Unten: Corpo Nove / <strong>Grado</strong> <strong>Zero</strong> <strong>Espace</strong> / Mauro Taliani: Oricalco, 2001 Für dieses Hemd wurde ein Gewebe aus Titanlegierung entwickelt, das bei Temperaturveränderungen in eine vorprogrammierte Form übergeht. Das Hemd kann dadurch so eingestellt werden, dass es zum Beispiel bei Wärmeeinfluss automatisch die Ärmel ‚hochkrempelt‘. FOTO: GRADO ZERO ESPACE 24 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
KÜNSTLICHE HÜLLEN UND ‚INTELLIGENTE’ MATERIALIEN Der Einfluss menschlicher Haut und anderer natürlicher Hüllen auf Technologie, Design und Architektur ist vielfältig; er reicht von ihrer erotischen Anziehungskraft, Flexibilität und Weichheit bis zu ihren Fähigkeiten, sich der Temperatur und Lichteinwirkung anzupassen. Ellen Lupton schreibt: „Moderne Designer betrachten die Oberflächen von Produkten und Gebäuden als ähnlich komplex und multifunktional [wie die Haut]. Künstlich hergestellte ‚Hüllen’ sind hoch reaktionsfähige Substanzen, die die Bedeutung, Funktion und Dimension von Objekten modulieren.” 12 Bis zu einem gewissen Grad finden sogar die selbstheilenden Eigenschaften der Haut Anwendung in der modernen Technik; so können beispielsweise Autolacke dank ihrer viskosen, zähflüssigen Konsistenz kleine Kratzer ‚ausbügeln’. Anderes Beispiel sind ‚selbstheilende‘ Hüllen für pneumatische Strukturen, auf deren Innenfläche eine dünne Schicht aus Polyurethanschaum aufgetragen wird. Bei Durchbohrung der Membran wird der PU- Schaum durch den Überdruck in der Kammer in das Loch gepresst und verschließt die undichte Stelle. Kleidung und Gebäude werden oft als zweite und dritte ‚ Häute’ des Menschen bezeichnet, die die Aufgabe haben, den menschlichen Körper zu schützen. Im Idealfall sollten sie daher ähnlich anpassbar sein wie unsere Haut. Entsprechende Möglichkeiten bietet die Entwicklung ‚intelligenter’ Materialien, die ihre Eigenschaften dem jeweiligen Umfeld anpassen, sobald sie wechselnden Einflüssen wie Wärme, Licht, Druck, elektrischen oder magnetischen Feldern ausgesetzt sind. Italienische Textiltechniker haben einen Stoff aus einer Form-Gedächtnis-Legierung (Shape Memory Alloy) entwickelt, der dafür sorgt, dass sich Hemdärmel bei einer bestimmten Temperatur automatisch hochziehen. In andere Kleidungsstücke werden Peltier-Elemente eingearbeitet, die unter Stromeinwirkung für aktive Kühlung sorgen. Die amerikanische ‚No Contact-Jacke’ hält auf Knopfdruck mögliche Angreifer durch Erzeugung einer elektrischen Spannung auf ihrer Oberfläche ab. 13 Kluge Technik hat aber durchaus auch poetische Seiten: Die von dem italienischen Unternehmen Cute Circuit entwickelten ‚F+R Hugs’-T-Shirts werden im Doppelpack geliefert und kommunizieren mittels Bluetooth-Technologie miteinander. Wird ‚sein‘ oder ‚ihr‘ T-Shirt an einer bestimmten Stelle berührt, sorgen integrierte Stromleitungen im Shirt des Partners für eine ähnliche ‚Streichelbewegung’ an entsprechender Stelle. In einem Buch über den Ingenieur Werner Sobek vergleicht Werner Blaser den Bewohner eines traditionellen Hauses mit einem Einsiedlerkrebs, der seine Behausung immer dann wechselt, wenn sie zu klein oder zu groß wird oder ansonsten unangemessen ist. Blaser fragt dann: „Doch ist es richtig, in dieser veränderten und sich stets verändernden Welt ‚konstant’ zu bauen? [...] Die physikalischen Eigenschaften unserer Gebäude sind konstant, obwohl die Innen- wie die Außenwelt permanent veränderlich auf sie einwirken.” 14 Blasers Buch wurde 1999 veröffentlicht, und die Bautechnik hat seither viele Neuerungen erlebt. Dennoch ist das von Sobek in den 90er-Jahren entwickelte Konzept einer idealen Gebäudehülle auch heute noch aktuell. Anstatt die Hülle eines Gebäudes als multifunktionalen ‚Allrounder’ zu betrachten, plädierte Werner Sobek dafür, sie ähnlich wie die menschliche Haut aus hochspezialisierten monofunktionalen ‚Zellen’ zusammenzusetzen, die jeweils unterschiedliche Aufgaben wie Lichtübertragung, Energieaufnahme oder Belüftung erfüllen. Abhängig von Budget und Verfügbarkeit könnten diese Zellen auf unterschiedlichem technischen Niveau produziert werden, angefangen von mechanisch oder elektromechanisch betriebenen Elementen bis hin zu solchen, die auf chemischer oder mikrobiologischer Basis arbeiten. Werner Sobek schreibt: „Adaptive Systeme und Mechanismen werden in wenigen Jahren ein fester Bestandteil des täglichen Lebens sein. Automatische, selbstlernende Abstandsregelungen bei Automobilen sind bereits heute verfügbar. Adaptive Herzschrittmacher, die nicht mit einer konstanten Frequenz arbeiten, sondern auf äußere physiologische Randbedingungen wie Bewegungen reagieren, sind genauso in der Entwicklung wie aktive Prothesen und Implantate mit sensorischen Funktionen [...] Adaptive Systeme zur Geräuschreduktion und Gläser mit variabler Lichttransmission werden im Bauwesen genauso selbstverständlich werden wie die aktive Beeinflussung von Kraftzuständen, Verformungen und Schwingungen, insbesondere bei den Tragwerken des Leichtbaus.” 2004 konstruierten Werner Sobek und sein Assistent Markus Holzbach am ILEK- Institut der Universität Stuttgart den experimentellen Pavillon ‚Paul’, um das Potenzial adaptiver Materialien im Bauwesen zu demonstrieren. ‚Paul’ ist eine kokonartige Leichtbaustruktur, deren Hülle aus mehreren Membranschichten besteht. Diese übertragen nicht nur Tageslicht und strahlen künstliches LED-Licht aus, sondern sorgen auch für eine adäquate Wärmeisolierung durch einen neuartigen, keramischen Werkstoff und speichern die Sonnenwärme in einem PCM-Material. (Bei solchen Speicherstoffen handelt es sich um mikroverkapselte Paraffine, die bei Wärmeeinwirkung von festem in flüssigen Zustand übergehen und somit die Wärmeenergie speichern können, ohne ihre Temperatur zu verändern.) Pauls Außenhaut ist zwar nur 1,4 Zentimeter dick, ihre thermische Masse entspricht jedoch einer 15 Zentimeter starken Massivwand. Technisch gesehen ist die Konstruktion des Pavillons äußerst simpel; die einzelnen Segmente sind nur durch Klettverschlüsse verbunden und können problemlos manuell montiert und demontiert werden. 15 12 13 14 15 Ellen Lupton (Hrsg.): Skin. Surface, Substance + Design, S. 23 Axel Ritter: Smart Materials. Birkhäuser Verlag 2007, S. 16-19 Werner Blaser: Werner Sobek. Ingenieurkunst. Birkhäuser Verlag 1999, S. 50 http://www.tec21.ch/pdf/ tec21_4120052942.pdf 25