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Begriffskarrieren: Subjekt und Geschlecht - Berliner Institut für ...

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Geschichte 963<br />

'Endlösung' « gegeben habe, die die Massenvernichtung maßgeblich bestimmte, <strong>und</strong><br />

daß der Antisemitismus der Nazis integraler Bestandteil eines nach wirtschaftlichen<br />

Kriterien formulierten Konzepts zur Neuordnung Europas gewesen sei.<br />

In der Debatte des Hamburger <strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> Sozialforschung stoßen Heim/ Alys<br />

Thesen zur Herrschaftsrationalität der natioanlsozialistischen Vernichtungspolitik<br />

(Sozialplanung <strong>und</strong> Völkermord, 11-23) wiederum auf fast einhellige Ablehnung. Zu<br />

kraß ist ihre Distanz zu der festgeschriebenen Auffassung, die Einzigartigkeit des<br />

»Holocaust« stehe prinzipiell außerhalb einer wie auch immer historisch-methodisch<br />

gefaßten Untersuchungsperspektive. Überraschend ist jedoch, daß die Provokation<br />

von Aly <strong>und</strong> Heim der etablierten Historikerzunft offenbar die Gelassenheit raubt.<br />

Denn mit einem Mal verändert sich der Charakter der Einwände: So behauptet Ernst<br />

Köhler in seinem Beitrag (Das Morden theoretisch eingeebnet, 89-102), »die alte<br />

Staatstheorie, die alte Parlamentarismuskritik, die alte Faschisierungsthese« der<br />

»Hamburger Schule« habe sich hinter die Kritik »der modernen Bevölkerungspolitik<br />

zurückgezogen <strong>und</strong> sich dort verbarrikadiert«. Dan Diner (Die Wahl der Perspektive,<br />

65-75) vermutet, Heim <strong>und</strong> Aly hegten die politische Absicht, »die immerwährende<br />

Latenz einer in kapitalistischer Rationalisierung vermeintlich begründeten<br />

Massentötung auch <strong>für</strong> den Vor- <strong>und</strong> Nachfaschismus in Deutschland wie auch<br />

anderswo zu begründen«. Ulrich Herbert (Rassismus <strong>und</strong> rationales Kalkül, 25-35)<br />

wirft ihnen vor, sie betrieben »die Einreihung der 'Shoa' in die lange Tradition imperialistischer<br />

Vernichtungspolitik« <strong>und</strong> unterstellt, sie würden die Shoa zur Kritik des<br />

heute bestehenden Herrschaftssystems funktionalisieren.<br />

Aus dem Holz solcher Maximal-Verdächtigungen sind die Gedanken-Palisaden<br />

geschnitzt, die es vor dem nur schwer erträglichen Zusammenhang von Sozialplanung<br />

<strong>und</strong> Völkermord, von Modernisierung <strong>und</strong> Destruktion aufzurichten gilt.<br />

Die wenigen Stimmen, die die Positionen von Heim <strong>und</strong> Aly in der Debatte nicht<br />

r<strong>und</strong>heraus ablehnen, sondern sich zumindest auf eine immanente Kritik einlassen,<br />

sind zwar auf der Faktenebene triftig, widerlegen jedoch ihre Ergebnisse nicht<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich. So wird in den Beiträgen von Werner Röhr (Rassismus als Expansionsprogrammm,<br />

119-134) <strong>und</strong> Götz Rohwer (Rationalisierungen der Vernichtungspolitik,<br />

109-118) kritisiert, die Rolle der planenden Intelligenz sei von Heim <strong>und</strong> Aly<br />

überbewertet <strong>und</strong> ihr Einfluß auf politische Entscheidungen überschätzt worden.<br />

Christopher R. Browning (Vernichtung <strong>und</strong> Arbeit, 37-51) erläutert seine Zweifel an<br />

der Richtigkeit der Heim/ Alyschen Interpretation am Beispiel der Ghettopolitik in<br />

Warschau <strong>und</strong> stellt eine eigene Deutung dieser Zusammenhänge dagegen, indem er<br />

die mit der Ghettoverwaltung befaßten deutschen Fachleute <strong>und</strong> Politiker in<br />

»Arbeitsbeschaffer« einerseits <strong>und</strong> »Aushungerer« andererseits einteilt. Daß in bezug<br />

auf die Ghettopolitik auf seiten der Besatzungsverwaltung nicht immer Einigkeit<br />

herrschte, hatten Heim <strong>und</strong> Aly nicht bezweifelt, wohl aber, daß diese Zwistigkeiten<br />

sich zugunsten der ghettoisierten Jüdinnen <strong>und</strong> Juden ausgewirkt hätten. Ähnliches<br />

gilt <strong>für</strong> die Forderung von Walter Grode (Modernisierung <strong>und</strong> Destruktion, 53-63)<br />

nach einer regional differenzierten Betrachtungsweise der deutschen Vernichtungspolitik<br />

in Polen, nach einer Unterscheidung zwischen den unmittelbar ans »Reichsgebiet«<br />

angrenzenden »eingegliederten Ostgebieten«, <strong>für</strong> die das Primat der Modernisierung<br />

galt <strong>und</strong> »Restpolen«, dem sogenannten »Generalgouvernement«, in dem<br />

eine bedingungslose Destruktions- <strong>und</strong> Hungerpolitik betrieben wurde. Doch dient<br />

dies nicht der >>Verwässerung« der Positionen von Heim <strong>und</strong> Aly, sondern gewinnt<br />

erst vor dem Hintergr<strong>und</strong> der globalen Diskussion um das Verhältnis von Zentrum<br />

<strong>und</strong> Peripherie <strong>und</strong> einer neu entfachten Bevölkerungsdiskussion eine spezifische<br />

Brisanz.<br />

Walter Grode (Hannover)<br />

DAS ARGUMENT 196/1992 ©

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