REFLEKTIONEN Neue Perspektiven: Ideen abseits der Alltagsarchitektur ABBILD UND REALITÄT Erich Kettelhut: Entwurfsskizze zur Filmkulisse von ‚Metropolis‘‘ In dramatischen Licht- und Schatteneffekten zeigt diese Entwurfszeichnung die hypertrophe Architektur von Fritz Langs Filmstadt ‚Metropolis‘. Die von einer Kommandozentrale im ‚Neuen Turm Babel‘ aus gesteuerte Stadt kann als pessimistischer Gegenentwurf zu den fast zeitgleichen, rationalen Großstadtvisionen von Le Corbusier und anderen Architekten verstanden werden. ZEICHNUNG: DEUTSCHE KINEMATHEK MUSEUM FÜR FILM UND FERNSEHEN / NACHLASS ERICH KETTELHUT
Von Ivan Redi. Architekturzeichnungen sind ein vielseitiges Medium: Sie können das Abbild künftiger Realitäten sein oder bloße Denkfiguren, sie können zum Radikalumbau der Welt aufrufen oder nur zum Kauf eines Eigenheims. In jedem Fall aber werden sie auch in der Architektur des 21. Jahrhunderts konkurrenzlos bleiben. Denn, so Ivan Redi, Zeichnungen helfen uns, unsere Vorstellungen bezüglich der beiden Phänomene zu überprüfen, für die Architekten künftig einzig und allein noch zuständig sein werden: des Raumes und des Lichts. Es ist dunkel. Nichts ist zu sehen. Plötzlich geht das Licht an, ein Lichtstrahl, und wir erkennen den Schauspieler auf der Bühne – es ist König Lear. Wenn Goethe sagt: „Ein alter Mann ist stets ein König Lear“, denke ich, dass die architektonische Zeichnung heute stets ein König Lear ist. Lears patriarchalisch e Herrschaft führt ihn zur Ungerechtigkeit gegenüber seiner jüngsten Tochter und letztlich in den Untergang. Cordelia sagte ihm lediglich, dass sie ihn genau so liebe, wie eine Tochter ihren Vater zu lieben hat – nicht mehr und nicht weniger. Die Zeichnung herrscht, auch im 21. Jahrhundert, in der Architektur ohne Konkurrenz. Wenn wir ins Theater gehen, lassen wir uns auf einen Zauber ein. Wir stimmen einer Art Ver trag zu, uns auf Imaginationen einzulassen. Jedoch bleiben wir im Dunklen sitzen und nehmen die Vorstellung passiv wahr. Der konstruierte Blick der Zentralperspektive ist der einzige, der uns über diese ‚Realität‘ informiert. In der Realität ist das Eindringen von Körpern in eine kontrollierte architektonische Ordnung dagegen unvermeidlich (so ist zum Beispiel der Eintritt in das Gebäude ein Akt, der die Balance präzise geordneter Architektur stört). Hier ist Architektur ein Organismus, der in ständiger Interaktion mit dem Nutzer steht, dessen Körper unentwegt gegen die bestehenden architektonischen Regeln rebelliert. Dieses menschliche Verhalten können wir in den seltensten Fällen erfassen oder voraussehen. Die Funktionsabläufe ergeben zwar einen Handlungsraum, aber vieles ist weder planbar noch durch die klassische architektonische Zeichnung auszudrücken. Es ist absurd, ein zweidimensionales Medium zu verwenden, um die mehrdimensionale Welt inklusive vorher unbestimmbarer Ereignisse zu beschreiben und zu versuchen, darin irgendeinen Wahrheitsgehalt zu erkennen. Das Bild kann sich – um Wittgenstein zu paraphrasieren – nicht außerhalb seiner Darstellungsform stellen. Aus dem Bild allein ist nicht zu erkennen, ob es wahr oder falsch ist. „Ein Sachverhalt ist denkbar“ heißt: Wir können uns ein Bild von ihm machen. Was denkbar ist, ist auch möglich. Wir können nichts Unlogisches denken, weil wir sonst unlogisch denken müssten. Trotzdem gibt es kein a priori wahres Bild. Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit, mehr nicht. Es kommuniziert über eine Möglichkeit, es regt die Imagination an, und wir denken uns: „Ah, so könnte es aussehen.“ Genau und ausschließlich in diesem Kontext dürfen wir uns für die Zeichnung interessieren, nicht mehr und nicht weniger. ‚carceri‘ und die folgen: piranesis langer schatten Im theoretischen Denken von Piranesi, welches keinesfalls statisch war, erkennt der Künstler die Dualität aufklärerischen Denkens, die sich aus dem Konflikt zwischen Rationalität und Empfindung ergibt, als Kriterien an, anhand derer er die Werke der Vergangenheit und der Gegenwart beurteilt und als ‚vero‘ oder ‚falso‘ (wahr oder falsch) bezeichnet. Giovanni Battista Piranesi zählt zu den bedeutendsten Künstlern auf dem Gebiet der Radierung und der Vedute. Von seinen Werken sind vor allem die Carceri (Entwürfe von Kerkern) und Campo Marzio (die Metapher des Universums, die sich in den Carceri bereits ankündigte) bis heute von Bedeutung. Unter anderem nahmen der Pionier des modernen Films, Sergej Eisenstein, der bildende Künstler Peter Weiss, die Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger und Erich Fried, aber auch Comic-Autoren wie François Schuiten oder die zeitgenössischen Architekten Lebbeus Woods und Daniel Libeskind die phantastische Welt der Carceri zum Ausgangspunkt für eigene Werke. Es gibt kaum einen Architekturinteressierten, der nicht auf Piranesi gestoßen ist. Unabhängig von emotionalen Reaktionen, die dabei entstehen können, geht es hier um die systematische Kritik des Raumkonzeptes mit den Instrumenten visueller Kommunikation. Eisenstein fragt in seinem Text, ob man bei Piranesi sogar chiaroscuro entdecken kann, was formal durch die Einschränkungen der Radierungstechnik nicht möglich sei. Möglich wird es jedoch, wenn man sich im Sinne der räumlichen Komposition, des Spiels mit Licht und Schatten und der Erzeugung einer fesselnden Atmosphäre mit Piranesis Werk auseinandersetzt. Seine Zeichnungen sind wie Bühnenbilder, die eine akrobatische Performance liefern und den Betrachter in das virtuose Raumerlebnis hineinsaugen. Auf der anderen Seite brachte die seltsame Kombination von Opulenz und Strenge in Eisensteins Konzeption Bilder von ungeheurer Wirkung und bizarrer Schönheit hervor – die Spiegelung des Geschehens an Gemälden und Wandfresken verleiht seinem Film eine mythische Dimension. Die Filmwelt war immer eine willkommene Gelegenheit für Architekten, sich phantasievoll ‚auszutoben‘ und Illusionen zu realisieren. Mit Manifesten und utopischen Zeichnungen wurden revolutionäre neue Konzepte ausgearbeitet und präsentiert, D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05 77