Ausgabe 4 | 2013 (PDF 7.5 MB) - LCH
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BILDUNG SCHWEIZ 4 I <strong>2013</strong> ....................................................<br />
REPORTAGE<br />
27<br />
«Unser Lehrer war 71 Jahre alt und behandelte die Schulkinder nach Anzahl<br />
Kühen, die der Vater im Stall hatte.»<br />
Bauernbetrieben. Um ihr Fortbestehen<br />
zu sichern, wurden ihnen Verdingkinder<br />
zugeteilt. Für Kost und Logis erhielten<br />
Roland Begerts Pflegeeltern pro Monat<br />
30 Franken. «Das war damals ein schöner<br />
Beitrag in die Familienkasse, und<br />
gleichzeitig mussten wir Kinder oft hart<br />
arbeiten.»<br />
Arbeit gehörte seit früher Kindheit zu<br />
Roland Begerts Leben. «Ich erinnere<br />
mich, wie ich als Vierjähriger auf dem<br />
Feld des Heims mit blossen Händen Kartoffeln<br />
ausgegraben habe. Das war ein<br />
tiefgreifendes, schönes Erlebnis.» Hände<br />
seien für ihn ein phänomenales Instrument,<br />
fähig Gutes oder Schlechtes zu<br />
tun.<br />
Bis zum 12. Lebensjahr besuchte der<br />
Knabe die Dorfschule in Grenchen. Eine<br />
unangenehme Zeit. «Die Lehrer haben<br />
uns Heimkinder geplagt. An allem waren<br />
wir, die Bachtelerkinder, schuld.»<br />
Wir seien schlecht erzogen, hiess es.<br />
Niemand setzte sich für die Buben und<br />
Mädchen ein. Im autobiographischen<br />
Roman «Lange Jahre fremd» erinnert<br />
sich Roland Begert, wie ein kräftig gebauter<br />
Vater, ein Metzger, ins Schulzimmer<br />
platzte, sich vor den Lehrer stellte<br />
und sagte: «Sollten Sie meinem Hansli<br />
noch einmal eine Ohrfeige geben, werde<br />
ich Sie mit Haut und Haar durch den<br />
Fleischwolf drehen und Schweinswürste<br />
aus Ihnen machen.»<br />
und behandelte die Schulkinder nach<br />
Anzahl Kühen, die der Vater im Stall<br />
hatte.» In der Schulkommission sassen<br />
Grossbauern, deren Präsident, ein kräftiger<br />
Mann, habe die Schulstube jeweils<br />
ohne zu klopfen betreten. «Er stellte sich<br />
vor die Klasse und rief: Raus mit euch!<br />
Geht arbeiten!» Die Schule habe damals<br />
im Bauernstand nicht viel gegolten.<br />
Dass Roland Begert einen Bruder hat,<br />
erfuhr er in der 7. Klasse. Eines Tages<br />
erklärte der Lehrer, dass ein neuer<br />
Schüler in die Klasse komme. Er heisse<br />
Adrian und sei Rolands Bruder. Obwohl<br />
die beiden Brüder im selben Kinderheim<br />
waren, wussten sie nichts voneinander.<br />
«Wir waren uns fremd und wir blieben<br />
es auch.» Einmal im Jahr treffen sich die<br />
beiden zum Essen. Die Gefühle füreinander<br />
seien kollegial, aber ohne innere<br />
Beseelung.<br />
Erstaunt und erschüttert<br />
Nach Roland Begerts Präsentation<br />
schreiben die Jugendlichen auf, was sie<br />
beeindruckt hat. Erstaunt und erschüttert<br />
hat einige, dass sich die Brüder nicht<br />
gekannt haben. Dann bewundern die<br />
Schülerinnen und Schüler, wie weit Roland<br />
Begert es trotz schlechter Kindheit<br />
und Jugend gebracht hat. Und ein Junge<br />
schreibt: «Das alles hat mich auch gefordert,<br />
dass ich mehr selbständig und sehr<br />
hart arbeiten muss, wenn ich wirklich<br />
etwas Grosses werden will.»<br />
Hildegard Netos<br />
Roland Begert<br />
Roland Begert wurde nach der Schulzeit<br />
in eine Giesserlehre nach Winterthur<br />
geschickt. Mit fast 30 holte er die Matura<br />
nach, studierte Wirtschaft und<br />
Recht, doktorierte und wurde Gymnasiallehrer.<br />
Seit der Pensionierung hat er<br />
zwei Bücher geschrieben: «Lange Jahre<br />
fremd» und «Die letzte Häutung». Infos:<br />
www.editionliebefeld.ch<br />
Plötzlich ein Bruder<br />
Im Heim blieben die Kinder bis zum 12.<br />
Altersjahr. «Mein Vormund hat mich<br />
eines Tages abgeholt, ist mit dem Auto<br />
auf den kleinen Bauernbetrieb in Dieterswil<br />
BE gefahren und hat mich bei<br />
meinen Pflegeeltern abgegeben.» Er sei<br />
gern dort gewesen, verbunden mit der<br />
Natur, auch wenn er während der Erntezeit<br />
bis zu 18 Stunden am Tag habe arbeiten<br />
müssen. Eine Schülerin möchte<br />
wissen, wo es ihm besser gefallen habe,<br />
im Heim oder bei der Familie. «Die Jahre<br />
auf dem Bauernbetrieb waren die besten<br />
bis zu meinem 30. Lebensjahr.» Einmal<br />
mehr staunen die Jugendlichen.<br />
Die sechste bis neunte Klasse besuchte<br />
Roland Begert an der Gesamtschule des<br />
Dorfes. «Unser Lehrer war 71 Jahre alt<br />
Foto: Ascot Elite Films/zVg.<br />
Schicksal und Chance: Szenenbild aus dem Film «Der Verdingbub» von 2011.