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DAYLIGHT & ARCHITECTURE - Grado Zero Espace Srl

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FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05 TEXTUR & LICHT 10 EURO<br />

FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05 TEXTUR & LICHT 10 EURO<br />

<strong>DAYLIGHT</strong> &<br />

<strong>ARCHITECTURE</strong><br />

ARCHITEKTUR-<br />

MAGAZIN VON<br />

VELUX<br />

<strong>DAYLIGHT</strong> & <strong>ARCHITECTURE</strong> ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX


<strong>DAYLIGHT</strong> & <strong>ARCHITECTURE</strong><br />

ARCHITEKTURMAGAZIN<br />

VON VELUX<br />

FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />

Herausgeber<br />

Michael K. Rasmussen<br />

VELUX-Redaktionsteam<br />

Christine Bjørnager<br />

Nicola Ende<br />

Lone Feifer<br />

Lotte Kragelund<br />

Torben Thyregod<br />

Redaktionsteam<br />

Gesellschaft für Knowhow-<br />

Transfer<br />

Thomas Geuder<br />

Annika Dammann<br />

Jakob Schoof<br />

Korrektorat englisch<br />

Tony Wedgwood<br />

Korrektorat deutsch<br />

Gisela Faller<br />

Bildredaktion<br />

Torben Eskerod<br />

Adam Mørk<br />

Website<br />

www.velux.de/Architektur<br />

Auflage<br />

90,000 Stück<br />

ISSN 1901-0982<br />

Dieses Werk und seine Beiträge sind<br />

urheberrechtlich geschützt. Jede<br />

Wiedergabe, auch auszugsweise,<br />

bedarf der Zustimmung der VELUX<br />

Gruppe.<br />

Die Beiträge in Daylight&Architecture<br />

geben die Meinung der Autoren wieder.<br />

Sie entsprechen nicht notwendigerweise<br />

den Ansichten von VELUX.<br />

© 2007 VELUX Group.<br />

® VELUX und das VELUX Logo sind<br />

eingetragene Warenzeichen mit Lizenz<br />

der VELUX Gruppe.<br />

Art Direction und Layout<br />

Stockholm Design Lab ®<br />

Sharon Hwang<br />

Kent Nyberg<br />

www.stockholmdesignlab.se<br />

Umschlagbild<br />

Hands, 1997<br />

Foto: Gary Schneider<br />

Umschlagbild innen<br />

Orion-Nebel, aufgenommen vom<br />

Hubble Space Telescope<br />

Foto: NASA


DISKURS<br />

VON<br />

ARTHUR<br />

ZAJONC<br />

Arthur Zajonc ist Professor der Physik am Amherst<br />

College in Amherst, Massachusetts, USA, wo er seit<br />

1978 lehrt. Seine Forschungsschwerpunkte sind die<br />

experimentellen Grundsätze der Quantenphysik und<br />

die Beziehung zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften.<br />

Sein Buch „Catching the Light“ über die<br />

Geschichte des Lichts in der menschlichen Kultur<br />

erschien 1993. 1997 und 2002 war Arthur Zajonc<br />

wissenschaftlicher Koordinator für die „Mind and Life“-<br />

Dialoge mit dem Dalai Lama. Zudem war er Präsident<br />

der Anthroposophischen Gesellschaft in Amerika.<br />

Die Berührung des Lichts verändert alles. Was im Dunkeln verborgen<br />

lag, wird enthüllt, und versteckte Orte werden unter dem Tanz<br />

des Lichtes sichtbar. Obgleich Licht selbst unsichtbar ist, sehen<br />

wir durch seine selbstlose Aktivität. In der Physik wird die Feinheit<br />

der Lichtberührung anhand seiner Wellenlänge gemessen.<br />

Die fast unmessbare innere Bewegung des sichtbaren Lichts<br />

garantiert, dass selbst das winzigste Detail, die subtilste Textur<br />

sichtbar bleibt. Die raue Oberfläche des Metalls und die faserartigen<br />

Fäden des Spinnennetzes würden in der Unsichtbarkeit verschwinden,<br />

wenn Licht ‚größer‘, seine Wellenlänge länger wäre.<br />

Einstein hat uns auf die einzigartige Funktion der Lichtgeschwindigkeit<br />

hingewiesen, die ein universelles Absolutes in<br />

einem relativen Universum ist, eine ultimative Begrenzung in einem<br />

grenzenlosen Universum. Er und Max Planck haben entdeckt, dass<br />

Licht, obwohl es keine Masse besitzt, sein kleinstes Teil hat – das<br />

Quant oder Photon. Und doch entzieht sich dieses Quant, wie das<br />

Licht selbst, unserem konzeptuellen Verständnis, indem es seine<br />

subtile Mehrdeutigkeit und Ganzheit bei allen Versuchen, es<br />

einzugrenzen und zu definieren, beibehält. Endlose Jahre reist das<br />

Sternenlicht durch die weitesten Weiten des Raums und vom<br />

Beginn der Zeit, um unsere Augen zu erreichen. Durch das Wunder<br />

der Gegenseitigkeit sind unsere Augen so perfekt an das Licht<br />

angepasst, dass nur ein paar wenige Quanten zum Sehen benötigt<br />

werden. Was in unseren Augen eine Reise des Lichts von zehn Milliarden<br />

Jahren durch den Kosmos bedeutet, ist für das Photon nur<br />

ein kleiner Augenblick – das sind die Mysterien der Relativität.<br />

Durch die Beherrschung des Feuers haben wir das Licht vom<br />

Himmel in unsere Häuser gebracht. Im Licht der Kerze denken wir<br />

nach, lesen, zeichnen oder beten. Seine zeitlose Helligkeit breitet<br />

sich aus, um mit einer kleinen Flamme einen ganzen Raum zu<br />

erhellen, doch dann strömt es über uns hinweg in den Nachthimmel,<br />

den Sternen entgegen: unser Licht von Angesicht zu<br />

Angesicht mit dem Sternenlicht.<br />

Wenn Licht unsere Körper streift, erwärmen und öffnen wir<br />

uns, wie dunkle Heiligtümer sich der Leuchtkraft der Sonne und<br />

des Himmels öffnen. Es ist nicht verwunderlich, dass Kathedralenbauer<br />

im Dienste der Theologie die Geometrie mit dem Licht<br />

verknüpft haben; und es ist ebenso wenig verwunderlich, dass die<br />

Evolution im Dienste des Lebens Verwendung für die stillen Kräfte<br />

des Sonnenlichts hat. Licht ist der Architekt der organischen Welt,<br />

und im Gegensatz dazu ist in der Architektur „die Struktur der<br />

Spender des Lichts“, wie Louis Kahn einmal schrieb.<br />

1


VELUX EDITORIAL<br />

‚ZUGREIFEN!’<br />

Form und Fläche verleihen jeder Struktur ihre endgültige<br />

materielle Gestalt. Die Struktur wiederum<br />

ist greifbare oberste Schicht aller Dinge und Substanzen.<br />

Diese Zusammenhänge erfassen wir<br />

durch das Auge.<br />

Seit Anbeginn der Menschheit vertrauen<br />

wir auf unser Urteilsvermögen, das maßgeblich<br />

von unserer optischen Wahrnehmung abhängt.<br />

Manchmal aber entspricht das, was wir sehen,<br />

nicht unseren Erwartungen – vor allem dann, wenn<br />

wir uns auf den Tastsinn verlassen und Materialien<br />

durch Hautkontakt ‚erspüren’. Unsere Wahrnehmung<br />

und unser Verständnis von Flächen und Gegenständen<br />

passen wir dementsprechend an.<br />

Die aktuelle Ausgabe von Daylight & Architecture<br />

kratzt an der Oberfläche, um herauszufinden,<br />

was sich hinter dem Sichtbaren verbirgt.<br />

Begeben wir uns auf die Suche nach Wundern<br />

oder treffen wir möglicherweise auf ein dunkles<br />

Nichts? Wir möchten das Äußere nach innen und<br />

das Innere nach außen kehren. „Das habe ich mit<br />

eigenen Augen gesehen“ – wird diese gern verwendete<br />

Phrase in Zukunft noch Bedeutung haben?<br />

Wir befragten 13 Experten aus verschiedenen<br />

Bereichen der Kunst und Wissenschaft zu ihrer<br />

Auffassung von Oberflächen in Wechselwirkung<br />

mit natürlichem Licht. Ihre Antworten geben Aufschluss<br />

über das, was dem bloßen Auge verborgen<br />

bleibt, und liefern interessante Denkansätze, unser<br />

Lebensgefüge neu zu reflektieren.<br />

Fassade und Dach eines Gebäudes ähneln der<br />

menschlichen Haut. Sie reagieren auf wechselnde<br />

Umwelteinflüsse und dienen nicht nur als Schutz,<br />

sondern schaffen auch notwendige Bedingungen<br />

für Gesundheit und Wohlbefinden. Ohne Tageslicht<br />

gibt es kein Leben: Das Licht bestimmt unsere<br />

räumliche Wahrnehmung und beeinflusst unseren<br />

Gemütszustand. VELUX möchte neue Standards<br />

für Raumkomfort und effiziente Energienutzung<br />

setzen, um heutige Lebensqualität und moderne<br />

Arbeitsbedingungen noch zu verbessern. Das Konzepthaus<br />

Atika von VELUX, das wir ebenfalls in<br />

dieser Ausgabe vorstellen, lässt diese Vision im<br />

Maßstab 1:1 Wirklichkeit werden.<br />

Viel Vergnügen beim Lesen der 5. Ausgabe von<br />

Daylight&Architecture.<br />

VELUX<br />

FRÜHJAHR 2007<br />

AUSGABE 05<br />

INHALT<br />

1 Diskurs von Arthur Zajonc<br />

2 VELUX Editorial<br />

3 Inhalt<br />

4 Jetzt<br />

8 Mensch und Architektur<br />

Tendenzen des Lichts<br />

14 Tageslicht<br />

Unter die Haut<br />

74 Licht Europas<br />

Ostanatolien, Türkei<br />

76 Reflektionen<br />

Abbild und Realität<br />

84 Tageslicht im Detail<br />

Virtuelles Licht und digitale Schatten<br />

90 VELUX Einblicke<br />

Hinter schweren Mauern<br />

Museum in Brie-Comte-Robert<br />

98 VELUX Panorama<br />

Über den Dächern Europas<br />

Konzepthaus ATIKA<br />

Cabrio aus Lärchenholz<br />

Haus Klimczyk in Rieden<br />

108 VELUX im Dialog<br />

Light of Tomorrow<br />

Interview mit Louise Grønlund<br />

Interview mit Gonzalo Pardo<br />

Interview mit Anastasia Karandinou<br />

116 Bücher<br />

Rezensionen<br />

Empfehlungen<br />

120 Vorschau<br />

4<br />

8<br />

JETZT<br />

Le Corbusiers wohl letztes Meisterwerk ist im<br />

französischen Firminy eingeweiht worden. Das<br />

Haus der Kunst in München lädt zur Andreas-<br />

Gursky-Retrospektive. Ein Apartmenthaus in<br />

Mexiko City schmückt sich mit mundgeblasenen<br />

Glaskugeln, eines in München mit siebgedruckten<br />

Kastanienblättern. Außerdem: das neue Konzerthaus<br />

in Badajoz von José Selgas und Lucia Cano.<br />

MENSCH UND ARCHITEKTUR<br />

TENDENZEN DES LICHTS<br />

Ideologien, aber auch regional unterschiedliche<br />

Lichtverhältnisse und Bautraditionen haben den<br />

Umgang der modernen Architektur mit Licht und<br />

Oberflächen geprägt. Wie sich Architekten im<br />

Spannungsfeld zwischen konstruktiver Ehrlichkeit<br />

und geschickter Verkleidung bewegten und<br />

wie sie mit Licht und Schatten, Reflexionen und<br />

Transluzenz arbeiteten, erläutert Richard Weston<br />

in seinem Beitrag.<br />

2 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


TAGESLICHT<br />

UNTER DIE HAUT<br />

14<br />

Was geschieht, wenn Licht auf Oberflächen trifft?<br />

Wie tief reicht seine Wirkung? Und wie hat sich<br />

unsere Wahrnehmung von Texturen und Licht<br />

im Laufe der Jahrhunderte verändert? Ein Essay<br />

und 13 Interviews mit Künstlern, Architekten und<br />

Naturwissenschaftlern geben Auskunft.<br />

REFLEKTIONEN<br />

ABBILD UND REALITÄT<br />

76<br />

Zweidimensionale Bilder werden auch künftig<br />

unsere Architekturwahrnehmung bestimmen,<br />

prognostiziert Ivan Redi. Denn sie helfen uns, gedachte<br />

Realitäten zu überprüfen. In seinem Beitrag<br />

beschreibt Redi den Weg, den die Architekturdarstellung<br />

in den vergangenen 250 Jahren genommen<br />

hat, von Piranesis ‚Carceri‘ bis zu den heutigen fotorealistischen<br />

Lichtsimulationen.<br />

VELUX EINBLICKE<br />

HINTER SCHWEREN MAUERN<br />

90<br />

Das archäologische Museum in der Burg von<br />

Brie-Comte-Robert ist nicht für die Ewigkeit<br />

gebaut. Leicht konstruiert und im Bedarfsfall<br />

schnell wieder zu entfernen, besitzt es doch all<br />

die Qualitäten eines vollwertigen Museums – allen<br />

voran ein angenehmes Innenraumklima und Säle<br />

voller Tageslicht.<br />

VELUX PANORAMA<br />

98<br />

104<br />

Nach dem Prinzip eines Cabriolets konstruierten<br />

Becker Architekten das Haus Klimczyk in<br />

Rieden: Die Lärchenholzverkleidung der großen<br />

Loggien lässt sich komplett zur Seite falten. Auch<br />

das mobile Konzepthaus Atika besticht durch<br />

seine ausdifferenzierte, dem Lauf der Sonne angepasste<br />

Architektur. Es beweist, dass Leichtbau auch<br />

in südlichen Breiten sinnvoll sein kann.<br />

3


JETZT<br />

Was Architektur bewegt: Veranstaltungen,<br />

Wettbewerbe und ausgewählte Neuentwicklungen<br />

aus der Welt des Tageslichts.<br />

FOTO: FERNANDO CORDERO<br />

FASSADENKUNST,<br />

MUNDGEBLASEN<br />

Es behaupte noch jemand, Handarbeit<br />

spiele in der modernen Architektur<br />

keine Rolle mehr: In der<br />

Colonie Polanco in Mexico City haben<br />

Alejandro Vilareal und sein Architektur-<br />

und Designbüro Hierve Diseñería<br />

unlängst das Apartmenthaus ‚Hesiodo‘<br />

fertig gestellt, dessen schroffe<br />

Betonfassaden von insgesamt<br />

7723 mundgeblasenen Glaskugeln<br />

wie von einem überdimensionalen<br />

Perlenvorhang umspielt werden. Die<br />

Inspiration zu diesem ungewöhnlichen<br />

Fassadenschmuck erhielt Alejandro<br />

Vilareal auf den Straßen seiner<br />

Heimatstadt: „Die Idee stammt von<br />

den Märkten in Mexico City und der<br />

Art, wie das Obst und Gemüse dort<br />

gestapelt werden; vom Anblick der<br />

Kinder, die auf einem öffentlichen<br />

Platz mit Seifenblasen spielen, aus der<br />

Notwendigkeit, Magie und Unschuld<br />

in unser Alltagsleben zu bringen, und<br />

hauptsächlich aus der Erinnerung,<br />

dass Schönheit in unserem Alltag<br />

eine Rolle spielen kann, wenn wir ihr<br />

eine Chance geben.“<br />

Das Haus steht in einer kleinen<br />

Straße in einer Wohngegend von<br />

Mexico City, unweit eines belebten<br />

Einkaufsgebiets. Seine beiden Gebäudeteile<br />

– ein viergeschossiges<br />

Vorderhaus im Norden und ein fünfgeschossiges<br />

Hinterhaus im Süden –<br />

bieten Platz für 13 Wohnungen und<br />

eine Tiefgarage. Eine zentral gelegene<br />

Erschließungszone mit Lobby,<br />

Treppen und Aufzügen verbindet die<br />

beiden Gebäudeteile miteinander. Auf<br />

der nördlichen, niedrigeren Gebäudehälfte<br />

wurde eine Dachterrasse angelegt,<br />

die allen Hausbewohnern für<br />

Feste und Veranstaltungen zur Verfügung<br />

steht. Die zerbrechlichen ‚Vorhänge‘<br />

aus Glaskugeln schützen die<br />

Nord- und Südfassaden des Hauses<br />

sowie die Dachterrasse vor allzu direkten<br />

Einblicken. Von innen gesehen,<br />

legen sie sich wie ein weicher, grüner<br />

Schleier vor das mitunter chaotisch<br />

anmutende Stadtpanorama von Mexico<br />

City. Die Kugeln wurden in einer<br />

Glasbläser-Werkstatt in Guadalajara<br />

hergestellt und anschließend mit handelsüblichen<br />

Muttern und einer Zwischenlage<br />

aus EPDM-Gummi an<br />

Drahtseilen befestigt. Jedes der vor<br />

die Fassaden gespannten Seile trägt<br />

maximal 27 Kugeln. Der Witterung<br />

hat die ungewöhnliche Fassadenkonstruktion<br />

nach Aussage von Alejandro<br />

Vilareal bislang bestens standgehalten;<br />

lediglich die Reinigung gestaltet<br />

sich etwas aufwändig: Sie nimmt<br />

rund doppelt so viel Zeit in Anspruch<br />

wie bei einer ‚normalen‘ Fassade.<br />

4 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


ANDREAS GURSKY<br />

IM HAUS DER KUNST<br />

ANDREAS GURSKY: BAHRAIN I, 2005 C-PRINT, 299 × 215 CM. COPYRIGHT ANDREAS GURSKY / VG BILD-KUNST. COURTESY MONIKA SPRÜTH / PHILOMENE MAGERS<br />

Seine Fotografien monumentaler<br />

Architekturen, gigantischer<br />

Menschenmengen und greller<br />

Konsumwelten, meist aus der<br />

Vogelperspektive aufgenommen und<br />

im Großformat reproduziert, haben<br />

Andreas Gursky zum – gemessen am<br />

Verkaufspreis seiner Bilder – erfolgreichsten<br />

lebenden Fotografen gemacht.<br />

Noch bis zum 13. Mai 2007<br />

zeigt das Münchner Haus der Kunst<br />

nun eine Werkschau mit fünfzig Aufnahmen<br />

des 1955 geborenen Künstlers.<br />

„Noch größer“ lautet einer<br />

der Leitsätze für die neue Gursky-<br />

Ausstellung: Nicht nur die Ausstellungsfläche<br />

ist opulente 1800<br />

Quadratmeter groß, auch viele Fotografien<br />

wurden mittels der heute zur<br />

Verfügung stehenden Möglichkeiten<br />

neu überarbeitet und größer reproduziert.<br />

Die größten unter ihnen messen<br />

nun 188 x 508 Zentimeter.<br />

Andreas Gursky studierte Anfang<br />

der 80er-Jahre an der Staatlichen<br />

Kunstakademie in Düsseldorf<br />

unter Bernd und Hilla Becher. Schon<br />

bald löste sich Gursky jedoch von<br />

deren minimalistischer, streng dokumentarischer<br />

Fotografie und begann,<br />

die Warenkultur, Architektur<br />

und Kulturlandschaft des Menschen<br />

in sorgfältig komponierten Monumentalbildern<br />

festzuhalten, die er<br />

digital nachbearbeitete, um die Bildaussage<br />

zu schärfen. Der Einzelne<br />

wird in Gurskys Bildern zum Mitspieler<br />

in einer scheinbar maßstabslosen<br />

Maschinerie, die als ravende<br />

Menschenmasse ebenso in Erscheinung<br />

treten kann wie in Form überdimensionierter<br />

Hotelfoyers oder eines<br />

voll besetzten Börsenparketts.<br />

Als weitere Stationen der Münchner<br />

Andreas-Gursky-Ausstellung<br />

sind derzeit das Istanbul Modern,<br />

das Sharjah Art Museum, das House<br />

of Photography in Moskau und die<br />

National Gallery of Victoria in Melbourne<br />

vorgesehen.<br />

5


FOTO: KATHRIN SCHÄFER<br />

FOTO: ROLAND HALBE<br />

STRASSENGRÜN ALS<br />

KUNSTOBJEKT<br />

LEUCHTKRANZ AUF DER<br />

MAUERKRONE<br />

Die Gabelsbergerstraße im Münchner<br />

Stadtteil Maxvorstadt hat sich<br />

in den Nachkriegsjahrzehnten zu<br />

einer „Rennstrecke“ für den Durchgangsverkehr<br />

entwickelt. Tausende<br />

Fahrzeuge nutzen die Einbahnstraße<br />

täglich, um in die Innenstadt zu gelangen.<br />

Nicht ein Baum belebt den trostlosen<br />

Straßenraum, der von wenig<br />

attraktiven Nachkriegsbauten flankiert<br />

wird. Zu ihnen gehörte lange<br />

Zeit auch das Haus Gabelsberger<br />

Straße 30: Seine Fassade war in den<br />

70er-Jahren durch ein Rautenmuster<br />

in Ocker und Braun ‚verziert‘ worden<br />

und wirkte doch trist und kahl.<br />

2004 erhielt der junge Münchner<br />

Architekt Jakob Bader den Auftrag,<br />

das fünfgeschossige Wohnhaus<br />

umzubauen und aufzuwerten. Zum<br />

Ausgangspunkt seines Entwurfs<br />

machte Bader den eklatanten Mangel<br />

an Straßengrün. Bäume, eine<br />

Allee, so sein erster Gedanke, würden<br />

Schatten spenden, den Verkehrslärm<br />

mindern und dem gesamten<br />

Straßenraum ein attraktiveres Gepräge<br />

geben. Da es nicht möglich war,<br />

einfach einige Bäume auf dem Gehsteig<br />

zu pflanzen, beauftragte Bader<br />

die Foto-Künstlerin Kathrin Schäfer<br />

mit Aufnahmen von Kastanienlaub.<br />

Die in München sehr populären Allee-<br />

und Biergartenbäume sollten, auf<br />

Glasscheiben gedruckt, die Hausbewohnern<br />

zumindest dem Gefühl nach<br />

‚im Grünen‘ wohnen lassen. Maler<br />

strichen das Haus in frischer grüner<br />

Farbe; ein Schlosser montierte rund<br />

120 laufende Meter Stahlschienen<br />

wie Eisenbahnschienen vor die Fassade.<br />

In ihnen laufen insgesamt 56<br />

Schiebeläden aus bedrucktem Glas:<br />

eine bewegliche Allee, saftig leuchtend<br />

und wildromantische Blätterschatten<br />

nach drinnen werfend, die<br />

vom ‚Original‘ auf den ersten Blick<br />

nicht zu unterscheiden sind.<br />

Badajoz, die spanisch-portugiesische<br />

Grenzstadt am Ufer des Guadiana,<br />

hat sich auch in Zeiten der<br />

europäischen Einigung noch ihr<br />

wehrhaftes Äußeres erhalten. Eine<br />

weitläufige, im portugiesischen Unabhängigkeitskrieg<br />

1640 – 1668<br />

nach dem Vorbild des französischen<br />

Ingenieurs Vauban errichtete Festungsmauer<br />

umgibt den Stadtkern.<br />

Sie diente in den folgenden Jahrhunderten<br />

nicht immer nur kriegerischen<br />

Zwecken: Schon im 18. Jahrhundert<br />

erhielt eine der weit ausgreifenden<br />

Bastionen eine kreisrunde Vertiefung,<br />

die als Stierkampf-Arena oder<br />

Freilufttheater genutzt werden<br />

konnte. Oder als Kongresszentrum:<br />

So sahen es die Vorgaben für den Architektenwettbewerb<br />

1999 vor, den<br />

das Büro selgascano von José Selgas<br />

und Lucia Cano gewann. „Alles, was<br />

wir suchten, war immer schon vorhanden<br />

– direkt vor unseren Augen“,<br />

sagen die Architekten heute. Folgerichtig<br />

gab das kreisrunde ‚Loch‘<br />

nicht nur die Form des Neubaus vor,<br />

es diente auch dazu, dessen 17 500<br />

Quadratmeter Nutzfläche und das<br />

bis zu 25 Meter hohe Bühnenhaus<br />

des Auditoriums fast vollständig im<br />

Inneren der Bastion verschwinden<br />

zu lassen. Lediglich durch zwei transluzente<br />

Kunststoffzylinder gibt sich<br />

das Gebäude von außen überhaupt<br />

zu erkennen. Der äußere Zylinder, eigentlich<br />

nur Sichtblende und Schattenspender,<br />

besteht aus schlanken,<br />

glasfaserverstärkten Polyesterstäben<br />

auf einer Stahl-Unterkonstruktion.<br />

Der zweite, innere Zylinder<br />

wirkt wie eine räumliche Verdichtung<br />

des ersten; er besteht aus transluzentem<br />

Polyacrylat, das tagsüber<br />

zu einer gigantischen Projektionsfläche<br />

für die von außen aufgestrahlten<br />

Lichter und Schatten wird und<br />

nachts, künstlich hinterleuchtet, seinerseits<br />

nach draußen strahlt. Mit<br />

äußerster Kunstfertigkeit lenkten<br />

selgascano das Tageslicht auch in die<br />

tief in der alten Bastion gelegenen<br />

Räume, zumal in das große, 1000<br />

Zuschauer fassende Auditorium unterhalb<br />

des Plexiglaszylinders. Durch<br />

ein rundes Dachoberlicht fällt das Tageslicht<br />

auf eine wellenförmig geschwungene<br />

Lamellendecke, die das<br />

Licht gleichförmig im Raum verteilt.<br />

Die Projektion des runden ‚Sonnenflecks‘<br />

bleibt dabei von innen jederzeit<br />

sichtbar und lässt die Zuschauer<br />

den Weg der Sonne um das Gebäude<br />

nachvollziehen.<br />

6 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


FOTO: ROLAND HALBE<br />

FOTO: ROLAND HALBE<br />

LICHT-TONLEITER<br />

SPÄTVOLLENDETES<br />

MEISTERWERK<br />

Auf den Mühlbachäckern im Süden<br />

der Universitätsstadt Tübingen ist<br />

in den vergangenen Monaten ein<br />

Gewerbegebiet der besonderen Art<br />

entstanden. Nicht nur Privatunternehmen,<br />

sondern auch das Tübinger<br />

Landratsamt ließen sich hier, zentral<br />

gelegen und doch von einem Park umgeben,<br />

nieder. Das größte Gebäude<br />

im Quartier, die neue Hauptverwaltung<br />

der Tübinger Stadtsparkasse,<br />

wurde von den Stuttgarter Architekten<br />

Auer+Weber+Assoziierte geplant<br />

und fällt äußerlich nicht eben<br />

durch Extravaganz ins Auge. Den<br />

im Grundriss quadratischen, sechsgeschossigen<br />

Kubus umgibt ein frei<br />

stehendes Stahlgerüst, das die Sonnenschutz-Jalousien<br />

aufnimmt und<br />

ungewöhnlich stark an die Spätwerke<br />

Mies van der Rohes aus den<br />

USA erinnert. Und auch in punkto<br />

Offenheit durchweht den Neubau<br />

der Mies’sche Geist: Sofern der Sonnenschutz<br />

gerade nicht die Sicht<br />

verdeckt, genießen die Büroangestellten<br />

durch raumhohe Dreifachverglasung<br />

den ungehinderten Blick<br />

nach draußen. Die Innenräume wurden<br />

für deutsche Verhältnisse außerordentlich<br />

weitläufig angelegt;<br />

abgetrennte Einzelbüros erhielten<br />

lediglich die leitenden Angestellten.<br />

Das lichterfüllte Herz des so genannten<br />

‚Sparkassen Carrés‘ ist das glasüberdeckte<br />

Forum im Innenhof, das<br />

500 Personen fasst und für Veranstaltungen<br />

genutzt wird. Mit Leben<br />

erfüllen diesen Raum indes nicht nur<br />

die Nutzer: Die in das Glasdach integrierte<br />

Glasskulptur ‚chromatic<br />

scale‘ des Künstlers Bernhard Huber<br />

filtert und färbt das einfallende Tageslicht<br />

in einem sonnigen Gelbton.<br />

Der englische Begriff ‚Scale‘ steht für<br />

‚Skala‘ oder ‚Tonleiter‘, und als solche<br />

möchte auch Huber sein Kunstwerk<br />

verstanden wissen. Er unterteilte<br />

das Glasdach in einzelne, parallele<br />

Streifen, innerhalb derer sich klare,<br />

weiße und gelbe Glasflächen in unregelmäßigen<br />

Rhythmen abwechseln.<br />

„Wie bei einer Melodie gibt es<br />

mehrschichtige Überlagerungen im<br />

Duktus der verschiedenen räumlichen<br />

Glasträgeranordnungen“, so<br />

Huber. In ihrer Gesamtheit erinnert<br />

die ‚chromatic scale‘ damit an die abstrakte<br />

Notation eines Musikstücks<br />

oder an die Dezibelskala eines elektronischen<br />

Verstärkers – in jedem<br />

Fall aber erweist der Künstler damit<br />

dem Bauwerk, in dem sich letztlich<br />

alles um Zahlen und Skalen dreht,<br />

seine Reverenz.<br />

Fast drei Jahrzehnte stand die von<br />

Le Corbusier 1962-64 geplante Kirche<br />

Saint-Pierre als halbfertige<br />

Ruine in dem Arbeiterstädtchen Firminy<br />

am Ostrand des französischen<br />

Massif Central. Es hätte den Schlussstein<br />

bilden sollen für ‚Firminy-Vert‘,<br />

einer in den 50er-Jahren begonnenen<br />

Stadterweiterung im Geiste<br />

der Charta von Athen, zu der auch Le<br />

Corbusier ein Stadion, ein Kulturzentrum<br />

und eine ‚Unité d’habitation‘<br />

beisteuerte.<br />

Die rund 7,6 Millionen teure Fertigstellung<br />

des Bauwerks ist nicht<br />

zuletzt staatlichen Fördergeldern<br />

verdanken. Da diese im streng laizistischen<br />

Frankreich jedoch nicht<br />

für Sakralbauten aufgewendet werden<br />

dürfen, gilt Saint-Pierre offiziell<br />

als Museum. Im Sockel, der einst<br />

für die Gemeinderäume vorgesehen<br />

war, wurden eine Zweigstelle des<br />

Musée d’art moderne in Saint-Etienne<br />

und ein Le-Corbusier-Museum<br />

untergebracht. Die Kirche selbst ist<br />

geweiht, doch es ist fraglich, ob hier<br />

jemals ein Gottesdienst stattfinden<br />

wird. Unter ihrem hoch aufragenden,<br />

schräg gestutzten Kegeldach öffnet<br />

sich ein höhlenartiger Raum aus<br />

Sichtbeton, der tagsüber nur durch<br />

wenige Tageslichtöffnungen erhellt<br />

wird. Schmale, in Kopfhöhe umlaufende<br />

Fensterschlitze lösen das Dach<br />

optisch von seinem Unterbau. Über<br />

den rauen Sichtbeton des Gewölbes<br />

streicht das Licht aus vier weit oben<br />

angebrachten ‚Lichtkanonen‘ – Betonröhren<br />

unterschiedlichen Querschnitts,<br />

die innen rot, gelb, blau und<br />

grün gestrichen wurden. Ergänzt<br />

wird die Lichtszenerie in Saint-Pierre<br />

durch einen ‚Sternenhimmel‘ in<br />

der Ostwand, über dem Altar: Mit<br />

kleinen, runden Öffnungen in der Betonhülle<br />

wurden hier die Sternbilder<br />

Orion und Zwillinge nachgebildet, die<br />

in dieser Richtung am Nachthimmel<br />

zu sehen sind.<br />

Die Oberleitung über den Bau der<br />

Kirche hatte José Oubrerie, ein ehemaliger<br />

Mitarbeiter Le Corbusiers.<br />

Die Fondation Le Corbusier, Gralshüterin<br />

des Erbes des Architekten, hat<br />

ihr ‚Plazet‘ für den Bau bereits gegeben.<br />

Trotz einiger „persönliche Ergänzungen<br />

und Korrekturen durch<br />

Oubrerie“, schreibt der Architekturhistoriker<br />

Gilles Ragot, der von der<br />

Stiftung mit einem Gutachten beauftragt<br />

wurde, sei „die Kirche selbst<br />

[...] von einer Qualität und räumlichen<br />

Originalität, die in den größten Werken<br />

von Le Corbusier und im modernen<br />

Kulturgut zu finden sind.“<br />

7


MENSCH<br />

UND ARCHITEKTUR<br />

Der Mensch als Mittelpunkt der Architektur:<br />

Innenansichten einer wechselvollen Beziehung.<br />

TENDENZEN DES<br />

LICHTS<br />

1<br />

FOTO: HISAO SUZUKI


Von Richard Weston.<br />

Drei Jahre dauerte es, bis Jørn Utzon die passenden<br />

Fliesen für die majestätischen Kuppelschalen seiner Oper<br />

in Sydney entwickelt hatte – Fliesen, die exakt die von<br />

ihm gewünschte Wirkung unter wechselnden Lichtverhältnissen<br />

erzielten. Utzons Oper ist nur ein Beispiel von<br />

vielen für die Sensibilität, die die Architekten des 20.<br />

Jahrhunderts bei ihrem Spiel mit Strukturen und Licht<br />

an den Tag legten.<br />

Carl Petersen, der Architekt des viel beachteten Fåborg Museums,<br />

diskutierte bereits 1919 in seinen Lehrvorträgen zur Struktur<br />

an der Königlich Dänischen Kunstakademie die „unerfreulichen<br />

Auswirkungen unbeständiger Strukturen“, wenn zum Beispiel<br />

eine polierte Granitfläche aufgrund der ungleichmäßigen Transparenz<br />

einzelner Steinelemente uneben wirkt. „Ziel sollte sein“,<br />

so erklärte er, „eine Solidität der Materialoberfläche zu erreichen.“<br />

Eine klare Form erfordere somit eindeutige Oberflächen, die durch<br />

Licht und Schatten zusammen mit eventuellen Farb- und Strukturwechseln<br />

modelliert werden und nicht auf „vage oder zufällige<br />

Effekte“ abzielen.<br />

Im selben Jahr entwarf Mies van der Rohe ein gläsernes Hochhaus<br />

für die Berliner Friedrichstraße. Dabei nutzte er exakt die von<br />

Petersen abgelehnten Effekte als Basis einer völlig neuen Architektur.<br />

Durch das unregelmäßige, facettenreiche Profil des Gebäudes<br />

wurde ein ‚Wandteppich’ ständig wechselnder Reflexionen<br />

geschaffen. Er zielt vermutlich darauf ab, die Gezeiten von Ebbe<br />

und Flut im Stadtleben darzustellen – ein seit Baudelaire populäres<br />

Thema des Modernismus.<br />

Wenngleich in nördlichen Gefilden kundgetan, gründete<br />

Petersens Aufruf zur Solidität auf den Vorzügen des konstanten<br />

Lichts im Süden. Dort schaffen Licht und Schatten beeindruckende<br />

Modellierungen, die durch Struktur und Farbeffekte<br />

allein unerreichbar sind. Diese Meinung vertrat auch Alberti in<br />

seinen ‚Zehn Büchern über die Baukunst’. Sein Plädoyer für das<br />

Reine und Weiße als Ausdruck höchster Architekturkunst wurde<br />

zum Bekenntnis der Neoklassizisten. Mies van der Rohe hingegen<br />

orientierte sich bei seinen Glaskonstruktionen an den flüchtigen<br />

Eigenschaften des nördlichen Lichts, die er zehn Jahre später<br />

unter südlicher Sonne im Barcelona-Pavillon aufleben ließ. Dort<br />

erzeugte das komplexe und beeindruckende Spiel des Lichts, das<br />

durch farbiges Glas fällt und von polierten, ornamentalen Steinoberflächen<br />

und Wasserbecken reflektiert wird, einen der atmosphärisch<br />

dichtesten Räume in der Architektur des 20. Jahrhunderts.<br />

regionale lichtunterschiede und ihr einfluss auf die<br />

architektur<br />

Gehen wir einmal davon aus, dass der Norden und der Süden<br />

in ihrer Gegensätzlichkeit von Dematerialisation unter atmosphärischem<br />

Licht und den von Sonnenlicht und Schatten klar<br />

modellierten Formen die Pole des (europäischen) Architekturverständnisses<br />

manifestieren. Dann lassen sich die Architekturströmungen<br />

des 20. Jahrhunderts nicht nur nach den traditionellen<br />

räumlichen und konstruktiven Kriterien, sondern auch nach ihrem<br />

Umgang mit Licht und Material einteilen: Die einen Architekten<br />

nutzen das ausdrucksstarke Potenzial von Materialien und Strukturen,<br />

die anderen unterdrücken dieses Vermögen radikal und<br />

erzielen bestimmte Effekte allein durch natürliches Licht.<br />

Letzterer Ansatz hat die Architektur im Norden und im Süden<br />

gleichermaßen beeinflusst. So hat beispielsweise Juha Leiviskä in<br />

Finnland eine ‚De Stijl’-ähnliche Formensprache aus scheinbar<br />

schwerelosen, durch Licht belebten Ebenen entwickelt: In der Kirche<br />

von Myyrmäki sind alle Flächen weiß und eben deshalb so<br />

faszinierend. Nach seiner eigenen Aussage wollte Leiviskä einen<br />

immateriellen ‚Lichtschleier’ erzeugen; als Vorbild diente ihm die<br />

Doppelschalenkonstruktion von Rokoko-Kirchen. Bei einem späteren<br />

Projekt in Kuopio gestaltete er die versteckten Seitenflächen<br />

rund um den Altar farbig und tauchte die Umgebung in sanft<br />

schimmernde Farben. Denselben Effekt erzielte Steven Holl später<br />

in der St. Ignatius-Kapelle in Seattle.<br />

Unter der hoch stehenden und intensiven Sonne im Süden<br />

Spaniens interpretierte Campo Baeza das Haus Gaspar in Zahora<br />

als befestigten Paradiesgarten. Aber statt auf die Farbenpracht<br />

üppiger Pflanzen und Blumen setzte er voll und ganz auf die Wirkung<br />

natürlichen Lichts und Wassers, die in diesem Projekt die<br />

Natur verkörpern. Die Böden drinnen und draußen sind mit Kalkstein<br />

ausgelegt; das Innere, nahtlos umrahmt von weiß getünchten<br />

Wänden, wird lediglich durch vier große Fensteröffnungen mit,<br />

wie Baeza es nennt, ‚horizontalem’ Licht erfüllt. Durch die Vermeidung<br />

von Schatten verlieren sämtliche Formen ihre Dimensionen,<br />

und unsere Sinne für subtilste Variationen der Lichtfarbe<br />

werden geschärft.<br />

Das von Campo Baeza 1991 fertiggestellte Haus kann teilweise<br />

als Reaktion auf die nachhaltig dogmatische Betonung der Materialqualitäten<br />

verstanden werden, wie sie diverse Architekturschulen<br />

der Nachkriegszeit kennzeichnete. Als deren Vorreiter gilt Le<br />

Corbusier mit seinem béton brut der Unité d’habitation von Marseille<br />

und dem ‚bäuerlichen’ Ziegelmauerwerk der Maisons Jaoul<br />

in Neuilly. Ihren überzeugendsten Ausdruck gewann diese Betonung<br />

des Materials dort, wo sie durch die Anpassung an regionale<br />

Gegebenheiten einen verstärkten Ortsbezug entstehen ließ.<br />

D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />

9


1. Alberto Campo Baeza: Casa<br />

Gaspar in Cadiz (1992)<br />

Glatte Flächen, perfekte Symmetrie<br />

und perfektes Weiß bilden<br />

in Campo Baezas Wohnhaus<br />

den Rahmen für eine aufs Äußerste<br />

reduzierte Essenz der Natur<br />

ringsum.<br />

„Das Licht in diesem Haus ist horizontal<br />

und kontinuierlich, was sich in der Ost-<br />

West-Ausrichtung der Hofeinfassung<br />

widerspiegelt. Das horizontale Licht<br />

spannt hier ganz einfach einen horizontalen,<br />

kontinuierlichen Raum auf.“<br />

Alberto Campo Baeza<br />

Für das Rathaus von Säynätsalo gab Alvar Aalto die Anweisung,<br />

alle Ziegel in leichtem Winkel zu versetzen, was dem Mauerwerk<br />

im sanften Sommerlicht eine strukturierte Oberfläche und<br />

außergewöhnliche Wirkung verleiht. Später, beim Rathaus von<br />

Seinäjoki, sind die Flächen noch deutlicher auf das nördliche Licht<br />

abgestimmt. Der hohe, keilförmige Bau ist mit dunkelblau glasierten<br />

Fliesen verkleidet. Aufgrund der Gebäudeform, im Querschnitt<br />

ein gestauchter Halbkreis, wurden die Fliesen vertikal in<br />

einer Art Streifenmuster verlegt, das die tief stehende Sonne einfängt<br />

und durch seinen reflektierenden Charakter an Cordstoff<br />

erinnert. Wenn das Sonnenlicht schräg auf seine Oberflächen<br />

trifft, schimmert das solide und imposante Gebäude ganz in Preußischblau,<br />

während bei direkter Sonneneinstrahlung die schmalen,<br />

hellen Rauputzstreifen zwischen den Fliesen dominieren und<br />

die blaue Farbe verwaschen. Bei den oft bestaunten ‚experimentellen<br />

Wänden’ seines Sommerhauses in Muuratsalo ließ Aalto seinen<br />

persönlichen Ideen freien Lauf, indem er verschiedene Ziegel,<br />

glatte und glasierte Fliesen und unterschiedliche Fugentechniken<br />

miteinander kombinierte und so Flächen schuf, deren Aussehen<br />

sich mit dem Lauf der Sonne ständig verändert. Man kann das<br />

Ganze schlicht als eine abstrakte Komposition von Struktur und<br />

Farbe betrachten, aber gleichzeitig wird ein intensiver Ortsbezug<br />

heraufbeschworen – allerdings nicht zu Finnland, sondern<br />

zum verwitterten Flickwerk der Mauern in Aaltos geliebtem Italien.<br />

Warum sonst braucht das Rechteck azurblauer Fliesen einen<br />

exponierten Sturz, wenn nicht dazu, den Eindruck eines Fensters<br />

unter südlichem Himmel zu vermitteln?<br />

licht und genius loci: carlo scarpas innenräume<br />

Carlo Scarpa orientiert seine Bauwerke an den Bautraditionen<br />

Venedigs, wo – um John Ruskin zu zitieren – „die Verblendung<br />

von Ziegeln mit wertvolleren Materialien“ einerseits auf die weite<br />

Entfernung der Stadt zu Steinbrüchen zurückzuführen ist und<br />

andererseits als Stilmittel eingesetzt wird, um eine durchdringende<br />

und überall spürbare Lichtüberflutung zu evozieren: Die mit einem<br />

Rautenmuster verkleideten Mauern des Dogenpalastes wirken im<br />

Tageslicht wie gespannter Stoff, die vielfarbigen Cosmati-Böden<br />

sehen aus wie eine Versteinerung gebrochener Wasserreflexionen,<br />

und die von Scarpa besonders geliebten, typisch venezianischen<br />

Terrazzo-Böden (pavimenti alla veneziana) scheinen von einem<br />

dünnen Regenfilm überzogen zu sein. In dem Geschäft, das er<br />

für Olivetti an der Piazza San Marco entwarf, kombinierte Scarpa<br />

Terrazzo- und Mosaikböden, indem er kleine unregelmäßige Viereckmosaike<br />

aus reflektierenden Glassteinchen in parallelen Bahnen<br />

in ein Bett aus hellem Zementmörtel einarbeitete. Die Bahnen<br />

wirken in einer Richtung wie ein markanter ‚Kettfaden’, während<br />

die Mosaiksteine wegen ihrer Unregelmäßigkeit und großen<br />

Abstände eine Art ‚Schussfaden’ bilden, der auf subtile Weise an<br />

eine gekräuselte Wasseroberfläche erinnert.<br />

Für die Decken in der Galerie der Fondazione Querini Stampalia<br />

erweckte Scarpa eine andere lokale Tradition zum Leben – den<br />

stucco alla veneziana. Bei der als marmorino bekannten Variante<br />

wird Marmorstaub in den Deckanstrich gemischt und vermittelt<br />

den Eindruck steinähnlicher Härte, der durch einen mittels<br />

Heißbearbeitung erzeugten reflektierenden Schimmer noch verstärkt<br />

wird. Im Ergebnis hat diese Technik nicht nur praktische<br />

Vorzüge, da sie große Mengen an Wasser aus der feuchten Luft<br />

aufnehmen kann, sie ist auch äußerst lichtwirksam.<br />

Das Bestreben, Materialien den gegebenen Ortsverhält nissen<br />

anzupassen, lässt sich auch in den späten Kirchen von Sigurd<br />

Lewerentz erkennen, wo das Mauerwerk in einer Mörtelschicht zu<br />

fließen scheint und unterschwellig an die unregelmäßige Musterung<br />

von Birkenrinde erinnert. In Klippan wird das trockene und<br />

raue Ziegelwerk kontrastiert durch ungerahmte Doppelverglasungen,<br />

die nicht in, sondern vielmehr vor den Fensteröffnungen<br />

liegen. Der grünliche Glanz des Glases verschmilzt mit Reflexionen<br />

von Gras, Bäumen und Himmel und verwandelt die elementaren<br />

Fenster in ‚Teiche’ flüssigen Lichts.<br />

Beim Bau der Oper in Sydney lässt sich Ähnliches erkennen –<br />

allerdings in gänzlich anderen Dimensionen. Die rekonstruierte<br />

Verkleidung der großen Plattform aus rotem Sandstein, der hier<br />

überall zu finden ist, bildet einen sichtbaren Kontrast zu den reflektierenden<br />

Fliesenflächen der Schalen. Jørn Utzon ließ sich sowohl<br />

von der Architektur als auch von der Natur inspirieren; etwa von<br />

den gefliesten Kuppeln, die wie ätherisch über den Ziegelbauten<br />

orientalischer Städte zu schweben scheinen, oder schneebedeckten<br />

Bergen, auf denen frisch gefallener Schnee vom Wind verweht wird<br />

und die gefrorene Schicht darunter offenlegt. Utzon verwandte<br />

drei Jahre auf den Entwurf dieser Verkleidung. Das Ergebnis ist<br />

eine Kombination glatter und glasierter Fliesen, wobei Erstere sich<br />

der konischen Geometrie der darunter liegenden Rippen anpas-<br />

10 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


2 3<br />

4 5<br />

6<br />

7 8<br />

9 10<br />

FOTOS: 2/3 – PAUL WARCHOL PHOTOGRAPHY. 4 – MARTTI KAPANEN, ALVAR AALTO MUSEUM. 5/6 – RICHARD WESTON. 7/8 – GASTON WICKY. 9 – HISAO SUZUKI. 10 – STEVEN HOLL ARCHITECTS.<br />

11


11<br />

12<br />

FOTOS: 12/13 – RICHARD WESTON<br />

sen und Letztere, diagonal verlegt, eine viereckige Füllung bilden,<br />

in die klein gemahlene Stückchen gebrannten Tons eingestreut<br />

sind und die Oberfläche aufrauen. Perfekt auf den Kugelflächen<br />

der Schalen arrangiert, erzielen die Fliesen einen wunderbaren<br />

kumulativen Effekt, greifen auf nahezu unheimliche Weise die<br />

Farben des Himmels und das Zusammenspiel von Schatten und<br />

reflektiertem Licht zwischen den Schalen auf.<br />

autonomie des materials: architektur seit den 80er-jahren<br />

Trotz aller Aufmerksamkeit, die Aalto, Lewerentz und Utzon den<br />

Qualitäten von Material und Licht widmeten, standen diese traditionell<br />

zweitrangigen architektonischen Elemente in ihren Werken<br />

im Dienst einer größeren Idee; in der Architektur von Scarpa wurde<br />

diese ‚Idee’ häufig durch den Rahmen eines bestehenden Gebäudes<br />

bestimmt. Für eine Generation von Architekten, die sich in den<br />

80er-Jahren bildete, wurde jedoch die Ausdrucksstärke der Materialien<br />

zur zentralen Idee. Als Schlüsselinspiration diente die Kunst<br />

des Minimalismus, vor allem die Werke von Donald Judd. Indem<br />

er die Trennung von Materialoberfläche und formaler Struktur<br />

aufhob, wollte Judd eine ästhetische Wirkung seiner Arbeiten erzeugen,<br />

die direkt aus visuellen ‚Fakten’ entsteht, die vom Betrachter<br />

unmittelbar wahrgenommen werden.<br />

Durch die Reduktion von Gebäuden auf einfache oder tradierte<br />

Formen und durch ihre Verkleidung mit nur einem einzigen<br />

Material konnte sich das architektonische Interesse nahezu<br />

ausschließlich auf die Eigenschaften von Flächen und das Spiel<br />

des Lichts konzentrieren. Mit vertikalen oder horizontalen Holzlatten<br />

verkleidete Konstruktionen – wie Peter Zumthors Einfriedung<br />

römischer Funde in Chur oder der Anbau von Burkhalter<br />

und Sumi an das Zürichberg-Hotel – können am Tag verschlossen<br />

wirken, bei Nacht aber mysteriös schimmern. Auf ähnliche<br />

Weise erweisen sich in Herzog & de Meurons Weinkellerei im<br />

Napa Valley massive und scheinbar undurchsichtige Korbwände<br />

völlig unerwartet als lichtdurchlässig.<br />

Mit der Verlagerung des Interesses von undurchsichtigen und<br />

matten zu reflektierenden, transparenten oder lichtdurchlässigen<br />

Materialien ergaben sich auch neue Ausdrucksformen. Durch die<br />

Verwendung von Strukturglasscheiben als Wetterhaut an ihrem<br />

Anbau an die Kunstgalerie in Winterthur schufen Gigon/Guyer<br />

eine stark geriefelte Hülle aus feinen Schichten, die durch Umge-<br />

bungs- und Lichtreflexionen das Licht eher auszuströmen denn zu<br />

absorbieren scheint. Ähnliche, wenngleich weniger frappieren de<br />

Effekte werden im Liner Museum in Appenzell erzielt, wo sowohl<br />

die Wände als auch das Sheddach mit viereckigen Edelstahlplatten<br />

verkleidet sind. Für das Kunstmuseum in Bregenz kreierte<br />

Peter Zumthor eine vorgehängte Außenfassade aus stockwerkhohen,<br />

satinierten Glasscheiben, hinter denen schemenhaft der<br />

Aufbau der Geschossebenen erkennbar ist. Die Fassaden reagieren<br />

subtil auf Lichtveränderungen, vor allem nachts, wenn sie von<br />

innen beleuchtet werden.<br />

In Anlehnung an diese Schweizer Modelle platzierte Steven<br />

Holl am Bloch Building im Nelson-Atkins Museum of Art in<br />

Kansas City fünf rechtwinklige Glaskonstruktionen in der Landschaft,<br />

die als Dachoberlichter für ein weitestgehend unterirdisches<br />

Gebäude dienen. Durch die Nutzung von eisenfreiem Glas wurde<br />

die in Winterthur so offensichtlich hervortretende grüne Farbe<br />

eliminiert, und dies mit erstaunlichem Ergebnis: Während das<br />

Gebäude von Gigon/Guyer optisch mit seiner Umgebung interagiert,<br />

steht Holls Bauwerk in kristallinem Kontrast zur Landschaft.<br />

Diese kristalline Qualität von Holls ‚Linsen’, wie er sie nennt, wird<br />

noch dadurch verstärkt, dass die Glasscheiben offensichtlicher<br />

Teil einer konstruierten Ordnung sind. Nachdem fast zwei Jahrzehnte<br />

lang verführerische Vorhangfassaden aus nahezu jedem<br />

erdenklichen Material angefertigt wurden, angefangen von den<br />

extremen Formen der ‚Schweizer Boxen’ bis hin zu Frank Gehrys<br />

barocken Draperien, könnten sich nun ‚handfeste’ Konstruktionen<br />

wied er gegen leichtes Design behaupten. Wenn ich an das<br />

Vergnügen denke, zwischen Tadao Andos Betonwänden im exquisiten<br />

Koshino-Haus oder unter den weiß getünchten Betongewölben<br />

in Jørn Utzons Kirche in Bagsværd zu stehen, kann ich mich<br />

nicht des Eindrucks erwehren, dass derart harte Formen in gewisser<br />

Weise anmutiger sind: Beide Bauwerke zeichnen sich durch ihre<br />

Strukturierung und die offengelegten Details wie Schraubenlöcher<br />

und Bretter aus, und beide erscheinen in bestimmten Lichtsituationen<br />

wie verwandelt. Nirgendwo vielleicht kann man die Transformationskraft<br />

des Lichts deutlicher spüren als auf der Veranda<br />

von Louis Kahns Kimbell Art Museum, wenn die sichelförmigen<br />

Lichtflecken über den Beton und die Travertinflächen wandern.<br />

Von Kahn stammt der berühmte Spruch: „Die Sonne wusste nie,<br />

wie groß sie ist, bis ihr Licht auf die Seite eines Hauses fiel.“ In<br />

Kimbell versteht man, was er meint.<br />

12 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Richard Weston ist Professor für Architektur an der Cardiff University<br />

und Herausgeber der Zeitschrift Architectural Research Quarterly, die von<br />

der Cambridge University Press veröffentlicht wird. Zu seinen Büchern<br />

gehören eine mit dem Sir-Banister–Fletcher-Preis ausgezeichnete Studie<br />

zu Alvar Aalto und das Buch ‚Utzon. Inspiration, Vision, Architecture‘. Seine<br />

neueren Publikationen beschäftigen sich mit der Erforschung natürlicher<br />

Materialien als Quelle für verschiedene digitale Herstellungstechniken;<br />

diese werden in seinem jüngsten Buch ‚Formations: images from rocks‘ und<br />

unter www.naturallyexclusive.com diskutiert.<br />

13<br />

FOTO: GASTON WICKY<br />

licht und energie:<br />

materialentwicklung im zeichen der ökologie<br />

Neben diesen Experimenten mit der visuellen Wechselwirkung<br />

zwischen Material und Licht eröffnen die Entwicklungen in der<br />

Materialwissenschaft ein neues, kaum erforschtes Gebiet. Auf den<br />

ersten Blick könnte man das Seniorenwohnheim von Dietrich<br />

Schwarz in Domat/Ems für einen konventionellen Vertreter der<br />

Schweizer Moderne halten. Tatsächlich aber reihen sich an der höher<br />

gelegenen Südseite des Gebäudes Fenster mit Dreifachverglasung<br />

aneinander, die ein Salzhydrat enthalten, das in flüssigem Zustand<br />

Solarenergie speichern kann. Bei einem Temperaturabfall kristallisiert<br />

die Lösung und ist nicht mehr transparent, sondern wird<br />

undurchsichtig und setzt bei diesem Prozess Wärme frei. Solche<br />

phasenveränderlichen Materialien sind nur ein Beispiel für zahlreiche<br />

Erfindungen, die neue Wege für Gebäudefassaden eröffnen,<br />

um mit natürlichem Licht zu interagieren. Einige sind teuer<br />

und exotisch, zum Beispiel holografisch- optische Elemente (HOE),<br />

deren Farbe je nach Blickwinkel und Sonnenstand variiert und<br />

die der Architektur so den Charakter einer Chamäleonhaut verleihen.<br />

Andere hingegen, wie die in Großbritannien von Digital<br />

Glass entwickelten Druckfolien, sind sehr kosteneffektiv. Sie könnten<br />

bestehende Sonnenschutzsysteme ersetzen und gleichzeitig<br />

neue gestalterische Möglichkeiten schaffen – angefangen von der<br />

Verwandlung von Glasfassaden in riesige Bilder bis hin zu blickdichten,<br />

aber lichtdurchlässigen Trennwänden.<br />

Für moderne, selbstreinigende Materialien – seit jeher ein ‚Heiliger<br />

Gral’ der Glasproduzenten – wird vermehrt das Tageslicht<br />

genutzt, um eine hydrophile Oberfläche zu schaffen, welche die<br />

Reinigung der Gebäudefassade vereinfacht. Die erfolgreichsten<br />

dieser Materialien basieren bislang auf Titandioxid. Sie bieten<br />

den zusätzlichen Vorteil, Sauerstoff zu erzeugen und Schadstoffgase<br />

zu eliminieren; hierdurch ließe sich die Luftqualität in den<br />

Städten wesentlich verbessern.<br />

Angesichts dieser Extreme – einerseits minimalistische Versuche<br />

in Weiß, andererseits die faszinierenden visuellen Eigenschaften<br />

einer Vielzahl von Materialien – könnte man meinen, die<br />

Architektur habe die Grenzen der Interaktion zwischen Material<br />

und Licht ausgelotet. Da aber neue Generationen ‚intelligenter’<br />

Materialien nunmehr erschwinglich sind, eröffnen sich für Bautechnik<br />

und Architektur bislang ungeahnte Möglichkeiten.<br />

2–3. Steven Holl Architects: St.<br />

Ignatius Chapel in Seattle (1997)<br />

Streiflicht, das durch Wandschlitze<br />

und schmale Fenster in<br />

den Kirchenraum fällt, macht<br />

die unregelmäßige Struktur der<br />

Putzoberflächen an den Wänden<br />

und Deckengewölben sichtbar.<br />

4. Alvar Aalto: Versuchshaus in<br />

Muuratsalo (1953)<br />

Die Ziegelwand in seinem Sommerhaus<br />

auf der Insel Muuratsalo<br />

diente Alvar Aalto als<br />

Experimentierfläche für unterschiedliche<br />

Ziegelverbände und<br />

deren Wechselwirkung mit dem<br />

Licht.<br />

5. Sigurd Lewerentz:<br />

Kirche in Klippan (1966)<br />

Einheitlich aus dunklem Backstein<br />

gemauerte Wände, Böden<br />

und Deckengewölbe verleihen<br />

dem Kircheninnenraum einen<br />

höhlenartigen Ausdruck.<br />

6. Jørn Utzon:<br />

Oper in Sydney (1973)<br />

Die im Tagesverlauf ständig<br />

wechselnde Licht- und Farbwirkung<br />

der Oper beruht maßgeblich<br />

auf der Fliesenverkleidung,<br />

auf deren Entwicklung Utzon<br />

drei Jahre verwandte.<br />

7–8. Gigon/Guyer: Liner Museum<br />

in Appenzell (1998)<br />

Die Schuppenhaut aus Chromstahlblechen<br />

konterkariert die<br />

industriell anmutende Sheddachform<br />

des Museums und lässt sie<br />

als eine in der Sonne glänzende<br />

Schatulle erscheinen.<br />

9. Peter Zumthor: Kunsthaus<br />

in Bregenz (1997)<br />

Mit den Phänomenen der Schichtung<br />

und Transluzenz spielt<br />

Peter Zumthor bei seinem<br />

Kunsthaus-Kubus. Die Hülle<br />

lässt die innere Struktur des<br />

Gebäudes nur erahnen.<br />

10. Steven Holl Architects: Bloch<br />

Building, Kansas City (2007)<br />

Maßstabslos und immateriell<br />

durch seine Fassade aus Strukturglastafeln,<br />

bricht Steven<br />

Holls Museumserweiterung<br />

bewusst mit dem gewohnten<br />

Repräsentationsbedürfnissen<br />

dieses Bautypus.<br />

11–12. Tadao Ando: Koshino<br />

House in Ashiya (1981)<br />

Noch nicht ganz die samtige<br />

Glätter seiner späteren Bauten<br />

erreichen die Betonoberflächen<br />

in Tadao Andos frühem Wohnhaus.<br />

Ihre Struktur tritt im<br />

Streiflicht deutlich zutage. .<br />

13. GLASSX AG, Dietrich<br />

Schwarz: Seniorenwohnungen in<br />

Domat/Ems (2004)<br />

Für die transluzenten Fassadenflächen<br />

dieser Wohnanlage verwendete<br />

Dietrich Schwarz ein<br />

Salzhydrat als Wärmespeicher.<br />

Es ändert unter Wärmeeinwirkung<br />

seinen Aggregatzustand<br />

und kann so Wärme aufnehmen,<br />

ohne sich aufzuheizen.<br />

13


FOTO: DAVID MAISEL<br />

Unter die Haut<br />

Von Jakob Schoof.<br />

Sie gelten als Inbegriff für schönen Schein, mangelnden<br />

Tiefgang und flüchtige Eindrücke. Dennoch bilden sie<br />

die Grundlage unseres Weltbildes: Eine Reise zu den<br />

Oberflächen der Erde – und darunter.<br />

14


Vorangehende Doppelseite<br />

David Maisel: The Lake Project<br />

9816-11, 2002<br />

Die Erde blutet: Jahrzehnte<br />

diente der kalifornische Owens<br />

Lake als Trinkwasserreservoir<br />

für Los Angeles. Heute bildet das<br />

größtenteils trockengefallene,<br />

hochgradig verseuchte Seebett<br />

ein irritierendes Bild aus<br />

schwarzen Venen, Blasen und<br />

durch Bakterien rot gefärbten<br />

Wassertümpeln.<br />

PHOTO: NASA JPL<br />

Gegenüber<br />

Antennae Galaxis. Aufnahme<br />

des Hubble Space Telescope<br />

Die Oberflächen der Dinge bestimmen unser Weltbild: Ihre<br />

Wechselwirkung mit Licht bildet die Grundlage unseres<br />

Sehens. Sie bilden die Schnittstelle für den Austausch von<br />

Materie und Information – und damit für die Prozesse des<br />

Lebens. Der Stoffwechsel jeder lebenden Kreatur vollzieht<br />

sich durch deren Haut oder Hülle – sei es durch Verdunstung,<br />

Speicherung von Sonnenenergie, Nahrungsaufnahme oder<br />

Wärmeaustausch. Tageslicht, das auf die Oberflächen lebender<br />

Organismen fällt, liefert uns lebenswichtige Energie.<br />

Doch längst sind die Oberflächen unserer Welt nicht mehr<br />

naturgesetzlich vorherbestimmt: In einem wechselseitigen<br />

Geben und Nehmen lernt der Mensch von den Oberflächen<br />

der Natur und formt sie nach seinen Vorstellungen. Haifisch-<br />

Schuppen sind Vorbild für Schwimmanzüge, Lotosblätter für<br />

schmutzabweisende Fassadenanstriche und Straußeneier für<br />

antimikrobielle Frischhaltefolien. Gleichzeitig ist kaum ein Quadratkilometer<br />

Erdoberfläche noch nicht vom Menschen überformt<br />

– selbst die Weltmeere verwandeln sich in den Visionen<br />

einiger Wissenschaftler schon in riesige Algenfarmen. Fast<br />

jede gewünschte Oberfläche kann heute mit künstlichen Mitteln<br />

erzeugt werden – auch solche, von denen niemand weiß,<br />

ob und wie sie sich der Mensch einmal zunutze machen wird.<br />

Und doch ist unsere Fähigkeit, Oberflächen richtig zu deuten,<br />

mit entscheidend für das Überleben auf unserem Planeten.<br />

Es lohnt also, einen Blick unter die Oberflächen der Welt zu<br />

werfen.<br />

D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />

17


FOTO: DAVID MAISEL


VERÄNDERTE<br />

WELTSICHTEN<br />

Gegenüber:<br />

David Maisel: Terminal Mirage<br />

980-1, 2003<br />

Seit 2003 fotografiert David<br />

Maisel die Landschaft des Großen<br />

Salzsees im US-Bundesstaat Utah.<br />

Kaum etwas lässt dabei den genauen<br />

Maßstab, den Ort oder die Zweckbestimmung<br />

des aufgenommenen<br />

Objekts erahnen. Vielmehr sind die<br />

Bilder Chiffren für den ständig wachsenden<br />

Einfluss des Menschen auf<br />

seine natürliche Umwelt.<br />

Galileo Galilei reichte eine kleine Apparatur,<br />

um das Weltbild der Menschheit zu<br />

verändern. Im Jahr 1609 richtete der italienische<br />

Mathematiker und Astronom eines<br />

seiner ersten selbstgebauten ‚Perspektivgläser’<br />

(heute würden wir ‚Teleskop’ dazu<br />

sagen) auf den Mond und erkannte, dass der<br />

Begleitstern der Erde keinesfalls die glatte,<br />

makellose Kugel war, die Aristoteles fast<br />

zwei Jahrtausende zuvor in seinen Theorien<br />

beschrieben hatte. In seiner Schrift ‚Über den<br />

Himmel‘ hatte der griechische Philosoph ein<br />

Weltbild entworfen, das bis ins 16. Jahrhundert<br />

Gültigkeit behalten sollte: Die Erde als<br />

unbewegliches Zentrum des Universums war<br />

demzufolge von konzentrischen Schichten<br />

umgeben – zunächst von den vier Elementen<br />

(Erde, Wasser, Luft und Feuer), dann von den<br />

Bahnen der sieben kugelförmigen Planeten<br />

Mond, Venus, Merkur, Sonne, Mars, Jupiter<br />

und Saturn. Jenseits des Mondes bestand<br />

das Universum aus einer ätherischen, unzerstörbaren<br />

‚Quintessenz’ (wörtlich: dem<br />

‚fünften Element‘), die sich nur in perfekten<br />

Kreisen bewegen konnte. Da alle Himmelskörper<br />

aus dieser Quintessenz bestünden,<br />

müssten sie naturgemäß eine perfekte und<br />

makellose Kugelform besitzen. 1<br />

Die Erkenntnisse Galileis stürzten nicht<br />

nur die katholische Kirche in ihre bis dato<br />

größte Krise, sondern markierten auch<br />

den Übergang von der transzendentalen,<br />

mystischen Auffassung des Lichts im Mittelalter<br />

zum wissenschaftlichen Lichtbegriff<br />

des modernen Zeitalters. Von der Inquisition<br />

verfolgt, musste Galilei seinen ketzerischen<br />

Lehren im Jahr 1633 abschwören.<br />

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass seine<br />

Schriften mehr als zwei Jahrhunderte auf<br />

dem Index verbotener Bücher des Vatikans<br />

standen und Galilei erst 1992 von Papst<br />

Johannes Paul II. offiziell rehabilitiert wurde.<br />

Hier zeigt sich die Bedeutung, die die Kirche<br />

der Interpretation des Lichts beimaß: Wenn<br />

das Licht nicht mehr göttlichen Ursprungs,<br />

sondern vielmehr eine profane Naturerscheinung<br />

und der Himmel nicht länger<br />

eine von der Erde losgelöste Sphäre wäre,<br />

wo sollte sich dann das Reich Gottes befinden?<br />

Abgesehen von der offensichtlichen<br />

Befürchtung, seine Deutungshoheit über<br />

Himmel und Erde einzubüßen, offenbarte<br />

sich in der Reaktion des Klerus auch ein allgemeines<br />

Problem menschlicher Wahrnehmung:<br />

Das Sehen allein reicht zum Erkennen<br />

nicht aus. Erkennen bedeutet, ein visuelles<br />

Bild mit einer dinglichen Vorstellung zu vergleichen,<br />

die im menschlichen Gehirn angelegt<br />

ist. Diese Erkenntnis ist keinesfalls neu.<br />

Schon die Philosophie von Aristoteles‘ Lehrer<br />

Plato gründete auf dieser Dualität von<br />

Phänomenen (die durch unsere Sinne wahrnehmbar<br />

sind) und Vorstellungen oder Ideen<br />

(denen allein durch den menschlichen Verstand<br />

Gestalt verliehen wird). Nach der<br />

Lehre Platos gehen die allgemeinen Ideen<br />

den Dingen voraus und sind von diesen unabhängig.<br />

Wo allgemeine Ideen fehlen, ist auch<br />

kein Verstehen bislang unbekannter Phänomene<br />

möglich, wie die Reaktionen zahlreicher<br />

Zeitgenossen Galileos beweisen:<br />

Sie schenkten weder seinen Erkenntnissen,<br />

geschweige denn seinen Schlussfolgerungen<br />

Glauben, nicht nur, weil sie diese<br />

als möglicherweise gefährlich betrachteten,<br />

sondern weil ihnen die Fähigkeit fehlte,<br />

diese Erkenntnisse mit ihrer Weltsicht zu<br />

vereinbaren. Die moderne Forschung belegt,<br />

dass sowohl Vorstellungskraft als auch tatsächliche<br />

Phänomene für die menschliche<br />

Wahrnehmung unabdingbar sind. So haben<br />

von Geburt an blinde Menschen, die nach<br />

jahrelangem Leben in Dunkelheit durch eine<br />

Operation Sehkraft erlangen, oft Schwierigkeiten,<br />

diesen neu gewonnenen Sinn zu<br />

nutzen. Sie erkennen zwar Bilder, Formen<br />

und Farben, können deren ‚Bedeutung’ aber<br />

kaum interpretieren, bevor sie diese nicht<br />

durch andere Sinne (hauptsächlich durch<br />

den Tastsinn) verifiziert haben.<br />

1<br />

s. Arthur Zajonc: Catching the Light. Oxford<br />

University Press 1993, S. 73–76.<br />

D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />

19


TERRA INCOGNITA:<br />

DER UNBEKANNTE PLANET<br />

Gegenüber:<br />

Vulkan Sakura-Jima, Kyushu,<br />

Japan<br />

An den Plattenrändern und<br />

Rissen der Erdkruste treten<br />

die gewaltigen Energiemengen<br />

zutage, die im Inneren unseres<br />

Planeten schlummern. Die Satelliten-Radaraufnahme<br />

zeigt den<br />

relativ jungen Vulkan Sakura-<br />

Jima, der auf einer Halbinsel in<br />

der Bucht von Kagoshima<br />

entstanden ist und seit 1955<br />

ohne Unterbrechung aktiv war.<br />

350 Jahre nach Entdeckung der Mondkrater<br />

markierten die ersten Weltraumflüge einen<br />

nicht minder wichtigen historischen Wendepunkt:<br />

Erstmals konnte der Mensch seinen<br />

Planeten als Ganzes betrachten – nicht<br />

nur anhand von Karten, Globen und anderen<br />

Modellen, sondern mit bloßem Auge. Seitdem<br />

wurden per Satellit immense Datenmengen<br />

über die Beschaffenheit der Erde<br />

gesammelt – angefangen von der Vegetation<br />

bis hin zur Luftverschmutzung oder zur<br />

Bewegung des grönländischen Inlandeises.<br />

Websites wie Google Earth ermöglichen es<br />

heutzutage, per Computer zu jedem noch so<br />

entlegenen Punkt auf der Erde zu ‚reisen‘ und<br />

diesen detailliert zu betrachten. Doch trotz<br />

der rapide wachsenden Zahl an wissenschaftlichen<br />

Beweisen, Modellen und Bildern fällt es<br />

uns schwer, eine konkrete Vorstellung von der<br />

Erdoberfläche und den gewaltigen, heute oft<br />

künstlich erzeugten Kräften zu entwickeln,<br />

die sie verändern. Dies zeigt sich an Bildern<br />

von Fotografen wie David Maisel. Seine<br />

Black Maps von hoch verseuchten Gebieten<br />

wie dem Great Salt Lake in Utah oder dem<br />

Owens Lake in Kalifornien zeigen zerklüftete,<br />

blasige Strukturen in Rot, Schwarz und<br />

Weiß, die nur schwer zu interpretieren sind,<br />

obgleich sie größtenteils durch Menschenhand<br />

entstanden. Was auf den ersten Blick<br />

schön erscheint, löst bei genauerem Hinsehen<br />

Entsetzen aus, wenn der Betrachter erfährt,<br />

was er auf den Bildern eigentlich sieht. „Die<br />

Erde blutet. Ein roter Fluss windet sich wie<br />

eine Schneise durch ein ausgebleichtes Tal zu<br />

einem See, der nicht mehr existiert. Aus der<br />

Luftperspektive wirken der Fluss und sein<br />

trockener Endpunkt wie Erscheinungen aus<br />

dem Jenseits“, schrieb Diana Gaston über<br />

Maisels Bilderserie Lake Project in der Zeitschrift<br />

‚Aperture‘ 2 . Maisel selbst beschreibt<br />

seine Werke an der Grenze zwischen Schönheit<br />

und Zerstörung so: „Mein Interesse gilt<br />

Bildern, die einerseits grausam oder abstoßend<br />

wirken, andererseits aber eine gewisse<br />

Formschönheit und emotionale Resonanz in<br />

sich tragen. Die Fotografien der Black Maps<br />

betrachte ich als Elegien verwüsteter Landschaften<br />

[....]. Aus der Luftperspektive können<br />

die kümmerlichen Überreste des Sees<br />

unterschiedlichste Gestalt annehmen: ein<br />

blutiger Strom, ein Mikrochip, eine durchtrennte<br />

Vene oder eine galaktische Karte.<br />

Wenn der Tod die Mutter der Schönheit ist,<br />

wie Wallace Stevens sagte, kann man das<br />

Lake Project als Autopsie des Sees verstehen<br />

– eine moderne Version der Erhabenheit,<br />

die ich höchst beeindruckend finde.” 3<br />

Während David Maisel die (zerstörte)<br />

Erdoberfläche durch ‚scheinbar schöne‘ Luftaufnahmen<br />

dokumentiert, dient sie dem britischen<br />

Bildhauer Andy Goldsworthy als<br />

Ausgangspunkt für seine zumeist vergänglichen<br />

Kunstwerke auf einer ganz anderen<br />

Maßstabsebene. Natürliche Materialien, die<br />

Goldsworthy meist ohne mechanische Hilfsmittel<br />

bearbeitet und sorgfältig neu arrangiert,<br />

zeugen in diesen Werken nicht von<br />

ökologischen Katastrophen, sondern erzählen<br />

von den leisen, langfristigen und oftmals<br />

subkutanen Veränderungen in unserer Kulturlandschaft.<br />

Laut Goldsworthy „ist die<br />

Natur von immenser Schönheit, gleichzeitig<br />

aber äußerst enervierend und manchmal<br />

durchaus erschreckend. Wer jemals in einem<br />

vom Sturm verwüsteten Wald stand oder<br />

Naturgewalten hautnah miterlebte, weiß,<br />

wovon ich rede. In der Natur trifft man allerorts<br />

auf Vernichtung, Absterben und Verfall,<br />

aber auch auf Wachstum und Leben. Manchmal<br />

fällt es schwer, mit dieser unglaublichen<br />

Lebenskraft und Energie umzugehen. Ich<br />

möchte die Natur keinesfalls romantisieren,<br />

sicher aber spüre ich deren Schönheit –<br />

eine Schönheit allerdings, die unterschwellig<br />

extreme Gefühle auslöst.“ 4<br />

Sowohl Maisels als auch Goldsworthys<br />

Werke sind so ausdrucksstark, dass sie eine<br />

nachhaltige Veränderung unserer Wahrnehmung<br />

der Umwelt bewirken und vermutlich<br />

auch unsere Einstellung zur Natur beeinflussen.<br />

Interessanterweise behauptet aber keiner<br />

der beiden Künstler, diesen Effekt auf den<br />

Betrachter bewusst erzielen zu wollen. „Auch<br />

wenn ich dies mit meinen Arbeiten nicht beabsichtige,<br />

richten sie doch das Augenmerk auf<br />

die Belange der Umwelt“, sagt Goldsworthy.<br />

„Ich weiß nicht, wie oder warum sie das tun,<br />

aber ich bin froh, dass es so ist. Doch wenn<br />

diese Wirkung auf den Betrachter zur Intention<br />

meiner Arbeit würde, würde das die<br />

Bedeutung der Werke als solche mindern.“ 5<br />

Ebenso schreibt Anne Wilkes Tucker über<br />

David Maisel: „Obgleich [er] die Misshandlung<br />

der Umwelt durch den Menschen verurteilt,<br />

gelten seine vorwiegenden Interessen<br />

ästhetischen und philosophischen Aspekten.<br />

Bestens vertraut mit den Ideen und Kunstwerken<br />

von Robert Smithson, stellt Maisel<br />

genau wie dieser den Prozess von Wahrnehmung<br />

und Erkenntnis in Frage.” 6<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

http://www.davidmaisel.com/<br />

fine_bl_lake_info.asp<br />

http://www.davidmaisel.com<br />

/infopages/inf_his.html<br />

Zitiert in einem Artikel von Oliver Lowenstein;<br />

siehe http://www.resurgence.org/resurgence/issues/lowenstein207.htm<br />

Lowenstein, s.o.<br />

http://www.davidmaisel.com/<br />

fine_bl_term_info.asp<br />

20 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


21<br />

FOTO: NASA JPL


22<br />

GARY SCHNEIDER


MATERIE UND METAPHER:<br />

DIE MENSCHLICHE HAUT<br />

Gegenüber:<br />

Gary Schneider: John In Sixteen<br />

Parts, 1995<br />

Wie in vielen seiner Porträts<br />

dekonstruiert Gary Schneider<br />

auch hier das menschliche<br />

Antlitz. Obwohl keine der Aufnahmen<br />

das Gesicht als Ganzes<br />

zeigt, ergänzen sich die Einzelansichten<br />

im Unterbewusstsein<br />

des Betrachters doch zu einem<br />

Gesamtbild.<br />

In ihrem Buch ‚Skin. Surface, Substance<br />

+ Design‘ schreibt Ellen Lupton: „Die Haut<br />

ist ein vielschichtiges und multifunktionales<br />

Organ, das unseren gesamten Körper<br />

bedeckt, sei sie dick oder dünn, fest oder lose,<br />

feucht oder trocken. Dank ihrer ‚Lernfähigkeit’<br />

reagiert die Haut auf Wärme und Kälte,<br />

leichte Berührung und Schmerz. Grenzenlos<br />

bekleidet sie unsere gesamte äußere Körperhülle<br />

und erstreckt sich bis in unsere inneren<br />

Organe. Sie ist sowohl lebendig als auch tot –<br />

ein selbstheilendes, selbsterneuerndes Material,<br />

dessen Außenhülle gefühllos und inert<br />

ist, dessen innere Schichten aber von Nerven,<br />

Drüsen und Kapillaren durchzogen sind.” 7<br />

Flächenmäßig gesehen ist die Haut unser<br />

größtes Körperorgan. Sie ist nicht nur verantwortlich<br />

für unseren Tastsinn, sondern<br />

dient auch anderweitig der Kommunikation<br />

mit der Umwelt: „Haut kann erröten oder verblassen,<br />

sich sträuben und schwitzen, blau<br />

vor Kälte oder rot vor Ärger und im metaphorischen<br />

Sinne grün vor Neid werden. Die Haut<br />

kommuniziert durch Hormonsignale – so<br />

genannte Pheromone –, die vermutlich durch<br />

spezielle Geruchszellen aufgenommen werden.”<br />

8 Die Haut schützt den menschlichen<br />

Körper gerade deshalb, weil ihre äußeren<br />

Schichten aus toten, komprimierten Zellen<br />

bestehen, durch Lipide zu einer wasserabweisenden<br />

Oberfläche zusammengefügt.<br />

Die vermutlich faszinierendste Eigenschaft<br />

der Haut ist ihre Fähigkeit der Selbstheilung:<br />

An Wundstellen bildet sich heilender Schorf,<br />

aktive Hautzellen wandern von den Rändern<br />

der Wunde zur Mitte und tragen zu deren<br />

Heilung bei.<br />

Auf Sonnenlicht reagiert die Haut unterschiedlich<br />

– durch Bräune und durch Rötung –,<br />

und diese Zwiespältigkeit reflektiert die Einstellung<br />

des Menschen zur Sonne, die seit<br />

jeher von einer Mixtur aus Anbetung und<br />

Furcht geprägt war. Die Hautfarbe (also ihr<br />

‚Dunkelungsgrad’) ist abhängig von Stärke<br />

und Art der hautimmanenten Melaninpigmente,<br />

die nicht nur genetisch bedingt sind,<br />

sondern auch von dem Maß der UV-Strahlung<br />

abhängen, der wir uns aussetzen. Die<br />

Anthropologen Nina Jablonski und George<br />

Chaplin fanden sogar heraus, dass sich die<br />

Hautfarbe von Urvölkern trotz ihrer vorhandenen<br />

genetischen Veranlagung in weniger<br />

als 1000 Jahren dauerhaft veränderte,<br />

wenn sie ihr Siedlungsgebiet in andere Breitengrade<br />

verlagerten. 9<br />

Melanin bestimmt nicht nur unsere Hautfarbe,<br />

sondern hat noch eine zweite Funktion:<br />

Es schützt die tieferen Hautschichten<br />

vor übermäßiger UV-Strahlung, die zu vorzeitiger<br />

Hautalterung führt und die Vitamin-B-Synthese<br />

spaltet. Andererseits ist<br />

ultraviolettes Licht notwendig für die Produktion<br />

von Vitamin D in unserem Körper, das<br />

seinerseits dafür sorgt, dass wir Calcium aus<br />

unserer Nahrung in unser Verdauungssystem<br />

aufnehmen können.<br />

Haut ist aber auch die ‚Leinwand‘, auf<br />

die jede Kultur ihren eigenen Begriff von<br />

Schönheit und sexueller Attraktivität projiziert.<br />

Diese Vorstellungen ändern sich mit<br />

der Zeit und variieren auch zwischen verschiedenen<br />

Gruppen innerhalb einer Gesellschaft.<br />

In den meisten westlichen Kulturen<br />

wird eine ‚gesunde’ Sonnenbräune als so<br />

attraktiv angesehen, dass hiervon ein ganzer<br />

Industriezweig – die Sonnenstudios – lebt. Im<br />

mittelalterlichen Europa und China hingegen<br />

war gebräunte Haut das Merkmal der Bauern<br />

und anderer Arbeiter unter freiem Himmel;<br />

der Adel legte daher Wert auf blasse Haut<br />

als Indikator für Wohlstand und griff hierfür<br />

sogar auf Blei und andere giftige Substanzen<br />

in Kosmetika zurück, „um den erlauchten weißen<br />

Teint zu erlangen, der für viele im sechzehnten<br />

Jahrhundert und später entstandene<br />

Porträts charakteristisch ist.“ 10<br />

Jugendliche, makellose Haut ist bereits<br />

seit der Antike ein gesellschaftliches Schönheitsideal.<br />

Ohne Unterlass wird sie von der<br />

Kosmetikindustrie propagiert; in der Werbefotografie<br />

werden Falten, Flecken, Härchen<br />

und Poren peinlich genau wegretuschiert.<br />

Andererseits sind Künstler seit den Zeiten<br />

Leonardo da Vincis und Dürers (die als ersten<br />

Maler gelten, die ältere Personen auf realistische<br />

Weise porträtierten) der Faszination<br />

darüber erlegen, was mit der Haut geschieht,<br />

wenn sie altert, beschädigt oder künstlich<br />

verändert wird.<br />

Neuerdings ermöglicht uns die Schönheitschirurgie<br />

sogar, den von Jablonski und<br />

Chaplin beschriebenen Adaptionsprozess zu<br />

beschleunigen: Innerhalb weniger Jahre können<br />

durch den Einsatz rein künstlicher Mittel<br />

‚schwarze’ Menschen zu Weißen werden,<br />

wie ein prominenter Vertreter aus der Welt<br />

des Pop beweist. Das ‚Tissue Engineering‘, ein<br />

Fachgebiet zur „Entwicklung biologischer<br />

Ersatzstoffe, die die Gewebefunktion wiederherstellen,<br />

erhalten, verbessern oder gar<br />

ganze Organe ersetzen“ 11 , ist einer der florierendsten<br />

Bereiche im medizinischen Sektor.<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

Ellen Lupton (Hrsg.): Skin. Surface, Substance<br />

+ Design. Smithsonian Institution / Princeton<br />

Architectural Press 2002, S. 23<br />

Jennifer Tobias in: Ellen Lupton (Hrsg.): Skin.<br />

Surface, Substance + Design, p. 44<br />

www.bgsu.edu/departments/chem/faculty/<br />

leontis/chem447/PDF_files/<br />

Jablonski_skin_color_2000.pdf<br />

http://en.wikipedia.org/wiki/<br />

Semiotics_of_Ideal_Beauty<br />

Langer, R & Vacanti JP, Tissue engineering.<br />

Science 260, 920-6; 1993<br />

D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />

23


Unten:<br />

Corpo Nove / <strong>Grado</strong> <strong>Zero</strong> <strong>Espace</strong> /<br />

Mauro Taliani: Oricalco, 2001<br />

Für dieses Hemd wurde ein<br />

Gewebe aus Titanlegierung<br />

entwickelt, das bei Temperaturveränderungen<br />

in eine vorprogrammierte<br />

Form übergeht.<br />

Das Hemd kann dadurch so eingestellt<br />

werden, dass es zum<br />

Beispiel bei Wärmeeinfluss<br />

automatisch die Ärmel ‚hochkrempelt‘.<br />

FOTO: GRADO ZERO ESPACE<br />

24 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


KÜNSTLICHE HÜLLEN UND<br />

‚INTELLIGENTE’ MATERIALIEN<br />

Der Einfluss menschlicher Haut und anderer<br />

natürlicher Hüllen auf Technologie, Design<br />

und Architektur ist vielfältig; er reicht von<br />

ihrer erotischen Anziehungskraft, Flexibilität<br />

und Weichheit bis zu ihren Fähigkeiten, sich<br />

der Temperatur und Lichteinwirkung anzupassen.<br />

Ellen Lupton schreibt: „Moderne<br />

Designer betrachten die Oberflächen von<br />

Produkten und Gebäuden als ähnlich komplex<br />

und multifunktional [wie die Haut]. Künstlich<br />

hergestellte ‚Hüllen’ sind hoch reaktionsfähige<br />

Substanzen, die die Bedeutung, Funktion<br />

und Dimension von Objekten modulieren.” 12<br />

Bis zu einem gewissen Grad finden sogar<br />

die selbstheilenden Eigenschaften der Haut<br />

Anwendung in der modernen Technik; so können<br />

beispielsweise Autolacke dank ihrer viskosen,<br />

zähflüssigen Konsistenz kleine Kratzer<br />

‚ausbügeln’. Anderes Beispiel sind ‚selbstheilende‘<br />

Hüllen für pneumatische Strukturen,<br />

auf deren Innenfläche eine dünne Schicht aus<br />

Polyurethanschaum aufgetragen wird. Bei<br />

Durchbohrung der Membran wird der PU-<br />

Schaum durch den Überdruck in der Kammer<br />

in das Loch gepresst und verschließt die<br />

undichte Stelle.<br />

Kleidung und Gebäude werden oft als<br />

zweite und dritte ‚ Häute’ des Menschen<br />

bezeichnet, die die Aufgabe haben, den<br />

menschlichen Körper zu schützen. Im Idealfall<br />

sollten sie daher ähnlich anpassbar sein wie<br />

unsere Haut. Entsprechende Möglichkeiten<br />

bietet die Entwicklung ‚intelligenter’ Materialien,<br />

die ihre Eigenschaften dem jeweiligen<br />

Umfeld anpassen, sobald sie wechselnden<br />

Einflüssen wie Wärme, Licht, Druck, elektrischen<br />

oder magnetischen Feldern ausgesetzt<br />

sind. Italienische Textiltechniker<br />

haben einen Stoff aus einer Form-Gedächtnis-Legierung<br />

(Shape Memory Alloy) entwickelt,<br />

der dafür sorgt, dass sich Hemdärmel<br />

bei einer bestimmten Temperatur automatisch<br />

hochziehen. In andere Kleidungsstücke<br />

werden Peltier-Elemente eingearbeitet, die<br />

unter Stromeinwirkung für aktive Kühlung<br />

sorgen. Die amerikanische ‚No Contact-Jacke’<br />

hält auf Knopfdruck mögliche Angreifer<br />

durch Erzeugung einer elektrischen Spannung<br />

auf ihrer Oberfläche ab. 13 Kluge Technik<br />

hat aber durchaus auch poetische Seiten:<br />

Die von dem italienischen Unternehmen Cute<br />

Circuit entwickelten ‚F+R Hugs’-T-Shirts<br />

werden im Doppelpack geliefert und kommunizieren<br />

mittels Bluetooth-Technologie<br />

miteinander. Wird ‚sein‘ oder ‚ihr‘ T-Shirt an<br />

einer bestimmten Stelle berührt, sorgen integrierte<br />

Stromleitungen im Shirt des Partners<br />

für eine ähnliche ‚Streichelbewegung’ an entsprechender<br />

Stelle.<br />

In einem Buch über den Ingenieur Werner<br />

Sobek vergleicht Werner Blaser den Bewohner<br />

eines traditionellen Hauses mit einem Einsiedlerkrebs,<br />

der seine Behausung immer dann<br />

wechselt, wenn sie zu klein oder zu groß wird<br />

oder ansonsten unangemessen ist. Blaser<br />

fragt dann: „Doch ist es richtig, in dieser veränderten<br />

und sich stets verändernden Welt<br />

‚konstant’ zu bauen? [...] Die physikalischen<br />

Eigenschaften unserer Gebäude sind konstant,<br />

obwohl die Innen- wie die Außenwelt<br />

permanent veränderlich auf sie einwirken.” 14<br />

Blasers Buch wurde 1999 veröffentlicht,<br />

und die Bautechnik hat seither viele Neuerungen<br />

erlebt. Dennoch ist das von Sobek in<br />

den 90er-Jahren entwickelte Konzept einer<br />

idealen Gebäudehülle auch heute noch aktuell.<br />

Anstatt die Hülle eines Gebäudes als multifunktionalen<br />

‚Allrounder’ zu betrachten,<br />

plädierte Werner Sobek dafür, sie ähnlich<br />

wie die menschliche Haut aus hochspezialisierten<br />

monofunktionalen ‚Zellen’ zusammenzusetzen,<br />

die jeweils unterschiedliche<br />

Aufgaben wie Lichtübertragung, Energieaufnahme<br />

oder Belüftung erfüllen. Abhängig<br />

von Budget und Verfügbarkeit könnten<br />

diese Zellen auf unterschiedlichem technischen<br />

Niveau produziert werden, angefangen<br />

von mechanisch oder elektromechanisch<br />

betriebenen Elementen bis hin zu solchen, die<br />

auf chemischer oder mikrobiologischer Basis<br />

arbeiten. Werner Sobek schreibt: „Adaptive<br />

Systeme und Mechanismen werden in<br />

wenigen Jahren ein fester Bestandteil des<br />

täglichen Lebens sein. Automatische, selbstlernende<br />

Abstandsregelungen bei Automobilen<br />

sind bereits heute verfügbar. Adaptive<br />

Herzschrittmacher, die nicht mit einer konstanten<br />

Frequenz arbeiten, sondern auf<br />

äußere physiologische Randbedingungen<br />

wie Bewegungen reagieren, sind genauso in<br />

der Entwicklung wie aktive Prothesen und<br />

Implantate mit sensorischen Funktionen [...]<br />

Adaptive Systeme zur Geräuschreduktion<br />

und Gläser mit variabler Lichttransmission<br />

werden im Bauwesen genauso selbstverständlich<br />

werden wie die aktive Beeinflussung<br />

von Kraftzuständen, Verformungen und<br />

Schwingungen, insbesondere bei den Tragwerken<br />

des Leichtbaus.”<br />

2004 konstruierten Werner Sobek und<br />

sein Assistent Markus Holzbach am ILEK-<br />

Institut der Universität Stuttgart den experimentellen<br />

Pavillon ‚Paul’, um das Potenzial<br />

adaptiver Materialien im Bauwesen zu<br />

demonstrieren. ‚Paul’ ist eine kokonartige<br />

Leichtbaustruktur, deren Hülle aus mehreren<br />

Membranschichten besteht. Diese übertragen<br />

nicht nur Tageslicht und strahlen künstliches<br />

LED-Licht aus, sondern sorgen auch für<br />

eine adäquate Wärmeisolierung durch einen<br />

neuartigen, keramischen Werkstoff und speichern<br />

die Sonnenwärme in einem PCM-Material.<br />

(Bei solchen Speicherstoffen handelt es<br />

sich um mikroverkapselte Paraffine, die bei<br />

Wärmeeinwirkung von festem in flüssigen<br />

Zustand übergehen und somit die Wärmeenergie<br />

speichern können, ohne ihre Temperatur<br />

zu verändern.) Pauls Außenhaut ist<br />

zwar nur 1,4 Zentimeter dick, ihre thermische<br />

Masse entspricht jedoch einer 15 Zentimeter<br />

starken Massivwand. Technisch gesehen ist<br />

die Konstruktion des Pavillons äußerst simpel;<br />

die einzelnen Segmente sind nur durch<br />

Klettverschlüsse verbunden und können<br />

problemlos manuell montiert und demontiert<br />

werden. 15<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

Ellen Lupton (Hrsg.): Skin. Surface, Substance<br />

+ Design, S. 23<br />

Axel Ritter: Smart Materials. Birkhäuser Verlag<br />

2007, S. 16-19<br />

Werner Blaser: Werner Sobek. Ingenieurkunst.<br />

Birkhäuser Verlag 1999, S. 50<br />

http://www.tec21.ch/pdf/<br />

tec21_4120052942.pdf<br />

25


PURISMUS UND ORNAMENTIK<br />

IN DER MENSCHLICHEN<br />

ZIVILISATION<br />

Gegenüber:<br />

SANAA: Dior Omotesando, Tokio,<br />

2003<br />

Mit dem Dior-Flagshipstore<br />

schufen SANAA eine Ikone des<br />

sinnlichen Minimalismus, mit dem<br />

sich viele Mode- und Kosmetikhersteller<br />

seit den 90er-Jahren<br />

umgeben. Die milchig schimmernde<br />

Fassade besteht aus einer<br />

äußeren, glatten Glashülle und<br />

einer inneren Fassadenschicht<br />

aus Acryl, die wie die Falten eines<br />

Gewandes gewellt wurde.<br />

FOTO: SHINKENCHIKU-SHA<br />

Den meisten Architekten dürfte Adolf Loos’<br />

Verachtung für Verzierungen bekannt sein,<br />

die er in seinem Essay ‚Ornament und Verbrechen‘<br />

von 1908 als Zeichen für Degeneration<br />

und Verderbtheit bewertet. Eines seiner<br />

Lieblingsbeispiele sind die auffälligen Tätowierungen<br />

indigener Völker, die nach Loos’<br />

Ansicht nicht denselben Grad an Moral und<br />

Zivilisation erreicht haben wie der moderne<br />

Mensch. Loos schrieb: „Der moderne Mensch,<br />

der sich tätowiert, ist entweder kriminell<br />

oder entartet.” Ähnliche Attribute gelten<br />

Loos zufolge für jede stark ornamentierte<br />

Architektur. 99 Jahre nach Ornament und<br />

Verbrechen hat sich diese Einstellung ganz<br />

offensichtlich geändert: „Heutzutage sind<br />

Tattoos hip und zieren den Körper etlicher<br />

Promis wie Angelina Jolie, Gwyneth Paltrow<br />

und Supermodel Linda Evangelista“, schreibt<br />

Pernilla Holmes 2001 in einem Bericht über<br />

eine Tätowierungsmesse 16 und fährt fort:<br />

„Außerdem sind und bleiben Tattoos provokanter<br />

Ausdruck von Individualität, um sich<br />

von der Masse abzuheben.” Gleiches gilt für<br />

die moderne Architektur, in die das Ornament<br />

mit Macht zurückgekehrt ist. Hierfür<br />

gibt es vor allem zwei Gründe: Zum einen<br />

wurden neue Herstellungsprozesse entwickelt,<br />

die eine wirtschaftliche Produktion<br />

ornamentierter Flächen in Einzelanfertigung<br />

ermöglichen (ein unbedingtes Muss,<br />

wenn Oberflächen ein ‚provokanter Ausdruck<br />

von Individualität’ sein sollen), zum<br />

anderen hat der Trend zum Ornament viel<br />

mit den durchlässig gewordenen Grenzen<br />

zwischen Architektur und anderen Kunstgattungen<br />

zu tun.<br />

Als Alternative zum Ornament setzte<br />

Adolf Loos auf die Ästhetik edler Materialien<br />

wie warmem Holz und Naturstein oder auch<br />

den Glanz von Metall, der im Laufe der Zeit<br />

von einer edlen Patinaschicht überzogen<br />

wird. Eine ähnliche, in vielerlei Hinsicht auch<br />

heute noch aktuelle Bewegung entstand in<br />

den späten 80er-Jahren, als Architekten<br />

begannen, sich von den semantischen Extremen<br />

des Dekonstruktivismus und Postmodernismus<br />

abzuwenden. Im Gegensatz zu<br />

deren Formbesessenheit befasste sich eine<br />

neue, vor allem in der Schweiz beheimatete<br />

Architektengeneration mit Materialien und<br />

deren Beziehung zum Ort eines Gebäudes<br />

und dessen spezifischen Lichtverhältnissen.<br />

Andreas Ruby hat darauf hingewiesen,<br />

dass dieser neue Materialismus, der später<br />

als ‚minimalistisch’ bezeichnet wurde,<br />

fest in der kalvinistischen Tradition der<br />

Schweiz verankert ist: Er diente nicht der<br />

ostentativen Zurschaustellung von Wohlstand,<br />

sondern investierte Arbeit und Geld<br />

in das demonstrative ‚Nicht-Zeigen’ von<br />

Verzierungen und Details. Interessanterweise<br />

prägt eine entschieden puristische,<br />

sinnliche Variante des Minimalismus seit<br />

Mitte der Neunziger das kreative Selbstverständnis<br />

vieler Luxus-Modedesigner<br />

wie Armani und Prada. Für diese Entwicklung<br />

gibt es zwei Gründe: Erstens bauen<br />

die Modehäuser auf Understatement und<br />

bevorzugen eine museumsähnliche Atmosphäre<br />

zur Präsentation ihrer Kreationen;<br />

zweitens legte die Modeindustrie (die schon<br />

damals zu einer ‚Schönheitsindustrie’ mit<br />

Kosmetika und Accessoires mutiert war)<br />

eine wahre Besessenheit mit der Reinheit<br />

ihrer Oberflächen, inklusive der architektonischen,<br />

an den Tag. In seinem Essay Alabasterhaut<br />

von 1993 sinnierte Wiel Arets über<br />

dieses Verhältnis zwischen Purismus und<br />

Realität, wobei er Vergleiche zog zur Dualität<br />

zwischen architektonischen Ideen und<br />

der Realität des gebauten Objekts: „Architektur<br />

könnte als ein Wunsch nach Reinheit<br />

betrachtet werden, als Streben nach<br />

Vollendung. Die Hauptfarbe Weiß markiert<br />

einen Prozess, in dem das Unentscheidbare<br />

respektiert wird; es geht nicht um bedeutungsvoll<br />

oder bedeutungslos. Das Weiß<br />

des frisch gefallenen Schnees im Morgenlicht,<br />

das Weiß einer makellosen Haut, das<br />

Weiß von Papier, auf dem der Entwurf<br />

skizziert wird – Weiß ist überall und kann<br />

als Farbe des Ursprungs und des Anfangs<br />

betrachtet werden. [...] Architektur ist<br />

unbefleckt. Ihre ganze Logik wagt etwas,<br />

das nur von kurzer Dauer ist. Sie erscheint<br />

nur, um wieder zu verschwinden. [...] Sie<br />

beschenkt uns kurze Zeit mit Frische und<br />

Reinheit, aber nur, um diese Eigenschaften<br />

gerade dadurch wieder zu verlieren, indem<br />

sie uns diese anbietet. Architektur ist deshalb<br />

ein Dazwischen, eine Membran, eine<br />

Alabaster-Haut, undurchsichtig und durchsichtig<br />

zugleich, bedeutungsvoll und bedeutungslos,<br />

wirklich und unwirklich. Um sie<br />

selbst zu werden, muss Architektur ihre<br />

Unschuld verlieren; sie muss eine gewaltsame<br />

Verletzung akzeptieren. Sie kann nur<br />

Teil der Wirklichkeit werden, indem sie mit<br />

ihrer Umgebung eine Verbindung eingeht.“<br />

16<br />

http://www.artnet.com/magazine/reviews/<br />

holmes/holmes7-23-01.asp<br />

26 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


28 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />

FOTO: NOX


SEHEN UND ERKENNEN:<br />

EINIGE REFLEKTIONEN ÜBER<br />

PROJEKTIONEN<br />

Gegenüber:<br />

NOX / Q.S. Serafijn: D-tower,<br />

Doetinchem, 2004<br />

Diese Großskulptur ändert ihre<br />

Farbe entsprechend den Emotionen<br />

der Einwohner, die über<br />

eine Internet-Umfrage erfasst<br />

werden. Sein Entwerfer Lars<br />

Spuybroek bezeichnet den<br />

Turm als „Umkehr des Wegs zur<br />

Abstraktion“: ein konkretes<br />

Objekt, das eine kaum zu greifende<br />

öffentliche Sphäre repräsentiert.<br />

Als die Gebrüder Lumière im Jahr 1895 in<br />

Paris einen der ersten Stummfilme der Welt<br />

vorführten – einen in einen Bahnhof einfahrenden<br />

Postzug – reagierten die Zuschauer<br />

auf diese neue Erfahrung ähnlich wie im wirklichen<br />

Leben: Sie wichen vor dem scheinbar<br />

sich nähernden Zug zurück, manche flüchteten<br />

sogar aus dem Raum. Heute wäre es<br />

schwierig, wenn nicht gar unmöglich, durch<br />

einen Film ähnliche Reaktionen beim Publikum<br />

auszulösen. Ebenso wie mit jedem anderen<br />

Medium hat der Mensch auch mit dem<br />

Medium Film ‚umzugehen‘ gelernt.<br />

Dennoch hat die Erfindung beweglicher<br />

Bilder die visuelle Wahrnehmung im 20. Jahrhundert<br />

geprägt. Der französische Philosoph<br />

Paul Virilio behauptet, dass sich sogar die<br />

menschliche Auffassung von Transparenz<br />

wandelte 17 : von der Darstellung dessen, was<br />

sich hinter der Oberfläche verbirgt, zur Darstellung<br />

dessen, was uns der Filmregisseur<br />

und sein Kameramann (oder der Grafikdesigner)<br />

sehen lassen möchten. Ein Fernsehbild<br />

verdeutlicht dies: Jedem Betrachter ist<br />

bewusst, dass er nichts als rote, grüne und<br />

blaue Lichtpunkte auf einer Glasscheibe<br />

sieht. Dennoch rückt dieses Faktum beim<br />

Fernsehen in den Hintergrund, ebenso wie<br />

die Tatsache, dass wir überhaupt auf einen<br />

Bildschirm schauen.<br />

In seinen Büchern ‚Lost Dimension‘ und<br />

‚Die Sehmaschine‘ aus den frühen 90er-Jahren<br />

beklagt Paul Virilio, dass die Menschheit<br />

ihr ursprünglich unmittelbares Sehbewusstsein<br />

verloren habe, mit anderen Worten, dass<br />

sich unsere Wahrnehmung der materiellen<br />

Objektwirklichkeit zu einer mittelbaren Realität<br />

ähnlich wie im Film verschoben habe.<br />

Laut Virilio gibt es kein ‚Sehen’ mehr, sondern<br />

nur noch ein ‚Wieder-Sehen’: Wir nehmen nur<br />

das wahr, was das ‚Auge’ der Kamera zuvor<br />

gesehen oder was der Animationskünstler<br />

entworfen hat. Bei modernen ‚Sehmaschinen’<br />

wurde der natürliche Lichtfluss durch<br />

Elektrodenstrahlen ersetzt, und in der Computergrafik<br />

wird sogar die Sichtrichtung<br />

umgekehrt: Durch Raytracing erzeugte Bilder<br />

basieren nicht auf den von Lichtquellen<br />

ausgesandten Strahlen, sondern vielmehr auf<br />

(virtuellen) Sehstrahlen’, die vom Auge ausgehen<br />

und durch unterschiedliche Oberflächen<br />

reflektiert, gebrochen oder absorbiert<br />

werden. Bereits vor mehr als zweitausend<br />

Jahren versuchte Aristoteles, das menschliche<br />

Sehvermögen mit einem ähnlichen (später<br />

aber verworfenen) Modell zu erklären,<br />

demgemäß das Auge winzige Lichtstrahlen<br />

ausstoße, die unsere Umgebung erhellen und<br />

diese somit für uns sichtbar machen.<br />

In modernen Städten hat unser Auge heutzutage<br />

kaum mehr Gelegenheit zum kontemplativen<br />

Sehen. Stattdessen wird es ständig<br />

und überall von wechselnden Bildern, grellen<br />

Farben und schnellen Bewegungen gefangen<br />

genommen. Symptome dieses Wettlaufs<br />

um Aufmerksamkeit sind die Entwicklung der<br />

Medienfassade und die inflationäre Verbreitung<br />

von Bildschirmen aller Art in unserer<br />

gebauten Umwelt. Gemäß dem Prinzip ‚viel<br />

Bild, wenig Worte, großer Effekt‘ 18 appellieren<br />

solche Flächen an unseren angeborenen<br />

Orientierungsreflex – eine Art Überlebensmechanismus,<br />

der unsere Aufmerksamkeit<br />

sofort auf jedes große, auffällige und bewegliche<br />

Objekt in unserem Umfeld lenkt. Videoleinwände<br />

und Medienfassaden sind die bislang<br />

letzte Stufe in der zunehmenden Entfremdung<br />

von Gebäudeoberflächen und -inhalten,<br />

die in den letzten Jahren zu beobachten war.<br />

Dynamische Lichteffekte und bewegte Bilder<br />

haben unseren Gebäuden eine neue Bedeutungsebene<br />

verliehen und den Architekten<br />

und Gebäudebetreibern neue Mittel an die<br />

Hand gegeben, um Atmosphären zu schaffen<br />

und einen sinnvollen Dialog mit dem Nutzer<br />

zu etablieren – aber auch, um den bereits allgegenwärtigen<br />

‚Informationsüberfluss’ noch<br />

zu steigern.<br />

Lars Spuybroeks illuminierter ‚D-Tower’<br />

in der niederländischen Stadt Doetinchem,<br />

dessen Farbe entsprechend den Stimmungen<br />

und Emotionen der Stadtbewohner wechselt<br />

(die ihrerseits per Website ermittelt werden),<br />

ist nur ein Beispiel für einen bewusst spielerischen<br />

Dialog zwischen Gebäuden und<br />

öffentlichem Leben. Im Gegensatz zu herkömmlichen<br />

Medienfassaden senden dieser<br />

Turm und ähnliche Installationen keine vorgefertigten<br />

‚Botschaften‘ an ein anonymes<br />

Publikum; vielmehr ist (zumindest potenziell)<br />

jeder Betrachter zugleich ein Absender.<br />

Letztlich sind diese Installationen Experimentieranordnungen,<br />

mit denen erforscht<br />

werden kann, wie neue Kommunikationswege<br />

in der Öffentlichkeit aufgenommen<br />

werden. In den meisten Fällen ist die Wahrnehmung<br />

eines neuartigen Mediums nämlich<br />

nur so lange besonders attraktiv, wie es neu<br />

ist. Langfristig werden die inhaltliche Qualität,<br />

die Gestaltung sowie das Potenzial eines<br />

bestimmten Mediums, unsere Lebensqualität<br />

zu steigern, entscheidend. Inhaltliche<br />

Qualität hat hierbei wenig mit ‚Hoch’- oder<br />

‚Populär’-Kultur zu tun: Sie muss vor allem<br />

vereinbar sein mit den Erwartungen des<br />

Anwenders und den Möglichkeiten, die das<br />

Medium bietet.<br />

17<br />

Paul Virilio: Sehen, ohne zu sehen.<br />

Benteli Verlag Bern 1991<br />

18<br />

Wolfgang Lanzenberger: Medien zwischen-<br />

Himmel und Erde; see http://regisseur.<br />

wolfgang-lanzenberger.de/filmografie/pub_<br />

mediafassade.html<br />

29


VERFÜGBARKEIT UND<br />

VERANTWORTUNG<br />

Die bislang angeführten Beispiele lehren uns<br />

zweierlei: Erstens lassen sich von Oberflächen<br />

nicht mehr zwangsläufig Rückschlüsse<br />

auf die darunter liegenden Strukturen oder<br />

die physikalischen Eigenschaften eines<br />

Objekts ziehen. Aus der Ferne betrachtet<br />

kann selbst Umweltverschmutzung<br />

ästhetisch wirken, schwarze Haut kann in<br />

weiße verwandelt werden, hart aussehende<br />

Gegenstände erweisen sich als weich,<br />

und augenscheinlich solides Mauerwerk<br />

ist in Wirklichkeit nur eine wenige Zentimeter<br />

dünne Verkleidung. Zweitens haben<br />

uns Wissenschaft und Technik in die Lage<br />

versetzt, die Erdoberfläche radikal zu verändern<br />

und nach unseren Vorstellungen zu<br />

gestalten, anstatt umgekehrt unsere Vorstellungen<br />

– ähnlich wie es die Zeitgenossen<br />

Galileis noch mussten – an scheinbar<br />

unverrückbare Realitäten anzupassen. Die<br />

Verantwortung, die dies mit sich bringt, ist<br />

offensichtlich. Nur ein kritisches Bewusstsein<br />

erlaubt uns, wirkliche Innovationen von<br />

kosmetischen Veränderungen zu unterscheiden<br />

und diese Neuerungen auch sinnvoll einzusetzen.<br />

Falsche Mythen und Trugbilder<br />

sind in unserer Welt (auch in der Architektur)<br />

allgegenwärtig. Schon Hans Christian<br />

Andersen erkannte dies, als er ‚Des Kaisers<br />

neue Kleider‘ schrieb. Der Schlüsselinhalt<br />

dieser Geschichte ist nicht die Tatsache,<br />

dass zwei Betrüger verkünden, dem Kaiser<br />

die schönsten und feinsten Kleider weben zu<br />

können, sondern dass sie behaupten, diese<br />

seien nur für denjenigen sichtbar, der hierfür<br />

intelligent genug sei. Am Ende spricht<br />

ein Kind, dem derlei Eitelkeit gewiss fremd<br />

sein muss, die Wahrheit aus: „Aber der Kaiser<br />

hat ja gar nichts an!“<br />

Es ist gelegentlich hilfreich, sich mit derselben<br />

kindlichen Skepsis eine Reihe simpler<br />

Frage zu stellen: Wie viel Energie wollen<br />

wir darauf verwenden, unsere (ersten, zweiten<br />

und dritten) ‚Häute’ attraktiv und anpassungsfähig<br />

zu machen, wenn die gleiche<br />

Wirkung womöglich mit viel einfacheren<br />

Mitteln zu erreichen ist? Wem nutzen gut<br />

gestaltete Autos und Fassaden, wenn die<br />

darunter liegende Maschinerie zu viele oder<br />

die falschen Ressourcen verbraucht? Und<br />

was geschieht mit diesen ‚Häuten‘, wenn<br />

sie einmal abgeworfen sind? Enden sie auf<br />

Schutthalden oder werden sie einem Recycling-<br />

und Wiederverwertungssystem zugeführt,<br />

in dem nichts verloren geht?<br />

Auf diese Fragen werden wir in unserer<br />

hochkomplexen Welt meist keine eindeutigen<br />

Antworten bekommen. Die Fragen<br />

können uns aber dabei unterstützen, Neues<br />

ebenso wie scheinbar Selbstverständliches<br />

auf Herz und Nieren zu prüfen. Der amerikanische<br />

Architekt James Wines schrieb an<br />

der Schwelle zum neuen Jahrtausend: „Das<br />

einundzwanzigste Jahrhundert als ökologisches<br />

Zeitalter ist eine Zeit des Übergangs.<br />

Für das Selbstverständnis einiger Architekten<br />

mag dies wie eine Plage erscheinen,<br />

die ihre gefestigten Vorstellungen, stilistischen<br />

Präferenzen und gewohnheitsmäßigen<br />

Arbeitsmethoden ins Wanken<br />

bringt. Für andere hat es sich als Gelegenheit<br />

zur Entwicklung neuer revolutionärer<br />

und ressourcenschonender Technologien<br />

erwiesen. Wieder andere, zum Nachdenken<br />

fähige Architekten sehen hierin die Chance,<br />

ein tieferes Bewusstsein für den Zustand<br />

unserer Erde zu erlangen und die Grundprinzipien<br />

der Architektur durch Einbindung von<br />

Kunst, Philosophie, Technologie und natürlichen<br />

Systemen zu überdenken. Diese dritte,<br />

vermutlich einflussreichste Gruppe hat aber<br />

immer wieder mit immensen Herausforderungen<br />

zu kämpfen, die ein ständiges Abwägen<br />

und Infragestellen erfordern. Sie vertritt<br />

letztendlich vielleicht Konzepte, die dem<br />

herkömmlichen Verständnis von Religion,<br />

Wirtschaft und Politik zuwiderlaufen und<br />

viele Aspekte der Baukunst in Frage stellen,<br />

die sich seit dem Aufkommen der industriellen<br />

Revolution bewährt haben.” 19<br />

Die Chancen, die dies mit sich bringt, liegen<br />

auf der Hand. Doch James Wines erkennt<br />

auch die Fallstricke der ‚schönen grünen Welt’:<br />

„… die Attribute ‚grün’ und ‚nachhaltig’ werden<br />

mittlerweile so übergreifend und allgemein<br />

angewandt, dass sie ungeachtet ihrer<br />

einstigen Aussagekraft und Legitimität [...]<br />

im Sinne der Schriftstellerin Cathy Ho nur<br />

noch als ‚green washing’ oder ‚Grünfärberei‘<br />

zu verstehen sind. Offenbar macht sich jeder<br />

ein grünes Mantra zu eigen, um sein soziales<br />

Bewusstsein und seine politische Korrektheit<br />

zu beweisen. […] Das ‚Grünsein’ wurde<br />

zum neuen Gütesiegel jedes guten Haushalts<br />

– angefangen von Baustoffen bis hin<br />

zu Müsli, Toilettenpapier und Kondomverpackungen.“<br />

20 James Wines’ Aufruf zu neuer<br />

Skepsis in der Umweltfrage mag ketzerisch<br />

klingen, trifft aber den Kern der Dinge. Nur<br />

die fortwährende kritische Beurteilung dessen,<br />

was sich unter der ‚Haut’ unserer materiellen<br />

Welt abspielt, wird uns in die Lage<br />

versetzen, unsere Zukunft selbst in die Hand<br />

zu nehmen.<br />

19<br />

James Wines: Green Architecture.<br />

Taschen Verlag, 2000<br />

20<br />

James Wines in: [ark] 1-2007,<br />

März 2007<br />

30 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


INTERVIEWS<br />

01<br />

Roberto<br />

Casati<br />

02<br />

03<br />

04<br />

Nina<br />

Jablonski<br />

05<br />

Gary<br />

06<br />

Schneider<br />

Aziz +<br />

Cucher<br />

09<br />

10<br />

Kengo<br />

Kuma<br />

11<br />

Ulrike<br />

12<br />

Brandi<br />

13<br />

David<br />

Maisel<br />

A.S.<br />

Raghavendra<br />

Ellen<br />

Lupton<br />

Thea<br />

Bjerg<br />

Dietmar<br />

Eberle<br />

Steven<br />

Scott<br />

Michael<br />

Bleyenberg<br />

07 08<br />

31


01<br />

Roberto<br />

Casati<br />

Roberto Casati, Forschungsleiter<br />

des Staatlichen Instituts für Forschung<br />

und Entwicklung (CNRS) in<br />

Paris, lehrt an der Universität IUAV<br />

in Venedig. 1985 schloss er sein Diplomstudium<br />

der Sprachphilosophie<br />

an der Universität Mailand ab, zusammen<br />

mit Andrea Bonomi, unter<br />

dessen Leitung er 1991 im Fachbereich<br />

Philosophieforschung promovierte.<br />

Im selben Jahr erhielt er an der<br />

Universität Genf ein Forschungsdoktorat;<br />

hier arbeitete er mit Kevin Mulligan<br />

zusammen und beschäftigte<br />

sich mit Farb- und Lautlehre. Sein<br />

Buch ‚Die Entdeckung des Schattens‘<br />

wurde in sieben Sprachen übersetzt<br />

und mit diversen Literaturpreisen<br />

ausgezeichnet (Premio Fiesole, Premio<br />

Castiglioncello und Prix de La<br />

Science Se Livre).<br />

www.shadowes.org<br />

Herr Casati, was haben die Kultur, in der Sie aufgewachsen<br />

sind, und Ihre Ausbildung Ihnen über<br />

Licht vermittelt?<br />

Welche Eigenschaften des Lichts haben Sie selbst<br />

entdeckt, die Sie faszinieren?<br />

In Italien, wo ich geboren und aufgewachsen bin, müssen sich die Menschen<br />

oft eher vor dem Licht schützen, als es zu suchen. Meistens sind die in dicke<br />

Hausmauern eingelassenen Fenster recht klein, und fast immer sind sie mit<br />

Rollläden oder Vorhängen versehen. Hier wird das Licht weniger als Ressource,<br />

sondern vielmehr als Problem betrachtet. In den Ländern nördlich der Alpen<br />

gilt das Gegenteil. In Paris wohne ich in einem Gebäude, dessen Wahrzeichen<br />

Licht und Helligkeit sind: Le gratte ciel n° 1, der erste von Edouard Albert in<br />

Frankreich errichtete Wolkenkratzer, zeichnet sich durch große Glasfronten,<br />

leichte Mauerstrukturen und nach außen aufgehende Fenster aus. Trotzdem<br />

wohne ich – was einerseits widersprüchlich erscheinen mag, andererseits seinen<br />

Ursprung in meinem cis- und transalpinen ‚Doppelleben‘ hat – unten im<br />

zweiten Stock nach Nordwesten, und einer meiner Wohnräume hat überhaupt<br />

kein Fenster (da der Wolkenkratzer in der Talmulde der Bièvre liegt, sind die<br />

rückwärtigen Untergeschosse fensterlos).<br />

Diese nicht nur geografische, sondern auch kulturelle Wasserscheide<br />

spiegelt sich meines Erachtens auch in der Umweltpolitik und unterschiedlichen<br />

Bauplanung im Norden und Süden Europas wider. Zu einem der interessantesten<br />

Forschungsprojekte der Zukunft gehört für Architekten sicherlich<br />

die Aufwertung des Lichts in südlichen Breiten zum Zweck seiner künstlerischen<br />

und ökonomischen Nutzung – kurz gesagt, das Licht als Ressource<br />

und nicht als Problem anzusehen.<br />

Ein wichtiger Aspekt meiner Forschung sind die informativen Eigenschaften<br />

des Lichts. Im Gegensatz zu bestimmten Grundmerkmalen, die sich aus der<br />

Interaktion zwischen Licht und Materie ergeben, handelt es sich hierbei um<br />

höherrangige Eigenschaften. Sie sind vom Vorhandensein diverser Objekte in<br />

der Umgebung sowie davon abhängig, wie diese das Licht reflektieren und dadurch<br />

unterschiedliche, facettenreiche Muster schaffen. Bei meiner jüngsten<br />

Studie spielt der Schatten innerhalb dieser informativen Strukturen eine wichtige<br />

Rolle. Die Kontraste zwischen Licht und Schatten sind eine sehr einfache<br />

Art der Information (on/off) und ermöglichen uns die visuelle Wahrnehmung<br />

eines dreidimensionalen Raums und der Anordnung der darin befindlichen<br />

Objekte.<br />

Zur Rekonstruktion der wahrgenommenen Welt nutzt unser Sehvermögen<br />

in erster Linie die Informationen, die an den Grenzen zwischen einzelnen<br />

Oberflächen zu Tage treten. Dies hat einen entscheidenden Vorteil: Da sich<br />

das Licht in einer Umgebung niemals völlig gleichmäßig verteilt, sondern fast<br />

immer graduell abgestuft ist, würden wir, wenn sich unsere Sehkraft auf das<br />

Licht fernab der Flächengrenzen konzentrierte, Informationen erhalten, die<br />

weniger die Oberflächen, sondern vor allem das Umgebungslicht beträfen.<br />

Ein Beispiel: Die Mitte eines weißen Papiers in größerer Entfernung von einer<br />

Lichtquelle könnte weniger Licht reflektieren als die Mitte eines schwarzen<br />

Papiers in Lichtnähe. An der Grenze zwischen dem weißen und dem schwarzen<br />

Papier hingegen verteilt sich das Umgebungslicht recht gleichmäßig und<br />

erlaubt einen zuverlässigen (nicht absoluten, sondern relativen) Vergleich zwischen<br />

den Flächen.<br />

In der Darstellung von Adelson (gegenüber) reflektieren die Felder a und b<br />

exakt die gleiche Lichtmenge. Unser Sehsystem aber ist in der Lage, die Intensität<br />

des vom Zylinder geworfenen Schattens mit einzuberechnen und die Farbe<br />

der Felder a und b dem Rest des Schachbrettmusters anzugleichen.<br />

32 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


EDWARD H. ADELSON<br />

Schatten komplizieren unsere Wahrnehmung, da unser Sichtfeld lernen muss,<br />

zwischen einer lichtbedingten Grenze (eines Schattens) und einer lichtunabhängigen<br />

Grenze (zwischen einem weißen und einem schwarzen Papier) zu<br />

unterscheiden. Wäre dies nicht möglich, würden wir Schatten als permanente<br />

Objekteigenschaften wahrnehmen. Seltener Gegenbeweis ergibt sich, wenn<br />

die Lichtgrenze mit einer lichtunabhängigen Grenzlinie übereinstimmt. In diesem<br />

Falle ist unser Wahrnehmungssystem gestört. Daher riet Leonardo anderen<br />

Malern davon ab, eine Linie um Schatten zu ziehen.<br />

Sie haben einen großen Teil Ihrer Forschung den<br />

Fehleinschätzungen und Täuschungen gewidmet,<br />

denen unsere Sinne unterliegen. Sind nach Ihrer Erfahrung<br />

einige Sinne leichter zu täuschen als andere?<br />

In Ihrem Buch ‚Die Entdeckung des Schattens’ berichten<br />

Sie von der Hypothese, dass Kinder eine<br />

angeborene Vorstellung davon haben, was ein Objekt<br />

ist, aber nicht davon, was ein Schatten oder<br />

eine Projektion sind. Was, so glauben Sie, sind die<br />

Gründe für diesen Unterschied?<br />

Der Mensch hat lange gebraucht, um die Eigenart<br />

von Schatten zu verstehen, und lange Zeit waren<br />

Schatten mit Mythen und Glaubensinhalten verbunden.<br />

Was bleibt heute noch von diesen Mythen?<br />

Die Erforschung von Wahrnehmungsillusionen (wie oben von Adelson demonstriert)<br />

ist wichtiger Bestandteil der Studien psychologischer Wahrnehmung.<br />

Eine Rangfolge der Sinne kann man meines Erachtens nicht festlegen. Zwar<br />

haben Philosophen lange Zeit die Meinung vertreten, dass der Tastsinn der sicherste<br />

Sinn sei, aber ebenso wie visuelle Illusionen gibt es auch solche taktiler<br />

Art. Neuerdings wird auch die Klassifizierung der Sinne in Zweifel gezogen. Für<br />

die exakte Definition eines ‚Sinnes‘ gibt es keine stabilen Kriterien. Wir wissen<br />

nicht, ob Fledermäuse ‚die Formen fühlen‘ oder ‚mit den Ohren sehen‘. Die Unterscheidung<br />

zwischen den Sinnen basiert auf unserem Menschenverstand, kann<br />

aber sicherlich keine wissenschaftlich fundierte Differenzierung sein.<br />

Heutige Erkenntnisse zum Objektbegriff verdanken wir vor allem der Psychologin<br />

Elizabeth Spelke in Harvard, die eine einfallsreiche Methodik entwickelte,<br />

um zu verstehen, wie Kinder die materielle Welt sehen und wahrnehmen<br />

(und altersbedingt nicht verbalisieren können). Mit bestimmten Situationen<br />

konfrontiert, zeigen sich Kinder überrascht, und diese Überraschung wird<br />

als Indiz dafür interpretiert, dass jedes Kind präzise Erwartungen hegt. Die<br />

Wahrnehmung von Schatten stellt einen interessanten Fall dar, da Schatten<br />

(zum Beispiel im Gegensatz zu Träumen) physische Wirklichkeit besitzen,<br />

nichtsdestotrotz aber immateriell sind (sie bestehen aus ‚nichts‘). Warum<br />

es trotz gewisser Wahrnehmungssensibilität keine angeborene Vorstellung<br />

eines Schattens gibt, liegt eventuell daran, dass die Menge angeborener Vorstellungen<br />

recht beschränkt ist und die Auffassung von Schatten in gewisser<br />

Weise von der Objektvorstellung abgeleitet wird. Tatsächlich behandeln Kleinkinder<br />

(unter zwölf Monaten) Schatten wie Objekte und können diese nicht<br />

als Projektionen oder lichttechnische Phänomene erkennen. Im Gegensatz zu<br />

Erwachsenen sind sie beispielsweise überrascht, dass sich ein Schatten bewegt,<br />

wenn das schattenwerfende Objekt verschoben wird.<br />

Die meisten Mythen sind fest in Bildern und Symbolen des allgemeinen menschlichen<br />

Denkens verankert. Daher wird ihnen, mögen sie auch vorübergehender<br />

Natur sein und von Kultur zu Kultur leicht abweichen, stets große Bedeutung<br />

beigemessen. Schatten sind häufig metaphorische Quelle für die Mythen in<br />

Bezug auf die Seele: Ähnlich der Seele ist der Schatten körperabhängig (wenngleich<br />

nicht absolut, denn schließlich können wir uns selbst nicht von unserem<br />

Schatten lösen), er ist immateriell und gleicht der Person, die ihn erzeugt, und<br />

so weiter und so fort. Solange dies unsere Fantasie anregt, wird es immer<br />

möglich sein, Mythen um die Schatten zu schaffen oder solche aus anderen<br />

Kulturen zu übernehmen.<br />

33


02<br />

David<br />

Maisel<br />

David Maisel, 1961 in New York<br />

City geboren, graduierte als BA an<br />

der Princeton University und als MFA<br />

am California College of the Arts und<br />

studierte zudem an der Graduate<br />

School of Design der Harvard University.<br />

Maisels Werke sind Teil der<br />

Daueraustellungen im Metropolitan<br />

Museum of Art, im Los Angeles<br />

County Museum of Art, im Brooklyn<br />

Museum of Art und in anderen Museen.<br />

Seine Monographie ‚The Lake<br />

Project‘ (Nazraeli Press, 2004),<br />

wurde 2004 von dem Kritiker Vince<br />

Aletti in die Top 25 der Fotobände<br />

gewählt. Seine zweite Monographie<br />

‚Oblivion‘ wurde 2006 von Nazraeli<br />

Press veröffentlicht.<br />

www.davidmaisel.com<br />

Herr Maisel, was haben Sie die Kultur, in der Sie<br />

aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung über die<br />

Erde und ihre Oberflächen gelehrt?<br />

Was hat Sie Ihre eigene Erfahrung über die Erdoberfläche<br />

gelehrt? Haben Sie neue Erkenntnisse<br />

über die Erde gewonnen – vielleicht etwas entdeckt,<br />

was Sie zuvor noch nicht kannten oder gesehen<br />

haben?<br />

Als Student an der Princeton University begleitete ich 1983 meinen Professor<br />

für Fotografie Emmet Gowin auf einer Fotoexpedition zum Vulkan Mount Saint<br />

Helens. Die Eruption des St. Helens war der schlimmste und verheerendste Vulkanausbruch<br />

in der Geschichte der Vereinigten Staaten, der, gemessen an der<br />

Atombombendetonation über Hiroshima, eine 27.000fache Energie freisetzte.<br />

Ich war nicht nur von der natürlichen Zerstörungskraft des Vulkans fasziniert,<br />

sondern auch verblüfft angesichts der gewaltigen kataklystischen Energie, welche<br />

die Holzfällerindustrie beim Kahlschlag dieses Gebiets an den Tag legte. Als<br />

Kind der Ostküste, aufgewachsen in einem Vorort New Yorks, empfand ich die<br />

Zerstörung biblischen Ausmaßes durch den Menschen – vor allem aus der Luft<br />

betrachtet - ebenso beeindruckend wie beängstigend. Dieses apokalyptische<br />

Empfinden war richtungsweisend für meine zukünftige Arbeit.<br />

Seither habe ich mich einem fortlaufenden Projekt von Luftaufnahmen<br />

zerrütteter Landschaften gewidmet. Ich gab dieser Bilderserie den Titel Black<br />

Maps. Ihr Hauptgegenstand ist das verheerende Wirken des Menschen in der<br />

Landschaft, das Kultur und Natur in einem schwindelerregenden Verfall mit<br />

ungewissem Ausgang miteinander verschmelzen lässt. Aus der Luftperspektive<br />

betrachtet, muten die zerstörten Gebiete, in denen die natürliche Ordnung<br />

durch den Eingriff des Menschen auf den Kopf gestellt wird, ebenso schön wie<br />

erschreckend an. Mit meinen Bildern möchte ich dies weder verdammen noch<br />

glorifizieren, sondern vielmehr unser Augenmerk auf die Bedeutung der Landschaft<br />

bzw. der Landschaftsdarstellung in unserem postnatürlichen Zeitalter<br />

richten.<br />

Die Erforschung umweltbelasteter Gebiete veranlasste mich, das ‚Mining Project‘<br />

zu starten, meine Luftaufnahmenserie von Tagebaugruben, die in den<br />

USA überall zu finden sind. Die Betrachtung der Gruben aus der Luft eröffnete<br />

mir eine neue Sichtweise, die meine Faszination von der Zerstörung der Landschaft<br />

noch verstärkte, sowohl im Sinne formaler Schönheit als auch unter umweltpolitischen<br />

Aspekten. Erst aus der Luft wurde ich der Verunstaltung und<br />

Transformation der Erdoberfläche gewahr. Ich begann, solche unnatürlichen<br />

Landschaften wie Tagebaugebiete, Cyanid-Laugereifelder und Absetzanlagen<br />

als Kontemplationsgärten unserer heutigen Zeit anzusehen; für mich vermitteln<br />

sie ein Gefühl unterirdischer Traumwelten, die nur darauf warten, ans<br />

Tageslicht zu treten. Fortan betrachtete ich meine Bilder nicht nur als simple<br />

Dokumentationen zerstörter Gebiete, sondern vielmehr als poetische Interpretationen<br />

und Reflexionen des menschlichen Geistes, dessen Wirken sich<br />

hier deutlich abzeichnet.<br />

Die Luftfotografie als solche interessiert mich weniger im methodischen<br />

Sinne als vielmehr als Möglichkeit, etwas zu sehen, was ansonsten unsichtbar<br />

und unvorstellbar ist, und Weg, Zeit und Raum miteinander zu verbinden. Als<br />

Fotograf aus der Luft befinde ich mich nie zweimal an exakt demselben Ort –<br />

kein Bild kann also wiederholt werden. Ebenso verändern sich die Lichtverhältnisse<br />

ständig: Beim Rundflug über eine Landschaft wechselt meine Position je<br />

nach Sonnenstand. Somit variieren auch Farben und Formen von Aufnahme zu<br />

Aufnahme. In einer solchen Situation wird dem Fotografen erhöhte Aufmerksamkeit<br />

abverlangt: Die Erscheinungen wie Formen, Farben und Strukturen<br />

sind ständig ‚im Fluss‘, und er muss spontan darauf reagieren. Das Erleben eines<br />

solchen Stroms von Bildern und möglichen Einstellungen ähnelt dem menschlichen<br />

Bewusstseinsstrom. Durch die Fotografie aus der Luft wird die Bewegung<br />

zergliedert und neu gestaltet.<br />

34 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


In unserem Zeitalter erfuhr die Bildtechnik viele radikale Veränderungen. Die<br />

Mondbilder und die Aufnahmen der NASA von der Mars-Oberfläche, einst spektakulär<br />

und mysteriös, sind mittlerweile auf jeden Heimcomputer herunterzuladen.<br />

In Nullkommanichts lassen sich Satellitenaufnahmen unseres Planeten<br />

auf jeden Bildschirm projizieren, angefangen von Bildern des Irak-Kriegs bis<br />

hin zu Aufnahmen unseres eigenen Hauses per Google Earth. Luftbilder sind<br />

zum Bestandteil unserer visuellen Kommunikation geworden. Satellitenbilder<br />

und Luftaufnahmen sind Beispiele für fotografische Kartierung und Oberflächendarstellung,<br />

können aber gleichzeitig zur selektiven Überwachung genutzt<br />

werden. Für mich waren Satellitenbilder und topographische Karten stets eine<br />

Quelle der Inspiration, wenngleich die Kartendarstellung notwendigerweise<br />

immer vom kartierten Gegenstand abweicht: Sie ist eine parallele Realität.<br />

Der Fotograf Garry Winogrand sagte einmal: „Die Fotografie ist nicht das fotografierte<br />

Objekt – vielmehr ein anderes, neues Faktum.“ Die Fotografie erfasst<br />

nicht die Realität, sondern das Wesen – sie wird zum Schöpfungsmythos<br />

und Versuch, der Welt Sinn abzugewinnen.<br />

FOTOS: DAVID MAISEL<br />

Ihre Fotografien in den ‚Black Maps‘ und dem ‚Lake<br />

Project‘ offenbaren eine verstörende, trügerische<br />

Ästhetik. Was auf den ersten Blick anmutend ist,<br />

erweist sich bei genauerer Betrachtung als grauenvoll<br />

und gefährlich. Sehen Sie hier Analogien zu unserem<br />

täglichen Leben und Konsumverhalten?<br />

Themen wie Verführung und Täuschung haben mein Denken und meine Arbeiten<br />

nachhaltig beeinflusst, vor allem beim Lake Project. Alltäglich sehen wir<br />

uns mit neuen und verlockenden Konsumangeboten konfrontiert – sei es der<br />

jahrelang begehrte Neuwagen, der iPod oder der Flachbildschirm. Meiner Meinung<br />

nach lassen wir uns von diesen Wünschen und begehrten Objekten trügen,<br />

da sie uns nicht wirklich befriedigen, sondern unser Verlangen nur noch weiter<br />

schüren. So betrügen wir schließlich auch die Natur, indem wir sie ausbeuten<br />

und ausnutzen – in dem vergeblichen Bemühen, unser maßloses und unstillbares<br />

Verlangen zu erfüllen. Dieser Prozess spiegelt sich in meinen Bildern wider: Sie<br />

sind eindrucksvoll und anregend, von fesselnder Schönheit. Dringt man jedoch<br />

unter die augenscheinliche Schönheit der Bilder, erkennt man den Bildgegenstand<br />

als einen vergifteten, gewissermaßen aufgegebenen Ort der Verwüstung,<br />

so dass auch hier eine Art Betrug vorliegt. Wir als Gesellschaft aber sind Komplizen<br />

bei der Umweltzerstörung – die Verlockung führt zum Betrug.<br />

Auch hier werden also Verlockung und Trug miteinander verflochten: Der<br />

Betrachter lässt sich möglicherweise von den Farben und Formen der Bilder<br />

verführen, fühlt sich dann aber auf eine gewisse Weise betrogen, sobald der<br />

Bildgegenstand deutlich wird. Wir fordern der Umwelt ständig Tribute ab; die<br />

Parallelen zu der Art und Weise, wie wir uns von der Konsumgier verführen<br />

und schließlich betrügen lassen, sind offensichtlich. Ja, ich will einen Geländewagen,<br />

einen Flachbildschirm, und … hoppla! Weg ist die Ozonschicht, das<br />

stelle man sich mal vor!<br />

Ein wenig zum Hintergrund: Owens Lake, Gegenstand des Lake Project, ist<br />

ein Gebiet an der Ostseite der Sierra Mountains, an dem sich einst ein See über<br />

150 Quadratmeilen erstreckte. 1913 wurde der Owens River zum Aquädukt<br />

im Owens Valley umgeleitet, um die florierende Wüstenstadt Los Angeles mit<br />

Wasser zu versorgen. 1926 war der See vollkommen trockengelegt und hinterließ<br />

riesige Ablagerungen von Mineralien und Salzschichten. Nach der Austrocknung<br />

des Sees wirbelten starke Winde im Tal mikroskopische Partikel<br />

aus dem trockenen Seebett auf und formierten sich zu Stürmen aus krebserregendem<br />

Staub. Das Seebett entwickelte sich zum größten Verursacher von<br />

Feinstaubverschmutzung in den USA – hier werden jährlich 300.000 Tonnen<br />

Arsen, Kadmium, Chrom, Chlorgas, Schwefel und andere Materialien ausgestoßen.<br />

Die Mineralkonzentration in dem kläglichen Wasserrestbestand des<br />

Owens Lake ist so unnatürlich hoch, dass hier überall Bakterien und andere Organismen<br />

gedeihen, die das verbleibende Wasser tief blutrot färben.<br />

Während meiner Arbeit an diesem Projekt im Jahr 2001 ergriffen das Umweltamt<br />

und die Behörde für Wasser- und Stromversorgung der Stadt Los Angeles<br />

auf Grund eines neuen Gesetzes neue Maßnahmen, um das Gebiet erneut<br />

umzustrukturieren. Zur Vermeidung toxischer Staubstürme wurde ein Großteil<br />

des Seebetts in eine riesige Flutungszone umgewandelt, die sich wie die versunkene<br />

Stadt Atlantis aus dem Seebett erhebt. Nach der Fertigstellung meines<br />

Luftprojekts besichtigte ich die Oberfläche des Seebetts auch aus der Erdperspektive<br />

und besuchte das Kontrollzentrum, in dem der Salzgehalt und die relative<br />

Feuchtigkeit in der Be- und Entwässerungsanlage überprüft und gemessen<br />

werden, die sich kreuz und quer über 60.000 Meilen durch die Flutungszone<br />

zieht. Auf den Computerbildschirmen traten die bekannten Formen der Flutungszone<br />

zu Tage, aufgenommen durch Luftfotografie und Satellitenbilder.<br />

Meine Aufnahmen haben eine Vermittlungsfunktion. So richten die Fotografien<br />

im ‚Lake Project‘ das Augenmerk zwar auf einen speziellen Ort – den<br />

Owens Lake -, sind aber ebenso mehrdeutig als neue geografische Psycho-<br />

35


gramme zu interpretieren, als ursprüngliche Szenarien von Gewalt und Zerstörung,<br />

die sich in diesen Orten der Verwüstung offenbaren. Es liegt mir fern,<br />

den Bildern eine bestimmte Bedeutung zuzuschreiben; sie sind vielmehr als<br />

Metaphern für den entropischen Verfall von Raum und Zeit in der postmodernen<br />

Kultur zu verstehen.<br />

Bei der Bilderserie ‚Terminal Mirage‘ ließ ich mich durch Robert Smithsons<br />

Schriften über den Great Salt Lake inspirieren und konzentrierte mich auf die<br />

rasterförmig angelegten Gebiete rund um den See – riesige Verdunstungsbecken<br />

inmitten des Militärgebiets des Tooele-Waffenlagers, wo abgelaufene<br />

chemische Waffen gelagert und verbrannt werden. Diese Aufnahmen sind<br />

nicht maßstabsbezogen, die fotografierten ‚Fakten‘ sind vielmehr eine Reihe<br />

verwirrender Wendungen. Terminal Mirage beschäftigt sich ebenfalls mit den<br />

Grenzen rationaler Kartographie. Die rasterförmig angelegten Verdunstungsbecken<br />

offenbaren eine Art transgressiver Architektur, ein endloses Labyrinth<br />

über der Oberfläche des Sees und an dessen Ufern. Seinen Namen verdankt<br />

das Projekt Terminal Mirage der Tatsache, dass der Great Salt Lake wirklich<br />

ein abgeschlossener See ohne natürliche Zu- und Abflüsse ist. Dieser klaustrophobische,<br />

ausweglose, existenzialistische Aspekt weckte meine Neugier. Mit<br />

dem Wort ‚mirage‘ soll zum Einen der nachhaltig halluzinatorische Charakter<br />

der Ausdehnung des Great Salt Lake beschrieben werden – das beständige<br />

Licht, das auf ihn strahlt und von seiner Oberfläche reflektiert wird -, zum Anderen<br />

soll betont werden, wie diese Bilderserie unsere Sichtweise und Wahrnehmung<br />

grundsätzlich in Frage stellt.<br />

Wie reagieren wir Menschen Ihrer Erfahrung nach<br />

auf Zerstörung und Verschmutzung der Umwelt?<br />

Nehmen die meisten von uns den Blickwinkel des<br />

Luftfotografen ein, um sich von diesem ‚wunden<br />

Punkt‘ zu distanzieren und aus der Ferne nur das<br />

Positive wahrzunehmen?<br />

Vorhergehende Doppelseite:<br />

David Maisel: The Lake Project<br />

9823-4, 2002<br />

David Maisel: Terminal Mirage<br />

206-7, 2003<br />

Gegenüber:<br />

David Maisel: The Lake Project<br />

9802-1, 2002<br />

Die verführerische, aber trügerische<br />

Schönheit seiner Luftaufnahmen<br />

ist für David Maisel<br />

eine Metapher für die Haltung<br />

des Menschen gegenüber der<br />

Natur: „Unsere heutige Gesellschaft<br />

wird zu dem Glauben verführt,<br />

dass es unwichtig sei, wie<br />

wir leben.“<br />

Konfrontiert mit der Zerstörung unserer Erde durch unser eigenes Wirken, die<br />

Zivilisation und den industriellen Fortschritt, fühlen sich die meisten Menschen<br />

beim Betrachten meiner Bilder verwirrt, entsetzt und alarmiert. Ob sie meine<br />

Bilder als Aufruf zum Handeln verstehen, weiß ich nicht. Ich bin mir auch nicht<br />

sicher, ob meine Bilder eine derart direkte Wirkung zeigen sollen. Meine Motivation<br />

ist, Orte zu entdecken, die anderenfalls unbekannt oder unbeachtet blieben–<br />

seien es Kahlschlaggebiete, Tagebaue, Cyanid-Laugereifelder oder andere.<br />

Meine Aufnahmen sollen innere psychische Landschaften reflektieren, sind aber<br />

gleichermaßen als Dokumentationen spezieller Gebiete anzusehen. Ich selbst<br />

verstehe mich in erster Linie als visuellen Künstler, im Gegensatz vielleicht zu<br />

Fotojournalisten und Dokumentarfilmern. Mein Hauptinteresse gilt der Aufnahme<br />

von Bildern, die in visuellem Sinne unter die Haut gehen und eine gewisse<br />

poetische oder metaphorische Wirkung erzielen.<br />

Kunst kann durchaus politische Züge haben, und auch ich verfolge mit meinen<br />

Bildern eine politische Botschaft (ich glaube nicht, dass irgendjemand jahrzehntelang<br />

Fotoaufnahmen von mehr oder minder zerstörten Naturgebieten<br />

machen kann, ohne hierbei ein politisches Bewusstsein zu entwickeln!). Trotzdem<br />

möchte ich mit meinen Werken niemanden anklagen oder verurteilen – ich<br />

denke, diese Aufgabe haben wir gemeinsam als Gesellschaft zu erfüllen. So einfach<br />

liegen die Dinge nicht, als dass man mit erhobenem Zeigefinger auf dieses<br />

oder jenes Industrieunternehmen zeigen könnte. Meine Arbeiten sind keinesfalls<br />

dokumentarisch, dazu fehlt ihnen die nötige Objektivität. Sie haben theoretischen,<br />

nicht kartographischen Charakter und dienen vielmehr der Erforschung<br />

des Unbewussten denn der objektiven Darstellung. Allesamt tragen sie meinen<br />

persönlichen Stempel und verkörpern eine Form der Meditation.<br />

Vorwiegend interessieren mich die ineinandergreifenden Welten von Ethik<br />

und Ästhetik. Im Grunde geht es, denke ich, um eine Art von ‚ästhetischem‘<br />

oder ‚unterbewusstem‘ Aktivismus, womit ich direkt zu Ihrer Frage nach dem<br />

schönen Schein komme. Schönheit offenbart sich für mich nicht darin, einfach<br />

‚nur schön‘ zu sein. In den visuellen Künsten wird Schönheit allgemein mit<br />

Skepsis betrachtet, da wir auf sie als seriöses Darstellungsmittel nicht länger<br />

vertrauen. Doch sie kann durchaus eines sein: Schönheit prägt sich dem<br />

künstlerischen Raum strukturartig auf, um etwas darzustellen, das uns bislang<br />

noch unbekannt oder unbegreiflich ist. Ein schönes Objekt oder Bild muss<br />

nicht zwangsläufig oberflächlich sein, sondern kann durchaus eine Bedeutung<br />

oder eine beunruhigende, subversive Wirkung haben, die uns zusammenzucken<br />

lässt. Mein Interesse gilt vorwiegend einer Form von Schönheit, die ein<br />

gewisses Entsetzen und Erschrecken in sich birgt – Schönheit nicht als Balsam<br />

für die Seele, sondern als eine Art Waffe, sozusagen als moderne Fortführung<br />

der Auffassung von Erhabenheit im neunzehnten Jahrhundert, was<br />

uns einigen Aufschluss über unseren heutigen Entwicklungsstand in der Geschichte<br />

liefern sollte. In seinem Essay ‚Notes on Beauty‘ schreibt der Kritiker<br />

Peter Schjeldahl: „Die Schönheit, als solche gegenstandslos, kann mentales<br />

Heilmittel sein, das andere Elemente auflöst und überstrahlt.“<br />

36 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


FOTO: DAVID MAISEL


03<br />

A.S.<br />

Raghavendra<br />

Professor Agepati S. Raghavendra<br />

promovierte 1975 an der Sri Venkateswara<br />

University, Tirupati, Indien.<br />

Danach arbeitete er ab 1985<br />

als Associate Professor am Department<br />

of Plant Sciences, University of<br />

Hyderabad, wurde 1996 zum Professor<br />

ernannt und ist seit 2004 Dekan<br />

der School of Life Sciences an der<br />

University of Hyderabad. Prof. Raghavendra<br />

ist Vizepräsident der A. P.<br />

Akademi of Sciences und Herausgeber<br />

des ‚Journal of Plant Biology‘.<br />

Sein Buch ‚Photosynthesis: A Comprehensive<br />

Treatise‘ ist bei The Cambridge<br />

University Press erschienen.<br />

Professor Raghavendra, was haben Ihnen die<br />

Kultur, in dem Sie aufgewachsen sind, und Ihre Erziehung<br />

und Ausbildung bezüglich des Lichts vermittelt?<br />

Welche für Sie faszinierenden Eigenschaften des<br />

Lichts haben Sie selbst entdeckt?<br />

Was sind für Sie als Forscher auf dem Gebiet der<br />

Photosynthese die vielversprechendsten Lösungen<br />

für die künftige Energieversorgung der Erde? Inwieweit<br />

sind diese mit der Sonne als Quelle verbunden?<br />

Die Photosynthese verfügt über die seltene Eigenschaft,<br />

nicht nur Sonnenlicht in nutzbare Energie<br />

umwandeln, sondern auch CO ² aus der Erdatmosphäre<br />

abbauen zu können. Sehen Sie hierin ein<br />

Vorbild für künftige technische Entwicklungen?<br />

Ich meine, dass Licht immer stimuliert und Kraft und Begeisterung vermittelt.<br />

An Sonnentagen ist der Mensch aktiv, munter und selbstbewusst. Obwohl es<br />

keine wissenschaftliche Erklärung dafür gibt, kann man sagen, dass das Morgenlicht<br />

die Aufmerksamkeit und rezeptive Funktion des Gehirns steigert. Das<br />

Auge empfindet das Licht beim Aufgang und Untergang der Sonne als angenehm.<br />

Die positive Wirkung des Lichts – vor allem während der frühen Morgenstunden<br />

– wird nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Pflanzen festgestellt.<br />

Einige photomorphogenetische und biochemische Mechanismen bei Pflanzen<br />

werden unmittelbar vor Sonnenaufgang ausgelöst.<br />

Als Kind war mir nur bewusst, dass Tageslicht aufmunternd wirkt. Später, als ich<br />

mich mit der Photosynthese beschäftigte, entdeckte ich die Wirkung des Sonnenlichts<br />

auf die Funktion von Pflanzen. Das Licht aus dem sichtbaren Bereich<br />

liegt größtenteils im Feld von 400 bis 700 nm. Daneben enthält das Sonnenlicht<br />

jedoch auch einen beträchtlichen Anteil an ultravioletten (700 nm). Pflanzen ‚sehen‘ – beziehungsweise empfangen –<br />

Licht hauptsächlich dank zweier wichtiger Pigmente. Das erste ist Chlorophyll,<br />

das den meisten von uns bekannt sein dürfte. Das zweite ist Phytochrom, das<br />

der Mensch ohne Hilfsmittel nicht wahrnehmen kann. Es ist aber für die meisten<br />

photomorphogenetischen Effekte verantwortlich, wie Phototropismus,<br />

Blühen und Keimen von Saatgut. Das Studium der Mechanismen, wie Pflanzen<br />

Licht aufnehmen und das Signal weiterleiten, ist faszinierend. Ich selbst war an<br />

der Entwicklung eines Konzepts beteiligt, das erklärt, wie die Aufnahme des<br />

Lichtsignals und seine Übertragung tief in das Gewebe hinein vonstatten geht.<br />

Dieses Phänomen der Weiterleitung (Transduktion) von Lichtsignalen ist interessant,<br />

da auch Bereiche der Pflanze, die das Licht nicht wahrnehmen, reagieren<br />

können. Außerdem können sich Pflanzen durch Veränderung der Menge und<br />

der Verteilung des Chlorophylls an das verfügbare Licht anpassen. So haben<br />

beispielsweise Pflanzen, die unter direktem Sonnenlicht wachsen, in der Regel<br />

dünne, kleine und hellgrüne Blätter, während die Blätter bei Gewächsen, die<br />

im Schatten aufwachsen, dick, groß und dunkelgrün sind.<br />

Die Sonne ist schon immer die vielversprechendste Energiequelle für die Erde<br />

gewesen. Ihr Licht kann jedoch nicht nur für die Lebensmittelproduktion verwendet<br />

werden, sondern auch für viele andere Zwecke. Die effiziente Nutzung<br />

der Solarenergie ist daher von essenzieller Bedeutung. In der Suche nach neuen,<br />

erneuerbaren Ressourcen liegt der Schlüssel für viele Anwendungen. Gleichzeitig<br />

muss der Verbrauch von Brenn- und Kraftstoffen auf Erdölbasis auf ein<br />

Minimum reduziert werden, um die weltweite Erwärmung zu verringern. Die<br />

Entwicklung von Leben auf der Erde ist in erster Linie auf die Solarenergie zurückzuführen,<br />

die vom Menschen über das Auge und von Grünpflanzen über<br />

ihre Blätter aufgenommen wird. Es ist möglich, dass die grüne Farbe des Chlorophylls<br />

von Pflanzen als Reaktion auf das Spektrum des Sonnenlichts entstanden<br />

ist. Eine andere starke Lichtquelle als die Sonne hätte möglicherweise dazu<br />

geführt, dass sich ein anders farbiges Pigment durchgesetzt hätte.<br />

Die Photosynthese führt zu einer Bindung von anorganischem Kohlenstoff, unter<br />

anderem in Kohlenhydraten, Lipiden und Proteinen. Zur Photosynthese sind<br />

nicht nur Sonnenlicht, sondern auch CO ² und Sauerstoff erforderlich. Eine der<br />

wichtigsten Anwendungsmöglichkeiten der Photosynthese bei Pflanzen ist offensichtlich<br />

deren Fähigkeit zur Bindung von CO ² aus der Atmosphäre. Dennoch<br />

38 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Ohne den grünen Farbstoff Chlorophyll<br />

sähen nicht nur unsere<br />

Wälder, sondern auch unsere<br />

Nahrungskette anders aus.<br />

Dennoch trägt die Vegetation<br />

der Landoberflächen, verglichen<br />

mit Meeresorganismen, nur<br />

einen kleinen Teil zur Photosyntheseleistung<br />

der Erde bei.<br />

FOTO: INGRID BALABANOVA<br />

ist die photosynthetische Assimilationsfähigkeit der Flora nicht in der Lage, mit<br />

den vom Menschen verursachten CO ² -Emissionen Schritt zu halten. Eine Erhöhung<br />

der photosynthetischen Kohlenstoff-Assimilation ist unbedingt erforderlich,<br />

um die Erhöhung der CO ² -Werte und die daraus entstehende globale<br />

Erwärmung zu verhindern. Es sind nicht die Wälder und Bäume auf dem Land,<br />

die ein Maximum an CO ² aufnehmen – wie man vielleicht denken könnte – sondern<br />

die Meere und Ozeane mit dem darin enthaltenen Phytoplankton. Diese<br />

Lebensräume auf den Oberflächen der Meere, aber auch die Wälder, müssen<br />

erhalten bleiben. Außerdem sollten die Bemühungen um die Entdeckung und<br />

Verwertung neuer pflanzlicher Energieträger intensiviert werden.<br />

Wie würde die globale Nahrungskette ohne Photosynthese<br />

aussehen?<br />

Werden wir uns bei einer Weltbevölkerung, die<br />

in der nächsten Generation 10 bis 11 Milliarden<br />

erreicht, immer noch mit Lebensmitteln aus natürlichem<br />

Anbau ernähren können? Welche Änderungen<br />

an der Landwirtschaft in der gegenwärtig<br />

betriebenen Form halten Sie für notwendig?<br />

Wenn das Licht auf die menschliche Haut trifft, erzeugt<br />

es auf den ersten Blick eine intensive, aber<br />

oberflächliche Wirkung. Die Auswirkungen des<br />

Lichts gehen jedoch weit tiefer, und gerade diese<br />

nicht-oberflächliche Wirkung ist oft von essenzieller<br />

Bedeutung für das Leben. Gibt es hierzu<br />

Parallelen in Ihrer eigenen Forschung?<br />

Sie wäre ohne Photosynthese kaum vorstellbar, da die Sonne die Hauptenergiequelle<br />

der Erde ist. Pflanzen absorbieren das Sonnenlicht und werden von<br />

Tieren verzehrt. Damit ist die heutige Nahrungskette fast vollständig von der<br />

Photosynthese abhängig. Alternativen zu photosynthetischen Verfahren sind<br />

Mikroorganismen wie chemotrophische Bakterien, die auch unter schwierigen<br />

Bedingungen ohne Sonnenlicht und sogar ohne Sauerstoff gedeihen können.<br />

Formen des organischen Lebens auf der Erde enthalten in der Regel Kohlenstoff,<br />

Wasserstoff und Sauerstoff. Es ist möglich, dass auf anderen Planeten des Universums,<br />

die nicht von Licht bestrahlt werden, Organismen bestehen, die kein<br />

Chlorophyll haben, die keine Photosynthese ausführen und dann aus anderen<br />

Elementen als Kohlen-, Wasser- und Sauerstoff bestehen.<br />

Die Zunahme der Weltbevölkerung ist ein ernstes Problem. Für die nächste<br />

Generation sehe ich keine wesentlichen Einschränkungen bezüglich der Lebensmittelversorgung.<br />

Ich bin mir aber nicht sicher, ob den danach folgenden<br />

Generationen ausreichend Lebensmittel natürlicher Herkunft zur Verfügung<br />

stehen werden. Es sind mehrere Schritte erforderlich, um die Versorgung mit<br />

diesen Lebensmitteln sicherzustellen. Unkonventionelle und neue Technologien,<br />

darunter auch die Gentechnik, können eine gewisse Abhilfe schaffen. Aber der<br />

Erhalt und die optimierte Verwertung der vorhandenen natürlichen Ressourcen<br />

sind unabdingbar.<br />

Dass Licht nicht nur oberflächlich wirkt, gilt nicht allein für unsere Haut, sondern<br />

auch für die Oberflächen von Pflanzen und Mikroorganismen. Pflanzliches<br />

Gewebe ist bekanntlich nicht nur zu einer vertikalen, sondern auch zu einer lateralen<br />

Lichtübertragung in der Lage. Licht ist nicht nur Energiequelle: es ist auch<br />

ein Signal, das viele Prozesse in Pflanzen und Tieren auslöst. Man nimmt an, dass<br />

die am Tage auftretenden Leistungs- und Stimmungsschwankungen beim Menschen<br />

mit der Länge der Tageszeit verbunden sind. Wegen dieser direkten und<br />

indirekten Auswirkungen des Lichts ist die Übertragung des Lichtsignals ein<br />

Schwerpunktgebiet der biologischen Forschung. Photosensitive Moleküle wie<br />

Chlorophylle, Carotenoide und Rhodopsin (das Pigment im menschlichen Auge)<br />

nehmen das Licht direkt auf und reagieren mit einer internen Neugruppierung<br />

und Erregung ihrer Reaktionszentren. Das Lichtsignal, das auf der Oberfläche<br />

des Menschen oder einer Pflanze auftritt, wird wahrgenommen, umgewandelt<br />

und dann an andere Teile der Pflanze oder des Tiers in Form von Sekundär-Botenstoffen<br />

oder Signalkomponenten weitergegeben. Dazu zählen zum Beispiel<br />

der pH-Wert, das Membranpotenzial, der elektrochemische Gradient und Kationenwerte<br />

wie zum Beispiel Natrium und Kalzium.<br />

39


04<br />

Nina<br />

Jablonski<br />

Nina Jablonski ist vergleichende<br />

Anthropologin und Paläontologin.<br />

Sie studierte 30 Jahre lang die Fossilfunde<br />

von Primaten und Menschen.<br />

In den letzten 15 Jahren haben sich<br />

ihre Interessen auf diejenigen Fragen<br />

der menschlichen Evolution verlagert,<br />

die durch die Fossilfunde nicht vollständig<br />

beantwortet werden können.<br />

Dazu gehören unter anderem<br />

die Evolution der menschlichen Haut<br />

und der Hautfarbe. Nina Jablonski<br />

lebt und arbeitet zur Zeit in Pennsylvania<br />

im Osten der USA, nachdem sie<br />

ihre Feldforschungen unter anderem<br />

nach China, Kenia und Nepal geführt<br />

haben. www.anthro.psu.edu/facul<br />

ty_staff/jablonski.shtml<br />

Mrs. Jablonski, was haben Ihnen die Kultur, in der<br />

Sie aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung über<br />

die menschliche Haut vermittelt?<br />

Welche Entdeckungen über Haut haben Sie selbst<br />

gemacht, die Sie fasziniert haben?<br />

Konnten Sie bei Ihren Forschungen etwas darüber<br />

herausfinden, wie sich Schönheitsideale bezüglich<br />

der Haut in verschiedenen Kulturen unterscheiden?<br />

Die meisten Menschen, einschließlich mir, haben in ihrer Jugend nur nebenbei<br />

von diesem Thema erfahren, ohne dass es zum Beispiel in der Schule eine Rolle<br />

gespielt hätte. Dennoch interessiere mich schon seit vielen Jahren dafür und<br />

habe einige Forschungen darüber betrieben.<br />

Wir sehen unsere Haut als selbstverständlich an, obwohl sie biologisch und<br />

kulturell sehr wichtig für uns ist. Wenn Sie innehalten und Ihr eigenes Leben und<br />

Verhalten, aber auch die Verhaltensweisen Ihrer Mitmenschen betrachten, beginnen<br />

Sie zu verstehen, was die Haut für uns tut. Die Haut sagt über uns eine<br />

Menge aus. Wenn wir jemanden anschauen, können wir allein an der Haut das<br />

Alter oder den Gesundheitszustand erkennen. Die Hautfarbe lässt zudem erahnen,<br />

woher eine Person oder ihre Vorfahren stammen könnten. Die wichtigsten<br />

zwischenmenschlichen Beziehungen werden über unsere Haut vermittelt. Als<br />

Tastorgan ist sie eine der wichtigsten Schnittstellen, über die wir miteinander<br />

kommunizieren und durch die wir Informationen aus der Welt erhalten. Obwohl<br />

wir als Primaten sehr visuell orientierte Tiere sind, ist der Tastsinn für unsere<br />

Entwicklung und unser Wohlbefinden unerlässlich.<br />

Meine eigene Forschung hat sich hauptsächlich auf die Evolution der Hautfarbe<br />

konzentriert. Die Pigmentanzahl in unserer Haut steht im Verhältnis zur<br />

ultravioletten Strahlung des Sonnenlichts, dem unsere Vorfahren ausgesetzt<br />

waren. Diejenigen von uns, deren Vorfahren in der Nähe des Äquators lebten,<br />

haben dunkel pigmentierte Haut entwickelt, die sie vor Schäden durch hohe UV-<br />

Strahlung schützt. Diejenigen, deren Vorfahren außerhalb der Tropen lebten,<br />

entwickelten einen helleren Hauttyp, der die Produktion von Vitamin D in der<br />

Haut durch UV-Strahlung begünstigt. Das Faszinierende dabei ist für mich die<br />

Tatsache, dass sich die Menschen heute viel schneller bewegen als früher. Wir<br />

können Tausende von Kilometern in ein paar Stunden zurücklegen und uns in<br />

sonnenreiche Gebiete begeben, die sich deutlich von den Lebensräumen unserer<br />

Vorfahren unterscheiden. Als Menschen gehen wir davon aus, dass dabei schon<br />

alles gut geht. Manchmal ist das allerdings nicht der Fall. Menschen mit hellerer<br />

Hautfarbe leiden an schwerwiegenden biologischen Problemen, wenn sie ihre<br />

Körper für längere Zeit intensivem Sonnenlicht aussetzen. Ähnlich leiden dunkelhäutige<br />

Menschen an anderen biologischen Problemen, wenn sie sich länger<br />

außerhalb der Tropen aufhalten, weil ihre Körper in dem dort relativ schwachen<br />

Sonnenlicht nicht genug Vitamin D aus UV-Strahlung erzeugen können. Die<br />

Lehre hieraus ist, dass wir unserer Biologie nicht entfliehen können!<br />

Schönheitsideale unterscheiden sich dramatisch von einer zur anderen Kultur.<br />

Ein wundervolles Beispiel dafür sind Augenbrauen. In den meisten amerikanischen<br />

und europäischen Kulturen achten Frauen darauf, dass ihre<br />

Augenbrauen deutlich getrennt und genau definiert sind. Unter den Uiguren<br />

in Westchina ist es dagegen üblich, dass die Augenbrauen bei Frauen voll und<br />

zusammengewachsen sind, so dass ein ausdrucksstarker Akzent über der Augenpartie<br />

entsteht. Sie gehen sogar so weit, sich eine spezielle Creme zwischen<br />

die Augen zu reiben, um den Haarwuchs zu verstärken.<br />

Auch in Zusammenhang mit der Hautfarbe gibt es in ästhetischer Hinsicht<br />

große Unterschiede. In Japan zum Beispiel werden Frauen mit sehr blasser Haut<br />

als attraktiv und begehrenswert angesehen, da die helle Haut deutlich zeigt,<br />

dass die Frau nicht im Freien arbeiten muss und daher wahrscheinlich einen<br />

hohen Status besitzt. Im Gegensatz dazu gelten in vielen amerikanischen und<br />

europäischen Ländern braungebrannte Frauen als attraktiver, da ihre Haut auf<br />

40 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


0º<br />

Durchschnittliche UV-Strahlungseinwirkung<br />

pro Jahr auf<br />

der Erdoberfläche (gemessen<br />

vom NASA-Satelliten TOMS-7).<br />

Helle Rosa- und starke Blaufärbungen<br />

zeigen hohe UV-Strahlungen,<br />

die sich auf Bereiche<br />

am Äquator sowie auf andere<br />

trockene oder hochgelegene<br />

Gebiete konzentrieren.<br />

180º<br />

75º<br />

60º 60º<br />

45º<br />

45º<br />

30º 30º<br />

15º 15º<br />

0º<br />

0º<br />

15º<br />

15º<br />

30º<br />

30º<br />

45º<br />

45º<br />

75º<br />

ZEICHNUNG: GEORGE CHAPLIN<br />

60º<br />

60º<br />

75º<br />

75º<br />

180º<br />

0º<br />

Gesundheit und viel Zeit für Freizeitaktivitäten im Freien hinweist. In beiden<br />

Beispielen ist das Ideal das gleiche – eine Frau mit hohem Status und viel Freizeit<br />

–, aber das ‚ideale‘ Aussehen ist aufgrund der unterschiedlichen Geschichte<br />

der beiden Regionen sehr verschieden. Heute beginnen sich Schönheitsideale<br />

bezüglich der Haut jedoch aneinander anzugleichen, da die Globalisierung der<br />

Bilder und der Werbung die ästhetische Wahrnehmung der Menschen beeinflusst.<br />

In manchen Fällen übernehmen Frauen dadurch Schönheitsideale, die<br />

sowohl unrealistisch als auch ungesund sind.<br />

Inwiefern spielt die Haut, als Oberfläche und Begrenzung<br />

des menschlichen Körpers, eine Rolle in<br />

der Kommunikation neben dem Tastsinn?<br />

Seit der Entdeckung des Ozonlochs spielen die<br />

Sonne und ihr Licht eine ambivalente Rolle bezüglich<br />

der menschlichen Haut: Sie sind gewissermaßen<br />

sowohl Freund als auch Feind. Gibt es<br />

Parallelen hierzu in der Menschheitsgeschichte,<br />

und inwiefern hängt diese Ambivalenz von geografischen<br />

und kulturellen Hintergründen ab?<br />

Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt<br />

es auf den ersten Blick einen intensiven, aber oberflächlichen<br />

ästhetischen Effekt. Doch die Auswirkungen<br />

dieser ‚Berührung’ gehen weit tiefer. In der<br />

Biologie und Medizin ist gerade diese nicht-visuelle<br />

und nicht-oberflächliche Wirkung essenziell für<br />

das Leben. Inwieweit ist diese Tatsache für Ihre eigene<br />

Forschung relevant?<br />

Das Aussehen der menschlichen Haut spielt eine wichtige Rolle in der Kommunikation,<br />

da sie uns viel über eine Person erzählt. Wie ich bereits erwähnt habe,<br />

übermittelt die Haut Informationen über das Alter und die Gesundheit anderer<br />

Menschen. Sie sagt zudem viel über ihren physischen Zustand aus. Schwitzen<br />

sie? Sind ihre Gesichter gerötet oder sehr blass? Diese Dinge können uns viel<br />

über den emotionalen Zustand einer Person sagen. Darüber hinaus ist es wichtig<br />

zu beachten, wie Menschen vorsätzlich das Aussehen ihrer Haut verändern,<br />

um gewisse Botschaften auszusenden. Benutzt eine Person Kosmetika, die zum<br />

Beispiel ihre Augen größer erscheinen oder die Haut stärker glänzen lassen? Ist<br />

sie tätowiert oder hat sie andere Arten von permanentem Hautschmuck? Kosmetika<br />

und permanenter Hautschmuck sind unterschiedliche Formen der Selbstdarstellung,<br />

die uns viel über unsere Ziele und unsere Identität erzählen.<br />

Meistens wurde das Sonnenlicht in der Geschichte der Menschheit als positiver<br />

Einfluss betrachtet, da es Wärme brachte und weil in den sonnigen Jahreszeiten<br />

die Ernte gedieh und die Menschen genug zu essen hatten. Da Sonnenlicht die<br />

Produktion von Vitamin D in der Haut fördert, wird es für seine positiven Auswirkungen<br />

auf das menschliche Gemüt geschätzt. Die Ambivalenz des Sonnenlichts<br />

für die menschlichen Haut ist ein relativ neues Phänomen, das in den letzten<br />

5000 Jahren nur in einigen landwirtschaftlich geprägten Gesellschaften vorkam,<br />

nämlich hauptsächlich dort, wo die Jahreszeiten sich stark unterschieden,<br />

mit enorm hoher Sonnenstrahlung im Sommer und wenig Sonnenlicht im Winter.<br />

Dort wurde Sonnenlicht mit der Arbeit im Freien und körperlicher Anstrengung<br />

verbunden und ein Leben außerhalb der Sonne galt als besser, überlegen und<br />

privilegiert. Hellhäutigere Menschen wurden daher in diesen landwirtschaftlich<br />

geprägten Gesellschaften fast immer als begehrenswerter angesehen, da<br />

sie nicht hart in der Sonne arbeiten mussten, um zu überleben. ‚Braun‘ zu sein<br />

oder nicht war ein sichtbares Merkmal für die Klassenzugehörigkeit.<br />

Der ‚Wohlfühl‘-Effekt des Sonnenlichts basiert teilweise auf dessen physiologischen<br />

Wirkungen auf der Haut. Die UV-Strahlen in starkem Sonnenlicht<br />

fördern die Produktion von Vitamin D, und dies erzeugt ein vorübergehendes<br />

Gefühl der Entspannung und des Wohlbefindens. Sonne kann die Haut bräunen,<br />

was viele Menschen bei sich und anderen als attraktiv empfinden. Diese beiden<br />

Faktoren sind nur zwei Gründe dafür, warum zum Beispiel viele Menschen<br />

ihre Winterferien in tropischen Gebieten verbringen. Selbst in einem Gebäude,<br />

in dem das Fensterglas die meisten UV-Strahlen abblockt, erzeugt das durch<br />

das Fenster einfallende Sonnenlicht körperliche Wärme und Helligkeit, die oft<br />

als anregend empfunden werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu<br />

beachten, dass der Mensch die meiste Zeit seiner sechsmillionenjährigen Existenz<br />

in den Tropen verbracht hat. Von einem evolutionären Standpunkt aus<br />

betrachtet, sind wir Kreaturen der Sonne.<br />

41


05<br />

Gary<br />

Schneider<br />

Gary Schneider wurde 1954 in Südafrika<br />

geboren. Er wuchs in Kapstadt<br />

auf und zog 1977 nach New York.<br />

Seine Erfahrungen im Bereich Malerei,<br />

Theater und Film führten ihn zur<br />

Fotografie. Gary Schneiders Installation<br />

Genetic Self-Portrait wurde<br />

1998 im Musee de l’Elysee in Lausanne<br />

sowie im Santa Barbara Museum<br />

in Kalifornien ausgestellt und<br />

in einem Buch von LightWork veröffentlicht.<br />

Eine Retrospektive seiner<br />

Portraits wurde 2004 im Sackler<br />

Museum in Harvard, Boston ausgestellt<br />

und in einem Katalog der Yale<br />

Press veröffentlicht. 2005 wurde<br />

das Buch Nudes veröffentlicht und<br />

die darin enthaltenen Fotografien<br />

von Aperture in New York ausgestellt.<br />

http://museum.icp.org/museum/<br />

exhibitions/schneider/<br />

Mr. Schneider, was haben Ihnen die Kultur, in der<br />

Sie aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung über<br />

die menschliche Haut vermittelt?<br />

Inwiefern hat diese Wahrnehmung der Haut Ihren<br />

Karriereweg verändert?<br />

Auf den meisten Ihrer Portraits nähern Sie sich der<br />

Haut einer Person sehr oder schauen sogar buchstäblich<br />

darunter – wie zum Beispiel in Ihrer Serie<br />

‚Genetic Self-Portrait‘. Denken Sie, dass Sie eine<br />

Person – oder sich selbst in diesem Fall – dadurch<br />

besser kennenlernen?<br />

Ihre Serien ‚Genetic Portraits‘ und ‚Nudes‘ haben<br />

nichts mit den landläufigen Assoziationen eines<br />

Portraits gemein wie etwa ‚Schönheit‘ oder<br />

‚Charakterausdruck‘. Sie sind eher eine wissenschaftliche<br />

und methodische Untersuchung des<br />

menschlichen Körpers. Entsprechen sie damit dem<br />

Bild, das wir in der Zukunft von uns selbst haben<br />

werden, nach der Erfindung von DNA-Tests und biometrischen<br />

Ausweisen?<br />

Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt<br />

es auf den ersten Blick einen intensiven, aber oberflächlichen<br />

ästhetischen Effekt. Doch die Auswirkungen<br />

dieser ‚Berührung’ gehen weit tiefer.<br />

Inwieweit ist gerade diese nicht-visuelle und nichtoberflächliche<br />

Wirkung für Ihre Arbeit relevant?<br />

Meine Jugend in Südafrika hat mich gelehrt, misstrauisch gegenüber rassistischen<br />

Vorurteilen zu sein. Ich habe früh erkannt, dass Bedeutung nicht auf<br />

der Oberfläche liegt.<br />

Seit 1975 habe ich mich sehr genau mit der Oberfläche der Haut und anderen<br />

Themen aus der Biologie befasst. Ich habe entdeckt, dass das Studium der<br />

Oberfläche mich zur Meditation führt. Meditation oder ritualisiertes Verhalten<br />

erlaubt meinem Motiv, sich zu offenbaren. Die Haut ist unwichtig. Sie ist lediglich,<br />

was wir sehen, und nicht, was wir fühlen. Ich habe gelernt, dass Licht<br />

dazu benutzt werden kann, die Oberfläche zu transformieren, so dass sie nicht<br />

länger im Vordergrund steht.<br />

Meine Arbeiten sind so strukturiert, dass meine Motive und ich sich während<br />

des Prozesses gegenseitig kennenlernen können. Wir lernen durch den Austausch<br />

bei der Erstellung des Portraits. Ich interpretiere diese Informationen<br />

für Sie, den Betrachter. Beim ‚Genetic Self-Portrait‘ habe ich mit Wissenschaftlern<br />

und bei den Portraitfotografien, die ich mit meiner eigenen Kamera aufgenommen<br />

habe, mit Freunden und Verwandten zusammengearbeitet. Meine<br />

Erfahrung des Portraits unterscheidet sich von den Erfahrungen, die der Portraitierte<br />

oder der Betrachter damit machen. Meine Portraits sind Meditationen<br />

über Privatsphäre und Sterblichkeit.<br />

Identität ist der Hauptfokus meiner Portraits. Das fotografische Portrait verbindet<br />

häufig Schönheit und Glamour. Schönheit motiviert mich, aber meine<br />

Arbeiten sind niemals glamourös. Jede Arbeit entspricht einer reduktiven und<br />

rigorosen Methodik, so dass ein Vergleich zwischen den Portraits möglich ist.<br />

Ich versuche stets eine Situation herzustellen, in der ich voll kontrollieren kann,<br />

wie ich die Informationen sammle, und in der das Motiv nicht kontrollieren kann,<br />

was es preisgibt. Davon abgesehen, unterscheiden sich die Werkgruppen fundamental<br />

voneinander. Die genetischen Portraits sind ein Archiv der Geschichte<br />

der forensischen Wissenschaften. Die ‚Nudes‘ und die ‚Heads‘, die ich 1989 begann,<br />

wurden dagegen alle im Dunkeln fotografiert, mit einer kleinen Lichtquelle,<br />

mit der ich die Details jeder Person nachzeichnete. Die Sequenz der Bilder ist<br />

für jede Serie die gleiche. Alle Bilder werden auf Film über einen Zeitraum von<br />

ein bis zwei Stunden aufgenommen.<br />

Licht ist mein Zeichenmaterial. In den Kameraportraits erzählt es mir die<br />

Geschichte meiner Beziehung zum Motiv. In den Abdruckportraits, wie zum<br />

Beispiel bei den Handabdrücken oder Masken, ist das Licht ausschließlich metaphorisch,<br />

da die Lichtbereiche aus Schweiß und Hitze entstehen, wenn die<br />

Haut die Filmemulsion berührt. Sie sehen wie Licht aus. Licht erzählt mir immer<br />

die Geschichte. Licht hat mir ermöglicht, so nah an die Wahrheit heranzukommen<br />

wie möglich.<br />

FOTO: GARY SCHNEIDER<br />

Links: Gary Schneider: Genetic Self-Portrait<br />

Mask, 1999<br />

‚Kontaktabzüge‘ des menschlichen Körpers<br />

stellt Gary Schneider mit seinen ‚Imprints‘<br />

her. Was aussieht wie ein geheimnisvolles<br />

Licht, sind in Wirklichkeit Schweiß und<br />

Körperwärme, die auf die Film-Emulsion<br />

einwirken .<br />

D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />

43


06<br />

Ellen<br />

Lupton<br />

Ellen Lupton ist Autorin, Kuratorin<br />

und Grafikdesignerin. Zu ihren<br />

jüngsten Veröffentlichungen gehören<br />

‚D.I.Y: Design It Yourself‘ (2006)<br />

und ‚Thinking with Type‘ (2004). Sie<br />

ist Leiterin des MFA-Programms in<br />

Grafikdesign am Maryland Institute<br />

College of Art (MICA) in Baltimore.<br />

Zudem arbeitet Ellen Lupton als Kuratorin<br />

für modernes Design am<br />

Cooper-Hewitt National Design Museum<br />

in New York, wo sie zahlreiche<br />

Ausstellungen organisierte und Kataloge<br />

veröffentlichte, so auch das<br />

Buch ‚Skin: Surface, Substance + Design‘<br />

(2002).<br />

www.designwritingresearch.org<br />

Mrs. Lupton, was hat Ihnen die Kultur, in der Sie<br />

aufgewachsen sind, über die ‚Haut‘ von Menschen<br />

und Gegenständen vermittelt, und wie hat sich<br />

diese Vorstellung im Laufe der Jahre gewandelt?<br />

Ich wurde 1963 geboren und habe somit die 70er-Jahre als Teenager und<br />

junge Frau erlebt. In dieser Zeit sexueller Freiheit und Experimentierfreude<br />

bekam man Haut überall zu sehen. Mit dem Aufkommen von AIDS Anfang<br />

der 80er haben die Menschen dann begonnen, die menschliche Haut mit anderen<br />

Augen zu betrachten. Heute verbinden wir den Begriff ‚Haut‘ eher mit<br />

technischen Begriffen wie Schutz, Reparatur und Ausbesserung. Die natürliche<br />

Haut und direkter Körperkontakt haben an Bedeutung verloren. Statt<br />

dessen wird viel Gewicht auf künstliche Hüllen und Oberflächen gelegt. Die<br />

Idee von Oberflächen mit aufgeprägten Bildern und Informationen gewinnt<br />

zunehmend an Bedeutung.<br />

War dieser Wandel der Oberflächen zum Bild- und<br />

Informationsträger auf neue digitale Bild- und Produktionstechniken<br />

zurückzuführen, oder war dies<br />

einfach eine Gegenbewegung zu den überwiegend<br />

schlichten, unverzierten Oberflächen der Dinge<br />

während der Moderne?<br />

Teilweise ist dieser Wandel sicher technisch bedingt, da digitale Technologien<br />

den Planungs- und Produktionsprozess nachhaltig verändert haben und es<br />

heute ermöglichen, Sensoren, LEDs und andere ‚intelligente’ Bauteile in die<br />

Oberfläche von Gegenständen zu integrieren. Andererseits dürften die Veränderungen<br />

auch auf die wachsende Bedeutung der Kommunikation in allen Lebensbereichen<br />

zurückzuführen sein. Heute muss alles und jeder sprechen und<br />

eine Botschaft vermitteln. Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat<br />

diese globale Entwicklung bereits Ende der sechziger Jahre in seinen Schriften<br />

zur ‚Herrschaft der Zeichen’ thematisiert. Etwa zur selben Zeit begannen experimentelle<br />

Designer, die gängigen Vorstellungen von Design, das aus der<br />

Struktur eines Objekts entsteht, zu kritisieren und ihre Tätigkeit stattdessen<br />

als eine Art von Publizität anzusehen.<br />

Neue, künstlich hergestellte Hüllen laufen oft den<br />

Sehgewohnheiten zuwider: Harte Gegenstände<br />

wirken weich und umgekehrt, raue Flächen wirken<br />

glatt ... Wird unser Sehvermögen zunehmend unzuverlässig<br />

bei der Wahrnehmung von Oberflächen?<br />

Seit dem Aufkommen der Digitaltechnik können wir uns bei der Einschätzung<br />

der Wahrheit nicht mehr allein auf unsere visuelle Wahrnehmung verlassen.<br />

Sichtbare Flächen können uns täuschen, sie können uns aber auch konkrete Realitäten<br />

vermitteln. Wir haben uns an anpassbare und veränderliche digitale<br />

Oberflächen gewöhnt; sie sind ein Teil unseres Alltags geworden.<br />

Produktdesign und Architektur orientieren sich zunehmend<br />

an den Eigenschaften menschlicher Haut<br />

und natürlicher Oberflächen. Welche Aspekte sind<br />

Ihrer Meinung nach für Designer hier besonders<br />

interessant?<br />

Die Konzeption von Materialien, die Licht sowohl absorbieren als auch ausstrahlen,<br />

ist sehr überzeugend. Heutzutage sind Materialien nicht mehr Nebensache,<br />

sondern Träger von Informationen und Strukturen. Oberflächen<br />

erhalten damit eine wesentliche, nicht mehr nur sekundäre Bedeutung.<br />

Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt<br />

es auf den ersten Blick einen intensiven, aber oberflächlichen<br />

ästhetischen Effekt. Doch die Auswirkungen<br />

dieser ‚Berührung‘ gehen tiefer, unter die<br />

Oberfläche. Inwieweit ist diese unsichtbare Tiefenwirkung<br />

des Lichts für Ihre Arbeit relevant?<br />

Wie schon erläutert, gehört die Fähigkeit einzelner Materialien, Licht aufzunehmen<br />

und auszustrahlen, für mich zu den wichtigsten Errungenschaften moderner<br />

Materialtechnologie und ist somit essentiell für das Design der Zukunft:<br />

Solarmaterialien werden die entscheidende Energiequelle für unseren Lebensraum<br />

sein, sei es durch Licht oder andere Formen nutzbarer Energie.<br />

44 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


07<br />

Aziz + Cucher<br />

Anthony Aziz und Sammy Cucher<br />

erstellen seit 1991 digitale Fotografien,<br />

Skulpturen, Videos und architektonische<br />

Installationen. Sie leben<br />

und arbeiten in New York City. Als<br />

Vorreiter der digitalen Bilddarstellung<br />

wurden die Werke von Aziz +<br />

Cucher weltweit in großen Museen<br />

ausgestellt. Beide sind Fakultätsmitglieder<br />

der Parsons School of Design<br />

in New York.<br />

www.azizcucher.net<br />

Mr. Aziz, Mr. Cucher, was hat Ihnen die Kultur, in<br />

der Sie aufgewachsen sind, über Haut vermittelt,<br />

und wie hat sich diese Vorstellung im Laufe der<br />

Jahre gewandelt?<br />

Ihre ‚Hautlandschaften‘ lassen sich als Reaktion auf<br />

zwei wichtige Phänomene moderner Design- und<br />

Technikentwicklung interpretieren: die Prothetik,<br />

also die Erweiterung oder der Ersatz menschlicher<br />

Körperteile durch technologische Mittel, und die Bionik,<br />

also die Nachbildung natürlicher Strukturen<br />

in künstlich hergestellten Objekten. Welche Hoffnungen<br />

und Befürchtungen verbinden Sie damit?<br />

Beim Betrachten Ihrer Serien ‚Chimera‘ und ‚Interiors‘<br />

habe ich mich gefragt: Wie würden sich diese<br />

Skulpturen und Gebilde, wären sie echt, anfühlen?<br />

Wären sie hart oder weich, trocken oder feucht,<br />

glatt oder rau, warm oder kalt?<br />

Wenn Sie einen architektonischen Raum entwerfen<br />

müssten, welche Aufgabe würde dann seinen<br />

Oberflächen zukommen?<br />

Nächste Doppelseite:<br />

Aziz + Cucher: Interior Study #3, 2000<br />

Aziz + Cucher: Interior #6, 2000<br />

Die ‚Interiors‘ der Künstler Anthony Aziz<br />

und Sammy Cucher oszillieren zwischen<br />

zwei Welten: der Architektur und dem<br />

menschlichen Körper.<br />

Mit unserem kulturellen Hintergrund und unserer Erziehung verbinden wir<br />

keine spezielle begriffliche Vorstellung von Haut. Erst nachdem wir persönlich<br />

und künstlerisch mit der AIDS-Krise konfrontiert wurden, hat die Haut<br />

nicht nur für unsere Arbeit, sondern auch für uns persönlich eine wichtige<br />

Bedeutung gewonnen, obgleich wir AIDS niemals zum direkten Gegenstand<br />

unserer Werke machten. AIDS hat uns nicht nur die Fragilität des menschlichen<br />

Körpers vor Augen geführt, sondern auch die von unserer Spezies entwickelten<br />

raffinierten Immunitäts- und Abwehrmechanismen. Natürlich ist<br />

Haut die wichtigste physische Barriere zwischen unserem Körperinneren und<br />

der Außenwelt. Den vielen mit dieser Dualität von Begrenzung und Abtrennung<br />

verbundenen Metaphern widmen wir uns seitdem mit zunehmendem Interesse,<br />

weniger im biologischen und immungenetischen Sinne als eher unter<br />

einem philosophischen Blickwinkel. So versuchen wir, die Grenzen des menschlichen<br />

Daseins und unseres Bewusstseins auszuloten.<br />

Die Kunst der Prothetik hat uns erstmals während unserer Arbeit an ‚ausradierten‘<br />

Porträts für unsere Serie ‚Dystopia‘ fasziniert. Diese Porträts veranlassten<br />

uns dazu, Objekte zu erfinden, die die Welt dieser ihrer Sinnesorgane<br />

beraubten und nach innen gekehrten Wesen bevölkern könnten. Die so entstandenen<br />

Skulpturen und Fotografien für die Serie ‚Plasmorphica‘ wirkten extrem<br />

kalt. Sie verkörperten unsere Befürchtung, dass moderne Technologien einen<br />

katastrophalen Verlust an Menschlichkeit bedeuten könnten.<br />

Diese negative Sichtweise haben wir in der Serie ‚Interiors‘ leicht abgeschwächt;<br />

hier verschmolz der menschliche Körper mit seiner architektonischen<br />

Umgebung in lyrischer und gleichzeitig unheimlich anmutender<br />

Metamorphose. Heute stehen wir der Technik neutraler gegenüber, da wir ihr<br />

enormes Potenzial (je nach ihrer Nutzung zum Guten oder Schlechten) erkannt<br />

haben. Unsere jüngeren Arbeiten seit der Serie ‚Synaptic Bliss‘ lassen sich als<br />

Hommage an eine technische Art des Sehens interpretieren, die uns tiefere<br />

und vielfältigere Wahrnehmungsmöglichkeiten offenbart.<br />

Ihre Fragen zielen genau auf die Art imaginativer Reaktion ab, die wir bei den<br />

Menschen beim Betrachten dieser Werke evozieren möchten. Natürlich sind<br />

wir keine Wissenschaftler und daher kaum daran interessiert, irgendeine unserer<br />

Kreaturen ‚zum Leben zu erwecken‘. Uns genügt es vollkommen, uns im<br />

Reich von Sinnbildern und Spekulationen zu bewegen. Müssten wir ihnen aber<br />

spezifische Eigenschaften zuweisen, würden sich unsere Hautgebilde vermutlich<br />

weich, warm und vielleicht ein wenig feucht anfühlen.<br />

Die Haut zeichnet sich durch starke metaphorische Bedeutung und zahlreiche<br />

Funktionen aus – wäre es da nicht reizvoll, Gebäude zu entwerfen, deren ‚Hülle‘<br />

nicht nur Gefäß ist, sondern zugleich Sensor und Übermittler lebenswichtiger<br />

Informationen? Porosität und Elastizität sind zwei Eigenschaften, mit denen<br />

sich in der Architektur sicherlich interessant experimentieren ließe.<br />

45


AZIZ + CUCHER<br />

46 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


AZIZ + CUCHER<br />

47


08<br />

Thea<br />

Bjerg<br />

Thea Bjerg ist eine international anerkannte<br />

Textilkünstlerin und -designerin.<br />

Sie arbeitet und experimentiert<br />

seit mehr als zwei Jahrzehnten mit<br />

Licht und Schatten bei textilen Materialien.<br />

Für ihre Arbeiten erhielt sie<br />

unter anderem den japanischen Nagoya<br />

Design DO Award und das große<br />

dänische Stipendium für Kunsthandwerker<br />

aus der Kold-Christensen-<br />

Stiftung. Thea Bjergs Textilien sind<br />

unter anderem in Museen in Peking,<br />

London, Köln und Mexico City ausgestellt.<br />

Ihre Arbeiten werden unter<br />

anderem in den MoMA Stores des<br />

Museum of Modern Art in New York<br />

verkauft. www.theabjerg.com<br />

Frau Bjerg, was haben Ihnen die Kultur, in der Sie<br />

aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung über Textilien<br />

und deren Verhältnis zum menschlichen Körper<br />

vermittelt?<br />

Welche Eigenschaften von Textilien haben Sie im<br />

Laufe Ihrer eigenen Arbeit für sich entdeckt?<br />

Sind Textilien für Sie ein Mittel menschlicher Kommunikation?<br />

Können sie etwas signalisieren – zum<br />

Beispiel durch die Art und Weise, wie sie Teile des<br />

Körpers verdecken und andere enthüllen, und wie<br />

sie den Blick des Betrachters auf diese Weise lenken?<br />

Ich wurde in den 80er-Jahren an der Fakultät für Textildesign der Dänischen<br />

Designschule ausgebildet. Wir beschäftigten uns dort hauptsächlich mit Musterdesign,<br />

also mit der Frage, wie sich ebene, eindimensionale textile Flächen<br />

mit Farben und Mustern ‚ausfüllen’ lassen. Textilien waren für mich damals<br />

noch kein besonders sinnliches und kommunikatives Material, und wir hatten<br />

während unserer Ausbildung auch nur ein sehr eingeschränktes Verhältnis zur<br />

körperlichen Dimension unserer Arbeiten. An der Fakultät gab es jedoch eine<br />

Textilingenieurin, die ein wenig als ‚Freak‘ angesehen wurde. Sie experimentierte<br />

im Kleinen mit besonderen Techniken und Materialien, und ich glaube,<br />

dass ich ihre Herangehensweise später verinnerlicht habe.<br />

Seit ich die Designschule verlassen habe, habe ich meine Arbeit sehr stark auf<br />

das Experimentelle ausgerichtet. Ungefähr ab 1990 begann mich die Frage zu<br />

interessieren, wie man der textilen Fläche einen dreidimensionalen Ausdruck<br />

verleihen könnte. Meine Arbeitsweise wurde ausgesprochen forschungsorientiert,<br />

baute jedoch noch immer auf einer künstlerischer Grundlage auf. Ich arbeite<br />

fast ausschließlich handwerklich mit meinen Textilien, und es bedeutet für mich<br />

eine enorme Freiheit, mit Techniken zu experimentieren, zu denen ich mich selbst<br />

vorgearbeitet habe und die sich schlechterdings nicht auf eine maschinelle Herstellung<br />

übertragen ließen. Je mehr ich Textilien dreidimensional gestalte, desto<br />

sinnlicher und kommunikativer wird dieses Material für mich. Dies hat natürlich<br />

stark mit der dabei entstehenden Räumlichkeit und den Strukturen zu tun, also<br />

mit den Licht- und Schattenwirkungen in den Stoffen. Dass sich meine Textilien<br />

ebenso wie das Licht und das Wetter draußen im Laufe des Tages verändern und<br />

dass sie auch auf diese Weise mit dem Betrachter kommunizieren, wirkt nach<br />

meiner Erfahrung faszinierend und inspirierend auf viele Menschen.<br />

In meinem Projekt AQUATIC aus dem Jahr 2004 wird ein sehr direktes Verhältnis<br />

zum menschlichen Körper spürbar. Ich arbeite hier mit Falten und Plisseetechniken,<br />

die ich im Laufe der Jahre entwickelt habe und die ich teilweise<br />

mit Druck- und Schweißverfahren kombiniere. Diese Werke nenne ich ‚Körperskulpturen‘,<br />

weil sie dem Träger eine stoffliche Silhouette verleihen. Sie sind zugleich<br />

weich und geschmeidig, sie lassen sich um den Körper herum drapieren<br />

und senden starke Signale, dass etwas Besonderes im Spiel ist, etwas Sinnliches.<br />

Textilien sind in meinen Augen ein sehr feminines Material ...<br />

Gleichzeitig lenkt die skulpturale Gestaltung den Blick in vorgegebene<br />

Richtungen und fordert dazu auf, in einem sinnlichen Universum auf Entdeckungsreise<br />

zu gehen. Das geschieht nicht zuletzt, indem ich den Körper verdecke<br />

und enthülle und dabei Licht und Schatten zur Geltung bringe. Es wäre<br />

allerdings verfehlt anzunehmen, dass ich mich mit Textilien ausschließlich<br />

im Verhältnis zum Körper beschäftige. Das Material greift in ebenso hohem<br />

Maße in den Raum ein, entweder skulptural oder als eine bearbeitete Fläche,<br />

und einige meiner künftigen Projekte werden von Textilien als Rauminstallation<br />

oder Raumschmuck handeln. Das kann in Form von Tapeten, Strukturen,<br />

als Abschirmung oder als Lichtfilter geschehen.<br />

Für mich wäre es eine Herausforderung, zum Beispiel mit Architekten zusammenzuarbeiten<br />

und Visionen zu entwickeln, wie sich Textilien als integrierter<br />

Bestandteil eines Bauwerks und anderer räumlicher Zusammenhänge<br />

zur Geltung bringen lassen. Dies meine ich sowohl im praktischen als auch im<br />

dekorativen Sinne. In einer solchen Zusammenarbeit ließen sich einzigartige<br />

textile Konstruktionen und Raumwirkungen erzeugen.<br />

48 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Rechts: Thea Bjerg: Opaline Sea Anemone,<br />

AQUATIC, 2004<br />

In ihrem „Aquatic“-Projekt setzt Thea Bjerg<br />

hauchdünne, plissierte Polyesterstoffe ein,<br />

die den menschlichen Körper verschleiern<br />

und seine Silhouette dennoch durchscheinen<br />

lassen.<br />

Unten:<br />

Thea Bjerg: White Flowers, 1995<br />

FOTO: JEPPE GUDMUNDSEN-HOLMGREEN<br />

Folgende Doppelseite:<br />

Thea Bjerg: Dark Black Scorpion Fish,<br />

AQUATIC, 2004<br />

Welche technischen Entwicklungen haben das<br />

Textildesign in den vergangenen Jahren beeinflusst<br />

und werden es in der nahen Zukunft beeinflussen?<br />

Hat sich auch Ihre Arbeitsweise unter diesen Einflüssen<br />

verändert?<br />

Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt<br />

es auf den ersten Blick einen intensiven, aber oberflächlichen<br />

ästhetischen Effekt. Doch die Auswirkungen<br />

dieser „Berührung“ gehen weit tiefer. In<br />

der Biologie und Medizin ist gerade diese nicht-visuelle<br />

und nicht-oberflächliche Wirkung essenziell<br />

für den Organismus. Sehen Sie hier Parallelen zu<br />

Ihrer eigenen Arbeit?<br />

Ich habe in den letzten Jahren stark mit neuen Techniken wie Lasercut und Ultraschallschweißen<br />

experimentiert; Methoden, mit denen man Textilien sehr<br />

präzise schneiden und schweißen kann. Sie haben mir zum Teil völlig neue gestalterische<br />

Perspektiven eröffnet. Beispielsweise habe ich Muster aus Stoffen<br />

ausgeschnitten und danach plissiert, so dass eine gebrochene und gleichzeitig<br />

strukturierte Oberfläche entstand. Dies ist eine inspirierende und äußerst<br />

dekorative Technik, und bezogen auf die Projekte, die ich weiter oben genannt<br />

habe, wäre es höchst interessant, damit im Hinblick auf Beleuchtung, Lichtabschirmung<br />

und Raumwirkung zu experimentieren.<br />

Die Natur ist für meine Arbeit als Textilkünstlerin eine wichtige Inspirationsquelle.<br />

Die Strukturen im Gefieder eines Vogels, die Schichten der Blüten-blätter<br />

einer Blume, die Art, in der ein Stein geriffelt ist, Licht und Schatten auf<br />

der Haut eines Kriechtieres – ich beobachte diese Vorbilder nicht mit der Absicht,<br />

sie zu kopieren, sondern um sie in einen textilen Ausdruck zu transformieren.<br />

Im AQUATIC-Projekt zum Beispiel hat mich das Universum unter der<br />

Meeresoberfläche mit seinen Korallen, seiner Flora und Fauna sowie seinen<br />

Farben, Muster und Formen intensiv beschäftigt. Und natürlich das Licht, wie<br />

es durch die Wasseroberfläche gebrochen und transformiert und dadurch für<br />

die darin eingebundenen Strukturen und Formationen zu etwas essenziell Lebensspendendem<br />

wird.<br />

FOTO: ROBERTO FORTUNA<br />

49


D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


FOTO: JEPPE GUDMUNDSEN-HOLMGREEN


09<br />

Dietmar<br />

Eberle<br />

Dietmar Eberle leitet gemeinsam mit<br />

Carlo Baumschlager das Architekturbüro<br />

Baumschlager Eberle mit Niederlassungen<br />

in Lochau, Vaduz, Wien,<br />

Peking und St. Gallen. Seit mehr als 20<br />

Jahren lehrt Dietmar Eberle an internationalen<br />

Hochschulen, unter anderem<br />

in Hannover, Wien, Linz, Syracuse<br />

und Zürich, wo er von 2003 bis 2005<br />

Dekan der Architekturabteilung der<br />

Eidgenössischen Technischen Hochschule<br />

(ETH) war. Dietmar Eberle ist<br />

Ehrenmitglied im American Institute<br />

of Architects.<br />

www.baumschlager-eberle.com<br />

Herr Eberle, was haben die Kultur, in der Sie aufgewachsen<br />

sind, und Ihre Ausbildung zum Architekten<br />

Ihnen über Gebäudehüllen vermittelt?<br />

Welche eigenen neuen Erkenntnisse haben Sie in<br />

Ihrer Arbeit als Architekt gewonnen?<br />

Über den Technologiegehalt von Architektur –<br />

Stichwort ‚High Tech kontra Low Tech‘ – wurde und<br />

wird vor allem bei Gebäudehüllen viel diskutiert:<br />

Welche grundsätzlichen Interessen sehen Sie hier<br />

im Spiel, und wie ist Ihre Haltung in dieser Frage?<br />

Welche Auslöser werden die Entwicklung von Gebäudehüllen<br />

in naher Zukunft beeinflussen; und<br />

welche Entwicklungen sehen Sie voraus?<br />

Ich bin in Vorarlberg aufgewachsen, einer gebirgigen und ursprünglich strukturschwachen<br />

Region, in der über Jahrhunderte mit Bedacht und äußerster<br />

Sparsamkeit gewirtschaftet werden musste. Das größte Interesse lag hier<br />

immer beim Nutzen, also beim Verhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis.<br />

Traditionelle Gebäude sind hinsichtlich Konstruktion, Form und Ausgestaltung<br />

der Fassade optimal an das regionale Klima angepasst. In ihnen steckt<br />

ein überzeugendes physikalisches Wissen, das auf jahrhundertealten Erfahrungen<br />

aufbaut und den Weg für einen haushälterischen Umgang mit beschränkten<br />

Ressourcen aufzeigt. Im Studium habe ich mir das erforderliche<br />

Rüstzeug erworben, um das physikalische und technisch-konstruktive Potenzial<br />

unterschiedlicher Materialien auszureizen. Ich habe gelernt, die Gebäudehülle<br />

nicht als feststehende Größe zu begreifen, sondern als eine aus<br />

mehreren Ebenen bestehende Übergangszone, die zwischen den Polen innen<br />

und außen, hell und dunkel, kalt und warm, öffentlich und privat vermittelt.<br />

Gerade Räume wie überdeckte Vorplätze, Eingangshallen, Loggien, nicht beheizte<br />

Wintergärten oder auch Fensterlaibungen sind von großem Reiz, weil<br />

sie immer beide Optionen beinhalten.<br />

Mir wurde klar, dass das Erscheinungsbild der Gebäudehülle eine Schlüsselposition<br />

in der Nachhaltigkeitsdebatte einnimmt. Wie die Erfahrung zeigt, ist es<br />

nicht die technische Qualität, die über die Lebensdauer eines Gebäudes entscheidet,<br />

sondern dessen soziale und kulturelle Dimension. Gebäude werden<br />

nur alt, wenn sie in der gesellschaftlichen Akzeptanz einen besonderen Stellenwert<br />

besitzen – und dieser entscheidet sich in erster Linie auf der sinnlichwahrnehmbaren<br />

Ebene. Architektur teilt sich dem Betrachter vor allem über<br />

ihre Oberfläche mit; bei einer Gebäudebeschreibung ist die Materialisierung<br />

der Gebäudehülle das meistgenannte Merkmal. Als Architekt lege ich deshalb<br />

großen Wert auf natürliche Materialien, die in Würde altern. Außerdem habe<br />

ich erkannt, dass die gerade erwähnte Verräumlichung der Fassade eine besondere<br />

Qualität darstellt in der Kommunikation des Gebäudes nach außen.<br />

Bei all diesen Diskussionen um den Technologiegehalt von Gebäuden gerät<br />

doch das eigentliche Thema gerne in Vergessenheit: die Behaglichkeit. Dabei<br />

ist sie es, um die es beim Bauen letztlich geht. Was interessiert es die Leute,<br />

ob das Gebäude ein paar Watt mehr oder weniger verbraucht; stattdessen<br />

zählen für sie in erster Linie der Komfort und die Aufenthaltsqualität in den<br />

Räumen. Ich persönlich bin der Meinung, dass alles an Technik, was dem Komfortbegriff<br />

nicht direkt und unbedingt zuträglich ist, weggelassen werden<br />

sollte. Gerade bewegliche Techniken, die einer konstanten mechanischen Beanspruchung<br />

ausgesetzt sind, bedingen periodische Instandhaltungsarbeiten.<br />

Sie unterliegen meist einem schnelleren Verfallsprozess, als dies beispielsweise<br />

bei statischen Elementen der Fall ist. Im Übrigen besteht Komfort auch darin,<br />

dass so wenig Bedienung wie möglich erforderlich ist. Damit ein Gebäude<br />

nachhaltig und langfristig funktioniert, muss man die Technik nicht optimieren,<br />

sondern minimieren.<br />

Ein Thema von großer gesellschaftlicher Relevanz ist die Senkung des Energieverbrauchs.<br />

In den entwickelten Gesellschaften werden 50 bis 60 % des<br />

Primärenergiebedarfs allein für die Errichtung und das Betreiben von Gebäuden<br />

aufgewendet. Wir, die wir im Bauwesen engagiert sind, können, müssen<br />

also die wesentlichen Beiträge zur Verbesserung der Ressourcenproblema-<br />

52 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Rechts: Baumschlager Eberle:<br />

Verwaltungsgebäude Saeco,<br />

Lustenau, 1998<br />

Ganz rechts: Baumschlager<br />

Eberle: Wohnen am Lohbach,<br />

Innsbruck, 2000<br />

Folgende Doppelseite:<br />

Baumschlager Eberle:<br />

BTV, Wolfurt, 1998<br />

Wohnanlage Eichgut,<br />

Winterthur, 2005<br />

PHOTOS (PAGES 53–55): EDUARD HUEBER<br />

tik erbringen. Unser Ziel muss es sein, Gebäude so zu bauen, dass sie in einem<br />

höheren Maße selbstregulierend sind und sehr präzis auf die örtlichen Klimatologien<br />

reagieren. Bemühungen zur energetischen Fassadenoptimierung<br />

machen allerdings nur dann Sinn, wenn eine Betrachtung des Gebäudes als<br />

Gesamtsystem erfolgt. Gebäudehülle und Technik stellen darin die wichtigsten<br />

Teilsysteme dar, die miteinander in Interaktion stehen. Insgesamt werden<br />

uns immer mehr hochwertige, physikalisch effektive Materialien zu ökonomisch<br />

sinnvollen Preisen zur Verfügung stehen. Diese Entwicklung ist besonders<br />

stark im Bereich der Glastechnologie zu erkennen. Hier geht es vor allem<br />

in die Richtung, dass Gläser zunehmend imstande sind, sich selbstständig an<br />

Umwelteinflüsse wie zum Beispiel wechselnde Lichtverhältnisse anzupassen.<br />

Große Veränderungen sind auch in der Dämmtechnik abzusehen, wo die<br />

Reduktion der Dämmstärken mit einer gleichzeitigen Qualitätsverbesserung<br />

einhergeht. Für gemäßigtere Klimazonen bedeutet dies, dass sich bereits in<br />

naher Zukunft eine Heizung erübrigen wird. Ganz allgemein werden wesentlich<br />

weniger haustechnische Anlagen notwendig sein.<br />

Welche Lichtqualitäten suchen Sie mit den Gebäudehüllen,<br />

die Sie entwerfen, den Innenräumen zu<br />

verleihen?<br />

Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt<br />

es auf den ersten Blick einen intensiven, aber<br />

oberflächlichen ästhetischen Effekt. Doch die<br />

Auswirkungen dieser ‘Berührung’ gehen weit tiefer,<br />

unter die Oberfläche. In der Biologie und Medizin<br />

ist gerade diese nicht-oberflächliche Wirkung<br />

essenziell. Sehen Sie hier Parallelen zu Ihrer eigenen<br />

Arbeit, und welche Konsequenzen ziehen<br />

Sie daraus?<br />

Zuerst einmal bin ich der Meinung, dass – unabhängig davon, ob es sich um<br />

ein Wohn- oder Bürohaus oder auch um ein öffentliches Bauwerk handelt –<br />

bei allen Gebäuden dasselbe im Vordergrund steht: das Wohlergehen und die<br />

Behaglichkeit des Menschen. Bauen ist die Unterscheidung zwischen Innen<br />

und Außen. Es ist ein Akt der Ausgrenzung einer kleinen Einheit, deren fundamentale<br />

Eigenschaften in einer Ergänzung des jeweils anderen Zustands liegen;<br />

also im Dunkeln, in der Geborgenheit und im Geschütztsein vor Wind und<br />

Wetter. Tageslicht bindet das Innen ans Außen. Seine vermittelnde Wirkung<br />

kann es allerdings nur ausüben, wenn zwischen dem Innen- und dem Außenraum<br />

ein Gefälle hinsichtlich der Helligkeit besteht. Dieses Gefälle hängt ab<br />

von der Beschaffenheit der Gebäudehülle bzw. der Anzahl an lokalen Durchbrechungen.<br />

Je mehr Licht sie einlässt, umso mehr verliert das Innere von seiner<br />

spezifischen Innenraumwirkung und dem damit verbundenen Gefühl der<br />

Geborgenheit. Ich halte es für einen Denkfehler, wenn man die Lichtverhältnisse<br />

des Innenraums jenen des Außenraums anzugleichen sucht. In meinen<br />

Projekten versuche ich, technische und bauliche Strukturen schaffen, die spannungsreiche<br />

Übergangszonen zwischen Hell und Dunkel anbieten und Mehrdeutigkeiten<br />

zulassen.<br />

Wie in der Medizin interessiert auch in der Architektur nicht die unmittelbare<br />

physikalische Lichteinstrahlung, sondern vielmehr das, was der Lichteinfall<br />

im Zusammenspiel mit seinem Gegner, dem Schatten, in der Summe bewirkt:<br />

die Erzeugung einer bestimmten Atmosphäre. Diese erleben wir allerdings nur<br />

in der leibhaftigen Begegnung mit Bauwerken und in ihrer Begehung. Im Architekturentwurf<br />

werden indessen Licht- oftmals mit Sichtbedingungen verwechselt<br />

und neben dem Auge die übrigen Sinne vergessen. Man versucht,<br />

möglichst helle und ‚optimale‘ Lichtverhältnisse herzustellen, die dem Kunstlicht<br />

nahe kommen und das Sehen erleichtern sollen. Tageslicht unterliegt hingegen<br />

einem zeitlichen Wandel. Untersuchungen zeigen, dass es gerade diese<br />

Eigenschaft seiner Veränderlichkeit ist, die das Wohlbefinden des Menschen<br />

im Raum positiv beeinflusst. Es ist mir deshalb wichtig, Tageslicht nicht als<br />

statische Größe zu begreifen, sondern als einen dynamischen Parameter in<br />

den Entwurf miteinzubeziehen und damit auch Zwischentöne, Diffusionen und<br />

Verschleierungen zuzulassen.<br />

53


10<br />

Kengo<br />

Kuma<br />

Kengo Kuma wurde 1954 in der<br />

japanischen Präfektur Kanagawa<br />

geboren. 1979 schloss er sein Architekturstudium<br />

an der Universität in<br />

Tokio ab. Nach einem Graduiertenstipendium<br />

an der Columbia University<br />

gründete er 1987 das Büro Spatial<br />

Design Studio und 1990 sein heutiges<br />

Büro Kengo Kuma & Associates.<br />

Von 1998 bis 1999 lehrte er an der Fakultät<br />

für Umweltinformationen und<br />

seit 2001 an der Fakultät für Wissenschaft<br />

und Technologie der Keio Universität<br />

in Tokio. www.kkaa.co.jp<br />

Herr Kuma, was hat Ihnen die Kultur in der Sie<br />

aufgewachsen sind, über Licht vermittelt?<br />

Inwieweit hat sich Ihre Auffassung von Licht im<br />

Laufe der Jahre verändert<br />

In seinem Buch ‚Lob des Schattens‘ erläutert Junichiro<br />

Tanizaki die kulturellen Unterschiede im<br />

Bezug auf Licht und seine Wechselwirkungen mit<br />

Oberflächen, die zwischen der traditionellen japanischen<br />

und modernen westlichen Kulturen bestanden.<br />

In welcher dieser Kulturen sehen Sie Ihre<br />

eigene Arbeit verankert?<br />

Sie haben mehrfach gesagt, dass auf das 20. Jahrhundert,<br />

das in der Architektur ein ‚Jahrhundert<br />

der Form‘ gewesen sei, nun das 21. Jahrhundert als<br />

‚Jahrhundert des Lichts‘ folge. Was bestärkt Sie in<br />

dieser Überzeugung?<br />

Das Haus, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, lag in einem Vorort von<br />

Yokohama. Es war ein kleines Holzhaus aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg und<br />

hatte eine ganz andere Architektur als das Haus meines Freundes, das in den<br />

60er-Jahren gebaut worden war. Es hatte ein langes Vordach, die Fensterrahmen<br />

waren aus Holz und vor den Glasfenstern waren auf der Innenseite Schiebetüren<br />

aus japanischem Papier. Es gab zwar nur ein Zimmer, das mit Tatami<br />

(Reisstrohmatten) ausgelegt war, aber es war das Zimmer, das mir am besten<br />

gefiel. Auf diesen Tatami zu sitzen und mit meinen Bauklötzen zu spielen, während<br />

das warme Licht der Abendsonne, das durch die Schiebetüren drang, auf<br />

mich fiel, waren für mich glückliche Stunden.<br />

Die Architektur, die man uns an der Universität lehrte, basierte auf Beton, Eisen<br />

und Glas und war damit ganz anders als die meines Zuhauses. Auch über die<br />

Handhabung von Licht habe ich an der Universität nichts gelernt. Wie wichtig<br />

das Verhältnis von Architektur und Licht ist, wurde mir erneut 1985, als in<br />

New York wohnte, durch den Austausch mit dem Leuchtendesigner Edison<br />

Price bekräftigt. Ich hatte in meiner New Yorker Wohnung Tatami ins Wohnzimmer<br />

gelegt und dort öfter mit Freunden Tee getrunken und dort hörte ich<br />

von ihm eine Episode aus der Zeit, als er mit Mies van der Rohe und Louis Kahn<br />

gearbeitet hatte. „Haben Mies und Kahn sich auch intensiv mit Licht auseinandergesetzt?“,<br />

fragte ich erstaunt und dachte, dass auch ich eine Art von Architektur<br />

entwerfen möchte, die sich mit Licht beschäftigt. Damals beschloss ich,<br />

noch einmal das traditionelle japanische Licht, das mir aus meiner Kindheit vertraut<br />

war, zu untersuchen. Jene New Yorker Tatami habe ich Edison geschenkt<br />

und ich habe gehört, dass er auf diesen Tatami gestorben ist.<br />

Der ‚Lob des Schattens‘ von Tanizaki ist ein wunderbares Werk. Darin wird<br />

deutlich beschrieben, dass die Unterschiede zwischen zwei Kulturen mit dem<br />

unterschiedlichen Umgang mit Licht zu begründensind. So wichtig ist der Faktor<br />

Licht für eine Kultur! Aber leider kam nach dem 2. Weltkrieg der Beton aus<br />

dem Westen nach Japan und hat die Städte und Architektur in Japan gründlich<br />

zerstört. Es wurde nicht nur die Hardware ‚Stadt‘ zerstört; sondern auch<br />

die Software ‚Kultur‘ hat einen entscheidenden Schaden erlitten. Was ich<br />

versuche, ist diesen Schaden zu beheben. Daher ist es notwendig, auch in<br />

großen Gebäuden natürliche Baustoffe wie Holz zu verwenden, und wichtig,<br />

auch dort den sensiblen Umgang mit Licht, wie er von Tanizaki gepriesen<br />

wurde, beizubehalten.<br />

Das 20. Jahrhundert war ein Zeitalter, in dem Architektur durch die Fotografie<br />

erfahren wurde. Einfach ausgedrückt war diejenige Architektur beliebt, die<br />

man gut auf Fotos darstellen konnte. Und fotogene Architektur ist eine Architektur<br />

der charakteristischen Formen. Im 21. Jahrhundert wird jedoch die<br />

direkte Erfahrung durch einen Besuch vor Ort für die Menschen immer wichtiger.<br />

Durch das direkte Erleben des Objekts und des Raumes erhoffen sich die<br />

Menschen einen emotionalen Input. In dieser Situation werden Licht und Material<br />

zu den wichtigsten Faktoren eines Entwurfs. Es entsteht eine direkte<br />

Kommunikation zwischen Material, Licht und dem menschlichen Körper. Wir<br />

leben in einem Zeitalter, in dem Architektur unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge<br />

neu definiert werden muss.<br />

56 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Rechts: Kengo Kuma & Associates:<br />

Büro und Showroom Z58,<br />

Shanghai, 2006<br />

Ganz rechts und folgende Doppelseite:<br />

Kengo Kuma & Associates: Ginzan<br />

Onsen Fujiya,Obanazawa, 2006<br />

Durch die Auflösung des Lichts in ein<br />

dichtes Gewebe aus Licht- und Schattenflächen<br />

lässt Kengo Kuma in vielen<br />

seiner Bauten das Halbdunkel traditioneller<br />

japanischer Häuser wieder<br />

erstehen, das Junichiro Tanizaki in<br />

‚Lob des Schattens‘ beschrieben hat.<br />

PHOTO: MITSUMASA FUJITSUKA<br />

PHOTO: DAICI ANO<br />

Wie werden sich die Prinzipien der Materialverwendung<br />

in der Architektur verändern?<br />

In unserer visuell dominierten Kultur funktioniert<br />

das Erkennen eines Ortes oder Raumes in der Regel<br />

primär über dessen Elemente und ihre Form, weniger<br />

über Materialien, Gerüche und Geräusche.<br />

Welche Rolle spielt das Licht in diesem Zusammenhang?<br />

Was genau verstehen Sie unter der ‚Auflösung‘ des<br />

Lichts, einer Strategie, die Sie häufig in Ihren Entwürfen<br />

verwenden, und welche Bedeutung hat sie<br />

für Sie?<br />

Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt<br />

es auf den ersten Blick einen intensiven, aber oberflächlichen<br />

ästhetischen Effekt. Doch die Auswirkungen<br />

dieser ‚Berührung‘ gehen tiefer, unter die<br />

Oberfläche, und genau diese unsichtbare Tiefenwirkung<br />

des Lichts ist für uns lebensnotwendig.<br />

Inwiefern ist diese Analogie für Ihre Arbeit relevant?<br />

Beton und Eisen waren funktionale Materialien, die eine freie Form ermöglicht<br />

haben. In diesem Sinne war die Form das oberste Ziel und die Materialien<br />

haben sich der Form untergeordnet. Aber im 21. Jahrhundert kommunizieren<br />

die Materialien mit dem menschlichen Körper. Der Körper erhofft sich durch<br />

die Materialien eine Heilung. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis muss man<br />

das Material für einen Bau auswählen. Natürliche Materialien wie Holz, Papier<br />

oder Stein werden gemäß der neuen Maxime des Zusammenspiels mit<br />

dem Körper erneut die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.<br />

Bei dem Bewusstsein für einen Ort spielt das Licht eine große Rolle. Besonders<br />

das Licht bei Schnee oder Regen ist je nach Ort charakteristisch. Deshalb lasse<br />

ich, obwohl ich Architekturfotografie eigentlich nicht mag, Aufnahmen meiner<br />

Gebäude gerne an Regen- oder Schneetagen machen, weil ich so dieses einmalige<br />

‚Zusammenkommen‘ dieses besonderen und einzigartigen Lichts mit<br />

dem Bauwerk festhalten kann.<br />

‚Auflösung von Licht‘ bedeutet, dem genauen Ausdruck, den sowohl Licht als<br />

auch Schatten hervorbringen, Bedeutung beizumessen. Das traditionelle japanische<br />

Fenstergitter ist ein hervorragendes Detail zur Auflösung von Licht.<br />

Weil an der Grenze zwischen Licht und Schatten der schönste Ausdruck eines<br />

Materials sichtbar wird, widme ich dieser Grenze beim Entwerfen mein besonderes<br />

Augenmerk.<br />

Ich denke in Analogie an die Haut von verschiedenen Menschen über meine Architektur<br />

nach. Wir sehen die Oberfläche einer Haut, aber auch die Unterseite<br />

mit all den dort übereinanderliegenden Dingen wird auf die Oberfläche projiziert.<br />

Durch die Betrachtung der Oberfläche können wir nämlich alles, was darunter<br />

liegt – Gesundheitszustand, Alter, Kraft, Energie – erspüren.<br />

Aus diesem Grund entwerfe ich die Konstruktion auf der Unterseite genauso<br />

sorgfältig wie die Oberfläche der Haut. Zum Beispiel bilden Steine, die<br />

in einer zwei Zentimeter dicken Schicht auf Beton befestigt sind, eine deutlich<br />

andere Haut als Steine, die vertikal aufeinandergeschichtet wurden. Ich<br />

bemühe mich um eine Detailliertheit, die den Menschen diesen Unterschied<br />

deutlich macht.<br />

57


D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


FOTO: DAICI ANO


11<br />

Ulrike<br />

Brandi<br />

Ulrike Brandi leitet gemeinsam mit<br />

Dr. Christoph Geissmar-Brandi das<br />

Büro Ulrike Brandi Licht in Hamburg,<br />

mit dem sie Lichtplanungskonzepte<br />

unter anderem für das British Museum<br />

in London, das Mercedes-Benz-<br />

Museum in Stuttgart, den Pudong<br />

Airport in Shanghai und die Elbphilharmonie<br />

Hamburg entwickelt hat.<br />

Neben ihrer praktischen Tätigkeit initiierte<br />

Ulrike Brandi zahlreiche Forschungsvorhaben,<br />

unter anderem<br />

zur Verwendung von Glas im Museumsbau<br />

sowie zur Entwicklung von<br />

Leuchtdioden. Sie ist Autorin mehrerer<br />

Fachbücher zum Thema Licht,<br />

unter anderem dem ‚Lichtbuch‘ , das<br />

2001 bei Birkhäuser erschienen ist.<br />

www.ulrike-brandi.de<br />

Frau Brandi, was haben die Kultur, in der Sie aufgewachsen<br />

sind, und Ihre Ausbildung Ihnen über<br />

Licht vermittelt?<br />

Noch stärker und unmittelbarer als die Kultur hat die Landschaft, in der ich<br />

aufgewachsen bin, mein Licht-Bewusstsein beeinflusst. In Norddeutschland<br />

gibt es Tageslicht aus einer 180°-Himmelskuppel über einer flachen grünen<br />

Landschaft. Wohnungen mit Westfenstern erlauben den Blick auf den Sonnenuntergang,<br />

der wie Feuer aussehen kann. Bei seinem Anblick gerate ich<br />

ins Schwärmen.<br />

Gleichzeitig beeinflussen die großen Physiker und Astronomen wie Johannes<br />

Kepler, Isaac Newton, Galileo Galilei meinen Umgang mit Licht. Ich bewunderte<br />

ihre Entdeckungen über Eigenschaften des Lichtes und die Formulierungen<br />

von Gesetzen. Spektralanalysen erzählen von Materie in unvorstellbarer Ferne.<br />

Mit Licht messen wir Bewegungen von Himmelskörpern. Licht ist schnell – und<br />

trotzdem erlaubt es uns den Blick in die Vergangenheit des Weltalls.<br />

Was unsere Kultur angeht, fallen mir einige schöne Gedichte über das Licht ein;<br />

zum Beispiel ‚Das Fräulein stand am Meere’ von Heinrich Heine:<br />

Das Fräulein stand am Meere<br />

Und seufzte lang und bang,<br />

Es rührte sie so sehre<br />

Der Sonnenuntergang.<br />

„Mein Fräulein! Sein Sie munter,<br />

Das ist ein altes Stück:<br />

Hier vorne geht sie unter<br />

Und kehrt von hinten zurück.“<br />

Übrigens, meine Ausbildung bezüglich des Lichts findet weiter dauernd statt,<br />

insofern gibt es da keine fertigen Lehren aus einer früheren Zeit. – Als ich mich<br />

auf Lichtplanung spezialisierte, hatte ich Angst, dass dieses vermeintlich ‚eingeschränkte‘<br />

Thema für ein ganzes Leben nicht reichen könnte – heute weiß<br />

ich, dass ein ganzes Leben für das Thema Licht nicht ausreicht.<br />

Oft wird behauptet, Licht sei in der zeitgenössischen<br />

Architektur zu einem ‚Material‘ im eigenen<br />

Sinne geworden oder werde wie ein solches<br />

verwendet. Trifft das Ihrer Meinung nach zu?<br />

Nein, Licht spielt mit verschiedensten Materialien und Oberflächen, aber es<br />

ist kein ‚Baustein‘ von Häusern. Es ist einfach da, oder es wird geschickt zum<br />

Fenster hereingelassen, fein reflektiert – es hat eine völlig andere Existenz<br />

als jedes Material.<br />

In der Lichtplanung wird heute nicht länger über die<br />

Alternative ‚Tages- oder Kunstlicht‘ diskutiert, sondern<br />

immer häufiger über die gegenseitige Ergänzung<br />

von Tages- und Kunstlicht. Ist die Arbeit des<br />

Lichtplaners dadurch leichter, schwieriger oder einfach<br />

interessanter geworden?<br />

Tages- und Kunstlicht alternativ zu diskutieren wäre dumm, vielleicht passiert<br />

das, wenn man einen rein ‚elektrotechnischen‘ Zugang wählt. Für mich beginnt<br />

schon immer Kunstlichtplanung mit einer Betrachtung des spezifischen Tageslichts<br />

des besonderen Ortes. Steht die Sonne im Sommer hoch? Wie weit<br />

fällt das Sonnenlicht abends in den Raum hinein? Zieht sich die Dämmerung<br />

lange hin? Ist das Wetter eher klar oder wolkenreich? Ähnlich wird der Architekt<br />

denken, bevor er sich für bestimmte Materialien entscheidet und am<br />

schönsten ist es, wenn er sich mit mir darüber austauscht.<br />

60 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Below UN Studio: Mercedes<br />

Museum in Stuttgart, 2006<br />

Für den Neubau des Mercedes-<br />

Museums in Stuttgart konzipierte<br />

Ulrike Brandi ein Tages- und<br />

Kunstlichtkonzept, das die Dualität<br />

von stark extrovertierten<br />

‚Kollektionsräumen‘ und innen<br />

liegenden ‚Mythenräumen‘ aufgreift<br />

und weiterführt.<br />

Derzeit werden in schneller Abfolge immer neue<br />

Materialien für die Architektur entdeckt, tauchen<br />

auf und verschwinden oftmals auch rasch wieder.<br />

Wie stellen Sie sich in Ihrer Arbeit auf deren lichtspezifische<br />

Eigenschaften ein?<br />

Wenn wir (Architekten und Lichtplaner) gemeinsam Lichtwirkungen an neuen<br />

Materialien ausprobieren, entwickeln wir ein Gefühl dafür, was passt und was<br />

Räumen neue, auch unvermutete Qualitäten gibt. Wir erkennen auch, wo ein<br />

Material eine Erwartung nicht erfüllt und wo verblüffende Effekte entstehen,<br />

die einfach lustig sind. Es macht Spaß, das alles zu wissen. Die Kunst – oder die<br />

eigene Sicherheit – ist es dann, nur die Elemente einzusetzen, die einen Raum<br />

schöner, angenehmer und stimmiger machen.<br />

Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt<br />

es auf den ersten Blick einen intensiven, aber<br />

oberflächlichen ästhetischen Effekt. Doch die<br />

Auswirkungen dieser ‚Berührung’ gehen weit tiefer,<br />

unter die Oberfläche. Sehen Sie hier Parallelen zu<br />

Ihrer eigenen Arbeit?<br />

Selbstverständlich. Ich würde mir wünschen, dass unsere Lichtatmosphären<br />

den Benutzern „unter die Haut gehen“ – vor Schönheit, weil sie genau den Bedürfnissen<br />

entsprechen, weil sie entspannend und angenehm oder aufregend<br />

sind. Tief berührt ist man ja oft erst nach einer Weile oder wenn man nach häufigen<br />

Besuchen eines Ortes immer noch diese besondere Nähe spürt.<br />

FOTO: DAIMLERCHRYSLER AG<br />

61


12<br />

Steven<br />

Scott<br />

Steven Scott, Jahrgang 1955, lebt<br />

und arbeitet in Kopenhagen. Er begann<br />

seine Karriere als Lichtgestalter<br />

für Theaterbühnen in ganz Europa.<br />

Seit 1997 stellt er seine Arbeiten<br />

regelmäßig in europäischen Galerien<br />

aus. Steven Scott wird von der<br />

Galleri Weinberger in Kopenhagen<br />

und der Galerie König in Frankfurt<br />

vertreten. Seine Lichtkunstwerke<br />

wurden in öffentliche Sammlungen<br />

in Österreich, Dänemark, Deutschland,<br />

Holland und Großbritannien<br />

aufgenommen. 2006 erschien das<br />

Buch ‘Seventy Seven’ über seine<br />

Lichtinstallation in der Deloitte-<br />

Hauptverwaltung in Kopenhagen.<br />

www.stevenscott.dk<br />

Mr. Scott, was haben die Kultur, in der Sie aufgewachsen<br />

sind, und Ihre Ausbildung Ihnen über das<br />

Thema Licht vermittelt?<br />

Inwieweit hat sich Ihre Vorstellung von Licht im<br />

Laufe Ihrer Karriere verändert?<br />

Sie haben oft in Theatern gearbeitet, die hinsichtlich<br />

der Beleuchtung eigentlich ‚black boxes‘ sind.<br />

Was war Ihre größte Herausforderung, als Sie aus<br />

dem Dunkeln heraustraten und begannen, an Orten<br />

mit Umgebungs- und Tageslicht zu arbeiten?<br />

Farben spielen eine große Rolle in Ihren Arbeiten,<br />

und doch sind die Fähigkeiten des Menschen, Farben<br />

zu unterscheiden, begrenzt. Kann diese Fähigkeit<br />

geschult oder verbessert werden, wenn man<br />

oft mit farbigem Licht arbeitet?<br />

Ich bin im Zentrum von London aufgewachsen, und meine Gedanken über das<br />

Licht waren immer mit der sich verändernden Skyline der Stadt und den Farben<br />

ihres Himmels verbunden. Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, nahm mich<br />

mein Vater, der beim Theater arbeitete, mit hinter die Bühne. Ich war von der<br />

Atmosphäre fasziniert, die in dieser illusionären Welt erschaffen wurde, und<br />

ich denke, mein Gespür für die beiden Welten des Realen und des Un-Realen<br />

haben sich in dieser Zeit entwickelt.<br />

Meine frühe Arbeit im Theater am Royal Court und in den Riverside Studios hat<br />

meine Arbeitsweise und meinen Werdegang enorm beeinflusst. Die Lichtgestalter<br />

jener Zeit, wie etwa Andy Phillips oder Rory Dempster, arbeiteten viel<br />

mit der Intensität von Lampentemperaturen, um Farben zu erzeugen: Niedrige<br />

Temperaturen ergaben ein warmes, hohe Temperaturen ein eher kühles Licht.<br />

Nur wenige Farbfilter wurden dabei benutzt. Die sparsame Verwendung von<br />

Farben und die gleichzeitige Vielzahl wahrgenommener Farbtöne waren ein<br />

Auslöser für meine weiteren Experimente mit diesem Thema. Die Regisseure<br />

und Lichtgestalter im Royal Court führten seinerzeit eine Tradition fort, die von<br />

George Devine über die Motleys bis zum großen Edward Gordon Craig Anfang<br />

des 20. Jahrhunderts reichte. Obwohl ich Craigs Arbeit nur aus alten Drucken<br />

kannte, konnte ich erkennen, dass er den Raum mit Licht formte. Die Werte<br />

von Licht, Raum und Form haben mich seitdem immer begleitet.<br />

Meinen ersten Schritt habe ich bereits im Theater gemacht, als ich bei Freilichtveranstaltungen<br />

arbeitete. Die meisten Vorstellungen begannen bei Anbruch<br />

der Dunkelheit, und dies wurde als massives Problem betrachtet, da die<br />

Bühne in diesem Fall keine ‚black box‘ war und die Kontrolle der Beleuchtung<br />

dementsprechend schwer fiel. Ich habe schnell erkannt, dass die untergehende<br />

Sonne einen Teil der Lichtszenerie der Vorstellung bildete. Die Langsamkeit der<br />

ersten Ausblendung (des Sonnenuntergangs) und die Art und Weise, wie sich<br />

die Augen allmählich an die Dunkelheit und das künstliche Licht gewöhnten,<br />

habe ich sehr intensiv erfahren. Diese frühen Erfahrungen im Theater haben<br />

mir bei meinen Experimenten geholfen, die in Kunstwerke für Galerien und später<br />

auch für die Architektur und Landschaftsgestaltung mündeten.<br />

Ich bin mir nicht sicher, ob die Farbwahrnehmung eines Menschen jemals mit der<br />

eines anderen übereinstimmt, obwohl wir natürlich Tabellen und Definitionen<br />

von spezifischen Farben haben. Das ist eine Wissenschaft für sich.<br />

Als Künstler arbeite ich mit Farben im Licht, die sich konstant verändern<br />

und die zudem von der Oberfläche und Textur beeinflusst werden, auf die das<br />

Licht fällt. Wenn sich das Umgebungslicht also konstant verändert, wird die<br />

Art, wie wir sehen, in mehrfacher Weise komplett transformiert. Die Oberfläche<br />

beeinflusst die Farbe, die Textur beeinflusst die Farbe und das Umgebungslicht<br />

beeinflusst natürlich die Arbeit im Ganzen. Ich habe gelernt, dieses<br />

sich ändernde Umgebungslicht zu akzeptieren, so dass es meinen sich ständig<br />

verändernden Arbeiten eine neue Qualität verleiht. Meine Arbeiten werden<br />

nie mehrmals auf die exakt gleiche Weise wahrgenommen. In sich selbst verändern<br />

sie sich nur innerhalb vorbestimmter Rahmenbedingungen, aber sie<br />

werden in einem sich stets verändernden Umfeld betrachtet. Ich gebe die Kontrolle<br />

ab und lasse diese Veränderung Teil der Arbeit werden.<br />

62 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Diese Seite und folgende Doppelseite:<br />

Steven Scott: Seventy-Seven, 2006<br />

Steven Scotts Lichtinstallation für<br />

die Deloitte-Hauptverwaltung in<br />

Kopenhagen setzt dem Wechsel des<br />

Tageslichts und der Bewegung der<br />

Menschen im Atrium eine eigene<br />

Dynamik entgegen. Breite schwarze<br />

Streifen rhythmisieren die Unterseiten<br />

der Treppen und Stege, auf denen<br />

unterschiedlich farbige Flächen<br />

scheinbar ‚entlangwandern‘.<br />

FOTOS (SEITEN 63–65): ADAM MØRK<br />

Sind Ihnen bei der Arbeit mit Farben die Gefühle<br />

und Stimmungen bewusst, die sie bei Menschen<br />

hervorrufen? Gibt es eine intersubjektive<br />

Wahrnehmung von Farben und den Stimmungen,<br />

die sie hervorrufen?<br />

Wie sollten Tageslicht und künstliches Licht in der<br />

Architektur interagieren? Gibt es Verwendungszwecke,<br />

für die sich nur künstliches Licht oder<br />

nur Tageslicht eignen?<br />

Inwieweit sehen Sie die Veränderlichkeit und Periodizität<br />

von natürlichem Licht als ein Vorbild für<br />

die Arbeiten von Lichtkünstlern und Lichtchoreografen<br />

wie Ihnen an?<br />

Gefühle und Stimmungen sind von Person zu Person sehr unterschiedlich, und<br />

ich bin mir dieser individuellen Sichtweise sehr wohl bewusst. Ich glaube jedoch,<br />

dass die meisten Menschen nach einer Ausgeglichenheit und Harmonie<br />

streben, wie sie in weißem Licht gegeben ist; also nach einer Balance der Farben,<br />

die sich zu weißem Licht addieren. Wenn ich eine Farbmischung in den<br />

Rot/Grün-Teil des Spektrums verschiebe, vermisse ich die Farbe Blau. Diese<br />

persönliche Erfahrung ist der Grund dafür, dass die meisten meiner Arbeiten<br />

das volle Farbspektrum einbeziehen, kombiniert mit einer unmerklichen Veränderung<br />

der Farben. Ich möchte, dass das Auge diese Harmonie zwischen<br />

Farbe und Veränderung wahrnimmt.<br />

Ganz allgemein glaube ich, dass die meisten Gebäude überbeleuchtet und die<br />

meisten städtischen Räume schlecht beleuchtet sind. Ich würde eine genauere<br />

Untersuchung darüber begrüßen, wie Tageslicht und direktes Sonnenlicht in<br />

einen Raum einfallen, um Tageslichtbedingungen zu schaffen, die im Einklang<br />

mit dem im Raum installierten Kunstlicht stehen. Die ‚zwei Lichter‘ müssen<br />

miteinander in Harmonie gebracht werden.<br />

Tageslicht ist ein primärer Bestandteil meiner Arbeiten. Dieser Grundsatz gilt<br />

meiner Ansicht nach für die meisten Künstler, die mit Licht in der Architektur<br />

arbeiten. Das Verständnis von der Richtung, der Tageszeit, der Jahreszeit<br />

und des Einfallswinkels der Sonne auf eine Oberfläche sind wichtige Elemente,<br />

um eine erfolgreiche Arbeit zu erschaffen, die vom natürlichen Licht der Umgebung<br />

und dem direkten Sonnenlicht beeinflusst werden. Eine erfolgreiche<br />

Arbeit bezieht immer das natürliche Licht mit ein.<br />

63


D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


13<br />

Michael<br />

Bleyenberg<br />

Michael Bleyenberg studierte Kunst<br />

in Düsseldorf/Münster und Braunschweig.<br />

Nach der Meisterklasse bei<br />

Norbert Thadeusz und dem Staatsexamen<br />

arbeitete er in Ateliers in den<br />

USA und in Mexiko, bevor er sich 1985<br />

in Köln niederließ. Seit 1992 widmet<br />

sich Michael Bleyenberg der Arbeit<br />

mit Holographie, Lasertechnik und<br />

elektronischen Medien. 1994 erhielt<br />

er ein Diplom für audiovisuelle<br />

Medien an der Kunsthochschule für<br />

Medien in Köln, wo er 1994-2002<br />

auch als künstlerisch/wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter tätig war. Michael<br />

Bleyenberg wurde mehrfach<br />

für seine holographischen Arbeiten<br />

ausgezeichnet und ist seit 2006 Mitglied<br />

der Internationalen Kepes Society<br />

in Ungarn.<br />

http://holonet.khm.de/eyefire/<br />

vita.html<br />

Herr Bleyenberg, was haben die Kultur, in der Sie<br />

aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung Ihnen<br />

über Licht vermittelt?<br />

Welche Eigenschaften des Lichts haben Sie im<br />

Laufe Ihrer eigenen Arbeit mit diesem Medium<br />

entdeckt?<br />

Die Holographie benutzt einen zweidimensionalen<br />

Bildträger, wird aber dreidimensional wahrgenommen.<br />

Wie unterscheidet sich die Arbeit mit diesem<br />

Medium für den Künstler einerseits von Fotografie<br />

und Malerei und andererseits von der Skulptur?<br />

Als Kind hinterließen Bilder, Kopien und Drucke christlicher Kunst im Haus<br />

eines Dorfpfarrers, bei dem ich gelegentlich die Ferien verbrachte, die ersten<br />

bleibenden Eindrücke bei mir. Meine Entscheidung für die Malerei – und<br />

nicht, nach langjähriger Ausbildung, für eine Musikerlaufbahn – ist wahrscheinlich<br />

auch auf meine christliche Erziehung in einem katholischen Umfeld<br />

zurückzuführen.<br />

Die Malerei beschäftigte mich während meiner Ausbildung an der Akademie<br />

und später weitere 10 Jahre lang ausschließlich. Mit dem Interesse für die<br />

Malerei wurde ich auch mit dem Phänomen Licht konfrontiert. Licht ist ein bedeutendes<br />

Kraftfeld der Malerei. Licht, seine Manifestation in Farbe und sein<br />

Anteil an der Generierung von Räumen war der wesentliche Gegenstand meiner<br />

Untersuchungen, nachdem ich mich von den Konventionen der Perspektive<br />

und der Figuration befreit hatte. Anfangs waren vor allem die Vertreter<br />

des europäischen Expressionismus, etwa die Fauves und die Maler der ‚Brücke’,<br />

später amerikanische Farbfeldmaler wie Ellsworth Kelly, Kenneth Noland<br />

und Barnett Newman meine Vorbilder.<br />

Der vorläufig letzte Schritt meiner malerischen Entwicklung zu einer konzentrierten,<br />

abstrakten Licht- und Raumbehandlung war die Abkehr von der<br />

Malerei und der Wechsel zu neuen Medien wie Holographie und deren ebenfalls<br />

auf Interferenz basierten Nebenformen.<br />

Etwa 10 Jahre lang habe ich im Licht- und Laserlabor der Kunsthochschule<br />

für Medien in Köln experimentell die ästhetischen Qualitäten von Interferenzund<br />

Lasermedien untersucht. Gleich zu Beginn meiner Labortätigkeit war ich<br />

gefesselt von der besonderen Lichtsituation bei der Aufnahme und von der<br />

besonderen Lichtqualität im Ergebnis des Hologramms. Sowohl das Laserlicht<br />

als auch die rekonstruierten Hologramme besaßen im Gegensatz zu den<br />

mir bis dahin bekannten Lichtquellen eine außerordentliche atmosphärische<br />

und emotionale Kraft. Der Aufbau einer holographischen Kamera war nicht<br />

nur Mittel zum Zweck, sondern erschien wie ein architektonisches Lichtszenarium<br />

in Form eines Modells. Eine ganz neue Welt tat sich auf, und ich spürte<br />

die Nähe neuer Grenzen, die es zu überschreiten galt.<br />

Während ich Erfahrungen mit der Holographie sammelte, begann ich die<br />

Bedeutung zu erahnen, die dieses Medium einmal auf der Bühne, für die mediale<br />

Inszenierung und für die Architektur haben könnte. Die speziellen Eigenschaften<br />

des gebrochenen Laserlichts und sein Gestalt generierendes<br />

Potenzial haben in mir relativ früh die Vision entstehen lassen, ‚mit Licht bauen<br />

zu wollen’, was Anfang der neunziger Jahre noch utopisch schien. Vieles ist<br />

dann auch vorerst modellhaft geblieben, weil die technischen Voraussetzungen<br />

noch nicht geschaffen waren. Erst später hat mir die (ursprünglich für<br />

das Bauwesen entwickelte) Folientechnologie Wege aufgezeigt, wie die Visionen<br />

vom ‚Bauen mit Licht’ Wirklichkeit werden können.<br />

Ihre Frage zielt auf das klassische dreidimensionale Abbildungsverfahren, das<br />

allerdings in der künstlerisch-gestalterischen Produktion nur eine untergeordnete<br />

Rolle spielt. Ich bin der Überzeugung, dass es nicht die Aufgabe der Kunst<br />

ist, abzubilden, sondern Neues zu schaffen. Die Möglichkeiten technischer Medien<br />

für die künstlerische Gestaltung liegen generell nicht in der Simulation des<br />

schon Bekannten, sondern in der Schaffung potenzieller Räume.<br />

Doch die Holographie ist nicht nur ein Raum-, sondern auch ein Lichtmedium.<br />

Ich habe mich zum Beispiel in den letzten Jahren mehr und mehr mit<br />

66 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


den Lichtqualitäten der Lasermedien beschäftigt. Dabei habe ich versucht, die<br />

Möglichkeiten der ‚engelgleichen’, immateriellen ‚Lichtwesen ohne Bodenhaftung’<br />

auszuloten. Wie viele Künstler war und bin ich fasziniert von Schwerelosigkeit<br />

und der Aufhebung materieller Zwänge. Dies lässt sich einzigartig mit<br />

technischen Mitteln thematisieren. Charakteristisch für meine Arbeit mit den<br />

auf Interferenz basierenden Medien ist das Schweben der Räume. Deren Elemente<br />

durchdringen sich gegenseitig, sie schaffen eine permanente Transparenz,<br />

sichtbar nur durch die Farben des spektralen Lichts, die Zuordnungen in<br />

einer vexierbildartigen Unbestimmtheit belassen. Sie hinterlassen das unbestimmte<br />

Gefühl, nie alles gesehen zu haben. So werden sie zu Projektionsflächen<br />

möglicher Bedeutungen.<br />

Das Verbindende zwischen Holographie und Malerei habe ich schon erwähnt.<br />

Holographische Artefakte sind sowohl Skulptur als auch Architektur<br />

und insofern vollkommen eigenständig, als sie nicht nur visuell, sondern auch<br />

begrifflich schwer fassbar sind. Dieser Umstand und das Fehlen der Zugehörigkeit<br />

zu einem kommunikativen System innerhalb der Gesellschaft erschwert<br />

die künstlerische Rezeption. Eine konservative, geisteswissenschaftlich geprägte<br />

Kunstkritik ist kaum gewillt oder in der Lage, die Erweiterung künstlerischer<br />

Potenziale durch technische Entwicklung zu akzeptieren.<br />

Sie sprachen Ihre eigenen Laborversuche an. Wie<br />

sind Sie dabei vorgegangen?<br />

In jüngerer Zeit haben Sie zunehmend ortspezifische<br />

Installationen, etwa für Kirchenräume,<br />

geschaffen. Welche Wirkungen beobachten<br />

Sie, wenn Ihre weder ‚greifbaren‘ noch klar begrenzten<br />

holographischen Bilder mit dem scharf<br />

umrissenen architektonischen Raum in Wechselbeziehung<br />

treten?<br />

Im Labor habe ich die Schnittstellen der Lasermedien zu allen konventionellen<br />

und technischen Medien untersucht. Dabei erwies es sich damals als vorteilhaft,<br />

dass die Kreativität bei der Produktion holographischer Darstellungen<br />

schon mit dem Aufbau des Apparates, der holographischen Kamera, beginnt.<br />

Eine solche Kamera hatte nichts gemein mit einer technisch kompakten Fotokamera.<br />

Auf einem festen Tisch wurden Laser, Linsen, optische Geräte<br />

sowie ‚kannibalisierte’ Teile von Videoprojektoren und Fotokameras so arrangiert<br />

und von Computern gesteuert, dass sich meine Erwartungen realisierten<br />

oder neue, aus kalkulierten Zufällen entstehende Optionen sichtbar<br />

wurden. Mit der Unterstützung von Technikern habe ich nahezu alle Möglichkeiten<br />

durchgespielt und durchspielen lassen, die sich aus meiner Erfahrung<br />

mit den konventionellen Medien anboten. Ergebnisse dieser Untersuchungen<br />

sind die Weiterentwicklung multimedialer Aufnahmeverfahren wie der holographischen<br />

Stereographie – das sind mehrdimensionale Bildsequenzen nach<br />

Video-, Foto- oder Filmvorlagen –, oder die Weiterentwicklung historischer<br />

Vorläufer, etwa eine Lichtkinetik, die an die kinetische Objektkunst aus der<br />

Mitte des letzten Jahrhunderts anknüpft.<br />

Mit meiner Fokussierung auf Kunst am und im Bau sowie auf realisierbare<br />

Projekte im öffentlichen Raum bediene ich mich heute hauptsächlich industrieller<br />

Produkte aus den Bereichen Licht-, Bau- und Fotoindustrie. Ich stehe<br />

in engem Kontakt mit Ingenieuren und modifiziere die Materialien, die ich<br />

verwende, gemeinsam mit ihnen nach meinen Bedürfnissen. Viele der in meiner<br />

früheren Experimentierphase entwickelten Visionen und Vorstellungen<br />

scheinen mir mit den fortlaufend weiterentwickelten Materialien umsetzbar<br />

geworden zu sein.<br />

Zunächst einmal sind meine Installationen ungeachtet der oben erwähnten<br />

christlichen Einflüsse nicht als Beitrag zur Sakralkunst zu verstehen, sondern<br />

als Beitrag weltlicher Kunst, die mit kirchlichen Inhalten, liturgischen und architektonischen<br />

Positionen in einen Dialog tritt. Andererseits ist das Licht natürlich<br />

ein zentrales Gottessymbol, nicht nur in den christlichen Religionen. Nichts<br />

vermag die göttliche Selbstoffenbarung, die Erscheinung Gottes, besser ins<br />

Bild zu setzen als eine Darstellung, bei der Licht als wesentliches Mittel gewählt<br />

wurde, sei es in der Malerei oder in Form einer technischen Applikation.<br />

Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten des Umgangs mit ortspezifischen<br />

Installationen. Die (museale) ‚White Cube’- oder ‚Black Box’-Situation blendet<br />

den Umgebungsraum zugunsten des Objekts fast vollständig aus. Die Wahrnehmung<br />

konzentriert sich auf das Objekt.<br />

Ich bevorzuge dagegen sowohl in Räumen als auch im Außenbereich die<br />

zweite Möglichkeit, die Integration des Objekts in den Umgebungsraum. Gestaltetes<br />

Licht braucht nicht notwendigerweise und ausschließlich Dunkelheit.<br />

In vielen meiner Arbeiten überlagert die scheinbar nicht greifbare Lichtapplikation<br />

die materiell manifestierte Umgebung oder erscheint dieser wie hinterlegt.<br />

Konkret erfahrbarer Ort und prismatisches Lichtphänomen durchdringen<br />

sich und gehen einen dynamischen Dialog ein, der von den wechselnden Lichtverhältnissen<br />

abhängt.<br />

Bei der ‚Black Box’-Situation beruht der Lichteffekt auf der (statischen)<br />

Dialektik von Licht und Dunkelheit.<br />

67


Gegenüber: Michael Bleyenberg:<br />

Spero Lucem, 2002/03<br />

Statt mit Farbe auf Leinwand ‚malte‘<br />

Michael Bleyenberg dieses Bildnis<br />

eines Kreuzes mit Licht. Anders als<br />

klassische Altarbilder greift ‚Spero<br />

Lucem‘ – deutsch: ‚ich erhoffe Licht‘<br />

– aktiv in den Raum ein. Wie es gesehen<br />

wird, hängt entscheidend vom<br />

Standpunkt des Betrachters ab.<br />

Ein interessanter Aspekt an der Holographie ist,<br />

dass der materielle Bildträger und die Position des<br />

(virtuellen) Abbildes im Raum nicht identisch sind.<br />

Wie gehen Sie mit diesem Phänomen in Ihren Arbeiten<br />

um?<br />

Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt<br />

es auf den ersten Blick einen intensiven, aber oberflächlichen<br />

ästhetischen Effekt. Doch die Auswirkungen<br />

dieser ‚Berührung’ gehen weit tiefer, unter<br />

die Oberfläche. Sehen Sie hier Parallelen zu Ihrer<br />

eigenen Arbeit?<br />

Neue Qualitäten des Lichts ermöglichen aber auch dynamischere Wirkungsprozesse.<br />

Sie sind Ergebnis fortschreitender technischer Entwicklungen im<br />

Bereich der Photonik und in der Bautechnologie. Beispiele sind prismatische<br />

Folien und spezielle, auch von mir genutzte Projektionsfolien, die das Umgebungslicht<br />

ausblenden und nur auf das künstliche Projektionslicht reagieren.<br />

Für den Einsatz meiner Arbeit mit diesen Medien in der Architektur bedeutet<br />

dies, dass das Licht oder die Lichtkunst mit der Architektur interferiert.<br />

Sie spielt mit den Oberflächen und den Strukturen, unterstützt Transparenz<br />

oder konterkariert und unterminiert Masse und Bauvolumen. Die Wahrnehmung<br />

von Stabilität wird scheinbar, und nur optisch, in Frage gestellt, aber<br />

letztlich dadurch intensiviert.<br />

Gerade in der Kombination mit Glasflächen, Fenstern und Fassaden entfalten<br />

die von mir genutzten Folien ihre Wirkung. Daneben ermöglichen sie die<br />

gleichzeitige ästhetische Formung des einfallenden Lichts und die optisch-ästhetische<br />

Signalwirkung nach außen. Ein Beispiel hierfür ist mein im Jahr 2000<br />

fertig gestelltes holographisches Wandbild ‚Augenfeuer/Eyefire’ bei der Deutschen<br />

Forschungsgemeinschaft (DFG) in Bonn. Im lichtdurchfluteten Sitzungssaal<br />

des Hauptgebäudes, das in den 50er-Jahren von Sep Ruf entworfen wurde,<br />

werden weitreichende Entscheidungen für die Zukunft getroffen. Mit dem<br />

Anbau eines Ergänzungsgebäudes war der freie Blick von dort auf die Rheinaue<br />

und das gegenüberliegende Siebengebirge von einer 13 x 5 m großen Betonwand<br />

zugestellt. Die Idee, diesen Ausblick virtuell mit Hilfe der Holographie<br />

wieder herzustellen, war nur mit prismatischen Folien möglich, die, auf Spiegel<br />

montiert, die Wandfläche bedecken. Der große ‚Wandspiegel’ hat zwei Funktionen:<br />

einerseits die Rekonstruktion des Hologramms (durch Transmission<br />

und Spiegelung des von vorn einfallenden Rekonstruktionslichts) und andererseits<br />

die optische Öffnung des Raums. Das Hologramm scheint zwischen den<br />

Gebäuden zu schweben. Darüber hinaus wird es in den Fensterfronten des gegenüberliegenden<br />

Sitzungssaales gespiegelt, wobei sich durch die veränderte<br />

Wahrnehmungsgeometrie des Betrachters Form und Farbe verändern. Das Hologramm<br />

und sein Spiegelbild überschreiten die Grenzen des reinen Wandbildes<br />

zu einem komplexen Lichtkorpus, der das gesamte Gebäude definiert.<br />

Bildträger und Abbild zusammen sind ‚das Hologramm’. Das Abbild erscheint<br />

aber an einer anderen Stelle im Raum als der Bildträger. Dies ist sicherlich ein<br />

immer wieder spektakulärer Anblick, besonders bei einer Rekonstruktion mit<br />

Laserlicht. Dies ist auch das Phänomen, das zu vielen fantastischen, aber unrealistischen<br />

Spekulationen über die Holographie geführt hat. Wenn es gelänge,<br />

die technischen Voraussetzungen in der Laborsituation auch für größere Produktionen<br />

zu gewährleisten, wären große holographische Lichtinstallationen<br />

als Applikation in und um die Architektur denkbar, Räume, wie sie zum Beispiel<br />

Stanislaw Lem im Roman ‚Transfer‘ beschreibt oder M. C. Escher in seinen ‚unmöglichen<br />

Bildern‘ und Metamorphosen.<br />

Eigentlich ist es jetzt schon möglich, ähnliche Effekte aus Kombinationen mit<br />

Spiegeln, optischen Linsen und Projektionen zu verwirklichen. Aus meiner Praxis<br />

weiß ich aber, wie schwer es ist, Auftraggeber davon zu überzeugen. Mehrmals<br />

sind Entwürfe abgelehnt worden mit der Begründung, man könne sich<br />

nicht vorstellen, dass mein Vorschlag realisierbar sei.<br />

Natürlich ist für den bildenden Künstler die visuelle Wirkung konstitutiv, sie<br />

ist aber bestimmt nicht oberflächlich. Die Wirkung des Lichts auf die Psyche<br />

und seine Bedeutung für die Gesundheit sind mir bewusst. All meine erwähnten<br />

Versuche mit und über Licht beschränkten sich allerdings auf seine<br />

Wirkung auf unsere Wahrnehmung. Wir suchen die Sonne und sehnen uns danach,<br />

wenn wir länger darauf verzichten müssen. Wir fühlen uns wohl im Licht.<br />

Auch ich möchte die Menschen in ein „angenehmes Licht tauchen“, wobei der<br />

Wohlfühleffekt sich nicht rein emotional einstellt, sondern auch als ein Ergebnis<br />

von geistiger, meditativer Auseinandersetzung.<br />

Mein Objekt ‚Spero Lucem’ wurde vom Bildungswerk der Erzdiözese Köln<br />

in Auftrag gegeben und der Kirchengemeinde St. Agnes in Köln als Dauerleihgabe<br />

überlassen. Als Auflage erklärt sich die Gemeinde bereit, die Arbeit an<br />

andere Kirchen des Erzbistums auszuleihen. ‚Spero Lucem’ ist dann Anlass<br />

für zahlreiche unterschiedliche Bildungsaktivitäten, Seminare, Meditationen,<br />

Gesprächsgruppen etc., an denen ich auch gelegentlich beteiligt bin. Die meistens<br />

positiven bis euphorischen Reaktionen auf die Lichtskulptur erinnern<br />

mich daran, dass das eigentliche, idealistische Ziel von Bildung der Zustand<br />

von Glück ist. In meinem Fall hat das Licht, beziehungsweise die Art, wie ich<br />

es gestalte und präsentiere, möglicherweise seinen Anteil daran.<br />

FOTO: MICHAEL BLEYENBERG<br />

68 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


1 2<br />

3 4<br />

5<br />

FOTOS: 1 – AZIZ + CUCHER. 2– MICHAEL BLEYENBERG. 3 – GARY SCHNEIDER. 4 – JEPPE GUDMUNDSEN-HOLMGREEN 5 – WERNER SOBEK ARCHITEKTEN + INGENIEURE.<br />

70 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


8 9<br />

10 11<br />

6 7<br />

FOTOS: 6/7 – MITSUMASA FUJITSUKA. 8 – DAVID MAISEL. 9 – RENDERING: HERZOG & DE MEURON. 10 – EDUARD HUEBER. 11 – RENDERING: HERZOG & DE MEURON. 12 – MICHAEL HEINRICH.<br />

1. Aziz + Cucher: Interior #2, 1999<br />

2. Michael Bleyenberg: New Burlington<br />

Flare/Three Prisms, 2006<br />

3. Gary Schneider: Helen, 2000<br />

4. Thea Bjerg: Zig Zag Scarf, 2006<br />

5. Werner Sobek Architekten +<br />

Ingenieure: Stadionüberdachung in<br />

Hamburg-Rothenbaum<br />

6. Kengo Kuma & Associates:<br />

Museum für Hiroshige Ando, Batou,<br />

2000<br />

7. Kengo Kuma & Associates:<br />

Chokkura Plaza, Takanezawa, 2005<br />

8. David Maisel: The Lake Project<br />

9831-2, 2002<br />

9. Herzog & de Meuron:<br />

Elbphilharmonie, Hamburg, 2007–<br />

(Konzertsaal)<br />

10. Baumschlager Eberle:<br />

Ökohauptschule in Mäder, 1998<br />

11. Herzog & de Meuron:<br />

Elbphilharmonie, Hamburg, 2007–<br />

(Gesamtansicht)<br />

12. Hild und K. Architekten:<br />

Fassadenrenovierung in Berlin, 1999<br />

12<br />

71


13 14<br />

13/17. ILEK/Universität<br />

Stuttgart, Markus Holzbach:<br />

Pavillion ‚paul’, Stuttgart, 2004<br />

14. NOX / Q.S. Serafijn:<br />

D-tower, Doetinchem, 2004<br />

15. Herzog & de Meuron:<br />

Forumsgebäude in Barcelona,<br />

2004<br />

16. Steven Scott:<br />

Seventy-Seven, 2006<br />

P ARKUS HOLZBACH. 14 – NOX. 15 – JAKOB SCHOOF. 16 – ADAM MØRK.<br />

15 16<br />

17<br />

72 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Häuser der Zukunft<br />

Wenn neue Entwicklungen verlangt<br />

werden, könnte man sich fragen,<br />

warum.<br />

73


Jedes Foto ist der Beginn einer<br />

Geschichte, die erste Einstellung<br />

eines Films.<br />

Wim Wenders, Regisseur.<br />

74 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Foto: Nuri Bilge Ceylan, Regisseur und Fotograf<br />

www.nuribilgeceylan.com<br />

75


REFLEKTIONEN<br />

Neue Perspektiven:<br />

Ideen abseits der Alltagsarchitektur<br />

ABBILD UND<br />

REALITÄT<br />

Erich Kettelhut: Entwurfsskizze<br />

zur Filmkulisse von ‚Metropolis‘‘<br />

In dramatischen Licht- und<br />

Schatteneffekten zeigt diese<br />

Entwurfszeichnung die hypertrophe<br />

Architektur von Fritz Langs<br />

Filmstadt ‚Metropolis‘.<br />

Die von einer Kommandozentrale<br />

im ‚Neuen Turm Babel‘ aus<br />

gesteuerte Stadt kann als<br />

pessimistischer Gegenentwurf<br />

zu den fast zeitgleichen, rationalen<br />

Großstadtvisionen von<br />

Le Corbusier und anderen Architekten<br />

verstanden werden.<br />

ZEICHNUNG: DEUTSCHE KINEMATHEK MUSEUM FÜR FILM UND FERNSEHEN / NACHLASS ERICH KETTELHUT


Von Ivan Redi.<br />

Architekturzeichnungen sind ein vielseitiges Medium:<br />

Sie können das Abbild künftiger Realitäten sein oder<br />

bloße Denkfiguren, sie können zum Radikalumbau der<br />

Welt aufrufen oder nur zum Kauf eines Eigenheims. In<br />

jedem Fall aber werden sie auch in der Architektur des<br />

21. Jahrhunderts konkurrenzlos bleiben. Denn, so Ivan<br />

Redi, Zeichnungen helfen uns, unsere Vorstellungen<br />

bezüglich der beiden Phänomene zu überprüfen, für die<br />

Architekten künftig einzig und allein noch zuständig<br />

sein werden: des Raumes und des Lichts.<br />

Es ist dunkel. Nichts ist zu sehen. Plötzlich geht das Licht an,<br />

ein Lichtstrahl, und wir erkennen den Schauspieler auf der Bühne<br />

– es ist König Lear. Wenn Goethe sagt: „Ein alter Mann ist stets<br />

ein König Lear“, denke ich, dass die architektonische Zeichnung<br />

heute stets ein König Lear ist. Lears patriarchalisch e Herrschaft<br />

führt ihn zur Ungerechtigkeit gegenüber seiner jüngsten Tochter<br />

und letztlich in den Untergang. Cordelia sagte ihm lediglich,<br />

dass sie ihn genau so liebe, wie eine Tochter ihren Vater zu lieben<br />

hat – nicht mehr und nicht weniger.<br />

Die Zeichnung herrscht, auch im 21. Jahrhundert, in der<br />

Architektur ohne Konkurrenz. Wenn wir ins Theater gehen, lassen<br />

wir uns auf einen Zauber ein. Wir stimmen einer Art Ver trag<br />

zu, uns auf Imaginationen einzulassen. Jedoch bleiben wir im<br />

Dunklen sitzen und nehmen die Vorstellung passiv wahr. Der<br />

konstruierte Blick der Zentralperspektive ist der einzige, der uns<br />

über diese ‚Realität‘ informiert. In der Realität ist das Eindringen<br />

von Körpern in eine kontrollierte architektonische Ordnung<br />

dagegen unvermeidlich (so ist zum Beispiel der Eintritt in das<br />

Gebäude ein Akt, der die Balance präzise geordneter Architektur<br />

stört). Hier ist Architektur ein Organismus, der in ständiger Interaktion<br />

mit dem Nutzer steht, dessen Körper unentwegt gegen die<br />

bestehenden architektonischen Regeln rebelliert. Dieses menschliche<br />

Verhalten können wir in den seltensten Fällen erfassen oder<br />

voraussehen. Die Funktionsabläufe ergeben zwar einen Handlungsraum,<br />

aber vieles ist weder planbar noch durch die klassische<br />

architektonische Zeichnung auszudrücken.<br />

Es ist absurd, ein zweidimensionales Medium zu verwenden,<br />

um die mehrdimensionale Welt inklusive vorher unbestimmbarer<br />

Ereignisse zu beschreiben und zu versuchen, darin irgendeinen<br />

Wahrheitsgehalt zu erkennen. Das Bild kann sich – um Wittgenstein<br />

zu paraphrasieren – nicht außerhalb seiner Darstellungsform<br />

stellen. Aus dem Bild allein ist nicht zu erkennen, ob es wahr oder<br />

falsch ist. „Ein Sachverhalt ist denkbar“ heißt: Wir können uns<br />

ein Bild von ihm machen. Was denkbar ist, ist auch möglich.<br />

Wir können nichts Unlogisches denken, weil wir sonst unlogisch<br />

denken müssten. Trotzdem gibt es kein a priori wahres Bild. Das<br />

Bild ist ein Modell der Wirklichkeit, mehr nicht. Es kommuniziert<br />

über eine Möglichkeit, es regt die Imagination an, und<br />

wir denken uns: „Ah, so könnte es aussehen.“ Genau und ausschließlich<br />

in diesem Kontext dürfen wir uns für die Zeichnung<br />

interessieren, nicht mehr und nicht weniger.<br />

‚carceri‘ und die folgen: piranesis langer schatten<br />

Im theoretischen Denken von Piranesi, welches keinesfalls statisch<br />

war, erkennt der Künstler die Dualität aufklärerischen<br />

Denkens, die sich aus dem Konflikt zwischen Rationalität und<br />

Empfindung ergibt, als Kriterien an, anhand derer er die Werke<br />

der Vergangenheit und der Gegenwart beurteilt und als ‚vero‘<br />

oder ‚falso‘ (wahr oder falsch) bezeichnet.<br />

Giovanni Battista Piranesi zählt zu den bedeutendsten<br />

Künstlern auf dem Gebiet der Radierung und der Vedute. Von<br />

seinen Werken sind vor allem die Carceri (Entwürfe von Kerkern)<br />

und Campo Marzio (die Metapher des Universums, die<br />

sich in den Carceri bereits ankündigte) bis heute von Bedeutung.<br />

Unter anderem nahmen der Pionier des modernen Films, Sergej<br />

Eisenstein, der bildende Künstler Peter Weiss, die Schriftsteller<br />

Hans Magnus Enzensberger und Erich Fried, aber auch<br />

Comic-Autoren wie François Schuiten oder die zeitgenössischen<br />

Architekten Lebbeus Woods und Daniel Libeskind die phantastische<br />

Welt der Carceri zum Ausgangspunkt für eigene Werke.<br />

Es gibt kaum einen Architekturinteressierten, der nicht auf<br />

Piranesi gestoßen ist. Unabhängig von emotionalen Reaktionen,<br />

die dabei entstehen können, geht es hier um die systematische<br />

Kritik des Raumkonzeptes mit den Instrumenten<br />

visueller Kommunikation. Eisenstein fragt in seinem Text, ob<br />

man bei Piranesi sogar chiaroscuro entdecken kann, was formal<br />

durch die Einschränkungen der Radierungstechnik nicht möglich<br />

sei. Möglich wird es jedoch, wenn man sich im Sinne der<br />

räumlichen Komposition, des Spiels mit Licht und Schatten<br />

und der Erzeugung einer fesselnden Atmosphäre mit Piranesis<br />

Werk auseinandersetzt. Seine Zeichnungen sind wie Bühnenbilder,<br />

die eine akrobatische Performance liefern und den<br />

Betrachter in das virtuose Raumerlebnis hineinsaugen. Auf der<br />

anderen Seite brachte die seltsame Kombination von Opulenz<br />

und Strenge in Eisensteins Konzeption Bilder von ungeheurer<br />

Wirkung und bizarrer Schönheit hervor – die Spiegelung des<br />

Geschehens an Gemälden und Wandfresken verleiht seinem<br />

Film eine mythische Dimension.<br />

Die Filmwelt war immer eine willkommene Gelegenheit für<br />

Architekten, sich phantasievoll ‚auszutoben‘ und Illusionen zu<br />

realisieren. Mit Manifesten und utopischen Zeichnungen wurden<br />

revolutionäre neue Konzepte ausgearbeitet und präsentiert,<br />

D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />

77


Gegenüber:<br />

Giovanni Battista Piranesi:<br />

Carceri d’invenzione, 1745<br />

Blatt VI: Das rauchende Feuer /<br />

Il fuoco fumante<br />

Piranesis Radierungen der<br />

‚Carceri‘ haben bis heute Scharen<br />

von Künstlern und Architekten<br />

inspiriert. Ihre eindrucksvolle<br />

Wirkung ist indes vermutlich<br />

Piranesis Verleger Bouchard<br />

zu verdanken: Dieser ließ die<br />

16 ursprünglich eher hell angelegten<br />

Platten 1761 nachbearbeiten,<br />

um ihre dramatische<br />

Wirkung durch stärkere<br />

Kontraste zu erhöhen.<br />

die frei von wirtschaftlichen und strukturellen Beschränkungen<br />

waren, wie sie Bauherren und Baubehörden sonst auferlegen.<br />

Die ‚expressionistischen‘ Filme zum Beispiel waren meist reine<br />

Studioproduktionen mit raffinierten Beleuchtungseffekten und<br />

aufwändigen Filmdekorationen, die alles Zufällige ausschlossen<br />

und nur das psychisch Bedeutsame zuließen. Es wurde auf<br />

Tages- und Sonnenlicht verzichtet, um jede Natürlichkeit oder<br />

naturähnlichen Zustand auszuschalten. Selbst wo sie zum Teil<br />

realen Schauplätzen entstammte, hatte die Architektur mehr<br />

als bloße Kulisse zu sein. Unter der expressionistischen Gestaltung<br />

von Licht, Bildausschnitt und Motiv zeigten sich sonst<br />

unscheinbare Funktionsbauten und lieblich-romantische Ruinen<br />

als Orte kommenden Unheils. Sie waren ‚Stimmungsarchitekturen‘,<br />

überspitzt durch die magische ‚sfumato‘-Lichtregie.<br />

Die Metaphorik des Dekors wurde teilweise so weit reduziert,<br />

dass die Dynamik und Lichtmodellierung der Bildkomposition<br />

durchgängig auf dem Prinzip von Expansion und Kontraktion<br />

heller und dunkler Valeurs aufbaute und man tatsächlich<br />

von ‚abstrakter‘ Architektur sprechen kann. Der Betrachter<br />

wird durch Dekor und Licht in einen Traum ‚eingestimmt‘.<br />

Das Licht hat Vorrang, die Dinge haben keine eigenen Formen,<br />

erst das Licht gibt sie ihnen, indem es sie modelliert. Das<br />

Licht allein existiert, der Gegenstand tritt als Lichtquelle oder<br />

Spiegel desto voller in Erscheinung, je mehr er sich mit dem<br />

Licht identifiziert.<br />

Auch Bruno Taut war von der Auseinandersetzung mit dem<br />

Film angetan, besonders von seiner Eigenschaft als Kollektivkunstwerk.<br />

Er wollte seine phantastischen Pläne wenigstens auf<br />

Zelluloid ausleben, als Ersatz für ihre materielle Undurchführbarkeit<br />

in der Realität. Das Kino bot die Möglichkeit, Alltag<br />

und Phantasie, Wirklichkeit und Utopie zusammenzuführen,<br />

wenn auch nur für kurze Zeit.<br />

Bei der architektonischen Stadtsymphonie ‚Der Weltbaumeister‘<br />

wurde ganz auf Handlung und Darsteller verzichtet und<br />

lediglich ‚der Wandel und das Vergehen phantastischer Architekturformen<br />

als Thema‘ ins Auge gefasst. Sein Filmszenario<br />

enthielt über dreißig Kohlezeichnungen mit breiten Graphitzügen<br />

und drama tischen Lichteffekten auf der schwarz-weiß<br />

kontrastierenden Leinwand. Wenn auch der epische ‚Weltbaumeister‘<br />

unrealisiert blieb, war Tauts Engagement für den Film<br />

doch sehr stark und sein Einfluss von nachhaltiger Wirkung.<br />

Coop Himmelb(l)au und der Komponist Jens-Peter Ostendorf<br />

haben dieses Stück 1993 im Rahmen des Steirischen Herbsts,<br />

eines Festivals in Graz, als Oper realisiert.<br />

Zeitgleich, aber ergebnisreicher war die filmische Beschäftigung<br />

Hans Poelzigs. Die Filmarchitektur für Wegeners Der<br />

Golem, wie er in die Welt kam war ein ‚kunstgewerblicher‘<br />

Ausdruck mit einigen wirksamen Gruseleffekten, der die Massen<br />

mehr anzog als die esoterischen Versuche anderer. Auch<br />

deckte sich Poelzigs eruptiver mittelalterlicher Alptraum keinesfalls<br />

mit der eher naiven Gotik-Utopie der gralsuchenden<br />

Romantiker um Taut, die einer Kristallmanie von Licht domen,<br />

Kristall palästen und kristallenen Weltgebäuden huldigten.<br />

Poelzigs Architekturmassen, erdig und expressionistisch verzerrt,<br />

waren dem genau entgegengesetzt: eine Art Anti-Utopie.<br />

Er versuchte nicht nur den Habitus eines expressionistischen<br />

Bildes auf ein Bauwerk zu übertragen, sondern brachte auch<br />

das Innenleben der Architektur eines gotischen Traumes zur<br />

Darstellung.<br />

In diesem Zusammenhang ist auch Fritz Langs ‚Metropolis‘<br />

zu erwähnen, der auf subtilste Weise das Umkippen der Superstadt<br />

zum Wolkenkratzergefängnis zeigt und die kapitalistische<br />

Skyline durch die Konfrontation der inneren Widersprüche als<br />

neue Unterdrückungsmaschine entlarvt. Bezeichnend dabei<br />

ist die Spaltung der architektonischen Formen in die jeweilige<br />

soziale Klassensprache, denn die Zukunftsstadt ‚oben‘ ist ausschließlich<br />

für die Reichen gemacht. Darunter liegt die Stadt<br />

des Pöbels, und zuunterst befindet sich die unterirdische ‚Produktionsstadt‘,<br />

die den Reichtum der ‚Oberstadt‘ garantiert.<br />

Die moderne Technik erscheint hier als Instrument zur Herrschaft<br />

und Unterdrückung.<br />

Die Zeichensprache ist durchaus hybrid, fast ambivalent,<br />

zum einen ist sie verwandt mit den klassizistischen Repräsentationsbauten,<br />

zum anderen weist sie auf die megalomane<br />

Städtebau-Utopie des italienischen Futuristen Antonio Sant Elia<br />

(Citta nuova, 1914), während die Kubenhäuser der Schlafstadt<br />

mit ihren gleichförmigen Fensteröffnungen und purifizierten<br />

prismatischen Formen die Elemente einer ‚Neuen Sachlichkeit‘<br />

evozieren. Es scheint, als habe Lang neben den menschlichen<br />

Figuren auch die architektonische Form einer diabolischen Dialektik<br />

zwischen Gut und Böse unterziehen wollen.<br />

78 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


„Piranesis Zeichnungen sind wie<br />

Bühnenbilder, die eine akrobatische<br />

Performance liefern und den<br />

Betrachter in das virtuose<br />

Raumerlebnis hineinsaugen.”<br />

Ivan Redi<br />

ZEICHNUNG: GIOVANNI BATTISTA PIRANESI<br />

79


zeigen, andeuten, weglassen:<br />

der informationsgehalt von zeichnungen<br />

ZEICHNUNG: SIN CITY © FRANK MILLER, INC. ALL RIGHTS RESERVED. ZEICHNUNG: GOTTFRIED BÖHM / ARCHIV DEUTSCHES ARCHITEKTURMUSEUM<br />

Um besser zu erklären, was ich hier meine, werde ich als vergleichendes<br />

Beispiel die Entwurfszeichnung von Gottfried Böhm<br />

für die Kirche in Neviges und den Comic ‚Silent Night‘ aus der<br />

Serie ‚Sin City‘ von Frank Miller heranziehen. Beide sind Schwarz-<br />

Weiß-Zeichnungen mit extremen Kontrasten, wobei bei Miller<br />

Graustufen praktisch nicht vorhanden sind. Man erkennt<br />

lediglich die Konturen, und diese sind reduziert auf das Minimum.<br />

Die Bildaussage baut auf der Dichte an Information auf.<br />

Das Bild regt zur Imagination an, man kann sich die Grundzüge<br />

des Raums vorstellen, und der Rest ist Interpretation. In<br />

der Kunst oder beim Comic funktioniert diese Strategie problemlos.<br />

In der Architektur wird es dagegen schwieriger, denn es<br />

handelt sich um eine persönliche Zeichnung autobiografischen<br />

Charakters, die sich schwer beurteilen lässt, weil sie lediglich die<br />

künstlerische Absicht zeigt. Selbst die ‚räumlichen‘ plakativen<br />

Darstellungen von Archigram, die der Pop- und Comic-Kultur<br />

sehr nahe waren, geben keine weiteren Auskünfte über den<br />

simulierten Raum. Die 2D-Collagen, für die sich der Betrachter<br />

spontan oder willkürlich (es fehlen die Entscheidungsparameter)<br />

begeistern kann oder eben nicht, bleiben dem Papier<br />

verhaftet. Man kann diese Zeichnungen nur als Konzeptdiagramme<br />

verstehen.<br />

Setzt man jedoch voraus, dass man mit dem Auge auch denken<br />

kann, und begreift man die architektonische Zeichnung als<br />

Medium, mit dem man zukünftige Umgebungen kommunizieren<br />

und simulieren und auch eine Idee prüfen kann, bevor sie realisiert<br />

wird, ist das zu wenig. Abgesehen von ästhetischen (Skizzen<br />

und Zeichnungen) und funktionalen Überlegungen (ein technischer<br />

Plan, Grundrisse, Schnitte und Ansichten) müssen wir<br />

wissen, was unser Tun tatsächlich anstellt. Aber wird da nicht<br />

zu viel von der Zeichnung verlangt? Wieder auf den Vergleich<br />

mit König Lear zurückkommend, muss man vielleicht erkennen,<br />

dass wir dieses Medium nur so lieben können, wie ein Entwerfer<br />

sein Werkzeug zu lieben hat – nicht mehr und nicht weniger<br />

–, und dass wir die Grenzen dieser Ausdrucksweise bereits<br />

erreicht haben und uns fragen müssen, welche neuen Instrumente<br />

im 21. Jahrhundert notwendig sind, um die Welt von<br />

morgen entwerfen zu können. Dies ist eine inhaltlich konzep-<br />

80 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


ZEICHNUNG: SIN CITY © FRANK MILLER, INC. ALL RIGHTS RESERVED.<br />

Gegenüber (oben):<br />

Gottfried Böhm: Wallfahrtskirche<br />

in Neviges, 1965<br />

Flächenhaft und stark vereinfacht,<br />

aber deutlich erkennbar gibt Gottfried<br />

Böhm hier die Ku batur des<br />

Kirchenbaus mit seinem expressiven<br />

Faltwerkdach wieder. Starke<br />

Licht- und Schattenkontraste sind<br />

charakteristisch für die<br />

Kohlezeichnungen des Pritzker-<br />

Preisträgers von 1986.<br />

Oben & gegenüber (unten):<br />

Frank Miller: Sin City, 1991<br />

Wie Böhm gelingt es auch Frank<br />

Miller, ausschließlich mit weißen<br />

und schwarzen Flächen Raum,<br />

Volumen und Strukturen anzudeuten.<br />

Die mitunter düsteren<br />

Zeichnungen entsprechen dem<br />

Inhalt der Comics, die in der<br />

kriminellen Unterwelt der Großstädte<br />

spielen.<br />

tionelle und nicht eine stilistische Frage. Was würde ein Piranesi<br />

heute tun, wenn er die neuen technologischen Werkzeuge zur<br />

Verfügung hätte?<br />

In der Dokumentation von Sydney Pollack über Frank Gehry<br />

spricht Gehry in einer Szene über sein eigenes Haus und die<br />

schräge Überkopfverglasung in der Küche. Das Glas reflektiert<br />

immer etwas anderes, einmal die vorbeifahrenden Autos, dann<br />

wieder Bäume, Wolken, Sternenhimmel, abhängig von der Tagesund<br />

Jahreszeit, dem Wetter oder ganz einfach abhängig davon, ob<br />

es geputzt wurde oder nicht. Besonders spannend findet Gehry<br />

es am Abend in einer hellen Nacht, wenn der Mond plötzlich<br />

an der ‚falschen‘ Stelle auftaucht. Ein wenig später ist die Mondreflexion<br />

woanders, und so weiter, bis sich niemand mehr auskennt,<br />

was ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ist.<br />

Die Reflexionen sind ein perfektes Beispiel für die Entortung:<br />

Dinge erscheinen in einer gebrochenen Form dort, wo sie eigentlich<br />

nicht sein sollten. Wenn es sich um Tageslicht handelt, ist<br />

dieses Spiel noch unvorhersehbarer. Reflexionen sind Entropien,<br />

die kommen und plötzlich wieder verschwinden, unerwartet,<br />

denn sie selbst hängen von nicht-linearen schwer begreifbaren<br />

Systemen ab, wie zum Beispiel dem Wetter oder von der Struktur<br />

der Materialoberflächen und Texturen. Letztere können auf<br />

Grund der Ungenauigkeit bei der Ausführung oder später der<br />

Abnutzung praktisch nie regelmäßig sein. Selbst die Fotografie<br />

tut sich hier schwer, denn der ‚richtige‘ Blick hängt vom richtigen<br />

Moment ab, und sobald der Auslöser gedrückt wird, wird auch<br />

das Objektiv zum Subjektiv, und die Authentizität geht verloren.<br />

Wenn man zusätzlich die Möglichkeiten eines Fotolabors<br />

oder der digitalen Bildbearbeitung bedenkt, ist eine Fotografie<br />

im Wesentlichen ein konstruierter Blick und konstruierte Schatten,<br />

kommuniziert durch für uns von jemand anderem genau<br />

bestimmte Ausschnitte.<br />

licht, raum und imagination:<br />

die zeichnung als modell<br />

Mit Licht Architektur zu erzeugen versucht der amerikanische<br />

Architekt Steven Holl, dessen Projekt für die St.-Ignatius-Kapelle<br />

in Seattle als gelungenes Beispiel für den Umgang mit Tageslicht,<br />

Materialien und Texturen sowie reflektierenden Oberflächen<br />

gilt. Das konzeptionelle Leitbild des Bauwerks sind sieben<br />

81


Rechts:<br />

Steven Holl: Konzeptskizze für<br />

die St. Ignatius Chapel in Seattle<br />

Sieben ‚Flaschen aus Licht‘ in<br />

einem Kasten aus Stein – so<br />

beschreibt Steven Holl das<br />

Entwurfskonzept für seine<br />

Kapelle auf dem Universitätscampus<br />

von Seattle. In diesem<br />

Aquarell gibt er ihre ungefähren<br />

Volumina wieder und deutet<br />

überdies die funktionale Gliederung<br />

des Bauwerks an.<br />

Gefäße mit Licht in einer Schachtel aus Stein. Die Metapher<br />

des Lichtes wird durch unterschiedliche Volumina geformt –<br />

ausgehend vom Dach, dessen Unregelmäßigkeit unterschiedliche<br />

Lichtqualitäten erzeugt, vereint in einer gemeinsamen<br />

Zeremonie. Die Frage ist nur, ob die konzeptionelle Wasserfarbenzeichnung<br />

Holls in der Lage ist, dem komplexen Spiel zwischen<br />

Raum, Licht, Schatten und Reflexion tatsächlich gerecht<br />

zu werden, und ob wir auf andere (sogar messbare oder simulierbare)<br />

Erfahrungen vertrauen können als auf die persönliche<br />

und künstlerische.<br />

Meiner Meinung nach werden wir Architekten in Zukunft<br />

nur noch für zwei Dinge zuständig sein: den Raum und das<br />

Licht, vor allem das Tageslicht. Darin besteht konkurrenzlos<br />

unsere ganze Kompetenz. Ich schreibe hier bewusst ein wenig<br />

polemisch, denn die genaue Erklärung würde den Rahmen dieses<br />

Textes sprengen. Dabei werden uns neue Computertechnologie<br />

und Rendering-Verfahren von Nutzen sein. Allerdings ist die<br />

Lichtsimulation nicht nur Erzeugung eines wissenschaftlichen<br />

Bildes, sondern hat auch einen künstlerischen Anspruch. Abgesehen<br />

von den Informationen technischer Natur lässt sich mit<br />

diesem Werkzeug auch eine entwerferische Absicht überprüfen<br />

und dem Betrachter verdeutlichen. Es wäre ein Irrtum zu glauben,<br />

dass die Renderings nur Oberflächenmalerei seien. Bilder,<br />

Images und Zeichnungen bilden Wirklichkeit nicht einfach ab,<br />

sondern sind das Ergebnis eines simulierenden Prozesses. Dieses<br />

Bild ist kein Portrait, sondern ein Modell, beleuchtet mit virtuellen<br />

Lichtquellen, wobei Parameter durch komplexe Verfahren<br />

determiniert sind.<br />

Die Bilder werden immer interpretiert und unterschiedlich<br />

gelesen, und sehr selten denkt man mit den Augen. Viel öfter<br />

sucht man nach einer Empfindung und Stimmung, also einer<br />

völlig subjektiven Betrachtungsweise. Das ist eine Herausforderung<br />

für die Bilder, die auch einen wissenschaftlichen Charakter<br />

haben sollen. Wissenschaftliche Bilder sind Produkte eines<br />

langwierigen und komplexen Herstellungs- und Selektionsprozesses<br />

mit vielen Verarbeitungsschritten, Entscheidungen und<br />

Kontingenzen. So können sie sich irgendwann von ihrem Herstellungskontext<br />

lösen und eine eigene Realität gewinnen. Der<br />

Eindruck, auf einen objektiven Zustand der realen Welt gestoßen<br />

zu sein, stellt sich erst dann ein, wenn die experimentell<br />

erzeugten Phänomene ‚Sinn‘ machen, das heißt, wenn es gelungen<br />

ist, zwischen den theoretischen Erwartungen, den beobachteten<br />

Ereignissen und dem Verständnis der Funktionsweise der<br />

verwendeten Rechen- und Auswertungsverfahren eine Übereinstimmung<br />

herzustellen.<br />

Die Bilder sind Werkzeuge, mit denen gearbeitet wird. Um<br />

ihren Zweck zu erfüllen, sollten sie als Arbeitsinstrumente verstanden<br />

werden, auch dann, wenn es nicht nur um pragmatische<br />

und objektive Qualitäten der Räume geht. Man sollte sie nicht<br />

als eine ‚Beilage‘ verstehen, die dazu dient, ein Projekt zu erklären<br />

oder gar zu verschönern. Im Prozess der computerbasierten<br />

Bildgenerierung erweist sich die Interaktivität als grundlegendes<br />

Mittel, um Entwürfe besser prüfen und verbessern zu können,<br />

nicht bloß, um sie darzustellen. Der Bildergebrauch erweist sich<br />

hier als Arbeitsprozess, in den der Computer und das menschliche<br />

Auge integriert sind und der sich, aufgrund bildtechnologischer<br />

Entwicklungen, auf einen Raum visueller Virtualität<br />

hinbewegt. Wenn die Science-fiction-Vision ‚Virtual Light‘ von<br />

William Gibson wahr wird, steuern wir in eine Zukunft, in der<br />

die optische Sensation direkt im Auge entsteht, ohne Photonen<br />

als Lichtträger.<br />

‚Imagining‘ (die Vorstellung) und ‚Imaging‘ (die Erzeugung<br />

von Bildern) fallen dann in eins, aber das endgültige Bild wird<br />

sich weiter entwickeln, wenn wir lernen, mit dem Auge zu verstehen,<br />

und wenn wir die Bilder nicht lesen, um sie zu deuten,<br />

sondern um reale oder virtuelle Umgebungen zu simulieren und<br />

sie auf ihre Qualitäten zu überprüfen. Dabei ist es gleichgültig,<br />

ob es sich um logisch greifbare oder um sensuelle Eigenschaften<br />

handelt. Das bedeutet, dass die neue Zeichnung nicht nur der<br />

exakten, technischen und fotorealistischen Darstellung der erdachten<br />

zukünftigen Welten dient, sondern auch die künstlerisch<br />

optionale Erfassung der räumlichen Wahrnehmung voraussagen<br />

kann.<br />

Ivan Redi leitet gemeinsam mit Andrea Redi das Büro ORTLOS (www.<br />

ortlos.com) für innovative Architektur und Interface-Design. Er studierte<br />

Architektur bei Günter Domenig an der Technischen Universität Graz und<br />

arbeitete danach unter anderem bei Morphosis in Santa Monica/USA.<br />

Derzeit arbeitet Ivan Redi an seiner Dissertation über neue Entwurfsmethoden<br />

in der Architektur und lehrt architektonisches Entwerfen an der<br />

TU Graz. Daneben ist er Mitherausgeber des Buchs ‚ORTLOS: Architecture<br />

of the NetWORKS‘ (erschienen 2005 bei Hatje Cantz).<br />

ZEICHNUNG: STEVEN HOLL ARCHITECTS<br />

82 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Unten:<br />

Lebbeus Woods: System Wien, 2005<br />

In seinem Projekt ‚System Wien‘<br />

interpretiert Lebbeus Woods<br />

Architektur als „Organisation von<br />

Energie“. Mit nur wenigen ‚fliegenden‘<br />

Strichen gibt Woods in dieser<br />

Zeichnung den Straßenraum, die ihn<br />

rahmenden Fassaden und sogar eine<br />

Andeutung von Licht und Schatten<br />

wieder.<br />

ZEICHNUNG: LEBBEUS WOODS<br />

83


TAGESLICHT<br />

IM DETAIL<br />

Genauer hingesehen: Wie Tageslicht<br />

in Gebäude gelangt.<br />

VIRTUELLES LICHT UND<br />

DIGITALE SCHATTEN<br />

GRAFIK: DYLAN COLE<br />

D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Von Eric Hanson.<br />

Von den ersten, flächigen und ‚tapetenhaften‘ Lichtund<br />

Materialdarstellungen bis zur heutigen, hyperrealistischen<br />

Wiedergabe von Strukturen und<br />

Oberflächen hat die Computergrafik enorme Fortschritte<br />

erzielt. Diese Entwicklung ist vor allem<br />

höheren Rechnerleistungen und besseren Software-<br />

Algorithmen zu verdanken. Doch standardisierte<br />

Rendering-Tools machen es für die Grafiker auch<br />

zunehmend schwierig, ihre künstlerische Freiheit bei<br />

der Darstellung von Licht und Schatten zu bewahren.<br />

Das Licht spielt in allen Kunstformen eine wesentliche Rolle,<br />

hat aber vielleicht nirgends eine so zentrale Bedeutung wie im<br />

Film. Angefangen vom klassischen Film Noir wie Der Malteserfalke<br />

bis zur modernen Chiaroscuro-Technik wie in Sin City<br />

trägt das Licht wesentlich zu Charakter und Inhalt jedes Films<br />

bei. Revolutionäre Digitaltechnik hat die moderne Filmproduktion<br />

nachhaltig verändert: Die Kunst synthetischer Lichtsimulation<br />

wurde zum zentralen Thema. Während frühere digitale,<br />

zweidimensionale Filmeffekte (das sogenannte ‚Compositing‘)<br />

an collagenartige Fotosequenzen erinnerten, gehört heute die<br />

dreidimensionale Rendering- und Animationstechnik zum<br />

Standardrepertoire jedes Films und bietet die Möglichkeit, komplett<br />

synthetische Welten und Charaktere zu schaffen, ohne auf<br />

die hohe Kunst des lebendigen Schauspiels zurückzugreifen.<br />

Schon 1981 formulierte der französische Sozialtheoretiker Jean<br />

Baudrillard in seiner Abhandlung Simulacra and Simulation<br />

über die Gefahren der Künstlichkeit die nihilistische Befürchtung,<br />

dass die Wertschätzung des Überrealen die fundamentale<br />

Bedeutung des Realen ablösen werde – ein jüngst in der Matrix-<br />

Serie thematisierter Aspekt. Die Qualität digitaler Beleuchtung,<br />

allein auf die exakte Reproduktion der komplexen Nuancen<br />

echten Lichts ausgerichtet, wird stets an der Realität gemessen,<br />

kann diese aber niemals erreichen. Eine passende Analogie für<br />

künstlich erzeugtes Licht ist René Magrittes Bild Ceci n‘est Pas<br />

Une Pipe, das uns davor warnt, das Abbild höher als die Realität<br />

zu bewerten. In der Praxis digitaler Beleuchtung wird dies<br />

berücksichtigt: Die synthetische Bilderzeugung ist stets an der<br />

Fülle und Komplexität der Wirklichkeit orientiert.<br />

Technisch gesehen war dies nicht immer der Fall. Die ersten<br />

digitalen Beleuchtungsmethoden waren stark vereinfachend<br />

und in ihrer Darstellung der Lichtkomplexität äußerst begrenzt.<br />

Die vielfältigen Möglichkeiten computertechnischer Bilderzeugung<br />

(englisch: Computer Graphics Imagery oder CGI)<br />

zeigten sich erstmals in Filmen wie Jurassic Park oder Terminator<br />

2: Hier ließ sich das unglaubliche Potenzial der Computergrafik<br />

für das Filmgeschäft erahnen, wenngleich die durchaus<br />

geschickt eingesetzte Beleuchtung hauptsächlich der Charakterzeichnung<br />

diente. Spätere Versuche, allumfassende fotorealistische<br />

Welten wie in Final Fantasy zu schaffen, konnten<br />

nicht überzeugen, da die damalige Technologie gewisse Grenzen<br />

setzte. Die ursprüngliche Form der computergrafischen<br />

Beleuchtung (Direct Illumination) zeichnet sich dadurch aus,<br />

reale Lichtquellen wie Spots und bewegliche Scheinwerfer in<br />

die dreidimensional dargestellte Welt einzubeziehen. Solche<br />

Lichtquellen können zwar physikalische Lichteigenschaften wie<br />

Trübung und Abschwächung oder auch Farbgebungen simulieren;<br />

doch die abstrakten Lichtstrahlen werden sofort unterbrochen,<br />

wenn sie auf eine Oberfläche treffen. Die begrenzten<br />

Möglichkeiten dieser Technik offenbaren sich dadurch, dass<br />

das Licht mit den Oberflächen nicht interagieren kann. Da die<br />

Rechenzeit (ein stetes Problem bei der CGI-Animation) aber<br />

idealerweise auf ein Minimum beschränkt sein sollte, greifen<br />

Filmproduzenten dennoch gerne auf diese ‚primitive‘ Beleuchtungsmethode<br />

zurück. Die direkte Illuminationstechnik etablierte<br />

sich nicht zuletzt durch die Einführung von RenderMan<br />

in Feature-Filmen.<br />

RenderMan, maßgeblicher Standard für das CGI-Rendern<br />

in moderner Filmtechnik, wurde ursprünglich in den Achtziger<br />

Jahren von den Pixar Animation Studios entwickelt und<br />

wird auch heute noch häufig zur Erzeugung von Spezialeffekten<br />

eingesetzt. Pixar, damals im Bereich der Computergrafik<br />

führend, wollte ein standardisiertes Verfahren für das 3D-Rendering<br />

etablieren. RenderMan wurde zunächst als zukünftiger<br />

Postscript-Standard im 3D-Bereich gerühmt – wegen der auf die<br />

Programmierer beschränkten Zugriffsmöglichkeiten bewahrheitete<br />

sich dies aber allenfalls für High End-Projekte wie Feature-Filme.<br />

Für diese Industrie nachhaltiger von Bedeutung<br />

hingegen war die von Pixar agressiv betriebene Patentpolitik<br />

zur Lösung zahlreicher Grundprobleme beim Rendering, so z.B.<br />

die Bewegungsverfremdung oder das Antialiasing 1 . Daher können<br />

bis heute nur wenige Entwickler mit der eleganten und effizienten<br />

Technologie von RenderMan konkurrieren. Sogar mit<br />

den ursprünglich begrenzten (mittlerweile weiterentwickelten)<br />

Möglichkeiten einfacher Direktbeleuchtung avancierte RenderMan<br />

zum Standard bei der Produktion von Feature-Filmen.<br />

Für die CG-Lichtexperten bedeutete dies allerdings, sich<br />

angesichts beschränkter realer Lichtmittel zunehmend auf ihr<br />

künstlerisches Geschick verlassen zu müssen, um per Software<br />

überzeugende Spezialeffekte zu erzeugen – ähnlich einer blanken<br />

Leinwand, die durch bloße Vorstellungskraft des Künstlers<br />

gefüllt werden will. In den Anfängen ließen die per CGI-Technik<br />

erstellten Objekte häufig die komplexe Wechselwirkung<br />

D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />

85


S .84:<br />

Bei der Technik des ‚Matte<br />

Painting‘ hängt die Überzeugungskraft<br />

der Lichteffekte<br />

allein vom Auge und den Fähigkeiten<br />

des Künstlers ab. Neue<br />

Methoden beziehen 3D-Modelle<br />

mit ein, aber die Künstler verlassen<br />

sich weitgehend noch immer<br />

auf ihre Maltechniken statt auf<br />

Renderings aus dem Rechner.<br />

Gegenüber:<br />

Die ‚Radiosity‘-Technik war<br />

die erste globale Beleuch tungslösung<br />

und bietet die<br />

akkura teste Abbildung des<br />

Licht transports durch den<br />

architektonischen Raum.<br />

zwischen Tageslicht und künstlichen Lichtquellen vermissen<br />

und wirkten daher stark vereinfacht und synthetisch. Erstes<br />

Ziel aller Experten für Spezialeffekte aber ist es, eine absolut<br />

fotorealistische Illusion zu erzeugen; noch bis Ende der Neunziger<br />

Jahre offenbarte die angewandte Technik allerdings mehr<br />

oder minder große Mängel, welche die illusionistische Wirkung<br />

beeinträchtigten. Spezialeffekte sind nur dann erfolgreich<br />

umgesetzt, wenn sie als solche nicht erkennbar sind und der<br />

Zuschauer seine emotionale Eingebundenheit in das Filmgeschehen<br />

nicht verliert. Viele Regisseure nutzen Spezialeffekte<br />

aber auch in spektakulären und entscheidenden Filmszenen,<br />

wo deren Unsichtbarkeit weniger wichtig ist.<br />

Die fortschrittliche Computergrafik schafft Grundlagen für<br />

neueste Techniken, die zwar mit der aktuellen Computertechnik<br />

noch nicht angewandt werden können, sich aber zukünftig<br />

durchsetzen werden, sobald sich die Rechnerleistung gemäß dem<br />

Mooreschem Gesetz erhöht. Die Berechnung des physikalischen<br />

Lichttransports wurde in den Anfängen der Bildbearbeitung<br />

zwar in Betracht gezogen, dann allerdings wegen ihrer Komplexität<br />

und der daraus resultierenden Schwierigkeiten rasch<br />

wieder verworfen. Mit der Verbreitung der Direktbeleuchtung<br />

aber entwickelte sich eine spezielle Simulationsmethode, um<br />

die Mängel der direkten Beleuchtungstechnik auszugleichen:<br />

die sogenannte Radiosität (englisch radiosity). Hierbei dienen<br />

die thermischen Energiegesetze als Basis für den Lichttransport.<br />

Ein Grundprinzip der Wärmeübertragung lautet, dass Oberflächen<br />

Wärme abgeben, übertragen oder reflektieren können;<br />

diese Eigenschaften werden bei der Radiositätstechnik zur Erzielung<br />

effektiver Lichtsimulation eingesetzt. Vereinfacht gesagt<br />

heißt dies, dass die Oberflächen in einem Radiositätsmodell alle<br />

Lichtstrahlen im Raum aufnehmen und entsprechend reagieren.<br />

Die Oberflächen in einem Radiositätsmodell werden auf<br />

ein Rastermedium übertragen, in dem jede einzelne Masche als<br />

Kameralinse fungiert. Die Verarbeitung eines solchen Modells<br />

kann allerdings sehr viel Zeit in Anspruch nehmen und erfordert<br />

einen großen RAM-Speicher für die Kalkulationen. Die<br />

Radiosität gehört nach wie vor zu den präzisesten Lichtsimulationen,<br />

die der Wirklichkeit sehr nahe kommen. Leider ist diese<br />

Technik für wirksame Filmeffekte grundsätzlich zu langsam; in<br />

dem Film Casino, der am Las Vegas Strip früherer Zeiten spielt,<br />

wurde sie dennoch wirkungsvoll eingesetzt.<br />

Auch wenn sich die direkte Illumination für visuelle Effekte<br />

in Feature-Filmen immer mehr durchsetzte, blieben künstlerisches<br />

Geschick und Sensibilität der Spezialisten gefragt, um<br />

die inhärenten Mängel dieser Technik ‚auszubügeln’. Was normalerweise<br />

der Computer erledigt, musste hier künstlerisch<br />

durch Zeichnungen sanfter Schattierung und Lichtwirkung in<br />

die Szenen eingearbeitet werden. Die Radiosität erwies sich als<br />

vielversprechende Möglichkeit akkurater Lichtsimulation, war<br />

aber nach wie vor in der Filmproduktion unüblich. Einige Feature-Projekte<br />

wie Final Fantasy nutzten das Radiositäts-Rendering<br />

schlichtweg als Schablone, um dessen Wirkung dann durch<br />

direkte Illumination nachzuzeichnen. Aber erst die Neuentdeckung<br />

einer bereits früher entwickelten Technik – das Raytracing<br />

– sorgte für entscheidende Impulse auf diesem Gebiet. Das Raytracing<br />

gehört zu den ältesten Mechanismen in der Computergrafik<br />

und wurde lange Zeit angewandt, um in Ergänzung zur<br />

direkten Illumination überzeugende Reflexionen und Schattenbilder<br />

zu schaffen. Diese Methode arbeitet mit ausgesandten<br />

Vektorstrahlen und ermöglicht im Vergleich zur direkten Illumination<br />

eine komplexere Lichtwanderung, bot aber ursprünglich<br />

nicht die Möglichkeit, das Licht als eine Einheit physikalischer<br />

Teilchen zu berechnen, da sich das Licht sowohl als mikroskopische<br />

Welle als auch in realen Partikeln offenbart. Diese<br />

Erkenntnis machte sich das sogenannte Monte Carlo Raytracing<br />

zunutze, gestützt auf den von Marco Fajardo in den späten<br />

Neunzigern entwickelten Rendering-Code namens Arnold. Die<br />

ersten allein durch diesen Renderer erzeugten Bilder veränderten<br />

und revolutionierten die CG-Beleuchtung so nachhaltig, dass<br />

dieses Verfahren auch noch heute in der modernen 3D-Computergrafik<br />

angewandt wird.<br />

Das Monte Carlo Raytracing verdankt seinen Namen der<br />

Tatsache, dass die Quantenphysik des Lichts niemals wirklich<br />

vollständig per Computer dargestellt werden kann, da<br />

das Niveau der Computerisierung auch bei einfachsten Szenen<br />

unvorstellbar hoch ist. Die Monte Carlo-Technik beruht<br />

auf der Kalkulation eines verschwindend geringen Teils dieser<br />

Komplexität, zunächst durch Nutzung einer Monte Carlo-Statistik<br />

2 , um die Wertigkeit zu reduzieren, anschließend durch<br />

einen Kammfilter 3 , um eine größtmögliche Vereinfachung dieser<br />

komplizierten Wechselwirkungen zu erreichen. Da das Licht<br />

ein natürliches Phänomen ist, nimmt der menschliche Verstand<br />

86 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


RENDERING: CHEN QINGFENG<br />

87


1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

Antialiasing: Eine in der Computergrafik übliche Technik<br />

zur Glättung grober Strukturen.<br />

Monte Carlo-Statistik: Eine Glockenkurve zur Darstellung<br />

von Häufigkeiten.<br />

Kammfilter: Mittel zur Reduzierung eines Datenkomplexes<br />

durch wiederholte Stichprobenentnahme kleiner Wertbereiche<br />

über eine bestimmte Länge.<br />

Flags: Ein in der Beleuchtungstechnik eingesetztes Stück<br />

Stoff, das die Lichtstreuung einfängt und zur Erzielung dramatischer<br />

Effekte genutzt wird.<br />

auch eine Simulation als real wahr, die ansonsten recht wenig<br />

mit Wirklichkeit zu tun hat. Wegen ihrer Komplexität führt<br />

die Monte Carlo-Technik zwar selbst modernste Prozessoren<br />

an ihre Grenzen, hat sich aber dennoch als wichtiger Durchbruch<br />

erwiesen, um echtes Licht durch bloße Computersimulation<br />

innerhalb kürzester Bearbeitungszeit zu imitieren.<br />

Mit dem Aufkommen von Arnold tauchten zahlreiche<br />

Monte Carlo-Renderer auf und verwiesen die traditionelle<br />

Technik direkter Illumination in die zweite Reihe. Neuester<br />

Forschungsgegenstand beim CG-Rendering ist die zunehmend<br />

verfeinerte Global Illumination (GI). Viele Türen, dem Fotorealismus<br />

bislang verschlossen, stehen nun weit offen, da mit der<br />

GI-Technik eine Vielzahl komplexer Lichtwirkungen und -phänomene<br />

dargestellt werden kann. Komplexe Effekte, angefangen<br />

von subtiler interner Lichtkonzentration durch Glas bis hin<br />

zu exakter Tageslichtschattierung und –farbe, sind mittlerweile<br />

gang und gäbe, so dass die CGI-Technik nunmehr auch im Film<br />

überzeugt. Charaktere wie der Gollum, King Kong oder Davy<br />

Jones sind mittlerweile – vor allem dank des GI-Renderings –<br />

legitimer Ersatz für echte Schauspieler. Zu den interessantesten<br />

Neuentwicklungen gehört zweifellos das ‚unabhängige’ Rendering,<br />

eine auf der Spektralwellenform echten Lichts basierende<br />

Technik der Lichtsimulation mit hervorragenden Ergebnissen.<br />

Wichtiger Vorreiter ist der Maxwell-Renderer, der Bilder erzeugt,<br />

die von üblichen Fotografien nicht mehr zu unterscheiden sind.<br />

Der Maxwell-Spezialist arbeitet wie ein Fotograf und nutzt alle<br />

realen Fotobelichtungstechniken wie Flags 4 , Diffusoren und<br />

Gegenlichtblenden. Das Licht kann in einem Komponentfarbspektrum<br />

gebrochen werden, exakte Farbtemperaturen ausstrahlen,<br />

die komplexe Streuung des Tageslichts wiedergeben<br />

und auf die Ablenkungen durch eine echte Glaslinse reagieren.<br />

Anhand einer gespiegelten Fotoserie kann der reale Lichteinfall<br />

an einem spezifischen Ort mit Hilfe einer CGI-Technik<br />

namens ‚Image-based Lighting’ vollständig und übergangslos<br />

dargestellt werden.<br />

Wie bei jeder neu eingeführten bahnbrechenden Technologie<br />

stehen auch hier die Vorteile außer Frage, wenngleich diese<br />

zu Lasten langjährig bewährter Prozesse gehen – in diesem Falle<br />

auf Kosten der künstlerisch orientierten Praktiken direkter Illumination.<br />

Was einst dem künstlerischen Geschick und Verstand<br />

vorbehalten war, wird nun mechanisch vom Computer erledigt.<br />

Bevor sich die GI-Technik durchsetzte, resultierte (und variierte)<br />

die bildliche Darstellung aus der jeweils eigenen Optik und dem<br />

individuellen Verständnis jedes Lichtexperten. Diese ‚intentionale<br />

Beleuchtung’ ist aber nach wie vor wichtiger Bestandteil<br />

der Feature-Animation, wo Stilisierung und Formgenauigkeit<br />

gefragt sind. Zur Erzielung fotorealistischer optischer Effekte ist<br />

die GI-Technik mittlerweile allerdings unverzichtbar. Fotorealismus<br />

ist immer das Ziel, und künstlerische Variationen können<br />

zu problematischer Inkonsistenz führen. Trotzdem mag<br />

man irgendetwas vermissen – wie damals, als klassische Hollywood-Metiers<br />

wie die Erstellung von Miniaturen oder traditionelle<br />

Mattzeichnungen langsam vom Bildschirm verschwanden.<br />

Letztendlich geht es wohl um den klassischen Konflikt des<br />

Künstlers und um die Frage, inwieweit er bei seiner Arbeit auf<br />

Werkzeuge zurückgreift. Dies erinnert an die einstigen Vorbehalte,<br />

die Fotografie als Kunst anzuerkennen: Wer schafft das<br />

Bild – das Werkzeug oder der Künstler? Wie bei jeder Kunstform<br />

ist auch hier der Künstler, geleitet und gesteuert durch seine<br />

Sensitivität und sein Geschick, Urheber des kreativen Schaffensprozesses,<br />

ungeachtet der eingesetzten technischen Mittel.<br />

Die grundsätzliche Frage, die sich uns bei Spezialeffekten im<br />

Film stellt, lautet vielmehr, ob hierdurch die Handlung und der<br />

Inhalt eines Films wesentlich unterstützt und bereichert werden,<br />

um natürliche, ‚nichttechnische’ Emotionen hervorzurufen.<br />

Werden Filme hierdurch besser? Wie auch immer man<br />

diese Frage beantworten mag: Die Kraft und das Mysterium des<br />

Lichts werden immer eine zentrale Rolle im Film und in jeder<br />

zukünftigen Medienform spielen und wesentliches Ausdrucksmittel<br />

menschlicher Gefühle und Erfahrung bleiben.<br />

Eric Hanson ist Spezialist für visuelle Effekte in Feature-Filmen.<br />

Als studierter Architekt etablierte er bereits früh 3D-Visualisierungsstudios<br />

für große Architekturbüros wie The Callison Partnership und Gensler<br />

and Associates. Seit seinem Wechsel ins Filmgeschäft arbeitet er mit<br />

führenden Produzenten von Spezialeffekten wie Digital Domain, Sony<br />

Imageworks, Dream Quest Images und Walt Disney Feature Animation<br />

zusammen. Er war an der Produktion von Filmen wie Stealth – Unter dem<br />

Radar, The Day After Tomorrow, Cast Away – Verschollen, Hollow Man –<br />

Unsichtbare Gefahr, Atlantis, Fantasia 2000 und Das fünfte Element<br />

maßgeblich beteiligt. Derzeit ist Eric Hanson Dozent für Spezialeffekte an<br />

der University of South California School of Cinema/TV.<br />

88 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Oben links & rechts:<br />

Der Maxwell-Renderer erlaubt die<br />

äußerst realistische Darstellungen<br />

von Materialien aus der ‚realen‘<br />

Welt, von spiegelndem Glas bis zu<br />

Kohlefasern.<br />

Unten links & rechts:<br />

Die Monte Carlo Raytracing-<br />

Methode zeichnet ein besonders<br />

ausdifferenziertes Bild von Licht,<br />

Raum und Oberflächen, indem sie<br />

auf stark vereinfachte Weise die<br />

Bewegung einzelner Lichtphotonen<br />

nachvollzieht.<br />

CHRISTOPHER NICHOLS / WWW.REDEYETALES.COM<br />

HENRIK WANN JENSEN<br />

NEXT LIMIT TECHNOLOGIES<br />

NEXT LIMIT TECHNOLOGIES<br />

89


VELUX EINBLICKE<br />

Architektur für den Menschen – Bauen mit VELUX.<br />

HINTER SCHWEREN MAUERN<br />

Museum in Brie-Comte-Robert


Von Jakob Schoof.<br />

Fotos von Adam Mørk.<br />

Ein Bauwerk ohne Ewigkeitsanspruch sollte das ‚Interpretationszentrum<br />

für das historische Erbe’ in der Burg von Brie-<br />

Comte-Robert werden: leicht, transparent und im Zweifel<br />

schnell wieder abzubauen. Hinter seiner Lärchenholzfassade<br />

birgt das Museum Säle voller Tageslicht, in denen die alten<br />

Fundstücke, die rekonstruierten Burgmauern und die moderne<br />

Holzkonstruktion gleichwertig nebeneinander stehen.<br />

Rund 30 Kilometer südöstlich von Paris<br />

steht inmitten der Hügellandschaft der Brie<br />

ein Baudenkmal, das nur die wenigsten Reiseführer<br />

verzeichnen und das doch, glaubt<br />

man den Historikern, Modellcharakter<br />

besitzt für viele mittelalterliche Burgen in<br />

Frankreich. Das Château du Brie-Comte-<br />

Robert, ein quadratischer Bau mit runden<br />

Ecktürmen, liegt nur wenige Schritte vom<br />

Marktplatz entfernt im Zentrum der gleichnamigen<br />

Kleinstadt. Über einen breiten<br />

Wassergraben führen heute wie vor Jahrhunderten<br />

zwei Brücken auf die beiden,<br />

durch quadratische Türme geschützten<br />

Burgtore zu. Diese Öffnung nach zwei Seiten<br />

und der daraus resultierende Durchgangscharakter<br />

der Burg sind, soweit man weiß,<br />

in der Region einzigartig.<br />

Errichtet wurde die Burg Ende des 12.<br />

Jahrhunderts von Robert I. von Dreux, dem<br />

Herrscher über die Brie und Bruder des<br />

französischen Königs Louis VII. Von seinem<br />

Bauwerk war 1982 nicht mehr viel erhalten<br />

außer einigen Resten der rund 2,30 Meter<br />

dicken Kalksteinmauern. Seither jedoch<br />

haben die Amis du Vieux Château, eine Vereinigung<br />

ehrenamtlicher Helfer, Bemerkenswertes<br />

geleistet: Ein großer Teil der<br />

Burgmauer sowie ihrer insgesamt acht<br />

Türme wurde wieder aufgebaut. Ausgrabungen<br />

im Innenhof förderten außerdem<br />

zahlreiche Mauer reste ehemaliger Wohntrakte<br />

zutage. Unterstützt wurden die Ausgräber<br />

dabei von einer Vielzahl privater und<br />

öffentlicher Geldgeber. Diese ermöglichten<br />

es der Vereinigung auch, 2003 ihr bislang<br />

ambitioniertestes Projekt in Angriff zu nehmen:<br />

den Bau eines kombinierten Betriebsund<br />

Ausstellungsgebäudes oder, in der<br />

französischen Amtssprache, eines CIP (‚Centre<br />

d’interprétation du patrimoine’). Darin<br />

sollten neben einem Ausstellungssaal auch<br />

Räume für die Museumspädagogik sowie<br />

Büros und ein großer Gruppenraum für die<br />

Ausgrabungshelfer Platz finden.<br />

Geplant wurde der 400 Quadratmeter<br />

große, rund 725 000 Euro teure Neubau<br />

von den Architekten Semon Rapaport aus<br />

Brie-Comte-Robert und dem Museumsgestalter<br />

Lorenzo Piqueras. Wie stets, wenn<br />

inmitten historischer Mauern Neues entstehen<br />

soll, hatte auch die nationale Denkmalschutzbehörde<br />

ACMH ein gewichtiges<br />

Wörtchen mitzureden. Ihr Chefarchitekt<br />

Jacques Moulin erstellte für das Projekt ein<br />

Pflichtenheft, das einen Holzbau verlangte –<br />

zum einen, weil sich dieses Material deutlich<br />

von den alten Mauern unterscheiden würde<br />

und zum anderen, weil eine Holzkonstruktion<br />

für spätere, weitere Ausgrabungen relativ<br />

leicht wieder abgebaut werden könnte.<br />

Auch aus ästhetischen Gründen gab Moulin<br />

dem Holz den Vorzug: „Die mittelalterlichen<br />

Monumente, die auf uns gekommen<br />

sind, ähneln oft Muscheln, von denen nichts<br />

mehr außer der Schale übrig geblieben ist.<br />

Alle leichten Bauteile sind verschwunden.<br />

[…] Es erscheint mir daher wünschenswert,<br />

diese Materialvielfalt in den Bauwerken, die<br />

wir restaurieren, wieder neu entstehen zu<br />

lassen, da sie ein charakteristischer Wesenszug<br />

westlicher Baukonstruktionen war.“<br />

Schließlich gab auch das geringe<br />

Gewicht den Ausschlag für eine Holzkonstruktion:<br />

Am Standort des Gebäudes,<br />

in der Nordecke der Burg, haben bislang<br />

keine Ausgrabungen stattgefunden. Um<br />

die hier möglicherweise noch verborgenen<br />

Funde zu schützen, durfte der Boden weder<br />

durch schwere Konstruktionen noch durch<br />

schweres Baugerät belastet werden. Das<br />

92 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Links:<br />

Das Ausstellungs- und Betriebsgebäude<br />

wurde komplett aus<br />

Holz errichtet. Eine Wandscheibe<br />

aus Sichtbeton am<br />

Eingang ist – mit Ausnahme<br />

der Fundamente – das einzige<br />

massive Bauteil.<br />

Unten:<br />

Ein hoch- und ein tiefgelegenes<br />

Fensterband belichten den Ausstellungssaal.<br />

Die dazwischen<br />

liegende Fassadenfläche kann<br />

innen für Exponate genutzt<br />

werden und wird nur gelegentlich<br />

durch Fensteröffnungen<br />

unterbrochen.<br />

Gegenüber:<br />

Das dritte Fensterband besteht<br />

aus Dachwohnfenstern und<br />

belichtet den hinteren Teil der<br />

Ausstellungsflächen.<br />

94 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Fakten<br />

Bauherr<br />

Architekten<br />

Ausstellungsgestaltung<br />

Wissenschaftliches Konzept und<br />

archäologische Forschung<br />

Commune de Brie-Comte-Robert<br />

SCP Semon Rapaport,<br />

Brie-Comte-Robert<br />

Lorenzo Piqueras<br />

Amis du Vieux Château,<br />

Brie-Comte-Robert<br />

Links oben:<br />

Detailschnitt durch das<br />

Fensterband im Dach<br />

Links Mitte:<br />

Axonometrie des Neubaus<br />

Links unten:<br />

Wandernde Lichtflecken gleiten<br />

im Tagesverlauf über die<br />

Kalksteinmauern im Ausstellungssaal.<br />

Gegenüber:<br />

Das Ausstellungsmobiliar ist<br />

schlicht und hell. Gemeinsam<br />

mit dem Parkettboden, der alten<br />

Burgmauer, den Rundstützen<br />

und der Gipskartondecke ergibt<br />

sich ein Wechselspiel aus strukturierten,<br />

natürlich gewachsenen<br />

und glatten, industriell<br />

gefertigten Oberflächen.<br />

96


D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />

97


VELUX PANORAMA<br />

Architektur mit VELUX aus aller Welt.<br />

1<br />

FOTOS (S. 74–77): ADAM MØRK<br />

ÜBER DEN DÄCHERN EUROPAS<br />

KONZEPTHAUS ATIKA<br />

Fakten<br />

Vorläufiger Standort<br />

Art des Gebäudes<br />

Kunde<br />

Architekten<br />

Fertigstellung<br />

Getxo (Bilbao), Spanien. Wanderausstellung<br />

Konzepthaus (modulare Dachaufstockung)<br />

VELUX A/S, Hørsholm, Dänemark<br />

ACXT/IDOM, Bilbao, Spanien<br />

2006<br />

98 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


1. Mit seiner markanten Silhouette<br />

überragt Atika das<br />

Stadtbild. Das modulare Konzepthaus<br />

wurde erstmals im<br />

Oktober 2006 im Hafen von<br />

Getxo (Spanien) vorgestellt.<br />

Die traditionelle Architektur Südeuropas<br />

zeichnet sich durch ihre<br />

intelligente und einfache Nutzung<br />

vorhandener Ressourcen aus: Sonne<br />

und Luft, die im Überfluss zur Verfügung<br />

stehen, und Wasser – mitunter<br />

ein seltenes Gut – werden seit Jahrhunderten<br />

zum Kühlen und Heizen<br />

verwendet, um den Bewohnern bestmöglichen<br />

Komfort zu bieten.<br />

Dicke und schwere Mauern als<br />

thermischer Puffer, weißer Kalk<br />

als reflektierende Schicht auf den<br />

Außenwänden, Fensterläden, Schatten<br />

von Gebäuden und Dachüberhängen,<br />

enge Straßen und Höfe, die<br />

Schatten spenden und zugleich die<br />

Luft zirkulieren lassen, sowie die Verwendung<br />

fließenden Wassers zum<br />

Kühlen gehören zu den traditionellen<br />

Lösungen der Architektur rund um<br />

das Mittelmeer.<br />

Atika ist von dieser mediterranen<br />

Bautradition inspiriert. Das Projekt ist<br />

der Versuch, mit einfachen, aber wirkungsvollen<br />

Lösungskonzepten mehr<br />

Komfort bei geringerem Energieverbrauch<br />

zu erreichen. Entworfen als<br />

Konzepthaus für warme Klimazonen,<br />

soll Atika ein gesundes Wohnumfeld<br />

mit hohem Raumkomfort und ganzjährig<br />

optimalen Tageslichtbedingungen<br />

bieten. Es ist damit der Prototyp eines<br />

energiesparenden Hauses in Regionen<br />

mit viel Sonne, heißen Sommern und<br />

milden Wintern, wo Belüftungs- und<br />

Kühlsysteme traditionell viel Energie<br />

verbrauchen.<br />

„Normalerweise werden Dächer<br />

im Mittelmeerraum nicht als Wohnraum<br />

benutzt. Doch Atika ist ein<br />

Dachhaus und zugleich ein Haus unter<br />

dem Dach”, sagt Javier Aja Cantalejo<br />

von ACXT Arquitectos, der für den<br />

Entwurf verantwortlich zeichnete.<br />

Das Gebäude, das der Öffentlichkeit<br />

zum ersten Mal im Oktober 2006<br />

im Hafen von Getxo bei Bilbao vorgestellt<br />

wurde, ist in zwei Teile gegliedert:<br />

das Haus selbst und einen<br />

gerüstartigen Unterbau, der ein bestehendes<br />

Gebäude mit Flachdach<br />

symbolisiert. Javier Aja Cantalejo<br />

zufolge liegen die konzeptionellen<br />

Vorteile von Atika im schnellen Aufbau<br />

vor Ort und der geringen Belästigung<br />

der Nachbarn. Zudem bietet<br />

das Haus zusätzliche Mietflächen<br />

und schützt die bestehende Dachoberfläche<br />

vor Regen.<br />

Die Silhouette von Atika wird<br />

durch sein weißes, zickzackförmiges<br />

Dach geprägt. Als Re-Interpretation<br />

der traditionellen Mittelmeerarchitektur<br />

besitzt das Haus einen zentralen,<br />

offenen Patio, der mit einem<br />

schattenspendenden Vordach, einem<br />

Wasserbecken und Grünpflanzen als<br />

Klimaregulator dient. Atika-Häuser<br />

sind typische Einfamilienhäuser. Ihr<br />

Grundriss mit 10 x 10 Metern Kantenlänge<br />

ist in drei Teile gegliedert. Die<br />

beiden Flügel im Westen und Osten –<br />

je 10 Meter lang und 3,5 Meter breit –<br />

enthalten die Wohn- und Schlafräume.<br />

Sie werden durch den Eingangsbereich<br />

und die zentrale, offene Patio-<br />

Terrasse miteinander verbunden. Die<br />

Dächer sind nach Norden und Süden<br />

geneigt, wobei jedem Raum im Haus<br />

eine eigene Dach geometrie zugeordnet<br />

wurde. Die genaue Dachform<br />

von Atika variiert je nach Standort,<br />

abhängig von der geografischen Lage,<br />

der Ausrichtung, der Art der Raumnutzung<br />

sowie von den Ansprüchen an<br />

Tageslicht und Raumklima. Dies macht<br />

Atika zu einem flexiblen Organismus,<br />

der sich öffnen und schließen, atmen,<br />

Sonnenenergie einfangen und diese je<br />

nach Jahreszeit umwandeln kann.<br />

Die natürliche Belüftung und<br />

nächtliche Abkühlung werden von<br />

einer elektronischen Steuerungsanlage<br />

optimiert, die automatisch<br />

das Raumklima überwacht. Die Anlage<br />

regelt das Raumklima durch automatisches<br />

Öffnen und Schließen<br />

der Fenster sowie der Jalousien und<br />

Rollläden und durch Aktivierung des<br />

Kühl- und Heizsystems gemäß voreingestellter<br />

Parameter wie Temperatur,<br />

Luftfeuchtigkeit, Tageszeit, Jahreszeit<br />

und Einbruchschutz.<br />

Das Konzepthaus wird über<br />

die Straße zum Aufbauort transportiert.<br />

Die Tragkonstruktion besteht<br />

aus einem Stahlrahmen für<br />

die Boden- und Dachflächen. Stahlstützen<br />

tragen die Wände, diagonale<br />

Streben stabilisieren sie. Der Boden<br />

besteht aus Stahlbetonplatten auf<br />

einer Wellblechschicht. Die 16 Zentimeter<br />

dicke Wärmedämmung wird<br />

im Dach von einer weiteren Wellblechschicht<br />

und in den Außenwänden<br />

von einem leichten, verzinkten<br />

Stahlrahmen gehalten. Dächer und<br />

Fassaden sind außen mit Hochdrucklaminat-Platten<br />

und innen mit Gipskarton<br />

verkleidet. Die Innenwände<br />

be stehen ebenfalls aus einer doppelten<br />

Schicht Gipskarton mit innen<br />

liegender Schalldämmung. Auf den<br />

Böden im Inneren des Hauses wurden<br />

Keramikfliesen, im Patio und auf<br />

den Terrassen Holz verlegt.<br />

Das für Atika verwendete Baukastenprinzip<br />

sowie die Vorfertigung in<br />

der Fabrik haben große Vorteile gegenüber<br />

konventionellen Baumethoden:<br />

Sie reduzieren die Bauzeit um<br />

etwa ein Drittel, machen die Konstruktion<br />

stabiler und präziser und<br />

vereinfachen die Nutzung von Spezialprodukten<br />

und techniken für eine<br />

bessere Wärme- und Schalldämmung.<br />

Zudem verbessert die Herstellung<br />

in der Fabrikhalle die Qualität<br />

und die Kontrolle des Bauprozesses.<br />

Die Gebäudetechnik von Atika<br />

ist insofern innovativ, als Solarkollektoren<br />

heißes Wasser nicht<br />

nur zum Heizen, sondern auch zum<br />

Kühlen liefern. Sie stellen rund 70 %<br />

des Warmwasserbedarfs und 30 %<br />

des Heizenergiebedarfs bereit und<br />

versorgen zugleich die Klimaanlage<br />

des Hauses. Die insgesamt rund 10<br />

Quadratmeter großen Solarkollektoren<br />

wurden auf den südlichen<br />

Dach flächen des Hauses installiert<br />

und sind zwischen 15 und 60 Grad<br />

aus der Horizontalen geneigt. Die<br />

Kollektoren versorgen ein Heißwassersystem,<br />

das an ein zusätzliches<br />

Kühlwassersystem angeschlossen<br />

ist. Dieses Kühlwassersystem wird<br />

für die Luftkühlung in den heißen<br />

Jahreszeiten benutzt.<br />

Das Heizen, als Raumheizung<br />

in Gebäuden, für die Warmwassergewinnung<br />

und für Industrieprozesse,<br />

macht heutzutage die Hälfte des<br />

gesamten Weltenergieverbrauchs<br />

aus. Die Nutzung erneuerbarer<br />

Ener gien – solarthermisch, geothermisch<br />

oder Biomasse – bietet eine<br />

gute Alternative zu fossilen Brennstoffen<br />

und Elektrizität als Wärmequellen.<br />

In dieser Hinsicht kann Atika<br />

zur Lösung der Aufgabe beitragen,<br />

die der EU-Kommissar für Energie,<br />

Andris Piebalgs, als eine der größten<br />

künftigen Herausforderungen für die<br />

Architektur ausgemacht hat: „Durch<br />

energetische Verbesserungen in unseren<br />

Gebäuden erreichen wir nicht<br />

nur mehr für uns selbst, sondern wir<br />

sparen auch für unsere Kinder.“<br />

Mehr Informationen unter:<br />

atika.VELUX.com<br />

99


2<br />

ZEICHNUNGEN: ACXT/IDOM<br />

2. Schnitte und Grundriss .<br />

3. Atika überrascht mit seiner<br />

für das mediterrane Klima ungewohnten<br />

Offenheit. Trotz der<br />

Leichtbauweise und des hohen<br />

Fensteranteils gewährleistet<br />

ein intelligentes Klima- und Lüftungssystem<br />

einen hohen Innenraumkomfort.<br />

4. Der Schlafraum liegt im höchsten<br />

Teil des Gebäudes. Durch<br />

sechs Dachfenster genießen die<br />

Hausbewohner freien Blick in<br />

den Himmel.<br />

5. Blick durch den Wohnraum,<br />

der im Süden in einer Art Wintergarten<br />

voller Tageslicht<br />

endet. Beide Gebäudeflügel<br />

sind 10 Meter lang und 3,5 Meter<br />

breit und können damit per<br />

LKW transportiert werden.<br />

6. Der Patio zwischen dem<br />

Schlaf- und dem Wohntrakt<br />

öffnet sich nach Süden zum<br />

Hafen hin. Die Fassaden des<br />

Konzepthauses sind mit HPL-<br />

Platten verkleidet; ein flaches<br />

Wasserbecken dient als zusätzlicher<br />

Wärmepuffer.<br />

4<br />

3<br />

5<br />

100 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


7<br />

D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


8<br />

7. Im Norden verbindet der Eingangsbereich<br />

die beiden Gebäudeflügel<br />

zu einem u-förmigen<br />

Grundriss. Der mit Holz bedeckte<br />

Patio ist so vor der Meeresbrise<br />

und vor Einblicken geschützt.<br />

8. Nach Norden hin ist Atika<br />

weitgehend geschlossen.<br />

Lediglich die sechs Dachfenster<br />

über dem Schlafzimmer strahlen<br />

ihr Licht in die Nacht hinaus.


FOTOS (S. 80–83): RAINER VIERTLBÖCK<br />

1<br />

104


CABRIO AUS LÄRCHENHOLZ<br />

HAUS KLIMCZYK IN RIEDEN<br />

Fakten<br />

Standort<br />

Gebäudetyp<br />

Bauherr<br />

Architekt<br />

Fertigstellung<br />

Osterreinen, Rieden am Forggensee, D<br />

Einfamilienhaus (Doppelhaushälfte)<br />

Familie Klimczyk, Rieden, D<br />

Becker Architekten, Kempten, D<br />

Februar 2006<br />

Rieden am Forggensee liegt in einer<br />

jener Gegenden in Deutschland, die<br />

im Ausland als Inbegriff für das<br />

‚Pitto reske‘ in der deutschen Landschaft<br />

gelten und deshalb schon früh<br />

vom internationalen Tourismus entdeckt<br />

wurden. Burgruinen und Badeseen<br />

(allein sieben im Umkreis<br />

von 12 Kilometern), „lauschige<br />

Winkel und malerische Ecken“<br />

führt die Website des Orts als<br />

Argumente an, hier seine Ferien zu<br />

ver bringen. Am gegenüberliegenden<br />

Seeufer, in Sichtweite von Rieden,<br />

erhebt sich Neu schwanstein, das<br />

Märchenschloss des exzentrischen<br />

Bayernkönigs Ludwig II. über den<br />

dichten Nadelwald.<br />

So attraktiv jedoch die landschaft<br />

liche Schönheit Oberbayerns<br />

auf den Touristen wirkt, so hindernisreich<br />

gestaltet sich oft der Versuch,<br />

hier zeitgemäße Neubauten<br />

zu errichten. Die Architektur-Avantgarde<br />

hat es – anders als etwa in der<br />

Schweiz oder in Österreich – noch<br />

immer schwer, in der Region Fuß zu<br />

fassen. Als ungeschriebene Norm<br />

gilt der Bautypus, der im Laufe des<br />

20. Jahrhunderts eher unreflektiert<br />

als der ‚alpenländische‘ akzeptiert<br />

wurde: flach gedeckte, meist<br />

weiß verputzte Häuser mit weit<br />

auskragenden Dächern und ebenso<br />

ausladenden Holzbalkonen. Auch der<br />

Riedener Ortsteil Osterreinen folgt<br />

mit seinen meist aus den 70er-Jahren<br />

stammenden Häusern dieser<br />

Vorgabe. Lediglich vereinzelt findet<br />

man noch die so genannten ‚Schwangauer<br />

Häuser‘, die die Gegend früher<br />

prägten – Holz ständerbauten mit<br />

traufseitiger, meist nach Süden orientierter,<br />

offener Laube.<br />

Ein solches, regionaltypisches<br />

Bauernhaus nahmen sich Becker<br />

Architekten zum Vorbild für den<br />

Entwurf des Hauses Klimczyk. Es<br />

handelt sich um eine Doppelhaushälfte<br />

in der Dorfmitte, deren Pendant<br />

von den Nachbarn zu einem<br />

späteren Zeitpunkt mit einem anderen<br />

Architekten realisiert werden<br />

sollte. Fest stand indessen bereits,<br />

dass der Nachbar ein Massivhaus<br />

wünschte, und so konzipierten die<br />

Architekten Haus Klimczyk als hölzernen<br />

‚Anbau‘, der sich wie der Stalloder<br />

Wirtschaftsteil eines Hofes an<br />

seinen steinernen Widerpart anschließen<br />

sollte. Um dieses Konzept<br />

zu unterstreichen, erhielt das Haus<br />

eine Lärchenholzverschalung mit integrierten<br />

Schiebe-Faltläden, die im<br />

Laufe der Jahre silbergrau verwittern<br />

wird. Durch die Läden lassen<br />

sich die Loggien an der Nord- und<br />

Südseite nahezu komplett öffnen. In<br />

geschlossenem Zustand verschmelzen<br />

Fensterläden und Fassade dagegen<br />

zu einer einzigen, homogenen<br />

Hülle, die in der Tat etwas ‚Scheunenhaftes‘<br />

ausstrahlt. In der Nutzung<br />

erhält das Haus so eine enorme<br />

Flexibilität: Wie ein Cabriolet lässt<br />

es sich an alle denkbaren Licht- und<br />

Wettersituationen anpassen.<br />

Das Leben im Inneren des Hauses<br />

spielt sich auf allen vier Etagen ab,<br />

wobei das Untergeschoss separat<br />

als Einliegerwohnung nutzbar ist.<br />

Sie ist winkelförmig um einen Innenhof<br />

angelegt und wird separat von<br />

außen erschlossen. Die Innenräume<br />

gruppieren sich um einen von oben<br />

belichteten Treppenhauskern, der<br />

der Doppelhaushälfte eine überraschende<br />

Großzügigkeit verleiht. Das<br />

Licht fällt durch Dachwohnfenster<br />

ein, unter denen neun so genannte<br />

‚Lichtkanonen‘ – Lichtschächte aus<br />

weiß lackierten MDF-Platten – für<br />

eine blendfreie, gleichmäßige Lichtverteilung<br />

sorgen. Auch die übrigen<br />

Oberflächen im Haus wurden weiß<br />

gehalten und sorgen so für eine<br />

bestmögliche Lichtausbeute: In den<br />

Wohnräumen wurde weiß geöltes<br />

Parkett verlegt; die Wände bestehen<br />

aus weiß gestrichenen Gipskartonplatten<br />

sowie (im Treppenhaus)<br />

weiß lackierten Hartgipsplatten.<br />

D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05<br />

105


1. Wie ein Schleier verhüllen<br />

die Lärchenholzlamellen die<br />

Loggien an den Längsseiten des<br />

Hauses. Während das Gebäude<br />

bei geschlossenen Läden tags<br />

eher massiv und undurchdringlich<br />

wirkt, wird es nachts zum<br />

allseits ausstrahlenden Lichtkörper.<br />

2. Längs- und Querschnitt<br />

2<br />

ZEICHNUNGEN: BECKER ARCHITEKTEN<br />

3. Das innen liegende Treppenhaus<br />

dient nicht nur als Erschließungszone.<br />

Der großzügig<br />

bemessene Raum stellt auch die<br />

visuelle Verbindung zwischen<br />

den Ebenen her.<br />

4. Neun markante ‚Lichtkanonen‘<br />

unter den Dachflächenfenstern<br />

spenden blendfreies<br />

Licht für das Treppenhaus.<br />

3<br />

106 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


4<br />

107


VELUX DIALOG<br />

Architekten im Gespräch mit VELUX.<br />

LIGHT OF<br />

TOMORROW<br />

Wettbewerbe sind seit jeher ein wichtiges<br />

Instrument für die Architektur,<br />

insbesondere dann, wenn das gestellte<br />

Thema genügend Spielraum<br />

für individuelle Interpretation lässt,<br />

eine Herausforderung an die Teilnehmer<br />

darstellt und Impulse für künftige<br />

Entwicklungen gibt. Dann steht auch<br />

nicht mehr der Wettbewerbscharakter<br />

im Vordergrund der Veranstaltung,<br />

sondern ihre Funktion als Forum für<br />

räumliche Diskussionen, die ein tieferes<br />

Verständnis spezifischer architektonischer<br />

Lösungen ermöglichen.<br />

Qualifizierte Wettbewerbe sorgen<br />

für frischen Wind und dienen den Teilnehmern<br />

als Anregung, um Inhalte, die<br />

heute noch Zukunftsmusik sind, kurzfristig<br />

Realität werden zu lassen. Die<br />

zeitliche Dimension spielt bei Wettbewerben<br />

eine entscheidende Rolle,<br />

denn schließlich müssen die Ergebnisse<br />

innerhalb einer gesetzten Frist<br />

präsentiert werden, was großes Talent<br />

und höchste Konzentration erfordert.<br />

Vielleicht aber schöpfen die<br />

Teilnehmer ihre Inspiration bei solchen<br />

Wettbewerben, bei denen der kreative<br />

Schaffensakt im Vordergrund<br />

steht, genau aus dieser Kombination<br />

aus Nervenanspannung und Hingabe.<br />

Architektur mit sozialem Bewusstsein<br />

ist für unsere Lebensqualität<br />

und unser Wohlbefinden von<br />

entscheidender Bedeutung. Weder<br />

können wir die Architektur losgelöst<br />

von unserer Kultur betrachten,<br />

noch die Tatsache verdrängen, dass<br />

sie unseren natürlichen Lebensraum<br />

immer stärker prägt. Architektur als<br />

räumliches Gestaltungsmittel betrifft<br />

jeden von uns, denn uns allen obliegt<br />

die Verantwortung, unser bauliches<br />

Lebensumfeld zu verbessern. Architekturschulen<br />

gehören zweifellos zu<br />

den wichtigsten Institutionen, mit<br />

denen wir diesem globalen Anspruch<br />

gerecht werden können.<br />

VELUX ist klug genug, den Blick<br />

in die Zukunft zu richten und auf kommende<br />

Generationen zu bauen, um<br />

neue Entwicklungen frühzeitig zu erkennen<br />

und innovative Ideen aufzugreifen.<br />

Das Unternehmen setzt auf<br />

junge Leute und deren Vermögen, Zukunftsvisionen<br />

konkrete Gestalt zu<br />

verleihen. Die junge Generation wird<br />

nicht als profitversprechender Markt,<br />

sondern als Inspirationsquelle angesehen.<br />

Auf einzigartige Weise engagiert<br />

sich VELUX seit vielen Jahren in der<br />

Architektenausbildung.<br />

Der VELUX-Wettbewerb ‚Light<br />

of Tomorrow‘ bot Architekturstudenten<br />

und -lehrern die Gelegenheit,<br />

sich mutig an räumliche Experimente<br />

zu wagen. Als die Jury (der japanische<br />

Architekt Kengo Kuma, die irische Architektin<br />

Roisin Heneghan, Dr. Omar<br />

Rabie vom Massachusetts Institute<br />

of Technology, der Präsident der AIA<br />

Douglas Steidl, der General Manager<br />

von VELUX Italien Massimo Buccilli<br />

und ich) im Sommer 2006 in Madrid<br />

tagte, fühlten wir uns alle sehr<br />

geehrt, an diesem Projekt teilnehmen<br />

zu dürfen. Als Hochschullehrer<br />

und Architekten sind wir mit den<br />

Mühen, der kreativen Energie und den<br />

Hoffnungen bestens vertraut, die in<br />

jedem Projekt stecken. Im Gegensatz<br />

zu den ausgereiften Arbeiten erfahrener<br />

Kollegen zeichneten sich die<br />

von der kommenden Architektengeneration<br />

vorgelegten Pläne durch frische<br />

Ideen und Experimentierfreude<br />

aus und zeigten erste Zeichen und gelungene<br />

Interpretationen des ‚Lichts<br />

von morgen‘. Mit jeder neuen Generation<br />

erfährt die Auffassung von Kontext,<br />

Zeit und Raum einen gewissen,<br />

manchmal kaum spürbaren Wandel,<br />

der ein Indikator für zukünftige Entwicklungen<br />

sein kann. Daher habe ich<br />

immer großen Respekt vor Studentenwettbewerben.<br />

Die eingereichten<br />

Arbeiten sind in ihrer Gesamtheit<br />

so beeindruckend, dass die Jury allen<br />

Teilnehmern gratulieren und auch<br />

VELUX große Anerkennung dafür<br />

aussprechen möchte, sich einer solchen<br />

Herausforderung auf professio-<br />

108 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


‚Light of tomorrow‘ lautete das<br />

Motto des International VELUX<br />

Award 2006. Seine Interpretation<br />

war den einzelnen Studenten<br />

überlassen: Konkrete<br />

Gebäudeentwürfe wurden<br />

ebenso eingereicht wie sehr<br />

konzeptionelle Arbeiten die die<br />

Grenzen der Architektur mit<br />

Skulptur, Landschaftsplanung,<br />

Energietechnik, Biologie und<br />

vielen anderen Bereichen ausloteten.<br />

DORTE MANDRUP ARKITEKTER IN ZUSAMMENARBEIT MIT B&K+ BRANDLHUBER & CO / FOTO: TORBEN ESKEROD<br />

nelle und großzügige Weise zu stellen<br />

und damit der jungen Generation ein<br />

Forum zur Selbstverwirklichung und<br />

zum Experimentieren zu geben. Bei<br />

der Jury löste der Ausschreibungstext<br />

zum International VELUX Award folgende<br />

Gedanken aus:<br />

„Der Preis stellt das Tageslicht in<br />

den Vordergrund, soll aber gleichzeitig<br />

dazu anregen, die Rolle des<br />

Tageslichts zu diskutieren und zu<br />

überdenken. Licht ist nicht mehr nur<br />

als dienliches Hilfsmittel in der Architektur,<br />

sondern als primäres und entscheidendes<br />

Gestaltungsmittel zu<br />

verstehen.“<br />

„Mit dem Preis sollen Projekte<br />

gefördert werden, die über die alleinige<br />

Existenz des Lichts hinausgehen<br />

– experimentelle Projekte, die<br />

sich am Unbekannten orientieren, an<br />

Grenzen gehen, wesentliche Erkenntnisse<br />

gewinnen und nicht nur mit der<br />

menschlichen Wahrnehmung arbeiten,<br />

sondern auch soziale und umweltbezogene<br />

Aspekte des Lichts<br />

aufzeigen.“<br />

„Mit diesem Preis werden nicht nur<br />

Studenten, sondern auch ihre Lehrer<br />

und Betreuer gewürdigt.“<br />

Insgesamt wurden bei der Jury<br />

557 Arbeiten aus aller Welt eingereicht,<br />

die durch eine bemerkenswerte<br />

Vielfalt von Ideen und Ansätzen bestechen.<br />

Die Einsendungen überzeugten<br />

durch ihre facettenreiche Behandlung<br />

des Lichts als wesentliches Gestaltungsmittel<br />

der Architektur. Die<br />

Möglichkeiten, das Licht und seine<br />

Kapazitäten immer wieder neu zu interpretieren,<br />

scheinen schier unbegrenzt.<br />

Die aufstrebende Generation junger<br />

Architekten, die sich an diesem<br />

Wettbewerb beteiligte, hat mannigfaltige<br />

Methoden und Denkansätze<br />

gezeigt, wie der architektonischen<br />

Bedeutung des Tageslichts auch in<br />

Zukunft gerecht zu werden ist. Die<br />

Transformation des räumlichen Potenzials<br />

von Licht wird immer wieder<br />

Anstöße zur Umsetzung persönlicher<br />

Motivation und Interessen geben.<br />

Während einige Teilnehmer eine direkte<br />

räumliche Interpretation bevorzugten,<br />

erfanden andere raffinierte<br />

Mechanismen, um dem Licht besondere<br />

Identität zu verleihen. In ihrer<br />

Vielfalt verdeutlichen die Arbeiten,<br />

dass moderne Architektur weder ein<br />

allgemein gültiges Anliegen noch eine<br />

einheitliche Raumvorstellung verfolgt.<br />

Viele Projekte beschäftigten sich mit<br />

dem Thema auf allgemeiner Ebene,<br />

andere hingegen konzentrierten sich<br />

auf spezifische konzeptionelle Ideen.<br />

Doch trotz dieser Vielfalt ist Licht<br />

nach wie vor ein ‚gemeinsamer Nenner‘<br />

und eine unentbehrliche Inspirationsquelle<br />

für die Architektur.<br />

Die Jury war offen für alle unterschiedlichen<br />

Ansätze, denn entscheidend<br />

ist schließlich die Qualität eines<br />

Projekts und dessen Vermögen, eine<br />

themenbezogene Diskussion in der Architektur<br />

anzustoßen. Dieser Aspekt<br />

war ausschlaggebend für die letztendliche<br />

Auswahl. Die Jurymitglieder<br />

empfanden es als große Ehre, Teil<br />

dieses Wettbewerbs zu sein. Mitunter<br />

entfachte sich zwischen ihnen eine<br />

lebhafte und provokative Debatte angesichts<br />

der zahlreichen Beiträge mit<br />

unterschiedlichen und anspruchsvollen<br />

Ansätzen. Die drei Siegerprojekte<br />

wurden von der Jury einstimmig<br />

gewählt.<br />

1. Preis<br />

Louise Grønlund<br />

Museum der Fotografie<br />

2. Preis<br />

Gonzalo Pardo<br />

Leseplatz im Wald<br />

3. Preis<br />

Anastasia Karandinou<br />

Unsichtbare Lichtbrücken<br />

Per Olaf Fjeld<br />

Vorsitzender der Jury


INTERVIEW<br />

MIT<br />

LOUISE<br />

GRØNLUND<br />

Louise Grønlund lebt in Kopenhagen,<br />

wo sie seit Januar 2007 im<br />

Architekturbüro Lundgaard & Tranberg<br />

arbeitet. Daneben hat sie eine<br />

Teilzeitstelle als Lehrkraft an der<br />

Königlichen Dänischen Kunstakademie<br />

in Kopenhagen.<br />

D&A Was haben Ihnen die Kultur,<br />

in der Sie aufgewachsen sind, und<br />

Ihre Ausbildung zur Architektin über<br />

Licht vermittelt?<br />

LG Das Licht in Dänemark und im<br />

gesamten Norden ist etwas ganz<br />

Besonderes. Es spiegelt sich in unserer<br />

Kultur auf verschiedenen Ebenen<br />

wider, auch in der Art und Weise,<br />

in der wir wohnen und bauen. Ich<br />

glaube, dass alle Architekten, sowohl<br />

Praktiker als auch Theoretiker,<br />

diesem ‚nordischen Licht’ mit seinem<br />

weichen, diffusen und etwas weniger<br />

intensiven Charakter sehr viel Aufmerksamkeit<br />

widmen. Das Besondere<br />

am Licht in Dänemark sind die<br />

mit den Jahreszeiten verknüpften,<br />

sehr unterschiedlichen Helligkeitszustände.<br />

Doch auch innerhalb der<br />

einzelnen Jahreszeiten gibt es kleine,<br />

aber wichtige Unterschiede. Für Architekten<br />

im Norden ist dies eine Gegebenheit,<br />

mit der viele sehr bewusst<br />

umgehen, und dieses Bewusstsein<br />

vermitteln die Lehrer an den Architekturschulen<br />

in Dänemark auch<br />

an ihre Studenten weiter. Über die<br />

Lichtverhältnisse kann man nachlesen<br />

oder sich etwas erzählen lassen,<br />

aber erst durch eigene Erfahrungen<br />

wird man sich der Wirkung bewusst,<br />

die es im Raum entfaltet.<br />

D&A Welche wichtigen Eigenschaften<br />

des Lichts haben Sie bei<br />

Ihrer Arbeit für sich entdeckt?<br />

LG Ich habe während der letzten Semester<br />

an der Architekturschule und<br />

besonders in meinem Abschlussprojekt<br />

‚Museum für Fotografie’ die Wirkung<br />

des Lichts im Raum aus einem<br />

phänomenologischen Blickwinkel<br />

untersucht, das heißt, wie wir mit<br />

unserem Körper Raum und Licht<br />

sinnlich wahrnehmen. Insofern interessieren<br />

mich eigentlich gerade die<br />

Nuancen und feinen Unterschiede<br />

des nordischen Lichts und die Frage,<br />

wie man durch bewusstes und präzises<br />

Arbeiten mit diesen Unterschieden<br />

Gebäude entwerfen kann, die<br />

diese Wahrnehmungsweise deutlich<br />

machen. Ich will mit Architektur so<br />

arbeiten, dass sie das besondere Phänomen<br />

des Lichts verdeutlicht – Architektur<br />

als Lichtmaschine.<br />

D&A In welche Richtung wird sich die<br />

Verwendung von Licht in der Architektur<br />

im 21. Jahrhundert entwickeln?<br />

Wird sie eher technologiegetrieben<br />

oder von den Bedürfnissen des Menschen<br />

geprägt sein, oder von der Notwendigkeit,<br />

Energie zu sparen, oder<br />

von allen drei Faktoren?<br />

LG Ich glaube, dass das Licht in der<br />

Architektur des 21. Jahrhunderts<br />

viele unterschiedliche Rollen und<br />

‚Funktionen’ bekommen wird. Schon<br />

seit längerer Zeit ist es konstruktiv<br />

möglich, Häuser fast vollständig aus<br />

Glas zu bauen und damit sehr große<br />

Mengen an Tageslicht einzufangen,<br />

aber es wird auch wieder eine Gegenreaktion<br />

darauf erfolgen. Sie wird<br />

teilweise von der Frage ausgehen, ob<br />

primär die Menge an Tageslicht im<br />

Mittelpunkt des Interesses stehen<br />

sollte, aber auch von der Frage der<br />

Ressourceneffizienz. Daher meine<br />

ich, dass wir eine Architektur erleben<br />

werden, die viel bewusster und<br />

präziser mit dem Tageslicht arbeitet<br />

als bisher. Teils wird sie auf den Bedürfnissen<br />

des Menschen basieren,<br />

teils auf rein architektonischen Gesichtspunkten.<br />

D&A Stellen Sie mit Ihrem Projekt<br />

‚Museum für Fotografie’ die traditionelle<br />

Auffassung von Ausstellungsräumen<br />

in Frage, die vor allem in<br />

Museen meist als ‚neutrale’ Kisten<br />

mit einer tageszeitunabhängigen,<br />

unveränderlichen Beleuchtung konzipiert<br />

sind?<br />

LG Im Museum für Fotografie habe<br />

ich versucht, optimale Voraussetzungen<br />

für das Sehen des Betrachters<br />

zu schaffen, das heißt, dass er<br />

einerseits die ausgestellten Fotografien<br />

sieht und andererseits auf<br />

sein eigenes Sehen aufmerksam gemacht<br />

wird. Dass er den Raum sieht,<br />

in dem er sich befindet, das Licht im<br />

Raum spürt und die Ausdehnung des<br />

Raums wahrnimmt. Gerade mit diesen<br />

unterschiedlichen Helligkeitszuständen<br />

oder ‚Lichtwelten’ in den<br />

einzelnen Ausstellungsräumen, und<br />

damit auch mit den Unterschieden<br />

von einem Raum zum nächsten, habe<br />

ich sehr bewusst gearbeitet.<br />

D&A Was kann man in diesem<br />

Sinne von historischen Museen wie<br />

der Glyptothek in Kopenhagen mit<br />

ihren großen, von oben beleuchteten<br />

Räumen lernen, deren Atmosphäre<br />

sich abhängig von den Tageslichtverhältnissen<br />

im Freien teils dramatisch<br />

verändert?<br />

LG Gerade der Raum in der Glyptothek<br />

ist ja interessant, da er das Licht<br />

zeigt und damit uns, den Betrachtern,<br />

den Einfluss des Lichts auf die Art<br />

und Weise, wir wir den Raum erleben<br />

und sehen, vor Augen führt. Diese<br />

Erfahrung führt vielleicht dazu, dass<br />

sich der Betrachter mit der Zeit des<br />

Lichts und dessen Wirkung im Raum<br />

deutlicher bewusst wird. Aber der<br />

Raum in der Glyptothek bewirkt noch<br />

etwas anderes, weil er nämlich den<br />

Kontext und die ‚reale Welt’ draußen<br />

nicht ausschließt, sondern mit in den<br />

Raum einbezieht.<br />

110 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Unten Nicht nur in ihrem Siegerprojekt<br />

setzte sich Louise Grønlund<br />

mit der Fotografie auseinander.<br />

Auch privat zeigt sie eine<br />

hohe Affinität zu diesem Medium,<br />

wie diese äußerst reduzierten<br />

Aufnahmen von Räumen unter<br />

verschiedenen Lichtbedingungen<br />

zeigen.<br />

111


INTERVIEW MIT<br />

GONZALO<br />

PARDO<br />

Gonzalo Pardo lebt und arbeitet in<br />

Madrid, wo er an seinem Abschlussprojekt<br />

an der Escuela Tecnica Superior<br />

de Arquitectura de Madrid<br />

(ETSAM) arbeitet. Darüber hinaus<br />

lehrt er, finanziert durch ein zweijähriges<br />

Stipendium, an der ETSAM und<br />

arbeitet an Wettbewerben und eigenen<br />

Projekten.<br />

D&A Was haben Ihnen die Kultur, in<br />

der Sie aufgewachsen sind, und Ihre<br />

Ausbildung zum Architekten über<br />

Licht vermittelt?<br />

GP Wenn man in einem Land wie<br />

Spanien aufwächst, erlangt man ein<br />

‚Bewusstsein‘ für das Licht, das heißt,<br />

man nimmt wahr, wie es sich verändert.<br />

Im Laufe des Jahres, der Jahreszeiten<br />

und selbst der einzelnen<br />

Tage bleibt das Licht niemals gleich.<br />

Darüber hinaus vermitteln einem die<br />

Professoren an der Hochschule das<br />

Wissen darüber, wie man mit Licht<br />

arbeitet und seine Potenziale nutzt.<br />

Das bedeutet nicht nur, das Licht bei<br />

Entwürfen zu berücksichtigen, sondern<br />

auch, es als Einflussgröße zu<br />

betrachten, die ein ganzes Gebäude<br />

organisieren kann. Dies ist wirklich<br />

eine Herausforderung.<br />

D&A Welche Eigenschaften des<br />

Lichts sind für Sie derzeit besonders<br />

von Interesse?<br />

GP Zur Zeit interessiere ich mich<br />

dafür, mit Licht als einem Material<br />

wie Stein oder Beton zu arbeiten<br />

und seine Möglichkeiten zu erforschen.<br />

Ich denke, dass die Lichteigenschaften<br />

in jedem Projekt die<br />

Wahrnehmung des Orts durch eine<br />

Vielfalt gegensätzlicher räumlicher<br />

Eigenschaften verändern sollten,<br />

das heißt durch Kontraste wie dunkel<br />

und hell, öffentlich und privat,<br />

offen und geschlossen, innen und<br />

außen, oben und unten oder leicht<br />

und schwer.<br />

D&A Wie werden sich die Art, wie<br />

Menschen Licht nutzen, und das<br />

Verhältnis zwischen Tageslicht und<br />

künstlichem Licht im 21. Jahrhundert<br />

verändern?<br />

GP Ich glaube, dass künstliches<br />

Licht und Tageslicht zur Zeit gleich<br />

wichtig sind. Neue Technologien erlauben<br />

es, auch mit künstlichen Systemen<br />

Tageslichtatmosphären zu<br />

erzeugen. Das ist wichtig, da diese<br />

Entwicklung in der Zukunft die Form<br />

von Gebäuden verändern und neue<br />

Arten von Raumprogrammen hervorbringen<br />

kann.<br />

D&A In Ihrem Projekt für den Internationalen<br />

VELUX Award haben Sie<br />

ein architektonisches ‚Feld‘ mit unterschiedlichen<br />

Raum- und Lichtsituationen<br />

entworfen. Beobachten Sie<br />

in der Architektur derzeit eine Tendenz<br />

zu vielfältigeren, nicht standardisierten<br />

Lichtlösungen? Und auf<br />

welche Aspekte bezieht sich diese<br />

neue Vielfalt?<br />

GP Mein Projekt ‚Leseplatz im Wald‘<br />

und die Forschungen, die ich im Vorfeld<br />

angestellt habe, konzentrieren<br />

sich auf die Erzeugung von Komplexität,<br />

sowohl bezüglich des Raums als<br />

auch des Lichts. Der ‚Leseplatz‘ ist<br />

ein dreidimensionales Netzwerk und<br />

kein Gebäude. Daher habe ich mich bei<br />

der Entwurfsarbeit ganz darauf konzentriert,<br />

dieses Netzwerk anhand<br />

verschiedener Arbeitsmodelle zu gestalten.<br />

In diesem Prozess waren Organisationsstrukturen<br />

wichtiger als<br />

formale Aspekte. Die verschiedenen<br />

Strukturen haben durch die Arbeit<br />

mit Licht eine Vielfalt von Formen,<br />

Farben und Proportionen an einem<br />

einzigen Tag hervorgebracht. Meiner<br />

Meinung nach sollten lediglich<br />

Konzepte bestehen bleiben: Die Anziehungskraft<br />

der Architektur liegt<br />

in der Fähigkeit, einer Idee, die zunächst<br />

mit Konzepten und nicht mit<br />

Formen verbunden ist, verschiedene<br />

formale Ausprägungen zu geben. Die<br />

Herausforderung in meinem Projekt<br />

bestand darin, etwas aus dem Material<br />

‚Licht‘ zu erschaffen.<br />

D&A Nicht nur Licht, sondern auch<br />

das Gleichgewicht zwischen Licht<br />

und Schatten spielt eine große Rolle<br />

in Ihrem Projekt. Inwiefern wurzelt<br />

dies in Ihren persönlichen Erfahrungen?<br />

GP Ich glaube, dass das Konzept von<br />

Licht nicht nur Licht bedeutet, sondern<br />

auch mit anderen Begriffen wie Schatten,<br />

Texturen, Reflektionen, kraftvoll,<br />

statisch, farbig und so weiter verbunden<br />

ist. In meinem Wettbewerbsprojekt<br />

habe ich viel mit dem Kontrast<br />

zwischen Licht und Schatten gearbeitet.<br />

Das Thema Licht hat mir ermöglicht,<br />

mir ein System von abstrakten<br />

Regeln vorzustellen, das die Entscheidungen<br />

und Aktionen im gesamten Gestaltungsprozess<br />

regelt. Das Ergebnis<br />

war ein Raum voll unterschiedlicher<br />

Lichter und unterschiedlicher Wahrnehmungen:<br />

Ein Ort zum Lesen, des<br />

Lichts und der Wahrnehmung ...<br />

D&A Kengo Kuma, ein Mitglied der<br />

Jury, hat in einem Interview gesagt:<br />

„Material und natürliches Licht sind<br />

das Gleiche.“ Würden Sie dem zustimmen,<br />

und welche Konsequenzen<br />

hat diese Betrachtungsweise für Ihre<br />

eigene Arbeit?<br />

GP Ich stimme dem vollkommen zu.<br />

In meinem Projekt habe ich mit Materialien<br />

und Tageslicht gearbeitet<br />

und dabei den Raum benutzt, den ein<br />

Baum um sich herum erzeugt, sein<br />

‚Feld‘. Ein Baum bietet, besonders als<br />

Teil einer Baumgruppe, die Privatsphäre,<br />

die der Akt des Lesens erfordert.<br />

Eine enge Beziehung zwischen<br />

der Person, dem Buch und der Umgebung<br />

entsteht. Das Ergebnis ist eine<br />

neue, kontinuierliche Landschaft voller<br />

Lichtsäulen, die den Raum organisieren.<br />

Diese Säulen haben einen<br />

Einfluss auf das Spiel des ‚Sehen und<br />

nicht gesehen werden‘ und bieten dadurch<br />

Spielräume für die Individualität,<br />

die das Lesen voraussetzt.<br />

112 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Links Alles kann Architektur<br />

sein – selbst ein gefaltetes<br />

Stück Papier. Diese konzeptionelle<br />

Haltung formulierte Gonzalo<br />

Pardo bereits in seinem<br />

Entwurf für einen ‚Palast der<br />

kleinen Prinzessin Leonore‘ von<br />

2006. Sie ist auch in seinem<br />

preisgekrönten Projekt für den<br />

International VELUX Award<br />

deutlich zu spüren.<br />

113


INTERVIEW MIT<br />

ANASTASIA<br />

KARANDINOU<br />

Anastasia Karandinou stammt aus<br />

Athen, wo sie ihr Architekturdiplom<br />

an der Nationalen Technischen Universität<br />

erhielt. Momentan arbeitet<br />

sie an ihrer Doktorarbeit (PhD) zum<br />

Thema „Materialität und Immaterialität<br />

in der Architekturtheorie und im<br />

architektonischen Entwurf“ an der<br />

Universität von Edinburgh.<br />

D&A Was haben Ihnen die Kultur, in<br />

der Sie aufgewachsen sind, und Ihr Architekturstudium<br />

Ihnen über Licht vermittelt?<br />

AK Für die griechische Kultur, in der ich<br />

groß wurde, ist das Tageslicht von großer<br />

Bedeutung. Sowohl Licht als auch<br />

Schatten können hier sehr intensiv<br />

und hart sein. In Teilen Griechenlands<br />

wird die Architektur stark durch die<br />

dort herrschenden Lichtverhältnisse<br />

beeinflusst. Das Erscheinungsbild von<br />

Objekten und Formen bei bestimmtem<br />

Lichteinfall und die Notwendigkeit,<br />

sich vor Licht und Hitze zu schützen<br />

oder das Licht zu filtern und zu lenken,<br />

erzeugen eine spezifische Atmosphäre,<br />

die für die lokale Architektur<br />

kennzeichnend ist.<br />

Während unseres Studiums an<br />

der Architekturfakultät der Nationalen<br />

Technischen Universität von<br />

Athen befassten wir uns mit einer<br />

Reihe von Theorie- und Entwurfsprojekten,<br />

bei denen das Licht stets eine<br />

elementare Rolle spielte. Ich persönlich<br />

verstehe unter ‚Licht’ das gesamte<br />

Beleuchtungsspektrum, angefangen<br />

von greller Beleuchtung natürlicher<br />

oder künstlicher Art über weiches,<br />

diffuses Licht bis zur totalen, lichtlosen<br />

Finsternis. Bei Dunkelheit (als<br />

einer Form des Lichts) rückt die visuelle<br />

Wahrnehmung in den Hintergrund,<br />

während unsere anderen Sinne deutlich<br />

geschärft werden.<br />

D&A Welche Eigenschaften des<br />

Lichts sind für Ihre Arbeit besonders<br />

wichtig?<br />

AK Die von meinen Professoren in<br />

Athen, Eindhoven und Edinburgh geleiteten<br />

Studien und Projekte waren<br />

extrem anspruchsvoll und provokativ<br />

und regten uns dazu an, eigene Vorstellungen<br />

von Architektur und Licht<br />

zu entwickeln. So wird in meinem Projekt<br />

für Shanghai, das ich zum International<br />

VELUX Award eingereicht habe,<br />

das Licht zum verbindenden und zugleich<br />

trennenden Element zwischen<br />

den beiden Ufern des Suzhou River.<br />

Als unsichtbare, immaterielle Brücke<br />

verbindet und trennt das Licht die<br />

beiden Stadtteile in Anlehnung an die<br />

bewegte Geschichte der Stadt (ehemals<br />

fungierte der Fluss als Trennlinie<br />

zwischen den britischen und amerikanischen<br />

Besiedlungen). Abgesehen<br />

von bloßer ‚Dekoration’ übernimmt<br />

das Licht gleichzeitig eine sehr präzise<br />

und rationale Funktion: Im Open-<br />

Air-Kino wird es zur Projektion, in den<br />

Telefonzellen zur Beleuchtung genutzt<br />

und bei der unterirdischen Filmschule<br />

als dramatischer Effekt eingesetzt.<br />

Durch diese Auffassung von Licht<br />

bieten sich mir zwei verschiedene Interpretationen:<br />

Einerseits schafft das<br />

Licht als immaterielle Brücke eine<br />

Verbindung und Trennung zwischen<br />

den beiden Stadtteilen, andererseits<br />

greift die entworfene Beleuchtung die<br />

vor Ort existierenden Lichtquellen auf,<br />

die gleichermaßen beweglich und veränderlich<br />

sind, wie Autoscheinwerfer,<br />

mobile Verkaufsstände und Hausbeleuchtungen.<br />

Licht und Beleuchtung<br />

eines Ortes vermitteln uns einen Eindruck<br />

des dort herrschenden Lebens.<br />

Eine Lichtkarte einzelner Gebiete<br />

Shanghais würde vermutlich deren<br />

jeweilige Charakteristika offenbaren<br />

und uns dazu veranlassen, bestimmte<br />

Gegenden näher zu betrachten, um herauszufinden,<br />

was dort passiert.<br />

Das Licht kann aber auch als Malwerkzeug,<br />

als ‚Stift’ genutzt werden.<br />

Bei meiner Interpretation und Darstellung<br />

der Stadt Shanghai nutzte ich es<br />

auch als Planungsinstrument. Wir erstellten<br />

mehrere Modelle der Stadt aus<br />

verschiedenen Materialien wie Plastik,<br />

Gips und Wachs, in die wir Routen, Aktivitäten<br />

und Informationen eingravierten.<br />

Diese Modelle projizierten<br />

wir mit einem Overheadprojektor auf<br />

eine Wand und zeichneten die Projektionen<br />

ab. Das Ergebnis waren unsere<br />

Stadtpläne.<br />

In Shanghai trafen wir am Fluss<br />

auf einen alten Chinesen, der pausenlos<br />

mit Wasser etwas auf den Boden<br />

schrieb. Bevor er einen Satz beendete,<br />

war dessen Anfang zwar bereits wieder<br />

verschwunden, aber schon gelesen<br />

worden – ähnlich einer Lichtfackel, die<br />

Zeichen in den Himmel ‚schreibt’.<br />

D&A In Ihrem Projekt für den International<br />

VELUX Award nutzen Sie das<br />

Licht, um eine Verbindung zwischen<br />

bislang voneinander getrennten Räumen<br />

und Menschen zu schaffen. Inwieweit<br />

greifen Sie hierbei auf eigene,<br />

persönliche Erfahrungen zurück?<br />

AK Licht kann in verschiedenster<br />

Weise als Verbindung dienen; so<br />

führt zum Beispiel ein Leuchtturm<br />

den Betrachter oder Reisenden zu<br />

einem bekannten Punkt. Es kann den<br />

Weg weisen oder auch Räume und<br />

Menschen durch gelungene Inszenierung<br />

eines Ortes einander näher<br />

bringen. Das Licht schafft die Voraussetzungen<br />

für bestimmte Aktivitäten,<br />

und die spezielle Beleuchtung<br />

eines Ortes lässt auf die dort stattfindenden<br />

Aktivitäten schließen.<br />

Auf dem Schouwburgplein in<br />

Rotterdam dienen beispielsweise<br />

die dort installierten Strahler, deren<br />

Position und Ausrichtung beliebig<br />

verändert werden kann, als Verbindungsglied<br />

zwischen den Besuchern<br />

und dem Ort selbst, der in diesem<br />

Falle eine Art Bühne bildet. In anderen<br />

Fällen verbindet das Licht –zum<br />

Beispiel Feuer – die Menschen, wenn<br />

sie sich um die Lichtquelle herum versammeln.<br />

Anders herum kann auch<br />

das Nichtvorhandensein von Licht<br />

zu einer Konzentration oder Verbindung<br />

der Menschen führen – zum<br />

Beispiel, wenn sich an einem heißen,<br />

sonnendurchfluteten Ort viele Leute<br />

im Schatten zusammenfinden. Licht<br />

hat aber noch weitere verbindende<br />

Eigenschaften: Es bildet eine Synthese<br />

zwischen anderen Elementen<br />

oder Merkmalen eines Ortes. Die<br />

immateriellen Lichtbrücken verbinden<br />

das Leben am Ufer des Suzhou<br />

nicht nur mit dessen Vergangenheit,<br />

sondern auch mit diffusen, weniger<br />

offensichtlichen Fragmenten der Gegenwart.<br />

Bei entsprechender Interpretation<br />

und Darstellung schaffen<br />

sie eine Verbindung zwischen einzelnen<br />

Fragmenten der Stadt – zwischen<br />

kleinen Details und scheinbar nebensächlichen<br />

Ereignissen.<br />

D&A Mit Ihrem Projekt wollen Sie<br />

Licht nach Shanghai bringen, in eine<br />

Stadt, die größtenteils – gelinde gesagt<br />

– schon reichlich beleuchtet ist.<br />

Gleichzeitig diskutieren Lichtplaner in<br />

aller Welt das Problem der ‚Lichtverschmutzung’.<br />

Wie vermeiden Sie es,<br />

durch Ihr Projekt einfach etwas hinzuzufügen,<br />

das bereits im Übermaß<br />

vorhanden ist?<br />

AK Einige Teile Shanghais mögen<br />

durchaus gut oder auch überbeleuchtet<br />

sein; die Ufergegenden des Suzhou<br />

erscheinen hingegen in einem<br />

sehr ‚speziellen‘ Licht. Angesichts<br />

mangelnder Straßenbeleuchtung<br />

sorgen nahezu ausschließlich bewegliche<br />

und unvermittelt ein- oder<br />

ausgeschaltete Lichtquellen wie Autoscheinwerfer,<br />

mobile Verkaufsstände<br />

und Hausbeleuchtungen für<br />

Helligkeit. Für die Gestaltung urbaner<br />

Beleuchtung ist dies eine durchaus<br />

reizvolle Herausforderung. Mein<br />

Entwurf ist eine Interpretation dieser<br />

Umstände: Licht sollte nicht als reines<br />

Beleuchtungsmittel angesehen, sondern<br />

planungstechnisch und ergebnisorientiert<br />

als narratives Instrument<br />

verstanden werden. Die Lichter in<br />

meinem Entwurf bewegen und verändern<br />

sich abhängig von ihrer Funktion,<br />

ähnlich der bereits existierenden<br />

Lichtquellen. So wechselt die Helligkeit<br />

des Open-Air-Kinos und der Telefonzellen<br />

je nach Tageszeit sowie in<br />

Abhängigkeit von ihrer Nutzung.<br />

114 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


Oben Auch bei der Arbeit an ihrem<br />

Projekt für Shanghai war das Licht<br />

für Anastasia Karandinou ein<br />

wichtiges Hilfsmittel. Aus<br />

Materialien wie Wachs oder Gips<br />

wurden abstrakte ‚Pläne‘ der Stadt<br />

geformt, mittels eines Overheadprojektors<br />

an eine Wand projiziert<br />

und dort in großem Maßstab<br />

abgezeichnet.<br />

115


BÜCHER<br />

REZENSIONEN<br />

Zum Weiterlesen:<br />

Aktuelle Bücher,<br />

präsentiert von D&A.<br />

DESIGN LIKE YOU GIVE<br />

A DAMN<br />

Herausgeber:<br />

Architecture for Humanity<br />

Metropolis Books 2006<br />

ISBN 1–933045–25–6<br />

Wir schreiben das Jahr 2006. Alle<br />

Welt blickt gebannt auf das Wachstum<br />

Shanghais, die künstlichen Inseln<br />

vor der Küste Dubais und den Wiederaufbau<br />

des World Trade Center. Alle<br />

Welt? Nicht ganz. Eine wachsende<br />

Gemeinschaft vor allem jüngerer Architekten<br />

entzieht sich dem Wettlauf<br />

um den repräsentativsten Firmensitz,<br />

das luxuriöseste Holiday-Resort und<br />

den höchsten Wolkenkratzer der<br />

Welt und widmet sich einer noch größeren<br />

Herausforderung: für die mehr<br />

als eine Milliarde Katastrophenopfer<br />

und Bürgerkriegsflüchtlinge, Slumbewohner<br />

und Obdach lose auf der Erde<br />

menschenwürdige Behausungen zu<br />

schaffen. Zu den führen den Köpfen<br />

der Bewegung gehören der amerikanische<br />

Architekt Cameron Sinclair<br />

und seine Ehefrau, die Journalistin<br />

Kate Stohr, die mit ihrer Organisation<br />

Architecture for Humanity für ‚Design<br />

Like You Give A Damn’ verantwortlich<br />

zeichneten. Eingangs des Buchs beschreibt<br />

Sinclair seinen eigenen Werdegang,<br />

der symptomatisch für den<br />

so vieler Aktivisten in der Entwicklungs-<br />

und Katastrophenhilfe ist: Eine<br />

berufliche Sinnkrise („Ich war dabei,<br />

Verkaufsautomaten für Lippenstifte<br />

für einen Ort zu entwerfen, an dem<br />

der durchschnittliche Wochenlohn<br />

dem Kaufpreis eines Lippenstifts entsprach“),<br />

ein sozial engagierter Mentor<br />

und eine Reise in eine notleidende<br />

Region (das von HIV/AIDS heimgesuchte<br />

Südafrika) führten ihn zur<br />

Gründung seiner Organisation, die anfangs<br />

vor allem durch Ausstellungen<br />

und Architekturwettbewerbe bekannt<br />

wurde.<br />

In ‚Design Like You Give A Damn’<br />

dokumentieren Sinclair und Stohr<br />

die Entwicklung von Notunterkünften<br />

und Interims-Wohnbauten der<br />

vergangenen 100 Jahre; genauer:<br />

seit dem Erdbeben von 1906 in San<br />

Francisco, sowie die Rahmenbedingungen,<br />

unter denen diese entstanden<br />

sind. Vor allem jedoch zeigen sie<br />

aktuelle Lösungsansätze auf, denn<br />

noch nie folgten den Statistiken zufolge<br />

humanitäre und Naturkatastrophen<br />

so rasch aufeinander wie heute.<br />

Dabei ist das Medieninteresse, das<br />

eine Katastrophe hervorruft, nicht<br />

immer ein objektiver Gradmesser.<br />

Denn verheerender noch als Erdbeben<br />

oder Sturmfluten sind oftmals<br />

lang anhaltende Bürgerkriege, Dürreperioden<br />

oder die HIV/AIDS-Epidemie<br />

in Afrika, die Hilfsorganisationen<br />

bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit<br />

fordert. ‚Design Like You Give A<br />

Damn’ macht deutlich, wie vielfältige<br />

Formen ‚Architektur’ für Bedürftige<br />

weltweit annehmen kann. Sie reicht<br />

von den Zeltstädten des UNHCR bis<br />

zur Schlafsack-Spendenaktion für<br />

Obdachlose in Baltimore und vom<br />

Frauenhaus im Senegal bis zu den<br />

Bauten des ‚Rural Studio’ im Süden<br />

Alabamas. In mehreren Interviews<br />

haben die Herausgeber die Protagonisten<br />

‚humanitärer Architektur’ zu<br />

ihren Erfahrungen befragt. Die Antworten<br />

ringen Bewunderung ab und<br />

desillusionieren zugleich: Deutlich<br />

wird darin, wie viel selbst Einzelpersonen<br />

mit beschränkten Budgets erreichen<br />

können, aber auch, welche<br />

Hürden sich ihnen in den Weg stellen.<br />

Zu Bürokratie und Korruption gesellen<br />

sich logistische Probleme und kulturelle<br />

Barrieren. Vorfabrizierte, über<br />

alle Kulturgrenzen hinweg ‚gültige’<br />

Einheitslösungen sind daher selbst<br />

im Wohnbau der niedersten Preiskategorie<br />

auf dem Rückzug; das Bauen<br />

mit lokalen Ressourcen – Materialien<br />

ebenso wie Arbeitskräften – scheint<br />

zur Erfolgsvoraussetzung geworden<br />

zu sein.<br />

Man möchte ‚Design Like You<br />

Give A Damn’ einen breiten Leserkreis<br />

wünschen; wohl wissend, dass<br />

damit allein noch nichts erreicht ist.<br />

Denn, in den Worten eines Entwicklungshelfers,<br />

„Wir brauchen nicht<br />

eure Aufmerksamkeit, wir brauchen<br />

eure Unterstützung!“. Diese erfordert,<br />

wenn sie ernst gemeint ist, meist ein<br />

Umdenken bei den Architekten. Oftmals<br />

wissen die Betroffenen viel besser,<br />

was sie benötigen, als die selbst<br />

ernannten ‚Experten‘. Zum Beispiel<br />

sauberes Trinkwasser statt neuer<br />

Fenster oder Arbeit statt gepflasterter<br />

Gehwege. Das wirft die Frage<br />

auf, inwieweit der Architekt in diesen<br />

Projekten überhaupt noch als Gestalter<br />

benötigt wird. Der Architekt Maurice<br />

D. Cox aus Charlottesville, der mit<br />

dem Bayview Rural Village an der<br />

US-amerikanischen Ostküste ein viel<br />

beachtetes humanitäres Siedlungsprojekt<br />

realisiert hat, gibt in seiner<br />

Antwort gleichsam die Quintessenz<br />

des ganzen Buchs wieder: „Wir müssen<br />

dort sein, wo Probleme existieren.<br />

Wenn die Entscheidungen getroffen<br />

werden, müssen wir anwesend sein,<br />

um unsere Meinung äußern zu können.<br />

Dann werden auch unsere Fähigkeiten<br />

nachgefragt werden, und<br />

wir werden erreichen, dass auch Gestaltungsfragen<br />

ernst genommen<br />

werden. Entwerfer müssen sich als<br />

Führungspersonen in der Zivilgesellschaft<br />

engagieren und zur rechten<br />

Zeit am richtigen Ort sein.“<br />

THE EXPANDED EYE<br />

Herausgeber: Kunsthaus Zürich,<br />

Bice Curiger<br />

Hatje Cantz Verlag 2006<br />

ISBN 3–7757–814–1<br />

,Sehen – entgrenzt und verflüssigt‘<br />

lautet der Untertitel dieses Katalogs<br />

und der gleichnamigen Ausstellung,<br />

die im Sommer 2006 im Kunsthaus<br />

Zürich stattfand. Wer dabei an Drogenrausch<br />

und Technikbegeisterung<br />

denkt, liegt gar nicht so falsch:<br />

Die Kunst der 60er-Jahre spielt die<br />

Hauptrolle in ‚The Expanded Eye‘,<br />

namentlich die Erforschung des<br />

menschlichen Sehens und seines<br />

Wahrnehmungsapparates aus Auge<br />

und Gehirn, den die Op-Art und der<br />

Experimentalfilm mit ihren ‚entgrenzenden‘<br />

Vexier- und Flimmerbildern in<br />

seiner Fehlbarkeit und Manipulierbarkeit<br />

darzustellen suchten. Der viel zitierte<br />

und gelegentlich missbrauchte<br />

Begriff vom ‚Aufbrechen der Sehgewohnheiten‘<br />

entstand seinerzeit und<br />

mit ihm die Idee, das ‚Sehen sehen zu<br />

lernen‘, die bis heute zum Beispiel in<br />

der Arbeit von Olafur Eliasson fortlebt.<br />

Die Auswahl der mehr als 100<br />

Kunstwerke in Ausstellung und<br />

Buch beginnt bei Marcel Duchamps<br />

frühen ‚Rotoreliefs‘ aus den 30er-<br />

Jahren – runde Scheiben mit asymmetrischen,<br />

farbigen Mustern, die<br />

bei schneller Rotation zu konzentrischen<br />

Farbkreisen verlaufen – und<br />

reicht über die ‚Licht-Raum-Modulatoren‘<br />

von Laszlo Moholy-Nagy und<br />

die Op-Art bis in die heutige Zeit –<br />

116 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


zum Beispiel zu Olafur Eliasson, dessen<br />

‚The Inner Kaleidoscope‘ in Zürich<br />

gezeigt wurde. Ebenso vielfältig wie<br />

die Kunstgattungen sind die Medien,<br />

derer sich die Künstler bedienen: Gemälde<br />

von Salvador Dalí und Josef Albers,<br />

im Meskalinrausch entstandene<br />

Federzeichnungen von Henri Michaux,<br />

kinetische Skulpturen von Jean Tinguely,<br />

Drahtreliefs von Jesús Rafael<br />

Soto, Hologramme von Bruce Nauman,<br />

Lichtkunst von James Turrell<br />

und ‚The Exploding Plastic Inevitable‘,<br />

ein berauschendes Gesamtkunstwerk<br />

aus Lichtprojektionen und der<br />

Musik von Velvet Underground, mit<br />

dem Andy Warhol die Clubkultur der<br />

späteren 60er- und der 70er-Jahre<br />

prägte. Erstaunlicherweise sind<br />

die Nachfolger der damaligen Undergroundinszenierungen,<br />

die Musikvideos<br />

heutiger Tage, im Buch<br />

überhaupt nicht vertreten. Gezeigt<br />

werden statt dessen ausschließlich<br />

Erzeugnisse der ‚hochkulturellen‘<br />

Kunstproduktion. Die Grenzen zwischen<br />

Kunst und Kommerz scheinen,<br />

selbst Jahrzehnte nachdem Warhol<br />

ihre Auflösung predigte, zumindest<br />

im musealen Bereich noch so unpassierbar<br />

wie immer schon.<br />

Wer mehr über die Wechselbeziehung<br />

zwischen Op-Art und Populärkultur<br />

erfahren möchte, wird auch im<br />

Textteil des Buchs kaum fündig werden.<br />

Lesenswert sind die sechs einleitenden<br />

Essays dennoch, allen voran<br />

‚Kritik des Auges – Auge der Kritik‘ von<br />

Diedrich Diederichsen, in dem der Berliner<br />

Kulturwissenschaftler erläutert,<br />

warum das Auge ausgerechnet in den<br />

60er-Jahren so nachhaltig ‚außer<br />

Rand und Band geriet‘ und warum<br />

die Op-Art lediglich für kurze Zeit ‚en<br />

vogue‘ war: Ihre Nähe zum Dekorativen<br />

und ihr Mangel an Inhalten jenseits<br />

des bloß Sichtbaren ließen sie<br />

auf Dauer repetitiv und ermüdend<br />

wirken.<br />

Ergänzt werden die sechs Aufsätze<br />

und zahlreichen Abbildungen<br />

in ‚The Expanded Eye‘ durch eine Anthologie<br />

aus Textbeispielen und lexikalischen<br />

Stichworten aus Kunst,<br />

Kulturtheorie, Psychologie und Physiologie.<br />

Die Auswahl reicht von Rudolf<br />

Arnheims ‚Kunst und Sehen‘ über<br />

Josef Albers‘ ‚Interaction of Color‘<br />

bis zu Susan Sontags ‚Über Fotografie‘<br />

[On Photography], streift also nahezu<br />

alle Aspekte des menschlichen<br />

Sehens. Wem dieser Blickwinkel noch<br />

zu eng erscheint, dem sei der Beitrag<br />

des Biologen Rüdiger Wehner empfohlen.<br />

Dieser hat sich mehr als 30<br />

Jahre lang mit Cataglyphis beschäftigt,<br />

einer Ameisenart aus der Sahara.<br />

Sie kann zwar keine Farben auseinanderhalten,<br />

findet jedoch dank ihrer Fähigkeit,<br />

die Polarisationsmuster des<br />

Sonnenlichts zu erkennen, in der eintönigen<br />

Wüstenlandschaft über Hunderte<br />

von Metern immer wieder in<br />

ihren Bau zurück. Die Natur hält, wie<br />

es scheint, auch für das ‚entgrenzte<br />

Sehen‘ das beste Paradigma bereit.<br />

INVISIBLE<br />

<strong>ARCHITECTURE</strong><br />

Experiencing Places through the<br />

Sense of Smell<br />

Autoren: Anna Barbara,<br />

Anthony Perliss<br />

Skira Editore 2006<br />

ISBN 88–7624–267–8<br />

Als Grenouille, der tragische Held in<br />

Patrick Süskinds Roman ‚Das Parfum‘,<br />

erstmals die Straßen von Paris betritt,<br />

sind es weniger die eindrucksvollen<br />

Bauten, die Farben und das Stimmengewirr<br />

der Stadt, die ihre Faszination<br />

auf ihn ausüben, sondern die tausend<br />

Düfte und ebenso vielen Nuancen<br />

abscheulichen Gestanks, die die Luft<br />

der französischen Metropole erfüllen.<br />

Wie kaum einem Schriftsteller zuvor<br />

gelingt es Süskind in seinem Roman,<br />

seine Leser in die Welt der Gerüche zu<br />

entführen. Doch obwohl ‚Das Parfum‘<br />

hunderttausendfach verkauft und<br />

jüngst auch verfilmt wurde, fristet<br />

sein Thema, die olfaktorische Wahrnehmung<br />

von Orten, Menschen und<br />

Gegenständen, in der Gegenwartsliteratur<br />

eher ein Mauerblümchendasein.<br />

Nun haben Anna Barbara und Anthony<br />

Perliss das Sujet wieder aufgenommen.<br />

In ‚Invisible Architecture‘<br />

unternehmen sie den Versuch, die<br />

Geschichte der menschlichen Kultur<br />

und mit ihr der Architektur aus<br />

dem Blickwinkel des Geruchssinns,<br />

der Düfte und des Gestanks neu zu<br />

schreiben. Glaubt man ihren Ausführungen,<br />

so waren (und sind) Gerüche<br />

von wahrhaft evolutionärer Bedeutung.<br />

Schon die Entwicklung des Urmenschen<br />

vom Vier- zum Zweibeiner<br />

entfernte die menschliche Nase, rein<br />

räumlich, vom Erdboden und den Gerüchen,<br />

die er verströmte. Auch die<br />

spätere Menschheits- und Technikgeschichte<br />

kann, so vermittelt es das<br />

Buch, als sukzessive Ausrottung der<br />

meisten Gerüche interpretiert werden,<br />

die uns einst umgaben. Noch<br />

nicht einmal die meisten Baumaterialien,<br />

die wir heute verwenden, verströmen<br />

– im Gegensatz etwa zu Holz,<br />

Stroh und Lehm – noch nennenswerte<br />

Gerüche. Statt dessen wird der ‚domestizierte<br />

Duft‘ in allen Bereichen des<br />

zwischenmenschlichen Zusammenlebens<br />

ganz gezielt eingesetzt – vom<br />

Parfüm bei der Partnersuche bis zum<br />

‚government standard bathroom malodor‘,<br />

einem vom US-Verteidigungsministerium<br />

entwickelten Kampfstoff,<br />

dessen Gestank beim Feind sofortige<br />

Fluchtreflexe auslösen soll.<br />

Auf die chronologische Aufarbeitung<br />

des Themas verzichteten<br />

Barbara und Perliss; statt dessen<br />

gliederten sie ihr Buch in sieben Kapitel<br />

wie ‚Emotionen und Riten‘, ‚Identität<br />

und Gedächtnis‘oder ‚Körper<br />

und Entfernungen‘. Daneben baten<br />

sie je fünf Parfümeure und fünf Architekten<br />

zum Gespräch an Orte, die<br />

ungewöhnlich eng mit Düften verbunden<br />

sind – zum Beispiel in die Katakomben<br />

und in die ‚Atéliers Hermès‘ in<br />

Paris, in den Meatpacking District von<br />

New York, in eine holländische Windmühle<br />

oder in den Giardino dei Semplici<br />

in Florenz.<br />

Dass ausgerechnet das Kapitel<br />

‚Tod und Entropie‘ ganz am Anfang<br />

von ‚Invisible Architecture‘ steht,<br />

macht den Einstieg ins Buch etwas<br />

unappetitlich; allein sollte die Erwähnung<br />

von Kloaken und Menschenopfern,<br />

chemischer Kriegsführung und<br />

verrottenden Nahrungsmitteln niemandem<br />

das Weiterlesen verleiden.<br />

‚Invisible Architecture‘ ist eine Achterbahnfahrt<br />

durch fünf Jahrtausende<br />

Geruchsgeschichte; die Erzählreihenfolge<br />

wirkt mitunter verworren,<br />

doch hinter jeder Kurve lauern neue<br />

Erkenntnisse über ein Thema, das<br />

in der bisherigen Geschichtsschreibung<br />

eindeutig unterrepräsentiert<br />

ist. Selbst die knifflige Aufgabe, ihr<br />

Buch über Gerüche zu illustrieren,<br />

haben die Autoren ansprechend gelöst.<br />

Sie verwendeten ganzseitige<br />

Fotografien von Wohnräumen, Kultstätten<br />

und Stadtplätzen, Orten und<br />

Un-Orten aus aller Welt, die von feinen,<br />

nachträglich retuschierten ‚Geruchsschwaden‘<br />

durchzogen sind.<br />

Dass ein solches Verfahren leicht<br />

ins Kitschige abgleiten kann, dürfte<br />

einleuchten, doch in ‚Invisible Architecture‘<br />

wurde es mit der gebotenen<br />

Subtilität gehandhabt und macht das<br />

Buch damit zu einem durchaus gelungenen<br />

Gesamtkunstwerk.<br />

117


BÜCHER<br />

EMPFEHLUNGEN<br />

Europäische Architekten empfehlen<br />

ihre LIeblingsbücher in D&A.<br />

1 3<br />

2 3<br />

1 RAINER MAHLAMÄKI<br />

EMPFIEHLT<br />

Alvar Aalto – Designer<br />

Herausgeber: Tuukkanen, Pirkko<br />

Alvar Aalto Museum/<br />

Alvar Aalto Foundation, Helsinki<br />

ISBN 952-5371-04-2<br />

Juha Leiviskä<br />

Herausgeber: Marja-Ritta Norri,<br />

Kristiina Paatero<br />

Finnisches Architekturmuseum,<br />

Helsinki<br />

ISBN 952-5195-09-0<br />

Donald Judd: Architektur –<br />

Architecture<br />

Herausgeber: Peter Noever<br />

Hatje Cantz Verlag<br />

ISBN 3-7757-1132-5<br />

Louis Kahn – Essential Texts<br />

Herausgeber: Robert Twombly<br />

W. W. Norton & Company; 2003<br />

ISBN 0-393-73113-8<br />

Das Buch ist die erste umfassende<br />

Veröffentlichung über das Möbelund<br />

Produktdesign Alvar Aaltos. Die<br />

auf 240 Seiten versammelten 300<br />

zum Teil bisher unveröffentlichten<br />

und farbigen Fotografien illustrieren<br />

Alvar Aaltos Schaffen als Designer.<br />

Sie werden begleitet von zahlreichen<br />

Textbeiträgen, unter anderem von<br />

Timo Keinänen, Pekka Korvenmaa<br />

und Ásdís Ólafsdóttir. Neben dem<br />

Design für Kristallgläser und Leuchten<br />

hat sich Aalto auf den Entwurf<br />

von Möbeln konzentriert. Diesen ist<br />

der größte Teil des Buchs gewidmet.<br />

Einen Überblick über die historische<br />

Entwicklung des Möbeldesigns und<br />

des Kunsthandwerks seit 1920 bietet<br />

Kaarina Mikontranta, Chefkuratorin<br />

des Alvar Aalto Museums in<br />

Helsinki.<br />

Juha Leiviskä gilt als einer der<br />

wichtigsten zeitgenössischen Architekten<br />

Finnlands. Er hat sich besonders<br />

durch seine Sakralbauten<br />

wie die Myyrmäki-Kirche in Vantaa<br />

oder die Männistö-Kirche in Kuopio<br />

sowie durch den Einsatz des Tageslichts<br />

in seinen Bauten einen Namen<br />

gemacht. Das 216-seitige, auf Englisch<br />

und Finnisch verfasste Buch<br />

präsentiert 43 gebaute und ungebaute<br />

Projekte und ein komplettes<br />

Werkverzeichnis. Ein Textbeitrag<br />

des Architekten führt in den Katalog<br />

ein. Des Weiteren finden sich autobiografische<br />

Notizen und Kenneth<br />

Framptons Artikel ‚Landform, Fabric<br />

and Light‘ zum Werk von Juha<br />

Leiviskä.<br />

Die 144 Seiten starke, erstmals zweisprachige<br />

Neuauflage des 1991 zur<br />

Ausstellung im MAK – Museum für<br />

Angewandte Kunst Wien erschienenen<br />

Buches zeigt eine weniger bekannte<br />

Seite des amerikanischen<br />

Minimalisten Donald Judd: den Architektur-<br />

und Möbelentwurf. Zeichnungen,<br />

Entwurfsskizzen, Pläne,<br />

Fotografien und Textbeiträge, unter<br />

anderem von Donald Judd selbst,<br />

veranschaulichen seinen architektonischen<br />

und designerischen Standpunkt.<br />

Vorgestellt wird das von Judd<br />

1971 zu einem Ensemble von Gegenwartskunst<br />

ausgebaute Militärfort<br />

in Marfa, Texas. Die darin ausgestellten<br />

Möbelobjekte sind, dem Material<br />

und der Form verpflichtet, vor allem<br />

auf die Benutzbarkeit ausgelegt. Die<br />

formale Verwandtschaft zu Judds<br />

Skulpturen ist in ihnen jederzeit wiederzuerkennen.<br />

Robert Twombly, Professor für Architekturgeschichte<br />

an der City University<br />

of New York, präsentiert in<br />

seinem Buch eine einzigartige Auswahl<br />

teilweise bisher unveröffentlichter<br />

Reden, Essays und Interviews<br />

mit und von Louis Kahn. Seine architektonische<br />

Entwicklung von 1940<br />

bis zum Tod 1974, seine Grundsätze<br />

und Lehren sind hier auf 256 Seiten<br />

umfassend wiedergegeben. Eine<br />

Einführung und zahlreiche Anmerkungen<br />

Robert Twomblys erläutern<br />

das mündliche und schriftliche Werk<br />

des großen amerikanischen Architekten.<br />

118 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05


2 PAUL DIEDEREN AND<br />

BERT DIRRIX<br />

EMPFEHLEN<br />

Dom Hans van der Laan<br />

Autor: Alberto Ferlenga<br />

Architectura & Natura Uitgevers<br />

ISBN 9076863059<br />

Atlas of the Dutch Urban Block<br />

Autoren: Susanne Komossa,<br />

Max Risselada<br />

Thoth Uitgeverij<br />

ISBN 9068683829<br />

The Capsular Civilization<br />

Autor: Lieven de Cauter<br />

NAi Publishers<br />

ISBN 9056624075<br />

Richard Hutten: Works in Use<br />

Autorin: Brigitte Fitoussi<br />

Stichting Kunstboek<br />

ISBN 9058561763<br />

Nur wenige Bauten des 20. Jahrhunderts<br />

sind so von Einfachheit, Harmonie<br />

und dem Streben nach perfekter<br />

Proportion geprägt wie diejenigen<br />

des holländischen Priesters, Architekten<br />

und Theoretikers Dom Hans<br />

van der Laan (1904–1991). Die Autoren<br />

Alberto Ferlenga und Paola<br />

Verde arbeiteten beide lange Zeit<br />

im Kloster Vaals bei Aachen, in dem<br />

der größte Teil des Archivs von van<br />

der Laan lagert. In ihrem Buch gelingt<br />

es ihnen, die oft abstrakten<br />

und mystischen Themen, die van<br />

der Laans Theorien zu Grunde lagen,<br />

allgemein verständlich darzulegen.<br />

Darüber hinaus enthält die Monografie<br />

eine komplette, reichhaltig illustrierte<br />

Übersicht seiner gebauten<br />

Werke sowie einen ausführlichen Lebenslauf.<br />

In ihrem Entwurfsatlas geben Susanne<br />

Komossa und Max Risselada<br />

einen Überblick über die Entwicklung<br />

des städtischen Wohnblocks<br />

in Amsterdam und Rotterdam vom<br />

17. Jahrhundert bis zum heutigen<br />

Tag. 19 Stadtfragmente werden anhand<br />

von Grundrissen und Schnitten<br />

untersucht. Die Zeichnungen<br />

werfen ein neues Licht auf die Beziehung<br />

zwischen öffentlichem und<br />

privatem Raum sowie zwischen einzelner<br />

Wohnung, Wohnblock und<br />

Stadtquartier. Zu den aktuellsten<br />

im Buch vorgestellten Projekten<br />

zählen zum Beispiel die Neustrukturierung<br />

des Rotterdamer Hafens und<br />

die Stadtentwicklungspläne für Java<br />

Island in Amsterdam. Zahlreiche Essays<br />

geben darüber hinaus Einblicke<br />

in zeitgenössische Entwicklungen in<br />

Architektur und Städtebau.<br />

Die Anschläge des 11. September<br />

und der weltweite ‚Krieg gegen den<br />

Terrorismus‘ haben eine Entwicklung<br />

beschleunigt, die in Zeiten sozialer<br />

Ungleichheit und ökologischer Katastrophen<br />

schon lange latent vorhanden<br />

war: Das Leben vieler Menschen<br />

ist durch Angst bestimmt; der Einzelne<br />

zieht sich immer weiter in die<br />

eigenen vier Wände zurück. Lieven<br />

de Cauter hat in seinem Buch die<br />

gesellschaftlichen Veränderungen<br />

seit 9/11 dokumentiert und analysiert.<br />

Er zeichnet das realistische<br />

und alarmierende Bild einer neuen<br />

Weltordnung, die die tägliche Arbeit<br />

von Architekten und Stadtplanern<br />

ebenso beeinflusst wie das gesellschaftliche<br />

Leben in den heutigen<br />

Städten.<br />

Im Alter von nicht einmal 38 Jahren<br />

hat der niederländische Designer<br />

Richard Hutten schon einen<br />

bleibenden Eindruck in der internationalen<br />

Designwelt hinterlassen. Voraussichtlich<br />

im Jahr 2008 wird in<br />

Seoul eine Design-Akademie eröffnet,<br />

die seinen Namen trägt. Viele<br />

seiner Designobjekte, wie beispielsweise<br />

der Bronto-Stuhl oder die Domoor-Tasse,<br />

verkaufen sich äußerst<br />

erfolgreich. Hutten betätigt sich auch<br />

in der Innenarchitektur, so hat er für<br />

das Central Museum in Utrecht das<br />

Restaurant, die Gartenmöbel und<br />

den Buchladen entworfen. Huttens<br />

Entwürfe, die er selbst mit „works in<br />

use“ skizziert, werden von vielen Menschen,<br />

auch bekannten Zeitgenossen,<br />

geschätzt. Das Buch gibt erstmals<br />

einen Einblick in die Welt des Designers<br />

und beschreibt, wie Prominente<br />

mit seinen Designobjekten leben.<br />

3<br />

MANUEL AND<br />

FRANCISCO AIRES<br />

MATEUS<br />

EMPFEHLEN<br />

Imaginar a Evidência<br />

Autor: Alvaro Siza<br />

Edições 70<br />

ISBN: 9727085210<br />

O Engenheiro do Tempo Perdido<br />

Autor: Pierre Cabanne<br />

Assírio & Alvim (Arte e Produção, 4)<br />

ISBN: 9723702576<br />

Englische Ausgabe:<br />

Dialogues with Marcel Duchamp<br />

Da Capo Press<br />

ISBN: 0306803038<br />

O elogio da sombra<br />

Autor: Junichiro Tanizaki<br />

Relógio d’Água<br />

ISBN: 9727085210<br />

Deutsche Ausgabe:<br />

Lob des Schattens<br />

Manesse Verlag<br />

ISBN 3–7175–4029–4<br />

Thinking Architecture<br />

Autor: Peter Zumthor<br />

Lars Müller Publishers<br />

ISBN: 3764361018<br />

Von seinen ersten Projekten im portugiesischen<br />

Matosinhos bis zu seinem<br />

über ganz Europa (von Berlin bis<br />

Lissabon und von Den Haag bis Barcelona)<br />

verbreiteten Spätwerk schuf<br />

Alvaro Siza einige der wichtigsten<br />

Bauten des 20. Jahrhunderts. Viele<br />

von ihnen sind in dieser tiefgründig<br />

reflektierten und bisweilen poetisch<br />

anmutenden Autobiografie<br />

wiedergegeben. Der Werdegang des<br />

Buches ist reichlich komplex: ‚Imaginar<br />

a Evidência’ ist die Rückübersetzung<br />

einer von dem italienischen<br />

Architekten Guido Giangregorio in<br />

seiner Muttersprache angefertigten<br />

Mitschrift dreier Tonbänder, die<br />

Siza in seinem Studio in Porto aufgenommen<br />

hatte.<br />

Radikal wie kaum ein zweiter Künstler<br />

des 20. Jahrhunderts hat Marcel<br />

Duchamp den Kunstbegriff revolutioniert:<br />

Sein Objet trouvé, das Urinal im<br />

Museum, war der Ahnherr für zahllose<br />

weitere Alltagsgegenstände und<br />

Müll-Objekte, die per Deklaration zum<br />

Kunstwerk wurden. 1966, zwei Jahre<br />

vor seinem Tod, gab Duchamp dem<br />

Autor Pierre Cabanne das in diesem<br />

Buch aufgezeichnete Interview, das<br />

Klarheit über den Mythos verschafft,<br />

der ihn und seine Nicht-Kunst umgibt.<br />

Deutlich wird bei der Lektüre,<br />

wie wenig Duchamp den Kunstbetrieb<br />

mochte (obwohl er ihn zu seinem<br />

Vorteil nutzte) und wie wenig er<br />

Kunst ihrer Ästhetik wegen schätzte.<br />

‚O Engenheiro do Tempo Perdido‘ ist<br />

ein offenes, ehrliches Buch, das keiner<br />

weiteren Interpretation durch Kunstkritiker<br />

bedarf.<br />

‚Entwurf einer japanischen Ästhetik‘<br />

lautet der Untertitel des Buches,<br />

in dem der japanische Schriftsteller<br />

Junichiro Tanizaki eine vergleichende<br />

Betrachtung des westlichen<br />

und des traditionellen japanischen<br />

Begriffs der Schönheit anstellt. ‚Lob<br />

des Schattens‘ entstand 1934, also<br />

zu einer Zeit, da die traditionelle japanische<br />

Architektur und mit ihr der<br />

Kult des Schattenhaften und Unvollkommenen<br />

in der japanischen<br />

Kultur gerade im Verschwinden begriffen<br />

war. Gerade westlichen Lesern<br />

schärft Tanizaki den Blick für<br />

die Unterschiede beider Kulturen<br />

im Umgang mit Licht, Farbe und<br />

Materialien – und selbst mit dem<br />

menschlichen, speziell dem weiblichen<br />

Körper.<br />

Eine Architektur, die in einer sinnlichen<br />

Verbindung zum Leben stehen<br />

soll, erfordert ein präzises Denken,<br />

das über Form und Konstruktion weit<br />

hinausgeht. In seinen Texten bringt<br />

der Schweizer Architekt Peter Zumthor<br />

zum Ausdruck, was ihn zu seinen<br />

Gebäuden motiviert, die Gefühl<br />

und Verstand des Menschen gleichermaßen<br />

zutiefst berühren. Die<br />

deutschsprachige, 2006 erschienene<br />

Neuauflage wurde nunmehr um<br />

drei Essays ergänzt: ‚Hat Schönheit<br />

eine Form?’, ‚Die Magie des Realen’<br />

und ‚Das Licht in der Landschaft’.<br />

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<strong>DAYLIGHT</strong> &<br />

<strong>ARCHITECTURE</strong><br />

AUSGABE 06<br />

2007

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