22 GARY SCHNEIDER
MATERIE UND METAPHER: DIE MENSCHLICHE HAUT Gegenüber: Gary Schneider: John In Sixteen Parts, 1995 Wie in vielen seiner Porträts dekonstruiert Gary Schneider auch hier das menschliche Antlitz. Obwohl keine der Aufnahmen das Gesicht als Ganzes zeigt, ergänzen sich die Einzelansichten im Unterbewusstsein des Betrachters doch zu einem Gesamtbild. In ihrem Buch ‚Skin. Surface, Substance + Design‘ schreibt Ellen Lupton: „Die Haut ist ein vielschichtiges und multifunktionales Organ, das unseren gesamten Körper bedeckt, sei sie dick oder dünn, fest oder lose, feucht oder trocken. Dank ihrer ‚Lernfähigkeit’ reagiert die Haut auf Wärme und Kälte, leichte Berührung und Schmerz. Grenzenlos bekleidet sie unsere gesamte äußere Körperhülle und erstreckt sich bis in unsere inneren Organe. Sie ist sowohl lebendig als auch tot – ein selbstheilendes, selbsterneuerndes Material, dessen Außenhülle gefühllos und inert ist, dessen innere Schichten aber von Nerven, Drüsen und Kapillaren durchzogen sind.” 7 Flächenmäßig gesehen ist die Haut unser größtes Körperorgan. Sie ist nicht nur verantwortlich für unseren Tastsinn, sondern dient auch anderweitig der Kommunikation mit der Umwelt: „Haut kann erröten oder verblassen, sich sträuben und schwitzen, blau vor Kälte oder rot vor Ärger und im metaphorischen Sinne grün vor Neid werden. Die Haut kommuniziert durch Hormonsignale – so genannte Pheromone –, die vermutlich durch spezielle Geruchszellen aufgenommen werden.” 8 Die Haut schützt den menschlichen Körper gerade deshalb, weil ihre äußeren Schichten aus toten, komprimierten Zellen bestehen, durch Lipide zu einer wasserabweisenden Oberfläche zusammengefügt. Die vermutlich faszinierendste Eigenschaft der Haut ist ihre Fähigkeit der Selbstheilung: An Wundstellen bildet sich heilender Schorf, aktive Hautzellen wandern von den Rändern der Wunde zur Mitte und tragen zu deren Heilung bei. Auf Sonnenlicht reagiert die Haut unterschiedlich – durch Bräune und durch Rötung –, und diese Zwiespältigkeit reflektiert die Einstellung des Menschen zur Sonne, die seit jeher von einer Mixtur aus Anbetung und Furcht geprägt war. Die Hautfarbe (also ihr ‚Dunkelungsgrad’) ist abhängig von Stärke und Art der hautimmanenten Melaninpigmente, die nicht nur genetisch bedingt sind, sondern auch von dem Maß der UV-Strahlung abhängen, der wir uns aussetzen. Die Anthropologen Nina Jablonski und George Chaplin fanden sogar heraus, dass sich die Hautfarbe von Urvölkern trotz ihrer vorhandenen genetischen Veranlagung in weniger als 1000 Jahren dauerhaft veränderte, wenn sie ihr Siedlungsgebiet in andere Breitengrade verlagerten. 9 Melanin bestimmt nicht nur unsere Hautfarbe, sondern hat noch eine zweite Funktion: Es schützt die tieferen Hautschichten vor übermäßiger UV-Strahlung, die zu vorzeitiger Hautalterung führt und die Vitamin-B-Synthese spaltet. Andererseits ist ultraviolettes Licht notwendig für die Produktion von Vitamin D in unserem Körper, das seinerseits dafür sorgt, dass wir Calcium aus unserer Nahrung in unser Verdauungssystem aufnehmen können. Haut ist aber auch die ‚Leinwand‘, auf die jede Kultur ihren eigenen Begriff von Schönheit und sexueller Attraktivität projiziert. Diese Vorstellungen ändern sich mit der Zeit und variieren auch zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft. In den meisten westlichen Kulturen wird eine ‚gesunde’ Sonnenbräune als so attraktiv angesehen, dass hiervon ein ganzer Industriezweig – die Sonnenstudios – lebt. Im mittelalterlichen Europa und China hingegen war gebräunte Haut das Merkmal der Bauern und anderer Arbeiter unter freiem Himmel; der Adel legte daher Wert auf blasse Haut als Indikator für Wohlstand und griff hierfür sogar auf Blei und andere giftige Substanzen in Kosmetika zurück, „um den erlauchten weißen Teint zu erlangen, der für viele im sechzehnten Jahrhundert und später entstandene Porträts charakteristisch ist.“ 10 Jugendliche, makellose Haut ist bereits seit der Antike ein gesellschaftliches Schönheitsideal. Ohne Unterlass wird sie von der Kosmetikindustrie propagiert; in der Werbefotografie werden Falten, Flecken, Härchen und Poren peinlich genau wegretuschiert. Andererseits sind Künstler seit den Zeiten Leonardo da Vincis und Dürers (die als ersten Maler gelten, die ältere Personen auf realistische Weise porträtierten) der Faszination darüber erlegen, was mit der Haut geschieht, wenn sie altert, beschädigt oder künstlich verändert wird. Neuerdings ermöglicht uns die Schönheitschirurgie sogar, den von Jablonski und Chaplin beschriebenen Adaptionsprozess zu beschleunigen: Innerhalb weniger Jahre können durch den Einsatz rein künstlicher Mittel ‚schwarze’ Menschen zu Weißen werden, wie ein prominenter Vertreter aus der Welt des Pop beweist. Das ‚Tissue Engineering‘, ein Fachgebiet zur „Entwicklung biologischer Ersatzstoffe, die die Gewebefunktion wiederherstellen, erhalten, verbessern oder gar ganze Organe ersetzen“ 11 , ist einer der florierendsten Bereiche im medizinischen Sektor. 7 8 9 10 11 Ellen Lupton (Hrsg.): Skin. Surface, Substance + Design. Smithsonian Institution / Princeton Architectural Press 2002, S. 23 Jennifer Tobias in: Ellen Lupton (Hrsg.): Skin. Surface, Substance + Design, p. 44 www.bgsu.edu/departments/chem/faculty/ leontis/chem447/PDF_files/ Jablonski_skin_color_2000.pdf http://en.wikipedia.org/wiki/ Semiotics_of_Ideal_Beauty Langer, R & Vacanti JP, Tissue engineering. Science 260, 920-6; 1993 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05 23