28 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05 FOTO: NOX
SEHEN UND ERKENNEN: EINIGE REFLEKTIONEN ÜBER PROJEKTIONEN Gegenüber: NOX / Q.S. Serafijn: D-tower, Doetinchem, 2004 Diese Großskulptur ändert ihre Farbe entsprechend den Emotionen der Einwohner, die über eine Internet-Umfrage erfasst werden. Sein Entwerfer Lars Spuybroek bezeichnet den Turm als „Umkehr des Wegs zur Abstraktion“: ein konkretes Objekt, das eine kaum zu greifende öffentliche Sphäre repräsentiert. Als die Gebrüder Lumière im Jahr 1895 in Paris einen der ersten Stummfilme der Welt vorführten – einen in einen Bahnhof einfahrenden Postzug – reagierten die Zuschauer auf diese neue Erfahrung ähnlich wie im wirklichen Leben: Sie wichen vor dem scheinbar sich nähernden Zug zurück, manche flüchteten sogar aus dem Raum. Heute wäre es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, durch einen Film ähnliche Reaktionen beim Publikum auszulösen. Ebenso wie mit jedem anderen Medium hat der Mensch auch mit dem Medium Film ‚umzugehen‘ gelernt. Dennoch hat die Erfindung beweglicher Bilder die visuelle Wahrnehmung im 20. Jahrhundert geprägt. Der französische Philosoph Paul Virilio behauptet, dass sich sogar die menschliche Auffassung von Transparenz wandelte 17 : von der Darstellung dessen, was sich hinter der Oberfläche verbirgt, zur Darstellung dessen, was uns der Filmregisseur und sein Kameramann (oder der Grafikdesigner) sehen lassen möchten. Ein Fernsehbild verdeutlicht dies: Jedem Betrachter ist bewusst, dass er nichts als rote, grüne und blaue Lichtpunkte auf einer Glasscheibe sieht. Dennoch rückt dieses Faktum beim Fernsehen in den Hintergrund, ebenso wie die Tatsache, dass wir überhaupt auf einen Bildschirm schauen. In seinen Büchern ‚Lost Dimension‘ und ‚Die Sehmaschine‘ aus den frühen 90er-Jahren beklagt Paul Virilio, dass die Menschheit ihr ursprünglich unmittelbares Sehbewusstsein verloren habe, mit anderen Worten, dass sich unsere Wahrnehmung der materiellen Objektwirklichkeit zu einer mittelbaren Realität ähnlich wie im Film verschoben habe. Laut Virilio gibt es kein ‚Sehen’ mehr, sondern nur noch ein ‚Wieder-Sehen’: Wir nehmen nur das wahr, was das ‚Auge’ der Kamera zuvor gesehen oder was der Animationskünstler entworfen hat. Bei modernen ‚Sehmaschinen’ wurde der natürliche Lichtfluss durch Elektrodenstrahlen ersetzt, und in der Computergrafik wird sogar die Sichtrichtung umgekehrt: Durch Raytracing erzeugte Bilder basieren nicht auf den von Lichtquellen ausgesandten Strahlen, sondern vielmehr auf (virtuellen) Sehstrahlen’, die vom Auge ausgehen und durch unterschiedliche Oberflächen reflektiert, gebrochen oder absorbiert werden. Bereits vor mehr als zweitausend Jahren versuchte Aristoteles, das menschliche Sehvermögen mit einem ähnlichen (später aber verworfenen) Modell zu erklären, demgemäß das Auge winzige Lichtstrahlen ausstoße, die unsere Umgebung erhellen und diese somit für uns sichtbar machen. In modernen Städten hat unser Auge heutzutage kaum mehr Gelegenheit zum kontemplativen Sehen. Stattdessen wird es ständig und überall von wechselnden Bildern, grellen Farben und schnellen Bewegungen gefangen genommen. Symptome dieses Wettlaufs um Aufmerksamkeit sind die Entwicklung der Medienfassade und die inflationäre Verbreitung von Bildschirmen aller Art in unserer gebauten Umwelt. Gemäß dem Prinzip ‚viel Bild, wenig Worte, großer Effekt‘ 18 appellieren solche Flächen an unseren angeborenen Orientierungsreflex – eine Art Überlebensmechanismus, der unsere Aufmerksamkeit sofort auf jedes große, auffällige und bewegliche Objekt in unserem Umfeld lenkt. Videoleinwände und Medienfassaden sind die bislang letzte Stufe in der zunehmenden Entfremdung von Gebäudeoberflächen und -inhalten, die in den letzten Jahren zu beobachten war. Dynamische Lichteffekte und bewegte Bilder haben unseren Gebäuden eine neue Bedeutungsebene verliehen und den Architekten und Gebäudebetreibern neue Mittel an die Hand gegeben, um Atmosphären zu schaffen und einen sinnvollen Dialog mit dem Nutzer zu etablieren – aber auch, um den bereits allgegenwärtigen ‚Informationsüberfluss’ noch zu steigern. Lars Spuybroeks illuminierter ‚D-Tower’ in der niederländischen Stadt Doetinchem, dessen Farbe entsprechend den Stimmungen und Emotionen der Stadtbewohner wechselt (die ihrerseits per Website ermittelt werden), ist nur ein Beispiel für einen bewusst spielerischen Dialog zwischen Gebäuden und öffentlichem Leben. Im Gegensatz zu herkömmlichen Medienfassaden senden dieser Turm und ähnliche Installationen keine vorgefertigten ‚Botschaften‘ an ein anonymes Publikum; vielmehr ist (zumindest potenziell) jeder Betrachter zugleich ein Absender. Letztlich sind diese Installationen Experimentieranordnungen, mit denen erforscht werden kann, wie neue Kommunikationswege in der Öffentlichkeit aufgenommen werden. In den meisten Fällen ist die Wahrnehmung eines neuartigen Mediums nämlich nur so lange besonders attraktiv, wie es neu ist. Langfristig werden die inhaltliche Qualität, die Gestaltung sowie das Potenzial eines bestimmten Mediums, unsere Lebensqualität zu steigern, entscheidend. Inhaltliche Qualität hat hierbei wenig mit ‚Hoch’- oder ‚Populär’-Kultur zu tun: Sie muss vor allem vereinbar sein mit den Erwartungen des Anwenders und den Möglichkeiten, die das Medium bietet. 17 Paul Virilio: Sehen, ohne zu sehen. Benteli Verlag Bern 1991 18 Wolfgang Lanzenberger: Medien zwischen- Himmel und Erde; see http://regisseur. wolfgang-lanzenberger.de/filmografie/pub_ mediafassade.html 29