02.03.2014 Aufrufe

Begriffskarrieren: Subjekt und Geschlecht - Berliner Institut für ...

Begriffskarrieren: Subjekt und Geschlecht - Berliner Institut für ...

Begriffskarrieren: Subjekt und Geschlecht - Berliner Institut für ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

936 Besprechungen<br />

Im genauen Gegensatz zu Köppel geht es Georg Guntermann um die »literarische<br />

Physiognomie des Autors«. Seine Untersuchung kann <strong>für</strong> die Auseinandersetzung<br />

mit Kafkas Tagebüchern, die zuerst 1937 in einer Auswahl <strong>und</strong> 1951 von Max Brod<br />

erheblich gekürzt erschienen, zum ersten Mal auf die 1990 herausgegebene kritische<br />

Ausgabe zurückgreifen. Charakteristisch ist, daß Guntermann die Editionsgeschichte<br />

der Tagebücher nicht an den Anfang, sondern genau in die Mitte seiner Arbeit verlegt.<br />

Ihr interpretatorisches Gewicht liegt nämlich vor allem in der Anordnung. Über<br />

h<strong>und</strong>ert kleinste Abschnitte mit jeweils eigener Überschrift, die sich durch eng am<br />

Text gehaltene Beschreibungen auszeichnen, stellen eine unkonventionelle mosaikartige<br />

Konstellation her. Das Experiment der Montage von Beobachtungen am Text<br />

glückt in dem Maße, wie der Autor sich an »die Blicke des Beobachters Kafka« (51)<br />

hält <strong>und</strong> von daher zur Deutung fortschreitet, wobei auch <strong>für</strong> ihn gilt, was er bei<br />

Kafka feststellt, daß die »Bewegung des optisch ertappten Lebens offen wird <strong>für</strong><br />

Sinn« (50). Durch den Blick auf das in den Tagebüchern entwickelte Sehen gewinnt<br />

Guntermann ein durchgehendes Interpretationsmuster: »Die ideale Situation, die<br />

Kafka wiederholt <strong>für</strong> sich entworfen hat ... , ist die der 'Halbdistanz'.« (40) Sie ist<br />

durch eine »scharfe Unschärfe« (69) gekennzeichnet. Aus dieser phänomenologischen<br />

Perspektive verfolgt Guntermann Kafkas »Wechsel in der Erzählhaltung von der Ichzur<br />

Er-Form« (85), den er, statt, wie er kritisiert, »von einem <strong>Subjekt</strong> zu sprechen,<br />

das sich selbst auflöst« (88), entgegengesetzt interpretiert: »In der Distanzierung auf<br />

die Dritte Person kann die eigene <strong>Subjekt</strong>ivität überleben« (85).<br />

Problematisch wird die Untersuchung, wo sie, nachdem der Standpunkt der <strong>Subjekt</strong>ivität<br />

gef<strong>und</strong>en ist, ihre Beobachtungen verläßt <strong>und</strong> das Schreiben allgemein als<br />

»Hilfsmittel zur Herstellung des Ich« (109) versteht. Das »Schreiben als Selbstherstellung«<br />

(218) geschieht durch »die Transformation der im Tagebuch festgehaltenen<br />

Wirklichkeit« im Sinne einer »Literarisierung« (155); die »Literarisierung des<br />

Lebens ist Aufgabe <strong>und</strong> Ziel des Schreibens in Kafkas Tagebuch« (192). Die Feststellung:<br />

»Wirklichkeit kehrt im Schreiben - verändert - wieder« (120) schlägt in die<br />

konservative Haltung um, daß sich Literatur »als ein bei aller Veränderung <strong>und</strong><br />

Transformation doch getreues <strong>und</strong> aussagestarkes Abbild der realen Verhältnisse«<br />

(160) erweise. Die Probe aufs Exempel einer »Literarisierung des Lebens« ist Guntermanns<br />

Interpretation des Tagebuchtextes »Der kleine Ruinenbewohner«. Dieser<br />

steht ihm <strong>für</strong> das »Fremdwerden der Dinge«, weil er sich in verschiedenen fragmentarischen<br />

»Schreibanläufen« (185) entwickelt <strong>und</strong> verfremdet. Die Analyse läuft aber<br />

auf die »Identifizierbarkeit von Figuren aus Kafkas Text mit Personen aus seinem<br />

Leben« (197) hinaus; das Fremde bleibt auf das verschwommene Bild der »Utopie<br />

einer anderen Existenz ... in der naturbelassenen 'Eigentlichkeit'« (199) verwiesen.<br />

Schließlich reduziert Guntermann es auf ein bloßes »Motiv der Literatur« (291):<br />

»Fremde sind die Kafkaschen 'Helden' allesamt: als Reisende unterwegs, zu einem<br />

ungewissen Ziel aufgebrochen« (ebd.). Daß Literarisierung »einen Prozeß der Aufweichung<br />

der Grenzen von <strong>Subjekt</strong> <strong>und</strong> Objekt darstellt« (214), behauptet Guntermann<br />

zwar; <strong>für</strong> ihn bleibt das Tagebuch aber die »Werkstatt« (148) des Schriftstellers,<br />

in der der Leser »Teil hat am Kratzen der Feder auf dem Papier« (174).<br />

Drei Exkurse zur Kafka-Literatur machen deutlich, daß Guntermanns Untersuchung<br />

im Gr<strong>und</strong>e jede Deutung scheut, die durch das schließlich manieristisch<br />

wirkende Mosaikverfahren nicht ersetzt wird. Für den Autor sind »1950 ... nahezu<br />

alle wesentlichen Interpretationsrichtungen in Gr<strong>und</strong>zügen bereits ausformuliert«,<br />

<strong>und</strong> in der »Vielfalt der Meinungen« (300) spricht er sich <strong>für</strong> die »Kraft zu guter Allgemeinheit«<br />

(299) aus. Vertritt Köppels Arbeit die etablierte Denkrichtung, so<br />

schlägt diejenige Guntermanns erst gar keine ein. Carsten Feldmann (Berlin)<br />

DAS ARGUMENT 19611992 ©

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!