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Ausgabe 4 | 2013 (PDF 7.5 MB) - LCH

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BILDUNG SCHWEIZ 4 I <strong>2013</strong> .............................................................<br />

26<br />

Der Verdingbub, der zum Lehrer wurde<br />

Nicht um sein Schicksal zu beklagen oder einem verlorenen Glück nachzutrauern, erzählt der ehemalige<br />

Verdingbub Roland Begert seine Geschichte immer wieder. Er spricht über das Erlebte, um sich zu erinnern,<br />

dass da auch Gutes war. Anfang März besuchte der 75-Jährige eine Oberstufenklasse in Belp; BILDUNG<br />

SCHWEIZ war dabei.<br />

Noch hat der Unterricht an der achten<br />

Spezialsek­Klasse 8G1 der Oberstufe<br />

Mühlematt Belp BE nicht begonnen. Die<br />

Schülerinnen und Schüler diskutieren,<br />

lachen, und immer wieder wandern<br />

neugierige Blicke zu Roland Begert. Sie<br />

scheinen zu fragen: Was wird er erzählen,<br />

der ehemalige Verdingbub, der es<br />

geschafft hatte, zu studieren und dann<br />

30 Jahre am Kirchenfeldgymnasium in<br />

Bern Wirtschaft und Recht unterrichtete?<br />

Hildegard Netos<br />

Den Zeitzeugen eingeladen hat Enrique<br />

Gerber, Deutschlehrer dieser 8. Klasse.<br />

«Herr Begert war vor Jahren mein<br />

Gymerlehrer», sagt er, worauf Roland<br />

Begert betont: «Sie erinnern sich, Herr<br />

Gerber, ich war streng und habe gute<br />

Leistungen erwartet.» Von der wattierten<br />

Umhüllungspädagogik, wie er im Buch<br />

«Die letzte Häutung» die sogenannt moderne<br />

Erziehungsmethode nennt, hält er<br />

wenig. «Man wagt nicht mehr, Kinder<br />

fordernd zu fördern», bedauert der ehemalige<br />

Gymnasiallehrer und Vater einer<br />

erwachsenen Tochter.<br />

Die Glocke läutet, die Jugendlichen setzen<br />

sich. Enrique Gerber begrüsst die<br />

Klasse und stellt den Gast vor. Auf der<br />

Startseite der Power­Point­Präsentation<br />

steht: Dr. Roland Begert. – Darüber, von<br />

der Projektion beleuchtet, als gehörte er<br />

dazu, ist auf die Wand der Spruch geschrieben:<br />

«All you really need is love,<br />

but a little chocolate now and then<br />

doesn’t hurt.» («Alles, was du brauchst,<br />

ist Liebe, aber ein Stückchen Schokolade<br />

hin und wieder tut nicht weh.»)<br />

Schokolade? Das sei in seiner Kindheit<br />

etwas Unbekanntes gewesen, sagt Roland<br />

Begert später im Gespräch.<br />

Mit drei Wochen ins Heim<br />

«Ich wurde 1937 im Spital in Biel geboren.<br />

Weil meine Mutter sich im selben<br />

Foto: Hildegard Netos<br />

«Raus mit euch! Geht arbeiten!» – Der heute 75-jährige Roland Begert.<br />

Jahr scheiden liess, nahmen mich die<br />

Behörden von ihr weg», beginnt Roland<br />

Begert zu erzählen und schöpft dann<br />

zwei Lektionen lang aus seinen reichen<br />

Erfahrungen.<br />

Gerade drei Wochen alt war der Bub, als<br />

er nach Grenchen SO in das katholische<br />

Kinderheim Bachtelen kam. Zwei Fotos<br />

der Präsentation zeigen das Heim vor 75<br />

Jahren und heute. Die alten Gebäude<br />

wurden renoviert, die Anlage erweitert.<br />

Roland Begert vergleicht: «Damals<br />

lebten 280 Kinder und 25 Angestellte<br />

im Heim, heute sind es 80 Kinder und<br />

170 Angestellte.» Die Schülerinnen und<br />

Schüler staunen. Ein weiteres Bild zeigt<br />

mehrere aneinandergereihte Gitterbettchen.<br />

«Die Kinder wurden an die Betten<br />

gebunden, so konnten sie nicht weg»,<br />

erklärt Roland Begert und fügt an: «Das<br />

tönt schrecklich, doch ihr müsst euch<br />

vorstellen, die Betreuerinnen hatten<br />

einfach zu wenig Zeit.»<br />

Arbeit gehörte dazu<br />

Mehrmals an diesem Morgen relativiert<br />

er Erlebtes und setzt seine Erinnerungen<br />

in den geschichtlichen Zusammenhang.<br />

«Um mein Schicksal verstehen<br />

und akzeptieren zu können, war es<br />

für mich wichtig, eine Antwort auf das<br />

Warum zu finden.» Dank dieser Strategie<br />

fand er beispielsweise heraus, dass<br />

die damalige Armut mit der Landwirtschaftspolitik<br />

zusammenhing. Viele<br />

Knechte und Mägde suchten nach dem<br />

Krieg besser bezahlte Arbeit in Fabriken.<br />

Die Arbeitskräfte fehlten auf den kleinen

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