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nachlesen. - Kultur macht Europa

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19<br />

Lorenz Richter<br />

Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats<br />

Kunst und <strong>Kultur</strong> als Basis europäischer Identität seit<br />

den 1950er Jahren<br />

Der Themenkomplex »<strong>Kultur</strong>« hat in den beiden letzten Jahrzehnten<br />

innerhalb der Europäischen Union erheblich an Relevanz gewonnen.<br />

Seine Bedeutung für <strong>Europa</strong> wurde 1993 im Vertrag von Maastricht rechtlich<br />

fixiert. Eine Dekade älter ist die Idee der <strong>Kultur</strong>hauptstadt. Wie in diesem<br />

Band zu lesen ist, wurde sie 1983 von der griechischen Kultusministerin<br />

Melina Mercouri auf einem Treffen der europäischen Kultusminister vorgebracht,<br />

um dann 1985 mit Athen als erster europäischer <strong>Kultur</strong>(haupt)stadt<br />

in die Tat umgesetzt zu werden. Tatsächlich aber war diese Idee schon damals<br />

nicht neu. Als Melina Mercouri erstmalig ihre Gedanken zum europäischen<br />

<strong>Kultur</strong>stadtprogramm vorstellte, konnte mit dem <strong>Europa</strong>rat eine andere<br />

europäische Organisation bereits auf fast 30 Jahre aktive <strong>Kultur</strong>politik<br />

zugunsten der »europäischen Identität« zurückblicken. Diese Organisation<br />

setzte neben ihrem politischen Wirken auf die <strong>Kultur</strong> als identitätsstiftende<br />

Kraft und hat seit den 1950er Jahren für <strong>Europa</strong> wegweisende internationale<br />

Programme im Bereich von Bildung, Jugend, Erziehung sowie <strong>Kultur</strong> und<br />

<strong>Kultur</strong>erbe finanziert und realisiert.<br />

Zur Einführung: Geschichte, Fragestellung und Theorie<br />

Der <strong>Europa</strong>rat wurde 1949 als erste der großen europäischen Organisationen<br />

im französischen Straßburg gegründet. Bereits drei Jahre später, 1952,<br />

wurde im <strong>Europa</strong>rat die Idee geboren, internationale Kunstausstellungen<br />

zu veranstalten, die das gemeinsame kulturelle Erbe der letzten Jahrhunderte<br />

zum Thema hatten und die Absicht verfolgten, »to use art as a way<br />

of expressing European unity and of developing the notion of a common<br />

›European‹ culture, going beyond national boundaries.« Aus der ursprünglichen<br />

Idee entwickelte sich eine äußerst erfolgreiche Ausstellungsreihe, 1 die<br />

bis heute Bestand hat. Laut Terry Davis, dem seit 2004 amtierenden Generalsekretär<br />

des <strong>Europa</strong>rats, sind die Ausstellungen innerhalb <strong>Europa</strong>s zu<br />

1 Die meisten der bisher 29 Ausstellungen (Stand: 2007) haben jeweils mehrere hunderttausend<br />

Besucher angezogen. Die 28. und 29. Ausstellung konnten beide jeweils<br />

über eine Millionen Gäste verzeichnen.


20 Lorenz Richter<br />

Das offizielle Logo<br />

des <strong>Europa</strong>rats.<br />

»regular landmarks of cultural life« avanciert. 2 Durch die Jahre behandelten<br />

sie unterschiedliche Themenschwerpunkte, zu denen etwa 1961 die »Romanische<br />

Kunst« in Barcelona und Santiago de Compostela, 1966 in Stockholm<br />

»Königin Christina von Schweden und ihre Epoche« oder 1989 in Paris »Die<br />

Französische Revolution und <strong>Europa</strong>« gehörten. Die aktuell letzte, 29. Neuauflage<br />

der »Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats« war 2006 in Magdeburg<br />

und Berlin unter dem Titel »Das Heilige Römische Reich deutscher Nation<br />

962–1806« zu sehen.<br />

Dieser Beitrag behandelt die ersten sechs dieser Ausstellungen, die der<br />

»erste praktische Ausdruck einer eigenständigen kulturellen Zusammenarbeit<br />

zwischen den Mitgliedstaaten« des <strong>Europa</strong>rats darstellten. 3 Er greift<br />

dabei auf bislang nicht ausgewertete Quellen aus dem Archiv des <strong>Europa</strong>rats,<br />

die sechs Ausstellungskataloge sowie Pressebesprechungen der Veranstaltungen<br />

zurück. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, inwieweit der<br />

<strong>Europa</strong>rat versucht hat, sein Ziel, das »gemeinsame kulturelle Erbe« <strong>Europa</strong>s<br />

darzustellen und damit »ein europäisches Bewusstsein« zu schaffen, zu verwirklichen.<br />

Ob diese Absicht auch Erfolg hatte, kann über die Presseberichte<br />

hinaus allerdings nicht mehr direkt nachvollzogen werden, da der <strong>Europa</strong>rat<br />

keine Publikumsbefragungen oder ähnliche Maßnahmen vorgenommen hat.<br />

Ob letztlich also beim »kleinen Mann von der Straße«, der durch die Ausstellungen<br />

angesprochen werden sollte,<br />

der gewünschte Effekt erzielt wurde,<br />

wusste man beim <strong>Europa</strong>rat folglich<br />

nicht. Selbst die Zuschauer zahlen der<br />

einzelnen Expositionen zeugen letztlich<br />

nur davon, dass die Kunstausstellungen<br />

als kulturelles Ereignis Erfolg<br />

hatten oder nicht – dass deren Botschaften<br />

jedoch vermittelt wurden, ist<br />

daraus nicht abzulesen.<br />

Als theoretische Grundlage dieses<br />

Textes sind Überlegungen ausschlaggebend,<br />

die auf Benedict Andersons<br />

Konzept der »imagined commu-<br />

2 Beide Zitate: (3. 6. 2007). Im Internet informiert die Seite über die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats.<br />

3 Etienne Grosjean: Europäisches <strong>Kultur</strong>abkommen 1954–1994. Bezugsdokument<br />

mit einem Überblick über 40 Jahre kulturelle Zusammenarbeit, im Internet<br />

unter: (3. 6. 2007).


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 21<br />

nities« aufbauen. 4 Spätestens seit Anderson werden im wissenschaftlichen<br />

Diskurs Kategorien wie Nation, Geschichte, Gedächtnis sowie Erbe und <strong>Kultur</strong><br />

nicht mehr als »neutrale« Entitäten betrachtet, sondern als Konstruktionen:<br />

5 »Es ist eben nicht eine gemeinsame <strong>Kultur</strong>, die (…) Kollektive verbindet,<br />

sondern die ›Vorstellung‹ einer gemeinsamen <strong>Kultur</strong>.« 6 Das heißt, dass<br />

es nicht die europäische <strong>Kultur</strong> war und ist, die der <strong>Europa</strong>rat mit seinen Ausstellungen<br />

oder auch die Europäische Union mit ihrem <strong>Kultur</strong>haupstadtprogramm<br />

inszenierte und inszeniert, sondern ein bestimmtes Bild, eine unter<br />

vielen möglichen Interpretationen dieser <strong>Kultur</strong>. Der <strong>Europa</strong>rat wird daher<br />

in Verbindung mit den Komitees und Ausschüssen, die an der Organisation<br />

und Verwirklichung der Europäischen Kunstausstellungen beteiligt waren,<br />

hier als Konstrukteur der kulturellen Einheit <strong>Europa</strong>s betrachtet.<br />

Der Aufsatz gliedert sich in insgesamt sieben Abschnitte. Nach dieser Einführung<br />

wird der <strong>Europa</strong>rat und sein Verständnis der »europäischen <strong>Kultur</strong>«<br />

vorgestellt, nicht zuletzt, weil die Straßburger Organisation insbesondere<br />

im Hinblick auf ihre <strong>Kultur</strong>arbeit sowohl in der europäischen Öffentlichkeit<br />

als auch in der wissenschaftlichen Literatur bisher nur wenig Aufmerksamkeit<br />

gefunden hat. Anschließend werden die Vorbereitungsphase zur ersten<br />

Kunstausstellung in Brüssel und allgemeine organisatorische Abläufe der<br />

Expositionen beleuchtet. Die ersten sechs Ausstellungen und ihre Besonderheiten<br />

sind das Thema des nächsten Kapitels. Inwieweit der <strong>Europa</strong>rat<br />

über die reine Darstellung europäischer Kunst den europäischen Gedanken<br />

in seinen Ausstellungen gezielt inszeniert hat, also eine bestimmte <strong>Kultur</strong><br />

konstruieren wollte, wird im fünften Kapitel gefragt. Im letzten Kapitel vor<br />

der Schlussbetrachtung wird der – vom <strong>Europa</strong>rat unterschätzte – politische<br />

Charakter der Ausstellungen am Beispiel des Eklats um das »Massaker von<br />

Chios« diskutiert.<br />

4 Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen<br />

Konzepts, Frankfurt am Main ²2005.<br />

5 U. a. Shmuel Noah Eisenstadt: Die Konstruktion nationaler Identitäten in vergleichender<br />

Perspektive, in: Bernhard Giesen. Nationale und kulturelle Identität. Studien<br />

zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt am<br />

Main 1991, S. 21–38; Etienne François/Hannes Siegrist/Jakob Vogel: Die Nation.<br />

Vorstellungen, Inszenierungen, Emotionen, in: dies. (Hg.): Nation und Emotion.<br />

Deutschland und Frankreich im Vergleich 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995,<br />

S. 13–35; Reinhold Viehoff/Rien T. Segers (Hg.): <strong>Kultur</strong>, Identität, <strong>Europa</strong>. Über die<br />

Schwierigkeiten einer Konstruktion, Frankfurt am Main 1999; Monika Mokre/Gilbert<br />

Weiss/Rainer Bauböck (Hg.): <strong>Europa</strong>s Identitäten. Mythen, Konflikte, Konstruktionen,<br />

Frankfurt am Main/New York 2003; Vrääth Öhner et al. (Hg.): <strong>Europa</strong>-<br />

Bilder, Innsbruck/Wien/München/Bozen 2005.<br />

6 Heidemarie Uhl: <strong>Europa</strong> kommunizieren – <strong>Europa</strong> visualisieren, in: Vrääth Öhner<br />

et al. (Hg.): <strong>Europa</strong>-Bilder, Innsbruck/Wien/München/Bozen 2005, S. 141–166, hier<br />

S. 151.


22 Lorenz Richter<br />

Zum <strong>Europa</strong>rat: Der <strong>Europa</strong>rat und seine Ziele<br />

Um »die europäische Völkerfamilie in einer regionalen Organisation neu<br />

zusammen[zu]fassen, die man vielleicht die Vereinigten Staaten von <strong>Europa</strong><br />

nennen könnte«, regte Sir Winston Churchill in einer vielzitierten Rede vom<br />

19. September 1946 in Zürich an, einen »<strong>Europa</strong>rat« zu schaffen. 7 Vor seiner<br />

Gründung durch das Statut, das zehn westeuropäische Staaten am 5. Mai<br />

1949 unterzeichneten, waren große Hoffnungen an den <strong>Europa</strong>rat geknüpft:<br />

Der <strong>Europa</strong>rat sollte nach den Jahren der kriegerischen Auseinandersetzung<br />

innerhalb <strong>Europa</strong>s die politische Einheit des Kontinents ermöglichen. Doch<br />

in der Satzung des <strong>Europa</strong>rats war nur noch von einem zu verwirklichenden<br />

»engeren Zusammenschluss unter seinen Mitgliedern« die Rede, oder − wie<br />

es im englischen und französischen Original heißt − von einer »größere[n]<br />

Einheit«. 8 Schon dieser Wortlaut <strong>macht</strong> deutlich, dass die Hoffnungen zur<br />

politischen Einigung <strong>Europa</strong>s durch den <strong>Europa</strong>rat von diesem kaum zu<br />

erfüllen waren. 9<br />

Dass der <strong>Europa</strong>rat bald in der politischen Bedeutungslosigkeit versank,<br />

lag vornehmlich an seiner Organisationsstruktur, die seit seiner Gründung<br />

Anlass für stete Konflikte innerhalb des Rates geboten hatte: Die wesentlichen<br />

Impulse für die Arbeit des Rates lieferte die »Beratende Versammlung«,<br />

»die erste parlamentsähnliche Institution (…), die bei einer internationalen<br />

Organisation jemals gebildet wurde«. 10 Dieses Organ, das 1974 seinen heutigen<br />

Namen »Parlamentarische Versammlung« erhielt, hatte nur beratende<br />

Aufgaben. 11 Verhandelt und verabschiedet wurden seine Empfehlungen vom<br />

Exekutivorgan des <strong>Europa</strong>rats, dem Ministerkomitee, allerdings nur nach<br />

einstimmigen Beschlüssen. Diese Bedingung − Per Fischer nannte sie den<br />

»Geburtsfehler« des <strong>Europa</strong>rats 12 − lähmte die Arbeit der Straßburger Organisation.<br />

Spätestens als dann 1952 die Beneluxstaaten, Frankreich, Italien<br />

und die Bundesrepublik Deutschland die Europäische Gemeinschaft für<br />

Kohle und Stahl (EGKS) ins Leben riefen, zeichnete sich ab, dass der <strong>Europa</strong>rat<br />

nicht der erhoffte Motor für die europäische Einigung werden würde.<br />

7 Zit. nach: Uwe Holtz (Hg.): 50 Jahre <strong>Europa</strong>rat, Baden-Baden 2000, S. 310.<br />

8 Im Englischen heißt es »a greater unity« und im Französischen »une union plus<br />

étroite«.<br />

9 Per Fischer: Zielsetzungen und Leistungen des <strong>Europa</strong>rats 1949–1989, in: Otto<br />

Schmuck (Hg.): Vierzig Jahre <strong>Europa</strong>rat: Renaissance in gesamteuropäischer Perspektive?<br />

S. 65–79, hier S. 65–72.<br />

10 Karl Carstens: Das Recht des <strong>Europa</strong>rats, Berlin 1956, S. 158.<br />

11 Fischer, S. 65–79, hier: S. 65–72. Fischer schreibt zur Entstehung der Beratenden<br />

Versammlung: »Zur Welt kam schließlich ein Bastard: eine Versammlung, mit dem<br />

Beinamen ›Beratende‹ geschmückt, der ihre Rechtlosigkeit deutlich machen sollte«<br />

(S. 68).<br />

12 Fischer, S. 65–79, hier S. 72.


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 23<br />

Trotzdem: Der <strong>Europa</strong>rat leistete in den folgenden Jahrzehnten wesentliche<br />

Beiträge zur konkreten Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Als<br />

prominenteste Beispiele seien hier das Wirken im Rahmen der »Europäischen<br />

Konvention zum Schutz der Menschenrechte«, die Wolfgang Strasser<br />

zufolge »bis heute weltweit das entwickelste und erfolgreichste Instrument<br />

des internationalen Menschenrechtsschutzes dar[stellt]«, 13 die Europäische<br />

Menschenrechtskommission und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte<br />

genannt. 14 Der hier interessierende kulturelle Sektor bildete<br />

bereits seit 1949 ein wichtiges Arbeitsgebiet des Rates. Von der europäischen<br />

Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt stellten der »<strong>Kultur</strong>plan« von 1949<br />

und die »Europäische <strong>Kultur</strong>konvention« von 1954 bedeutende Weichen hin<br />

zu einer transnationalen, europäischen <strong>Kultur</strong>politik. Wesentliche Elemente<br />

der <strong>Kultur</strong>konvention finden sich in den kulturellen Richtlinien der Europäischen<br />

Union, im Artikel 151 des Vertrages von Nizza – so z. B. die Gewichtung<br />

des europäischen, »gemeinsamen kulturellen Erbes«.<br />

»<strong>Kultur</strong>« und »kulturelles Erbe«<br />

in den offiziellen Dokumenten des <strong>Europa</strong>rats<br />

Europäische <strong>Kultur</strong>politik war seit der Gründung des <strong>Europa</strong>rats eines seiner<br />

zahlreichen Tätigkeitsfelder. Laut Artikel 1b der <strong>Europa</strong>ratssatzung sollte<br />

»durch den Abschluss von Abkommen und durch gemeinsames Handeln«<br />

auch auf dem Gebiet der <strong>Kultur</strong> die »größere Einheit« unter den Mitgliedern<br />

verwirklicht werden, um »die Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames<br />

Erbe sind«, zu schützen. Diese vage Zielsetzung war die realpolitische Überarbeitung<br />

der Vision eines geeinten <strong>Europa</strong>s, die während des Haager Kongresses<br />

im Mai 1948 geäußert worden war. 15 Eine nähere Bestimmung der<br />

»Ideale und Grundsätze«, die das gemeinsame Erbe <strong>Europa</strong>s bildeten, bot<br />

die Satzung aber nicht.<br />

Spezifischer argumentierte der »<strong>Kultur</strong>plan«, der im Auftrag der Beratenden<br />

Versammlung des <strong>Europa</strong>rats im Sommer 1949 erarbeitet wurde. Dieser<br />

definierte das Moment der Freiheit als Kern der europäischen <strong>Kultur</strong>, ein<br />

Thema, das später in unterschiedlichen Färbungen von den <strong>Europa</strong>ratsausstellungen<br />

aufgegriffen werden sollte. Im <strong>Kultur</strong>plan wurde ein weiteres<br />

13 Wolfgang Strasser: 45 Jahre Menschenrechtsinstitutionen des <strong>Europa</strong>rats – Bilanz<br />

und Perspektiven, in: Uwe Holtz (Hg.): 50 Jahre <strong>Europa</strong>rat, Baden-Baden 2000,<br />

S. 121–138, hier S. 123.<br />

14 Siehe dazu u. a.: Karl-Peter Sommermann: Der Schutz der Menschenrechte im<br />

Rahmen des <strong>Europa</strong>rats, (Speyerer Forschungsberichte, Nr. 86), Speyer 1990;<br />

Eckart Klein: 50 Jahre <strong>Europa</strong>rat – Seine Leistungen beim Ausbau des Menschenrechtsschutzes,<br />

in: Archiv des Völkerrechts 2 (2001), S. 121–141.<br />

15 Wilhelm Cornides: Klärung in Straßburg. ›Straßburg <strong>Europa</strong>‹ als Konzeption und<br />

Wirklichkeit, in: <strong>Europa</strong>-Archiv 18 (1950), S. 3343–3345, hier: S. 3343.


24 Lorenz Richter<br />

Prinzip benannt, das für die Kunstausstellungen prägend werden sollte. In<br />

seiner Präambel fand die damals wie heute teils phrasenhaft verwendete<br />

Idee der »Einheit in Vielheit« als Merkmal der europäischen <strong>Kultur</strong> ihren<br />

Eingang. 16 »European culture (…) is one and varied«, lautete der Wortlaut<br />

der Präambel von 1949. 17 Die Vielgestaltigkeit erkläre sich dabei aus den<br />

unterschiedlichen nationalen Historien, die Einheit aus den freiheitlichen<br />

Werten: <strong>Europa</strong> verstanden als Wertegemeinschaft. Innerhalb der Vorbereitungsphasen<br />

für die Kunstausstellungen wurde das Element der Vielgestaltigkeit<br />

immer wieder problematisiert, hatten diese Veranstaltungen doch<br />

die Vorgabe, die kulturelle Einheit <strong>Europa</strong>s zu visualisieren.<br />

Der nächste Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen<br />

<strong>Kultur</strong>politik wurde am 5. Mai 1955 mit dem Europäischen <strong>Kultur</strong>abkommen<br />

begangen. 18 Während die Satzung des <strong>Europa</strong>rats das Ziel seiner <strong>Kultur</strong>politik<br />

definierte – mithin das gemeinsame Erbe zu fördern und zu<br />

schützen –, setzte das <strong>Kultur</strong>abkommen die rechtliche Grundlage dafür.<br />

Erarbeitet hatte das Abkommen das »Komitee der <strong>Kultur</strong>experten«, eine<br />

Gruppe von Regierungsvertretern innerhalb des <strong>Europa</strong>rats, die sich für<br />

das kulturelle Programm – so auch die Kunstausstellungen – verantwortlich<br />

zeichneten. Auf die Organisation der Europäischen Kunstausstellungen<br />

hatte das <strong>Kultur</strong>abkommen konkrete Auswirkungen; etwa dadurch, dass die<br />

zukünftigen Vertragsparteien nicht zwangsläufig Mitglieder des <strong>Europa</strong>rats<br />

zu sein hatten. Daraus resultierte, dass auch Nichtmitglieder des <strong>Europa</strong>rats<br />

nationale Vertreter zu den Sitzungen des Komitees der <strong>Kultur</strong>experten schicken<br />

konnten. 19 Es stand also allen Signatarstaaten des <strong>Kultur</strong>abkommens<br />

16 Vgl. dazu u. a. Olaf Schwenke: Das <strong>Europa</strong> der <strong>Kultur</strong>en – <strong>Kultur</strong>politik in <strong>Europa</strong>.<br />

Dokumente, Analysen und Perspektiven – von den Anfängen bis zur Grundrechtecharta,<br />

Bonn 2001, S. 49; Judith Kruse: Europäische <strong>Kultur</strong>politik am Beispiel<br />

des <strong>Europa</strong>rats, Münster/Hamburg 1993, S. 35; Michael Essig: Europäische Identitätsfindung.<br />

Das Reich als europäische Vision, Hildesheim/Zürich/New York 1999,<br />

S. 59. Werner Weidenfeld schreibt dazu: »Die Einheit in der Vielheit – diese pauschale<br />

Erklärung mußte immer wieder über Einwände und Widersprüche hinweghelfen.<br />

Als sonderlich tragfähig hat sich eine solch trübe Dialektik allerdings nie<br />

erwiesen. Die Fragen sind geblieben«, Werner Weidenfeld: <strong>Europa</strong> – aber wo liegt<br />

es? in: ders. (Hg.): Die Identität <strong>Europa</strong>s, München 1985, S. 13–41, hier S. 13.<br />

17 Council of Europe. Consultative Assembly: Ordinary Sessions. Documents – Working<br />

papers. Strasbourg 1949: Document Nr. 101, Recommendations to the Committee<br />

of Ministers, (im Folgenden als »Document 101« zitiert).<br />

18 In Übereinstimmung mit der amtlichen Übersetzung Deutschlands wird im<br />

Folgenden der Terminus »Europäisches <strong>Kultur</strong>abkommen« verwendet. Andere<br />

Quellen sprechen von der »Europäischen <strong>Kultur</strong>konvention«. Beide Begriffe sind<br />

synonym zu verstehen.<br />

19 Carstens, S. 214: »Die europäische <strong>Kultur</strong>konvention bestimmt ausdrücklich, daß<br />

jeder Nichtmitgliedstaat, der der Konvention beitritt, einen oder mehrere Vertreter<br />

zu den Sitzungen des Ausschusses der <strong>Kultur</strong>sachverständigen entsenden<br />

kann. Da die <strong>Kultur</strong>konvention hinsichtlich der Rechte und Befugnisse dieser Ver-


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 25<br />

frei, gleichberechtigt über die inhaltliche Ausrichtung der Kunstausstellungen<br />

des <strong>Europa</strong>rats zu diskutieren, und damit auch das vom Rat öffentlich<br />

inszenierte kulturelle Erbe <strong>Europa</strong>s, bzw. das öffentlich inszenierte <strong>Europa</strong><br />

mitzugestalten. Die Grenzen des in seinem kulturellen Erbe vereinten<br />

<strong>Europa</strong>s hielt das Abkommen über die Staatsgrenzen seiner Mitgliedstaaten<br />

offen. Sonach konvergierte das <strong>Kultur</strong>abkommen mit der Überzeugung<br />

des Rates, »dass er für den Augenblick nur einen Teil (…) <strong>Europa</strong>s vertritt.<br />

(…) Der <strong>Europa</strong>rat ist also keine Einrichtung, die sich auf die fünfzehn Länder<br />

beschränkt. Er möchte offen bleiben für die Schaffung eines freien und<br />

demokratischen größeren <strong>Europa</strong>s.« 20<br />

Der belgische Vorschlag:<br />

»Une série de grandes expositions européennes« 21<br />

Haupteingang des<br />

<strong>Europa</strong>palasts –<br />

Sitz des <strong>Europa</strong>rats<br />

in Straßburg.<br />

Julien Kuypers, der Regierungsvertreter Belgiens im Komitee der <strong>Kultur</strong>experten,<br />

schrieb am 24. September 1952 einen folgenreichen Brief an Camille<br />

Paris, den Generalsekretär des <strong>Europa</strong>rats. Sechs Wochen zuvor hatte die<br />

EGKS ihre Arbeit aufgenommen. Und am 10. September 1952 hatten die<br />

sechs Außenminister der EGKS-Mitgliedstaaten die Weichen für die – später<br />

gescheiterte – Schaffung einer »Europäischen Politischen Gemeinschaft«<br />

(EPG) gestellt: Der <strong>Europa</strong>rat drohte endgültig von <strong>Europa</strong> überholt zu wertreter<br />

keine Einschränkungen vorsieht, wird man annehmen müssen, daß sie dieselbe<br />

Rechtstellung wie die Vertreter der Mitgliedstaaten haben und daher auch<br />

an den Abstimmungen teilnehmen können.« Im Untersuchungszeitraum wurde<br />

diese Möglichkeit von Spanien genutzt, das erst 1977 Mitglied des <strong>Europa</strong>rats<br />

wurde.<br />

20 Presse- und Informationsabteilung des <strong>Europa</strong>rats: Der <strong>Europa</strong>rat 1949–1959,<br />

Straßburg 1959, S. 47.<br />

21 Vgl. Dos. 20015–1, 24. 9. 1952, Brief von Julien Kuypers an Camille Paris.


26 Lorenz Richter<br />

den. Kuypers drängte in seinem Brief darauf, die Zeit der »tastenden Versuche«<br />

in der Arbeit des <strong>Europa</strong>rats unbedingt abzukürzen. 22 Er berichtete<br />

dem Generalsekretär von seiner »kleinen Idee«, eine Serie großer europäischer<br />

Kunstausstellungen zu realisieren, welche die bedeutenden transnationalen<br />

Epochen europäischer <strong>Kultur</strong> inszenieren sollten. Dabei denke er<br />

an das romantische, das neoklassizistische oder etwa das barocke <strong>Europa</strong>. 23<br />

Nicht nur Werke der Malerei sollten präsentiert werden, sondern alle Arten<br />

von Objekten, die zum kulturellen Erbe <strong>Europa</strong>s gehörten, wie Bücher, Teppiche,<br />

Dokumente, etc. Als erste dieser Ausstellungen sollte von Belgien die<br />

Veranstaltung »L’Europe humaniste« in Brüssel organisiert werden.<br />

Kuypers erhoffte sich von diesen »spektakulären« Schauen, dass sie<br />

sowohl die obere Bildungsschicht als auch die Massen ansprechen würden.<br />

Er griff damit ein Problem auf, das dem <strong>Europa</strong>rat damals durchaus bekannt<br />

war: Die Idee der Einheit <strong>Europa</strong>s war primär den geistigen Eliten bewusst,<br />

Intellektuellen und Politikern − Menschen also, die nicht den europäischen<br />

Durchschnittsbürger repräsentierten. 24 Kuypers’ Vorhaben, auch »den<br />

Mann von der Straße« für den europäischen Gedanken zu begeistern, sollte<br />

das gesamte Ausstellungskonzept durchziehen – von Veranstaltung zu Veranstaltung<br />

mit wechselndem Erfolg.<br />

Die Resonanz auf den Brief war innerhalb des <strong>Europa</strong>rats positiv: Noch<br />

im Oktober 1952 brachte das Komitee der <strong>Kultur</strong>experten den Plan für die<br />

»Europäischen Kunstausstellungen« auf den Weg. Die schriftliche Begründung<br />

für diesen Beschluss avancierte in den kommenden Jahren zur stets<br />

wiederholten Parole, die das Ausstellungsziel sowohl innerhalb des Rates als<br />

auch für die europäische Öffentlichkeit erklären sollte: 25 »Feeling it desirable<br />

to try to catch the imagination of the general educated public, if not the<br />

broad masses of the people, by means of a spectacular display of European<br />

unity, the Belgian delegation proposes the organisation of a series of large<br />

22 Alle folgenden Zitate Kuypers’ aus: Dos. 20015–1, 24. 9. 1952, Brief von Julien Kuypers<br />

an Camille Paris.<br />

23 Tatsächlich fanden diese, von Julien Kuypers anempfohlenen Ausstellungen im<br />

Laufe von zwei Jahrzehnten alle statt. In der Reihenfolge ihrer Erwähnung: 1954<br />

in Brüssel, 1959 in London, 1972 in London und 1957 in Rom, letzteres um die<br />

Epochen Realismus und Klassizismus thematisch erweitert.<br />

24 Zur Sichtweise dieses Problems in den 1950er Jahren: Max von Beloff: <strong>Europa</strong> und<br />

die Europäer. Eine internationale Diskussion, Köln 1959, S. 219 f. Aufschlussreich<br />

ist dazu auch Wilhelm Karbe: Politik des Reisens? Eine Untersuchung über die<br />

Bedeutung von Auslandsreisen für die Schaffung eines <strong>Europa</strong>bewußtseins. Teil 2:<br />

›Austausch‹ und <strong>Europa</strong>bewußtsein, in: <strong>Europa</strong>-Archiv 7 (1954), S. 6461–6468,<br />

insb. S. 6462 u. S. 6467.<br />

25 Vgl. etwa Dos. 20010–1, ohne Datum, [nach dem 1. 4. 1957], Aktennummer<br />

A 34.179, »Publicity aspects of European Exhibitions«, S. 1.


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 27<br />

exhibitions demonstrating the universal character of the European spirit<br />

and the unity of its artistic heritage down the ages.« 26<br />

Die Absicht, die hinter diesen Veranstaltungen stand, fügte sich in das<br />

politische Programm des <strong>Europa</strong>rats ein. Laut Artikel 1a der <strong>Europa</strong>ratssatzung<br />

sollte eine »größere Einheit« unter seinen Mitgliedern erreicht,<br />

und damit eine europäische Identität gestiftet werden. Damit dieses in der<br />

Zukunft liegende Ziel erreicht werden könne, müssten sich möglichst viele<br />

Mitgliedsländer an der Inszenierung der europäischen Vergangenheit beteiligen.<br />

Ohne dass Kuypers diesen letzten Aspekt in seinem Memorandum<br />

betonte, war mit ihm die zweite »internationale« oder »europäische« Dimension<br />

der Kunstausstellungen benannt worden. Das erste Element bildeten<br />

die zu zeigenden Kunstwerke aus ganz <strong>Europa</strong>. Das zweite Element stellte<br />

die internationale, politische Zusammenarbeit dar, ohne welche die identitätsstiftende<br />

Präsentation europäischer <strong>Kultur</strong>güter nicht zu erreichen<br />

war. 27<br />

Internationale Zusammenarbeit für Europäische Kunstausstellungen<br />

Die Straßburger Organisation war nicht der Hauptveranstalter, wie der Markenname<br />

»Kunstausstellung des <strong>Europa</strong>rats« glauben machen könnte. Die<br />

Durchführung verhielt und verhält sich also ähnlich wie bei dem EU-<strong>Kultur</strong>hauptstadtprogramm.<br />

Bei letzterem ist es die Europäische Gemeinschaft<br />

bzw. die Europäische Union, bei erstem ist es der <strong>Europa</strong>rat, der vornehmlich<br />

der Namensgeber, der Schirmherr dieser Ausstellungen ist und war.<br />

Weisungsbefugnis hatte der Rat in den 1950er Jahren in nur drei Organisationsbereichen.<br />

Mit einem Blick auf die Organisation der Kunstausstellungen<br />

wird das angesprochene zweite »internationale« bzw. »europäische«<br />

Element der Ausstellungen greifbar.<br />

Die beiden Organe des <strong>Europa</strong>rats, die Beratende Versammlung und das<br />

Ministerkomitee hatten nur am Rande mit den Kunstausstellungen zu tun.<br />

Es war das Komitee der <strong>Kultur</strong>experten, das zumindest auf der höchsten<br />

Organisationsebene mitwirkte, jenes Komitee also, das in der Literatur als<br />

das »maßgebliche Instrument europäischer kultureller Zusammenarbeit des<br />

<strong>Europa</strong>rats« bezeichnet wurde. 28 In den Zuständigkeitsbereich des Komitees<br />

fielen drei Aufgaben: Erstens, die Bestimmung des Themas der Ausstellun-<br />

26 Dos. 20015–1, 25. 10. 1952, EXP/Cult(52)27 Appendix D, »Proposal concerning the<br />

organisation of a series of European Exhibitions«, S. 1.<br />

27 Werner Weidenfeld konstatiert in seinen Überlegungen zur europäischen Identität,<br />

dass sich Identität aus drei Elementen konstruiert: das Bewusstsein um die<br />

Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Das Konzept der Europäischen<br />

Kunstausstellungen umfasste diese Elemente auf geradezu vorbildliche Art und<br />

Weise. Weidenfeld, S. 13–41, hier S. 16.<br />

28 Kruse, S. 38.


28 Lorenz Richter<br />

gen; zweitens, die Ernennung des Veranstaltungslandes und, drittens, die<br />

finanzielle Bezuschussung der Expositionen. Die Themenfindung erfolgte<br />

auf Bewerbung einer Nation beim Komitee der <strong>Kultur</strong>experten oder durch<br />

einen Vorschlag dieses Ausschusses. Belgien etwa hatte sich um die erste<br />

Ausstellung eigenständig beworben. Die skandinavischen Länder waren hingegen<br />

wiederholt von Straßburg eingeladen worden, eine eigene Ausstellung<br />

zu realisieren, ehe dies 1964 mit »Christina von Schweden« in Stockholm<br />

geschah.<br />

Als Vertretern des <strong>Europa</strong>rats oblag es den <strong>Kultur</strong>experten über eine Ausstellungsidee<br />

und die durchführende Nation zu entscheiden. Doch schon<br />

auf den nächsten Arbeitsschritt hatte der <strong>Europa</strong>rat faktisch keine Einflussmöglichkeit<br />

mehr. Es kam nun dem Veranstalterland zu, interessierte Mitgliedstaaten<br />

und Unterzeichnerstaaten des <strong>Kultur</strong>abkommens anzuhalten,<br />

nationale Kunstfachleute zu benennen − in den meisten Fällen Direktoren<br />

und Kuratoren staatlicher Museen. Sie diskutierten technische Details wie<br />

die Versicherung der Leihgaben oder den Katalogdruck. Vor allem aber<br />

bestimmten sie die Exponate, die in der Ausstellung gezeigt werden sollten.<br />

Pro Ausstellung trafen sie sich lediglich zwei oder drei Mal. In den Händen<br />

dieser zumeist international renommierten Kunstfachleute lag demnach die<br />

ungefähre inhaltliche Ausrichtung der Ausstellung. Ohne ihre internationale<br />

und gleichberechtigte Zusammenarbeit wäre es nicht möglich gewesen,<br />

den Reichtum an <strong>Kultur</strong>gütern aus den Ländern Westeuropas zusammenzutragen,<br />

der die Qualität und die Einzigartigkeit der Europäischen Kunstausstellungen<br />

zwischen 1954 und 1960 aus<strong>macht</strong>e.<br />

Die technische Organisation und die genaue inhaltliche Gestaltung der<br />

Ausstellung wurden in einem weiteren Schritt entweder von der Regierung<br />

selbst oder von einem Team von Kunst- und Museumsexperten übernommen.<br />

29 Im Kontext der technischen Organisation stellte die Beschaffung<br />

von Leihgaben die schwierigste Aufgabe dar. Von unschätzbarer Hilfe waren<br />

dabei die konkrete Hilfe des diplomatisch erfahrenen Straßburger Sekretariats<br />

und der Umstand, dass die Ausstellungsmacher im Namen des <strong>Europa</strong>rats<br />

handeln durften. 30<br />

Für die dargestellten Inhalte übernahmen die nationalen Organisatoren<br />

die alleinige Verantwortung. Seitens des <strong>Europa</strong>rats lag kein inhaltlicher Leitfaden<br />

zur Gestaltung der Ausstellungen vor. 31 So delegierte die Straßburger<br />

Organisation die konkrete Konstruktion des Bildes vom kulturell geeinten<br />

29 Siehe dazu auch Ettore Allegri: Die 16. <strong>Europa</strong>ratsausstellungen in Florenz 1980.<br />

Einrichtung, Probleme, Schlussfolgerungen, in: Klaus Bleker (Red.): Ausstellungen<br />

– Mittel der Politik? Internationales Symposium 10. 9.–12. 9. 1980 in Berlin,<br />

Berlin 1981, S. 130–144.<br />

30 Dos. 20018, 5. 2. 1957, Protokoll über die erste Sitzung des Ausschusses zur wissenschaftlichen<br />

Vorbereitung der Ausstellung des <strong>Europa</strong>rats in München 1958, S. 5.<br />

31 Dos. 2905, 27. 11. 1959, Bericht des Justiziars des <strong>Europa</strong>rats: »Il n’existe aucun texte<br />

statutaire ou réglementaire sur l’organisation des expositions européennes«.


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 29<br />

<strong>Europa</strong> an Vertreter einzelner Nationen. Sie ließ ihren Mitgliedsländern<br />

somit den größtmöglichen Freiraum für die Gestaltung des kulturellen <strong>Europa</strong>s.<br />

Der Rat folgte damit seinem Verständnis von einer freiheitlichen <strong>Kultur</strong>:<br />

Die Vorgabe eines klaren Konzepts hätte diesem Verständnis nicht entsprochen.<br />

32 Nicht zuletzt ging er hierbei davon aus, dass die Ausstellungs macher<br />

seine – wenngleich diffuse – Definition des »europäischen Gedankens«, den<br />

es in der Öffentlichkeit zu verbreiten galt, teilten. Diese Arbeitweise führte<br />

bei der fünften Ausstellung – »Die Romantische Bewegung« in London – zu<br />

erheblichen diplomatischen Verstimmungen.<br />

Die inhaltliche Verantwortung, welche die organisierende Nation trug,<br />

ging mit ihrer finanziellen Verpflichtung einher. Dabei sorgte die Geldfrage<br />

in den ersten Jahren der Ausstellungsreihe für erheblichen Gesprächsbedarf<br />

und verdeutlichte, dass zur Organisation einer Europäischen Kunstausstellung<br />

mehr vonnöten war, als bloßer europäischer Idealismus. Die kulturelle<br />

Einheit <strong>Europa</strong>s konnte nur dort gezeigt werden, wo die einzelnen Nationen<br />

ausreichend Geld zur Verfügung stellten. Das Finanzierungsmodell für die<br />

ersten beiden Ausstellungen sah vor, dass das organisierende Land weitestgehend<br />

die Kosten für die Veranstaltung tragen sollte. Die Leihgeberländer<br />

selber beteiligten sich vornehmlich durch die Aufwendung der beträchtlichen<br />

Versicherungskosten ihrer Exponate. 33 Während der »Humanismus«<br />

in Brüssel noch schwarze Zahlen schrieb, fuhr der »Manierismus« in Amsterdam<br />

ein »enormes Defizit« ein. 34 In Italien wurden darauf hin in einer<br />

verhältnismäßig kleinen Ausstellung hauptsächlich italienische Werke ausgestellt.<br />

Die hohen Versicherungskosten hatten die ausländischen Leihgeber<br />

abgeschreckt, und die italienische Regierung sah keine Veranlassung, die<br />

Kosten der anderen Mitglieder zu tragen nachdem sie bereits große Summen<br />

in die zwei vorhergehenden Ausstellungen investiert hatte. 35<br />

32 In »The Times Educational Supplement« war zu dieser Frage in einem kritischen<br />

Artikel zur fünften <strong>Europa</strong>ratsausstellung Folgendes zu lesen: »But attempts to<br />

define such an idea [of Europe as an organic whole], even if it exists, are baffled<br />

by the subtlety and range of a way of life which refuses to be confined within the<br />

inhibiting architecture of dialectic. (…) It is obvious that few of the people who<br />

work for European cultural co-operation have yet sat down to think just what it<br />

is they are doing.« The Times Educational Supplement, 17. 7. 1959, »The Romantic<br />

Movement«.<br />

33 Vgl. u. a. Dos. 20015–1, 29. 8. 1953, EXP/Cult/Art(53)1, »Memorandum presented<br />

by the Belgian delegation on the organisation of an exhibition devoted to humanist<br />

Europe«, S. 2 f.<br />

34 Dos. 20018, 17. 2. 1958, ohne Titel, S. 4.<br />

35 Siehe dazu Dos. 20017–1, 5. 5. 1956, Brief des StäV Italiens an Léon Marchal; Dos.<br />

20017–1, 28. 5. 1956, EXP/Cult(56)32, »Third European Exhibition to be organised<br />

in 1956 by the Italian Government under the auspices of the Council of Europe.<br />

Memorandum by the Italian Delegation«; Dos. 20018, 17. 2. 1958, ohne Titel, S. 4.<br />

Aufgrund der Finanzierungsprobleme wurde im Frühjahr 1959 ein neues Finanzierungsmodell<br />

entwickelt. Hiernach sollte jede Regierung, die sich an einer Aus-


30 Lorenz Richter<br />

Im Vergleich zu den Ausgaben der Ausstellernationen leistete der <strong>Europa</strong>rat<br />

mit seinen Zuschüssen nur einen bescheidenen Beitrag zu den Europäischen<br />

Kunstausstellungen. Obwohl die Quellenbasis der Untersuchung<br />

hinsichtlich der konkreten Finanzierung dünn ist, vermitteln die eruierten<br />

Zahlen ein gutes Bild über die Verhältnisse und Dimensionen, in denen sich<br />

die Ausgaben bewegten. Das Gesamtbudget des <strong>Europa</strong>rats betrug 1959<br />

1,25 Mrd. FF (zu der Zeit ca. 2,5 Mio. US-Dollar). 36 Im Jahr 1955 wurde für<br />

das <strong>Kultur</strong>programm des <strong>Europa</strong>rats ein Budget von 19 Millionen Francs<br />

bewilligt, 37 also lediglich 1,5 Prozent des Gesamtbudgets, 38 ein Verhältnis,<br />

das die Stellvertretende Vorsitzende des <strong>Kultur</strong>ausschusses der Beratenden<br />

Versammlung Luise Rehling, 1959 als »beschämend« bezeichnete. 39<br />

Die Höhe der Zuschüsse aus dem <strong>Kultur</strong>budget stieg seit der Amsterdamer<br />

Ausstellung von 1955 bis zur 1960er Ausstellung in Paris von 2,5 Mio.<br />

FF. 40 auf 8 Mio. FF (bzw. 80.000 NF: Frankreich erlebte 1958 unter Staatspräsident<br />

de Gaulle eine Währungsreform). 41 Diese Summen wurden an die<br />

ausführenden Regierungen gezahlt, die frei über die Gelder verfügen konnten.<br />

Wie hoch die Gesamtkosten für die Ausstellungen ausfielen, geht nicht<br />

aus den Akten des <strong>Europa</strong>rats hervor. Sicher ist jedoch, dass der Beitrag des<br />

<strong>Europa</strong>rats nur einen Bruchteil der jeweiligen Kosten deckte. Für München<br />

wurde z. B. ein Betriebskapital von 400.000,– DM veranschlagt. 42 Mit schätstellung<br />

beteiligte, eine festgelegte Mimimalzahlung zusagen, welche von der<br />

Größe des jeweiligen Landes abhängig war. Die Minimalzahlung konnte sich auf<br />

anderthalb, eine oder eine halbe Million Francs bemessen. (Dos. 2905, 13. 10. 1959,<br />

Brief von Dunstan Curtis an die Außenminister der Mitgliedsländer und der<br />

Unterzeichner des <strong>Kultur</strong>abkommens, Annexe B.) Dos. 20020, ohne Datum,<br />

wahrscheinlich aus der 15. Sitzungsperiode der <strong>Kultur</strong>experten, 28. 5.–3. 6. 1959,<br />

EXP/Cult(59)33, S. 23.<br />

36 Prozentual auf die Mitgliedstaaten aufgeteilt zahlten Frankreich, die Bundesrepublik,<br />

Italien und Großbritannien 17,75 Prozent, die Türkei 9,06 Prozent, die Niederlande<br />

3,99 Prozent, Belgien, Griechenland und Schweden 3,02 Prozent, Österreich<br />

2,54 Prozent, Dänemark 1,63 Prozent, Norwegen 1,27 Prozent, Irland 1,09 Prozent<br />

und Island 0,18 Prozent des Gesamtbudgets. Presse- und Informationsabteilung<br />

des <strong>Europa</strong>rats: Der <strong>Europa</strong>rat 1949–1959, Straßburg 1959, S. 14.<br />

37 Diese Summe entsprach damals ca. 230.000 DM. Zum Vergleich: 1951 gab allein<br />

die Bundesrepublik Deutschland 400 Millionen DM für kulturelle Angelegenheiten<br />

aus. Nach: Kruse, S. 67 f., Fußnote 156.<br />

38 Mitteilungen des <strong>Europa</strong>rats, 5. Jahrgang, Nr. 2, Februar 1955, in: <strong>Europa</strong>-Archiv 4<br />

(1955), S. 7356–7364, hier S. 7359.<br />

39 Zit. nach: Kruse, S. 58 f., Fußnote 112.<br />

40 Dos. 20016–1, 16. 9. 1955, EXP/Cult(55)20 Revised, »Meeting of Art Specialists who<br />

attended the opening of the Second European Exhibition«, S. 3.<br />

41 Dos. 20020, 3. 5. 1960, Decision n° 174.<br />

42 Dos. 20018, 5. 2. 1957, Protokoll über die erste Sitzung des Ausschusses zur wissenschaftlichen<br />

Vorbereitung der Ausstellung des <strong>Europa</strong>rats in München 1958, S. 5.


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 31<br />

zungsweise 50.000,– DM steuerte der <strong>Europa</strong>rat etwa 12,5 Prozent dieses<br />

Betriebskapitals bei. 43<br />

Das humanistische Ideal von der Freiheit des Menschen:<br />

»Humanistisches <strong>Europa</strong>« 1954 in Brüssel<br />

Im Oktober 1952 regte das Komitee der <strong>Kultur</strong>experten an, im September<br />

des nächsten Jahres eine Versammlung von internationalen Kunstfachleuten<br />

abzuhalten. 44 Diese Fachleute sollten die theoretische Idee für die Europäischen<br />

Kunstausstellungen in ein praktisch realisierbares Arbeitskonzept<br />

überführen. Unter den folgenden Versammlungen der nächsten Jahre nahm<br />

dieses erste Treffen im Spätsommer 1953 eine besondere Stellung ein, da<br />

außer Schweden alle 14 Mitgliedstaaten des <strong>Europa</strong>rats sowie die Saar als<br />

assoziiertes Mitglied Vertreter entsandten. 45 Diese internationale Konstellation<br />

sollte in den folgenden sieben Jahren so nie wieder erreicht werden.<br />

Das anfängliche Interesse an den Kunstausstellungen beweist, dass die Mitgliedstaaten<br />

durchaus ein großes Potenzial in dem Konzept sahen. Die eher<br />

ideellen Hoffnungen reichten aber oftmals nicht aus, um materielle Bedenken<br />

vom Tisch zu wischen; die Kosten-Nutzen-Rechnung fiel – gerade bei<br />

den kleinen Mitgliedstaaten wie Irland und Island – negativ aus. So waren<br />

etwa im Komitee der Kunstfachleute zur Vorbereitung der zweiten Europäischen<br />

Kunstausstellung in Amsterdam keine Skandinavier mehr vertreten,<br />

obwohl ihre Teilnahme seitens der niederländischen Organisatoren mit<br />

Nachdruck erbeten worden war. 46 In Ermangelung der materiellen Möglichkeit,<br />

konkrete Kunst- und <strong>Kultur</strong>güter zur Ausstellung beisteuern zu können,<br />

sahen die Nordeuropäer keine Veranlassung, am ideellen Konstrukt<br />

»<strong>Europa</strong>« mitzuarbeiten. Dieses Problem sollte sich fortan durch die Entstehungsgeschichte<br />

aller sechs Kunstausstellungen ziehen, auch wenn mit<br />

zunehmendem Erfolg der Veranstaltungen die Investitionsbereitschaft der<br />

meisten Mitgliedstaaten stieg.<br />

Am 15. Dezember 1954 wurde im Palais des Beaux-Arts in Brüssel die<br />

erste »Council of Europe Art Exhibition« eröffnet. Als Repräsentant des<br />

43 Dos. 20018, 5. 2. 1957, Protokoll über die erste Sitzung des Ausschusses zur wissenschaftlichen<br />

Vorbereitung der Ausstellung des <strong>Europa</strong>rats in München 1958, S. 5.<br />

Die bewilligte Summe betrug 5 Mio. FF.<br />

44 Dos. 20015–1, 20. 2. 1953. In diesem Dokument, einem Brief von Robert Crivon,<br />

wird nur Bezug auf die Empfehlung des <strong>Kultur</strong>komitees genommen. Das Dokument<br />

des Treffens, deren Signatur aus dem Vermerk des Anhangs hervorgeht<br />

(Doc. EXP/Cult.B.(53)4.), liegt nicht vor.<br />

45 Schweden hatte zwar zugesagt, konnte seinen Vertreter dann aber kurzfristig doch<br />

nicht schicken. Dos. 20015–1, 11. 7. 1953, Brief von Stig Rynell an Camille Paris.<br />

46 Dos. 20016–1, 22. 12. 1954, »Meeting of Art Specialists to be held at the Rijksmuseum,<br />

in Amsterdam«, S. 1.


32 Lorenz Richter<br />

»Erasmus von<br />

Rotterdam« (1517)<br />

von Quentin Massys,<br />

Titelbild der Ausstellung<br />

»Humanistisches<br />

<strong>Europa</strong>«<br />

1954 in Brüssel.<br />

<strong>Europa</strong>rats fungierte Arnold Struyken, der<br />

Greffier der Beratenden Versammlung. 47<br />

Der Humanismus sei eine Idee, die sich<br />

weder auf ein bestimmtes Land, noch auf<br />

eine bestimmte Epoche eingrenzen lasse, so<br />

Struyken. Er betonte den internationalen<br />

Charakter der Zeit und den Austausch von<br />

Ideen zwischen Künstlern und Denkern aus<br />

ganz <strong>Europa</strong>. Struyken lieferte damit gleichsam<br />

die Begründung, warum das Projekt der<br />

Europäischen Kunstausstellungen mit dieser<br />

Epoche der europäischen Geschichte seinen<br />

Anfang nehme, »Zum ersten Mal behauptete<br />

sich <strong>Europa</strong> selbst in der Epoche der Renaissance,<br />

indem es die okzidentale Welt mit<br />

einer dauerhaften und tiefgreifenden Signatur<br />

prägte.« 48<br />

Den Zuschauern öffnete sich nun eine<br />

Ausstellung, die nach der Vorstellung ihrer<br />

Macher ein Gesamtbild des »kulturellen Erbes<br />

<strong>Europa</strong>s« aus der Epoche des Humanismus<br />

zur Schau stellte. 49 In sechs Themenschwerpunkten<br />

50 wurden die technischen und ideellen<br />

Errungenschaften der Zeit präsentiert. 134 Ölgemälde und knapp 250<br />

Skulpturen und Statuetten, Medaillen, Gravuren, Bücher, Manuskripte,<br />

Wandteppiche, Töpfergut und diverse technische Geräte, Objekte und Ins-<br />

47 Der »Greffier« ist ein von der Beratenden Versammlung gewählter leitender Beamter,<br />

der die Position eines stellvertretenden Generalsekretärs einnimmt. In der<br />

deutschen Literatur wird der Posten auch als »Parlamentsdirektor« oder »Kanzler«<br />

der Beratenden Versammlung bezeichnet.<br />

48 Original: »Pour la première fois à l’époque de la Renaissance l’Europe va s’affirmer<br />

comme telle en imprimant à la civilisation du monde occidental une marque<br />

durable et profonde.« Dos. 20015–1, ohne Datum, »Projet de discours que<br />

Monsieur Struyken, Greffier de l’Assemblée Consultative du Conseil de l’Europe,<br />

prononcera à Bruxelles le 15 décembre 1954 à l’occasion de l’inauguration de l’Exposition<br />

L’Europe humaniste«, S. 2.<br />

49 Siehe z. B. Dos. 20015–1, 29. 8. 1953, EXP/Cult/Art(53)1, »Memorandum presented<br />

by the Belgian delegation on the organisation of an exhibition devoted to humanist<br />

Europe«, S. 2.<br />

50 »Die Eroberung der Natur«, »Die Würde des Menschen«, »Das Bewusstsein um<br />

den Kosmos«, »Die Berühmtheiten des Humanismus«, »Die Fabel und die Allegorie«,<br />

»Die geistigen Strömungen und ihre Verbreitung«.


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 33<br />

trumente aus ganz Westeuropa bildeten eine Sammlung, »die man sehen<br />

und wieder sehen müsse«, so »Le Nouvelle Gazette de Bruxelles«. 51<br />

Dem Thema der Veranstaltung entsprechend war es Erasmus von Rotterdam<br />

als »Repräsentant des europäischen Humanismus«, 52 der in einem<br />

Gemälde von Quentin Massys das Plakat und das Deckblatt des Katalogs<br />

zierte. Der Ausstellungskatalog erläutert, dass Erasmus »der berühmteste<br />

und charakteristischste Vertreter dieser intellektuellen Bewegung [war] (…).<br />

Mit einer großen geistigen Unabhängigkeit stellte er seine herausragenden<br />

polemischen Begabungen in den Dienst des Ideals eines größeren, freieren<br />

und humanistischeren Lebens.« 53 Das humanistische Ideal von der Freiheit<br />

des menschlichen Geistes fungierte in Brüssel als einendes Element, das in<br />

den Augen der Ausstellungsmacher den Kern der europäischen <strong>Kultur</strong> zu<br />

der Zeit von Erasmus, More und Luther bildete. Ihre Botschaft ähnelte dabei<br />

deutlich der des <strong>Kultur</strong>plans von 1949, der ebenfalls das einende Element<br />

der europäischen <strong>Kultur</strong> über ihre gemeinsamen Werte definierte − die Freiheit<br />

des Menschen an erster Stelle.<br />

In der europäischen Presselandschaft fand diese Botschaft allerdings<br />

wenig Anklang. Kritiker warfen der Exposition »dem <strong>Europa</strong>-Gedanken<br />

zuliebe« eine ideologisch gefärbte Interpretation des Humanismus vor.<br />

Brüssel zeige »einen auf Hochglanz polierten Humanismus«, so die Bremer<br />

Nachrichten: »Man fragt sich, wie es kurz darauf zum Blutvergießen<br />

des 30-jährigen Krieges kommen konnte, wie denn überhaupt der so glorreich<br />

behauptete Humanismus eine im Grunde nur kurz befristete Rolle in<br />

<strong>Europa</strong> gespielt hat. Brüssel bleibt die Antwort schuldig.« 54<br />

51 La Nouvelle Gazette de Bruxelles, 23. 12. 1954, »Au Palais des Beaux-Arts: L’Europe<br />

humaniste«, von Léon-Louis Sosset.<br />

52 Herbert Greiner-Mai: Erasmus von Rotterdam, in: Günter Gurst/Siegfried Hoyer/<br />

Ernst Ullmann/Christa Zimmermann (Hg.): Lexikon der Renaissance, Leipzig<br />

1989, S. 234 f., hier: S. 234.<br />

53 Im Original: »(…) fut le représentant le plus illustre et le plus caractéristique du<br />

mouvement intellectuel (…). D’une grande indépendance d’esprit, il plaça ses dons<br />

d’étincelant polémiste au service d’un idéal de vie plus large, plus libre et plus<br />

humain«, Ausstellungskatalog zur 1. <strong>Europa</strong>ratsausstellung: L’Europe Humaniste,<br />

Brüssel 1954–1955, S. 86.<br />

54 Gerhard Schön: Europäischer Humanismus auf Hochglanz. Eine interessante Ausstellung<br />

des Straßburger <strong>Europa</strong>rats in Brüssel, in: Bremer Nachrichten v. Januar<br />

1955 (genaues Datum nicht verzeichnet).


34 Lorenz Richter<br />

Eine Imagekorrektur der europäischen Geschichte:<br />

»Der Triumph des Manierismus. Von Michelangelo bis El Greco«<br />

1955 in Amsterdam<br />

Als roter Faden zog sich der Einheitsgedanke durch die folgenden fünf Ausstellungen,<br />

gemäß den 1952 herausgegebenen Schlagworten des »universal<br />

character of the European spirit« und der »unity of its artistic heritage down<br />

the ages.« An die humanistische Idee der Freiheit als einendes Element<br />

konnten jedoch nur noch »Die Quellen des 20. Jahrhunderts« 1960 in Paris<br />

anknüpfen; zu verschieden waren die dargestellten Epochen, zu bewegt die<br />

europäische Geschichte in den behandelten Jahrhunderten.<br />

Die Veranstalter der Manierismus-Ausstellung in Amsterdam 1955 wählten<br />

einen Ansatzpunkt, der sich deutlich von dem der Humanismus-Exposition<br />

abhob. Im Bewusstsein, dass sich sowohl diese Epoche der europäischen<br />

Geschichte keines guten Rufs erfreute, als auch der mit ihr verbundene<br />

Kunststil des Manierismus, 55 entschieden die Kunstfachleute, genau an<br />

diesem negativen Image anzusetzen. Man sah im offenen Bekenntnis zum<br />

Manie rismus eine Chance, »es den Kunsthistorikern zu erlauben, die ganze<br />

Bedeutung des Wortes ›Manierismus‹, das allgemein in einem pejorativen<br />

Sinn benutzt wird, der breiten Bevölkerung näher zu bringen.« 56 Das Ziel<br />

war es also, eine Imagekorrektur dieses europäischen Kunststils zu betreiben,<br />

indem der Manierismus als positiv zu konnotierender Kunststil markiert<br />

wurde – im Kontrast zu den Schattenseiten des politischen <strong>Europa</strong>s<br />

im 16. Jahrhundert. Das zeigte nicht weniger, als dass Kunst und <strong>Kultur</strong><br />

als einende Elemente eine politisch zerrissene Gesellschaft zusammenhalten<br />

können. Diese Botschaft beschränkte sich nicht nur auf das historische<br />

<strong>Europa</strong>: Sie setzte auch ein klares Zeichen für das zeitgenössische, das politische<br />

<strong>Europa</strong>, das erst ein halbes Jahr zuvor das Scheitern der Europäischen<br />

Verteidigungsgemeinschaft erlebt hatte.<br />

In der Rezeption der Ausstellung wurde ihr Konzept fast einstimmig<br />

positiv besprochen. So wurde die Kunst des Manierismus von der Frankfurter<br />

Allgemeinen Zeitung als »einziger ›Kitt‹ über den Riss der Glaubens-<br />

55 Ernst Gombrich bemerkt zum Manierismus, in welchem zahlreiche Künstler<br />

Michelangelo kopieren wollten, indem sie wie er »nackte Figuren in komplizierten<br />

Stellungen« zeichneten: »Was dabei herauskam, sah manchmal recht komisch<br />

aus: Ereignisse aus der biblischen Geschichte schienen sich im Beisein von trainierenden<br />

Sportklubs abzuspielen«, Ernst H. Gombrich: Die Geschichte der Kunst,<br />

Berlin 16 2001, S. 361.<br />

56 Original: »(…) de permettre aux historiens de l’art de faire connaître au grand<br />

public toute la valeur du mot de ›maniérisme‹ qui est employé généralement dans<br />

un sens péjoratif.« Dos. 20016–1, ohne Datum, »Memorandum, Deuxième Exposition<br />

Européenne« vom 22. und 23. 1. 1955, S. 2.


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 35<br />

spaltung hinweg« bezeichnet, »eine wahrhaft internationale Kunst.« 57 Die<br />

Frankfurter Rundschau resümierte, dass zu einer Zeit, in der das politische<br />

<strong>Europa</strong> in »Streit und Hader« lag, »die Kunst zur letzten verbindenden<br />

Klammer« wurde. Sie allein habe »die Hoffnung auf den Fortbestand <strong>Europa</strong>s«<br />

genährt. Neben dem »ästhetischen Genuss« sei die Schau vor allem ein<br />

»Appell an die Gegenwart, im Kunsterlebnis der Vergangenheit, die Zukunft<br />

zu bedenken.« 58<br />

Für die zweite »Council of Europe Art Exhibition« steuerten nicht weniger<br />

als 156 Leihgeber aus zwölf Ländern Exponate bei. Um einige Exponatstypen<br />

reicher als ihre Vorgängerin, zeigte die Manierismus-Ausstellung auch<br />

Möbel, Goldschmiedekunst und – als einzige der sechs ersten Ausstellungen<br />

– einige Waffen und Rüstungen. Die Amsterdamer Ausstellungsmacher<br />

bewiesen damit ein breit gefächerteres Verständnis vom Begriff der »<strong>Kultur</strong><br />

einer Gesellschaft« als ihre Kollegen in Brüssel, Rom, London und Paris.<br />

Jene scheuten sich durchaus nicht, Werke zu zeigen, die sich mit den Themen<br />

»Krieg« und »Tod« beschäftigten: In jeder dieser vier Ausstellungen lassen<br />

sich entsprechende Exponate finden. (Die Münchner Ausstellung stellt<br />

insofern eine Ausnahme dar, als dass diese Themen in der Kunst des Rokoko<br />

bewusst vermieden wurden.) In England widmete man 1959 sogar einen<br />

eigenen Raum den »Images of Power«, die Themen wie Gewalt, Feuer, Schiffbrüche<br />

und eben auch Krieg im Stil der Romantik interpretierten. Die Amsterdamer<br />

Ausstellung aber beschränkte sich nicht auf die Präsentation der<br />

Wahrnehmung und der künstlerischen Verarbeitung der europäischen Bruderkriege,<br />

sondern zeigte mit wenigen Exponaten auch deren Werkzeuge.<br />

Dies ist umso bemerkenswerter, als dass die Vorstellung des <strong>Europa</strong>rats von<br />

der »europäischen <strong>Kultur</strong>« deutlich von der Nachkriegszeit geprägt war.<br />

<strong>Kultur</strong>, europäische <strong>Kultur</strong> wurde von den Begründern des <strong>Europa</strong>rats<br />

über zeitgenössisch positiv besetzte Attribute definiert, bzw. konstruiert.<br />

Europäische <strong>Kultur</strong> wurde vom <strong>Europa</strong>rat als das Element begriffen, das<br />

nach Denis du Rougemont »die Größe <strong>Europa</strong>s« aus<strong>macht</strong>e. 59 Begreift man<br />

jedoch <strong>Kultur</strong> als ein System, »das einer Gesellschaft eine unverwechselbare<br />

Gestalt gibt und wesentliche Wertorientierungen begründet«, 60 dann<br />

umfasst dieses System allerdings nicht nur die positiv konnotierten Errungenschaften<br />

einer Gesellschaft, wie etwa die Kunst, die Ideen von Freiheit,<br />

57 Lambert Einhaus: Triumph des Manierismus? Zur Ausstellung im Amsterdamer<br />

Rijks-Museum, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 13. 8. 1955.<br />

58 Gerhard Schön: Kunst – Klammer <strong>Europa</strong>s. ›Der Triumph des Manierismus‹ – Die<br />

zweite Ausstellung des <strong>Europa</strong>rats in Amsterdam, in: Frankfurter Rundschau v.<br />

5. 8. 1955.<br />

59 Denis du Rougemont auf dem Haager Kongress, zit. nach: Schwenke, S. 48.<br />

60 Klaus von Beyme: <strong>Kultur</strong>politik und nationale Identität. Studien zur <strong>Kultur</strong>politik<br />

zwischen staatlicher Steuerung und gesellschaftlicher Autonomie, Wiesbaden<br />

1998, S. 11. Von Beyme beruft sich auf: Hilmar Hoffmann: <strong>Kultur</strong> für morgen,<br />

Frankfurt am Main 1986, S. 126.


36 Lorenz Richter<br />

Demokratie etc. Nach dieser Definition umfasst<br />

das System »<strong>Kultur</strong>« auch die negativen Seiten,<br />

etwa die kriegerischen Elemente oder die<br />

gerade in Kriegszeiten missbrauchten Werte wie<br />

»Ehre«, »Mut«, »Pflichtgefühl« und so weiter.<br />

Diese im Entstehungskontext des <strong>Europa</strong>rats<br />

negativ geprägten Aspekte einer umfassenden<br />

<strong>Kultur</strong>definition finden sich nicht in seinen<br />

Dokumenten. Amsterdam aber wollte sich nicht<br />

auf die Darstellung der positiven Elemente, der<br />

»Größe« <strong>Europa</strong>s beschränken lassen. Der in der<br />

ersten Ausstellung mit geradezu euphemistischen<br />

Werten belegte Begriff der »europäischen<br />

<strong>Kultur</strong>« wurde in den Niederlanden um die Darstellung<br />

gesellschaftlicher Realität in der Zeit<br />

der Konfessionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts<br />

erweitert.<br />

»Die Öffnung des<br />

fünften Siegels« (1608)<br />

von El Greco, zu sehen<br />

in der Ausstellung<br />

»Der Triumph des<br />

Manierismus. Von<br />

Michelangelo bis<br />

El Greco« 1955<br />

in Amsterdam.<br />

Das reiselustige Jahrhundert: »Das 17. Jahrhun dert in <strong>Europa</strong>:<br />

Realismus, Klassizismus und Barock« 1956 in Rom<br />

Die Veranstalter der dritten Europäischen Kunstausstellung »Das 17. Jahrhun<br />

dert in <strong>Europa</strong>: Realismus, Klassizismus und Barock« sahen sich mit<br />

vielschichtigen Problemen − politischer, finanzieller und inhaltlicher Natur<br />

− konfrontiert. Die Eröffnung fiel in einen politisch unruhigen Herbst:<br />

Suezkrise und Ungarnaufstand als Ursachen für eine »zeitweilig wahrgenommene<br />

allgemeine Kriegsgefahr« beschäftigten nicht nur die europäische<br />

Öffentlichkeit und Politik. 61 Auch die Organisatoren der römischen Ausstellung<br />

bekamen die Auswirkungen der allgemeinen Unsicherheit zu spüren,<br />

als sich zahlreiche Leihgeber erst nach einigem Zögern überzeugen ließen,<br />

ihre versprochenen Exponate nach Rom zu schicken. 62<br />

Die offenen Fragen bezüglich der horrenden Versicherungs- und Transportkosten<br />

führten dazu, dass nur wenige Werke nichtitalienischer Künstler<br />

gezeigt wurden, wohingegen eine »erdrückende Fülle« italienischer Werke<br />

vorherrschte. 63 Die vom <strong>Europa</strong>rat intendierte übernationale Einheit der<br />

gezeigten Exponate, der »europäische Charakter« der Ausstellung wurde<br />

61 Jost Dülffer: <strong>Europa</strong> im Ost-West-Konflikt 1945–1990, München 2004, S. 29.<br />

62 Dos. 20017–1, 8. 5. 1957, EXP/Cult(57)56, »Report on the third Council of Europe<br />

Art Exhibition«, S. 2.<br />

63 Hans Bauer: <strong>Europa</strong>s Antlitz in der Kunst. Die große Ausstellung der Malerei des<br />

17. Jahrhunderts in Rom, in: Die Presse v. 28. 2. 1957. S. auch: Märta Larsson: Les<br />

œuvres d’art, doivent-ils voyager? in: Svenska Dagbladet v. 10. 12. 1956; Walter<br />

Lucas: Art of 17th Century in Rome. Caravaggio Restoration on Display, in: The


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 37<br />

dementsprechend in den wenigsten Rezensionen betont.<br />

Schon der Untertitel »Realismus, Klassizismus und<br />

Barock« suggerierte, dass ein einheitlicher europäischer<br />

Kunststil im 17. Jahrhundert selbst von den Ausstellungsmachern<br />

nicht ausge<strong>macht</strong> werden konnte. So schlossen<br />

sich die Journalisten der Aussage der Pressemitteilung<br />

des <strong>Europa</strong>rats an, dass »artists of every country are to<br />

be found working together, united by their artistic ideals<br />

and indifferent to national barriers.« 64 Von einem »außerordentlich<br />

reiselustigen Jahrhundert« 65 war die Rede und<br />

von »Prozessionen von Künstlern« auf den Straßen <strong>Europa</strong>s.<br />

66 Hier wurde das kulturell vereinte <strong>Europa</strong> des 17.<br />

Jahrhunderts mittels des übernationalen Denkens seiner<br />

Künstler konstruiert – eine Argumentation, die auch<br />

im Rahmen der Humanismus-Ausstellung in ähnlicher<br />

Weise anzutreffen gewesen war.<br />

Doch während einige Stimmen meinten, die Ausstellung<br />

erbringe auf »herrliche Art den Beweis (…), dass (…)<br />

der europäische Gedanke eine Wirklichkeit war auf dem<br />

Gebiete der Kunst«, 67 wollte das Argument des »reiselustigen<br />

Jahrhunderts« einigen Kritikern nicht reichen. Der<br />

Versuch, verallgemeinerbare Formeln für ganze Epochen<br />

finden zu wollen, so eine renommierte englische Fachzeitschrift für Kunst,<br />

trüge den Beigeschmack von Künstlichkeit. 68<br />

»Das geschminkte Zeitalter«:<br />

»Europäisches Rokoko« 1958 in München 69<br />

»Madonna di Loreto«<br />

(1602–1604) von<br />

Caravaggio, Titelbild<br />

der Ausstellung »Das<br />

17. Jahrhundert in<br />

<strong>Europa</strong>: Realismus,<br />

Klassizismus und<br />

Barock« 1956 in Rom.<br />

Seit dem ersten Treffen der Kunstfachleute von 1953 stand die junge Bundesrepublik<br />

als potenzieller Veranstalter einer Europäischen Kunstausstellung<br />

zur Debatte. 1958 sollte es im Rahmen der 800-Jahr-Feier der Stadt München<br />

mit »Europäisches Rokoko« soweit sein. Die »besondere Vielschich-<br />

Christian Science Monitor v. 12. 1. 1957; European Art in the 17th Century. Big Loan<br />

Exhibition in Rome, in: The Times v. 12. 1. 1957.<br />

64 Dos. 20017–1, ohne Datum, Aktennummer A 31.307, Third European Exhibition:<br />

The seventeenth century in Europe, S. 2.<br />

65 Bauer, in: The Times v. 12. 1. 1957.<br />

66 Seventeenth century art in Europe, in: Elvina Press, ohne Datum.<br />

67 Europäische Wirklichkeit in der Kunst, in: Luxemburger Wort v. 11. 1. 1957.<br />

68 Denys Sutton: Seventeenth-Century Art in Rom, in: The Burlington Magazine,<br />

Nr. 649, 4 (1957), S. 109–115, hier S. 109 f.<br />

69 »Das geschminkte Zeitalter« war die Überschrift einer Rezension in der Stuttgarter<br />

Zeitung vom 16. 6. 1958.


38 Lorenz Richter<br />

tigkeit und Vielgestaltigkeit« 70 der Rokokozeit stellte dabei die beteiligten<br />

Kunst- und Museumsfachleute vor die Herausforderung, dennoch der Idee<br />

der kulturellen Einheit <strong>Europa</strong>s gerecht zu werden.<br />

Die zeitliche Einengung des Ausstellungsthemas sollte das Problem<br />

lösen. Man einigte sich auf eine ungefähre Spanne von 1720 bis 1760 als<br />

die Phase, die »am ehesten im europäischen Sinne als Einheit dargestellt<br />

werden kann.« 71 Das Bild <strong>Europa</strong>s, das zur Vermittlung des »europäischen<br />

Gedankens« anvisiert wurde, war demnach ein »Hochglanzbild« und somit<br />

die Inszenierung des Ideals einer kulturellen europäischen Einheit. Es wäre<br />

jedoch verfehlt, diese Tatsache allein dem politischen Kalkül zuzuschreiben,<br />

über die Ausstellungen ein ideales Einheitseuropa konstruieren und kommunizieren<br />

zu wollen. Schon im ersten offiziellen Schriftstück zur Bewerbung<br />

der Ausstellungsidee vom Herbst 1952 wurde hervorgehoben, dass die<br />

Exponate »of a popular nature« sein müssten, »if we are to impress not only<br />

the educated public but the man in the street.« 72 Schon auf der nächsten<br />

<strong>Europa</strong>ratsausstellung, 1959 in London, zeigte sich, dass diese Forderung<br />

durchaus begründet war.<br />

Die Romantik-Schau wurde in zwei getrennten Galerien untergebracht,<br />

von denen eine nur wenige Besucher zu verzeichnen hatte. In der – stark<br />

besuchten – Tate Gallery wurden ausschließlich Gemälde und Skulpturen<br />

ausgestellt, während in der – schwach besuchten – Arts Council Gallery die<br />

Graphiken, Drucke, Manuskripte und Bücher ausgelagert wurden. Nur ein<br />

Bruchteil der Ausstellungsgäste <strong>macht</strong>e sich die Mühe, den zweiten Teil der<br />

Romantik-Ausstellung mit seinem eher informativen Anspruch zu besuchen.<br />

Der <strong>Europa</strong>rat sah sich darauffolgend mit der Frage konfrontiert, ob<br />

man zugunsten visuell ansprechender aber wenig edukativer Ausstellungen<br />

auf einen gewissen Informationsgehalt verzichten sollte, bzw. wie solche<br />

Informationen in die Ausstellungen eingearbeitet werden könnten, ohne<br />

deren Anziehungskraft zu verringen.<br />

Die Anziehungskraft der Münchener Rokoko-Ausstellung hingegen bot<br />

keinen Anlass zur Sorge. Über 260.000 Besucher wurden an den 113 Ausstellungstagen<br />

gezählt, mehr als doppelt so viele wie in der bislang erfolgreichsten<br />

europäischen Kunstausstellung in Rom. »Eine derart hohe Besucherzahl<br />

für eine Ausstellung hat es wohl in München noch nie gegeben«,<br />

so der wissenschaftliche Sekretär der Ausstellung in der Süddeutschen Zeitung.<br />

»Englische Kollegen haben uns versichert, dass sogar in dem viel grö-<br />

70 Dos. 20018, 7. 5. 1957, Brief von Theodor Müller, Direktor des Bayrischen Nationalmuseums,<br />

an Werner von Schmieden.<br />

71 Dos. 20018, 5. 2. 1957, »Protokoll über die erste Sitzung des Ausschusses zur wissenschaftlichen<br />

Vorbereitung der Ausstellung des <strong>Europa</strong>rats in München 1958«, S. 3.<br />

72 Dos. 20015–1, 29. 8. 1953, EXP/Cult/Art(53)1, »Memorandum presented by the<br />

Belgian delegation on the organisation of an exhibition devoted to humanist<br />

Europe«, S. 2.


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 39<br />

ßeren London kaum jemals Besucherzahlen erreicht werden wie jetzt hier.« 73<br />

Die Begeisterung des »durchschnittlichen« Publikums war symptomatisch<br />

für den Anklang, den die Rokoko-Schau bei den Kunstjournalisten fand.<br />

Die Veranstaltung wurde als »große« und »glanzvolle«, 74 als »unvergessliche«<br />

75 und »überwältigende« 76 Ausstellung bezeichnet, von der »schönsten,<br />

seit 1945 gezeigten Ausstellung in <strong>Europa</strong>« 77 und einer »historischen<br />

Weltausstellung« 78 war die Rede. Und laut der Times war »selten, vielleicht<br />

nie zuvor (…) eine so hervorragende und verdichtete Schau der Kunst des<br />

18. Jahrhunderts unter einem Dach zusammengetragen worden«. 79 Diesem<br />

Eindruck tat auch die im Vorfeld diskutierte Vielschichtigkeit der Epoche<br />

keinen Abbruch. Selbst die wenigen Kritiken, die Schwachstellen in der<br />

Inszenierung des europäischen Rokoko aus<strong>macht</strong>en, stellten die kulturelle<br />

Einheit <strong>Europa</strong>s im 18. Jahrhundert nicht in Frage. Einvernehmlich wurde<br />

von einem »großen europäischen Jahrhundert« gesprochen, 80 von <strong>Europa</strong><br />

als einer »sehr eng verflochtene[n] kulturelle[n] Einheit« 81 und vom Rokoko,<br />

das glaubhaft als »mächtige, ganz <strong>Europa</strong> beherrschende Welle« präsentiert<br />

würde. 82<br />

Dass diese Inszenierung der kulturellen Einheit <strong>Europa</strong>s so kritiklos<br />

akzeptiert wurde, lag nicht daran, dass die Organisatoren die Heterogenität<br />

des Rokoko zu verschweigen versucht hätten. Neben übernationalen<br />

Themen wie »Das Menschenbild«, »Die Pastorale – Sehnsucht nach ländlicher<br />

Einfachheit«, »Der Einfluss des Fernen Ostens – die Chinamode« und<br />

zahlreichen anderen Fragestellungen, legte die Ausstellung mit Themen<br />

73 Zit. nach Friedrich Müller: Rokoko – seit gestern vorbei. Ende der Jubiläumsausstellung<br />

der Residenz/Kunstkenner warten auf ihren Besitz, in: Süddeutsche Zeitung<br />

v. 16. 9. 1958.<br />

74 Wilhelm Westecker: Zur Münchener Rokokoausstellung. Menschen spielten Götter,<br />

in: Christ und die Welt v. 14. 8. 1958.<br />

75 Dagmar Ackermann: Abschied von einem Jahrhundert. Nachruf auf die große<br />

Rokoko-Ausstellung in München, in: Saarbrücker Zeitung v. 17. 9. 1958.<br />

76 Richard Biedrzynski: Das geschminkte Zeitalter/Zur großen Rokoko-Ausstellung<br />

in München, in: Stuttgarter Zeitung v. 16. 6. 1958.<br />

77 N. v. Holst: Apotheose des Rokoko. Die große <strong>Europa</strong>rat-Ausstellung in München,<br />

in: Westfälische Nachrichten Münster v. 2. 7. 1958.<br />

78 Erich Pfeiffer-Belli: Das Jahrhundert des Rokoko. Zur Ausstellung in der Münchner<br />

Residenz, in: Süddeutsche Zeitung v. 14. 6. 1958.<br />

79 Zit. nach Friedrich Müller: Rokoko – seit gestern vorbei. Ende der Jubiläumsausstellung<br />

der Residenz/Kunstkenner warten auf ihren Besitz, in: Süddeutsche<br />

Zeitung v. 16. 9. 1958.<br />

80 Wolfgang Drews: Ein Jahrhundert lädt zu Gast. Die große Münchener Rokoko-<br />

Ausstellung, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung – Wochenbeilage v. 07.1955.<br />

81 Neue Züricher Zeitung, 8. 7. 1958, »›Das Jahrhundert des Rokoko‹. Ausstellung in<br />

München«, von mst.<br />

82 Peter Trumm: Rokoko. Gestern wurde in der Münchner Residenz die große Rokoko-Ausstellung<br />

eröffnet, in: Münchner Merkur v. 16. 6. 1958.


40 Lorenz Richter<br />

wie »Venezianische Kunst«, »Kirchliche Kunst Bayerns« oder »Französische<br />

und italienische Genremalerei« auch regionale und nationale Strömungen<br />

der Zeit offen. 83 Die insgesamt 34 Räume der Rokoko-Schau hätten es vermocht,<br />

so das »Echo der Zeit«, »sowohl die Gemeinschaftlichkeit der europäischen<br />

<strong>Kultur</strong> wie auch die nationalen Charaktere sichtbar« zu machen. 84<br />

Mit dem Ansatz, nationale Strömungen gesondert aufzuzeigen, dienten die<br />

Ausstellungsmacher durchaus dem erklärten Ziel der Ausstellungsreihe, ein<br />

übernationales, europäisches Bewusstsein zu schaffen. Die Konstruktion<br />

einer übernationalen Identität − über diverse nationale Identitäten − bildete<br />

schließlich keinen Widerspruch: »Die Identität, die alleine die geistige<br />

Grundlage des vereinigten <strong>Europa</strong> bilden kann, unterscheidet sich formell<br />

überhaupt nicht von irgendeiner der einzelnen nationalen Identitäten, auf<br />

denen die ihm zugehörigen Nationalstaaten beruhen. Wäre <strong>Europa</strong> doch<br />

auch nichts anderes als ein Vielvölkerstaat, wie beinahe alle europäischen<br />

Staaten, würde es dadurch doch ebenso wenig wie diese daran gehindert,<br />

sich als eine, alle anderen einschließende, in diesem Falle also europäische<br />

Nation zu verstehen.« 85<br />

Der »größte Verdienst« der Ausstellung sei es laut Presse aber gewesen,<br />

dass sie sich nicht auf die Präsentation des konventionellen Bildes des Rokoko<br />

beschränkt hätte, das in den Kritiken mit Schlagworten wie »Leichtfertigkeit«,<br />

»Grazie«, »Charme«, »Lebenskunst«, »Selbstverliebtheit« beschrieben<br />

wurde. 86 In den Augen mehrerer Kritiker gelang es ihr vielmehr, hinter die<br />

Fassade des schönen Scheins zu blicken und damit eine neue Perspektive<br />

auf das Rokoko zu eröffnen. 87 Die Organisatoren zeigten eine differenzierte<br />

und spannungsgeladene <strong>Kultur</strong>, obwohl sie mittels einer anderen Auswahl<br />

83 Vgl. dazu die Auflistung der Ausstellungsthemen in: Das Jahrhundert des Rokoko.<br />

Ausstellung unter den Auspizien des <strong>Europa</strong>rats in der Residenz zu München, in:<br />

Bulletin Nr. 120, 8. 7. 1958, S. 1266–1268, hier S. 1268.<br />

84 Philipp Baude: Europäisches Rokoko. Kunst und <strong>Kultur</strong> des 18. Jahrhunderts in<br />

München, in: Echo der Zeit, 6. 7. 1958; S. auch: Die Überwindung der Schwerkraft.<br />

Münchens Jubiläumsausstellung ›Europäisches Rokoko‹, in: Sonntagsblatt v.<br />

31. 8. 1958.<br />

85 Kurt Hübner: Geistige Grundlagen eines Vereinigten <strong>Europa</strong>, in: Gerhard Seifert<br />

(Hg.): Vereinigtes <strong>Europa</strong> und nationale Vielfalt – Ein Gegensatz? Hamburg 1994,<br />

S. 11–25, hier S. 21.<br />

86 Gerhard Schön: Europäisches Rokoko. Zur 4. Ausstellung des <strong>Europa</strong>rats in München,<br />

in: Badische Zeitung v. 21. 6. 1958.<br />

87 Richard Biedrzynski: Das geschminkte Zeitalter/Zur großen Rokoko-Ausstellung<br />

in München, in: Stuttgarter Zeitung v. 16. 6. 1958; Erich Pfeiffer-Belli: Üppiger<br />

Abschied des feudalen <strong>Europa</strong>. Das übliche Bild vom Rokoko stimmt nicht –<br />

Münchens schönste Geburtstagsgabe: eine Ausstellung, in: Die Welt v. 19. 6. 1958;<br />

Gerhard Schön: Europäisches Rokoko. Zur 4. Ausstellung des <strong>Europa</strong>rats in München,<br />

in: Badische Zeitung v. 21. 6. 1958; Rudolf Goldschmitt: Geschminktes und<br />

ungeschminktes Rokoko. Zur Münchener Ausstellung ›Kunst und <strong>Kultur</strong> des 18.<br />

Jahrhunderts‹, in: Der Tagesspiegel v. 3. 7. 1958.


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 41<br />

an Exponaten auch ohne Weiteres eine propagandistische Beschönigung der<br />

europäischen Geschichte zugunsten des »europäischen Gedankens« hätten<br />

betreiben können.<br />

Eine inhaltliche Neuerung zugunsten des Einheits-Gedankens:<br />

»Die Romantische Bewegung« 1959 in London<br />

Die Arbeit an der Londoner Veranstaltung »Die Romantische Bewegung«<br />

von 1959 brachte inhaltlich eine wesentliche Neuerung, die dazu führen<br />

sollte, den Einheits-Gedanken mehr als die bisherigen Ausstellungen zu<br />

unterstreichen. Die Exponate der vorhergehenden Ausstellungen waren in<br />

Gruppen nach der jeweiligen nationalen Kunstschule präsentiert worden,<br />

italienische Werke hingen und standen also bei italienischen Werken, holländische<br />

bei holländischen usw. Dahinter steckte allerdings keine tiefere<br />

Absicht: Ebenso wenig wie ein inhaltlicher »Fahrplan« für die Ausstellungen<br />

existierte, gab es vor der Londoner Ausstellung Absprachen, wie die<br />

Kunstwerke anzuordnen seien. Die bisherige Hängung entsprach schlichtweg<br />

den museologischen Konventionen. Im März 1958 vertraten die Kunstfachleute<br />

dann die Meinung, dass »the former arrangement was contrary<br />

to the whole purpose of the Council of Europe exhibitions«. Demzufolge<br />

sollte die Hängung der Exponate unabhängig von ihrer Nationalität und<br />

zugunsten ihrer thematischen Ausrichtung erfolgen. 88 Nur ein Kunstkenner<br />

konnte jetzt noch auf den ersten Blick die nationale Schule der betrachteten<br />

Werke bestimmen. Für den Laien entstand ein Gesamteindruck, in<br />

dem die Nationalitäten der Künstler – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete<br />

Rolle spielten.<br />

Ein größeres <strong>Europa</strong> in der Kunst:<br />

»Die Quellen des 20. Jahrhunderts« 1960 in Paris<br />

Als letzte der sechs <strong>Europa</strong>rats-Ausstellungen, welche die großen Kunstepochen<br />

der letzten fünf europäischen Jahrhunderte behandelten, fand in<br />

der französischen Hauptstadt »Les Sources du XXe Siècle«, »Die Quellen<br />

des 20. Jahrhunderts« statt. Die Ausstellung behandelte den Zeitraum zwischen<br />

1884 und 1914. 89 Die beteiligten Kunstfachleute vertraten die Ansicht,<br />

dass die Ausstellung die Einheit der europäischen <strong>Kultur</strong> nicht über einen<br />

88 Dos. 20019, 6. 5. 1958, EXP/Cult(58)11, »Minutes of the 1st meeting of the international<br />

committee for the Council of Europe Exhibition »The Romantic Movement«,<br />

S. 4.<br />

89 1884 markiert die Gründung des »Salon des Indépendants« und damit das Ende<br />

des französischen Impressionismus, 1914 den Beginn des Ersten Weltkriegs.


42 Lorenz Richter<br />

gemeinsamen Kunststil definieren könne. Die enorme Vielschichtigkeit der<br />

künstlerischen Bewegungen, die sich in den fraglichen Jahren entwickelten,<br />

lasse dies nicht zu. Stattdessen sollten diese zumeist nationalen Kunstbewegungen<br />

einander gegenüber gestellt werden, bei Betonung ihrer Gemeinsamkeiten,<br />

Differenzen und wechselseitigen Beeinflussungen. 90 Das Grundprinzip<br />

der europäischen <strong>Kultur</strong>, wie es zehn Jahre zuvor vom Ausschuss<br />

für kulturelle und wirtschaftliche Angelegenheiten formuliert worden war,<br />

zeigte sich in der sechsten <strong>Europa</strong>ratsausstellung so deutlich wie selten<br />

zuvor: Die europäische <strong>Kultur</strong> ist »one and varied«, 91 es galt das Prinzip der<br />

»Einheit in Vielheit«.<br />

Mit 1.346 Nummern im Ausstellungskatalog wurde die in München mit<br />

1233 Exponaten begonnene Gigantomanie der <strong>Europa</strong>ratsausstellungen<br />

fortgesetzt. Unter den Exponaten fanden sich nicht weniger als sechs Chagalls,<br />

siebzehn van Goghs, siebzehn Picassos und dreizehn Kandinskys,<br />

um nur einige zu nennen. Letzterer reihte sich zu den Künstlern, deren<br />

Wurzeln in Osteuropa lagen, unter ihnen der russische Mitbegründer der<br />

»Blauen Vier« Alexej von Jawlensky, der aus der Ukraine stammende Bildhauer<br />

und Maler Alexander Archipenko, der Tscheche František Kupka<br />

und andere mehr. Die Pariser Ausstellung zeigte also auch – Kunstkenner<br />

hätten anderes kaum verziehen – die Einflüsse, die von außerhalb der<br />

Grenzen des »<strong>Europa</strong>rats-Euro pas« auf die Kunst des Jahrhundertwechsels<br />

einwirkten. Das kulturelle <strong>Europa</strong> wurde über politische Grenzen<br />

hinaus geöffnet, um zu zeigen, »dass die Grenzen der Staaten nicht immer<br />

auch Grenzen für den Geist gewesen sind«, wie es in der Eröffnungsansprache<br />

hieß. 92<br />

Indem die Ausstellungsmacher die Werke osteuropäischer Künstler<br />

in die Ausstellung inte grierten, missachteten sie das Identität stiftende<br />

Potenzial, das in der politischen Abgrenzung Westeuropas gegenüber der<br />

Sowjetunion, insbesondere Russlands lag. Der Historiker Richard Löwenthal<br />

konstatierte Mitte der 1980er Jahre, dass die Teilung von Ost- und<br />

Westeuropa das Bewusstsein der westeuropäischen Gemeinsamkeiten<br />

gestärkt habe. 93 Diese Ansicht stimmt mit Identitätstheorien verschiedener<br />

wissenschaftlicher Fachrichtungen überein, die eine einfache Möglich-<br />

90 Dos. 20020, 3. 2. 1959, EXP/Cult/B(59)3, »Memorandum from the French Delegation<br />

on the 1960 Exhibition ›The Sources of Twentieth Century Art – The Arts in<br />

Europe from 1884 to 1914‹«.<br />

91 Document 101.<br />

92 Original: »que les frontières des Etats n’en ont pas toujours été pour l’esprit«.<br />

Eröffnungsansprache des Stellvertretenden Generalsekretärs am 4. 11. 1960. Dos.<br />

20020, fälschlicherweise auf den 4. 11. 1961 datiert, korrekt ist das Jahr 1960, »Projet<br />

d’allocution à prononcer par M. le Secrétaire Général-Adjoint à l’occasion de<br />

l’inauguration de la 6ème exposition européenne«, S. 2.<br />

93 Richard Löwenthal: Die Gemeinsamkeiten des geteilten <strong>Europa</strong>, in: Werner Weidenfeld<br />

(Hg.): Die Identität <strong>Europa</strong>s, München 1985, S. 43–65, S. 55.


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 43<br />

keit zur Identitätskonstruktion in »Negationen«, 94 also in der Abgrenzung<br />

der eigenen Gruppe, des (positiv konnotierten) »Wir«, gegenüber von<br />

(negativ konnotierten) »Anderen« sehen. 95 In einer Zeit, in der emotional<br />

aufgeladene Begriffe wie »der Westen« oder »die Freie Welt« benutzt<br />

wurden, um gegenüber Schlagworten wie »der Ostblock« kollektive Identitäten<br />

zu formieren, gingen die Konstrukteure des kulturellen <strong>Europa</strong>s<br />

andere Wege. Ihr <strong>Europa</strong> wollte das vermeintliche »Andere« nicht ausgrenzen.<br />

Ganz im Sinne des <strong>Europa</strong>rats, der nicht danach strebte, »ein in sich<br />

abgeschlossenes <strong>Europa</strong> zu bauen«, 96 wollte sich die Pariser Ausstellung<br />

über aktuelle geografische und mentale Grenzen hinaus auf das »größere<br />

<strong>Europa</strong>« zurückbesinnen, so wie es die europäische Kunst vor dem Ersten<br />

Weltkrieg erlebt hatte.<br />

Die Präsentation dieser reichen und vielfältigen Kunst im Übergang vom<br />

19. zum 20. Jahrhundert sollte den sich dort manifestierenden »modernen<br />

Geist« charakterisieren, so Jean Cassou, der Generaldirektor der Ausstellung,<br />

in der Einleitung des Ausstellungskataloges. Ein Geist, der sich gegen Imperialismus<br />

und Nationalismus behaupten konnte und sich gerade in diesen<br />

Strömungen einer universalen Solidarität sicher sein konnte. Cassou schlägt<br />

dann einen überraschenden Bogen zur der ersten Ausstellung, mit der die<br />

Reihe 1954 ihren Anfang nahm, und die wie keine andere der Ausstellungen<br />

die »europäischen Werte«, allen voran die Idee der Freiheit jedes Menschen,<br />

inszeniert hatte: »The modern spirit has uprooted exclusive prejudices and<br />

revealed to us the spectacle of the reciprocal relativity of the ideas and forms<br />

of all civilizations. In all of them it has recognised the mark of man. And so<br />

it is the founder of humanism. A humanism that is, of course, ideal, and one<br />

94 »Alle Identität konstituiert sich über Negationen«, so Niklas Luhmann. Niklas<br />

Luhmann: Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Jürgen Habermas/Niklas<br />

Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt am Main,<br />

1971, S. 25–100, hier S. 60, zit. nach: Heinrich Schneider: Europäische Identität:<br />

Historische, kulturelle und politische Dimensionen, in: Rudolf Hrbek et al. (Hg.):<br />

Die Europäische Union als Prozeß. Verfassungsentwicklungen im Spiegel von 20<br />

Jahren der Zeitschrift Integration, Bonn 1998, ursprünglich erschienen in: Integration<br />

4 (1991), S. 160–176.<br />

95 Siehe u. a. Wolfgang Reinhard: Der ›Andere‹ als Teil der europäischen Identität.<br />

Vom ›Barbaren‹ zum ›edlen Wilden‹, in: Mariano Delgado/Matthias Lutz-Bachmann<br />

(Hg.): <strong>Europa</strong>. Wege zu einer europäischen Identität, München 1995,<br />

S. 132–152; Thomas Meyer: Die Identität <strong>Europa</strong>s. Der EU eine Seele? Frankfurt<br />

am Main 2004, S. 71; Michael Essig: Europäische Identitätsfindung. Das Reich als<br />

europäische Vision, Hildesheim/Zürich/New York 1999, S. 22.<br />

96 »Der <strong>Europa</strong>rat strebt (…) nicht danach, ein in sich abgeschlossenes <strong>Europa</strong> zu<br />

bauen, sondern ganz im Gegenteil, offen zu bleiben für alle Anregungen, die<br />

dazu dienen, die internationale Zusammenarbeit und den Frieden in der Freiheit<br />

zu fördern«, Presse- und Informationsabteilung des <strong>Europa</strong>rats: Der <strong>Europa</strong>rat<br />

1949–1959, Straßburg 1959, S. 50.


44 Lorenz Richter<br />

»Der Tag« (1900) von<br />

Ferdinand Hodler,<br />

zu sehen in der Ausstellung<br />

»Die Quellen<br />

des 20. Jahrhunderts«<br />

1960 in Paris.<br />

which has encountered, does encounter and will continue to encounter a<br />

thousand obstacles.« 97<br />

Beobachtungen zur Konstruktion des europäischen Gedankens<br />

in den Kunstausstellungen von 1954 bis 1960<br />

Das erklärte Ziel der Kunstausstellungen war es, das »europäische Bewusstsein«<br />

der Besucher, oder, um es in der heute gebräuchlichen Terminologie<br />

auszudrücken, deren »europäische Identität« zu stärken. Die Kunst wurde<br />

also nicht nur ihrer selbst willen präsentiert, sondern auch, um einen politischen<br />

Zweck zu erfüllen. So investierte der <strong>Europa</strong>rat einige Mühe darin,<br />

den Titel »Council of Europe Art Exhibition« als Marke zu etablieren. Als<br />

Organisation, die sich um die »greater unity« ihrer Mitglieder bemühte,<br />

stand ihr Name in der europäischen Öffentlichkeit der 1950er Jahre noch als<br />

Symbol für das Streben um die europäische Einheit. Die ständige Wiederholung<br />

eines Markennamens – in diesem Fall der Marke »<strong>Europa</strong>rat« – schafft<br />

Vertrauen in das Produkt und dessen ideologischen Inhalt, etwa die vertretene<br />

These einer existierenden kulturellen Einheit. Indem der <strong>Europa</strong>rat<br />

seinen assoziativ behafteten Namen mit den Titeln der jeweiligen Ausstellungen<br />

verband, trieb er also nicht nur die Konstruktion einer europäischen<br />

Wirklichkeit voran, 98 sondern ermöglichte es auch, ohne vertiefende Erklä-<br />

97 Jean Cassou, »The Sources of Twentieth Century Art«, in: Ausstellungskatalog zur<br />

6. <strong>Europa</strong>ratsausstellung: The Sources of the XXth Century. The Arts in Europe<br />

from 1884 to 1914, Paris 1960–1961, S. 15–29, hier S. 28.<br />

98 Dazu: Heidemarie Uhl: <strong>Europa</strong> kommunizieren – <strong>Europa</strong> visualisieren, in: Vrääth<br />

Öhner et al. (Hg.), S. 141–166, hier S. 154.


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 45<br />

rungen, das Grundkonzept der Veranstaltungen in den Köpfen der europäischen<br />

Bürger zu verankern. 99<br />

Im Folgenden wird die Frage gestellt, ob der <strong>Europa</strong>rat bzw. die nationalen<br />

Veranstalter zugunsten des Ausstellungsziels weitere Bemühungen<br />

unternommen haben, die Museumsbesucher explizit auf den europäischen<br />

Charakter der Veranstaltungen hinzuweisen. Dies hätte etwa durch den<br />

gezielten Einsatz von semantisch aufgeladenen Bildunterschriften (die auf<br />

den »europäischen« Charakter der Werke hingewiesen hätten) oder von<br />

<strong>Europa</strong>symbolik (etwa künstlerischen Interpretationen des Mythos’ von<br />

<strong>Europa</strong> und dem Stier) geschehen können.<br />

Die textuelle Konstruktion des <strong>Europa</strong>gedankens<br />

in den Ausstellungen<br />

Jedes Kunstwerk trägt in sich einen ihm eigenen<br />

Code, den es vom Betrachter zu decodieren gilt,<br />

sagt der französische Soziologe Pierre Bourdieu.<br />

Museale Hilfsmittel, wie etwa nahe den Exponaten<br />

angebrachte Erläuterungstafeln, können<br />

dem Betrachter den Werken innewohnende,<br />

ihm aber verschlossen bleibende Bedeutungen<br />

vermitteln. 100 Wenn also die Veranstalter der<br />

Europäischen Kunstausstellungen die Botschaft<br />

eines einheitlichen europäischen <strong>Kultur</strong>erbes<br />

haben vermitteln wollen, und davon ausgegangen<br />

sind, dass diese Botschaft noch nicht in den<br />

Köpfen der Zuschauer codiert war, liegt es nahe<br />

zu vermuten, dass sie dieses Ziel z. B. durch eine<br />

entsprechende Wortwahl in den angebrachten<br />

Erläuterungstafeln zu unterstützen versuchten.<br />

Für diese Untersuchung wurde davon ausgegangen,<br />

dass die Bildunterschriften in den Ausstellungsräumen<br />

identisch mit den Texten in den<br />

Ausstellungskatalogen sind, oder dass die Kataloge<br />

ein Plus an Informationen liefern, also mehr<br />

»Der Vitruvische<br />

Mensch« (1492) von<br />

Leonardo da Vinci,<br />

zu sehen in der Ausstellung<br />

»Humanistisches<br />

<strong>Europa</strong>« 1954<br />

in Brüssel.<br />

99 Rainer Gries: Zur Ästhetik und Architektur von Propagemen. Überlegungen zu<br />

einer Propagandageschichte als <strong>Kultur</strong>geschichte, in: Rainer Gries/Wolfgang<br />

Schmale (Hg.): <strong>Kultur</strong> der Propaganda, Bochum 2005, S. 9–35, hier S. 32 f.<br />

100 Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang davon, dass zugunsten des individuellen<br />

Rezeptionsniveaus des Betrachters das Emissionsniveau des Kunstwerkes<br />

vermindert wird. Pierre Bourdieu: Elemente zu einer soziologischen Theorie der<br />

Kunstwahrnehmung, in: Jürgen Gerhards (Hg.): Soziologie der Kunst. Produzenten,<br />

Vermittler und Rezipienten, Opladen 1997, S. 307–336, insb. S. 319.


46 Lorenz Richter<br />

Platz für eventuell zu vermittelnde Botschaften anbieten. Stellvertretend<br />

werden hier einige markante Beispiele beleuchtet.<br />

Leonardo Da Vincis sicherlich bekannteste Illustration, der »Vitruvische<br />

Mensch«, war 1954 im Palais des Beaux-Arts in Brüssel zu sehen. Dieses<br />

Meisterwerk verkörpert wie kaum ein anderes die humanistische Entdeckung<br />

des Menschen und hätte dementsprechend im Sinne des Ausstellungszieles<br />

von den belgischen Ausstellungsmachern beschrieben werden<br />

können. Tatsächlich findet sich nur ein Hinweis auf den Bekanntheitsgrad<br />

des Werks, sowie eine Übersetzung der handschriftlich angefügten Worte<br />

des italienischen Meisters. 101<br />

Im deutschen Katalog der Rokokoausstellung wird in der Beschreibung<br />

der ausgestellten Bücher deren Außenwirkung erwähnt. Zum Beispiel lautet<br />

der Text zum Ausstellungsstück Nr. 1004, der ersten illustrierten Ausgabe<br />

der »Leiden des jungen Werthers« von Johann Wolfgang von Goethe: »Der<br />

lyrische Briefroman, der die übersteigerte Empfindsamkeit der Zeit mit hinreißender<br />

Wirkung widerspiegelt, war von ungeheurer Wirkung auf die Literatur<br />

aller <strong>Kultur</strong>völker.« 102 Abgesehen davon, dass heute eine Formulierung<br />

wie »alle <strong>Kultur</strong>völker« mit dem gemeinten Sinn »(West-)<strong>Europa</strong>« (hoffentlich)<br />

nicht mehr anzutreffen wäre, waren solche schlichten Hinweise auf die<br />

übernationale Wirkung des betreffenden Exponats sehr spärlich gesät. Sie<br />

werden sicherlich ihren Teil dazu beigetragen haben, die Idee hinter dem<br />

Titel »Europäisches Rokoko« zu untermauern, nahmen aber keinen hervorragenden<br />

Platz in der Ausstellung ein.<br />

Alle sechs Kataloge bieten in kurzen Essays Informationen zum Lebenslauf<br />

der Künstler, deren Werke in den Expositionen ausgestellt wurden.<br />

Dem in Amsterdam Titel gebenden spanischen Maler griechischer Abstammung<br />

El Greco wird ähnlich viel Raum bemessen wie anderen aufgeführten<br />

Künstlern. Das knappe über ihn verfasste Essay zeugt von den südeuropäischen<br />

Stationen seines Lebensweges, gibt aber diesbezüglich auch nicht<br />

mehr Informationen als ein ähnlich gearteter Lexikonartikel und lenkt die<br />

Aufmerksamkeit des Lesers keinesfalls auf den – durchaus als solchen interpretierbaren<br />

– »europäischen« Charakter des Lebens von Doménikos Theotokópoulos.<br />

103<br />

Für die Frage nach der textuellen Codierung des europäischen Gedankens<br />

in den Bildunterschriften kann auch über die genannten Beispiele hinaus<br />

festgestellt werden, dass eine solche Codierung nicht stattgefunden hat. Die<br />

101 »Ce dessin d’un homme dans un cercle reproduisant le canon de proportions<br />

humaines de Vitruve est célèbre. La traduction du texte a été ajoutée de la main<br />

de Léonard«, Ausstellungskatalog zur 1. <strong>Europa</strong>ratsausstellung: L’Europe Humaniste,<br />

Brüssel 1954–1955, S. 104.<br />

102 Ausstellungskatalog zur 4. <strong>Europa</strong>ratsausstellung: Europäisches Rokoko. Kunst<br />

und <strong>Kultur</strong> des 18. Jahrhunderts, München 1958, S. 281.<br />

103 Ausstellungskatalog zur 2. <strong>Europa</strong>ratsausstellung: Le Triomphe Du Maniérisme<br />

Européen. De Michel-Ange au Gréco, Amsterdam 1955, S. 69.


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 47<br />

Bildunterschriften sind nicht auffällig »europäisch« im Sinne einer <strong>Europa</strong>propaganda<br />

oder, soweit in den Augen eines Fachunkundigen erkenntlich,<br />

einem anderen Thema gewidmet, als der »üblichen«, wissenschaftlich knappen<br />

Beschreibung des vom Ausstellungsbesucher Gesehenen.<br />

Die visuelle Konstruktion des <strong>Europa</strong>gedankens<br />

in den Ausstellungen<br />

Mythen sind »crucial for giving an emotional basis to identity«, wie die italienische<br />

Historikerin Luisa Passerini feststellt. 104 Und dem theoretischen<br />

Ansatz des visual turn folgend, der in der Geschichtswissenschaft in den<br />

letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat, ist davon auszugehen, dass<br />

auch »Bildern eine entscheidende Rolle bei der Prägung kollektiver Vorstellungen<br />

zukommt.« 105 Als ein mögliches Element der visuellen Repräsentation<br />

<strong>Europa</strong>s in den Kunstausstellungen wäre demnach die künstlerische<br />

Interpretation des Mythos’ der <strong>Europa</strong> auf dem Stier zu suchen. Seit dem 16.<br />

Jahrhundert (also seit dem Zeitraum, der ab der Amsterdamer Ausstellung<br />

abgedeckt wurde) fand die Darstellung des <strong>Europa</strong>mythos sinnbildlich für<br />

den Kontinent <strong>Europa</strong> Verbreitung. 106 Zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert<br />

sind über 270 Kunstwerke im europäischen Raum nachzuweisen,<br />

die den <strong>Europa</strong>mythos zum Thema haben. 107 Die Ausstellungsmacher hatten<br />

also ausreichend Material, um einen kleinen Fokus auf die künstlerische<br />

Interpretation der Geschichte der phönikischen Prinzessin <strong>Europa</strong> richten<br />

zu können.<br />

Unter den mehr als 4.500 Ausstellungsstücken aller Ausstellungen finden<br />

sich tatsächlich aber nur vier Exponate, die den <strong>Europa</strong>mythos thematisieren,<br />

allesamt ausgestellt in den Räumlichkeiten der Münchner Residenz.<br />

Zum Vergleich: In der Münchner Ausstellung wurden sieben Exponate<br />

allein Diana gewidmet, der Göttin des Mondes und der Jagd, darunter sechs<br />

Gemälde. 108 Nicht anders sah es in den anderen Europäischen Kunstausstellungen<br />

aus. Die griechische und römische Mythologie war entsprechend der<br />

Themen, die in der europäischen Kunst der letzten Jahrhunderte dargestellt<br />

104 Luisa Passerini: Dimensions of the Symbolic in the Construction of Europeanness,<br />

in: dies. (Hg.): Figures d’Europe. Images and Myths of Europe, Brüssel<br />

2003, S. 21–34, hier S. 27.<br />

105 Heidemarie Uhl, S. 160.<br />

106 Bodo Guthmüller: <strong>Europa</strong> – Kontinent und antiker Mythos« in: August Buck<br />

(Hg.): Der <strong>Europa</strong>-Gedanke, Tübingen 1992, S. 5–44, hier S. 10.<br />

107 Wolfgang Schmale: Geschichte <strong>Europa</strong>s, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 257.<br />

108 Ausstellungskatalog zur 4. <strong>Europa</strong>ratsausstellung: Europäisches Rokoko. Kunst<br />

und <strong>Kultur</strong> des 18. Jahrhunderts, München 1958, Nr. 15, 78, 143, 144, 161, 178/<br />

Zeichnung Nr. 339.


48 Lorenz Richter<br />

wurden, reichlich vertreten. Der <strong>Europa</strong>mythos findet sich aber mit Ausnahme<br />

der Münchner Schau nicht.<br />

Der Mangel an Darstellungen des <strong>Europa</strong>mythos’ in den Europäischen<br />

Kunstausstellungen ist offenkundig. Dies verwundert, da gerade seine<br />

künstlerische Verarbeitung über die Jahrhunderte hinweg als Beleg für die<br />

These einer gemeinsamen europäischen <strong>Kultur</strong>, mehr noch, als Beleg für ein<br />

jahrhundertealtes europäisches Bewusstsein fungieren könnte. Mögliche<br />

Ursachen wären Beschaffungsschwierigkeiten, die mangelnde Qualität der<br />

in Frage kommenden Kunstwerke oder das bewusste Umgehen dieses offensichtlich<br />

propagandistischen Themas.<br />

Vielleicht aber gibt es auch einen ganz banalen Grund, warum Darstellungen<br />

des <strong>Europa</strong>mythos’ kaum Eingang in die Europäischen Kunstausstellungen<br />

gefunden haben: Der identifikative Charakter des Mythos’ darf<br />

angezweifelt werden, wenn man bedenkt, dass nach seinem Wortlaut die<br />

Europäer aus der Entführung und Vergewaltigung einer Nichteuropäerin<br />

hervorgegangen sind. Das ist nicht unbedingt die Art von Geschichte, auf<br />

der ein neuer, ein starker und ein friedlicher Kontinent aufgebaut werden<br />

will. 109<br />

Das politische Potenzial europäischer <strong>Kultur</strong><br />

Unabhängig von dem eigentlichen, durchaus politischen Ziel der Europäischen<br />

Kunstausstellungen – das europäische Bewusstsein zu fördern – wurden<br />

diese mehrfach offen für andere politische Zwecke genutzt. So strebte<br />

die Bundesrepublik wie keine der anderen Veranstalternationen danach,<br />

13 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg mittels einer herausragenden Ausstellung<br />

ihre kulturelle Zugehörigkeit zu <strong>Europa</strong> öffentlichkeitswirksam<br />

auszudrücken. Das europäische Ausstellungskonzept wurde als geeignet<br />

befunden, das Bild einer einzelnen Nation – in diesem Fall der Bundesrepublik<br />

– in der Politik und der europäischen Öffentlichkeit zum Positiven zu<br />

verändern. Ein ähnlicher Ansatz ist im Rahmen der britischen Ausstellung<br />

von 1959 festzustellen. In London geschah dies allerdings nicht im Kontext<br />

des Zweiten Weltkrieges, sondern in dem der europäischen Einigung, bei<br />

der Großbritannien bis dahin eine zurückhaltende, oftmals blockierende<br />

Haltung eingenommen hatte. 110<br />

109 Vgl. dazu auch: Herfried Münkler: Die politische Idee <strong>Europa</strong>, in: Mariano Delgado/Matthias<br />

Lutz-Bachmann (Hg.): <strong>Europa</strong>. Wege zu einer europäischen Identität,<br />

München 1995, S. 9–27, hier S. 15–17.<br />

110 Der Brite John Edwards, Präsident der Beratenden Versammlung des <strong>Europa</strong>rats,<br />

hielt die Eröffnungsrede zur Romantik-Ausstellung in London. Er benannte<br />

die Ausstellung deutlich als Politikum zugunsten nationaler Interessen: »(…) The<br />

British are these days considered as lukewarm on the Continent to say the least,<br />

and even hostile to the idea of European community.« Auf die Ausstellung Bezug


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 49<br />

Das politische Potenzial der Europäischen Kunstausstellungen wurde bis<br />

zum Sommer 1959, dem Jahr der Londoner Ausstellung, trotzdem deutlich<br />

unterschätzt. In dem Memorandum von 1952, in dem die Ausstellungsreihe<br />

beworben wurde, war der vermeintlich unpolitische Charakter der Veranstaltungen<br />

sogar als Argument zugunsten der Reihe genutzt worden: »Again,<br />

these exhibitions would, having regard to their intrinsic cultural character,<br />

help to arouse the European conscience without being subjected to criticism<br />

from political or nationalist quarters.« 111 Dass es sich hierbei um eine eindeutige<br />

Fehleinschätzung handelte, zeigte 1959 die Diskussion um ein Gemälde<br />

von Eugène Delacroix, dem »Massaker von Chios«.<br />

Das 1824 geschaffene Werk »Das Massaker von Chios« von Eugène Delacroix<br />

war vom nationalen Veranstalter für die Ausstellung »Romantische<br />

Bewegung« in London als Titelbild gewählt<br />

worden. Das Massaker von Chios ereignete<br />

sich im Rahmen des Griechischen Unabhängigkeitskriegs<br />

gegen das Osmanische<br />

Reich (1821–1829), dessen Soldaten 1822<br />

die über 100.000 griechischen Bewohner<br />

der Insel Chios verschleppten und ermordeten.<br />

Delacroix bezog in seinem Gemälde<br />

deutliche Position für das griechische Volk.<br />

In »schäumenste[r], feuerfarbigste[r] Wirklichkeit«<br />

thematisiert das Bild den Konflikt,<br />

was dem Werk seitens seiner Gegner den<br />

Ruf einbrachte, ein »Massaker der Kunst« zu<br />

sein. 112 Dieses Meisterwerk der Romantik,<br />

das deutlich Partei gegen das Osmanische<br />

Reich ergreift, war also nun das Titelbild der<br />

Europäischen Kunstausstellung »Die Romantische<br />

Bewegung« unter den Auspizien des<br />

<strong>Europa</strong>rats.<br />

»Das Massaker von<br />

Chios« (1824) von<br />

Eugène Delacroix,<br />

Titelbild der Ausstellung<br />

»Die Romantische<br />

Bewegung«<br />

1959 in London.<br />

nehmend überlegte Edwards weiter: »I believe that by playing a full, active part<br />

in the Council of Europe, by cooperating whole-heartedly and taking the lead<br />

in sponsoring new activities, Great Britain would be rebuilding a foundation of<br />

good will which would help to restore her influence and credit among our European<br />

neighbours.« Diese Bemühungen, so Edwards, wären notwendig, um das<br />

eigentliche Ziel, nämlich »a United Europe« zu errichten. Dos. 20019, 6. 7. 1959,<br />

»Draft speech for the President of the Assembly«, S. 2 f.<br />

111 Dos. 20015–1, 29. 8. 1953, EXP/Cult/Art(53)1, »Memorandum presented by the<br />

Belgian delegation on the organisation of an exhibition devoted to humanist<br />

Europe«, S. 1.<br />

112 Egon Friedell: <strong>Kultur</strong>geschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele<br />

von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, München 1969, S. 1009.


50 Lorenz Richter<br />

Die europaweite Veröffentlichung des Plakats im Juli 1959 erfolgte nur<br />

vier Monate nach der mühevoll errungenen Unterzeichnung der Verträge<br />

von Zürich und London. In diesen hatten sich die Premierminister Griechenlands,<br />

der Türkei, Großbritanniens und die Führer der beiden Volksgruppen<br />

Zyperns auf eine Kompromisslösung zur Zypernfrage geeinigt, die zum Teil<br />

blutig ausgefochten worden war. In dieser angespannten politischen Lage,<br />

und kurz vor der Verlautbarung des Beitrittsgesuchs der Türkei in die EWG<br />

am 31. Juli 1959, traf die europaweit publizierte, Partei ergreifende Darstellung<br />

osmanischer Gräueltaten einen empfindlichen Nerv der Türken; umso<br />

mehr als dass es ohne weiteres möglich war, Parallelen zwischen dem von<br />

Delacroix Dargestellten und den aktuellen Ereignissen auf der Insel Zypern<br />

zu ziehen. Ob tatsächlich keinerlei politische Absichten hinter der Wahl<br />

des Titelplakats für die 59er Ausstellung steckten, wie von britischer Seite<br />

beteuert wurde, soll hier nicht zur Diskussion stehen. 113 Dass aber den Ausstellungsmachern<br />

die aktuellen politischen Prozesse und die Parallelen zu<br />

dem Thema des gewählten Gemäldes entgangen waren, ist äußerst unwahrscheinlich.<br />

114<br />

Im Sommer 1959 erhielten die Pressekorrespondenten beim <strong>Europa</strong>rat<br />

Werbematerialien zur neuen Europäischen Kunstausstellung, darunter das<br />

besagte Titelplakat. Die Reaktion aus Istanbul folgte prompt. Die Wahl des<br />

Plakates entspreche absolut nicht den Zielen des <strong>Europa</strong>rats, so der türkische<br />

Repräsentant im <strong>Europa</strong>rat, und müsse sofort europaweit eingezogen<br />

werden. 115 Diesem Wunsch wurde nicht entsprochen, die nächste Auflage<br />

des Ausstellungskataloges erhielt lediglich ein anderes Titelblatt.<br />

Auf der nächsten Sitzung der <strong>Kultur</strong>experten, im Dezember 1959, gingen<br />

sowohl der türkische als auch der griechische Delegierte in ihren Forderungen<br />

weiter. Dem Generalsekretär müsste die Pflicht auferlegt werden,<br />

inhaltlich in die Organisation der Ausstellungen einzugreifen, da laut griechischem<br />

Delegierten »die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats nicht ausschließlich<br />

künstlerischen Charakters [seien], sondern ein politisches Ziel<br />

beinhalten.« 116 Die Gegenantwort fiel deutlich aus. Robert Crivon, der als<br />

Chef der <strong>Kultur</strong>abteilung des Generalsekretariats seit 1953 die Ausstellungen<br />

betreut hatte, stellte mit Nachdruck heraus, dass weder er noch sonst<br />

ein Angestellter des Generalsekretariats die Rolle eines politischen Zensors<br />

113 Dos. 20019, 28. 10. 1959, AS/Bur(11)26, darin: Brief von Anthony Haighs an Robert<br />

Crivon vom 14. 10. 1959.<br />

114 Delacroix selbst hatte das Thema des Griechischen Unabhängigkeitskampfes<br />

auch deshalb ausgewählt, weil er öffentliche Reaktionen provozieren wollte – was<br />

ihm tatsächlich auch gelang. Harrison, Colin, »Delacroix, (Ferdinand-)​Eugène​<br />

(-Victor)«, in: Jane Turner (Hg.): The Dictionary of Art, Vol. 8, Cossiers to Diotti,<br />

London/New York 1996, S. 637–648, hier S. 647.<br />

115 Dos. 20019, 30. 7. 1959, Brief Mustafa Borovali an Lodovico Benvenuti.<br />

116 Original: »les expositions du Conseil de l’Europe ne sont pas purement artistiques,<br />

mais comportent un but politique.«


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 51<br />

einnehmen würde. Im Widerspruch zur griechischen Position stellte er klar,<br />

dass die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats keine politischen Veranstaltungen<br />

seien, im Gegenteil: Sie seien ausschließlich dazu gedacht, Licht auf das<br />

künstlerische Erbe <strong>Europa</strong>s zu werfen. 117<br />

Auch das Ministerkomitee beteiligte sich an der Debatte um die Romantik-Exposition<br />

− nicht zuletzt wohl, weil der <strong>Europa</strong>rat zuvor jahrelang im<br />

Zypernkonflikt zwischen der Türkei und Griechenland zu vermitteln versucht<br />

hatte. In seiner endgültigen Entscheidung sprach sich das Ministerkomitee<br />

für die Interventionsmöglichkeit des Generalsekretärs in der Ausstellungsvorbereitung<br />

aus. Nachdem der Generalsekretär seine Meinung<br />

geäußert hätte, würde die Verantwortung für die dargestellten Inhalte an die<br />

ausführende Regierung oder die beauftragten Organisatoren übergehen. 118<br />

Diese Beschlüsse wurden Ende April 1960 an den türkischen Abgeordneten<br />

der Beratenden Versammlung übermittelt und die Akte um das »Massaker<br />

von Chios« damit geschlossen. 119<br />

Die Idee der Freiheit im Spannungsfeld von <strong>Kultur</strong> und Politik<br />

Die Diskussion um das Delacroix-Gemälde berührte die substanziellen politischen<br />

Ziele des <strong>Europa</strong>rats und die Bedeutung der <strong>Kultur</strong> im Kontext dieser<br />

Ziele. Das eigentliche Dilemma ergab sich, als die Akteure erkannten,<br />

dass die Wahrung der allgemeinen Ziele in Konflikt mit der wertebetonten<br />

Definition der <strong>Kultur</strong> kommen müsse.<br />

Im ersten Artikel der Satzung des <strong>Europa</strong>rats war die Aufgabe formuliert<br />

worden, »einen engeren Zusammenschluss unter seinen Mitgliedern zu<br />

verwirklichen«. Um dieses Ziel zu erreichen, eigneten sich die Kunstausstellungen<br />

in zweierlei Hinsicht: Erstens inszenierten sie die kulturelle Einheit<br />

<strong>Europa</strong>s in der Absicht, ein »europäisches Bewusstsein«, eine »europäische<br />

Identität« zu schaffen. Zweitens konnten die Ausstellungen nur durch internationale<br />

Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten realisiert werden, womit die<br />

gewollte »größere Einheit« in politische Realität umgesetzt wurde. Die Wahl<br />

des »Massaker von Chios« als Titelblatt der fünften <strong>Europa</strong>ratsausstellung<br />

bewirkte hingegen das Gegenteil. Hier fungierte die <strong>Kultur</strong> nicht als einendes,<br />

sondern vielmehr als spaltendes Element. Die <strong>Kultur</strong>, welche die Basis<br />

für die erstrebte politische Einheit bilden sollte, wurde zum Nährboden<br />

117 Dos. 20019, 20. 1. 1960, CM(60)9, Annexe C, Procès-verbal de l’échange de vues<br />

sur: Droit de regard du Secrétariat Général sur le choix des affiches.<br />

118 Dos. 20019, 21. 3. 1960, CM(60)39, Expositions Européennes, Note du Secrétaire<br />

Général, S. 3. Identisch mit (den Akten nicht enthalten): Concl(60)84 i) bis v)<br />

(vgl. Dos. 20019, 26. 4. 1960, Handschriftlich korrigierter Entwurf eines Briefes<br />

von Lodovico Benvenuti an Basri Aktas).<br />

119 Dos. 20019, 26. 4. 1960, Handschriftlich korrigierter Entwurf eines Briefes von<br />

Lodovico Benvenuti an Basri Aktas.


52 Lorenz Richter<br />

eines Konflikts, der in der Straßburger Organisation noch lange nach dem<br />

Ende der Londoner Ausstellung diskutiert werden sollte.<br />

Die betroffenen Staaten, Griechenland und die Türkei, verlangten, dass<br />

der <strong>Europa</strong>rat die Inhalte der Ausstellungen kontrollieren, also in die Inszenierung<br />

der europäischen <strong>Kultur</strong> mit politischen Mitteln eingreifen solle.<br />

Vor dem Hintergrund des in Artikel 1 der <strong>Europa</strong>ratssatzung formulierten<br />

Ziels des »engeren Zusammenschlusses« hätte diese Forderung unmittelbar<br />

umgesetzt werden müssen. Das geschah aus zwei Gründen nicht:<br />

Erstens war das politische Potenzial der <strong>Europa</strong>ratsausstellungen innerhalb<br />

des <strong>Europa</strong>rats unterschätzt worden. 120 Gerade Robert Crivons Äußerungen<br />

auf der Sitzung der <strong>Kultur</strong>experten zeigen, dass aus Sicht des <strong>Europa</strong>rats<br />

eine klare Trennlinie zwischen <strong>Kultur</strong> und Politik gezogen wurde. Im Hinblick<br />

auf den zeitgenössischen historischen Kontext ist diese Haltung durchaus<br />

nachvollziehbar, hatten Nationalsozialismus und Sowjetregime schließlich<br />

die <strong>Kultur</strong> als Mittel der politischen Propaganda instrumentalisiert, bzw.<br />

taten dies im letzten Fall immer noch. 121 Es war jedoch ein Trugschluss zu<br />

glauben, dass es sich bei <strong>Europa</strong>ratsausstellungen »nur« um <strong>Kultur</strong> handelte,<br />

eben weil es »nur« Kunst war, die hier dargestellt wurde. Die Ausstellungen<br />

verfolgten ein politisches Ziel und hatten damit eindeutig politischen Charakter.<br />

Die Reaktionen aus der Türkei und aus Griechenland im Kontext der<br />

Londoner Romantik-Ausstellung zeigten das nur zu deutlich.<br />

Zweitens stand eine Reglementierung der <strong>Kultur</strong>arbeit der Mitgliedstaaten<br />

des <strong>Europa</strong>rats im Gegensatz zu seiner Interpretation des Begriffs der<br />

europäischen <strong>Kultur</strong>. »European culture has its sources in the thought and<br />

work of free peoples based on centuries of tradition«, heißt es in dem 1949<br />

verfassten »<strong>Kultur</strong>plan«. »She is one in its respect (…) for freedom of opinion<br />

and the unfettered expression of ideas; in its uncompromising opposition<br />

to every form of tyranny.« 122 Dieses Moment der Freiheit, das als Kern des<br />

humanistischen Menschenbilds die Brüsseler Ausstellung dominiert hatte<br />

und in den folgenden Ausstellungen vordergründig eine eher nebensächliche<br />

Rolle spielte, schien mit der Forderung nach inhaltlicher Kontrolle, nach<br />

»Zensur«, ad absurdum geführt. Die Forderung widersprach dem Wesen der<br />

europäischen <strong>Kultur</strong>, wie sie im <strong>Kultur</strong>plan definiert worden war. Mehr noch:<br />

Sie stand im Gegensatz zur Vorstellung eines freien <strong>Europa</strong>s, in dem <strong>Kultur</strong><br />

bedeutete, alles zeigen zu dürfen, was als zeigenswert erachtet wurde.<br />

120 Dieses Problem war nicht neu: Seit 1949 durchzog die Diskussion um das Spannungsfeld<br />

von <strong>Kultur</strong> und Politik die Arbeit des <strong>Europa</strong>rats. Anthony S. Haigh:<br />

Cultural Diplomacy in Europe, Straßburg 1974, S. 193 f.<br />

121 »Die totalitären Regime des Ostens [haben] so gut die erstrangige Bedeutung der<br />

<strong>Kultur</strong> erkannt, daß sie dieselbe sofort verstaatlicht haben. Sie haben ihr sofort<br />

offiziell ihren zentralen Platz eingeräumt und halten sie dort gefangen, sie ist<br />

zur Propaganda geworden.« Denis de Rougemont: <strong>Europa</strong> und seine <strong>Kultur</strong>, in:<br />

<strong>Europa</strong>-Archiv 14 (1950), S. 3183–3186, hier S. 3186.<br />

122 Document 101.


Die Kunstausstellungen des <strong>Europa</strong>rats 53<br />

Schlussbetrachtung – Ein <strong>Europa</strong> zum Anfassen<br />

in den Europäischen Kunstausstellungen<br />

Im Jahr 1952 gab das Komitee der <strong>Kultur</strong>experten den offiziellen Startschuss<br />

für eine Ausstellungsreihe, die bis heute Bestand hat. Die Europäischen<br />

Kunstausstellungen der Jahre 1954 bis 1960 inszenierten eine (west-)europäische<br />

Vergangenheit, in der <strong>Kultur</strong> als einendes Element <strong>Europa</strong>s dargestellt<br />

wurde – ein Konzept, das je nach Ausstellung mal mehr, mal weniger<br />

begeisterten Zuspruch fand, insgesamt aber überzeugte.<br />

Dabei nahmen die Kunstausstellungen unter den Auspizien des <strong>Europa</strong>rats<br />

innerhalb des gesellschaftlichen und politischen Kontextes der 1950er<br />

Jahre sicherlich keine prominente Stellung im Bewusstsein des »durchschnittlichen«<br />

Europäers ein – eine Einschätzung, die ihre Leistung nicht<br />

schmälern soll. Sie haben in einem politischen Klima des Ausschlusses<br />

und der Abgrenzung vor Augen geführt, dass eine friedliche Kooperation<br />

im Sinne des häufig zitierten europäischen Gedankens möglich ist. Damit<br />

inszenierten sie nicht nur eine europäische Vergangenheit, sondern schufen<br />

vielmehr eine reale europäische Gegenwart.<br />

Ihren Besuchern präsentierten die Ausstellungen ein <strong>Europa</strong> »zum<br />

Anfassen«, durch die öffentlich ausgestellten Exponate wurde die kulturelle<br />

Einheit <strong>Europa</strong>s für jeden Interessierten begreifbar. Dabei vermittelten sie<br />

ihre Botschaft in einer Sprache, die nationenübergreifend verstanden wird,<br />

unabhängig von den diversen Nationalsprachen <strong>Europa</strong>s, welche bis heute<br />

Kommunikationsbarrieren zwischen seinen Bürgern darstellen: die Sprache<br />

der Bilder und die Sprache der Kunst. Dieser Sprache bedienen sich auch<br />

die <strong>Kultur</strong>hauptstädte der Europäischen Union, deren Konzept sogar noch<br />

weiter geht, als es das der Kunstausstellungen tut. Sie lassen nicht nur ein<br />

<strong>Europa</strong> zum Begreifen entstehen, sie fordern die Bürger dazu auf, <strong>Europa</strong> zu<br />

gestalten. Im Zuge der Zielsetzung, die »europäische Identität« zu stärken,<br />

ist dieses Element der aktiven Gestaltung, des »europäischen Handelns« von<br />

nicht zu unterschätzender Bedeutung. 123<br />

Dieser Beitrag wollte zeigen, dass die Absicht, die der bis heute chronisch<br />

unterfinanzierte <strong>Europa</strong>rat in den 1950er Jahren mit den Europäischen<br />

Kunstausstellungen verfolgte, 124 erstaunlich aktuelle Züge trägt: Was die<br />

Straßburger Organisation schon damals erkannt hatte, nämlich dass »die<br />

<strong>Europa</strong>idee zu ihrer Verwirklichung eine Massenbasis braucht, die ihr erst<br />

einmal verschafft werden muss«, 125 wird erst heute, fünfzig Jahre später, auf<br />

123 Vgl. dazu Daniel Fuss/Marita A.Grosser: What makes young Europeans feel<br />

European? Results from a cross-cultural research project, in: Ireneusz Pawel<br />

Karolewski/Viktoria Kaina (Hg.): European Identity. Theoretical Perspectives<br />

and Empirical Insights, Berlin 2006, S. 209–241, insb.: S. 211–215.<br />

124 Das Gesamtbudget des <strong>Europa</strong>rats lag 2006 bei lediglich 262,60 Millionen Euro.<br />

125 Schmale, S. 231.


54 Lorenz Richter<br />

höchster politischer Ebene mit den Rufen nach einer europäischen Identität,<br />

einer »Seele« für die EU, aufgegriffen. 126 Paul Valérys Worte, die in den<br />

Eröffnungsreden der Ausstellungen immer wieder zitiert wurden, gewinnen<br />

im Kontext abnehmenden Zuspruchs zum <strong>Europa</strong> der »Eurokraten«<br />

eine neue Relevanz. »Une Société des Nations présuppose une société des<br />

esprits.« Davon ist man in Straßburg bis heute überzeugt: »Culture remains<br />

and is even more than ever an important vehicle to communicate values and<br />

ideas«, heißt es im Abschlussbericht der Consultants-Gruppe des <strong>Europa</strong>rats,<br />

die sich im März des Jahres 2007 in Wien traf, um die Zukunft der<br />

Kunstausstellungen und deren inhaltlicher Neuorientierung zu diskutieren.<br />

127 Möge diese Überzeugung auch die kommenden Kunstausstellungen<br />

des <strong>Europa</strong>rats begleiten.<br />

126 Siehe etwa Gilbert Weiss: »Die vielen Seelen <strong>Europa</strong>s. Eine Analyse ›neuer‹ Reden<br />

zu <strong>Europa</strong>«, in: Monika Mokre/Gilbert Weiss/Rainer Bauböck (Hg.): <strong>Europa</strong>s<br />

Identitäten. Mythen, Konflikte, Konstruktionen, Frankfurt am Main/New York<br />

2003, S. 183–206.<br />

127 Unveröffentlichtes Dokument vom 29. 3. 2007, CDCULT(2007)06, »Council of<br />

Europe Exhibitions and Cultural Events: Towards a New Approach«.

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