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Bildungsmonitor 3 - Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit

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<strong>Bildungsmonitor</strong> <strong>Jugendsozialarbeit</strong> Nr. 3<br />

se Veränderungen markieren jedoch aufgrund gleichbleibender Schlussfolgerungen lediglich<br />

einen „rhetorischen Wandel“. Eine eindeutige inhaltliche Definition von „Lernbehinderung“<br />

lag und liegt dabei nicht vor, aufgrund einer letztlich fehlenden klinischwissenschaftlichen<br />

Begründbarkeit einer solchen sozialen Kategorie. „Lernbehinderung“<br />

wird ausschließlich relational als negative Abweichung von den Durchschnittsleistungen<br />

der Kinder der betreffenden Klasse, Schule oder im betreffenden Altersjahrgang bestimmt.<br />

Sie wird immer mit individuellen Defiziten begründet.<br />

Mit der Individualisierung der Schulprobleme von „Lernbehinderten“ werden sowohl die<br />

Probleme des Systems Schule als auch die gesellschaftlich bedingten Armutsprobleme<br />

der Betroffenen unsichtbar gemacht, kritisiert die Wissenschaftlerin. „Lernbehinderte“<br />

können sich im „Schonraum“ der Sonderschule nicht als arm und sozial benachteiligt erfahren<br />

und reflektieren. Sie sind Objekte reduzierter Erwartungen, die in einem geschützten<br />

Territorium außerhalb der Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft mit eingeschränkten<br />

Bildungsangeboten gefördert werden. Bis heute werden sie wegen ihrer „Leistungsschwäche“<br />

auf ihre „Hilfsbedürftigkeit“ festgelegt und reduziert.<br />

„Lernbehinderung“ im bildungsbiografischen Vollzug<br />

In der Biografienanalyse stellt Pfahl fest, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen<br />

sich die sonderpädagogische Zuschreibung auf unterschiedliche Weise zu Eigen gemacht<br />

haben. Die Fallbeschreibungen verdeutlichen, dass die Befragten ihre Schulerfahrungen<br />

als individuelle Schwierigkeiten begreifen. Pfahl kann zeigen, dass die Verinnerlichung<br />

der sonderpädagogischen Ideologie zu „Selbsttechniken der Behinderung“ führt. Diese<br />

gehen sowohl mit reduzierten Selbstansprüchen als auch mit einer Einschränkung der<br />

(beruflichen) Handlungsfähigkeit einher. Selbst wenn die Betroffenen in beruflichen Zusammenhängen<br />

erfolgreich sind, haben sie Selbstzweifel, die sie wiederum in inferiore<br />

Rollen zwingt. Sie schreiben sich selbst die „Lernbehinderung“ lebenslang zu und fordern<br />

eine darauf abgestellte Sonderbehandlung ein. Ihrer psychologischen Konditionierung als<br />

„lern- und leistungsschwach“ im „Schonraum“ der Sonderschule wird im Rahmen des<br />

beruflichen Übergangssystems heute mit der Folge entsprochen, dass sich ihre abhängigen<br />

und hilfebedürftigen Subjektrollen auch nach der Schulzeit weiter verfestigen.<br />

In der Zusammenführung der diskursanalytischen und biografienanalytischen Ergebnisse<br />

verdeutlicht Pfahl, wie im Prozess der sonderpädagogisch vermittelten Fremd- und<br />

Selbstzuschreibung soziale Ungleichheit reproduziert wird. Zusammenfassend lautet ihr<br />

Ergebnis: „Techniken der Behinderung fungieren als Mechanismen der Reproduktion sozialer<br />

Ungleichheit, die den eigentlichen Schulbesuch weit überdauern und die biografische<br />

Arbeit am eigenen Selbst und seine gesellschaftlichen Chancen maßgeblich strukturieren.<br />

Die Kategorie Lernbehinderung wird am sozialen Ort Schule konstruiert, an dem<br />

sie festgestellt, aufgeschrieben und im wechselseitigen Handeln inszeniert wird.“<br />

Forderungen an die Bildungspolitik<br />

Lisa Pfahl begründet mit ihrer Studie die Notwendigkeit, die Sonderschule mit dem Förderschwerpunkt<br />

„Lernen“ aufzulösen und die behinderungsspezifische Etikettierung und<br />

Klassifizierung der Schülerinnen und Schüler im Rahmen der individuellen Feststellungsdiagnostik<br />

zu beenden, als unausweichlich für eine verantwortungsvolle Bildungspolitik.<br />

Diese Position wird auch in den Gutachten von Klemm/Preuss-Lausitz für die Bundesländer<br />

Bremen und NRW argumentativ untermauert und zur Grundlage für die strategische<br />

Umsetzung der UN-BRK erhoben. Die Bildungsforscher verbinden die Auflösung der Sonderschule<br />

mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ und der ihr verwandten Sonderschularten<br />

mit den Förderschwerpunkten „emotionale und soziale Entwicklung“ sowie „Sprache“<br />

mit der Einführung der systemischen sonderpädagogischen Ressourcenzuweisung und<br />

plädieren dezidiert für den Verzicht der herkömmlichen individuellen Feststellungsdiagnostik.<br />

Diagnostische Verfahren sollen aus ihrer Sicht ausschließlich der Lernprozessförderung<br />

dienen. Die Gutachter lehnen nachdrücklich das Elternwahlrecht für diese Förderschwerpunkte<br />

ab.<br />

Pfahls Untersuchung legt ebenso eindringlich nahe, dass die Sonderpädagogik mit dieser<br />

ideologischen Ausrichtung als wissenschaftliche Disziplin keine Zukunft haben darf. Für<br />

die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern muss aus Sicht der Wissenschaftlerin generell<br />

gelten, dass sie sich an dem Recht auf Inklusion orientiert und damit an einer gemeinsamen<br />

und gleichberechtigten Bildung für alle.<br />

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