen, in dem<br />
der größte Teil des Archivs von van<br />
der Laan lagert. In ihrem Buch gelingt<br />
es ihnen, die oft abstrakten<br />
und mystischen Themen, die van<br />
der Laans Theorien zu Grunde lagen,<br />
allgemein verständlich darzulegen.<br />
Darüber hinaus enthält die Monografie<br />
eine komplette, reichhaltig illustrierte<br />
Übersicht seiner gebauten<br />
Werke sowie einen ausführlichen Lebenslauf.<br />
In ihrem Entwurfsatlas geben Susanne<br />
Komossa und Max Risselada<br />
einen Überblick über die Entwicklung<br />
des städtischen Wohnblocks<br />
in Amsterdam und Rotterdam vom<br />
17. Jahrhundert bis zum heutigen<br />
Tag. 19 Stadtfragmente werden anhand<br />
von Grundrissen und Schnitten<br />
untersucht. Die Zeichnungen<br />
werfen ein neues Licht auf die Beziehung<br />
zwischen öffentlichem und<br />
privatem Raum sowie zwischen einzelner<br />
Wohnung, Wohnblock und<br />
Stadtquartier. Zu den aktuellsten<br />
im Buch vorgestellten Projekten<br />
zählen zum Beispiel die Neustrukturierung<br />
des Rotterdamer Hafens und<br />
die Stadtentwicklungspläne für Java<br />
Island in Amsterdam. Zahlreiche Essays<br />
geben darüber hinaus Einblicke<br />
in zeitgenössische Entwicklungen in<br />
Architektur und Städtebau.<br />
Die Anschläge des 11. September<br />
und der weltweite ‚Krieg gegen den<br />
Terrorismus‘ haben eine Entwicklung<br />
beschleunigt, die in Zeiten sozialer<br />
Ungleichheit und ökologischer Katastrophen<br />
schon lange latent vorhanden<br />
war: Das Leben vieler Menschen<br />
ist durch Angst bestimmt; der Einzelne<br />
zieht sich immer weiter in die<br />
eigenen vier Wände zurück. Lieven<br />
de Cauter hat in seinem Buch die<br />
gesellschaftlichen Veränderungen<br />
seit 9/11 dokumentiert und analysiert.<br />
Er zeichnet das realistische<br />
und alarmierende Bild einer neuen<br />
Weltordnung, die die tägliche Arbeit<br />
von Architekten und Stadtplanern<br />
ebenso beeinflusst wie das gesellschaftliche<br />
Leben in den heutigen<br />
Städten.<br />
Im Alter von nicht einmal 38 Jahren<br />
hat der niederländische Designer<br />
Richard Hutten schon einen<br />
bleibenden Eindruck in der internationalen<br />
Designwelt hinterlassen. Voraussichtlich<br />
im Jahr 2008 wird in<br />
Seoul eine Design-Akademie eröffnet,<br />
die seinen Namen trägt. Viele<br />
seiner Designobjekte, wie beispielsweise<br />
der Bronto-Stuhl oder die Domoor-Tasse,<br />
verkaufen sich äußerst<br />
erfolgreich. Hutten betätigt sich auch<br />
in der Innenarchitektur, so hat er für<br />
das Central Museum in Utrecht das<br />
Restaurant, die Gartenmöbel und<br />
den Buchladen entworfen. Huttens<br />
Entwürfe, die er selbst mit „works in<br />
use“ skizziert, werden von vielen Menschen,<br />
auch bekannten Zeitgenossen,<br />
geschätzt. Das Buch gibt erstmals<br />
einen Einblick in die Welt des Designers<br />
und beschreibt, wie Prominente<br />
mit seinen Designobjekten leben.<br />
3<br />
MANUEL AND<br />
FRANCISCO AIRES<br />
MATEUS<br />
EMPFEHLEN<br />
Imaginar a Evidência<br />
Autor: Alvaro Siza<br />
Edições 70<br />
ISBN: 9727085210<br />
O Engenheiro do Tempo Perdido<br />
Autor: Pierre Cabanne<br />
Assírio & Alvim (Arte e Produção, 4)<br />
ISBN: 9723702576<br />
Englische Ausgabe:<br />
Dialogues with Marcel Duchamp<br />
Da Capo Press<br />
ISBN: 0306803038<br />
O elogio da sombra<br />
Autor: Junichiro Tanizaki<br />
Relógio d’Água<br />
ISBN: 9727085210<br />
Deutsche Ausgabe:<br />
Lob des Schattens<br />
Manesse Verlag<br />
ISBN 3–7175–4029–4<br />
Thinking Architecture<br />
Autor: Peter Zumthor<br />
Lars Müller Publishers<br />
ISBN: 3764361018<br />
Von seinen ersten Projekten im portugiesischen<br />
Matosinhos bis zu seinem<br />
über ganz Europa (von Berlin bis<br />
Lissabon und von Den Haag bis Barcelona)<br />
verbreiteten Spätwerk schuf<br />
Alvaro Siza einige der wichtigsten<br />
Bauten des 20. Jahrhunderts. Viele<br />
von ihnen sind in dieser tiefgründig<br />
reflektierten und bisweilen poetisch<br />
anmutenden Autobiografie<br />
wiedergegeben. Der Werdegang des<br />
Buches ist reichlich komplex: ‚Imaginar<br />
a Evidência’ ist die Rückübersetzung<br />
einer von dem italienischen<br />
Architekten Guido Giangregorio in<br />
seiner Muttersprache angefertigten<br />
Mitschrift dreier Tonbänder, die<br />
Siza in seinem Studio in Porto aufgenommen<br />
hatte.<br />
Radikal wie kaum ein zweiter Künstler<br />
des 20. Jahrhunderts hat Marcel<br />
Duchamp den Kunstbegriff revolutioniert:<br />
Sein Objet trouvé, das Urinal im<br />
Museum, war der Ahnherr für zahllose<br />
weitere Alltagsgegenstände und<br />
Müll-Objekte, die per Deklaration zum<br />
Kunstwerk wurden. 1966, zwei Jahre<br />
vor seinem Tod, gab Duchamp dem<br />
Autor Pierre Cabanne das in diesem<br />
Buch aufgezeichnete Interview, das<br />
Klarheit über den Mythos verschafft,<br />
der ihn und seine Nicht-Kunst umgibt.<br />
Deutlich wird bei der Lektüre,<br />
wie wenig Duchamp den Kunstbetrieb<br />
mochte (obwohl er ihn zu seinem<br />
Vorteil nutzte) und wie wenig er<br />
Kunst ihrer Ästhetik wegen schätzte.<br />
‚O Engenheiro do Tempo Perdido‘ ist<br />
ein offenes, ehrliches Buch, das keiner<br />
weiteren Interpretation durch Kunstkritiker<br />
bedarf.<br />
‚Entwurf einer japanischen Ästhetik‘<br />
lautet der Untertitel des Buches,<br />
in dem der japanische Schriftsteller<br />
Junichiro Tanizaki eine vergleichende<br />
Betrachtung des westlichen<br />
und des traditionellen japanischen<br />
Begriffs der Schönheit anstellt. ‚Lob<br />
des Schattens‘ entstand 1934, also<br />
zu einer Zeit, da die traditionelle japanische<br />
Architektur und mit ihr der<br />
Kult des Schattenhaften und Unvollkommenen<br />
in der japanischen<br />
Kultur gerade im Verschwinden begriffen<br />
war. Gerade westlichen Lesern<br />
schärft Tanizaki den Blick für<br />
die Unterschiede beider Kulturen<br />
im Umgang mit Licht, Farbe und<br />
Materialien – und selbst mit dem<br />
menschlichen, speziell dem weiblichen<br />
Körper.<br />
Eine Architektur, die in einer sinnlichen<br />
Verbindung zum Leben stehen<br />
soll, erfordert ein präzises Denken,<br />
das über Form und Konstruktion weit<br />
hinausgeht. In seinen Texten bringt<br />
der Schweizer Architekt Peter Zumthor<br />
zum Ausdruck, was ihn zu seinen<br />
Gebäuden motiviert, die Gefühl<br />
und Verstand des Menschen gleichermaßen<br />
zutiefst berühren. Die<br />
deutschsprachige, 2006 erschienene<br />
Neuauflage wurde nunmehr um<br />
drei Essays ergänzt: ‚Hat Schönheit<br />
eine Form?’, ‚Die Magie des Realen’<br />
und ‚Das Licht in der Landschaft’.<br />
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<strong>DAYLIGHT</strong> &<br />
<strong>ARCHITECTURE</strong><br />
AUSGABE 06<br />
2007