UND LANDWIRTSCHAFT - Schweizer Fleisch
UND LANDWIRTSCHAFT - Schweizer Fleisch
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TIERSCHUTZ<br />
<strong>UND</strong> <strong>LANDWIRTSCHAFT</strong><br />
TIERWOHL GEHT UNS ALLE AN<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
Tierschutz und Landwirtschaft:<br />
Tierwohl geht uns alle an<br />
Die extrem ansteigende Nachfrage nach<br />
<strong>Fleisch</strong> und anderen tierischen Produkten,<br />
weit über den «reichen Westen»<br />
hinaus auch in vormals ärmeren Ländern,<br />
erfüllt viele Menschen mit Sorge.<br />
Denn hinter der weltweiten Demokratisierung<br />
des <strong>Fleisch</strong>-, Milchprodukte- und<br />
Eierkonsums verbergen sich zumeist eine<br />
intensive Tierproduktion mit Massentierhaltung<br />
in tierquälerischen Haltungsformen,<br />
überzüchtete Tiere, Qualtransporte,<br />
brutale Schlachtmethoden und<br />
ökologisch, ethisch und tiergesundheitlich<br />
fatale (Kraft-)Futterdiäten.<br />
Grundsätzliche Fragen nach der ethischen<br />
Berechtigung der Tiernutzung werden<br />
heute nicht nur von Ethikern und<br />
Tierrechtsaktivisten, sondern auch von<br />
breiten Kreisen der Bevölkerung gestellt,<br />
insbesondere auch von jungen Menschen,<br />
die sich vegetarisch oder gar vegan ernähren.<br />
Dieser tierethisch konsequenten Haltung<br />
entgegnen Kritiker, dass Tierhaltung<br />
nicht gleich Tierhaltung sei. Vielmehr sei<br />
eine bäuerliche, standortangepasste und<br />
artgerechte Tierhaltung im Unterschied<br />
zur Massentierhaltung eben gerade kein<br />
Problemverursacher, sondern könne einen<br />
nachhaltigen Beitrag zur zukünftigen<br />
Ernährung der Menschheit und zum<br />
Schutz der weltweiten Ressourcen leisten.<br />
Die vorliegende Broschüre soll interessierten<br />
Tierschützerinnen und Konsumenten<br />
Entwicklung, Bedeutung und<br />
Probleme der Nutztierhaltung aufzeigen<br />
und ihnen bei der Bildung einer eigenen<br />
Meinung behilflich sein. Denn die Nutztierhaltung<br />
geht uns alle an. Diese Dokumentation<br />
will aber auch Rechenschaft<br />
über den Nutztierschutz in den vergangenen<br />
Jahren ablegen und darlegen, wo<br />
heute beim Tierwohl in der Schweiz und<br />
international Handlungsbedarf besteht.<br />
Dr. Hansuli Huber, dipl. ing. agr. ETH<br />
Geschäftsführer Fachbereich<br />
<strong>Schweizer</strong> Tierschutz STS<br />
1. Nutztierhaltung im Spannungsfeld 3<br />
2. Landwirtschaft und Nutztierhaltung 7<br />
2.1 Domestikation 7<br />
2.2 Geschichtliches zur Nutztierhaltung 8<br />
2.3 Zum Mensch-Tier-Verhältnis 10<br />
2.4 Tiernutzung: ethisch gerechtfertigt? 12<br />
3. Nutztierhaltung in der Schweiz im 20. Jahrhundert 14<br />
3.1 Tierwohl trotz Notzeiten 14<br />
3.2 Verlorene Jahrzehnte 14<br />
4. Tierschutzgesetz 17<br />
4.1 Entwicklung Tierschutzgesetzgebung von 1981 bis 2011 17<br />
4.2 Bewertung des neuen Tierschutzgesetzes (TSchG) 20<br />
4.3 Bewertung der neuen Tierschutzverordnung (TSchV) 21<br />
4.4 Vollzug 22<br />
5. Agrarpolitik 23<br />
5.1 Entwicklungen von 1951 bis 2011 23<br />
5.2 Landwirtschaftsgesetz und Direktzahlungen 26<br />
5.3 Tierwohlförderung 27<br />
5.4 Stellenwert des Tierwohls bei Steuerzahlern und Konsumenten 28<br />
6. Information, Markt und Konsum29<br />
6.1 Entwicklung von 1972 bis 2011 29<br />
6.2 Information und Beratung 33<br />
6.3 Detailhandel setzt auf Produkte aus tierfreundlicher Haltung 33<br />
6.4 Zögerliche Gastronomie 34<br />
7. Tierschutzkonforme Importe 35<br />
7.1 Gesetzliche und privatwirtschaftliche Möglichkeiten 35<br />
7.2 Unterschiedliche Bedeutung des Tierwohls<br />
in der Schweiz und der EU 36<br />
8. Tierwohlhandlungsbedarf in der Schweiz39<br />
8.1 Allgemeines 39<br />
8.2 Tierschutzprobleme Rindergattung 39<br />
8.3 Tierschutzprobleme Schweinegattung 43<br />
8.4 Tierschutzprobleme Geflügel 45<br />
8.5 Tierschutzprobleme Schafe, Ziegen und Kaninchen 48<br />
8.6 Tierschutzprobleme Pferde 49<br />
8.7 Tierschutzprobleme Transporte 49<br />
8.8 Tierschutzprobleme Schlachthöfe 50<br />
8.9 Weitere Aspekte der Nutztierhaltung 50<br />
8.10 Ressourcenverschleuderung 54<br />
9. Massnahmen zur Verbesserung des Tierwohls56<br />
9.1 Allgemeines 56<br />
9.2 Eigenverantwortlichkeit 56<br />
9.3 Die Rolle des Konsumenten 57<br />
9.4 Die Rolle der Land- und Ernährungswirtschaft 57<br />
9.5 Die Rolle des Staates 59<br />
9.6 Die Rolle der internationalen Politik 62<br />
Glossar/Impressum63<br />
2<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
1. Nutztierhaltung im Spannungsfeld<br />
Im mit Nahrungsmitteln seit Jahrzehnten<br />
«gesättigten» Westen steht die heute<br />
weltweit praktizierte intensive Tierproduktion<br />
zunehmend in der Kritik. Grundsätzliche<br />
Fragen nach der ethischen Berechtigung<br />
der Tiernutzung werden nicht<br />
nur von Ethikern und Tierrechtsaktivisten,<br />
sondern auch von breiten Kreisen der<br />
Bevölkerung gestellt, insbesondere auch<br />
von jungen Menschen, die sich vegetarisch<br />
oder gar vegan ernähren.<br />
Das Mensch-Tier-Verhältnis verändert<br />
sich zusehends. Die einst scharf gezogene<br />
Trennlinie zwischen Heim- und<br />
Nutztieren verblasst, und das bei Stadtund<br />
Landbewohnern. Das Tier rückt näher<br />
an den Menschen heran, samt der Bereitschaft<br />
der Tierhalter, dafür den nötigen<br />
materiellen und emotionalen Aufwand zu<br />
leisten. Dabei geht es vielfach nicht um<br />
eine abzulehnende Vermenschlichung des<br />
Tieres, sondern um eine neue, bewusstere<br />
und verantwortungsvollere Form des Zusammenlebens<br />
von Mensch und Tier.<br />
Das Argument der günstigen und sicheren<br />
Lebensmittelversorgung sticht bei<br />
der Rechtfertigung von tierschutzwidrigen<br />
Zuständen in der Nutztierhaltung<br />
durch die Agrolobbyisten immer weniger.<br />
Der hohe und weltweit steigende Konsum<br />
tierischer Produkte wird von NGOs und<br />
Medien häufig als Ursache für viele ökologische<br />
und gesundheitliche Probleme<br />
sowie den Welthunger dargestellt, und<br />
die rein pflanzliche Ernährung als Lösung<br />
der Ernährungsprobleme einer wachsenden<br />
Menschheit propagiert.<br />
Platzsparende und reizarme Haltungsformen,<br />
zunehmender und länder-,<br />
ja Kontinente übergreifender Verkehr und<br />
Handel mit Zucht- und Schlachttieren<br />
sowie extreme Leistungsanforderungen,<br />
verbunden mit teilweise «tierartwidrigen»<br />
Futterkomponenten, beeinträchtigen<br />
das Tierwohl und die Tiergesundheit. Die<br />
enorme Ausdehnung der Tierproduktion<br />
weltweit, der routinemässige Einsatz von<br />
Hormonen und Antibiotika zur Leistungssteigerung<br />
in vielen Ländern ausserhalb<br />
Europas und die Qualität von Billiglebensmitteln<br />
aus Tierfabriken werden hierzulande<br />
von immer mehr Menschen hinterfragt.<br />
Die EU-Schlachttiertransporte<br />
und die Schafexporte von Australien und<br />
Neuseeland in arabische und südostasiatische<br />
Staaten wurden nachgerade zum<br />
Synonym für Tierquälerei. In der Kritik<br />
stehen aber auch negative Konsequenzen<br />
der Tierproduktion für Umwelt und Natur,<br />
so etwa der hohe regionale Anfall von<br />
Gülle, der zu übermässigem Eintrag von<br />
Stickstoff und Phosphor in die Böden führen<br />
kann, oder Ammoniak- und klimarelevante<br />
CO2- und Methanemissionen.<br />
Ebenfalls beanstandet werden die Art und<br />
Weise sowie der wachsende Umfang des<br />
Kraftfutteranbaus für das Vieh und der<br />
weltweite Kraftfutterhandel. Auch die in<br />
gewissen Ländern betriebene Überschussproduktion<br />
von <strong>Fleisch</strong> und anderen tierischen<br />
Produkten wird kritisiert: Durch<br />
die weltweite Absetzung der Überschüsse<br />
mittels (Dumping-)Export werden Bauern<br />
und Märkte in den Empfängerländern<br />
konkurrenziert und starke Abhängigkeiten<br />
geschaffen.<br />
Mit Ausnahme der Schweiz sowie einiger<br />
wenigen westeuropäischen Ländern<br />
nimmt der <strong>Fleisch</strong>-, Milch- und Eierkonsum<br />
und damit die Nutztierhaltung in<br />
praktisch allen Ländern seit Jahren stark<br />
zu – besonders in früher armen Zweit- und<br />
Drittweltstaaten. Weltweit soll eine Milliarde<br />
Bauern von der Tierhaltung leben, die<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
3
Weltweite Massenproduktion<br />
in<br />
Tierfabriken<br />
Hälfte davon in armen Ländern. Sie nutzen<br />
1,4 Milliarden Kühe und Rinder sowie<br />
eine Milliarde Schweine. Würde man<br />
all diese Tiere nebeneinander platzieren,<br />
ergäbe dies ein 60-facher Tiergürtel rund<br />
um die Erde! Dazu werden 68 Milliarden<br />
Hühner gehalten. China baut gegenwärtig<br />
die weltweit grösste Nutztierhaltung<br />
auf. Es hat den <strong>Fleisch</strong>konsum seit<br />
1970 auf heute 62 Kilogramm pro Kopf<br />
und Jahr vervierfacht. Von dem <strong>Fleisch</strong>,<br />
das in China in einem Jahr verzehrt wird,<br />
könnte die <strong>Schweizer</strong> <strong>Fleisch</strong>nachfrage<br />
rund zweihundert Jahre gedeckt werden!<br />
Bemerkenswert ist die boomende Nachfrage<br />
nach Milchprodukten in asiatischen<br />
Ländern und in Russland, welche zu einer<br />
starken Ausdehnung der Milchviehhaltung<br />
führt. Selbst in den «Entwicklungsländern»<br />
verdoppelte sich der <strong>Fleisch</strong>verbrauch<br />
seit 1970 auf heute 30 Kilogramm<br />
pro Kopf und Jahr.<br />
Dieser ausgeprägte Hunger nach tierischen<br />
Produkten wird hauptsächlich<br />
durch eine industrielle Tierproduktion in<br />
Massentierhaltung und faktisch ohne Berücksichtigung<br />
des Tierwohls befriedigt.<br />
Rund um die Metropolen in Asien, Indien,<br />
den arabischen Staaten und Brasilien<br />
werden Pouletmastställe aus dem Boden<br />
gestampft, die hunderttausende von<br />
Tieren nach westlichem Vorbild «beherbergen».<br />
Der Futtermittelanbau für die<br />
Intensivtierhaltung, etwa Mais, Soja und<br />
Getreide, soll mittlerweile rund 15 % der<br />
weltweiten landwirtschaftlichen Nutzfläche<br />
beanspruchen. Zum Vergleich: Der<br />
Pflanzenbau für die direkte menschliche<br />
Ernährung (z. B. Getreide, Kartoffeln, Gemüse,<br />
Früchte, Obst) benötigt rund 20 %<br />
der verfügbaren Agrarfläche.<br />
Allerdings: Der überwiegende Teil des<br />
weltweit verfügbaren Landwirtschaftslandes<br />
ist wie in der Schweiz nicht ackerfähig,<br />
kann aber als Weideland für raufutterverzehrende<br />
Nutztiere gebraucht werden.<br />
Werden diese Böden trotzdem umgebrochen,<br />
setzen sich hohe CO2-Mengen<br />
frei und es besteht die Gefahr, dass die<br />
fruchtbaren Humusschichten in wenigen<br />
Jahren erodieren und die Flächen danach<br />
weder zum Ackerbau noch zur Viehhaltung<br />
mehr nutzbar sind. Die Weidenutzung<br />
ist ökologisch und für die menschliche<br />
Ernährung sinnvoll, da Rinder, Schafe<br />
und Ziegen das Wiesenfutter in Milch und<br />
<strong>Fleisch</strong> umwandeln können. Problematisch<br />
ist indessen die Übernutzung von<br />
Steppengebieten mit zu vielen Weidetieren<br />
in Asien und Teilen Afrikas, welche<br />
wie ein nicht nachhaltiger Ackerbau<br />
Fruchtbarkeit und Ertragsfähigkeit der<br />
Böden kaputt und die Steppen zu Wüsten<br />
macht.<br />
EU-Regionen mit intensiver Tierproduktion,<br />
etwa Nordwestdeutschland, die<br />
Niederlande, Belgien, Dänemark, die Bretagne<br />
und die Po-Ebene, sowie die USA<br />
und einige südamerikanische Staaten, allen<br />
voran Brasilien, produzieren im Unterschied<br />
zur <strong>Schweizer</strong> Landwirtschaft<br />
enorme Überschüsse. Sie forcieren deshalb<br />
den Export von Hühner-, Schweine- und<br />
Agrarland weltweit: 5 Mia. Hektar; davon<br />
3,5 Mia. Hektar Dauergrünland. Weltweit<br />
stehen 72 Aren landwirtschaftliche Nutzfläche<br />
pro Mensch zur Verfügung, davon<br />
sind aber nur 20 Aren ackerbaufähig.<br />
In der Schweiz stehen 14 Aren landwirtschaftliche<br />
Nutzfläche pro Mensch zur<br />
Verfügung, davon 6 Aren ackerbaufähig.<br />
Auf diesen 14 Aren werden 60 % der<br />
von der <strong>Schweizer</strong> Bevölkerung benötigten<br />
Nahrungskalorien erzeugt; zieht man<br />
importierte «Inputs» ab, z. B. Kunstdünger<br />
oder Kraftfutter, sind es noch 50 %.<br />
Rund 40 % der Nahrungskalorien muss<br />
die Schweiz importieren.<br />
Prognostiziertes Bevölkerungswachstum<br />
bis 2050: Von heute 7 auf 9 Milliarden.<br />
Heute ist 1 Milliarde Menschen mit<br />
Nahrungsmitteln unterversorgt, aber weltweit<br />
werden bis zu 50 % der geernteten<br />
Nahrungsmittel «verschleudert» (Lagerverluste,<br />
Qualitäts- und «Frischevorschriften»<br />
etc.), d. h. heute würde mehr als genug<br />
produziert, um alle Menschen satt zu<br />
machen.<br />
Das für Nahrungsmittelerzeugung<br />
und Tierhaltung verfügbare Landwirtschaftsland<br />
nimmt in Zukunft ab infolge<br />
nicht nachhaltiger Nutzungs- und Anbaumethoden<br />
(z. B. Erosion fruchtbarer Bodenschichten,<br />
Versalzung von Böden),<br />
des vermehrten Flächenbedarfs zur Produktion<br />
von Energiepflanzen sowie des<br />
Klimawandels. Die Nahrungsmittelversorgung<br />
der Weltbevölkerung wird aber auch<br />
gefährdet durch den zunehmenden Wassermangel<br />
in trockenen Regionen, das<br />
zur Neige Gehen der Weltphosphatvorräte<br />
(ein wichtiger Dünger) und den Aufkauf<br />
von Landwirtschaftsland insbesondere<br />
in Afrika, Südamerika, Südostasien<br />
und Australien durch private Investoren<br />
aus China, Indien, den Golfstaaten sowie<br />
den USA und Europa. Man vermutet, dass<br />
diese bereits mehr Land gekauft oder geleast<br />
haben als die gesamte Landwirtschaftsfläche<br />
Europas, um im grossen<br />
Stil am Weltmarkt (spekulativ) handelbare<br />
Monokulturen anzubauen. Im Zuge dieser<br />
Entwicklung werden die Weltmarktpreise<br />
für Nahrungs- und Futtermittel in Zukunft<br />
ansteigen.<br />
Zur Info: 1 Are = 100 m 2 ,<br />
1 Hektar = 100 Aren = 10 000 m 2<br />
4<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
In dreissig Jahren verfünffacht:<br />
Die Pouletproduktion<br />
steigt weltweit am stärksten<br />
Rindfleisch mit allen Mitteln. Am stärksten<br />
ausgedehnt und industrialisiert wurde<br />
die Pouletproduktion. Sie hat sich innert<br />
dreissig Jahren verfünffacht auf heute 93<br />
Millionen Tonnen pro Jahr, da im Unterschied<br />
zu Schwein und Rind der Verzehr<br />
von Hühnerfleisch weltweit auf keine religiösen<br />
Vorbehalte trifft, und das <strong>Fleisch</strong><br />
mittlerweile billiger als alle anderen <strong>Fleisch</strong>arten<br />
angeboten werden kann. Denn<br />
Masthühner wachsen heute unglaublich<br />
schnell – sie erreichen in der halben Zeit<br />
ihr Schlachtgewicht wie früher –, werden<br />
im Ausland in Hallen von bis zu 100 000<br />
Tieren gehalten, und eine moderne Turboschlachtanlage<br />
beendet pro Stunde das<br />
Leben von 10 000 und mehr Hühnern.<br />
Die Wachstumsmärkte in Lateinamerika,<br />
Asien und Osteuropa sorgen Experten<br />
zufolge dafür, dass bereits im Jahr 2020<br />
die Geflügelfleischproduktion die bislang<br />
weltweit führende Schweinefleischerzeugung<br />
überholt haben und auf 120 Millionen<br />
Jahrestonnen angestiegen sein wird.<br />
Dabei sind die Gewinnspannen der Intensivtierproduktion<br />
extrem tief. So verdient<br />
ein Geflügelmäster in Deutschland knapp<br />
zehn Rappen an einem Masthuhn.<br />
Neuseeland und Australien kurbelten<br />
insbesondere die Lammfleischerzeugung<br />
mit Exportmärkten in den arabischen<br />
Staaten und Südostasien, aber auch in<br />
Nordamerika und Europa an. Die Schweiz<br />
bezieht rund die Hälfte des Schaffleischkonsums<br />
aus diesen Ländern, und zwar<br />
samt und sonders Edelstücke.<br />
Die weltweite Tiermast, die Milch- sowie<br />
die Eierproduktion werden häufig von<br />
Agrarkonzernen und industriell-gewerblichen<br />
Betrieben dominiert. Ethik, Tierschutz,<br />
Ökologie und Klimaschutz spielen<br />
hier keine Rolle. Ziel ist einzig das Erzeugen<br />
von möglichst viel und möglichst<br />
billigem <strong>Fleisch</strong>, Milch und Eiern. Kleine<br />
und mittlere Bauernbetriebe mit ihren traditionellen<br />
Tierhaltungsformen und Weidewirtschaften<br />
werden wegrationalisiert.<br />
Billigexporte der EU, der USA oder von<br />
Brasilien gefährden heute auch die noch<br />
grösstenteils bäuerlich geprägte Tierhaltung<br />
in der Schweiz und bringen weltweit<br />
Millionen von Kleinbauern in Entwicklungs-<br />
und Schwellenländern um Arbeit<br />
und Verdienst. Als Folge davon werden<br />
diese Länder in der Nahrungsmittelversorgung<br />
immer abhängiger von den internationalen,<br />
teils spekulativ betriebenen<br />
Agrarmärkten.<br />
Ob der berechtigten Kritik an der massiven<br />
Ausdehnung der Tierhaltung und<br />
an der weltweit grassierenden intensiven<br />
Tierproduktion sowie deren klar<br />
ersichtlichen negativen Folgen für<br />
Mensch, Umwelt und Tier sollten drei<br />
Tatsachen nicht vergessen werden:<br />
1. Der «Hunger» nach Produkten tierischer<br />
Herkunft samt der teilweisen Übernahme<br />
westlicher Ernährungsmuster in<br />
Gesellschaften und Staaten, die wirtschaftlich<br />
aufschliessen, entspricht haargenau<br />
der Entwicklung in der Schweiz<br />
nach dem 2. Weltkrieg. <strong>Fleisch</strong> war damals<br />
ein Symbol für Wohlstand und<br />
wurde immer erschwinglicher. Eine zunehmend<br />
sichere Versorgung mit Nahrungsmitteln<br />
und eine Demokratisierung<br />
des Konsums tierischer Produkte läuft<br />
heute weltweit ab und ist gekoppelt an die<br />
erfreuliche wirtschaftliche Verbesserung<br />
sehr vieler vormals armer Staaten.<br />
Das für Nutztiere bestimmte Futtergetreide<br />
und -eiweiss wird heute zum grössten<br />
Teil von den grossen Überschussexportproduzenten<br />
in der EU, den USA,<br />
China und Brasilien sowie aufstrebenden<br />
Drittweltstaaten beansprucht. Damit sind<br />
die aus den 1980er-Jahren stammenden,<br />
heute noch immer kolportierten ideologischen<br />
Aussagen, wonach die Schweiz mit<br />
dem Getreide der Armen dieser Welt ihr<br />
Vieh füttere, überholt. Heute massiert sich<br />
die Nutztierhaltung zudem zunehmend<br />
ausserhalb des Westens.<br />
Daraus gilt es, die richtigen Konsequenzen<br />
für unser Land und unsere Lebensmittelversorgung<br />
zu ziehen. Wie immer<br />
sich die Schweiz entscheiden wird –<br />
ob sie die Landwirtschaft und Nahrungsmittelerzeugung<br />
im Inland herunterfährt<br />
und zunehmend auf Billigimporte zum<br />
Beispiel aus Tierfabriken setzt, oder ob sie<br />
in eine eigene, naturnahe Landwirtschaft<br />
und tierfreundliche Tierhaltung mit etwas<br />
teureren Produkten investiert –, es ändert<br />
sich nichts am klaren Trend zur massiven<br />
Ausdehnung der intensiven Tierproduktion<br />
in der übrigen Welt. Die Schweiz<br />
könnte ihre Tierhaltung komplett stillle-<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
5
gen, ohne spürbaren Einfluss auf die Entwicklung<br />
des Klimas oder den Verbrauch<br />
an Futtermitteln.<br />
Da die verfügbare Landwirtschaftsfläche<br />
der Welt durch fehlerhafte Bewirtschaftung<br />
rückläufig ist (Erosion, Versalzung),<br />
Ackerflächen zur lukrativen Energieproduktion<br />
abgezweigt werden und die<br />
Nachfrage nach (tierischen) Nahrungsmitteln<br />
mit zunehmender Bevölkerungszahl<br />
und wirtschaftlicher Verbesserung steigt,<br />
wird die landwirtschaftlich nutzbare Fläche<br />
dieses Planeten zu einem kostbaren<br />
Gut. Lebensmittel dürften in Zukunft weltweit<br />
teurer werden. China, reiche arabische<br />
Staaten und westliche Investoren<br />
kaufen vorausschauenderweise rund um<br />
die Erde, vorwiegend in Afrika, Land im<br />
grossen Stil auf. Bei dieser Ausgangslage<br />
täte die Schweiz gut daran, auch in den<br />
nächsten fünfzig Jahren Sorge zur eigenen<br />
Landwirtschaft und damit zur sicheren<br />
Versorgung der Bevölkerung zu tragen.<br />
2. Wenn man heute die Nutztierhaltung<br />
grundsätzlich ethisch hinterfragt, sollte<br />
nicht vergessen werden, dass die Domestikation<br />
und die nachfolgende Haltung<br />
und Zucht von Nutztieren eine der grössten<br />
kulturellen Taten der Menschheit<br />
darstellt. Die planmässige Tierhaltung<br />
brachte mehr Versorgungssicherheit, kurbelte<br />
die landwirtschaftliche Produktivität<br />
an und ermöglichte es, Gegenden zu<br />
besiedeln und Böden zu nutzen, die für<br />
den Ackerbau suboptimal oder überhaupt<br />
nicht geeignet sind.<br />
Auch in der Schweiz begrenzen Klima<br />
und Witterung sowie Berg-, Hügel- und<br />
Steillagen die Möglichkeiten für den<br />
Ackerbau und damit den Anbau von Produkten<br />
direkt für die menschliche Ernährung.<br />
Was hier aber gut gedeiht sind Gräser,<br />
Klee und Kräuter auf Wiesen, Weiden<br />
und Alpen, die der Mensch nicht verwerten<br />
kann, aus denen aber Rinder, Ziegen,<br />
Schafe, Pferde und Kaninchen hochwertige<br />
Produkte für die menschliche Ernährung<br />
machen. Schweine sind Allesfresser:<br />
Sie können zwar junges Gras verwerten,<br />
ihre Stärke liegt aber in der Umwandlung<br />
von Rest- und Abfallprodukten aus<br />
der Futter- und Lebensmittelherstellung,<br />
ob nun pflanzlicher oder tierischer Herkunft.<br />
Hühner wiederum wandeln am effizientesten<br />
von allen Nutztieren Getreide<br />
in Eier und <strong>Fleisch</strong> um. Mit dem Mist<br />
und der Gülle der Tiere wird das Wachstum<br />
der Pflanzen und die Ertragssicherheit<br />
und Leistung der Böden stark verbessert,<br />
sodass pro Flächeneinheit deutlich<br />
mehr und sicherer geerntet und viel<br />
mehr Menschen ernährt werden können.<br />
Dieses abgestimmte, über Jahrtausende<br />
entwickelte und laufend verbesserte Zusammenwirken<br />
von Boden, Weidepflanzen<br />
und Nutztieren stellt eine der grössten<br />
Leistungen der Menschheit dar. Man kann<br />
– und soll – die Nutzung und Tötung von<br />
Tieren ethisch grundsätzlich hinterfragen.<br />
Fakt ist aber auch, dass die Tierhaltung,<br />
artgerecht und standortangepasst betrieben,<br />
einen Beitrag zur Lösung des Ernährungs-<br />
und Klimaproblems leisten kann<br />
und heute Milliarden von Menschen Nahrung<br />
und Auskommen bietet.<br />
3. Die <strong>Schweizer</strong> Agrarpolitik, die Landwirtschaftsberatung<br />
und -forschung sowie<br />
viele Bauern setzten in den 1960er-,<br />
1970er- und teilweise auch noch in den<br />
1980er-Jahren auf die intensive, ethisch<br />
und ökologisch fragwürdige Tierproduktion.<br />
Sie kehrten sich damit völlig ab<br />
von früher empfohlenen und praktizierten<br />
Tierhaltungsformen. Im Unterschied<br />
zu allen anderen Ländern setzte hierzulande<br />
indessen bereits Ende der 1970er-<br />
Jahre eine starke Gegenbewegung ein,<br />
die von Beginn weg auf mündige, verantwortungsbewusste<br />
Konsumenten und die<br />
Nachfrage nach naturnahen Produkten<br />
sowie solchen aus tierfreundlicher Haltung<br />
setzte. Ab den 1990er-Jahren drängten<br />
dann auch breite Kreise der Bevölkerung<br />
auf eine Kurskorrektur in der Agrarpolitik.<br />
So konnte zwischenzeitlich wieder<br />
einiges korrigiert und verbessert werden.<br />
China, reiche arabische Staaten und westliche<br />
Investoren kaufen rund um die Erde, vorwiegend<br />
in Afrika, Land im grossen Stil auf.<br />
6<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
2. Landwirtschaft und Nutztierhaltung<br />
2.1 Domestikation<br />
Tiere jagen und töten und ihr <strong>Fleisch</strong><br />
essen, ist dem Menschen seit hunderttausenden<br />
von Jahren vertraut. Doch<br />
erst nach der letzten Eiszeit begann die<br />
planmässige Haltung und Nutzung von<br />
Haustieren. Im Zeitrahmen von sechsbis<br />
zehntausend Jahren vor unserer Zeit<br />
wurden die allermeisten unserer heutigen<br />
Heim- und Nutztiere domestiziert. mit<br />
zwei Ausnahmen. Das Kaninchen erhielt<br />
erst im Mittelalter durch die züchterischen<br />
Bemühungen von Mönchen den Haustierstatus<br />
und neue Funde von Hundeskeletten<br />
in Höhlen der Dordogne und in Osteuropa<br />
deuten darauf hin, dass der Hund<br />
möglicherweise bereits schon vor zwanzig-<br />
bis dreissigtausend Jahren den Menschen<br />
ein treuer Gefährte war und ihm<br />
beim Jagen half. Es wird gar spekuliert,<br />
dass es diese erfolgreiche jagdliche Zusammenarbeit<br />
war, welche dem aus Süden<br />
eingewanderten Homo Sapiens schlussendlich<br />
die Herrschaft in Europa sicherte<br />
und die Neandertaler-Vormenschen aussterben<br />
liess. Bemerkenswerterweise wurden<br />
mehrere Tierarten an verschiedenen<br />
Orten der Welt unabhängig voneinander<br />
domestiziert; das Schwein etwa im Nahen<br />
Osten und in Europa sowie in China.<br />
Von abertausenden von Tierarten auf dieser<br />
Welt liessen sich lediglich etwas mehr<br />
als ein Dutzend domestizieren und weit<br />
über eine oberflächliche Zähmung hinaus<br />
zu Haustieren machen; neben Hund und<br />
Katze insbesondere Rind, Ziege, Schaf,<br />
Huhn und Trute, Schwein, Pferd und Esel.<br />
Die Affinität dieser Tierarten zum Menschen<br />
grenzt fast an ein Wunder, denn<br />
an unzähligen Versuchen, andere Arten<br />
zu zähmen, hat es über die Jahrtausende<br />
hinweg bis in die Neuzeit nicht gefehlt.<br />
Doch alle schlugen fehl. Selbst ein so naher<br />
Verwandter des Pferdes wie das Zebra<br />
liess und lässt sich nicht domestizieren.<br />
Trotz der jahrtausendelangen Haltung<br />
in der Obhut des Menschen und der<br />
teilweise extremen Zucht der Neuzeit haben<br />
Rind, Schwein und Huhn die biologischen<br />
und ethologischen Bedürfnisse<br />
ihrer wilden Urahnen erstaunlicherweise<br />
weitestgehend behalten. So wurden in den<br />
1980er-Jahren in Grossbritannien und<br />
Schweden hochgezüchtete Schweine und<br />
Hühner aus konventioneller Stallhaltung<br />
in ausgedehnte Wildgehege verbracht. Allen<br />
Erwartungen zum Trotz kamen sie mit<br />
dem Leben in freier Wildbahn absolut zurecht<br />
und pflanzten sich erfolgreich fort.<br />
Die Domestikation führte zu einer eigentlichen<br />
Symbiose zwischen Mensch<br />
und Tier. Durch das jahrtausendelange<br />
enge Zusammenleben tauschten sich<br />
selbst Bakterien und Viren aus und wurden<br />
zu ständigen Begleitern der Völker,<br />
die eng mit Haustieren zusammenlebten.<br />
Das mussten die hoch entwickelten Reiche<br />
der Inkas und Azteken, denen diese<br />
Keime und die dadurch im Organismus<br />
entwickelten Abwehrmöglichkeiten fehlten,<br />
im 15. und 16. Jahrhundert bitterlich<br />
erfahren. Wie die moderne Geschichtsforschung<br />
zeigt, wurden sie weder von den<br />
überlegenen Waffen noch der angeblichen<br />
Kriegskunst der spanischen Abenteurer<br />
und Militärs dahingerafft, sondern<br />
in erster Linie von deren mitgebrachten<br />
Keimen.<br />
Die Nutzung von Wiesen, Weiden<br />
und Äckern – bis ausgangs des Mittelalters<br />
auch Wäldern – für die Viehhaltung<br />
verbreiterte und bereicherte an den jeweiligen<br />
Standorten Flora und Fauna, indem<br />
neue Lebensräume und damit Nischen für<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
7
zusätzliche Baum-, Pflanzen- und Tierarten<br />
entstanden. Leider wirkt die intensive<br />
Landwirtschaft heute gerade in die gegenteilige<br />
Richtung. Auch die menschlichen<br />
Möglichkeiten und Lebensweisen vervielfachten<br />
sich durch die Viehhaltung; vom<br />
Jäger und Sammler zum Bauern, Hirten<br />
oder Nomaden, von der reinen Selbstversorgung<br />
zum Handel und zum Austausch<br />
von Gütern, mittels Lasttieren auch über<br />
weite Distanzen hinweg. Die Viehhaltung<br />
und der anfallende Hofdünger führten<br />
dazu, dass immer mehr Menschen ernährt<br />
und Überschüsse erzeugt werden konnten.<br />
So konnte Handel getrieben, Städte gegründet<br />
und die Arbeitsteilung unter den<br />
Menschen vorangetrieben, Verwaltung,<br />
Wissenschaft und Künste etabliert werden.<br />
Ohne Domestikation und planmässige<br />
Viehzucht hätte die Menschheit diese<br />
Entwicklung kaum machen können.<br />
2.2 Geschichtliches zur<br />
Nutztierhaltung<br />
Die alten römischen und griechischen<br />
Es gab eine Zeit, da kamen<br />
die Bauern mit ihren Produkten<br />
noch in die Stadt<br />
Kulturen schätzten kultiviertes Land mit<br />
Getreide, Obst, Oliven und Reben. An<br />
Nutztieren hatten lediglich Schafe eine<br />
übergeordnete Bedeutung. Demgegenüber<br />
bevorzugten die germanischen Völker<br />
im Norden eher die Natur, die Wälder<br />
und die Jagd und setzten weit stärker auf<br />
Tierhaltung und Weiden, als es der Süden<br />
tat. Mit dem Ende der Römerzeit nahm der<br />
Einfluss der nördlichen Gebräuche und<br />
damit auch die Bedeutung von <strong>Fleisch</strong><br />
europaweit zu. Frankenkönig Lothar ordnete<br />
im 9. Jahrhundert an, dass ein Krieger,<br />
der einen Bischof töte, nicht nur die<br />
Waffen niederlegen, sondern fortan auch<br />
ohne <strong>Fleisch</strong> leben müsse. Chronisten berichten<br />
im Mittelalter von enormen Verzehrsraten<br />
von bis zu 100 Kilogramm pro<br />
Kopf und Jahr in der Oberschicht – wegen<br />
der damals bis zu 150 fleischlosen<br />
kirchlichen Feiertage bedeutete dies sehr<br />
hohe tägliche Verzehrsmengen. Demgegenüber<br />
konnten die unteren Schichten<br />
von <strong>Fleisch</strong> und Fisch meist nur träumen.<br />
Nicht ohne Grund kam damals die Idee<br />
vom Schlaraffenland auf.<br />
Ausgangs des 15. Jahrhunderts beanspruchten<br />
Adel und Kommunen vielerorts<br />
die Nutzung der stark geschwundenen<br />
Wälder – und damit die Verfügbarkeit<br />
über den damaligen Hauptenergie- und<br />
-bauträger, das Holz. Damit gingen in Mitteleuropa<br />
grosse Weideflächen verloren,<br />
denn das Vieh hielt sich bis dahin ganz<br />
selbstverständlich auch in Waldbereichen<br />
auf. Damals entstand die heute selbstverständliche<br />
Trennung von Wald und Landwirtschaftsflächen.<br />
Als Kompensation erschlossen<br />
die Menschen neues Kulturland,<br />
etwa durch das Trockenlegen von Überschwemmungs-,<br />
Sumpf- und Moorgebieten,<br />
oder indem dem Meer Land abgerungen<br />
wurde. Eine weitere Folge des Weideflächenverlusts<br />
war, dass die Tierhaltung<br />
vermehrt in Ställe verlagert wurde. Medizinische<br />
Traktate rieten allerdings vom<br />
<strong>Fleisch</strong> derart eingekerkerter Tiere ab und<br />
empfahlen aus Qualitäts- und Gesundheitsgründen<br />
<strong>Fleisch</strong> von im Freien gehaltenen<br />
Tieren. Die Stallhaltung brachte<br />
aber Gülle und Mist, welche, auf die Felder<br />
ausgebracht, die Erträge der Ackerkulturen<br />
steigerten. Die Bauernbetriebe<br />
begannen sich nach und nach auf Obstbau,<br />
Ackerbau oder Viehhaltung zu spezialisieren<br />
und verlagerten sich von der<br />
reinen Selbstversorgung auf den Tausch<br />
und Verkauf von Produkten. Ohne Land<br />
keine Stadt: Noch bis 1900 wurden Ziegenherden<br />
von Fluntern ins Zürcher<br />
«Dörfli» getrieben, wo die Stadtfrauen<br />
gegen ein Entgelt Ziegen melken konnten.<br />
An den Markttagen brachten Bauern<br />
mit Fuhrwerken oder den «Seeschwalben»<br />
genannten Limmatschiffen Lebensmittel<br />
nach Zürich.<br />
Von der Römerzeit über das Mittelalter<br />
bis in die Neuzeit wurden im Zuge<br />
des Fernhandels zahlreiche neue Pflanzen<br />
und Tiere nach (Mittel-)Europa gebracht.<br />
Wer sich heute an Margeriten und Akelei<br />
in den Blumenwiesen erfreut, dürfte kaum<br />
wissen, dass diese erst im Mittelalter zu<br />
uns kamen. Im Zuge der spanischen und<br />
portugiesischen «Entdeckungen» wurden<br />
Perlhühner und Truten auch in Europa<br />
heimisch. Als die englischen Pilgerväter<br />
im 17. Jahrhundert mit der «Mayflower»<br />
nach Amerika segelten, hatten sie nebst<br />
anderen Nutztieren auch einige Truten<br />
an Bord. Drüben angekommen, staunten<br />
sie nicht schlecht, als sie bemerkten, dass<br />
Wildtruten den Kontinent zu Millionen<br />
bevölkerten.<br />
Der durchschnittliche <strong>Fleisch</strong>konsum<br />
8<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
eines westeuropäischen Landes lag anfangs<br />
des 19. Jahrhunderts bei 30 Kilogramm<br />
pro Kopf und Jahr. Ab Mitte des<br />
Jahrhunderts begann dieser dann stetig<br />
zu steigen. 1845 wurden die Dosenfleisch-Konservierungstechnologie<br />
und<br />
zwischen 1855 und 1860 die Milchpulver-<br />
und Kondensmilcherzeugung entwickelt,<br />
was Vorratshaltung und Versorgungssicherheit<br />
verbesserte und als Nebenwirkung<br />
– wegen der planbareren Verpflegung<br />
der Heere – die Kriegsführung<br />
veränderte. Grossbritannien, das im 19.<br />
Jahrhundert mächtigste sowie politisch,<br />
kulturell und technisch fortschrittlichste<br />
und einflussreichste Land der Welt, verabschiedete<br />
1822 das erste Tierschutzgesetz<br />
der Neuzeit. 1847 wurde in Manchester<br />
die erste vegetarische Gesellschaft gegründet.<br />
1860 setzte Grossbritannien wiederum<br />
als erstes Land der Welt ein Gesetz<br />
gegen Lebensmittelbetrug in Kraft. Daraus<br />
mag man ersehen, dass es auch in<br />
der «guten alten Zeit» um die Qualität der<br />
Nahrungsmittel nicht immer zum Besten<br />
gestanden hat.<br />
Um 1800 war die Viehhaltung in der<br />
Schweiz noch relativ unbedeutend. Grössere<br />
Bestände gab es nur bei Rindern und<br />
Schafen. Das änderte sich in der zweiten<br />
Hälfte des 19. Jahrhunderts vollständig.<br />
Wegen zunehmender Absatzmöglichkeiten<br />
im In- und Ausland sowie der für die<br />
Total Landwirtschaftsbetriebe<br />
CH 2012: 59 000<br />
35 000 in Tal- und Hügelzone<br />
24 000 im Berggebiet<br />
41 000 hauptberufliche Betriebe<br />
18 000 nebenberufliche Betriebe<br />
38 000 Betriebe sind auf Tierhaltung<br />
spezialisiert<br />
Durchschnittsgrösse rund 18 ha<br />
Anzahl Biobetriebe rund 6000<br />
Pro Tag verschwinden im Durchschnitt<br />
5 bis 6 Betriebe<br />
Landwirtschaftliche Nutzfläche der Schweiz<br />
(Wiesen, Weiden, Ackerland und Dauerkulturen):1,1<br />
Mio. ha, dazu kommen 455 000 ha<br />
Alp- und Juraweiden<br />
Anzahl Nutztiere in der Schweiz (in tausend)<br />
Rindvieh<br />
Jahr Kühe total Schweine Pferde Schafe Ziegen Hühner<br />
1850 501 885 339 104 451 348 –<br />
1900 744 1354 542 123 259 382 –<br />
1950 858 1530 908 134 192 165 6300<br />
1960 940 1746 1351 100 227 90 5975<br />
1970 896 1907 1753 53 291 66 5919<br />
1980 875 2031 2205 45 354 80 6146<br />
1990 795 1855 1787 45 395 68 5822<br />
2000 714 1588 1498 50 421 62 6789<br />
2010 700 1591 1589 62 434 87 8944<br />
GVE* 76 % 13 % 3 % 3 % 1 % 4 %<br />
*Grossvieheinheiten<br />
Anzahl Halter von Nutztieren in der Schweiz<br />
Jahr Nutztiere Rindvieh Schweine Pferde Schafe Ziegen Hühner Kaninchen<br />
1985 88 600 71 800 36 000 12 600 14 000 9800 41 700 6000<br />
2000 60 000 50 800 15 300 10 700 12 600 7100 20 700 6000<br />
2005 54 400 45 400 11 800 10 300 11 200 6600 17 100 4500<br />
2010 50 000 41 100 8800 9600 9800 7000 13 500 3300<br />
Schlachtungen in der Schweiz<br />
Jahr Grossviehmast Kühe Kälber Schweine<br />
1950 65 000 111 000 470 000 740 000<br />
1960 100 000 142 000 522 000 1,4 Mio.<br />
1970 165 000 198 000 444 000 2,3 Mio.<br />
1980 231 000 237 000 408 000 3,4 Mio.<br />
1990 259 000 211 000 319 000 3,3 Mio.<br />
2000 185 000 169 000 300 000 2,6 Mio.<br />
2007 210 000 151 000 253 000 2,8 Mio.<br />
Dazu kommt die Schlachtung von rund 2 Millionen Legehennen und rund 40 Millionen Masthühnern<br />
und Truten jährlich.<br />
Tierhaltung günstigen klimatischen und<br />
topografischen Voraussetzungen wurde<br />
die Viehhaltung auf Kosten des Getreideanbaus<br />
stark ausgebaut. Wegen verbesserter<br />
Transportmöglichkeiten mittels<br />
Schiffen und Eisenbahn, besserer<br />
Fruchtfolgen und der weltweiten Verdoppelung<br />
der Ackerfläche bis zum 1. Weltkrieg<br />
konnte Getreide auf dem Weltmarkt<br />
extrem günstig angeboten werden, sodass<br />
der Inlandgetreidebau Ende des 19.<br />
Jahrhunderts praktisch zusammenbrach.<br />
Die Schweiz importierte damals sowie<br />
zwischen den Weltkriegen jährlich rund<br />
800 000 Tonnen Getreide, also ungefähr<br />
gleich viel wie heute, allerdings bei nur<br />
knapp halb so vielen Einwohnern und wesentlich<br />
weniger gehaltenen Nutztieren.<br />
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlangte<br />
die Milchproduktion in der Schweiz<br />
die innerlandwirtschaftlich hohe wirtschaftliche<br />
Bedeutung, die sie bis heute<br />
innehat. Auslöser waren unter anderem<br />
die Erfindungen der Milchschokolade, der<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
9
Kondensmilch und der Käseherstellung<br />
mittels Lab, welche zu einer Vervielfachung<br />
der Käsesorten und der Verbreitung<br />
von Käsereien ausserhalb des Berggebietes<br />
führte. Käse, Milchschokolade und Kondensmilch<br />
wurden denn auch rasch zu erfolgreichen<br />
<strong>Schweizer</strong> Exportprodukten.<br />
Die <strong>Schweizer</strong> Rindviehzucht florierte.<br />
Zuchtvieh wurde in alle Länder Europas –<br />
teilweise mussten Mensch und Vieh diese<br />
Wege zu Fuss zurücklegen! – und nach<br />
Nordamerika verkauft. Man kann sich<br />
heute kaum mehr ausmalen, welche Strapazen<br />
den Tieren dabei zugemutet wurden.<br />
Ironie des Schicksals: Weniger als ein<br />
Jahrhundert später, ab den 1970er-Jahren,<br />
hatten die ausländischen Braun- und<br />
Fleckviehzüchter ihre <strong>Schweizer</strong> Kollegen<br />
überholt. In zeitgemässer Form von Samen<br />
ging die Genetik den Weg zurück in<br />
die Schweiz und liess dort die Milchleistung<br />
der Kühe explodieren.<br />
Nachdem Nestlé als grosser Abnehmer<br />
der Milchbauern in den 1930er-Jahren<br />
die Kondensmilchproduktion verstärkt<br />
ins Ausland verlegt hatte und Preiszusammenbrüche<br />
wegen wiederkehrender<br />
Milchüberproduktion Bauernexistenzen<br />
ruinierten, gerieten Milchviehbetriebe in<br />
der weltweiten Wirtschaftskrise in die<br />
Kritik. «Es ist wahr, diese reinen Graswirtschaften<br />
sind nicht mehr eigentliche<br />
Landwirtschaftsbetriebe. Ihre Tätigkeit erschöpft<br />
sich im Viehfüttern, Melken, Grasen,<br />
Düngen, Heuen und Mosten. Das ist<br />
selbstverständlich kein gesunder Landwirtschaftsbetrieb»,<br />
urteilte der damalige<br />
Bauernpolitiker und Nationalrat Roman<br />
Abt harsch und ideologisch-zeitgeistlich<br />
angehaucht. Fortan wurde hierzulande<br />
das Hohelied vom bäuerlichen Selbstversorger<br />
und Familienbetrieb gesungen. Der<br />
Ackerbau wurde forciert und ging später<br />
bei extrem schlechter Versorgungslage im<br />
2. Weltkrieg zum Wohl der Bevölkerung<br />
im «Plan Wahlen» auf.<br />
Mitte des 20. Jahrhunderts wurde das<br />
Ende des jahrtausendealten Ochsen- und<br />
Pferdezuges in der Landwirtschaft eingeläutet,<br />
und Traktoren übernahmen die<br />
schwere Feld- und Zugarbeit. Um ein<br />
Ackerfeld von einer Juchart – das dazumal<br />
gebräuchliche landwirtschaftliche<br />
Flächenmass, je nach Gegend etwa 3500<br />
Quadratmeter – mit einem Tierzug zu<br />
pflügen, wurden zwei Personen und fast<br />
40 Arbeitsstunden benötigt. Heute erledigt<br />
dies ein Bauer mit Traktor und Dreischarpflug<br />
in weniger als einer Stunde!<br />
Die einsetzende Hochkonjunktur<br />
brachte der Schweiz ab den 1960er-Jahren<br />
Vollbeschäftigung sowie Arbeitskräftemangel<br />
und damit verbunden kräftig<br />
steigende Löhne. Entsprechend wuchs<br />
die Nachfrage nach tierischen Produkten.<br />
Gleichzeitig hielten Mechanisierung, Rationalisierung<br />
und wissenschaftlich-technisch-biologische<br />
Erkenntnisse auf breiter<br />
Front Einzug in Landwirtschaft und<br />
Tierhaltung. Das führte dazu, dass Lebensmittel<br />
immer kostengünstiger angeboten<br />
werden konnten. Obwohl die Familien<br />
mehr konsumierten, sanken die Haushaltausgaben<br />
für Lebensmittel infolge der<br />
extremen Produktivitätsfortschritte in der<br />
Landwirtschaft rapide von 30 % im Jahr<br />
1950 auf 14 % im Jahr 1975 und schliesslich<br />
auf nur noch 7 % heute!<br />
Ohne Tierhaltung und Intensivierung<br />
der Landwirtschaft wäre diese Entwicklung<br />
unvorstellbar. Von den positiven<br />
Konsequenzen, nämlich einer hohen Ernährungssicherheit<br />
sowie einem extrem<br />
breiten und kostengünstigen Lebensmittelangebot,<br />
profitieren wir heute tagtäglich.<br />
Was für die allermeisten Menschen<br />
auf diesem Planeten seit Urzeiten und bis<br />
vor hundert Jahren selbst in Westeuropa<br />
die grösste Sorge war – die sichere und<br />
ausreichende Versorgung mit Nahrung –,<br />
wurde und wird glücklicherweise für immer<br />
mehr Menschen auf dieser Welt zu<br />
einer Selbstverständlichkeit.<br />
Die alten Ägypter verehrten<br />
Katzen – im Gegensatz<br />
zu den Persern<br />
2.3 Zum Mensch-Tier-<br />
Verhältnis<br />
Dem verbreiteten kulturpessimistischen<br />
Urteil, wonach früher alles besser gewesen<br />
sei, kann man nicht nur bei Wohlstand<br />
und Nahrungsmittelversorgung der<br />
Menschen, sondern auch beim Mensch-<br />
Tier-Verhältnis konsequent mit Fakten<br />
entgegentreten. Der Umgang mit Tieren<br />
folgte stets dem «Recht» des Stärkeren<br />
und dem Machtgefälle zwischen Mensch<br />
und Tier. Er war und ist geprägt von Missbrauch,<br />
Ideologien und irrationalen Vorlieben<br />
und Vorgaben einzelner Kulturen.<br />
So verehrten die alten Ägypter Katzen<br />
und verabscheuten Hunde, während die<br />
10<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
Perser Hunden Denkmäler setzten und sie<br />
wie Menschen beerdigten, Katzen hingegen<br />
als des Teufels erachteten und für vogelfrei<br />
erklärten. Die alten Griechen und<br />
Römer führten grausame Experimente an<br />
lebendigen Tieren durch. In den Arenen<br />
von Rom, der damals weltweit grössten<br />
Stadt, wurden nebst 200 000 Kriegsgefangenen,<br />
Verbrechern und Gladiatoren auch<br />
Millionen von Haus- und Wildtieren zur<br />
Belustigung hingemetzelt und aufeinandergehetzt.<br />
Im Mittelalter wurde in verschiedenen<br />
Regionen Europas lebenslange<br />
Dunkelhaltung für Kälber, Lämmer<br />
und Schafe betrieben. Kochbücher empfahlen,<br />
Gänse für rascheres Wachstum an<br />
den Schwimmhäuten festzunageln, oder<br />
Kälber und Ferkel für zarteres <strong>Fleisch</strong><br />
mit Seilen zu Tode zu prügeln. Seit jeher<br />
zeichnet sich der Mensch durch Herzlosigkeit<br />
gegenüber Tieren aus. Nicht erst<br />
der «moderne» Mensch der Neuzeit bedrängt<br />
durch seinen Lebensstil Tierarten<br />
und verurteilte viele zum Aussterben.<br />
Unsere Vorfahren rotteten viele Tierarten<br />
aus, im Mittelalter in der Schweiz beispielsweise<br />
den Wisent und im 19. Jahrhundert<br />
Biber und Bär.<br />
Auch der «edle Wilde» bleibt in puncto<br />
Mensch-Tier-Verhältnis lediglich eine<br />
westlich-romantische Vorstellung. Es ist<br />
überliefert, dass Indianer in Nordamerika<br />
sinnlose Büffelabschlachtungen durch<br />
Hinabstürzen in Schluchten praktizierten,<br />
oder ihren Kindern auftrugen, Vögel<br />
zu fangen, ihnen Beine oder Flügel zu<br />
brechen und mit ihnen zu spielen. Nomadenvölker<br />
entnahmen lebenden Rindern<br />
Blut, oder schnitten aus den Schwänzen<br />
ihrer Schafe Fettstücke als Leckerbissen<br />
heraus. Das etwa über die Inuit und<br />
andere «Naturvölker» kolportierte Beten<br />
oder «Um-Verzeihung-Bitten» vor dem<br />
Tiere Töten dürfte eher eine sentimentale<br />
und gegenüber einer möglichen höheren,<br />
strafenden Macht rückversichernde Geste<br />
darstellen als ein gelebter und bewusster<br />
Ausdruck von Fairness und Liebe gegenüber<br />
den Mitgeschöpfen – vergleichbar<br />
den Gebräuchen unserer Jäger nach dem<br />
Abschuss des Wildes. Ob nun sogenannte<br />
«Naturvölker» oder «zivilisierte» Kulturen:<br />
Bis ins 20. Jahrhundert hinein<br />
war das Pferd ein geschundenes<br />
Kriegs- und Arbeitsgerät<br />
Sie alle haben hemmungslos und ohne<br />
Einsicht in ökologische Zusammenhänge<br />
Tierarten ausgerottet und ohne Rücksicht<br />
auf Gewissen, Moral, Ethik oder religiöse<br />
Vorgaben Tiere gequält und ausgenützt.<br />
Besonders übel hat der Mensch dem<br />
Pferd mitgespielt. Bis ins 20. Jahrhundert<br />
hinein war es geschundenes Kriegs- und<br />
Arbeitsgerät: Lebenslang unter Tage in<br />
den Kohlegruben zur Arbeit gezwungen<br />
und dabei erblindet, um Mühlräder und<br />
Pumpen anzutreiben jahrelang tagsüber<br />
im Kreis gehend, auf dem harten Pflaster<br />
der Millionenstädte London, Paris, Berlin<br />
und New York Busse und Kutschen oder<br />
auf dem Land an Kanälen und Flüssen entlang<br />
Lastschiffe ziehend, schweisstriefend<br />
auf den Feldern vor dem Pflug gehend.<br />
Mit Recht empört man sich heute über<br />
überlange und unnötige EU-Schlachttiertransporte.<br />
Doch gab es hierzulande bereits<br />
ausgangs des Mittelalters vergleichbares,<br />
nämlich Schlachtviehtrecks, etwa<br />
von Rindern aus Ungarn in die reichen<br />
süddeutschen Kaufmannsstädte oder von<br />
Dänemark nach Holland. Zu Fuss mussten<br />
die Tiere hunderte, manchmal tausend<br />
und mehr Kilometer zurücklegen. Wie im<br />
Wilden Westen, wo die zumeist verwilderten<br />
Mastrinder von Texas nach Norden<br />
in die Verladestationen getrieben wurden,<br />
um dann in den Riesenschlachthöfen<br />
Chicagos getötet zu werden. Wer jetzt<br />
noch immer glaubt, dass es Tieren früher<br />
besser erging, soll daran denken, dass das<br />
Betäuben vor dem Töten eine junge, kaum<br />
hundert Jahre alte Tradition ist, welche<br />
bis heute in manchen Ländern und Kulturen<br />
unbekannt ist.<br />
Es gibt wenig Anlass zur Behauptung,<br />
Nutztiere hätten es früher besser gehabt.<br />
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass das<br />
Mensch-Tier-Verhältnis heute zumindest<br />
in der Schweiz ein viel engeres ist, als es<br />
noch vor einem Vierteljahrhundert bei Inkrafttreten<br />
der Tierschutzgesetzgebung der<br />
Fall war. Im Bewusstsein sehr vieler Menschen<br />
wird keine scharfe Trennlinie mehr<br />
zwischen Heim- und Nutztieren gezogen.<br />
Die Nutzung von Rindern, Schweinen und<br />
Hühnern wird zwar zumeist nicht infrage<br />
gestellt, aber es herrscht heute ein breiter<br />
Konsens darüber, dass diese Tiere, wenn<br />
sie schon für unsere Zwecke planmässig<br />
gezüchtet, gehalten und geschlachtet werden,<br />
wenigstens Anrecht auf eine möglichst<br />
schonende Behandlung und eine<br />
artgemässe Haltung haben sollen.<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
11
Bis heute schützen Menschen Tiere<br />
selektiv. Das weltweit erste Tierschutzgesetz,<br />
das anfangs des 19. Jahrhunderts in<br />
Grossbritannien in Kraft gesetzt wurde,<br />
galt allein für Pferde. Abgeordnete, die<br />
den Schutz auch auf Esel ausdehnen wollten,<br />
wurden ausgelacht und überstimmt.<br />
Man mag heute darüber schmunzeln.<br />
Doch der Speziesrassismus lebt noch immer.<br />
In Indien sind nicht die Kühe an und<br />
für sich geschützt und «heilig», sondern<br />
nur das reinrassige indische Buckelrind,<br />
teilweise auch «Mischlinge».<br />
<strong>Schweizer</strong> Behörden und Hochschulprofessoren<br />
betrachten den Ersatz<br />
von Hunden und Katzen im Tierversuch<br />
durch Mäuse und Ratten als Tierschutzmassnahme<br />
im Sinne des gesetzlich verankerten<br />
3R-Prinzips: replace (ersetzen),<br />
reduce (reduzieren), refine (verfeinern).<br />
Ehrlicher und auf einem zeitgemässeren<br />
Wissensstand sind da die Pharmafirmen,<br />
welche unumwunden zugeben, dass Ratten<br />
entwicklungsbiologisch und in Bezug<br />
auf Schmerz- und Leidensfähigkeit Hunden<br />
in nichts nachstehen. Vielmehr verwende<br />
man im Tierversuch aus Kostengründen<br />
lieber Nagetiere als Hunde oder<br />
Katzen, aber auch, weil die Gesellschaft<br />
Mit dem Image des<br />
Schädling als Versuchstier<br />
«ethisch» vertretbar?<br />
wegen des «Schädlingimages» dieser Tiere<br />
kaum gegen deren Einsatz im Tierversuch<br />
opponiere und die Tierpfleger weniger<br />
an den Nagern hingen. Auch der<br />
Nutztierschutz in der EU ist sehr selektiv:<br />
Bis heute existieren keine verbindlichen<br />
Tierschutzrichtlinien für die Haltung von<br />
Kühen, Rindern, Schafen, Ziegen, Pferden<br />
und Truten. Wenig konsequent ist<br />
auch die eidgenössische Tier- und Landwirtschaftsgesetzgebung,<br />
die zwar richtigerweise<br />
hierzulande den Tierhaltern aus<br />
ethisch-tierschützerischen Gründen Vorschriften<br />
macht, wegen des Geldes und<br />
der hohen Politik aber Importe von Qualprodukten<br />
wie Stopfleber und Froschschenkel<br />
sowie <strong>Fleisch</strong> von Tieren aus<br />
Tierfabriken und Qualtransporten zulässt.<br />
2.4 Tiernutzung: ethisch<br />
gerechtfertigt?<br />
Unbestreitbar handelt es sich beim Vegetarismus<br />
und noch mehr beim Veganismus<br />
um einen individuellen und ethischen<br />
Entscheid, der stets auch das Tierleid<br />
und dessen Minimierung vor Augen<br />
hat und Respekt verdient. Es stellt sich<br />
darüber hinaus aber die Frage, ob Vegetarismus/Veganismus<br />
die ethisch einzig<br />
mögliche Massnahme zur Verminderung<br />
des Tierleids darstellt, oder ob auch<br />
andere Tierschutzstrategien zielführend<br />
oder gar ergänzend notwendig sind.<br />
Ein Indiz für Letzteres stellt die Tatsache<br />
dar, dass Tierschutz und Vegetarismus<br />
verschiedene Wurzeln haben und<br />
traditionell zumeist in verschiedenen Organisationen<br />
mit nicht deckungsgleichen<br />
Zielsetzungen und Zwecken organisiert<br />
sind. Praktizierende Vegetarier und Veganer<br />
vermindern sozusagen die Gesamtsumme<br />
des mit der Nutzung der Tiere verbundenen<br />
Leids, indem weniger Tiere genutzt,<br />
artwidrig gehalten, brutal transportiert<br />
und getötet werden. Ein Mensch,<br />
der achtzig Jahre lang Vegetarier ist, verhindert<br />
durch seine konsequente Haltung<br />
beim gegenwärtigen <strong>Schweizer</strong> Durchschnittskonsum<br />
das Leben, den Tod und<br />
das wahrscheinliche Leid von gesamthaft<br />
gegen tausend Masthühnern, Rindern,<br />
Kälbern und Schweinen.<br />
Rein quantitativ liesse sich dieselbe<br />
Wirkung auch erzielen, wenn die Menschen<br />
weniger <strong>Fleisch</strong> essen würden.<br />
Wenn drei Millionen <strong>Schweizer</strong> auf zwei<br />
<strong>Fleisch</strong>mahlzeiten pro Woche verzichteten,<br />
ergäbe das betreffend Reduktion<br />
der gehaltenen und getöteten Nutztiere<br />
die gleiche Wirkung, wie wenn 900 000<br />
<strong>Schweizer</strong> Vegetarier würden. Beide Strategien,<br />
Vegetarismus oder Reduktion des<br />
<strong>Fleisch</strong>konsums, sind aus der Optik einer<br />
tierschützerischen Realpolitik also wirksam,<br />
wobei es erfahrungsgemäss einfacher<br />
und erfolgversprechender ist, Menschen<br />
zur Reduktion statt zum Verzicht<br />
zu bewegen. Der erhebliche Rückgang<br />
des <strong>Fleisch</strong>konsums in der Schweiz in<br />
den letzten 25 Jahren von 72 auf 53 Kilogramm<br />
pro Kopf dürfte denn auch stärker<br />
darauf beruhen, dass die Menschen<br />
weniger <strong>Fleisch</strong> essen, als dass sie gänzlich<br />
darauf verzichteten. Das heisst nicht,<br />
dass dieser Befund auch zukünftig gelten<br />
muss, scheint der Vegetarieranteil heute<br />
doch gerade unter jungen Menschen<br />
überdurchschnittlich zu sein, während<br />
die Kriegs- und Grosselterngeneration,<br />
bei welcher der <strong>Fleisch</strong>konsum mehrheitlich<br />
noch positiv gedeutet wurde, immer<br />
12<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
weniger zum Gesamtkonsum beiträgt.<br />
Doch auch wenn es Vegetariervereinigungen<br />
und Tierschutzorganisationen<br />
gelingen sollte, den Vegetarieranteil<br />
zu erhöhen, werden Schlachthöfe in der<br />
Schweiz nicht abgeschafft. Dies auch wegen<br />
der Vegetarier selbst, die zwar kein<br />
<strong>Fleisch</strong> essen, aber Eier und Milchprodukte<br />
konsumieren. Bei einem Durchschnittskonsum<br />
von rund 180 Eiern pro<br />
Kopf und Jahr wird ein Vegetarier nach<br />
80 Lebensjahren 50 Hochleistungslegehennen<br />
genutzt haben. Und wird damit,<br />
da stets ungefähr gleich viele Männchen<br />
und Weibchen geboren werden, zusätzlich<br />
für den Tod von 50 männlichen Küken<br />
Verantwortung tragen, die bekanntlich<br />
nach dem Schlupf aussortiert und getötet<br />
werden, da ihre Mast unrentabel ist.<br />
Da eine Kuh nur Milch gibt, wenn sie jedes<br />
Jahr wieder ein Kälbchen kriegt, und<br />
nur jedes zweite Baby ein Weibchen ist,<br />
das man zur Milchkuh heranziehen kann,<br />
zieht eine vegetarische Lebensweise nicht<br />
nur das Schlachten von Milchkühen, sondern<br />
auch die Mast und das Töten männlicher<br />
Kälber nach sich.<br />
Der Vegetarismus und der Veganismus<br />
liefern beide keine befriedigende<br />
Antwort auf die drängende Frage, was<br />
das Schicksal der Millionen von Nutztieren<br />
angeht, die jetzt und mit grösster<br />
Wahrscheinlichkeit auch noch in zwanzig<br />
oder dreissig Jahren geboren, aufgezogen<br />
und schlussendlich geschlachtet werden.<br />
Ethik und Fairness gebieten es, sich auch<br />
um die real existierenden Tiere zu kümmern.<br />
So notwendig es ist, sich als Tier-<br />
Anteil Vegetarier<br />
an Bevölkerung<br />
Proviande-Studie (2006): 5 % Vegetarier<br />
in der Schweiz<br />
Nationale Verzehrsstudie, Max Rubner Institut,<br />
Deutschland (2007): 1,6 % Vegetarier<br />
im Durchschnitt; Frauenanteil 2,2 %,<br />
lediglich 0,1 % Veganer<br />
Statistik Austria (2007): 1,4 % Vegetarier<br />
und 3.9 % Vegetarierinnen<br />
Vegetarierstudie Grossbritannien (1995)<br />
resp. USA (2009): 5 % resp. 3 % Vegetarier<br />
In der Schweiz verzehren Hunde<br />
und Katzen schätzungsweise<br />
60 000 Tonnen <strong>Fleisch</strong><br />
schützer mit möglichen Konzepten wie<br />
der Abschaffung der Nutztierhaltung zu<br />
beschäftigen – dazu sollte übrigens nicht<br />
nur die Haltung von Rind, Schwein und<br />
Huhn gezählt werden, sondern auch die<br />
(Aus-)Nutzung von Versuchs-, Wild- und<br />
leider auch Heimtieren – und sich gegen<br />
den übermässigen Konsum von tierischen<br />
Produkten zu stellen: Es wäre eine<br />
Sünde wider die Schöpfung, Tieren Hilfe<br />
und Schutz zu verweigern und zuzulassen,<br />
dass sie weltweit gesehen noch immer<br />
mit Käfigbatterien, Kastenständen,<br />
Qualtransporten sowie mit betäubungsloser<br />
Kastration und Tötung traktiert werden!<br />
Denn möglicherweise ist letztendlich<br />
für ein Tier weniger die Tatsache, dass es<br />
am Ende seines Lebens getötet wird das<br />
Schlimme – sofern dies rasch und schonend<br />
unter Betäubung geschieht –, sondern<br />
ein nicht artgerechtes Leben voller<br />
Schmerz, Leid und Frustration. Genau das<br />
aber wird Nutztieren in Massentierhaltungen<br />
weltweit und systematisch zugefügt.<br />
Ethisch überhaupt nicht thematisiert<br />
wird bislang der <strong>Fleisch</strong>bedarf für die zunehmende<br />
Haltung von fleischfressenden<br />
Heimtieren wie etwa Hunde und Katzen.<br />
Allein der <strong>Fleisch</strong>bedarf zur Fütterung der<br />
13 Millionen Heimtiere Deutschlands soll<br />
bei rund 900 000 Tonnen jährlich liegen<br />
und damit in etwa der Jahresfleischproduktion<br />
Österreichs entsprechen. In der<br />
EU leben gegen 200 Millionen Heimtiere.<br />
In der Schweiz verzehren Hund & Katz<br />
schätzungsweise 60 000 Tonnen <strong>Fleisch</strong><br />
jährlich. Allerdings essen Hunde und Katzen<br />
in allererster Linie <strong>Fleisch</strong>, das nicht<br />
verwertet werden kann, beispielsweise<br />
Schlachtnebenprodukte.<br />
Konsum tierischer Produkte<br />
Schweiz: Rund 170 kg/Kopf und Jahr<br />
(53 kg <strong>Fleisch</strong>; 180 Eier; 110 kg Milchprodukte)<br />
<strong>Fleisch</strong>konsum Schweiz: 53 kg/Kopf und<br />
Jahr; 50 % davon werden ausser Haus<br />
verzehrt (Gastronomie, Take-away); 13 kg<br />
sind Importe, oft aus Massentierhaltung;<br />
Labelanteil je nach <strong>Fleisch</strong>kategorie<br />
10–50 %, davon 4 % Biofleisch<br />
<strong>Fleisch</strong>verzehr international (je Kopf und<br />
Jahr): Weltdurchschnitt 40 kg, Entwicklungsländer<br />
rund 30 kg; Deutschland<br />
62 kg; Frankreich 72 kg; Spanien 80 kg;<br />
USA 110 kg<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
13
3. Nutztierhaltung<br />
in der Schweiz<br />
im 20. Jahrhundert<br />
3.1 Tierwohl trotz Notzeiten<br />
Ein Blick in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts<br />
zeigt, dass es in der Schweiz einmal<br />
eine (wenn auch nur kurze) Zeit gab,<br />
in der das Tierwohl ganz selbstverständlich<br />
zur landwirtschaftlichen Tierhaltung<br />
gehörte. Ja, es wurde von Bauernfunktionären<br />
vehement aus eigener Einsicht und<br />
Initiative eingefordert – statt wie heute<br />
eher zähneknirschend, als Reaktion auf<br />
den gesellschaftlichen Druck. Damals<br />
stand man auch in wirtschaftlich schwierigen<br />
Zeiten zur Verantwortung gegenüber<br />
den Nutztieren. Ernst Laur (1871–<br />
1964), Agronomieprofessor für Betriebswirtschaft<br />
an der ETH Zürich und erster<br />
Direktor des Bauernverbandes, stellte<br />
in den krisengeschüttelten 1920er- und<br />
30er-Jahren die Wichtigkeit von Auslauf<br />
und Weiden für Nutztiere heraus. Luft,<br />
Licht und Bewegung seien beispielsweise<br />
für eine wirtschaftliche Schweinehaltung<br />
unerlässlich. «Sind die Tiere einmal<br />
an den Aufenthalt im Freien gewöhnt, so<br />
scheut man sich nicht, sie auch im Winter<br />
ins Freie zu lassen, sorgt aber für warme<br />
Stallungen, in die sie sich jederzeit zurückziehen<br />
können», schrieb er den Bauern<br />
und Studenten ins Stammbuch.<br />
Selbst in den harten Kriegszeiten<br />
wollte man zum Tierwohl stehen. So hielt<br />
die <strong>Schweizer</strong>ische Landwirtschaftliche<br />
Zeitung am 8. 9. 1944 in einem Artikel<br />
über den Einfluss des Tierwohls auf die<br />
Milchleistung fest: «Eigentlich mutet es<br />
beinahe grotesk an, von Tierschutz zu<br />
sprechen in einer Zeit, wo tausende von<br />
wertvollen Menschenleben in den Deportierungslagern<br />
elend zu Grunde gehen.<br />
Auf alle Fälle werden solche Gräueltaten<br />
als ein unauslöschlicher Schandfleck<br />
für unsere heutige Kultur und Zivilisation<br />
in die Geschichte eingehen. Ja, die Hilfe<br />
für die notleidenden Flüchtlinge ist das<br />
dringendste Gebot der Stunde. Aber auch<br />
unsere Haustiere sind auf unseren guten<br />
Willen angewiesen. Der Mensch hat diese<br />
Tiere ihrer Freiheit beraubt, gezähmt und<br />
für seine Zwecke nutzbar gemacht. Sie<br />
sind ihm auf Gnade und Ungnade ausgeliefert.<br />
Er hat daher auch die Verpflichtung,<br />
nach bestem Willen für ihr Wohlergehen<br />
zu sorgen.»<br />
In den 1950er-Jahren waren Offenställe<br />
für Kühe Mode geworden. Zum<br />
Tränken kamen die meisten Rinder auch<br />
im Winter täglich zweimal aus den Ställen.<br />
Bereits damals existierten Betriebe,<br />
die tausende von Legehennen hielten.<br />
Diese verteilten sich auf kleinere Einheiten<br />
in mehreren Hühnerhäuschen auf der<br />
grünen Wiese. Zur Gesunderhaltung und<br />
als anerkanntes Gesundheitssanierungsverfahren<br />
von Zuchtsauenherden galt das<br />
sogenannte schwedische System mit Hüttenhaltung<br />
im Freiland. Auch die Mastschweine<br />
wurden zumeist mit Auslauf gehalten.<br />
Bezeichnenderweise kursierte damals<br />
unter Tierärzten und Agronomen der<br />
Spruch: «Wo die Sonne nicht hinkommt,<br />
kommt der Tierarzt hin.»<br />
3.2. Verlorene Jahrzehnte<br />
Mit dem Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte<br />
setzten sich Forschung und Beratung<br />
und in deren Schlepptau die Bauern<br />
über diesen tierhalterischen Wissensund<br />
Erfahrungsschatz hinweg. Die zuvor<br />
als gesundheitsfördernd propagierte<br />
Freilandhaltung wurde jetzt verteufelt,<br />
die Ausläufe wurden verschlossen und<br />
die Nutztiere in Ställe auf immer weniger<br />
Raum gepfercht. Als Mittel der Wahl<br />
für die Sanierung von Schweinepopulati-<br />
14<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
onen kam anstelle der Freilandhüttenhaltung<br />
das SPF-Verfahren (specific pathogen<br />
free) in Mode: Hochträchtige Sauen<br />
wurden mittels Kaiserschnitt entbunden<br />
und die Ferkel in möglichst keimfreier<br />
Umgebung aufgezogen. Die Firma Ovomaltine<br />
führte für ihre Eierproduktion<br />
schon früh die in den USA entwickelten,<br />
als letzter Schrei geltenden Käfigbatterien<br />
ein. Diese begannen sich ab den 1960er-<br />
Jahren bei «modernen» Geflügelwirten<br />
immer mehr durchzusetzen, obwohl solche<br />
Ställe in der Anschaffung um ein<br />
Mehrfaches teurer waren als die früheren<br />
tierfreundlichen Freilandhaltungsformen.<br />
Dafür wurde Zeit gespart, und mit gleichem<br />
Arbeitsaufwand konnte ein Vielfaches<br />
von Hühnern «betreut» werden.<br />
Mit dem Aufkommen der Käfigbatterien<br />
etablierte sich auch die Hybridzucht<br />
bei Hühnern. Bislang wurden die Hennen<br />
zum Eierlegen genutzt, und die Männchen<br />
drei bis vier Monate lang gemästet. Das<br />
neue Zuchtverfahren beendete die rund<br />
achttausendjährige Zweinutzung des<br />
Huhns. Fortan setzte man auf spezifische<br />
Mastlinien und mästete deren Männchen<br />
und Weibchen, weil beide viel des begehrten<br />
Brust- und Schenkelfleisches ansetzten,<br />
bereits in sechs Wochen schlachtreif<br />
waren und weniger Futter pro Kilogramm<br />
Zuwachs verbrauchten. Die Legelinien<br />
zeichneten sich durch extrem hohe Legeleistung<br />
aus. Legte früher ein Zweinutzungshuhn<br />
150 bis 180 Eier, so liefert ein<br />
modernes Hybridhuhn 300 Eier jährlich<br />
ab. Da die Mast der schmächtigen männlichen<br />
Legetiere nicht rentabel ist, werden<br />
sie als Eintagsküken getötet. Allein in<br />
Europa betrifft dies 500 Millionen Küken.<br />
Diese krasse Entwicklung führte dazu,<br />
dass das früher sehr teure Geflügelfleisch<br />
heute das billigste <strong>Fleisch</strong> ist und auch die<br />
Eierpreise, mindestens, was die Entschädigung<br />
der Bauern betrifft, massiv gesunken<br />
sind. In den 1930er-Jahren konnte ein<br />
Landwirt in der Schweiz vom jährlichen<br />
Ertrag des Eierverkaufs von fünf bis sechs<br />
Hühnern eine Kuh kaufen, heute bräuchte<br />
er dazu gut hundertmal mehr Hühner.<br />
Auf den Feldern und in den Ställen<br />
wurden unglaubliche Leistungssteigerungen<br />
realisiert. Seit 1960 verdoppelten sich<br />
die Kartoffelerträge pro Hektar auf 400<br />
Tonnen, die Weizenerträge verdreifachten<br />
sich auf 7,6 Tonnen. Innert weniger Jahrzehnte<br />
stieg die durchschnittliche Leistung<br />
je Kuh von 4000 auf fast 8000 Liter<br />
je Jahr. Wie den Masthühnern und Truten,<br />
so wurde auch dem Schwein immer mehr<br />
<strong>Fleisch</strong> angezüchtet, sodass heute 57 %<br />
des Schlachtkörpers sogenannte «edle»,<br />
das heisst verwertbare <strong>Fleisch</strong>stücke sind<br />
und dieser zwei Rippen mehr aufweist.<br />
Zwischen 1950 und 1980 verzweieinhalbfachte<br />
sich der Schweinebestand in<br />
der Schweiz auf 2,2 Millionen Tiere, und<br />
der Kuh- und Rinderbestand stieg in diesem<br />
Zeitraum um einen Drittel auf über<br />
2 Millionen Tiere. Damit wurde bei den<br />
beiden bis heute wirtschaftlich wichtigsten<br />
Tierarten schweizweit zahlenmässig<br />
ein Allzeithoch erreicht. Entsprechend<br />
viel Gülle fiel aber auch an. Die ökologischen<br />
und wirtschaftlichen Folgen dieses<br />
übermässigen Wachstums liessen nicht<br />
lange auf sich warten. Durch damals weitgehend<br />
ungeregeltes und in viehdichten<br />
Regionen wie etwa der Zentralschweiz<br />
sehr konzentriertes Ausbringen der Hofdünger<br />
wurden einzelne Seen derart be-<br />
Mit der extremen genetischen<br />
Leistungssteigerung wurde Geflügel<br />
zum heute billigsten <strong>Fleisch</strong><br />
lastet, dass ihr Ökosystem praktisch zusammenbrach.<br />
Die notwendige Sanierung<br />
verschlang enorme Steuermittel, ebenso<br />
das Verwerten der Milchüberschussproduktion.<br />
Seither sind die Tierzahlen wieder<br />
gesunken auf heute 1,6 Millionen<br />
Tiere der Rinder- und 1,6 Millionen der<br />
Schweinegattung.<br />
Agrowissenschaft, Beratung und Bauern<br />
waren und sind extrem erfolgreich bei<br />
der Bereitstellung von Nahrungsmitteln.<br />
Durch Rationalisierung (z. B. Spezialisierung<br />
auf einen Betriebszweig wie etwa<br />
Rindermast, Milchvieh oder Legehennen;<br />
Einführung von platz- und arbeitssparenden<br />
Haltungsformen), Mechanisierung<br />
und Intensivierung (z. B. Fortschritte<br />
in der Futtererzeugung und Fütterung sowie<br />
Einführung der einseitigen Leistungszucht)<br />
konnten die Erzeugungskosten für<br />
tierische Produkte extrem gesenkt werden.<br />
Dank des technisch-wissenschaftlichen<br />
Fortschritts in der Landwirtschaft<br />
können heute pro Hektar Ackerfläche 4,5<br />
Menschen ernährt werden. 1975, als der<br />
«Club of Rome»-Bericht Kultstatus hatte,<br />
waren es noch 2,8, und 1950 gar nur<br />
1,8 Menschen. Sollte die Weltbevölkerung<br />
weiterhin zunehmen, rechnet man, dass<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
15
im Jahr 2050 ein Hektar Ackerfläche 5,5<br />
bis 6 Menschen ernähren muss.<br />
Von der Übernahme ausländischer<br />
Ideen zur Nutztierhaltung und der in die<br />
Wege geleiteten Ablösung der bäuerlichen<br />
Tierhaltung durch industrielle Tierproduktionsformen<br />
profitierten in der<br />
Schweiz zwischen 1965 und 1985 primär<br />
Metzger, Detailhandel und Konsumenten.<br />
Was früher wenigen Reichen vorbehalten<br />
war, wurde in kurzer Zeit – weil<br />
nun für jedermann erschwinglich – zu<br />
einer Selbstverständlichkeit: unser täglich<br />
<strong>Fleisch</strong>. Doch während die Tierhaltung<br />
boomte und Milchprodukte, <strong>Fleisch</strong><br />
und Eier immer billiger wurden, bezahlten<br />
die Nutztiere die Zeche. Denn die von<br />
Wissenschaft und Beratung propagierten<br />
platz- und arbeitssparenden Haltungsformen<br />
sowie die einseitige Leistungszucht<br />
blendeten das Wesen und die Biologie der<br />
Tiere fast vollkommen aus. Deren Bedürfnisse<br />
wurden auf Nahrung und Wasser<br />
reduziert, also weniger, als jeder Pflanze<br />
zugestanden werden muss. Selbst das Tageslicht<br />
wurde den Schweinen und Hühnern<br />
damals gestrichen!<br />
Besonders hart traf es die Schweine.<br />
Durften sich Muttersauen in der ersten<br />
Hälfte des 20. Jahrhunderts noch zusammen<br />
auf den Weiden tummeln und erhielten<br />
Mastschweine regelmässigen Auslauf<br />
ins Freie, wurden sie ab den 1960er-Jahren<br />
komplett eingesperrt. An einem eng<br />
gezurrten Riemen um die Brust angebunden<br />
oder lebenslänglich in einen Käfig<br />
aus Eisenrohren gesteckt, dem sogenannten<br />
Kastenstadn, in dem sich das<br />
Tier nicht einmal drehen konnte, so stellte<br />
sich die brutale Realität für Generationen<br />
von Muttersauen dar! Ihren Kindern, den<br />
Mastschweinen, erging es nicht besser.<br />
Kurz nach der Geburt wurden ihnen routinemässig<br />
die Eckzähnchen herausgebrochen<br />
und der Schwanz abgeschnitten,<br />
die männlichen Tiere wurden kastriert<br />
– alles ohne Schmerzausschaltung! In<br />
Zehnergruppen vegetierten sie in dunklen<br />
Ställen ohne Einstreu, auf vollperforierten<br />
Betonböden und in Kot und Harn<br />
liegend der Schlachtung entgegen. Wenigstens<br />
war man damals noch ehrlich:<br />
Vertreter der Mastleistungsprüfungsanstalt<br />
Sempach bezeichneten in den<br />
1970er-Jahren diese Vollspaltenbodenhaltung<br />
Besuchern gegenüber als «hart»;<br />
man wusste also, was man den Tieren antat.<br />
Erst zehn Jahre später, als diese Tierquälerei<br />
verstärkt in die öffentliche Kritik<br />
geriet, behaupteten die Branchenfunktio-<br />
In den Kastenständen<br />
konnten sich die Sauen<br />
nicht mehr bewegen<br />
näre zynisch, den Schweinen würde es an<br />
nichts fehlen, schliesslich wüchsen sie ja<br />
und setzten fleissig <strong>Fleisch</strong> an.<br />
Die einst mit Recht stolzen <strong>Schweizer</strong><br />
Viehzüchter verloren ihre Verbundenheit<br />
mit den Kühen und liessen sich in<br />
jener Zeit von den angeblichen Vorzügen<br />
der dauernden Anbinde- und Stallhaltung,<br />
extrem kurzen Lägern und dem<br />
elektrischen Kuhtrainer überzeugen. Sie<br />
beerdigten ihre eigenen Vorstellungen<br />
von Tierzucht und deren Zielen und begannen,<br />
mehr und mehr Genetik zu importieren.<br />
Das ursprüngliche Freiburger<br />
Schwarzfleckvieh verschwand vollständig.<br />
Die auf Zweinutzung gezüchteten<br />
«Original»-Simmentaler- und Braunviehkühe<br />
stellen heute kleine Minderheiten<br />
dar; durchgesetzt haben sich milchbetonte<br />
US-Holstein- (rot und schwarz) und<br />
Brownswiss-Herkünfte. Wie Schweine<br />
wurden auch Mastrinder und -munis in<br />
Vollspaltenbodenbuchten platzsparend<br />
gemästet. Auf der Fläche eines durchschnittlichen<br />
Wohnzimmers von 30 Quadratmetern<br />
quetschte man bis zu fünfzehn<br />
der 500 Kilogramm schweren Mastmunis<br />
zusammen. Kälbchen zog man Maulkörbe<br />
an, damit sie ja kein Hälmchen Heu fressen<br />
konnten und ihr <strong>Fleisch</strong> blendend<br />
weiss wurde. Einzeln vegetierten sie in<br />
kleinen Holzverschlägen, aus denen sie<br />
erst zur Schlachtung herauskamen.<br />
Ein Grossteil der <strong>Schweizer</strong> Bauern<br />
brach in den Jahrzehnten zwischen 1960<br />
und 1980 fast vollständig mit den in der<br />
ersten Jahrhunderthälfte fleissig praktizierten<br />
Weide-, Freiland- und Auslaufhaltung.<br />
Das Tier wurde vielerorts zum reinen<br />
Produktionsfaktor, die Mensch-Tier-<br />
Beziehung auf ein Minimum heruntergefahren.<br />
Gleichzeitig weigerten sich die<br />
meisten Landwirtschaftsverbandsfunktionäre<br />
jahrzehntelang, die sich seit Ende<br />
der 1970er-Jahre häufenden praktischen<br />
und wissenschaftlichen Erkenntnisse über<br />
die für Tierwohl und -gesundheit negativen<br />
Folgen der intensiven Tierproduktion<br />
zur Kenntnis zu nehmen und verleugneten<br />
das tierschützerische Gedankengut ihres<br />
ersten Bauernsekretärs völlig.<br />
16<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
4. Tierschutzgesetz<br />
4.1 Entwicklung<br />
Tierschutzgesetzgebung von<br />
1981 bis 2011<br />
Anders als im Ausland, wo selbst in der<br />
EU die intensive Tierproduktion bis heute<br />
politisch nicht ernsthaft in Frage gestellt<br />
wird und der Nutztierschutz einen extrem<br />
schweren Stand hat, rief der tierquälerische<br />
Umgang mit Nutztieren in<br />
der Schweiz bereits früh starke und wirkungsvolle<br />
Gegenkräfte auf den Plan.<br />
Tierschützer wehrten sich zusammen mit<br />
verantwortungsbewussten Bauern und<br />
Konsumenten für einen umfassenden gesetzlichen<br />
Schutz der Nutztiere.<br />
1981 Die eidgenössische Tierschutzgesetzgebung<br />
tritt in Kraft. Wegen des Käfigbatterieverbots<br />
für Hühner und der<br />
umfassenden Haltungsregelung (Nutz-,<br />
Heim-, Wild- und Versuchstiere) sorgt sie<br />
für internationale Aufmerksamkeit und<br />
stellt auch heute noch – nach einer umfassenden<br />
Überarbeitung 2008 – das weltweit<br />
fortschrittlichste Tierschutzgesetzeswerk<br />
dar. Um die wirtschaftlichen Konsequenzen<br />
abzufedern, wird bestehenden<br />
nonkonformen Tierhaltungen eine zehnjährige<br />
Anpassungsfrist gewährt.<br />
1985 Die Tierschutzorganisationen thematisieren<br />
zunehmend die tierschützerischen<br />
Defizite der Tierschutzverordnung.<br />
Mittels Petitionen und parlamentarischen<br />
Vorstössen wird der Bund zum Handeln<br />
aufgefordert. Bemängelt werden Lücken,<br />
unbestimmte Rechtsbegriffe und ungenügende<br />
qualitative Vorgaben zur Tierhaltung.<br />
Ein weiteres Dauerthema stellt der<br />
Vollzug dar. Stark kritisiert werden lasche<br />
oder gar inexistente Kontrollen in gewissen<br />
Kantonen, die mangelhafte Oberaufsicht<br />
des BVET sowie die Überbetonung<br />
des «Zentimetertierschutzes» der Behörden<br />
auf Kosten des qualitativen Tierschutzes<br />
wie etwa Beleuchtung, Bewegung<br />
oder Beschäftigung von Tieren.<br />
1988 Eine STS-Postkartenaktion an den<br />
Bundesrat führt zu einem Verbot von<br />
Schildkrötenprodukten in der Schweiz.<br />
1989 Der STS veranstaltet in Basel ersten<br />
internationalen Kongress gegen Gentechnik<br />
an Tieren. Er fordert, dass die Tierzucht<br />
die Würde der Kreatur zu gewährleisten<br />
habe. 1992 wird die STS-Forderung nach<br />
der Würde der Kreatur in die Bundesverfassung<br />
aufgenommen. Seit 2008 findet<br />
sich diese auch im Tierschutzgesetz.<br />
1990 Der Bundesrat ergänzt die Tierschutzverordnung<br />
um Vorschriften zum<br />
Schutz von Kaninchen.<br />
1991 Die zehnjährige Übergangsfrist für<br />
die Umsetzung der Tierschutzvorschriften<br />
läuft ab. Mit Abstand am konsequentesten<br />
haben die Legehennenhalter die neuen<br />
Vorschriften umgesetzt. Sämtliche Käfigbatterien<br />
sind vor Ablauf der Frist verschrottet<br />
worden. Als tierfreundliche und<br />
wirtschaftliche neue Haltungsform setzt<br />
sich die an der ETH Zürich entwickelte<br />
Volierenhaltung durch. Diese gilt heute<br />
europaweit als die Alternative zur Käfighaltung,<br />
indem sie den Hühnern Einstreu<br />
zum Picken, Scharren und Staubbaden,<br />
geschützte Nester zum Eierlegen und erhöhte<br />
Ruhe- und Rückzugsorte anbietet.<br />
1993/1994 Als Konsequenz der permanenten<br />
Kritik am Tierschutzvollzug befassen<br />
sich die Geschäftsprüfungskommissi-<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
17
onen von National- und Ständerat vertieft<br />
mit der Tierschutzgesetzgebung und<br />
hören dabei auch Vertreter des STS an.<br />
Die sachlichen Vorwürfe des Tierschutzes<br />
werden zu erheblichen Teilen bestätigt<br />
und die GPK mahnt eine Revision von<br />
Gesetz und Verordnung an.<br />
1996 Der STS lanciert eine Petition für<br />
konkrete Tierschutzvorschriften auch für<br />
Pferde, Ziegen und Schafe, welche bislang<br />
nicht in der Tierschutzverordnung<br />
erwähnt sind («Vergessene Tiere»). Danach<br />
folgen zwei weitere Petitionen zur Regelung<br />
von Extremzuchten sowie für ein<br />
Verbot der betäubungslosen Ferkelkastration.<br />
Diese Forderungen werden im Rahmen<br />
der Revision der Tierschutzgesetzgebung<br />
von 2003 bis 2008 vom Bund erfüllt.<br />
1997 Nachdem der Vorschlag für ein<br />
überarbeitetes Tierschutzgesetz in der<br />
Vernehmlassung vonseiten der Tierhalter<br />
und des Tierschutzes stark kritisiert<br />
wurde, stoppt der Bundesrat das Revisionsprojekt<br />
und setzt stattdessen eine<br />
überarbeitete Tierschutzverordnung in<br />
Kraft. Diese bringt insbesondere für die<br />
Nutztiere Verbesserungen, so etwa die<br />
Gruppenhaltung für Kälber (Ausnahme:<br />
Einzeligluhaltung) sowie ein Verbot der<br />
Vollspaltenböden und der Anbinde- und<br />
Kastenstandhaltung für Sauen. Die Übergangsfrist<br />
für bestehende Stallungen beträgt<br />
zwischen fünf und zehn Jahre.<br />
1999 Das veränderte Mensch-Tier-Verhältnis<br />
führt zur Lancierung der Volksinitiative<br />
«Tier keine Sache» von STS,<br />
<strong>Schweizer</strong>ischer Kynologischer Gesellschaft<br />
(SKG) und <strong>Schweizer</strong> Tierärzteschaft<br />
(GST). Nachdem das Parlament die Gesetzgebung<br />
aufgrund einer parlamentarischen<br />
Initiative von Ständerat Dick Marty entsprechend<br />
angepasst hat, kann die Initiative<br />
im Jahr 2000 zurückgezogen werden.<br />
2000 Neue Erkenntnisse der Veterinärmedizin,<br />
Ethologie und Rechtswissen-<br />
Der Weg zum<br />
Tierschutzgesetz<br />
1961 Der STS startet eine Petition für ein<br />
eidgenössisches Tierschutzgesetz und<br />
sucht im Parlament nach Verbündeten.<br />
1963 Der Bundesrat nimmt die Petition<br />
samt einem von STS und beigezogenen<br />
Fachleuten ausformulierten Gesetzesentwurf<br />
entgegen. Nationalrat Walter Degen,<br />
Kantonstierarzt Baselland, doppelt mit einer<br />
von 41 Räten unterzeichneten Motion für die<br />
Schaffung eines Tierschutzgesetzes nach.<br />
1965 Das Buch «Animal Machines» der<br />
Engländerin Ruth Harrison erscheint unter<br />
dem Titel «Tiermaschinen» auf Deutsch<br />
und befeuert die Forderung nach einem<br />
Tierschutzgesetz. Es zeigt eindrücklich und<br />
schonungslos die Fehlentwicklung der<br />
landwirtschaftlichen Nutztierhaltung auf.<br />
1967 Der STS legt den Bericht «Nutztierhaltung<br />
ohne Gesetz» vor, in dem er die<br />
tierschutzwidrigen Zustände in <strong>Schweizer</strong><br />
Ställen aufzeigt und Druck macht für ein<br />
Tierschutzgesetz.<br />
1971 Eine Kommission unter der Leitung<br />
des Direktors des Bundesamtes für Veterinärwesen,<br />
Prof. Andreas Nabholz, nimmt<br />
die Arbeit für die Ausarbeitung eines Tierschutzverfassungsartikels<br />
auf.<br />
1973 Der Durchbruch: Volk und Stände<br />
heissen den neuen Tierschutzartikel in<br />
der Bundesverfassung mit überragender<br />
Mehrheit gut: 1 041 282 Ja zu 198 866<br />
Nein.<br />
1974 Bundesrat Ernst Brugger setzt eine<br />
ausserparlamentarische Kommission zur<br />
Ausarbeitung eines Tierschutzgesetzes<br />
ein, erneut unter der Leitung von Prof. Andreas<br />
Nabholz. Mitglied dieser Kommission<br />
ist auch STS-Geschäftsführer Hans-<br />
Peter Haering. Nabholz und Haering machen<br />
Druck für eine fortschrittliche und<br />
umfassende Tierschutzgesetzgebung.<br />
Aus diesem gemeinsamen Kampf für einen<br />
gesetzlichen Schutz der Tiere wird<br />
sich eine lebenslange enge Freundschaft<br />
entwickeln.<br />
Die zwei treibenden Personen hinter dem<br />
Tierschutzgesetz: Prof. Dr. Andreas Nabholz<br />
und Hans-Peter Haering<br />
1975 Der junge Auslandschweizer Mark<br />
M. Rissi dreht mit Schaggi Streuli, Ines Torelli,<br />
Jörg Schneider und Walo Lüönd den<br />
Spielfilm «De Grotzepuur». Dieser wird<br />
vom STS mitfinanziert und zeigt erstmals<br />
einem breiten und geschockten Kinopublikum<br />
Hühnerbatterien, angebunde Mastkälber<br />
mit Maulkorb und Ferkelkäfige. Damit<br />
war das Thema Tierfabriken schweizweit<br />
in der Öffentlichkeit lanciert und die<br />
Notwendigkeit eines Tierschutzgesetzes<br />
in breiten Kreisen erkannt.<br />
1977 Prominente Persönlichkeiten wie<br />
beispielsweise Nobelpreisträger Konrad<br />
Lorenz, Zoodirektor Prof. Heini Hediger<br />
und Publizist und Tierforscher Bernhard<br />
Grzimek unterstützen den STS in seinem<br />
Kampf für ein fortschrittliches Tierschutzgesetz.<br />
1978 Das Parlament beschliesst das erste<br />
eidgenössische Tierschutzgesetz. Die<br />
«Ligue contre la vivisection» ergreift dagegen<br />
das Referendum, während der STS<br />
und die Tierärzteschaft trotz gewissen<br />
Vorbehalten für das neue Gesetz kämpfen.<br />
Volk und Stände nehmen dieses im<br />
Dezember mit 78 % Jastimmen an.<br />
1979 Die eidgenössischen Behörden beginnen<br />
mit der Arbeit zur Tierschutzverordnung.<br />
In dieser sollen die konkreten<br />
Ausführungsbestimmungen zum Tierschutzgesetz<br />
niedergelegt werden.<br />
18<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
schaften sowie das veränderte Mensch-<br />
Tier-Verhältnis zeigen immer deutlicher,<br />
dass bezüglich des Tierschutzgesetzes<br />
Handlungsbedarf besteht und es mit Verordnungsänderungen<br />
allein nicht mehr<br />
getan ist. Klare Lücken bestehen etwa<br />
bei Heimtieren und der Gentechnologie<br />
an Tieren, ebenso bei Extremzuchten, wo<br />
zwar grundsätzlich ein Konsens für ein<br />
Verbot besteht, den Behörden dazu aber<br />
die Abstützung auf einen entsprechenden<br />
Passus im Tierschutzgesetz fehlt. Auch die<br />
vom Parlament beschlossene veränderte<br />
Rechtsstellung der Tiere wirkt in diese<br />
Richtung.<br />
2001 Nachdem eine vom Bundesrat eingesetzte<br />
ausserparlamentarische Kommission,<br />
in der auch Vertreter des Tierschutzes<br />
und der Tierärzteschaft Einsitz haben,<br />
eine umfassende Revision des mittlerweile<br />
zwanzigjährigen Tierschutzgesetzes<br />
gefordert hat, schickt der Bundesrat eine<br />
Botschaft für ein neues Tierschutzgesetz<br />
in die Vernehmlassung. Der STS kritisiert<br />
den Vorschlag stark, da der Fokus primär<br />
auf der Bildung der Tierhalter liegt und<br />
kaum materielle Besserstellungen für die<br />
Tiere zugestanden werden. Zudem will der<br />
Bundesrat die geltende Betäubungsvorschrift<br />
für Säugetiere teilweise aufheben.<br />
Diese Vorschrift geht auf eine STS-Volksinitiative<br />
zurück, welche 1893 von Volk<br />
und Ständen angenommen worden war.<br />
Jetzt ist Zeit für<br />
mehr Tierschutz!<br />
Unterstützen Sie die Volksinitiative<br />
«Für einen zeitgemässen Tierschutz (Tierschutz – JA!)»<br />
<strong>Schweizer</strong> TierSchuTz STS<br />
Ein stetiger Kampf für Verbesserungen<br />
beim Tierschutzgesetz<br />
– für alle Tiere!<br />
2002 Der STS lanciert die Volksinitiative<br />
«Tierschutz – Ja!». Diese enthält einen<br />
umfangreichen und detaillierten<br />
Tierschutzforderungskatalog. Aufgrund<br />
dieser Initiative und massiver Proteste<br />
zieht der Bundesrat den Vorschlag nach<br />
Aufhebung der generellen Betäubungspflicht<br />
beim Schlachten zurück. Damit ist<br />
die Wiedereinführung des betäubungslosen<br />
Schlachtverfahrens, des sogenannten<br />
Schächtens, vom Tisch. Das Parlament<br />
beschliesst, die Beratungen für ein neues<br />
Tierschutzgesetz um ein Jahr zu verschieben,<br />
damit dieses Geschäft parallel zur<br />
STS-Initiative behandelt werden kann.<br />
2003 Der STS reicht die Volksinitiative<br />
«Tierschutz – Ja!» mit rund 120 000 Unterschriften<br />
ein. Das Parlament beginnt<br />
mit den Beratungen für ein neues Tierschutzgesetz.<br />
Die Tierschutzorganisationen<br />
werden dabei mehrmals gehört und<br />
begleiten den Gesetzgebungsprozess intensiv.<br />
2005 Der STS kann die Volksinitiative<br />
«Tierschutz – Ja!» zurückziehen, da<br />
Stände- und Nationalrat das Tierschutzgesetz<br />
gegen den Willen des Bundesrats<br />
in Teilbereichen nachbesserten. Zudem<br />
verspricht der Bundesrat den Tierschutzorganisationen,<br />
bei der Revision<br />
der Tierschutzverordnung Lücken zu füllen<br />
(Schafe, Ziegen, Pferde, Fische) und<br />
materielle Verbesserungen zugunsten der<br />
Tiere durchzusetzen.<br />
2006 Der STS lanciert die Volksinitiative<br />
«Tierschutzanwalt JA!». Mit rund 140 000<br />
beglaubigten Unterschriften reicht er<br />
diese im Sommer 2007 ein.<br />
2008 Eine komplett überarbeitete neue<br />
Tierschutzgesetzgebung tritt in Kraft.<br />
Diese sieht unter anderem eine Beschränkung<br />
der Tiertransportdauer auf sechs<br />
Stunden, ein Verbot von Extremzuchten<br />
und des Ferkelkastrierens ohne Schmerzausschaltung<br />
sowie konkrete Vorschrif-<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
19
4.2 Bewertung des neuen<br />
Tierschutzgesetzes (TSchG)<br />
Das neue TSchG bringt eine ganze Reihe<br />
von Verbesserungen zugunsten der Tiere,<br />
beispielsweise:<br />
ten zum Schutz von Ziegen, Schafen und<br />
Pferden vor. Diese Nutztiere waren bislang<br />
von der Tierschutzgesetzgebung<br />
nicht geschützt. Neu ist auch eine verstärkte<br />
Aus- und Weiterbildung sowie Information<br />
der Tierhalter festgeschrieben.<br />
2010 Volk und Stände lehnen die Tierschutzanwalt-Initiative<br />
mit 77 % Neinstimmen<br />
ab.<br />
Vier Jahre lang haben Tierschützer,<br />
Bauern und Veterinäre gegen den Wankelmut<br />
des Bundesrats gekämpft, auf Druck<br />
der EU Schlachttiertransits durch die<br />
Schweiz führen zu wollen. Jetzt schreibt<br />
der Bundesrat ein umfassendes Schlachttiertransitverbot<br />
in der Tierschutzverordnung<br />
fest. Nachdem der STS die völlig<br />
veralteten Tierschutzvorschriften zur<br />
Schlachtung jahrelang kritisiert hat, setzt<br />
der Bundesrat eine Departementsverordnung<br />
mit substanziellen tierschutzrelevanten<br />
Vorschriften für Schlachttiere in<br />
Kraft.<br />
Seit 2010 verboten: Ferkelkastration<br />
ohne Schmerzausschaltung<br />
Vorstoss mit dem Ziel, den Viehexport zu<br />
subventionieren.<br />
Der Bundesrat legt dem Parlament<br />
eine Minirevision des Tierschutzgesetzes<br />
vor. So sollen Tierversuche transparenter<br />
deklariert, der Handel mit Katzen- und<br />
Hundefellen gänzlich verboten, der Einsatz<br />
von «Hilfsmitteln» im Umgang mit<br />
Tieren geregelt und vorsätzliche wie fahrlässige<br />
Verstösse gegen das Tierschutzgesetz<br />
angezeigt werden. 2012 nimmt das<br />
Parlament diese tierschützerischen Nachbesserungen<br />
an. Zudem beschliesst es ein<br />
Verbot der Delfinhaltung und hebt das<br />
Schlachttiertransitverbot auf Gesetzesstufe.<br />
Verboten wird auch der Hausiererhandel<br />
mit Hunden.<br />
• Verbot der Ferkelkastration ohne<br />
Schmerzausschaltung ab 2010<br />
• Beschränkung von Tiertransporten auf<br />
maximal sechs Stunden<br />
• Importverbot für Hunde- und Katzenfelle<br />
• Vorschriften zur Tierzucht und ein Verbot<br />
von Extremzuchten<br />
• Förderung der Tierschutzforschung<br />
• Schutz der «Tierwürde», inklusive Verbot<br />
Sodomie<br />
• Neue Vollzugsinstrumente: verbesserte<br />
Ausbildung und Information von Tierhaltern,<br />
Tiertransporteuren und<br />
Schlachthofpersonal; kantonale Tierschutzfachstellen;<br />
gesamtschweizerisch<br />
gültiges Tierhalteverbot; Zielvereinbarung<br />
und Leistungsaufträge; Verlängerung<br />
Verjährungsfristen.<br />
Insgesamt ist die Revision aus Sicht des<br />
Tierschutzes aber wegen der mutlosen<br />
Haltung des Bundesrats und den Tierschutzbremsern<br />
im Parlament ungenügend<br />
ausgefallen. Die Tiere hätten ein<br />
besseres Gesetz verdient. Nicht verankert<br />
werden konnten beispielsweise:<br />
• Verbot schwerbelastender Tierversuche<br />
und ethisch fragwürdiger Versuchszwecke<br />
(Kosmetika, Putzmittel, Luxusgüter,<br />
Tabak)<br />
• Periodischer Auslauf für alle Nutztiere<br />
• Artgerechte Haltung von Wild- und<br />
Versuchstieren<br />
• Verbot von tierschutzwidrigen Importen<br />
respektive Deklaration nach Art der<br />
Tierhaltung<br />
2011 Das Parlament lehnt eine Motion<br />
ab, welche das Stacheldrahtverbot für<br />
Pferdeweiden in der Tierschutzverordnung<br />
abschaffen will, und ebenso einen<br />
20<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
4.3 Bewertung der neuen<br />
Tierschutzverordnung<br />
(TSchV)<br />
Der Wille des Bundesrats, dem vom Parlament<br />
beschlossenen höheren Schutzniveau<br />
des Gesetzes, aber auch Erkenntnissen<br />
zum Tierwohl aus Wissenschaft und<br />
Praxis Rechnung zu tragen, ist in der<br />
neuen TSchV sichtbar. Davon können im<br />
Vergleich zur Situation vor 2008 gleich<br />
mehrere Tierarten profitieren. Beispielsweise<br />
die rund sieben Millionen Heimtiere<br />
sowie Pferde, Ziegen, Schafe, Truten und<br />
Fische. Diese bisher von der TSchV «vergessenen»<br />
Tierarten erhalten nun konkrete<br />
Schutzbestimmungen.<br />
Trotzdem: Die neue Tierschutzgesetzgebung<br />
ist nicht der grosse Wurf zugunsten<br />
der Nutztiere geworden, wie es<br />
etwa seinerzeit das Käfigbatterieverbot<br />
für Hühner darstellte. Nachdem Nutztiere<br />
jahrzehntelang ohne Rücksicht auf ihre<br />
Bedürfnisse ausgebeutet wurden, hätte<br />
unserer Gesellschaft ein konsequenterer<br />
Schritt zur Wiedergutmachung sehr wohl<br />
angestanden. Doch einmal mehr walzte<br />
die Agrarlobby mit einer Antitierschutzkampagne<br />
solche Überlegungen nieder.<br />
Wasser für alle Nutztiere<br />
Die neue TSchV ist strenger als die bisherige<br />
und bringt mit vielen Detailverbesserungen<br />
den allermeisten Nutztieren wenigstens<br />
etwas Erleichterung. Beispielsweise<br />
das Recht auf Wasser für alle. Bislang<br />
wurde nämlich jenen Mastschweinen<br />
und -kälbern, die mit flüssigen, salzreichen<br />
Abfällen aus der Käseerzeugung gefüttert<br />
wurden, Wasser vorenthalten – mit<br />
gerade bei Kälbern verheerenden Folgen<br />
für die Gesundheit und deutlich erhöhter<br />
Mortalitätsrate.<br />
Weniger Schmerz<br />
Zu begrüssen sind auch die geltend gemachte<br />
spezifischere Ausbildung und Information<br />
von Tierhaltern, der verbesserte<br />
Schutz von im Freien gehaltenen<br />
Tieren, die Forderung nach Sozialkontakt<br />
und Gruppenhaltung sowie der Schutz<br />
vor übermässigem Lärm. Endlich wurde<br />
auch eine tierschonende Regelung der allermeisten,<br />
teilweise extrem schmerzhaften<br />
Eingriffe getroffen wie beispielsweise<br />
für das Zähneabklemmen und Schwanzcoupieren<br />
bei Ferkeln, das Einsetzen von<br />
Nasenringen/-klammern bei Schweinen,<br />
das Kastrieren von Jungtieren oder das<br />
Schnabel- und Flügelcoupieren beim Geflügel.<br />
Punkto schmerzhafter Eingriffe<br />
sind <strong>Schweizer</strong> Nutztiere damit weltweit<br />
am besten geschützt.<br />
Lücken geschlossen<br />
Zu den Glückspilzen der Verordnungsrevision<br />
zählen Schafe, Ziegen, Truten<br />
und Pferde. Für sie gab es bislang keine<br />
konkreten und verbindlichen Schutzvorschriften,<br />
nun hat der Bundesrat welche<br />
erlassen. Seit 2010 dürfen die 76 000 Ziegen<br />
und 450 000 Schafe in der Schweiz<br />
weich auf Einstreu liegen. Dieses wissenschaftlich<br />
belegte Grundbedürfnis aller<br />
Bauernhoftiere – eine Ausnahme bildet<br />
das Geflügel, welches Einstreu zwar zum<br />
Picken, Scharren und Staubbaden benötigt,<br />
aber seiner Natur gemäss auf erhöhten<br />
Sitzstangen zu ruhen pflegt – gesteht<br />
der Bundesrat unseren Nutztieren allerdings<br />
nur selektiv zu. Zwei der drei Pechvögel<br />
der Revision, die Mastschweine und<br />
Bis 2008 gab es in der Tierschutzverordnung<br />
für Schafe<br />
gar keine Vorschriften<br />
Mastrinder, müssen weiterhin in kahlen,<br />
engen Buchten ohne Einstreu und ohne<br />
Auslauf ins Freie leben. Auch für die Kühe<br />
gab es keine relevanten Verbesserungen.<br />
Sie dürfen weiterhin den grössten Teil ihres<br />
Lebens angekettet im Stall gehalten<br />
werden, und auch der Kuhtrainer bleibt<br />
in bestehenden Ställen legal.<br />
Schluss mit fehlernährten<br />
Kälbern?<br />
Bessere Zeiten sollen für Mastkälber und<br />
Kalbfleischfreunde anbrechen. Der oft<br />
mangelnden Gesundheit von Mastkälbern<br />
aufgrund ihrer widernatürlichen<br />
Fütterung muss bislang mit häufigen Antibiotikagaben<br />
nachgeholfen werden. Ab<br />
Herbst 2013 sollen die natürlichen Abwehrkräfte<br />
von Kälbern gestärkt werden<br />
durch eine artgerechte, rohfaserreichere<br />
Zufütterung mit Heu, Silage oder Gras, die<br />
auch die Eisenversorgung verbessert. Die<br />
Konsumenten müssen deshalb endgültig<br />
Abschied nehmen vom hellen Kalbfleisch,<br />
haben aber dafür Gewähr, dass das in Zukunft<br />
rosa-rötliche Kalbfleisch von gesunden<br />
Kälbern stammt und der Antibiotikaeinsatz<br />
in der Kälbermast zurückgeht.<br />
Schweine können jetzt wenigstens<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
21
im Sommer etwas aufatmen. Da sie nicht<br />
schwitzen und sich in den Ställen nicht<br />
wie in der freien Natur suhlen können,<br />
litten sie bislang an warmen Tagen unter<br />
Überhitzung. Neu muss der Tierhalter<br />
für Abkühlungsmöglichkeiten sorgen. Ein<br />
probates Mittel dazu ist etwa die Schweinedusche,<br />
welche ein hitzegestresstes Tier<br />
selber mit einem Druck der Rüsselscheibe<br />
auslösen kann.<br />
Tiertransporte und<br />
Schlachten<br />
Der Transport von Nutztieren wird mit<br />
der neuen TSchV verbessert, insbesondere<br />
durch die weltweit einzigartige Beschränkung<br />
der Transportzeiten auf maximal<br />
sechs Stunden. Allerdings sind auch hier<br />
noch ungeklärte Fragen zu lösen. Beispielsweise<br />
fehlt eine klare und verbindliche<br />
Definition darüber, ab wann Tiere<br />
nicht mehr als transportfähig gelten und<br />
daher vor Ort oder im nächstgelegenen<br />
Schlachthof zu erlösen wären, statt vorher<br />
noch durch die halbe Schweiz gekarrt<br />
zu werden. Auch die Frage des Transports<br />
hochträchtiger Muttertiere ist bislang unbefriedigend<br />
gelöst. Solche Transporte<br />
sind hierzulande leider zulässig, während<br />
die EU in den letzten 10 % der Trächtigkeit<br />
Ferntransporte verbietet.<br />
Ein grosser Erfolg für die Tiere konnte<br />
im Bereich des Schlachtens erzielt werden.<br />
Die völlig veralteten Vorschriften<br />
wurden im Herbst 2010 endlich dem aktuellen<br />
Wissensstand angepasst<br />
4.4. Vollzug<br />
Der STS spürt trotz klarer Ablehnung der<br />
Tierschutzanwalt-Initiative durch Volk<br />
und Stände im Jahr 2010 den Willen vieler<br />
kantonaler Veterinärämter, den Vollzug<br />
zu verbessern. Offensichtlich scheinen<br />
die neuen Vollzugsinstrumente zu<br />
wirken. Aber auch der politische Wille<br />
für adäquate Kontrollen und Sanktionen<br />
scheint stärker geworden zu sein. Positiv<br />
vermerken die Tierschützer auch die<br />
ersten Versuche zu periodischen nationalen<br />
Tierschutzberichten, die sich im Gang<br />
befindenden Arbeiten zu einer Regelung<br />
von tierschutzrelevanten Extremzuchten<br />
sowie das im Auftrag des BVET erstellte<br />
erste Audit zum Tierschutzvollzug, das<br />
im Sommer 2011 publiziert wurde – auch<br />
wenn der STS darin gravierende Untersuchungslücken<br />
feststellen musste.<br />
Weltweit einzigartig: die<br />
Transportzeit ist auf maximal<br />
sechs Stunden beschränkt<br />
22<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
5. Agrarpolitik<br />
5.1 Entwicklungen von<br />
1951 bis 2011<br />
1951 Das Parlament verabschiedet ein<br />
neues Landwirtschaftsgesetz. Dessen nach<br />
den bitteren Erfahrungen in den Weltkriegsjahren<br />
nachvollziehbaren Ziele: Die<br />
Förderung eines gesunden Bauernstandes<br />
und der Nahrungsmittelproduktion, um<br />
die Versorgung der Bevölkerung auch in<br />
Krisenzeiten gewährleisten zu können.<br />
1970 Der wissenschaftlich-technische<br />
Fortschritt, die enormen Kraftfutterimporte,<br />
die Einkreuzung mit ausländischen<br />
Milchrassen und die daraus resultierenden<br />
Leistungssteigerungen von Kühen sowie<br />
die staatlich festgelegten Preise und Übernahmegarantien<br />
für Milch, <strong>Fleisch</strong> und<br />
pflanzliche Erzeugnisse führen Jahr für<br />
Jahr zu Überproduktionen («Milchschwemme»,<br />
«Butterberge») und teuren<br />
Überschussverwertungsmassnahmen. Dies<br />
und die Entstehung von gewerblichen<br />
Tiermastbetrieben, die im grossen Stil<br />
Vieh mästen («Tierfabriken», «Bahnhofbauern»),<br />
ohne Land und Futter zu besitzen,<br />
ruft Opposition in Bauern-, Konsumenten-<br />
und Tierschutzkreisen hervor.<br />
1979 Die Milchkontingentierung wird<br />
eingeführt, um den Milchüberschüssen<br />
Einhalt zu gebieten.<br />
1980 Gründung der Kleinbauernvereinigung<br />
(VKMB). Mit ihr arbeitet der STS<br />
in den kommenden Jahrzehnten immer<br />
wieder zusammen: Für eine bäuerlich geprägte,<br />
artgemässe Tierhaltung, gegen<br />
Tierfabriken und gegen den forcierten<br />
Strukturwandel («Bauernsterben»), nahm<br />
doch zwischen 1951 und 2011 die Zahl<br />
an Landwirtschaftsbetrieben von 200 000<br />
auf 60 000 ab.<br />
1981 Die Tierschutzgesetzgebung wird in<br />
Kraft gesetzt und in der Tiermast werden<br />
Höchstbestände festgelegt. So darf ein<br />
Landwirt nun beispielsweise nicht mehr<br />
als 1000 Schweine oder 12 000 Poulets<br />
mästen, und Stallneubauten werden nur<br />
mehr bodenbewirtschaftenden Betrieben<br />
bewilligt. Grossbestände und bodenunabängige<br />
Gewebebetriebe müssten abgebaut<br />
werden. Damit versucht die Schweiz frühzeitig,<br />
der Massentierhaltung einen Riegel<br />
zu schieben.<br />
1985 Die negativen ökologischen Folgen<br />
der intensiven Tier- und Pflanzenproduktion<br />
treten immer stärker hervor<br />
und werden zunehmend öffentlich kritisiert.<br />
Als Folge davon lanciert die VKMB<br />
die «Kleinbauerninitiative».<br />
1989 Die Kleinbauerninitiative wird nur<br />
ganz knapp mit 51 % Neinstimmen abgelehnt.<br />
Dieser unerwartete Achtungserfolg<br />
rüttelt Bundesrat und Behörden auf und<br />
hilft mit, die Weichen für eine neue Agrarpolitik<br />
zu stellen.<br />
1990 Der STS wendet sich gegen die Gentechnik<br />
an Nutztieren, insbesondere gegen<br />
die Erzeugung von transgenen Tieren<br />
und den Einsatz des gentechnisch veränderten<br />
Wachstumshormons rBST (Rekombinantes<br />
bovines Somatotropin) zur Leistungssteigerung<br />
bei Kühen, welches ab<br />
1993 in der US-Milchproduktion in grossem<br />
Stil eingesetzt, in der Schweiz und<br />
den europäischen Staaten aber nicht zugelassen<br />
wird. Er bringt seine Forderung<br />
nach einem Verbot von Gentech-Tieren<br />
sowie die Idee, tierfreundliche Formen der<br />
Nutztierhaltung mittels Direktzahlungen<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
23
zu fördern, in die von NGOs wie WWF,<br />
Pro Natura, VKMB und KAGfreiland sowie<br />
den politischen Parteien SP und LdU<br />
lancierte «Bauern- und Konsumenten-Initiative»<br />
ein.<br />
1992 Einreichung der «Bauern- und Konsumenten-Initiative».<br />
Sie verlangt eine<br />
neue Agrarpolitik mit der Einführung von<br />
allgemeinen und ökologischen Direktzahlungen.<br />
1993 Der STS erstellt einen Hintergrundbericht<br />
zur verbreiteten Verabreichung<br />
von jährlich zehntausenden von<br />
Tonnen antimikrobieller Leistungsförderer<br />
(AML), vornehmlich in der Aufzucht<br />
sowie der Mast von Rindern und Schweinen.<br />
Die Hauptkritik: Schlechte Haltungsbedingungen<br />
können mit diesen «Fütterungsantibiotika»<br />
übertüncht und Resistenzen<br />
gefördert werden. Nachdem die<br />
relevanten Labelprogramme den Einsatz<br />
von AML bereits ausschliessen, fordert<br />
der STS nun ein landesweites Verbot,<br />
analog dem in den 1980er-Jahren in der<br />
Schweiz und später auch in der EU erlassenen<br />
Verbot zum Einsatz von Hormonen<br />
in der Tiermast.<br />
Höhere Investitionskredite<br />
gibt es für besonders tierfreundliche<br />
Stallbauten<br />
1995 Volk und Stände nehmen einen<br />
neuen Landwirtschaftsartikel in der Bundesverfassung<br />
an, der das heutige Direktzahlungssystem<br />
festschreibt und mehr<br />
ökologische und tierschützerische Leistungen<br />
fordert. Mit diesem grossen Erfolg<br />
können STS, Umweltschutzorganisationen<br />
und Kleinbauernvereinigung<br />
die Bauern- und Konsumenten-Initiative<br />
zurückziehen.<br />
Damit hat die alte Agrarpolitik ausgedient.<br />
Die Preise für Milch, <strong>Fleisch</strong>,<br />
Eier und pflanzliche Erzeugnisse werden<br />
in Zukunft nicht mehr vom Staat<br />
garantiert, sondern dem Markt überlassen.<br />
Die Marktkräfte Angebot und Nachfrage<br />
sowie die Marktmacht spielen nun<br />
und lassen die Produzentenpreise schon<br />
bald teilweise empfindlich zurückgehen.<br />
So erhielt ein Bauer 1993 für einen Liter<br />
Milch noch 1,08 Franken, heute, nach<br />
Aufhebung der Milchkontingentierung,<br />
nur noch knapp 60 Rappen!<br />
Im Gegenzug werden die früheren<br />
riesigen Marktagrarsubventionen im Inland<br />
und beim Export schrittweise abgebaut,<br />
um mit einem Teil der so frei werdenden<br />
Gelder die Bauern in Form von<br />
allgemeinen Direktzahlungen zu unterstützen.<br />
Daneben erhalten die Bauern die<br />
Möglichkeit, sich freiwillige Mehrleistungen<br />
für Ökologie und Tierwohl (Biolandbau;<br />
Ökoflächen wie Hecken, Hochstämme<br />
oder extensive Wiesen; Freilandhaltung<br />
von Nutztieren) über ökologische<br />
Direktzahlungen abgelten zu lassen. Sowohl<br />
allgemeine als auch ökologische Direktzahlungen<br />
sind an den ökologischen<br />
Leistungsnachweis (ÖLN) gebunden, das<br />
heisst jeder Bauer, der solche Gelder bezieht,<br />
verpflichtet sich zu:<br />
• tiergerechter Haltung der Nutztiere<br />
• ausgeglichener Düngerbilanz<br />
• angemessenem Anteil an ökologischen<br />
Ausgleichsflächen<br />
• geregelter Fruchtfolge<br />
• geeignetem Bodenschutz<br />
• Auswahl und gezielter Anwendung von<br />
Pflanzenbehandlungsmitteln<br />
Bei der Ausarbeitung des Direktzahlungssystems<br />
bringt der STS, unterstützt auch<br />
vom <strong>Schweizer</strong>ischen Bauernverband,<br />
das Anliegen ein, besonders tierfreundliche<br />
Ställe (BTS) und den regelmässigen<br />
Auslauf (RAUS) speziell zu fördern. Diese<br />
Förderprogramme führen in der Folge<br />
zusammen mit der Nachfrage der Konsumenten<br />
nach tierfreundlichen Produkten<br />
(Labelprogramme) dazu, dass immer<br />
mehr Nutztiere Auslauf und Weidegang<br />
erhalten.<br />
1998 Der Bundesrat beschliesst im Rahmen<br />
der Strukturverbesserungsmassnahmen<br />
für die Landwirtschaft, an besonders<br />
tierfreundliche Stallneubauten 20 % höhere<br />
Investitionskredite als für konventionelle<br />
auszurichten. Er kommt damit der<br />
STS-Forderung, Investitionskredite nur<br />
mehr für BTS/RAUS-konforme Stallbauten<br />
zu sprechen, ein Stück weit entgegen.<br />
Die Strukturverbesserungsverordnung<br />
wird auf 1999 in Kraft gesetzt. Von den<br />
unterstützten Stallplätzen werden in den<br />
letzten Jahren über 90 % als BTS-Ställe<br />
gebaut.<br />
1999 Die Agrarpolitik stellt nebst der<br />
Multifunktionalität der Landwirtschaft<br />
(naturnahe, tierfreundliche Lebensmit-<br />
24<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
telerzeugung; Sorge um die natürlichen<br />
Lebensgrundlagen wie Luft, Böden und<br />
Wasser) neu die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit<br />
(Abbau des früheren<br />
Grenzschutzes und vermehrte Importkonkurrenz)<br />
ins Zentrum. Diese Zusatzaufgabe<br />
wird in der Folge die notwendige<br />
Ökologisierung der Landwirtschaft stark<br />
behindern.<br />
Der Bundesrat erlässt ein AML-Verbot.<br />
Damit ist die Schweiz nach Schweden,<br />
welches bereits zehn Jahre zuvor den<br />
Einsatz von Fütterungsantibiotika verboten<br />
hat, weltweit das zweite Land, welches<br />
dem AML-Einsatz einen Riegel schiebt.<br />
Die EU wird erst 2009 mit einem Verbot<br />
nachziehen.<br />
Gegen neue Tierhöchstbestände:<br />
Abgabe der Petition<br />
– und Ziel erreicht<br />
2001 Der STS erreicht, dass Direktzahlungen<br />
zur Förderung des regelmässigen<br />
Auslaufs von Nutztieren (RAUS-Beiträge)<br />
inskünftig nicht mehr für Turbomasthühnerrassen<br />
ausgerichtet, sondern an eine<br />
Mindestmastdauer gebunden werden; zudem<br />
wird die Beitragshöhe für Freilandmasthühnerhaltungen<br />
erhöht.<br />
2003 Der Bundesrat setzt die Verordnung<br />
über die Deklaration für landwirtschaftliche<br />
Erzeugnisse aus in der Schweiz verbotener<br />
Produktion in Kraft. Deklariert werden<br />
müssen unter anderem importierte<br />
Käfigbatterieeier oder <strong>Fleisch</strong> von Tieren,<br />
die AML oder Hormone zur Leistungssteigerung<br />
erhalten, seit 2012 auch Importfleisch<br />
von Kaninchen in Käfigbatterien.<br />
Das Gentechnikgesetz tritt in Kraft<br />
und verbietet den Einsatz gentechnisch<br />
veränderter Nutztiere in der Landwirtschaft.<br />
Gentechnisch veränderte Wirbeltiere<br />
dürfen nur für Zwecke der Forschung,<br />
Therapie und Diagnostik an Menschen<br />
oder Tieren erzeugt und in Verkehr<br />
gebracht werden.<br />
2005 Zusammen mit der Kleinbauernvereinigung<br />
reicht der STS eine Petition<br />
gegen Tierfabriken mit 90 000 Unterschriften<br />
ein. Als Konsequenz hält das<br />
Parlament an den Höchsttierbestandesvorschriften<br />
fest.<br />
Volk und Stände nehmen die Gentechfrei-Initiative<br />
der <strong>Schweizer</strong>ischen<br />
Arbeitsgruppe Gentechnologie (SAG) an,<br />
deren Mitträger der STS ist. Die Landwirtschaft<br />
wird auf ein Gentech-Moratorium<br />
verpflichtet (Anbau, Futtermittel).<br />
2006 Der STS deckt das Ansinnen des<br />
Bundesrats auf, anlässlich der Revision<br />
der eidgenössischen Verordnung über<br />
die Ein-, Durch- und Ausfuhr von Tieren<br />
und Tierprodukten (EDAV) neu Schlachttiertransits<br />
zuzulassen. In der Folge werden<br />
sieben Standes- und eine parlamentarische<br />
Initiative eingereicht, sodass der<br />
Bundesrat nicht umhinkommt, 2010 ein<br />
Transitverbot für alle Schlachttiere in der<br />
Tierschutzverordnung festzuschreiben.<br />
2008 Der STS startet die Kampagne «Weg<br />
mit dem Stacheldraht». Alle grossen Zaunanbieter<br />
verpflichten sich, auf den Verkauf<br />
dieses Produkts für Weidezäune zu<br />
verzichten. Eine STS-Weidezaunbroschüre<br />
wird breit an Tierhalter verteilt. In<br />
der Folge verbieten viele <strong>Schweizer</strong> Gemeinden<br />
dieses tierschutzwidrige Zaunsystem,<br />
und der STS unterstützt Aktionen<br />
zum Ersatz von Stacheldraht auf Weiden.<br />
2009 Die Milchkontingentierung wird<br />
aufgehoben. Der STS hat im Vorfeld vehement<br />
davor gewarnt mit dem Argument,<br />
dass die Kühe nun zu noch mehr Leistung<br />
gezwungen würden und der Kraftfuttereinsatz<br />
anstiege. In der Folge fällt<br />
der bäuerliche Milchpreis auf knapp 60<br />
Rappen. Es wird viel zu viel konventionelle<br />
Milch produziert und immer mehr<br />
importiertes Kraftfutter eingesetzt.<br />
Der STS erreicht eine Erhöhung der<br />
Beiträge zur Förderung von besonders<br />
tierfreundlichen Gruppenkaninchenhaltungen.<br />
2010 Das Ansinnen des Bundesrats, im<br />
Agrarbereich ein umfassendes Freihandelsabkommen<br />
mit der EU abzuschliessen,<br />
wird unterschiedlich aufgenommen.<br />
Das Spektrum reicht von vorbehaltloser<br />
Zustimmung seitens des Handels und der<br />
Importeure über ein «Ja, aber» der Agrarallianz<br />
bis zur Ablehnung durch die meisten<br />
bäuerlichen Organisationen. Um sich<br />
eine eigene Meinung bilden zu können,<br />
recherchiert der STS die Tierhaltungsbedingungen<br />
in der EU und stellt sie den<br />
schweizerischen Gegebenheiten gegenüber.<br />
Er kommt dabei zum Schluss, dass<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
25
aus Tierschutzsicht ein Freihandelsabkommen<br />
mit der EU abzulehnen ist, weil<br />
dadurch unter anderem zunehmend Produkte<br />
aus Tierfabriken importiert und die<br />
einheimischen Tierwohlanstrengungen<br />
konkurrenziert würden.<br />
Die Agrarallianz und der STS setzen<br />
sich für eine konsequente Qualitätsstrategie<br />
ein, sowohl in der Agrarpolitik bei der<br />
Neuausrichtung der Direktzahlungen als<br />
auch am Markt. Die <strong>Schweizer</strong> Landwirtschaft<br />
hat langfristig nur eine Chance mit<br />
einer Qualitätsproduktion, welche sich klar<br />
von der weltweit verfolgten Intensiv(tier)<br />
produktion abhebt. Mit der zwar noch ungenügend<br />
unterstützten, aber doch eingeführten<br />
Ökologisierung und Tierwohlförderung<br />
sowie einer ständig steigenden<br />
Anzahl sensibilisierter Konsumenten<br />
verfügt die Schweiz dafür über gute Ausgangsbedingungen.<br />
2011 In der Vernehmlassung zur Agrarpolitik<br />
2014–2017 (AP 2014–17) bringt der<br />
Bundesrat einen Vorschlag für eine komplette<br />
Neugestaltung des Direktzahlungssystems.<br />
Die allgemeinen tierhaltungsbezogenen<br />
Direktzahlungen sollen komplett gestrichen<br />
werden. Der STS fordert eine konsequentere<br />
und verstärkte Förderung des<br />
Tierwohls, eine bessere Deklaration von<br />
Produkten aus verbotenen Produktionsmethoden,<br />
die Beibehaltung der Höchsttierbestandesregelung,<br />
die Abschaffung von<br />
Subventionen für öffentliche Viehmärkte<br />
und die Auflage, dass Investitionskredite<br />
und andere Strukturverbesserungsmassnahmen<br />
nur mehr für tierfreundliche Stallbauprojekte<br />
gesprochen werden sollen. Das<br />
Parlament wird ab Herbst 2012 das neue<br />
Landwirtschaftsgesetz und die Neuausrichtung<br />
des Direktzahlungssystems beraten<br />
und beschliessen.<br />
5.2 Landwirtschaftsgesetz<br />
und Direktzahlungen<br />
Mit Einführung der Direktzahlungen in<br />
den 1990er-Jahren änderte sich die Agrarpolitik<br />
drastisch. Der Systemwechsel war<br />
notwendig und richtig. Die Direktzahlungen<br />
haben die Abkehr von der Planwirtschaft<br />
hin zur Marktwirtschaft mit ermöglicht<br />
und für erste messbare Resultate bei<br />
der notwendigen Ökologisierung und Tierwohlförderung<br />
gesorgt. Der ÖLN als Bedingung<br />
zur Erhaltung von Direktzahlungen<br />
war und ist sinnvoll.<br />
Das Vertrauen in die Direktzahlungen<br />
Unangemeldete Kontrollen<br />
wären wichtig für glaubwürdige<br />
Direktzahlungen<br />
litt indessen durch bekannt gewordene<br />
Mängel bei den Kontrollen und Sanktionen.<br />
Ein erheblicher Teil der Tierhaltungskontrollen<br />
wird angemeldet durchgeführt,<br />
sodass der qualitative Tierschutz oft nicht<br />
korrekt beurteilt werden kann und tierschutzwidrige<br />
Bauern bevorteilt werden.<br />
Dies, obwohl der ÖLN klipp und klar eine<br />
tiergerechte Haltung als Bedingung für<br />
den Bezug der Direktzahlungen festlegt.<br />
Ein Entscheid des Bundesgerichts im Sommer<br />
2011 ermunterte Tierquäler geradezu<br />
und machte die Steuerzahler zu Betrogenen.<br />
Denn das Bundesgerichtsurteil würde<br />
in der Praxis dazu führen, dass ein Landwirt<br />
mit legaler Vollspaltenboden-Schweinemast,<br />
der die Schweine derart vernachlässigt,<br />
dass sie verenden, keinerlei Abzüge<br />
bei den Direktzahlungen zu fürchten hätte.<br />
Mit Recht sehen breite Kreise der Bevölkerung<br />
darin eine Verschleuderung von Steuergeldern.<br />
Das Direktzahlungssystem wurde wegen<br />
der extremen Dominanz der allgemeinen<br />
Direktzahlungen von 80 % der Gesamtsumme<br />
von breiten Kreisen ausserhalb<br />
der Landwirtschaft hinterfragt. Die<br />
gewandelten Bedürfnisse und Erwartungen<br />
der Steuerzahler und Konsumenten,<br />
die gemachten Erfahrungen mit dem bisherigen<br />
System und neue Erkenntnisse legen<br />
nahe, die allgemeinen Direktzahlungen<br />
in Zukunft weniger und die ökologischen<br />
(Mehr-)Leistungen in Zukunft stärker<br />
zu gewichten. Auch die OECD hat im<br />
Herbst 2007 kritisiert, dass nur ein relativ<br />
kleiner Teil der über 2,5 Milliarden Franken<br />
jährlich ausgeschütteten Direktzahlungen<br />
für Konsumenteninteressen wie<br />
den Tier- und Umweltschutz und den Biolandbau<br />
eingesetzt würden. Die Untersuchungen<br />
der Agrarplattform in den Jahren<br />
2005 bis 2007 erbrachten zudem Indizien<br />
dafür, dass diverse ökologische Direktzahlungen,<br />
insbesondere auch bei den BTS/<br />
RAUS-Förderprogrammen, den Mehraufwand<br />
der beteiligten Landwirte nicht annähernd<br />
abdecken.<br />
Als Konsequenz nach 15 Jahren sollen<br />
mit AP 2014–17 die Direktzahlungen<br />
zwar weitergeführt, aber leistungsbezogener<br />
ausgeschüttet werden.<br />
26<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
5.3 Tierwohlförderung<br />
Die Agrarpolitik versucht, das Tierwohl<br />
primär durch zwei Anreizmassnahmen zu<br />
fördern: Bei Stallneubauten über 20 %<br />
höhere Investitionskredite für besonders<br />
tierfreundliche Ställe (BTS), beispielsweise<br />
Freilaufställe für Kühe, sowie<br />
jährliche Direktzahlungen für Bauern, die<br />
sich verpflichten, die Vorschriften der<br />
Tierwohlprogramme Regelmässiger Auslauf<br />
ins Freie (RAUS) und Besonders tierfreundliche<br />
Stallhaltung (BTS) einzuhalten.<br />
Die Grundidee der ökologischen und<br />
der Tierwohldirektzahlungen – Förderung<br />
konkreter und gesellschaftlich erwünschter<br />
Leistungen mittels Beiträgen – hat sich<br />
auch bei BTS und RAUS als richtig erwiesen.<br />
Hier wurde tatsächlich bei mehreren<br />
der geförderten Tierkategorien etwas ausgelöst<br />
und somit Gesundheit und Wohlbefinden<br />
der Tiere verbessert.<br />
Das Tierwohl stellt nur teilweise eine<br />
marktfähige Leistung dar, die über das<br />
Schaffen von Labels und entsprechender<br />
Konsumentennachfrage abgegolten<br />
werden kann. Für viele der in der Landwirtschaft<br />
genutzten rund 25 Tierkategorien<br />
gibt es denn auch keine, respektive<br />
Entwicklung Tierwohl-Förderprogramme<br />
BTS und RAUS 1996 bis 2009<br />
CHF 180<br />
CHF 160<br />
CHF 140<br />
CHF 120<br />
CHF 100<br />
CHF 80<br />
CHF 60<br />
CHF 40<br />
CHF 29<br />
CHF 0<br />
144<br />
47<br />
lassen sich überhaupt keine Tierwohllabels<br />
schaffen, mit denen sich eine bessere<br />
Tierhaltung via Markt und Konsumentennachfrage<br />
fördern liesse. Das gilt etwa<br />
für alle Jung- und Aufzuchttiere, Muttersauen,<br />
Ziegen, Schafe und Pferde.<br />
Deshalb führte der Bund mit dem Direktzahlungssystem<br />
Mitte der 1990er-<br />
Jahre Förderprogramme für besonders<br />
tierfreundliche Haltungsformen ein. In<br />
Ergänzung zu den beschränkten Möglichkeiten<br />
des Marktes sollten sich Landwirte<br />
auf freiwilliger Basis an staatlichen Programmen<br />
zur Tierwohlförderung beteiligen.<br />
Nach übereinstimmender Meinung<br />
von Behörden, Bauern und Tierschützern<br />
wirken BTS und RAUS zielgenau durch<br />
konkrete und nachweisbare Tierwohlmehrleistungen,<br />
spezifiziert für jede der<br />
rund zwei Dutzend auf <strong>Schweizer</strong> Bauernhöfen<br />
gehaltenen Tierkategorien. Tierfreundliche<br />
Haltungsformen kosten mehr<br />
als lediglich gesetzeskonforme. Sie verursachen<br />
Mehrarbeit, erfordern zusätzliche<br />
Infrastruktur (Ausläufe, verhaltensgerechte<br />
Einrichtungen) und Unterhaltskosten<br />
(Einstreu zum Liegen statt kahle,<br />
harte Betonböden). Gleichzeitig werden<br />
wie etwa bei Freilandpoulets durch<br />
153<br />
50<br />
161 163<br />
RAUS Gesamte Beitragssumme/Jahr<br />
BTS Gesamte Beitragssumme/Jahr<br />
1996 2004 2006 2008 2009<br />
56<br />
60<br />
die Wahl entsprechender Rassen, welche<br />
langsamer wachsen und weniger <strong>Fleisch</strong><br />
ansetzen, die Einnahmen vermindert.<br />
BTS/RAUS haben zu nachweislichen<br />
Verbesserungen des Tierwohls und der<br />
Tiergesundheit geführt, wie dies beispielsweise<br />
Untersuchungen von BVET und<br />
BLW an Milchkühen oder Mastschweinen<br />
zeigen. Die grössten Effekte bezüglich<br />
Tierwohl und Tiergesundheit wurden<br />
stets auf jenen Betrieben gemessen, welche<br />
BTS und RAUS kombinieren. Die qualitativen<br />
Vorgaben der BTS- und RAUS-<br />
Vorschriften haben sich grösstenteils bewährt<br />
und gewährleisten ein akzeptables<br />
Tierwohl.<br />
Die Vorgaben verbessern in Teilbereichen<br />
auch die Produktequalität, die Lebensmittelsicherheit<br />
(BTS/RAUS-Mastschweinehaltungen<br />
weisen deutlich weniger<br />
antibiotikaresistente Keime auf)<br />
und die Tiergesundheit (z. B. weniger<br />
Hautschäden bei BTS/RAUS-Kühen und<br />
-Schweinen; tiefere Mortalitätsrate bei<br />
Freilandpoulets). Die mit RAUS geförderte<br />
Weidehaltung von Rindern, Kühen, Ziegen<br />
und Schafen verringert die Ammoniakemissionen<br />
und den CO2-Ausstoss.<br />
Indem sie einen Teil dieses Mehraufwands<br />
abdecken, bieten BTS- und RAUS-<br />
Beiträge den Bauern einen gewissen Anreiz,<br />
die gesellschaftlich erwünschte<br />
Mehrleistung für das Tierwohl zu erbringen.<br />
Ideale Voraussetzungen sind dabei<br />
motivierte Tierhalter, deren Betriebe<br />
gute bauliche Voraussetzungen für BTS/<br />
RAUS aufweisen (Stallsystem erfordert<br />
nur leichte Anpassungen, oder es ist ein<br />
Neu-/Umbau geplant) und die eine Tierkategorie,<br />
für deren Produkte ein Label im<br />
Detailhandel oder im Gastrokanal existiert,<br />
auf BTS/RAUS umstellen wollen. Die<br />
allermeisten Betriebe, die sich heute an<br />
BTS/RAUS beteiligen, dürften zwei oder<br />
gar alle drei dieser Voraussetzungen mitbringen.<br />
Für rund die Hälfte der Tierkategorien<br />
lassen sich aber keine Tierwohllabels und<br />
entsprechende marktgängige Produkte<br />
schaffen, sodass hier keine Synergien<br />
zwischen Markt und BTS/RAUS/Agrarpolitik<br />
spielen können. Der Umstellungsan-<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
27
Beteiligung an Tierwohl-Förderprogrammen BTS und RAUS<br />
Tierkategorie BTS (% aller GVE) RAUS (% aller GVE)<br />
2004 2006 2008 2009 2004 2006 2008 2009<br />
Milchkühe 23 27 32 34 73 77 79 79<br />
Rinder > 1 Jahr 29 33 36 39 69 73 75 74<br />
Stiere > 1 Jahr 30 36 38 51 56 57<br />
Weibl. Jungvieh 4-12 Monate 29 32 35 60 63 66<br />
Männl. Jungvieh 4-12 Monate 11 13 15 * 28 31 33 *<br />
Mutterkühe 80 84 85 93 94 95<br />
Mast (älter als 4 Monate) 59 60 61 46 48 50<br />
Total Rindvieh 30 35 39 40 70 73 76 76<br />
Ziegen 27 30 32 33 69 72 73 75<br />
Kaninchen 16 45 41 30 4 3 4 3<br />
Sauen 55 58 66 64 53 59 66 66<br />
Mastschweine 64 64 64 64 57 60 63 50<br />
Total Schweine 61 62 65 64 57 60 63 50<br />
Legehennen 78 81 86 86 62 65 69 69<br />
Poulets 85 88 88 88 10 9 10 11<br />
Pferde 13** 83 84 84 84<br />
Schafe *** 80 82 84 84<br />
* 2009: Änderung der Kategorien ** BTS-Pferde 2009 eingeführt *** Es existiert kein BTS-Programm für Schafe<br />
reiz hängt damit ausschliesslich von der<br />
Höhe der BTS/RAUS-Beiträge ab. Kommen<br />
dann noch ungünstige betriebliche<br />
Voraussetzungen hinzu, sind die allermeisten<br />
der heutigen BTS/RAUS-Ansätze<br />
viel zu tief, um in betriebswirtschaftlicher<br />
Hinsicht einen echten Anreiz darzustellen.<br />
Die seit 2006 feststellbare Stagnation<br />
bei der BTS/RAUS-Beteiligung hat ihre<br />
Ursache in diesen Gegebenheiten.<br />
5.4 Stellenwert des Tierwohls<br />
bei Steuerzahlern und Konsumenten<br />
Bei der Frage nach der Förderung des Tierwohls<br />
sind nebst den fachlichen Grundlagen<br />
der Tierhaltung und den wirtschaftlichen<br />
Gegebenheiten die Erwartungen der<br />
Bevölkerung von zentraler Bedeutung. Die<br />
Bevölkerung kauft nicht nur die von der<br />
Landwirtschaft und den nachfolgenden<br />
Stufen erzeugten Produkte, über die Steuern<br />
kommt sie überdies für die Direktzahlungen<br />
auf. Ohne Konsumenten und Steuerzahler<br />
keine Landwirtschaft!<br />
Coop Isopublic-Umfrage (2009): Für<br />
87 % der Befragten ist der Nutztierschutz<br />
wichtig bis sehr wichtig. 73 % achten beim<br />
Einkaufen auf Labelfleisch. 65 % finden,<br />
dass Labelfleisch qualitativ besser sei.<br />
Univox-Umfragereihe zum Thema<br />
«Landwirtschaft» der ETH (seit 2009 ist<br />
das BLW Auftraggeber): Seit 1995 ist das<br />
Tierwohl stets das wichtigste Anliegen der<br />
Befragten. Umfrageergebnis 2009: Betreffend<br />
Einsatz öffentlicher Gelder in der<br />
Landwirtschaft wird an erster Stelle die<br />
Unterstützung/Förderung der tierfreundlichen<br />
Haltung genannt. Der Wunsch<br />
nach Förderung der tierfreundlichen Haltung<br />
mittels spezifischer Direktzahlungen<br />
hat in den vergangenen Jahren zugenommen.<br />
In den Augen der Bevölkerung stellt<br />
die artgerechte Tierhaltung die wichtigste<br />
Aufgabe der Landwirtschaft dar. Weniger<br />
stark gewichtet werden Landschaftspflege,<br />
gesicherte Ernährung in Krisenzeiten,<br />
Pflege der bäuerlichen Lebensweise<br />
und die Besiedelung abgelegener Gebiete.<br />
Steuerzahler ernst nehmen<br />
Will die Agrarpolitik die Anliegen der<br />
Konsumenten und Steuerzahler ernst nehmen,<br />
muss sie dem Tierwohl in Zukunft<br />
einen weit höheren Stellenwert einräumen.<br />
Die Anliegen der Befragten haben<br />
einen realen Hintergrund: Millionen von<br />
Nutztieren können noch nicht von BTS/<br />
RAUS-Haltungen profitieren und werden<br />
lediglich gemäss den Mindestvorschriften<br />
der Tierschutzverordnung gehalten. Diese<br />
garantieren keine tierfreundliche Haltung,<br />
sondern legen lediglich die Grenze<br />
zur Tierquälerei fest.<br />
Den Konsumenten und Steuerzahlern<br />
geht es zweifellos in erster Linie um die<br />
Ethik der Tiernutzung. Darüber hinaus<br />
spielen aber auch eigennützige Motive<br />
eine Rolle. Dazu gehören insbesondere<br />
der wissenschaftlich erhärtete Zusammenhang<br />
zwischen dem Tierwohl einerseits<br />
und der Tiergesundheit (Krankheiten/Seuchen;<br />
Medikamenteneinsatz) sowie<br />
der Produktequalität und -sicherheit<br />
andererseits. Als weiteres gewichtiges Argument<br />
für mehr Tierwohl ist die positive<br />
Wirkung eines geregelten und gepflegten<br />
Weidegangs auf den Klimaschutz und die<br />
Verminderung von Ammoniakemissionen<br />
zu nennen.<br />
28<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
6. Information, Markt und Konsum<br />
6.1 Entwicklung von<br />
1972 bis 2011<br />
1972 KAGfreiland wird unter dem Namen<br />
«Konsumenten-Arbeitsgruppe zur<br />
Förderung tierfreundlicher und umweltgerechter<br />
Nutzung von Haustieren» gegründet<br />
und vermarktet ab 1973 <strong>Schweizer</strong><br />
Freilandeier. 1974 kommt das erste<br />
KAG-<strong>Fleisch</strong> auf den Markt. Das ist die<br />
Geburtsstunde von Produkten aus tierfreundlicher<br />
Haltung. Der STS arbeitet in<br />
den folgenden Jahrzehnten eng mit KAGfreiland<br />
zusammen.<br />
1976 Aus der Einsicht heraus, dass der<br />
Tierschutz nicht nur eine Frage von Vorschriften<br />
und Gesetzen ist, sondern viel<br />
mit dem Verhalten der Konsumenten zu<br />
tun hat, starten STS und die Zeitschrift<br />
«Annabelle» die Aktion «Herz statt Portemonnaie».<br />
Eier aus Boden- und Freilandhaltung<br />
werden speziell gekennzeichnet<br />
und vermarktet, die Betriebe vom STS<br />
kontrolliert.<br />
1980 Der STS und der Zürcher Tierschutz<br />
unterstützen über die von ihnen gegründete<br />
MUT-Stiftung (MUT = mensch-, umwelt-<br />
und tiergerecht) in den folgenden<br />
Jahren Dutzende von tierschützerisch beispielhaften,<br />
tierfreundlichen Stallbauvorhaben<br />
mittels zinsloser Darlehen.<br />
1984 Als tierfreundliche Alternative zur<br />
tierschutzwidrigen Produktion von weissem<br />
Kalbfleisch unterstützt der STS die<br />
1980 gegründete Vereinigung der Ammen-<br />
und Mutterkuhhalter und hilft mit,<br />
deren Label «Naturabeef» bekannt zu machen.<br />
Bäuerliche Organisationen und<br />
Vertreter des BLW fürchten, dass die aufkommende<br />
Labeltierhaltung die konventionelle<br />
Produktion diskreditieren könnte<br />
und wechseln scharfe Worte mit den Mutterkuhpionieren<br />
und dem STS. Die ablehnende<br />
Haltung verschiedener Bauernorganisationen<br />
und -funktionäre gegenüber<br />
Produkten aus tierfreundlicher Haltung<br />
und entsprechender Aktivitäten bleibt bis<br />
über das Jahr 2000 hinaus erhalten.<br />
1985 Der <strong>Fleisch</strong>verzehr erreicht mit über<br />
70 Kilogramm pro Kopf in der Schweiz ein<br />
Allzeithoch. Der STS publiziert die Schrift<br />
«Unser täglich <strong>Fleisch</strong>», in der er für weniger<br />
<strong>Fleisch</strong>konsum und den Abbau von<br />
Tierfabriken zugunsten tierfreundlicher<br />
bäuerlicher Betriebe plädiert. Seither ist<br />
der <strong>Fleisch</strong>konsum auf 53 Kilogramm gesunken,<br />
wovon 12 Kilogramm importiert<br />
werden.<br />
Der STS schafft eine Beratungsstelle<br />
für artgerechte Nutztierhaltung, die für<br />
mehr Tierwohl in der Landwirtschaft werben<br />
soll.<br />
1986 Der STS startet zusammen mit der<br />
landwirtschaftlichen Schule Bäregg und<br />
einem Dutzend Emmentaler Bauern ein<br />
Praxisprojekt zur Erprobung der Gruppenhaltung<br />
von Zucht- und Mastkaninchen.<br />
Bislang wurden Kaninchen in der<br />
Regel einzeln in engen Verschlägen oder<br />
Käfigen gehalten. Das Emmentaler Projekt<br />
hat Signalwirkung: Heute leben rund<br />
ein Drittel aller Kaninchen in der Schweiz<br />
in solchen Gruppenhaltungsställen.<br />
1987 Der STS und die MUT-Stiftung wollen<br />
sich im Detailhandel verstärkt für den<br />
Absatz von Produkten von Tieren aus artgerechter<br />
Haltung engagieren. Sie gewinnen<br />
den Konsumverein Zürich (K3000)<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
29
und die landwirtschaftlichen Genossenschaftsverbände<br />
fenaco zur Zusammenarbeit<br />
unter dem Label «Gourmet mit<br />
Herz/Agri-Natura». Dass ausgerechnet<br />
die grösste bäuerliche Genossenschaft mit<br />
dem STS zusammenarbeitet und die Zeichen<br />
der Zeit erkennt, bringt der fenaco<br />
anfänglich landwirtschaftsintern harsche<br />
Kritik ein. Doch fortschrittliche Kreise haben<br />
längst realisiert, dass eine wachsende<br />
Schicht von Konsumenten nicht mehr bereit<br />
ist, nur das zu essen, was ihr die Landwirtschaft<br />
vorlegt, sondern vielmehr eigene<br />
Wünsche hat, insbesondere, was den<br />
Natur-, Umwelt- und Tierschutz bei der<br />
Erzeugung von <strong>Fleisch</strong>, Milch und Eiern<br />
anbelangt.<br />
Alle siebzig K3000-Filialen werden<br />
umgestellt und bieten eine breite Palette<br />
von Eiern aus tierfreundlicher Haltung<br />
und Labelfleisch an. Der STS übernimmt<br />
die Kontrolle der rund tausend Herkunftsbetriebe.<br />
Das Label «Gourmet mit Herz/<br />
Agri-Natura» setzt wie die Nachfolgerprogramme<br />
bei Coop, Migros und den anderen<br />
Detaillisten auf drei Schwerpunkte:<br />
Die tiergerechte Haltung mit mehr Platz,<br />
verhaltensgerechten Strukturen und möglichst<br />
Auslauf ins Freie, den schonenden<br />
Umgang mit den Tieren (Transporte,<br />
Schlachtung) und ein Verbot des Einsatzes<br />
von Fütterungsantibiotika. Aus pragmatischen<br />
Gründen galten und gelten die<br />
Anforderungen für die jeweilige Tierkategorie.<br />
Ein Teil dieser privatwirtschaftlichen<br />
Tierschutzforderungen fanden später<br />
Eingang in die Landwirtschaftsgesetzgebung,<br />
etwa bei den BTS/RAUS-Förderprogrammen<br />
1995 oder dem AML-Verbot<br />
1999.<br />
1988 Der STS startet zusammen mit<br />
dem Künstler Tomi Ungerer die Kampagne<br />
«Delikatessen aus der Folterkammer».<br />
Es geht um Qualprodukte wie Stopfleber,<br />
Froschschenkel, Schildkrötenprodukte,<br />
Haifischflossen oder Hummer. Eine Postkartenaktion<br />
an den Bundesrat führt zu<br />
einem Verbot von Schildkrötenprodukten.<br />
1989 Der STS veranstaltet in Basel den<br />
schweizweit ersten Kongress gegen Gentechnik<br />
an Tieren, an dem der amerikanische<br />
Autor und Konsumentenschützer<br />
Jeremy Rifkin ein flammendes Plädoyer<br />
für die tierliche Integrität hält. Der STS<br />
fordert, dass die Tierzucht die Würde der<br />
Kreatur zu gewährleisten habe. 1992 wird<br />
diese Forderung in die Bundesverfassung<br />
aufgenommen und findet sich heute auch<br />
im Tierschutzgesetz.<br />
1991 Die Hühnerhalter haben das Käfigverbot<br />
konsequent umgesetzt. Mit der<br />
Abschaffung der Käfighaltung greifen<br />
<strong>Schweizer</strong> Konsumenten vermehrt zum<br />
tierfreundlichen <strong>Schweizer</strong> Ei.<br />
1992 Der STS beginnt, regelmässig Informationsmaterial<br />
für Nutztierhalter zu<br />
publizieren. Er startet die Veranstaltungsreihe<br />
«Nutztiertagung», die sich an Tierschützer,<br />
Bauern, Berater, Konsumenten,<br />
Behörden und Wissenschaftler richtet und<br />
in der Folge jährlich mit Themen wie Freilandhaltung,<br />
behornte Kühe, Ferkelkastration,<br />
Tiertransporte, Schlachten und<br />
Konsum in Erscheinung tritt.<br />
1993 Der STS recherchiert Tiertransporte<br />
und Schlachtbedingungen und stösst auf<br />
erhebliche Missstände. Nach intensiven<br />
Diskussionen gründet er zusammen mit<br />
engagierten Branchenvertretern, Wissenschaftlern<br />
und Behörden die Interessengemeinschaft<br />
für tierschutzkonforme<br />
Tiertransporte und Schlachthöfe (IGTTS).<br />
Diese bildet in den kommenden fünfzehn<br />
Jahren über 2000 Chauffeure und<br />
Schlachthofmitarbeiter in massgeschneiderten<br />
Tierschutzkursen aus.<br />
1994 Coop zieht bei der Ausarbeitung<br />
seines Labelprogramms «Naturaplan<br />
Porc» den STS bei und überträgt ihm<br />
die Kontrolle der Vertragsbetriebe. Später<br />
wird das Label in «Coop Naturafarm»<br />
umbenannt. Heute sind Naturafarm/Naturaplan<br />
die schweizweit bekanntesten<br />
Labels. Dem STS wird die Kontrolle der<br />
Programme Naturaplan Porc, Naturaplan<br />
Poulet und Naturaplan Kalb übergeben,<br />
ebenso die Überwachung der Tiertransporte<br />
und Schlachthöfe.<br />
Tomi Ungerer unterstützte die<br />
Kampagne gegen «Delikatessen<br />
aus der Folterkammer»<br />
1995 Der STS-Kontrolldienst für artgerechte<br />
Nutztierhaltung wird schweizweit<br />
als erste Tierschutzüberwachungsstelle<br />
vom Bund akkreditiert. Rund zehn Kontrolleure,<br />
Landwirte, Agronomen und Veterinäre<br />
sind mittlerweile hier angestellt<br />
und kontrollieren über tausend Labelbetriebe,<br />
wöchentlich mehrere Tiertransporte<br />
und über ein Dutzend Schlachthöfe<br />
in der Schweiz.<br />
30<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
Der STS und die Stiftung für Konsumentenschutz<br />
führen unter dem Titel<br />
«Boykottlets» einen einwöchigen <strong>Fleisch</strong>boykott<br />
durch. Die breite Presseberichterstattung<br />
lässt die <strong>Fleisch</strong>verkäufe spürbar<br />
sinken. Die <strong>Fleisch</strong>branche zeigt sich<br />
danach offener für tierschützerische Verbesserungen.<br />
Der STS erhält Gelegenheit, seine Anliegen<br />
sowohl an Vorstandssitzungen als<br />
auch an der Delegiertenversammlung des<br />
<strong>Schweizer</strong> Metzgermeisterverbandes vorzustellen.<br />
In der Folge unterstützt der Verband<br />
die STS-Forderungen bei der Revision<br />
der Tierschutzgesetzgebung.<br />
1996 Migros und Coop verpflichten sich,<br />
keine Importkäfigeier mehr anzubieten.<br />
Coop nimmt Froschschenkel und Stopfleber<br />
aus dem Sortiment.<br />
1998 Drei Jahre lang, von 1995 bis 1998,<br />
strahlt das <strong>Schweizer</strong> Fernsehen die von<br />
Mark M. Rissi produzierte und von Erich<br />
Gysling moderierte Tierschutzsendereihe<br />
«Tierreport» aus, die Millionen von Zuschauern<br />
erreicht und mehrfach ausgezeichnet<br />
wird. In 18 Sendungen steht der<br />
Tierschutz im Mittelpunkt. Nebst Tierschutzproblemen<br />
werden stets auch Positivbeispiele<br />
gezeigt, und es wird auf den<br />
Zusammenhang zwischen Konsumverhalten<br />
und Tierwohl hingewiesen. Wenig<br />
andere Sendungen lösten ein derartiges<br />
Echo unter den Zuschauern aus.<br />
1999 Der STS prangert zusammen mit<br />
der Stiftung für Konsumentenschutz in<br />
einer «Kalbfleischwoche» die Fehlernährung<br />
von Mastkälbern zur hellen Kalbfleischerzeugung<br />
an. Als Konsequenz gibt die<br />
Metzgerbranche bekannt, die Abzüge für<br />
rosa Kalbfleisch fallen zu lassen.<br />
2003 Der STS startet die Aktion «Essen<br />
mit Herz». Ziel ist es, Konsumenten, Detailhandel<br />
und die Gastrobranche von den<br />
Vorteilen von Produkten aus tierfreundlicher<br />
Haltung zu überzeugen. Herzstück<br />
der Kampagne sind die Homepages<br />
www.essenmitherz.ch und www.manger<br />
avecducoeur.ch, welche ein breites Wissen<br />
Mark Rissi und Eric Gysling produzierten<br />
die Sendung TIERREPORT, die viel<br />
zur Konsumenaufklärung beitrug<br />
zum Konsum tierischer Produkte anbieten<br />
und Listen von empfehlenswerten Labels,<br />
Restaurants und Bäckereien führen.<br />
2005 Erstes Detaillisten-Tierschutzrating.<br />
Mit einer Umfrage will sich der<br />
STS ein Bild machen von den erbrachten<br />
«Tierschutzleistungen» der grossen Detaillisten.<br />
Untersucht und bewertet werden<br />
der Inlandanteil <strong>Fleisch</strong>, Eier und<br />
Käse, der Label-/Bioanteil und das Angebot<br />
an «Delikatessen» wie Stopfleber<br />
oder Froschschenkel, welche die Detaillisten<br />
führen. Den ersten Platz im Rating<br />
nimmt Coop ein.<br />
2007 Migros und die IP-Suisse-Bauern<br />
erteilen dem STS-Kontrolldienst ein<br />
Mandat zur Überwachung ihrer Labeltiertransporte.<br />
Der STS gründet ein Kompetenzzentrum<br />
für tierschutzkonforme Tiertransporte<br />
und Schlachthöfe (KTTS). Dieses soll<br />
auf wissenschaftlicher Basis tierschutzrelevante<br />
Probleme aufzeigen und zusammen<br />
mit interessierten Kreisen aus Wirtschaft,<br />
Detailhandel, Branchenorganisationen<br />
und Behörden Lösungen für tierschutzkonformes,<br />
schonendes Transportieren<br />
und Schlachten finden sowie umsetzen.<br />
Das zweite Detaillisten-Tierschutzrating<br />
wird durchgeführt. Trotz aufkommender<br />
«Geiz ist geil»-Stimmung, Billigimporten<br />
und dem Aufkommen von<br />
«Budgetlinien» im Detailhandel haben<br />
Produkte aus tierfreundlicher Haltung bei<br />
den beiden Grossverteilern in den vergangenen<br />
zwei Jahren zugelegt. Der STS kann<br />
den Konsumentinnen und Konsumenten<br />
ein gutes Zeugnis ausstellen. Für sehr<br />
viele von ihnen ist das Tierwohl offensichtlich<br />
kein vorübergehender Modegag.<br />
Freilandeier und Labelfleisch sind damit<br />
dem Nischendasein entwachsen. Bei einzelnen<br />
Detaillisten erreichen sie Marktanteile<br />
von teilweise 50 bis 75 %. Der<br />
schweizweite Umsatz wird auf über 1,5<br />
Millarden Franken geschätzt. Coop wird<br />
erneut «Tierschutz-<strong>Schweizer</strong>meister»,<br />
nun aber dicht gefolgt von Migros, die<br />
durch eine Kooperation mit IP-Suisse und<br />
die Übernahme des Labels «Terra Suisse»<br />
bei Produkten aus tierfreundlicher Haltung<br />
stark aufgeholt hat.<br />
2008 Ein beträchtlicher Teil der Importeier<br />
und Importeierprodukte (Flüssigei),<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
31
darunter auch Käfigbatterie-Herkünfte,<br />
werden von Bäckereien und Konditoreien<br />
nachgefragt. Der STS zeichnet deshalb<br />
Geschäfte, die ausschliesslich auf tierfreundliche<br />
<strong>Schweizer</strong> Eier setzen, mit einer<br />
Urkunde aus und bewirbt sie auf der<br />
Homepage www.essenmitherz.ch.<br />
Während bei den beiden führenden<br />
Grossverteilern der Schweiz Labelfleisch<br />
immer mehr an Bedeutung gewinnt,<br />
kneift die Gastrobranche weitgehend. Nur<br />
wenige Restaurants nehmen auf das Tierwohl<br />
Rücksicht und kochen mit Produkten<br />
aus tierfreundlicher Haltung. Zu diesem<br />
Schluss kommt eine STS-Umfrage bei<br />
Restaurants aus der ganzen Schweiz.<br />
2009 Der STS startet eine Petition für<br />
eine tierfreundliche Beschaffungspolitik<br />
bei McDonald’s Schweiz. McDonald’s<br />
setzt als Folge davon auf <strong>Schweizer</strong> Freilandeier<br />
und beim Hamburgerfleisch auf<br />
Kühe mit Auslauf- und Weidehaltung.<br />
Damit geht das umsatzmässig grösste<br />
Gastrounternehmen des Landes in puncto<br />
Tierschutz mit gutem Beispiel voran.<br />
Nachdem KAGfreiland tierschutzwidrige<br />
Kaninchenfleischimporte aufgedeckt<br />
und eine Deklaration für Importfleisch<br />
Der STS fordert und fördert<br />
die tierfreundliche<br />
Kaninchenhaltung<br />
aus Kaninchenkäfighaltung realisiert hat,<br />
setzt sich der STS für eine Ausdehnung<br />
der tierfreundlichen Kaninchengruppen<br />
haltung im Inland ein.<br />
2010 Coop fällt den Entscheid, nur mehr<br />
inländisches Kaninchenfleisch aus Gruppenhaltung<br />
anzubieten und erteilt dem<br />
STS-Kontrolldienst die Aufträge, diese<br />
BTS-Kaninchenhaltungen sowie die<br />
Transporte und das Schlachten zu überwachen.<br />
Der STS lanciert einen Wettbewerb<br />
unter Kochlehrlingen. Nebst Fragen rund<br />
um Tierschutz und Nahrungsmittel müssen<br />
die Kandidaten ein Menü mit Produkten<br />
aus tierfreundlicher Haltung und ein<br />
vegetarisches Menü einreichen. Diese Rezepte<br />
stellen die Basis dar für das tierfreundliche<br />
Kochbuch «Essen mit Herz»,<br />
welches der STS 2012 publiziert.<br />
Zusammen mit dem WWF und der<br />
Stiftung für Konsumentenschutz nimmt<br />
der STS die Labels unter die Lupe und beteiligt<br />
sich am WWF-Labelführer.<br />
2011 Zum dritten Mal nach 2005 und<br />
2007 publiziert der STS ein Detaillisten-<br />
Tierschutzrating. Dieses Mal werden Coop<br />
und Migros mit den Neuen, Lidl und Aldi,<br />
verglichen. Während Coop und Migros<br />
weitere Fortschritte bezüglich tierfreundlichen<br />
Sortiments aufzeigen können, sind<br />
bei Aldi und Lidl mit Ausnahme des Eiersortiments<br />
kaum nennenswerte Anstrengungen<br />
zu finden. In der Folge sucht der<br />
STS mit allen Detaillisten in der Schweiz<br />
– darunter Spar, Volg, Aldi und Lidl – das<br />
Gespräch, um die Nachfrage nach Produkten<br />
aus tierfreundlicher Haltung zu<br />
fördern.<br />
Coop erteilt dem STS-Kontrolldienst<br />
ein Mandat zur Überwachung der Naturafarm-Freilandlegehennenhalter<br />
sowie<br />
für stichprobenweise Kontrollen der<br />
Mutterkuhhalter (Label «Naturabeef»). Im<br />
Auftrag von Migros und IP-Suisse startet<br />
der STS mit der Kontrolle von Schlachthöfen,<br />
in denen IP-Tiere mit dem Label<br />
«TerraSuisse» aufgeführt werden.<br />
Selbst in Gourmetrestaurants kommt<br />
oft immer noch <strong>Fleisch</strong> aus Massentierhaltung<br />
auf den Teller. Das zeigt eine aktuelle<br />
STS-Umfrage in der Gastrobranche.<br />
Deren Labelfleischumsatz liegt im<br />
Vergleich zum Detailhandel tief, je nach<br />
<strong>Fleisch</strong>art zwischen 35 und 50 %.<br />
Alle nennenswerten Eierimporteure<br />
verpflichten sich gegenüber dem STS, auf<br />
Käfigeierimporte zu verzichten. Der STS<br />
legt grossen Wert auf diese Vereinbarung,<br />
da das EU-Käfigbatterieverbot auf 2012<br />
nicht umgesetzt ist, und die EU auch tierschutzwidrige<br />
Alternativen zulässt, welche<br />
in der Schweiz verboten sind, wie<br />
etwa die Kleingruppenhaltung von Hühnern.<br />
Der STS lädt die Branche zu einem<br />
Kälbergipfel, mit den Zielen, die Kälberhaltung<br />
und -fütterung zu verbessern und<br />
das seiner Meinung nach kontraproduktive<br />
«Qualitätskriterium» der Kalbfleischfarbe<br />
abzuschaffen.<br />
Der STS zieht eine für 2012 geplante<br />
Geflügelkampagne vor, nachdem problematische<br />
Zustände bei deutschen Hühnerund<br />
Trutenmästern auffliegen und nachgewiesen<br />
wird, dass diese ihre tierschutzrelevante<br />
Billigware auch in die Schweiz<br />
liefern.<br />
32<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
6.2 Information und Beratung<br />
Schon früh wurde dem Tierschutz klar:<br />
Eine tierfreundliche Haltung fällt nicht<br />
vom Himmel, und auch sie kann Mensch<br />
und Tier Probleme bereiten – einfach andere<br />
als eine konventionelle Tierhaltung.<br />
Seit anfangs der 1990er-Jahre publiziert<br />
der STS deshalb Broschüren, unter anderem<br />
zur Hühner- und Schweinehaltung,<br />
zur Tierzucht, zur Vermeidung von Unfällen<br />
mit Nutztieren oder zum Tierkomfort,<br />
Merkblattserien zu kostengünstigen<br />
und tierfreundlichen Aufstallungsformen<br />
und Flyer zur Gestaltung von Ausläufen<br />
und Weiden. Rund 500 000 Exemplare<br />
konnten seither an Interessierte abgegeben<br />
werden.<br />
Der STS scheute sich nicht, zur Erarbeitung<br />
von Richtlinien zur tierfreundlichen<br />
Haltung sowie zum Transport und<br />
zur schonenden Schlachtung von Rindern,<br />
Schweinen oder Hühnern auch auf<br />
externe Fachleute – Bauern, Tierärzte und<br />
Wissenschaftler – zurückzugreifen. Darüber<br />
hinaus schuf er eine Beratungsstelle<br />
für artgerechte Nutztierhaltung. Diese<br />
hatte die Aufgabe, Landwirte über tierfreundliche<br />
Haltungsformen zu informieren<br />
und Konsumenten den Zusammenhang<br />
zwischen Einkaufsverhalten und<br />
Art der Tierhaltung näherzubringen. Aufgrund<br />
der Erfahrungen mit dieser Stelle<br />
führte der STS später weitere Fachstellen<br />
für Heim-, Wild- und Versuchstiere sowie<br />
für die tierärztliche Beratung ein und<br />
gründete einen Kontrolldienst für artgerechte<br />
Nutztierhaltung.<br />
Die Labeltierhaltung erforderte teilweise<br />
völlig neue Aufstallungs- und Betriebsformen.<br />
So entwickelte der STS<br />
Mitte der 1980er-Jahre zusammen mit interessierten<br />
Hühnerhaltern den sogenannten<br />
Aussenklimabereich zur Bereicherung<br />
der Geflügelfreilandhaltung.<br />
Diese Einrichtung bietet Hühnern die<br />
Möglichkeit, auch bei schlechtem Wetter<br />
oder im Winter einen geschützten Auslauf<br />
aufsuchen zu können, um frische<br />
Luft, natürliches Licht und Klima zu geniessen.<br />
Dieser «Schlechtwetterauslauf»<br />
ist in der Legehennen- und Mastgeflügelhaltung<br />
der Schweiz heute Standard und<br />
fasst mittlerweile auch im Ausland Fuss.<br />
Nach einer gemeinsamen Studienreise<br />
mit Geflügelfachleuten in Frankreich<br />
Ende der 1980er-Jahre beteiligte sich der<br />
STS am Aufbau der zuvor in der Schweiz<br />
unbekannten Freilandhühnermast mit<br />
speziellen, langsamer wachsenden Rassetieren.<br />
Für viele Praxisprobleme der Labeltierhaltung<br />
konnte man vor 25 Jahren<br />
nicht auf Resultate der Wissenschaft zurückgreifen,<br />
sodass es galt, mit Bauern<br />
und Beratern in der Praxis Lösungen zu<br />
entwickeln, sei dies zur Gestaltung von<br />
Hühnerweiden, zur Freilandhaltung von<br />
Schweinen oder zur Unterbringen von<br />
Jungtieren in Kaltställen. Der STS liess<br />
verschiedene Nutztierthemen wissenschaftlich<br />
abklären, zum Beispiel die Freilandhaltung<br />
von Schweinen, das Auslaufverhalten<br />
von Truten und Masthühnern<br />
oder die Tierschutzrelevanz von Vollspaltenbodenhaltung<br />
für Mastschweine und<br />
-munis. Im Rahmen der Labelprogramme<br />
konnte dieses Wissen umgesetzt werden.<br />
Die Labeltierhaltung war auch der<br />
Auslöser für die Suche nach praktikablen<br />
Betäubungsmethoden zur Ferkelkastration<br />
sowie für Verbesserungen im Tiertransport<br />
und in Schlachthöfen. Der STS<br />
STS-MERKBLATT<br />
TT<br />
TiergerechTe und kosTengünsTige sTälle Tks 1.1<br />
Anbau eines Fressplatzes an<br />
bestehenden Milchviehstall<br />
Kühe im Freien füttern<br />
Bestehende Anbindeställe mit einer guten Bausubstanz muss man nicht abbrechen. Manchmal<br />
lassen sich auch ein Fressplatz im Freien und ein Melkhaus angliedern. Es entsteht ein tierfreund<br />
licher und arbeitswirtschaftlich günstiger Freilaufstall.<br />
Der Hof von Osten. Links die Scheune, rechts der separate Fressplatz.<br />
Roland Werner auf dem Waldhof in Wäldi TG war einer der ersten, der den Mut hatte, seine Kühe<br />
das ganze Jahr über im Freien zu füttern. «Ich bin überzeugt, dass es in unseren Breitengraden<br />
mindestens bis zu einer Höhe von 1000 m ü.M. kein Problem ist», sagt der Landwirt. Er hat im<br />
Jahr 1995 seinen Anbindestall zu einem Laufstall mit Laufhof und Fressplatz umgebaut.<br />
Separate Fressachse bauen<br />
Bei der Planung hatte der Landwirt zwei Ziele<br />
im Auge. Der Stall sollte kostengünstig sein, und<br />
die Tiere sollten sich wohl fühlen. «Damals ha<br />
ben die landwirtschaftlichen Architekten noch<br />
andere Ställe gebaut», stellt Roland Werner fest.<br />
Er meint damit geschlossene Ställe, bei welchen<br />
alles unter einem Dach ist. Landwirt Werner<br />
wollte jedoch eine separate Fressachse parallel<br />
zum bestehenden Stall bauen. Der Baufach<br />
mann Ludo van Caenegem von der damaligen<br />
FAT (heute ART) sowie der Architekt Cyrill Bi<br />
schof bestärkten ihn in seiner Idee.<br />
STS-MERKBLATT<br />
TiergerechTe und kosTengünsTige sTälle Tks 1.10<br />
Tierfreundliche Ställe für<br />
die Rindermast<br />
Als Beispiel für tierfreundliche und praktische Lösungen in der Rindermast zeigt das Merkblatt<br />
Ställe von drei Landwirten im Raum Sempachersee. Diese haben ihre ehemaligen Anbindeställe<br />
für Milchkühe in Laufställe für Mastrinder umgebaut; jeder hat eine eigene Lösung gefunden.<br />
Alle drei Landwirte halten ihre Tiere gemäss den Richtlinien von Weide-Beef, einem Label der<br />
Migros für die Ochsen- und Rindermast. Der Name kommt daher, dass die Tiere während der Vegetationszeit<br />
täglich während mindestens acht Stunden auf die Weide dürfen. Weitere gen des Labels sind auf der letzten Seite<br />
Anforderunaufgeführt.<br />
Anstelle der Anbindevorrichtung befindet sich jetzt ein Fressgitter.<br />
Viele der STS-Merkblätter kann<br />
man auf www.tierschutz.com<br />
downloaden<br />
Boxen zum Liegen<br />
Der deckenlastige Anbindestall von Thomas Bühlmann in Ballwil LU stammt aus dem Jahre 1979<br />
und weist eine sehr gute Bausubstanz auf. Im Jahre 2003 richtete der Landwirt seinen Betrieb neu<br />
aus. Er wollte mehr Zeit haben, um einer Arbeit ausserhalb der Landwirtschaft nachzugehen. Rinder-,<br />
Schweine- und Pouletmast standen als Alternativen zur Auswahl. Thomas Bühlmann schloss sich für die Rindermast, da auf dem Betrieb die Raufutterbasis vorhanden ist.<br />
ent-<br />
Beim Umbau entfernte der Landwirt den Schwemmkanal und das Läger und ersetzte beide durch<br />
einen 2,5 m breiten Kanal mit Spaltenboden. Ein Fangfressgitter ersetzte die alte Anbindevorrichtung,<br />
während die Hochkrippe belassen wurde. Auf der einen Seite des zweireihigen Anbindestalles<br />
brachte er eine Gruppe von 20 jüngeren, auf der anderen Seite von 18 älteren Tieren unter.<br />
beteiligt sich seit der Gründung der «Interessengemeinschaft<br />
für tierschutzkonforme<br />
Tiertransporte und Schlachthöfe»<br />
im Jahr 1993 mit eigenen Fachleuten an<br />
der Tierschutzausbildung von Chauffeuren<br />
und Schlachthofmitarbeitern.<br />
6.3 Detailhandel setzt auf<br />
Produkte aus tierfreundlicher<br />
Haltung<br />
Als KAGfreiland und <strong>Schweizer</strong> Tierschutz<br />
STS in den 1970er-Jahren begannen,<br />
<strong>Schweizer</strong> Boden- und Freilandeier<br />
speziell zu bewerben und zu vermarkten,<br />
hätte niemand Produkten aus tierfreundlicher<br />
Haltung eine derartige Entwicklung<br />
prophezeit. Anfangs der 1990er-Jahre<br />
sagten «Experten» diesen Produkten nicht<br />
mehr als 2 bis 5 % Umsatz voraus, und<br />
die meisten Landwirtschaftsfunktionäre<br />
waren extrem skeptisch eingestellt. Manche<br />
landwirtschaftlichen Verbände diffamierten<br />
die Tierschutzlabelprogramme,<br />
obwohl diese tausenden von Landwirten<br />
eine Existenz bieten, das Image der<br />
<strong>Schweizer</strong> Bauern und deren Umgang mit<br />
den Tieren generell stark verbessert haben,<br />
Millionen von Konsumenten ansprechen<br />
und mittlerweile über 2,5 Milliarden<br />
Franken Umsatz jährlich generieren.<br />
1<br />
STS-MERKBLATT<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS PFLEGE <strong>UND</strong> UMGANG MIT TIEREN / MERKBLATT B<br />
Suhlen und Duschen von Schweinen<br />
Schweine schwitzen nicht – darum suhlen sie<br />
STS-MERKBLATT<br />
TiergerechTe und kosTengünsTige sTälle Tks 7.2<br />
Mastkaninchen in Gruppen halten<br />
Schweine können nicht schwitzen. Sie sind deswegen auf schattige Plätze und andere Abkühlungsmöglichkeiten<br />
angewiesen. Die Tierschutzverordnung aus dem Jahre 2008 verlangt in Art.<br />
46, dass in neu eingerichteten Ställen bei Hitze Schweinen ab 25 kg in Gruppenhaltung sowie<br />
Zuchtebern Abkühlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen müssen. Die Nutztier- und Haustierverordnung<br />
des Bundesamtes für Veterinärwesen BVET konkretisiert dies und verlangt in Artikel<br />
28 die Abkühlung ab Temperaturen von 25 °C. Zur Abkühlung können Suhlen und Duschen dienen.<br />
Mit Vorliebe suchen Schweine Schlammbäder auf. Nicht nur das Baden kühlt, sondern auch die<br />
Schlammschicht, mit welcher sich die Tiere überziehen; sie speichert nämlich die Feuchtigkeit<br />
und kühlt die Tiere über eine längere Zeit. Die Suhle ist ein wesentlicher und notwendiger<br />
Bestandteil der Freilandhaltung im Sommer ebenso wie Schattenplätze und ein sauberer, zugfreier<br />
Liegeplatz. Schweine können sich selbst eine Suhle anlegen, doch muss der Tierhalter in durchlässigen<br />
Böden für das Wasser besorgt sein. Zu beachten ist, dass die Schweine regelmässig entwurmt<br />
werden.<br />
Einige Auszüge aus den Untersuchungen des Münchener Veterinärprofessors Hans Hinrich Sambraus<br />
sollen die Bedeutung des Suhlens für das Schwein illustrieren: «Die Sauen suchten bei<br />
durchschnittlichen Tages-Temperaturen zwischen 19 und 28 °C die Suhle im Mittel zweimal pro<br />
Tag auf. Im Tagesablauf gab es zwei Höhepunkte, einer morgens nach dem Füttern und der zweite<br />
zwischen 12 und 15 Uhr.»<br />
Kaninchen wollen herumtollen und ausruhen können.<br />
Anstatt Kaninchen in Käfigen zu halten, kann man ihren Stall wie ein Haus mit mehreren Etagen<br />
und Zimmern einrichten. Auch so ist eine wirtschaftliche Mast möglich, wie <strong>Schweizer</strong> Kaninchenpioniere<br />
zeigen.<br />
«Das Kaninchen ist ein anspruchsvolles Tier. Je mehr wir von ihm wissen, desto stärker werden wir<br />
uns bewusst, wie wenig wir eigentlich wissen», erklärt Felix Näf, was ihn an den wolligen Hoppeltieren<br />
so fasziniert. Schon als Kind hat er auf dem Bauernhof um die 200 «Chüngel» gehalten.<br />
Mittlerweile hat er aus dem früheren Hobby einen landwirtschaftlichen Betriebszweig mit guten<br />
Zukunfts chancen aufgebaut und arbeitet dabei mit Bauern in der Region zusammen.<br />
Schlechte Haltungsbedingungen im Ausland<br />
Der Grossverteiler Coop setzt bereits seit 1999 auf <strong>Fleisch</strong> von Kaninchen aus tierfreundlicher<br />
Haltung. Die Nachfrage verstärkte sich, als die <strong>Schweizer</strong> Grossverteiler sich Ende 2008 eine freiwillige<br />
Importsperre von Kaninchenfleisch auferlegten. Grund waren die schlechten Haltungsbedingungen<br />
bei den Produzenten in Frankreich und den Oststaaten. Den Grossverteilern genügend<br />
<strong>Fleisch</strong> aus tierfreundlicher Haltung zu liefern, ist eine Chance und eine Herausforderung für die<br />
landwirtschaftliche Kaninchenhaltung in der Schweiz.<br />
Felix und seine Frau Rosmarie Näf haben die Firma Kani-Swiss GmbH gegründet, welche Kaninchen<br />
kauft, schlachtet und an die Bell AG, an Coop und an Spitäler liefert. Doch Näfs schlachten und<br />
vermarkten nicht nur, sondern sie halten auch selbst Kaninchen in mehreren Ställen.<br />
1<br />
Foto: C. Sciarra<br />
1<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
33
Die Nachfrage von Konsumenten und<br />
Detaillisten nach Produkten von Tieren<br />
aus artgerechter Haltung bestimmt nebst<br />
der Tierschutzgesetzgebung und der Agrarpolitik<br />
– insbesondere der Förderung<br />
besonders tierfreundlicher Haltungsformen<br />
durch spezifische Direktzahlungen<br />
– massgeblich das Tierwohl in <strong>Schweizer</strong><br />
Ställen. Für ein glaubhaftes tierfreundliches<br />
Label wird seitens des STS heute<br />
vorausgesetzt, dass mindestens die Vorschriften<br />
der Bundesprogramme BTS (Besonders<br />
tierfreundliche Stallhaltung) und<br />
RAUS (Regelmässiger Auslauf ins Freie)<br />
erfüllt werden.<br />
Bei der Labelentwicklung wirkten die<br />
beiden Grossverteiler Coop und Migros<br />
als Entwicklungsmotoren. Dank ihrem<br />
Einsatz schafften Freilandeier und Labelfleisch<br />
nach der Jahrtausendwende den<br />
Sprung von Nischen- zu Standardprodukten.<br />
Mit «Naturaplan» (bio) und «Naturafarm»<br />
(tierfreundliche Haltung) platzierte<br />
Coop in den 1990er-Jahren die konsequentesten<br />
und bis heute bestbekannten<br />
Labels. Migros änderte die Labelnamen<br />
und -anforderungen mehrmals, hat<br />
sich nun aber mit «TerraSuisse» und der<br />
Zusammenarbeit mit den IP-Bauern Konstanz<br />
und Glaubwürdigkeit verordnet.<br />
Coop setzt beim Labelkalbfleisch (Naturafarm)<br />
die Haltungsanforderungen klar<br />
höher als die Migros (TerraSuisse): Coop<br />
verlangt hier Auslauf- oder Mutterkuhhaltung,<br />
die Migros hingegen verkauft<br />
bislang Labelkalbfleisch ohne zwingenden<br />
Auslauf und fordert damit bei der<br />
Haltung nur unwesentlich mehr, als dies<br />
die <strong>Schweizer</strong> Tierschutzvorschriften verlangen.<br />
Coop setzt beim Labelrindfleisch<br />
auf die vorbildliche Mutterkuhhaltung<br />
(Naturabeef). Die Migros will mit dem<br />
2010 neu eingeführten Weide-Beef-Programm<br />
ähnliche Massstäbe setzen. Migros<br />
weist bei Rind- und Schweinefleisch<br />
noch etwas höhere Labelanteile auf als<br />
Coop. Coop weist beim Eiersortiment<br />
klar die höchsten Labelanteile (<strong>Schweizer</strong><br />
Bio- und Auslauf-/Freilandeier zusammen<br />
57 %) und mit 10 % den geringsten<br />
Importanteil auf. Bei Migros beträgt der<br />
Labelanteil von <strong>Schweizer</strong> Bio- und Auslauf-/Freilandeiern<br />
41 %. Der Importanteil<br />
liegt bei 22 %.<br />
Das Beispiel der Grossverteiler und<br />
die zunehmende Nachfrage nach Produkten<br />
aus tierfreundlicher Haltung haben<br />
verschiedene andere Detaillisten be-<br />
Mutterkuhhaltung:<br />
Vorläuferin der Labelprogramme<br />
wogen, in den vergangenen Jahren verstärkt<br />
auf Labelprodukte zu setzen. Dies<br />
betrifft etwa Manor, Volg und Spar. Selbst<br />
die Newcomer aus Deutschland, Aldi und<br />
Lidl, scheinen mittlerweile um eine entsprechende<br />
Sortimentsausweitung nicht<br />
mehr herumzukommen.<br />
6.4 Zögerliche Gastronomie<br />
Das Gros der weit über 20 000 Restaurants,<br />
Personalrestaurants und Schnellimbisse<br />
in der Schweiz verwendet eher<br />
wenige Produkte aus tierfreundlicher<br />
Haltung, und bietet den Gästen stattdessen<br />
entweder konventionelles <strong>Schweizer</strong><br />
<strong>Fleisch</strong> oder noch häufiger Importfleisch<br />
und -eier an. Häufig sind die Wirte über<br />
die Tierhaltungsbedingungen im In- und<br />
Ausland und die verschiedenen Tierwohllabels<br />
gar nicht richtig informiert. Dies die<br />
ernüchternde Bilanz einer Umfrage des<br />
<strong>Schweizer</strong> Tierschutz STS aus dem Jahr<br />
2008.<br />
2011 schrieb der STS rund dreihundert<br />
gehobene sowie Gourmetrestaurants<br />
in der ganzen Schweiz an und bat<br />
um Informationen zur Verwendung von<br />
<strong>Schweizer</strong> Labelfleisch und Freilandeiern.<br />
Bei der Frage nach der Beschaffung<br />
von <strong>Fleisch</strong>, Eiern und Käse steht bei diesen<br />
Restaurants gemäss Selbstdeklaration<br />
die Qualität an erster Stelle, gefolgt von<br />
Herkunft (Schweiz) und Tierwohl. Positiv<br />
aus Tierschutzsicht stimmt das Resultat,<br />
dass in Zukunft immerhin 38 % mehr Labelfleisch,<br />
26 % mehr Biokäse und 24 %<br />
mehr Freilandeier verwenden wollen. Labelfleisch<br />
würde von den Gastronomen<br />
vermehrt verwendet, wenn es besser verfügbar<br />
wäre (29 %), eine bessere Qualität<br />
als konventionelles <strong>Fleisch</strong> aufwiese<br />
(28 %), preislich günstiger wäre (24%)<br />
und die Gäste es verstärkt nachfragen<br />
würden (19 %). Der Anteil Gäste, welcher<br />
bei einem entsprechenden Angebot tierfreundlichere<br />
und teurere Menüs bestellen<br />
würde, wird auf durchschnittlich 52 %<br />
geschätzt. Nach Ansicht dieser Gastronomen<br />
besteht also ein erhebliches Potenzial<br />
unter den Gästen in Bezug auf tierfreundliche<br />
Produkte; ein Potenzial, das aber erstaunlicherweise<br />
nicht ausgenützt wird.<br />
34<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
7. Tierschutzkonforme Importe<br />
Der STS teilt die Meinung, dass historisch<br />
gesehen der Abbau von Zöllen und die<br />
Ausdehnung des freien Verkehrs von Gütern,<br />
Waren und Dienstleistungen meist<br />
zu wirtschaftlichem Fortschritt, Neuentwicklung<br />
und steigendem Wohlstand geführt<br />
haben. Die Schweiz als kleines und<br />
rohstoffarmes Land hat diese Entwicklungen<br />
denn auch stets gefördert und davon<br />
profitiert. Der STS ist aber dezidiert<br />
der Meinung, dass diese positiven Konsequenzen<br />
des Freihandels primär für Güter<br />
und Waren des 2. und des 3. Sektors gelten<br />
und – wenn überhaupt – nur eingeschränkt<br />
und mit aller Vorsicht auf einen<br />
weltweiten Handel mit Nahrungsmitteln<br />
respektive entsprechenden Rohstoffen zu<br />
übertragen sind. Denn der unbeschränkte<br />
Freihandel hat sich hier bislang stets als<br />
jene Option herausgestellt, die am meisten<br />
Verlierer und unerwünschte Abhängigkeiten<br />
zurücklässt und der Spekulation<br />
mit Lebensmitteln Tür und Tor öffnet.<br />
Das ergibt sich nicht zuletzt aus den<br />
grundsätzlichen Unterschieden in Bezug<br />
auf die Produktionsgrundlagen und<br />
-standorte der Landwirtschaft und des 2.<br />
und 3. Sektors. Im Unterschied zu einer<br />
Fabrik oder einem Dienstleistungsbetrieb<br />
kann man stillgelegte Äcker und Tierhaltungen<br />
nicht innert Jahresfrist aus dem<br />
Boden stampfen, und vom Menschenwillen<br />
nicht oder wenig beeinflussbare Faktoren<br />
(Klima, Wetter, Bodenqualität, Entstehung<br />
von Seuchen und Krankheiten<br />
bei Tieren etc.) spielen eine grosse Rolle<br />
bei der Lebensmittelerzeugung. Ein Bauer<br />
ist standortgebunden, während ein Firmeninhaber<br />
seinen Betrieb (fast) überall<br />
aufstellen kann.<br />
7.1 Gesetzliche und<br />
privatwirtschaftliche<br />
Möglichkeiten<br />
Die brutale Kehrseite des Freihandels mit<br />
Nahrungsmitteln zeigt sich im Fehlen sozialer,<br />
ökologischer und tierschützerischer<br />
Leitplanken. Als Konsequenz drängen<br />
immer mehr tierschutzwidrige Importprodukte<br />
auf den <strong>Schweizer</strong> Markt.<br />
110 000 Tonnen <strong>Fleisch</strong> importiert unser<br />
Land jährlich – fast ein Viertel des Gesamtbedarfs<br />
–, darunter beispielsweise<br />
45 000 Tonnen Poulet- und Trutenfleisch,<br />
zumeist aus bei uns verbotener Haltung.<br />
Der Gesetzgeber hat zwar ein Instrumentarium<br />
zur Bekämpfung solcher Missstände<br />
geschaffen, doch der Bundesrat<br />
wendet es aus Furcht vor Retorsionsmassnahmen<br />
des Auslands kaum an:<br />
«Unter der Voraussetzung, dass internationale<br />
Verpflichtungen nicht verletzt<br />
werden, erlässt der Bundesrat für Erzeugnisse,<br />
die nach Methoden produziert<br />
werden, die in der Schweiz verboten<br />
sind, Vorschriften über die Deklaration;<br />
er erhöht die Einfuhrzölle oder verbietet<br />
den Import. Als verboten im Sinne von<br />
Absatz 1 gelten Produktionsmethoden,<br />
die nicht zulässig sind aus Gründen des<br />
Schutzes des Lebens oder der Gesundheit<br />
von Personen, Tieren oder Pflanzen; oder<br />
der Umwelt.»<br />
(Art. 18 Landwirtschaftsgesetz)<br />
Nach Meinung des STS soll jedes Land die<br />
Möglichkeit haben, unter Beachtung von<br />
Ökologie und Tierschutz einen möglichst<br />
hohen Beitrag zur Ernährung der eigenen<br />
Bevölkerung sicherzustellen. Importe sollen<br />
primär das Inlandangebot ergänzen,<br />
beispielsweise dort, wo aus klimatischen<br />
oder anderen Gründen eine Versorgungs-<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
35
lücke besteht, und mithelfen, die Inlandversorgung<br />
sicherzustellen. Weil Tierschutz<br />
nicht an der Grenze aufhört, setzt<br />
sich der STS für tierschutzkonforme Importe<br />
ein. Denn sonst unterstützt und fördert<br />
die Schweiz Tierschutzwidrigkeiten,<br />
Massentierhaltung und Qualtransporte im<br />
Ausland und konkurrenziert gleichzeitig<br />
die tierschützerischen Anstrengungen im<br />
Inland.<br />
Der STS will den Menschen weder den<br />
Speisezettel vorschreiben noch den moderaten<br />
Konsum von <strong>Fleisch</strong> verbieten. Er<br />
setzt sich aber dafür ein, dass Tiere artgemäss<br />
gehalten und schonend transportiert<br />
und geschlachtet werden, wenn sie schon<br />
für Nahrungszwecke genutzt werden und<br />
dafür ihr Leben lassen müssen. Das gilt<br />
für Tiere im In- und Ausland. Von ökologischen<br />
und tierschützerischen Standards<br />
im internationalen Handel würden aber<br />
auch die Konsumenten profitieren, die<br />
heute mit schöner Regelmässigkeit mit der<br />
unerfreulichen Tatsache konfrontiert werden,<br />
dass Importprodukte aus Massentierhaltungen<br />
bezüglich Sicherheit und Qualität<br />
oftmals problematisch sind. Profitieren<br />
und gestärkt würde aber auch die bäuerliche<br />
Tierhaltung in den Exportländern.<br />
Wie es gehen könnte, hat der STS am<br />
Beispiel der Eier gezeigt. Während in der<br />
Schweiz seit 1991 nur noch Eier aus Boden-<br />
oder Freilandhaltung erhältlich sind,<br />
ist der Import von Käfigbatterieeiern unverständlicherweise<br />
bis heute legal. Bereits<br />
Mitte der 1990er-Jahre konnte der<br />
Tierschutz die Grossverteiler Migros und<br />
Coop überzeugen, auf den Verkauf von<br />
Importkäfigeiern zu verzichten. Später<br />
folgten alle Detaillisten diesem Beispiel.<br />
Käfigbatterieeier wurden indessen nach<br />
wie vor im grossen Stil als Eiprodukte<br />
eingeführt, so etwa Flüssigei für verarbeitende<br />
Industrie und Gewerbe. Es kann<br />
davon ausgegangen werden, dass noch<br />
bis 2010 jährlich 40 bis 80 Millionen Käfigeier<br />
in die Schweiz importiert wurden.<br />
Der <strong>Schweizer</strong> Tierschutz STS hat 2011<br />
mit 26 Unternehmen, darunter alle grossen<br />
Importeure und der Branchenriese<br />
Lüchinger + Schmid AG, eine Vereinbarung<br />
geschlossen. Darin verpflichten sich<br />
die Firmen, in Zukunft keine Eier und Eiprodukte<br />
aus dem Ausland zu importieren,<br />
die von Hühnern aus Käfighaltungen<br />
stammen.<br />
Die überwiegende Mehrheit der Konsumentinnen<br />
und Konsumenten greift im<br />
Laden erfreulicherweise zu <strong>Schweizer</strong> Eiern.<br />
Trotzdem beträgt der Eierimport rund<br />
770 Millionen Eier jährlich. Die Gründe<br />
für diesen Anstieg liegen bei der Gastronomie,<br />
den Bäckereien und den Herstellern<br />
von eierhaltigen Produkten und Fertiggerichten,<br />
wo leider noch allzu oft nur<br />
der Preis und nicht die <strong>Schweizer</strong> Qualität<br />
und das Tierwohl zählen.<br />
Der STS legt grossen Wert auf diese<br />
Vereinbarung, da das EU-Käfigbatterieverbot<br />
auf 2012 nicht umgesetzt sein wird<br />
und rund 60 bis 80 Millionen Legehennen,<br />
etwa 20 % des gesamten EU-Bestandes,<br />
weiterhin in diesem tierquälerischen<br />
Haltungssystem vegetieren müssen. Länder<br />
wie Spanien, Portugal, Griechenland,<br />
Tschechien oder Polen hinken bei der Umsetzung<br />
des Verbots stark hinterher. Noch<br />
wichtiger ist indessen die Tatsache, dass<br />
die EU auch tierschutzwidrige Alternativen<br />
zulässt, wie etwa die Kleingruppenhaltung<br />
von Hühnern. Diese Haltungsform<br />
entspricht mit einigen Tierschutz-<br />
Alibikorrekturen weitgehend der traditionellen<br />
Käfigbatterie (Foto). Die Schweiz<br />
hatte diese Systeme in den 1990er-Jahren<br />
auf Praktikabilität und Tierschutzkonformität<br />
hin untersucht und sie anschliessend<br />
richtigerweise verboten.<br />
7.2 Unterschiedliche<br />
Bedeutung des Tierwohls in<br />
der Schweiz und der EU<br />
Von besonderem tierschützerischem Interesse<br />
sind drei Unterschiede:<br />
1. Während die <strong>Schweizer</strong> Gesetzgebung<br />
zu allen Nutztieren detaillierte Vorschriften<br />
und Mindestmasse vorgibt, fehlen EU-<br />
Richtlinien unter anderem zur Haltung<br />
von Kühen, Mastvieh, Truten, Straussen<br />
und anderen Geflügelarten (ausser Hühnern),<br />
Schafen, Ziegen und Pferden. Damit<br />
sind Millionen von Nutztieren in der<br />
EU ohne gesetzlichen Schutz.<br />
In der EU ist die Käfighaltung<br />
immer noch weit<br />
verbreitet<br />
2. Die EU schreibt keine Tierschutzprüfung<br />
vor. In der Schweiz hingegen müssen<br />
serienmässig hergestellte und verkaufte<br />
Haltungssysteme und Stalleinrichtungen<br />
auf Tierschutzkonformität und Praxist-<br />
36<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
auglichkeit geprüft und bewilligt werden.<br />
Davon profitieren Bauern, die solche Systeme<br />
kaufen, und natürlich die darin gehaltenen<br />
Tiere.<br />
3. In der Schweiz sind die allermeisten<br />
schmerzhaften Eingriffe verboten, in der<br />
EU dürfen hingegen beispielsweise junge<br />
männliche Kälber, Zicklein, Ferkel etc.<br />
ohne Schmerzausschaltung kastriert werden.<br />
Unter Einschränkungen sind auch<br />
das in der Schweiz verbotene Schnabelund<br />
Schwanzcoupieren oder das Herausbrechen<br />
von Zähnen bei Ferkeln zulässig.<br />
Sowohl die fünf EU-Nutztierschutzrichtlinien<br />
(Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere;<br />
Kälber-, Schweine-, Legehennen-,<br />
Masthühnerhaltung) als auch die neue<br />
<strong>Schweizer</strong> Tierschutzgesetzgebung legen<br />
keine optimalen Tierschutzstandards fest,<br />
sondern bezeichnen mit konkreten Vorschriften<br />
und Detailmassen lediglich die<br />
Grenze zur Tierquälerei. Wer diese Anforderungen<br />
nicht einhält, macht sich<br />
strafbar, wer sie erfüllt, bietet seinen Tieren<br />
aber noch lange keine tierfreundliche<br />
Haltung. Generell ist zu sagen, dass diese<br />
Grenze zur Tierquälerei in der Schweiz<br />
restriktiver festgelegt ist, das heisst die<br />
<strong>Schweizer</strong> Mindestvorschriften bringen<br />
den Tieren insgesamt mehr.<br />
Kälber: In der CH müssen Kälber bereits<br />
ab der 2. Lebenswoche in Gruppen gehalten<br />
werden, in der EU erst ab der 8. Woche.<br />
Die Gruppenhaltung gilt in der EU nur<br />
für grössere Haltungen, Kleinbetriebe mit<br />
6 und weniger Kälbern dürfen diese weiterhin<br />
einzeln halten, wobei in der CH Einzeliglus<br />
mit Auslauf zulässig sind. Eingestreute<br />
Liegeflächen sind nur in der CH<br />
vorgeschrieben. In der EU dürfen Kälber<br />
in Vollspaltenbodenbuchten eingestallt<br />
werden.<br />
Schweine: In der EU sind mehrstöckige<br />
Ferkelkäfige zulässig, in der CH verboten.<br />
Gleiches gilt für das Ferkelkastrieren<br />
ohne Schmerzausschaltung. Mastschweine<br />
werden in der CH ab 2018 mehr<br />
Platz haben: 0,9 m 2 statt 0,65 m 2 wie in<br />
der EU. Doch Einstreu zum Liegen ist weder<br />
in der CH noch in der EU vorgeschrieben.<br />
Deutlich besser geht es den Sauen in<br />
der CH. In der EU dürfen säugende und<br />
tragende Sauen bis 4 Wochen nach dem<br />
Decken in Kastenstände gesperrt werden.<br />
In der CH dürfen sich säugende Sauen frei<br />
bewegen, und tragende Sauen nach dem<br />
Decken an maximal 10 Tagen eingesperrt<br />
werden. Schwanzcoupieren und Zähneabklemmen<br />
sind in der CH verboten, in<br />
der EU darf dies zwar nicht routinemässig,<br />
aber in begründeten Fällen durchgeführt<br />
werden.<br />
Legehennen: In der EU wird zum Scharren,<br />
Picken und Staubbaden keine Einstreu<br />
vorgeschrieben, in der CH ist dies<br />
Pflicht. Das Schnabelcoupieren ist in der<br />
CH verboten, in der EU zulässig. Ausgestaltete<br />
Käfige und Grosskäfige sind in der<br />
EU trotz Käfigbatterieverbot ab 2012 weiterhin<br />
zulässig, die Eier müssen allerdings<br />
als «Käfigeier» deklariert werden. In der<br />
CH wurden diese Haltungsformen geprüft<br />
und weil tierschutzwidrig verboten.<br />
Masthühner: Tageslicht und mindestens<br />
8 Stunden Dunkelphase sind in der CH<br />
Pflicht, in der EU sind reine Kunstlichtbeleuchtungen<br />
und alternierende Lichtprogramme<br />
zulässig. In der CH sind erhöhte<br />
Flächen als Rückzugs- und Ruhebereich<br />
festgeschrieben, in der EU müssen<br />
die Masthühner auf dem verkoteten Stallboden<br />
ruhen. Die maximale Besatzdichte<br />
beträgt in der CH 30 kg/m2, in der EU 42<br />
kg/m 2 ; dürfte also ein <strong>Schweizer</strong> Hühnermäster<br />
nach EU-Vorschriften produzieren,<br />
könnte er die Hälfte mehr Tiere in seinen<br />
Stall pferchen.<br />
Fazit: Obwohl die <strong>Schweizer</strong> Tierschutzgesetzgebung<br />
lediglich Mindestmasse und<br />
Vorschriften enthält, welche die Grenze<br />
zur Tierquälerei definieren und damit<br />
Nachstehend sind die tierschützerisch<br />
wichtigsten Unterschiede zwischen den<br />
Tierschutzvorschriften der Schweiz und<br />
der EU aufgelistet:<br />
Kühe, Mastvieh, Truten, Strausse und<br />
andere Geflügelarten (ausser Hühner),<br />
Schafe, Ziegen und Pferde: Konkrete<br />
und detaillierte Vorschriften in der<br />
CH, demgegenüber fehlen hierzu in der EU<br />
verbindliche Richtlinien.<br />
Schweinen geht es in der<br />
EU vielfach «dreckig»<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
37
keine optimale, tierfreundliche Haltung<br />
garantieren, sind <strong>Schweizer</strong> Nutztiere von<br />
Gesetzes wegen – mit mehreren bedeutsamen<br />
Ausnahmen – besser geschützt als<br />
ihre Kollegen in der EU. Einerseits liegen<br />
in der Schweiz für alle Nutztiere konkrete<br />
und detaillierte Vorschriften vor, andererseits<br />
sind bei jenen vier Tierkategorien,<br />
für die EU-Richtlinien existieren (Kälber,<br />
Schweine, Legehennen, Masthühner), die<br />
<strong>Schweizer</strong> Vorschriften strenger.<br />
Die Schweiz ist europaweit<br />
Spitze bezüglich tierfreundlicher<br />
Haltungsformen<br />
Der Nutztierschutzstandard eines Landes<br />
definiert sich zwar in erster Linie durch<br />
die Tierschutzgesetzgebung. Das Beispiel<br />
Schweiz zeigt aber, dass die Nachfrage<br />
am Markt (Labelfleisch, Freilandeier) und<br />
staatliche Tierschutzförderprogramme die<br />
Tierhaltungspraxis wesentlich mitbestimmen<br />
und zugunsten eines höheren, über<br />
die Mindestvorschriften der Tierschutzgesetzgebung<br />
hinausgehenden Haltungsstandards<br />
beeinflussen können.<br />
Der STS hat deshalb 2009 eine Umfrage<br />
in EU-Ländern zur Verbreitung von<br />
besonders tierfreundlichen Haltungsformen<br />
(Weide; Auslauf- und Freilandhaltung;<br />
Biotierhaltungen) durchgeführt.<br />
Angeschrieben wurden nationale<br />
Bio- und Labelorganisationen, Landwirtschaftsbehörden,<br />
Wissenschaftler<br />
und Tierschutzorganisationen. Sie wurden<br />
gebeten, die Verbreitung von Weidegang<br />
und Auslauf für Rinder, Schweine<br />
und Hühner zu schätzen. Auch das Forschungsinstitut<br />
für biologischen Landbau<br />
(FiBL) hat dankenswerterweise wichtige<br />
Informationen zur Biotierhaltung in<br />
den EU-Ländern geliefert. Die insgesamt<br />
20 auswertbaren Resultate aus 9 EU-Ländern<br />
wurden danach mit der Verbreitung<br />
von BTS- und RAUS-Haltungsformen in<br />
der Schweiz verglichen, ebenso die Auskünfte<br />
des FiBL und jene von zehn nationalen<br />
Bioorganisationen zum Umfang<br />
der Biotierhaltung in der EU respektive in<br />
einzelnen EU-Ländern.<br />
Es zeigt sich, dass die Schweiz punkto<br />
tierfreundlicher Haltung bei praktisch allen<br />
abgefragten Tierarten entweder mit<br />
oder alleine an der Spitze steht. Über alle<br />
Tierarten gesehen weist die Schweiz europaweit<br />
mit Abstand die höchsten Anteile<br />
an besonders tierfreundlichen Haltungsformen<br />
auf.<br />
Verbreitung besonders tierfreundlicher Haltungsformen<br />
CH A NL F S D FIN GB DK B IRL PL EST<br />
Weidegang Milchkühe 80 20-40 60-80 10 80* 20-40 60-80* 80 40-60 80 60-80 60-80 20-40<br />
Auslauf Mastvieh 50 5-10 80 10 80* 5-10 60-80* 60-80 80 10-20 60-80 40-60 60-80<br />
Auslauf tragende Sauen 66
8. Tierwohl: Handlungsbedarf in der CH<br />
8.1 Allgemeines<br />
Die Tierschutzgesetzgebung von 2008<br />
brachte im Vergleich zu den früheren Vorschriften<br />
für Nutztiere Verbesserungen.<br />
Damit gewährleistet die Schweiz prinzipiell<br />
ein höheres Tierschutzniveau als dies<br />
etwa im EU-Raum der Fall ist. Allerdings<br />
gilt es zu berücksichtigen, dass die Vorschriften<br />
inklusive Mindestmasse etwa<br />
für den Platzbedarf keine optimale tierfreundliche<br />
Haltung garantieren, sondern<br />
nur die Grenze zur amtlich verfolgten und<br />
bestraften Tierquälerei festlegen.<br />
Wesentlich mehr für das Tierwohl als<br />
die von Bauern und Tierschützern stets<br />
hart umkämpften Vorschriften der Tierschutzgesetzgebung<br />
brachten im Rückblick<br />
die Kombination der Labelprogramme<br />
und der spezifischen Direktzahlungen<br />
zur Förderung von besonders tierfreundlichen<br />
Haltungsformen. Die Tierwohlverbesserungen,<br />
insbesondere die<br />
Tatsache, dass heute Kühe, Schweine und<br />
Hühner wieder vermehrt ins Freie dürfen,<br />
was bis Ende der 1980er-Jahre noch<br />
völlig undenkbar war, gehen klar auf das<br />
Konto des Marktes und der erwähnten agrarpolitischen<br />
Massnahme.<br />
Die <strong>Schweizer</strong> Bauern und die nachgelagerten<br />
Stufen bis zu den Gastronomen<br />
und zum Detailhandel profitieren<br />
von den Tierschutzverbesserungen. Das<br />
Image der Bauern sowie die von ihnen<br />
verkauften <strong>Schweizer</strong> Produkte tierischer<br />
Herkunft gewannen stark in der Gunst der<br />
Konsumenten und Steuerzahler, und das<br />
Qualitätsargument «Tierwohl» war und ist<br />
mitbestimmend für die Preisakzeptanz der<br />
teureren <strong>Schweizer</strong> Produkte im Laden.<br />
Ein Grossteil der Menschen glaubt<br />
mittlerweile irrtümlicherweise, dass Labeltierhaltungen<br />
Standard seien in der<br />
Schweiz und dass Kuhtrainer, dauernde<br />
Anbindehaltung von Kühen oder das Einsperren<br />
von Mastschweinen und -rindern<br />
in engen Buchten, ohne Stroh zum Liegen<br />
und ohne Auslauf ins Freie, längst<br />
verboten seien. Eine Umfrage des STS aus<br />
dem Jahr 2008 zeigt, dass über 90 % der<br />
Befragten finden, dass es verboten sein<br />
sollte, 100 Kilogramm schwere Mastschweine<br />
auf einer Fläche von weniger<br />
als einem Quadratmeter, ohne Stroh zum<br />
Liegen und ohne Auslauf zu halten. Bei<br />
der Frage, ob in der Rindermast die Haltung<br />
von 500 Kilogramm schweren Tieren<br />
auf einer Fläche von weniger als vier Quadratmetern,<br />
ohne Stroh zum Liegen und<br />
ohne Auslauf verboten werden sollte, antworteten<br />
86 % mit Ja. 90 % der Befragten<br />
möchten eine Haltung verbieten, in<br />
der das Milchvieh an 270 Tagen im Jahr<br />
im Stall angebunden ist. 89 % sprachen<br />
sich für ein Verbot des elektrischen Kuhtrainers<br />
in Milchviehanbindeställen aus.<br />
Tatsache ist aber: Die erwähnten, von<br />
der Bevölkerung stark abgelehnten Haltungsformen<br />
sind in der Schweiz legal.<br />
Noch immer müssen Millionen Nutztiere<br />
in der Schweiz ohne regelmässigen Auslauf<br />
ins Freie oder tierfreundliche Stallungen<br />
auskommen!<br />
8.2 Tierschutzprobleme<br />
Rindergattung<br />
Kälber<br />
Kein Auslauf und praktisch keine<br />
Weide: Der Grossteil der Kälber – in der<br />
Mast gar 9 von 10 Tieren – erhält keinen<br />
Auslauf ins Freie, obwohl freie Bewegung,<br />
frische Luft und Sonne gerade Jungtieren<br />
gut tun, und Kälber mit Auslauf ins<br />
Freie erwiesenermassen gesünder sind<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
39
und weniger mediziniert werden müssen.<br />
Mit Ausnahme bei der Mutterkuhhaltung<br />
ist die für Rinder natürlichste Haltung,<br />
die Weidehaltung, bei Kälbern praktisch<br />
überhaupt nicht mehr anzutreffen.<br />
Kein Sozialkontakt: Die Einzelhaltung<br />
von Kälbern in engen Iglus auf knapp<br />
3 Quadratmeter Fläche ist als Ausnahme<br />
zur ansonsten geforderten Gruppenhaltung<br />
legal. Sie bringt den Kälbern im<br />
Vergleich zur dauernden Stallhaltung gesundheitliche<br />
Vorteile mit frischer Luft,<br />
Sonne und weniger Staub-, Schadgasund<br />
Keimgehalt der Luft. Allerdings werden<br />
das angeborene Sozial- und Bewegungsverhalten<br />
verunmöglicht. Ein erheblicher<br />
Teil der Aufzuchtkälber in der<br />
Schweiz lebt in dieser tierschutzwidrigen<br />
Haltungsform.<br />
Weder Spielen noch Springen: Die<br />
grundsätzlich tiergerechte Gruppenhaltung<br />
von Kälbern bietet den bis zu 160 Kilogramm<br />
schweren Kälbern lediglich eine<br />
äusserst knapp bemessene Fläche von 1,5<br />
Quadratmeter je Tier an. Die spiel- und<br />
bewegungsfreudigen Jungtiere wachsen<br />
platzmässig extrem beschränkt auf.<br />
Mutterlose Aufzucht: Seit über hundert<br />
Jahren und überall, wo professionell Rinder<br />
gezüchtet werden – ob in der Schweiz,<br />
der EU, in Nord- und Südamerika oder<br />
Asien (Ausnahme: Mutterkuhhaltung) –,<br />
werden Kälber den Müttern nach der Geburt<br />
weggenommen. Das natürliche Mutter-Kind-Verhältnis<br />
wird vollständig unterbunden.<br />
Dies zu einem Zeitpunkt, wo<br />
die individuelle Bindung von Kuh und<br />
Kalb noch relativ schwach ist, da beide<br />
für ein zweifelsfreies geruchliches, optisches<br />
und stimmliches Erkennen des anderen<br />
mehrere Tage benötigen. Wird das<br />
Kalb der Mutter erst nach einer Woche<br />
weggenommen, zeigen beide Tiere denn<br />
auch viel stärkere Trennungssymptome<br />
wie Unruhe, Suchen oder Rufen.<br />
Fehlernährung bei der Mast: Zwar<br />
schob die Tierschutzgesetzgebung der<br />
weissen Kalbfleischerzeugung schon<br />
1981 mit der Forderung nach Raufutter<br />
und genügend Eisen sowie dem Verbot<br />
von anämisch/krank machenden Futterrationen<br />
theoretisch einen Riegel. Doch<br />
noch immer werden Kälber für möglichst<br />
helles <strong>Fleisch</strong> fehlernährt, mit negativen<br />
Folgen für die Tiergesundheit.<br />
Problematischer Handelszeitpunkt:<br />
Händler kaufen für die Mast bestimmte<br />
Kälber zu einem Zeitpunkt auf, wo im<br />
Kalb der mit der Muttermilch aufgenommene<br />
Schutz gegen Erkrankungen am<br />
Versiegen, das eigene Immunsystem aber<br />
noch unterentwickelt ist («Immunloch»).<br />
Dies trägt nebst der grossen Durchmischung<br />
aus verschiedensten Herkunftsbetrieben,<br />
der teilweise beengten Haltung<br />
ohne Auslauf ins Freie und der vorkommenden<br />
Fehlernährung mit dazu bei, dass<br />
in der Kälbermast überproportional häufig<br />
Antibiotika eingesetzt werden muss.<br />
Tötung nach der Geburt: Die für die<br />
Weiterzucht ungeeigneten Kälber aus extremer<br />
Milchleistungszucht sind für die<br />
Grossvieh- und selbst für die Kälbermast<br />
zunehmend ungeeignet, da sie viel weniger<br />
<strong>Fleisch</strong> ansetzen. Es ist nur eine<br />
Frage der Zeit, bis auch in der Schweiz<br />
ein Teil der Nachkommen von Hochleistungsmilchkühen,<br />
insbesondere männliche<br />
Tiere, gleich nach der Geburt getötet<br />
werden. So, wie dies bereits in Neuseeland<br />
und teilweise in Irland und Italien<br />
geschieht, und bei einer anderen Tierart,<br />
nämlich den männlichen Küken der<br />
Hochleistungslegehühner, seit Jahrzehnten<br />
weltweit Usus ist.<br />
Aufzucht- und Mastvieh<br />
Mangelnde Liegequalität: Anstelle von<br />
Einstreu, Sand oder anderen geeigneten<br />
Liegematerialien sind auch harte Gummimatten<br />
zulässig, welche den Ansprüchen<br />
von Rindern an einen Liegeplatz<br />
nicht entsprechen, rasch verschmutzen<br />
und glitschig werden. In Wahlversuchen<br />
werden diese von den Tieren denn auch<br />
gemieden und es wird stets die Einstreu<br />
vorgezogen.<br />
Kaum verbreitet:<br />
Das Weiden von<br />
Kälbern<br />
Kaum freie Bewegung: Für die bis zu<br />
500 Kilogramm schweren Tiere sind lediglich<br />
3 Quadratmeter Fläche vorgeschrieben,<br />
das heisst in einem durchschnittlichen<br />
Wohnzimmer könnte man<br />
8 bis 10 Mastmunis halten! Dieser Platz<br />
reicht nur gerade zum Liegen, nicht aber<br />
für das artgemässe Fortbewegungsver-<br />
40<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
halten. In der drangvollen Enge stören<br />
sich die Jungtiere immer wieder, jagen<br />
liegende auf und verdrängen rangniederere<br />
unsanft. Ein weiterer Teil der Mastund<br />
vor allem der Aufzuchtrinder muss in<br />
Anbindehaltung leben. Diese Tiere dürfen<br />
an 275 Tagen im Jahr permanent an der<br />
Krippe fixiert werden und müssen an den<br />
übrigen 90 Tagen lediglich für zwei bis<br />
drei Stunden etwas freie Bewegung erhalten.<br />
Diesen Jungtieren wird nicht nur die<br />
freie Bewegung, sondern auch das natürliche<br />
Sozial- und Körperpflegeverhalten<br />
weitgehend vorenthalten.<br />
Fehlen von Auslauf und Weide: Während<br />
rund drei Viertel der Aufzuchtrinder<br />
in den Genuss von Auslauf und Weide<br />
kommen, hat etwa die Hälfte des Mastviehs<br />
keinen Auslauf ins Freie und muss<br />
bis zur Schlachtung in beengten, kahlen<br />
Stallbuchten verbringen.<br />
Nur bei einem Neubau eines<br />
Stalles verboten: der<br />
tierquälerische Kuhtrainer<br />
Kühe<br />
Eingeschränktes Sozialverhalten: Die<br />
seit anfangs der 1980er-Jahre auch in der<br />
Schweiz betriebene Mutterkuhhaltung –<br />
heute rund 90 000 Tiere – kommt dem<br />
Rindersozialverhalten weitgehend entgegen.<br />
Demgegenüber müssen die rund<br />
600 000 Milchkühe hier teilweise erhebliche<br />
Abstriche in Kauf nehmen. Einerseits,<br />
weil sich 2 von 3 Kühen nicht frei<br />
in einer Herde bewegen können, sondern<br />
angebunden gehalten werden, oft noch<br />
unter dem elektrischen Kuhtrainer. Andererseits,<br />
weil die Kinderaufzucht, das<br />
Kuh-Kalb-Verhältnis, wegfällt und die Selektion<br />
unter den Kühen durch den Menschen<br />
hoch ist. Aufgrund mangelnder<br />
Leistung und Krankheiten verlassen viele<br />
Tiere frühzeitig die Herde, sodass Kuhfreundschaften,<br />
die unter natürlichen Bedingungen<br />
oft ein Leben lang halten und<br />
vornehmlich zwischen Müttern und Töchtern<br />
bestehen, immer wieder getrennt<br />
werden. Zudem neigt die Altersstruktur<br />
zu immer jüngeren Herden, weil die heutigen<br />
Hochleistungskühe rasch «ausbrennen»<br />
und in der Schweiz im Durchschnitt<br />
kaum noch drei Jahre Milch geben.<br />
Kaum Bewegung: 65 % der Milchkühe<br />
leben in Anbindeställen, wo die Bewegung<br />
per se eingeschränkt ist. Rund<br />
120 000 von ihnen erhalten keinen regelmässigen<br />
Auslauf ins Freie. Sie werden<br />
an 275 Tagen im Jahr permanent an der<br />
Krippe fixiert und müssen an den übrigen<br />
90 Tagen lediglich für zwei bis drei<br />
Stunden etwas freie Bewegung erhalten.<br />
Diesen Kühen wird nicht nur die freie Bewegung,<br />
sondern auch das natürliche Sozial-<br />
und Körperpflegeverhalten weitgehend<br />
vorenthalten. Ihr hauptsächlicher<br />
Lebensraum umfasst eine Fläche von nur<br />
gerade 110 mal 185 Zentimetern.<br />
Kuhtrainer: Noch schätzungsweise<br />
300 000 Kühe sind diesem «Quälinstrument»<br />
ausgeliefert, obwohl eine Studie<br />
des Bundesamtes für Veterinärwesen<br />
schon vor über fünfzehn Jahren<br />
zum Schluss kam, dass es nicht mit den<br />
Grundsätzen der Tierschutzgesetzgebung<br />
zu vereinbaren und demnach Tierquälerei<br />
sei. Doch noch immer ist der Einsatz legal.<br />
Lediglich der Einbau in einen neuen Stall<br />
ist verboten. Der Kuhtrainer ist ein elektrischer<br />
Draht über dem Rücken der Tiere,<br />
der diese beim Koten oder Harnen zwingt,<br />
einen Schritt zurückzutreten, sodass das<br />
Lager weniger verschmutzt. Das sowieso<br />
schon beengte Leben angebundener Kühe<br />
wird dadurch zusätzlich eingeschränkt<br />
und die Fruchtbarkeit der Tiere leidet.<br />
Enthornen: Bei den allermeisten in der<br />
Schweiz gehaltenen Tieren der Milchviehrinderrassen<br />
(Braun- und Fleckvieh)<br />
wachsen natürlicherweise Hörner, ebenso<br />
wie bei den meisten einheimischen Milchziegenrassen.<br />
Genetisch hornlose Rassen<br />
und Herden sind in der <strong>Fleisch</strong>rindermutterkuhhaltung<br />
von Bedeutung und im<br />
Vormarsch. Heute dürften über 90 % der<br />
Rinder bereits als Kälber enthornt werden.<br />
Die gesetzliche Pflicht zur Schmerzausschaltung<br />
beim Enthornen ist zwingend,<br />
ebenso das Verbot gewisser Enthornungspraktiken.<br />
Die Hörner spielen bei<br />
der Kommunikation, der Festlegung der<br />
Rangordnung und der Körperpflege eine<br />
wichtige Rolle bei Rind und Ziege. Das<br />
Enthornen stellt eine Anpassung an den<br />
Menschen (Unfallgefahr) oder ans Haltungssystem<br />
dar.<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
41
Hohe Milchleistung und artwidrige Ernährung:<br />
Durch die Optimierung der Fütterung<br />
sowie die jahrzehntelange Einkreuzung<br />
mit Milchrassen steigt die durchschnittliche<br />
Milchleistung von Jahr zu<br />
Jahr. Während heute ein Zweinutzungsrind,<br />
etwa das Original <strong>Schweizer</strong> Braunvieh,<br />
im Durchschnitt 6000 Kilogramm<br />
Milch pro Jahr (Laktation) erzeugt, weisen<br />
die milchbetonten Linien des stark eingekreuzten<br />
Brown-Swissviehs im Durchschnitt<br />
7000 Kilogramm auf. Am extremsten<br />
verlief die Milchleistungssteigerung<br />
beim Holsteinvieh: von 6400 über 7400 Kilogramm<br />
im Jahr 1991 beziehungsweise<br />
2001 auf 8400 Kilogramm je Laktation<br />
2010; Spitzentiere erreichen in der Schweiz<br />
gar über 12 000 Kilogramm. Fütterung und<br />
Haltung solcher Hochleistungstiere sind<br />
äussert diffizil und stellen höchste Ansprüche<br />
an Mensch, Stall und Fütterung. Werden<br />
diese nicht erfüllt, treten rasch und gehäuft<br />
leistungsbedingte Krankheiten auf<br />
wie Euterentzündungen, Stoffwechselerkrankungen,<br />
Lahmheit und Verhaltensprobleme.<br />
Mit steigender Milchleistung werden<br />
die Kühe auch grösser. Dies hat zur<br />
Folge, dass die Lagermasse in Anbindeund<br />
Freilaufställen heute oft zu klein sind,<br />
Irrwege der Hochleistungszucht<br />
und die Landwirte erhebliche finanzielle<br />
Investitionen in deren Vergrösserung tätigen<br />
müssen. Infolge der riesigen Euter<br />
können sich solche Kühe kaum mehr artgemäss<br />
fortbewegen. Da die Milchproduktion<br />
selbst bei bestem Grundfutter (Heu,<br />
Gras, Silage) nicht mehr als 6000 bis 7000<br />
Kilogramm pro Jahr hergibt, benötigen<br />
Hochleistungskühe anteilmässig hohe<br />
Kraftfuttergaben. Im Durchschnitt erhalten<br />
<strong>Schweizer</strong> Kühe 650 Kilogramm Kraftfutter.<br />
Das Rind, ein ideales Weidetier und<br />
ein optimaler Grasverwerter, wird fütterungsmässig<br />
zur Sau gemacht. Selbst dem<br />
Bundesrat ist diese Entwicklung mittlerweile<br />
nicht mehr ganz geheuer. So schreibt<br />
er in der Botschaft zur Agrarpolitik 2014–<br />
2017: «Der Trend bei der Wiederkäuerfütterung<br />
geht in Richtung eines verstärkten<br />
Kraftfuttereinsatzes. Dadurch droht ein<br />
strategischer Wettbewerbsvorteil der<br />
<strong>Schweizer</strong> Milch- und <strong>Fleisch</strong>produktion<br />
langfristig verloren zu gehen. Wie der Systemvergleich<br />
Hohenrain zeigt, schneidet<br />
die Milchproduktion mit geringem Kraftfuttereinsatz<br />
und hohem Weideanteil bei<br />
den meisten ökologischen Indikatoren je<br />
Kilogramm Milch besser ab als die kraftfutterintensive<br />
Stallhaltung.»<br />
Weniger Laktationen: Aufgrund strenger<br />
Selektion auf immer höhere Milchleistungen<br />
sowie des Auftretens von leistungs-,<br />
haltungs- und fütterungsbedingten Krankheiten<br />
sinkt die Anzahl Laktationen je Kuh<br />
ständig. Eine durchschnittliche Braunviehkuh<br />
(Fleckvieh/Holstein) wird nur noch 6,7<br />
(6,2/6,3) Jahre alt und bringt 4,1 (3,8/3,3)<br />
Laktationen, mit einer Lebensleistung von<br />
27 100 Kilogramm (26 000 kg/26 400 kg)<br />
(2008). Zum Vergleich: Vor fünfzig Jahren<br />
wurden Kühe im Durchschnitt für 6 Laktationen<br />
genutzt, brachten also 6 Kälber zur<br />
Welt und konnten 6 Jahre gemolken werden.<br />
Auch heute noch gibt es hie und da<br />
Tiere, die zeigen, welches Lebensleistungspotenzial<br />
in Kühen steckt. So etwa die Kuh<br />
«Morchel» der Familie Studach in Mörschwil,<br />
die 2011 im 21. Dienstjahr stand<br />
und 184 000 Kilogramm Milch erzeugt<br />
hat, oder die 1990 geborene «Jerry Adoravon»<br />
der Familie Eicher in Engelburg, die<br />
bis 2011 rekordverdächtige 168 000 Kilogramm<br />
Milch erzeugte.<br />
Die hauptsächlichen Abgangsursachen<br />
bei Kühen (Braunvieh, 2008) sind<br />
mit 27 % mangelnde Fruchtbarkeit, mit<br />
21 % Euterkrankheiten, mit 17 % Klauen-/<br />
Gliedmassenkrankheiten, mit 12 % ungenügende<br />
Leistung, mit 6 % Unfälle, mit 5<br />
% Stoffwechselerkrankungen und mit 5<br />
% Abkalbeprobleme (andere Ursachen: 7<br />
%). Im Nachbarland Deutschland liegt die<br />
durchschnittliche Laktationsrate bereits<br />
bei nur mehr 2,5 und in den USA bei unter<br />
2 Laktationen. Dieser durch mangelnde<br />
Tiergesundheit bedingte Abwärtstrend bei<br />
der Nutzungsdauer von Kühen drückt auf<br />
Kosten und Ertrag der Milcherzeugung.<br />
Mit der einseitigen Hochleistungszucht hat<br />
sich auch eine Art «Wegwerfmentalität»<br />
breitgemacht. Jedes Jahr müssen wegen<br />
der sinkenden Nutzungsdauer mehr junge<br />
Kühe aufgezogen und ältere geschlachtet<br />
werden.<br />
Kuhausstellungen und -styling: Diese<br />
traditionellen Anlässe sind aus der Züchterszene<br />
nicht mehr wegzudenken und ein<br />
beliebtes Schaufenster der Tierzucht. Daran<br />
ist aus Tierschutzsicht nichts auszusetzen.<br />
Gewisse Exzesse wie ein zuneh-<br />
42<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
mend gekünsteltes Styling oder das Versiegeln<br />
des Zitzenkanals sowie das (illegale)<br />
Verabreichen von Schmerzmitteln<br />
hingegen sind äusserst fragwürdige Begleiterscheinungen.<br />
8.3 Tierschutzprobleme<br />
Schweinegattung<br />
Abgesetzte Ferkel<br />
Frühes Absetzen: In der freien Natur<br />
bleiben Sau und Ferkel monatelang zusammen,<br />
wobei die Bindung immer loser<br />
wird, bis die Mutter kurz vor der Geburt des<br />
nächsten Wurfs von ihren Kindern nichts<br />
mehr wissen will. In der Schweinehaltung<br />
wird die Trennung aus wirtschaftlichen<br />
Gründen künstlich und abrupt durch den<br />
Menschen vollzogen; in der Schweiz zumeist,<br />
wenn die Ferkel fünf Wochen alt<br />
sind, im Ausland teilweise bereits mit zwei<br />
bis drei Wochen. Das natürliche Mutter-<br />
Kind-Verhältnis wird dadurch teilweise<br />
unterbunden. Je früher Ferkel entwöhnt<br />
werden, desto aufwändiger ist ihre Aufzucht.<br />
Haltungs- und Fütterungsfehler<br />
können sich rasch negativ auf Gesundheit<br />
und Wohlbefinden auswirken.<br />
Fehlender Auslauf: Nur eines von zwanzig<br />
abgesetzten Ferkeln hat Auslaufmöglichkeit,<br />
obwohl freie Bewegung, frische<br />
Luft und Sonne gerade Jungtieren gut tun.<br />
Ungenügende Bewegung und Beschäftigung:<br />
Auf einem Quadratmeter<br />
dürfen drei Ferkel gehalten werden,<br />
und ein ständiges Angebot von Einstreu<br />
zum Liegen oder Wühlen, Bearbeiten und<br />
Kauen ist nicht Pflicht. Über ein Drittel<br />
der Ferkel wird noch immer derart restriktiv<br />
gehalten. Diese massive Einschränkung<br />
des Bewegungs- und Beschäftigungsverhaltens<br />
kann zu Verhaltensstörungen<br />
und Verletzungen führen.<br />
Kälteschutz beim Liegen: Im Winter<br />
können abgesetzte Ferkel beim Ruhen in<br />
nicht wärmegedämmten Ställen frieren,<br />
was sich an der Haufenlagerung der Tiere<br />
zeigt. Deshalb benötigen sie ein gut eingestreutes,<br />
geschütztes Ferkelnest.<br />
Die Ferkel werden bereits<br />
mit fünf Wochen von der<br />
Mutter getrennt<br />
Muttersauen<br />
Verschiedenartige Temperaturansprüche<br />
und mangelnder Auslauf:<br />
Während es neugeborene Ferkel gerne<br />
warm und behaglich haben, leiden säugende<br />
Sauen bei höheren Temperaturen,<br />
denn sie erzeugen wegen der Milchproduktion<br />
erhebliche zusätzliche Körperwärme.<br />
So unterscheiden sich die Wärmeansprüche<br />
von Muttersau und deren<br />
Babys um fast 15 Grad. Trotzdem müssen<br />
sie im gleichen Stall leben. Um beiden<br />
gerecht zu werden und gleichermassen<br />
Hitze- und Kältestress zu vermeiden,<br />
bieten sich gewärmte Ferkelnester und<br />
für die Sau Auslauf ins Freie an. Damit<br />
bliebe zudem die Säugebucht sauberer,<br />
da Schweine ihre Kotplätze bevorzugt im<br />
Freien anlegen. Allerdings erhalten heute<br />
nur 6 % der säugenden Sauen Auslaufmöglichkeit.<br />
Tierschutzwidrige Fressliegeboxen für<br />
tragende Sauen: Der Liegeplatz einer<br />
solchen Box, der gleichzeitig auch Fressplatz<br />
ist, kann nur unzureichend eingestreut<br />
werden und zwingt jede Sau in eine<br />
bestimmte, eingeengte Lage beim Liegen.<br />
Der dahinterliegende Raum bietet wenig<br />
Platz für freie Bewegung und der Auslauf<br />
ins Freie fehlt vollständig. Die Sauen können<br />
einander nicht ausweichen oder sich<br />
voneinander – etwa bei Rangkämpfen –<br />
zurückziehen. Schätzungsweise 20 % der<br />
tragenden Sauen werden heute noch derart<br />
minimalistisch gehalten.<br />
Kastenstandhaltung für leere Sauen:<br />
Diese Haltung ist zwar nur kurze Zeit bis<br />
zur erneuten Belegung der Sauen zulässig.<br />
Das Tierverhalten wird in dieser Zeit<br />
jedoch bis auf Fressen, Liegen und Stehen<br />
völlig unterbunden. Als Alternative bietet<br />
sich die Einzelhaltung in einer Bucht oder<br />
die Gruppenhaltung an.<br />
Zu wenig Auslauf und kaum Weide: Ein<br />
Drittel der tragenden Sauen wird ständig<br />
im Stall gehalten und hat keine Auslaufmöglichkeit.<br />
Praktisch ganz verschwunden<br />
ist die Schweineweide, obwohl sie<br />
dem Wesen der Sauen optimal entspräche.<br />
Diese können junges Gras gut verwerten.<br />
Zudem ist die freie Bewegung von grosser<br />
Wichtigkeit für die Kondition und damit<br />
die Gesundheit der durch die regelmässigen<br />
Geburten samt grosser Würfe extrem<br />
geforderten Muttersauen.<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
43
Fehlende verhaltensgerechte Einrichtungen:<br />
Da Schweine nicht schwitzen<br />
können, leiden sie bei hochsommerlichen<br />
Temperaturen. Die Tierschutzgesetzgebung<br />
fordert Abkühlmöglichkeiten.<br />
Gut können sich Schweine mittels Suhlen<br />
in der Freilandhaltung oder Duschen im<br />
Auslauf kühlen. Sie lernen rasch, mit der<br />
Schnauze den Druckknopf zum Auslösen<br />
eines kurzen Duschregens zu betätigen.<br />
Da erwachsene Schweine wenig biegsam<br />
sind, benötigen sie zur Körperpflege<br />
und zum Kratzen von Rücken, Flanke und<br />
Hinterteil Scheuermöglichkeiten. Ausser<br />
in der Freilandhaltung wird eines der<br />
zentralsten Verhaltensbedürfnisse von<br />
Schweinen, das Wühlen, in praktisch allen<br />
Haltungen grösstenteils verunmöglicht.<br />
Das Anlegen eines Wühlareals hilft<br />
dem ab.<br />
Grosse Würfe und kurze Nutzungsdauer<br />
wegen extremer Leistungszucht:<br />
Durch die Anpaarung mit superfruchtbaren<br />
Sauen gebären Sauen immer<br />
mehr Ferkel pro Wurf, teilweise bereits<br />
mehr, als milchführende Zitzen vorhanden<br />
sind. Dabei hat es die Natur so eingerichtet,<br />
dass die Ferkel schon kurz nach der Geburt<br />
eine Zitzenordnung festlegen und jedem<br />
Ferkel eine Zitze «gehört». Durch die Zucht<br />
auf derart grosse Würfe gibt es mehr Kümmerer<br />
unter den Ferkeln, und der Züchter<br />
muss mit erheblichem Mehraufwand Ammen<br />
suchen für die überzähligen Ferkel<br />
oder sie vollkommen künstlich und mutterlos<br />
aufziehen. Heute gebären Sauen<br />
zwar zwei Ferkel mehr als noch vor 25<br />
Jahren. Aber bereits nach vier Wochen hat<br />
sich dieser Vorsprung auf ein Ferkel reduziert.<br />
Das bedeutet, dass gleichzeitig auch<br />
immer mehr Schweinebabys Kümmerlinge<br />
sind und sterben. Die Muttersauen werden<br />
durch die vielen säugenden Ferkel stark<br />
beansprucht, es ist fast nicht mehr möglich,<br />
sie leistungsgerecht zu füttern. Nach<br />
dem Absetzen der Ferkel werden sie gleich<br />
wieder trächtig gemacht, sodass ihr Körper<br />
permanent eine Riesenfortpflanzungsleistung<br />
erbringen muss. Den Tribut dafür<br />
zahlen die Tiere: Meist werden die Muttersauen,<br />
völlig abgemagert und abgesaugt,<br />
bereits nach fünf Würfen zum Schlachten<br />
geliefert, im eigentlich für Schweine noch<br />
jungen Alter von knapp drei Jahren. Auf<br />
diese Weise müssen pro Jahr wesentlich<br />
mehr junge Muttersauen erzeugt und ältere<br />
geschlachtet werden.<br />
Übermässiger Transport: Hielt ein<br />
Bauer früher Muttersauen und mästete<br />
deren Junge, hat sich die Branche seit<br />
über dreissig Jahren konsequent spezialisiert<br />
in Züchter, welche mit Muttersauen<br />
Ferkel erzeugen und in Mäster, welche<br />
diese Ferkel kaufen und mästen. Seit rund<br />
zehn Jahren gibt es ein noch spezialisierteres<br />
Verfahren, die sogenannte «arbeitsteilige<br />
Ferkelproduktion», wobei der Bereich<br />
der Schweinezucht weiter unterteilt<br />
wird: ein Bauer betreibt das Abferkelgeschäft,<br />
ein anderer sorgt für das Belegen<br />
der Sauen mittels Eber oder künstlicher<br />
Befruchtung, ein dritter hält die tragenden<br />
Sauen und ein vierter zieht abgesetzte<br />
Ferkel auf. Das hat zur Folge, dass Muttersauen<br />
und Ferkel sehr viel häufiger herumtransportiert<br />
werden. Problematisch<br />
aus Tierschutzsicht ist dabei insbesondere<br />
der routinemässige Transport hochtragender<br />
Sauen.<br />
Mastschweine<br />
Mangelnde Liegequalität: Anstelle von<br />
Einstreu oder anderen geeigneten Liegematerialien<br />
sind auch harte, perforierte<br />
Betonböden zulässig. Diese entsprechen<br />
den Ansprüchen von Schweinen an einen<br />
Liegeplatz – sie bauen sich mit Stroh<br />
Schlafnester – überhaupt nicht. Die Böden<br />
verschmutzen rasch, werden glitschig und<br />
führen bei den Schweinen vermehrt zu<br />
Druckstellen und Hautschürfungen. Rund<br />
40 % der Masttiere wird heute ein schweinekonformer<br />
Liegeplatz vorenthalten.<br />
Kaum freie Bewegung: Für die bis zu<br />
105 Kilogramm schweren Mastschweine<br />
sind lediglich 0,9 Quadratmeter Fläche<br />
vorgeschrieben, das heisst auf der Fläche<br />
eines durchschnittlichen Autoparkplatzes<br />
liessen sich völlig legal 10 Schweine mästen.<br />
Dieser Platz reicht nur gerade zum<br />
Liegen, nicht aber für das artgemässe<br />
Fortbewegungsverhalten. Noch immer<br />
werden rund 40 % aller Schweine in derart<br />
beengten Platzverhältnissen gemästet.<br />
Legale Spaltenbodenhaltung für<br />
Mastschweine, ohne Einstreu und<br />
ohne Auslauf ins Freie<br />
Fehlen von Auslauf: 40 % der Mastschweine<br />
verlassen den Stall nur am Tag<br />
ihrer Schlachtung. Sie werden ansonsten<br />
44<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
ohne Auslauf ins Freie, in beengten, kahlen<br />
Stallbuchten gehalten.<br />
Kastration: Seit dem 1. Januar 2010<br />
dürfen männliche Ferkel nur mehr unter<br />
Schmerzausschaltung kastriert werden.<br />
Das ist bislang weltweit einzigartig. Alllerdings<br />
zeigen Untersuchungen, dass gegen<br />
10 % der Ferkel nicht korrekt betäubt<br />
werden, was den Forderungen der Tierschutzgesetzgebung<br />
widerspricht. Besser<br />
wäre es, Ferkel gar nicht zu kastrieren und<br />
Jungebermast zu betreiben.<br />
Rasches Wachstum: Aus wirtschaftlichen<br />
Gründen, um billiger Schweinefleisch<br />
erzeugen zu können, wird auf immer<br />
rascher wachsende und Muskelfleisch<br />
ansetzende Tiere gezüchtet. Während der<br />
Mast nehmen Mastschweine mittlerweile<br />
täglich ein Kilogramm Gewicht zu. Es besteht<br />
die Gefahr, dass die Knochen, Gelenke<br />
und Sehnen dadurch überbeansprucht<br />
werden, was sehr schmerzhaft ist<br />
für die Tiere. Als Konsequenz bewegen sie<br />
sich wenig und können eine tierfreundliche<br />
Haltung mit Auslauf oder eine Freilandhaltung<br />
kaum mehr richtig nutzen.<br />
Bei der Anpaarung mit sehr rasch wachsenden<br />
ausländischen Zuchtlinien zeigen<br />
sich auch bereits <strong>Fleisch</strong>qualitätsmängel<br />
im Schinken, die dem früheren PSE-Syndrom<br />
(<strong>Fleisch</strong> ist pale, soft, exudative –<br />
blass, weich, wässrig) ähneln.<br />
Grenze bei Stallgrösse erreicht: Der<br />
Bund lässt heute den Bau von Mastschweineställen<br />
für bis zu 1500 Tiere<br />
zu, mit Ausnahmebewilligung sogar für<br />
noch mehr Tiere. Wissenschaftliche Untersuchungen<br />
zeigen, dass Grossbetriebe<br />
mit 2000 und mehr Schweinen vermehrt<br />
Gesundheitsprobleme aufweisen. Kommt<br />
es zu einem Seuchenfall, müssen extrem<br />
viele Tiere gekeult werden («Klumpenrisiko»).<br />
Das Tierwohl hängt mit von der<br />
Grösse eines Tierbestandes ab. So nimmt<br />
bei Schweinen, aber auch bei allen anderen<br />
Tierkategorien, der Betreuungsaufwand<br />
je Tier mit zunehmender Grösse<br />
rapid ab. Damit schneiden sich die Bauern<br />
meist ins eigene <strong>Fleisch</strong>, denn Pflege,<br />
Überwachung und Mensch-Tier-Beziehung<br />
stellen nebst der Art der Tierhaltung<br />
die wichtigsten Einflussfaktoren sowohl<br />
auf das Tierwohl als auch auf die<br />
ökonomische Rentabilität dar. Da die Immissionen<br />
und der Geruch mit steigender<br />
Tierzahl immer grösser werden, tendieren<br />
Grossbetriebe zur widernatürlichen Haltung<br />
in geschlossenen Stallhüllen, ohne<br />
Auslauf ins Freie.<br />
Resultate Mastleistungs prüfungsanstalt Sempach<br />
Jahr Masttageszunahmen Anteil wertvolle <strong>Fleisch</strong>stücke Futterverwertung*<br />
1980 800 g 52 % 3,0<br />
2010 930 g 57 % 2,5<br />
* kg Futter je kg Zuwachs<br />
Vorbildliche<br />
Hühnerwiese<br />
8.4 Tierschutzprobleme<br />
Geflügel<br />
Zuchthühner,<br />
Elterntierhaltung<br />
Wenig Auslauf ins Freie: Die Eltern der<br />
für die Eiererzeugung und Mast benötigten<br />
Hühner werden grösstenteils in geschlossenen<br />
Ställen gehalten. Lediglich<br />
ein Drittel der Hennen und Hähne hat die<br />
Möglichkeit, ganzjährig in einem Aussenklimabereich<br />
(Wintergarten) zu frischer<br />
Luft und Sonnenlicht zu gelangen. 83 %<br />
der Elterntiere dürfen nie auf eine Weide.<br />
Coupieren von Sporen und Zehen bei<br />
männlichen Elterntieren: Diese Eingriffe<br />
sind legal und werden unter anderem<br />
zum Schutz der Hennen bei der Begattung<br />
gemacht. Allerdings stellt diese<br />
Massnahme eine fragwürdige Anpassung<br />
des Tiers an die menschengemachten<br />
Haltungsbedingungen dar, beispielsweise<br />
an den üblichen, relativ hohen Anteil<br />
männlicher Hähne in Elterntierherden,<br />
oder bei Mastelternhähnen von Truten<br />
und Hühnern an das zuchtbedingte<br />
hohe Gewicht.<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
45
Schnabeltouchieren von Legeküken:<br />
Im Unterschied zum Schnabelcoupieren,<br />
wo erhebliche Teile des Schnabels weggekürzt<br />
werden, soll beim Touchieren lediglich<br />
die vorderste Schnabelspitze im nicht<br />
innervierten Bereich entfernt werden. Allerdings<br />
sind die Unterschiede je nach Arbeitsqualität<br />
der durchführenden Fachperson<br />
fliessend. Wird der Hühnerschnabel im<br />
innervierten Bereich coupiert, ist dies nicht<br />
nur beim Eingriff selbst schmerzhaft. Vielmehr<br />
muss ein Huhn dann ein Leben lang<br />
sogenannte Phantomschmerzen ertragen,<br />
vergleichbar Menschen mit amputierten<br />
Gliedern.<br />
Ein Legehuhn (links) und<br />
ein Masthuhn (rechts), jeweils<br />
im Alter von 29 Tagen<br />
Importierte Tierschutz- und Gesundheitsprobleme:<br />
Die Zucht von Poulets<br />
liegt weltweit in den Händen von nur mehr<br />
zwei, diejenige von Legehennen von drei<br />
international tätigen Zuchtkonzernen. Die<br />
Schweiz betreibt seit vielen Jahrzehnten<br />
keine eigenständige Wirtschaftsgeflügelzucht,<br />
sondern vermehrt lediglich mit den<br />
importierten Hochzuchttieren. Die meisten<br />
dieser Linien sind auf möglichst hohe Leistungen<br />
gezüchtet – Gesundheit, Verhalten<br />
und das Wohl der Tiere spielen dabei kaum<br />
eine Rolle. Für eine artgerechte Freilandhaltung<br />
geeignete Linien stellen im Portefeuille<br />
dieser Konzerne ein Nischenprodukt<br />
dar, sodass die Beschaffung für verantwortungsbewusste<br />
<strong>Schweizer</strong> Vermehrer<br />
ein Problem darstellen kann. Männliche<br />
Turbotruten nehmen um 150 Gramm<br />
pro Tag zu und wachsen damit doppelt<br />
so schnell wie Rassetruten. Turbopoulets<br />
nehmen täglich 50 Gramm zu und wachsen<br />
damit gar viermal schneller als Junghennen.<br />
Turbotruten und -poulets müssen<br />
jung geschlachtet werden. Würde man sie<br />
weiter wachsen lassen, könnten sie sich<br />
wegen des enormen Körpergewichts und<br />
der Schmerzen beim Gehen kaum mehr<br />
bewegen, und die Todesrate würde auf<br />
bis zu 30 % steigen, wie Untersuchungen<br />
drastisch zeigen!<br />
Brut und Junghennen<br />
Töten der männlichen Legeküken:<br />
Wurden noch bis vor sechzig Jahren weibliche<br />
Hühner zum Eierlegen und die Hähnchen<br />
zur Mast gehalten, also eine Art<br />
«Zweinutzung» betrieben, änderte sich die<br />
Situation mit dem Aufkommen von spezialisierten<br />
Mastlinien, wo Männchen und<br />
Weibchen gemästet werden. Diese setzen<br />
viel rascher und viel mehr Muskelfleisch<br />
an. Ein Männchen der heutigen Legehybriden<br />
müsste mehr als dreimal länger, nämlich<br />
18 Wochen, gemästet werden, um das<br />
Schlachtgewicht von Masthybriden zu erreichen.<br />
Sie würden dazu gar fünfmal mehr<br />
Futter benötigen, wie eine aktuelle deutsche<br />
Studie zeigt. Damit ist die Ausmast<br />
von auf hohe Legeleistung gezüchteten<br />
Hühnern unrentabel und betreffend Futterverwertung<br />
ineffizient. Aus diesem Grund<br />
werden in der Schweiz und weltweit die<br />
männlichen Küken von Legelinien gleich<br />
nach dem Schlupf aussortiert und getötet.<br />
Eventuell ist es schon bald möglich, Geschlechtsbestimmung<br />
im Ei durchzuführen.<br />
So müssten Eier, aus denen männliche Küken<br />
schlüpfen würden, nicht mehr bebrütet<br />
werden und man könnte auf das perverse<br />
Eintagsküken-Töten verzichten.<br />
Kaum Auslauf ins Freie: Die allermeisten<br />
der während rund vier Monaten vom Eintagsküken<br />
zur legebereiten Hennen aufgezogenen<br />
Junghennen, nämlich 80 %, haben<br />
keinerlei Zugang zu einer Weide. Dabei<br />
wäre viel Bewegung im Freien gesundheitsfördernd<br />
und würde die Kondition der<br />
Jungtiere verbessern.<br />
Legehennen<br />
Alle Legehennen verfügen in der Schweiz<br />
über erhöhte Plätze zum Ruhen, geschützte<br />
Nester zum Eierlegen und Einstreu zum Picken,<br />
Scharren und Staubbaden. Fast 90 %<br />
haben ständigen Zugang zu einem Aussenklimabereich,<br />
und 70 % zu einer Weide.<br />
Die Legehennenhaltung in der Schweiz<br />
kommt international gesehen den Bedürfnissen<br />
der Tiere mit Abstand am nächsten.<br />
Aber auch im Vergleich zum Haltungsstandard<br />
etwa von Tieren der Rinder- und<br />
Schweinegattung in der Schweiz hat sie<br />
ein recht hohes Niveau erreicht.<br />
Staub und Schadstoffe: Verschiedene<br />
Management- und Haltungsaspekte, etwa<br />
hohe Besatzdichten, die Einstreu oder ungenügende<br />
Entmistungs- und Lüftungssysteme,<br />
führen zu teilweise hohen Staub- und<br />
Schadstoffgehalten in der Stallluft. Diese belasten<br />
die Hühner und führen etwa zu Atemwegserkrankungen<br />
bei Mensch und Tier.<br />
46<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
Nestqualität ungenügend: Hühner ziehen<br />
zur Eiablage eingestreute Nester, zum<br />
Beispiel Kornspreuer, allen anderen Nesttypen<br />
klar vor. Denn nur mit und in manipulierbarem<br />
Nestmaterial können sie ihr<br />
angeborenes Nest- und Eiablageverhalten<br />
ungehindert durchführen. Über 95 % aller<br />
Nester entsprechen indessen nicht diesen<br />
Vorgaben, sondern enthalten Plastikschalen<br />
oder Kunstrasen.<br />
Leben mit künstlicher<br />
Beleuchtung. Dies fördert<br />
nervöses Verhalten<br />
Beleuchtung: Die meisten Vögel, darunter<br />
auch Hühner und Truten, schauen die<br />
Welt wesentlich anders an als wir Menschen.<br />
Sie vermögen UV-Licht und das<br />
Flimmern (mit einer Frequenz von 100<br />
Hertz) von Leuchtstoffröhren zu sehen.<br />
Letzteres empfinden sie als ständigen blitzschnellen<br />
Hell-Dunkel-Wechsel, was zu<br />
Nervosität und Verhaltensstörungen führen<br />
kann. Natürliches, ungefiltertes Tageslicht<br />
ist auch für Hühner das beste, doch<br />
noch viele Ställe sind ungenügend mit<br />
Sonnenlicht versorgt.<br />
Kurze Nutzung: Nach nur knapp 14 Monaten<br />
Nutzung und rund 350 gelegten Eiern<br />
– also im noch jungen Alter von 1,5<br />
Jahren – werden Legehennen heute geschlachtet.<br />
Dies, obwohl sie nach einer<br />
mehrwöchigen jährlichen Legepause, die<br />
mit einem Gefiederwechsel verbunden ist,<br />
jedes Jahr erneut legen würden, und zwar<br />
bis gegen etwa 1500 Eiern insgesamt. Von<br />
Jahr zu Jahr nimmt die Legeleistung allerdings<br />
um etwa 20 % ab, dafür werden<br />
aber grössere Eier gelegt. Wegen der extrem<br />
kurzen Nutzung müssen pro Jahr wesentlich<br />
mehr Junghennen erzeugt und Legehennen<br />
geschlachtet werden.<br />
Grenze bei Stallgrösse erreicht: Ställe<br />
mit bis zu 18 000 Lege- oder Junghennen<br />
sind in der Schweiz zulässig. Da sich Hühner<br />
selbst bei optimaler Gestaltung von<br />
Auslauf und Weide (insbesondere Schutz<br />
vor Raubvögeln), nie mehr als 100 bis 150<br />
Meter vom Stall – respektive in der freien<br />
Natur von ihrem Schlafbaum – entfernen,<br />
stellt dieser Wert die oberste Grenze dar,<br />
bei der eine Freilandhaltung ethologisch<br />
und ökologisch noch vertretbar ist. Grössere<br />
Einheiten würden dazu führen, dass<br />
die Böden um den Stall übermässig belastet<br />
würden mit Exkrementen, die Weide<br />
überbevölkert und übernutzt würde und<br />
zunehmend Tiere im Stall blieben. Eine<br />
solche «Freilandhaltung» wäre dann auch<br />
den Konsumenten gegenüber fragwürdig.<br />
Berufskrankheiten: Durch die Vorgabe,<br />
dass Legehennen in dem einen Jahr der<br />
Nutzung immer mehr und schwerere Eier<br />
legen müssen, werden die Hennen zu extremen<br />
Stoffwechselleistungen gezwungen.<br />
Es treten spezifische Krankheiten der<br />
Hochleistungshenne auf wie Eileiterentzündungen<br />
und Osteomalazie (Knochenerweichung).<br />
Masthühner und -truten<br />
Kaum Weide bei Masthühnern: Nur jedes<br />
zehnte Masthuhn hat Zugang zu einer<br />
Weide. Der Grund dafür liegt in der Tatsache,<br />
dass konventionelle Mastlinien wegen<br />
Überzüchtungserscheinungen Weiden<br />
kaum nutzen und deshalb für eine glaubwürdige<br />
Freiland- respektive Weidehaltung<br />
gar nicht brauchbar sind. Für die Freilandhaltung<br />
geeignete, normalwachsende<br />
Rassen weisen indessen eine rund 50 %<br />
längere Mastdauer auf, sodass die Erzeugungskosten<br />
und der Ladenpreis wesentlich<br />
höher zu stehen kommen. Besser sieht<br />
die Situation bei Truten aus. Hier verfügen<br />
95 % der Tiere über Weidezugang. Erfreulicherweise<br />
hat sich hingegen der Aussenklimabereich,<br />
der Wintergarten, sowohl<br />
bei den Legehennen als auch beim Mastgeflügel<br />
durchgesetzt: 89 % der Masthühner<br />
und 95 % der Truten steht ständig ein<br />
Aussenbereich zur Verfügung.<br />
Pouletmastversuche<br />
UFA-Bühl<br />
1965: 59 Tage Mastdauer bis Tier 1,6 kg<br />
schwer ist; 26 g Zunahme je Tag; Futterverwertung:<br />
2,3 kg Futter für Zuwachs von<br />
1 kg<br />
2008: 38 Tage Mastdauer bis Tier 2,3 kg<br />
schwer ist; 60 g Zunahme je Tag; Futterverwertung:<br />
1,7 kg Futter für Zuwachs von<br />
1 kg.<br />
Die heutigen Rassen benötigen also wesentlich<br />
weniger Futter in der Mast, allerdings<br />
sind die heutigen Futtermischungen<br />
wesentlich hochwertiger.<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
47
Wenig Platz: Pro Quadratmeter Stallfläche<br />
dürfen 30 Kilogramm Tiere (bei einem<br />
Endgewicht von durchschnittlich 1,8<br />
kg entsprechend knapp 17 Tiere) gehalten<br />
werden. Da sich im Unterschied zur<br />
Legehennenhaltung konventionelle Masthühner<br />
tagsüber fast ausschliesslich am<br />
Boden aufhalten, besteht eine hohe Tierdichte.<br />
Grenze bei Stallgrösse erreicht: Ställe<br />
mit bis zu 18 000 Masthühnern sind in der<br />
Schweiz zulässig. Da der Betreuungsaufwand<br />
je Tier mit zunehmender Grösse rapide<br />
abnimmt, stellt diese Grösse das absolute<br />
Maximum dar. Denn Pflege, Überwachung<br />
und Mensch-Tier-Beziehung<br />
stellen nebst der Art der Tierhaltung die<br />
wichtigsten Einflussfaktoren sowohl auf<br />
das Tierwohl als auch auf die ökonomische<br />
Rentabilität dar.<br />
»Berufskrankheiten»: Mastgeflügellinien<br />
werden auf rasches und starkes<br />
Wachstum von Brust- und Schenkelmuskulatur<br />
gezüchtet. Die Muskelentwicklung<br />
läuft der Skelettentwicklung förmlich<br />
davon, Knochen und Sehnen werden<br />
durch Gewicht und Kraft der Muskeln<br />
überbeansprucht. Während Junghennen<br />
fliegen und problemlos einen bis anderthalb<br />
Meter in die Höhe flattern können,<br />
wird Mastgeflügel von Alterswoche zu<br />
Alterswoche immer träger und ruht zumeist<br />
nicht hühnerkonform am Boden.<br />
Dies auch, weil jede Bewegung die überzüchteten<br />
Tiere stark beansprucht, ja ihnen<br />
sogar Schmerzen bereiteten kann.<br />
Weitere «Berufskrankheiten» von raschwüchsigen<br />
Mastgeflügellinien sind akutes<br />
Kreislaufversagen, Ödemkrankheiten<br />
und Leberverfettung. Im Gegensatz etwa<br />
zu den normalwachsenden Freilandmasthühnerlinien<br />
weisen Turbomasthühner<br />
eine fast doppelt so hohe Mortalität auf.<br />
Enten, Gänse, Perlhühner,<br />
Fasanen, Wachteln, Tauben<br />
Die Tierschutzgesetzgebung regelt die<br />
Haltung dieser Tierarten in der Schweiz.<br />
Allerdings existieren hier mit Ausnahme<br />
einiger weniger Wachtelzuchten, die wesentlich<br />
strengere gesetzliche Vorgaben<br />
erfüllen als ausländische Betriebe, wo<br />
beispielsweise die Käfighaltung noch zulässig<br />
ist, kaum wirtschaftlich und auf<br />
berufsmässiger Basis betriebene Geflügelhaltungen.<br />
Die allermeisten dieser Geflügelarten<br />
leben in Hobbyhaltungen. Das<br />
Gros des in der Schweiz konsumierten Enten-,<br />
Gänse-, Perlhuhn-, Fasanen-, Wachtel-<br />
und Taubenfleisches wird importiert,<br />
zumeist aus tierschützerisch fragwürdigen<br />
Haltungen.<br />
8.5 Tierschutzprobleme<br />
Schafe, Ziegen und<br />
Kaninchen<br />
Schafe<br />
Die Schafhaltung wird in der Schweiz<br />
recht extensiv und mit fleissigem Weidegang<br />
betrieben. Rund 80 % der auf<br />
Bauernhöfen gehaltenen Schafe erhalten<br />
Weidegang. Zwei auch tierschützerisch<br />
bedeutsame Eigenheiten charakterisieren<br />
die Schafhaltung: Rund ein Drittel<br />
des Schafbestandes gehört nicht bäuerlichen<br />
Tierhaltern, und über die Hälfte der<br />
Schafe wird im Sommer gealpt. In beiden<br />
Haltungen ist die behördliche Überwachung<br />
des Tierschutzes weniger konsequent<br />
als auf Bauernhöfen. Auf Alpen<br />
sind die Tierschutzvorschriften, etwa betreffend<br />
Witterungsschutz, Wasserzugang<br />
oder Tierüberwachung, zudem larger als<br />
im Talgebiet.<br />
Schwanzcoupieren zulässig: Vielen<br />
Schafen wird der Schwanz coupiert,<br />
um einem Verschmutzen der Hinterpartie<br />
vorzubeugen, etwa bei raschen Futterwechseln.<br />
Diese Massnahme ist zweifellos<br />
schmerzhaft. Zudem kann durch bessere<br />
Pflege und Fütterung die Verschmutzungsgefahr<br />
verringert werden.<br />
Ein Grossteil der Schafe<br />
erhält Weidegang<br />
Ziegen<br />
Grosse Verbreitung der restriktiven<br />
Anbindehaltung: Rund zwei Drittel der<br />
Ziegen dürfen nicht in Gruppen und in<br />
strukturierten Freilaufställen leben, wie<br />
es ihrer Natur entspräche, sondern sind<br />
einzeln angebunden. Darunter leidet das<br />
hoch entwickelte Sozialleben und das Bewegungsverhalten<br />
der neugierigen Ziegen,<br />
insbesondere in der Stallhaltungszeit<br />
von Oktober bis April. Besser geht es den<br />
Ziegen in der Vegetationszeit: dann können<br />
drei Viertel auf die Weide.<br />
48<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
Enthornen: Die meisten einheimischen<br />
Milch-Ziegenrassen haben natürlicherweise<br />
Hörner. Wie bei den Rindern wird<br />
auch bei Ziegen zunehmend enthornt,<br />
unter Schmerzausschaltung und mit definierten<br />
Methoden. Die Hörner spielen bei<br />
der Kommunikation, der Festlegung der<br />
Rangordnung und der Körperpflege eine<br />
wichtige Rolle bei Rind und Ziege. Das<br />
Enthornen stellt eine Anpassung an den<br />
Menschen (Unfallgefahr) oder ans Haltungssystem<br />
dar.<br />
Kaninchen<br />
Verbreitete Einzelhaltung und kaum<br />
Auslauf ins Freie: Der Grossteil an Kaninchen<br />
wird in der Schweiz von Rassezüchtern<br />
für das Schauwesen und in<br />
Privathaushalten als Kuscheltiere gehalten.<br />
Wie diese präferiert auch die Wirtschaftskaninchenzucht<br />
auf Bauernhöfen<br />
die noch immer legale Einzelhaltung von<br />
Zibben. Erst 26 % der Kaninchen dürfen<br />
ihrer Natur gemäss frei in Gruppen und in<br />
strukturierten Freilaufställen leben. Praktisch<br />
inexistent ist die Auslaufhaltung, in<br />
deren Genuss nur knapp 2 % der Kaninchen<br />
kommen. Allerdings ist zu sagen,<br />
dass die Erwerbskaninchen-Freilandhaltung<br />
teilweise mit Mortalitätsraten von 30<br />
bis 40 % aufwartet, was hinter die Tierfreundlichkeit<br />
dieser Haltungsform ein<br />
grosses Fragezeichen setzt.<br />
Einsatz von Hilfsmitteln, etwa Zäume und<br />
Hilfszügel, können extremen Einfluss auf<br />
das Wohl und die Gesundheit von Pferden<br />
haben. Bis heute regelt die Tierschutzverordnung<br />
diesen tierschutzsensiblen Bereich<br />
allerdings nicht.<br />
8.7 Tierschutzprobleme<br />
Transporte<br />
Die Schweiz verfügt über die strengste<br />
Tiertransportgesetzgebung weltweit, mit<br />
einer Ausbildungspflicht für Transporteure,<br />
einer maximalen Transportdauer<br />
von sechs Stunden und konkreten Vorgaben<br />
zu Transportmitteln und zum Umgang<br />
mit transportierten Tieren. Aus tierschützerischen<br />
Gründen ist der Transit<br />
von Schlachttieren aus dem EU-Raum<br />
durch die Schweiz verboten. In der<br />
Schweiz werden jährlich rund 3 Millionen<br />
Kälber, Kühe, Rinder, Schweine, Schafe<br />
und Ziegen sowie 45 Millionen Hühner<br />
zum Schlachthof gefahren. Werden noch<br />
die Zuchtvieh- und Jungtiertransporte<br />
dazugerechnet, ergeben sich pro Jahr gegen<br />
60 Millionen zu befördernder Nutztiere.<br />
Pro Arbeitstag kommen so auf unseren<br />
Strassen im Durchschnitt fast eine<br />
Viertelmillion Tiere zusammen.<br />
Zunahme Tiertransporte: Für viele Tiere<br />
haben die Transportwege im Vergleich zu<br />
früher streckenmässig zugenommen, denn<br />
das Schlachten wird in der Schweiz aus<br />
wirtschaftlichen Gründen auf immer weniger<br />
und immer «leistungsstärkere» Grossbetriebe<br />
konzentriert. Auch die fortschreitende<br />
Arbeitsteilung und Spezialisierung<br />
in der Nutztierhaltung kurbeln Handel<br />
und Transporte von Tieren an. So werden<br />
heute die meisten zur Mast bestimmten<br />
Tiere früh in ihrem Leben verkauft und<br />
aus den Geburts- in spezialisierte Mastbetriebe<br />
verbracht. Legehennen werden in<br />
ihrem Leben gar drei Mal transportiert: als<br />
Eintagsküken von der Brüterei in den Aufzuchtbetrieb,<br />
mit knapp vier Monaten auf<br />
den Legebetrieb, und im Alter von rund<br />
18 Monaten, nach der Produktion von 350<br />
Eiern, in den Schlachthof.<br />
Transport hochträchtiger Tiere: Unverständlicherweise<br />
lässt die Tierschutzgesetzgebung<br />
den Transport solcher Tiere,<br />
die sich in einer extrem belasteten Lebensphase<br />
befinden, zu. Mit dem Aufkommen<br />
der arbeitsteiligen Ferkelproduktion hat<br />
insbesondere der Transport hochträchtiger<br />
Muttersauen stark zugenommen.<br />
8.6 Tierschutzprobleme Pferde<br />
Verbreitete Einzelhaltung: Ein erheblicher<br />
Teil der Pferde wird ausserhalb<br />
der Landwirtschaft gehalten. Tendenziell<br />
dürfte es den auf Bauernhöfen gehaltenen<br />
Pferden besser gehen, da hier mehr<br />
Platz und insbesondere Weiden vorhanden<br />
sind. Während rund 80 % der in der<br />
Landwirtschaft gehaltenen Pferde erfreulicherweise<br />
über Auslauf und Weidegang<br />
verfügen, ist die Einzelhaltung von Stuten<br />
und Wallachen noch sehr verbreitet. Nur<br />
eines von acht erwachsenen Pferden darf<br />
artgemäss in Gruppen leben.<br />
Umgang und Hilfsmittel: Die Art und<br />
Weise der Ausbildung und der Beanspruchung<br />
des Tieres beim Reiten wie auch der<br />
Pferdeleben wie es sein<br />
soll: in einer Gruppe mit<br />
Weidegang und Auslauf<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
49
Transport mit dreistöckigen Fahrzeugen:<br />
Mittlerweile fahren auch in der<br />
Schweiz solche Fahrzeuge. Wegen der beschränkten<br />
Höhe bieten sie den Tieren viel<br />
weniger Raum und erschweren das Lüften<br />
sowie im Sommer die Kühlung. Der Auf-,<br />
Um- und Ablad der Tiere wird schwieriger<br />
und insbesondere länger, sodass die<br />
Transportdauer zunimmt, was nicht im<br />
Interesse der Tiere liegt.<br />
8.8 Tierschutzprobleme<br />
Schlachthöfe<br />
Der Bund hat 2010 neue, zeitgemässe<br />
Vorschriften zum Töten von Tieren in<br />
Schlachtanlagen erlassen. Damit verbesserte<br />
sich die Situation für viele Tiere am<br />
Ende ihres Lebens.<br />
Schweine auf<br />
ihrer letzten Fahrt<br />
Konzentration der Schlachtanlagen:<br />
Über 90 % aller Kühe, Kälber, Rinder,<br />
Schweine, Ziegen, Schafe, Hühner<br />
und Truten schweizweit werden in<br />
knapp einem Dutzend mittlerer bis grosser<br />
Schlachthöfe getötet. Das bringt Vorund<br />
Nachteile. Wenige, aber dafür grössere<br />
Schlachtanlagen können Wissen und<br />
Erfahrung samt Investitionen in bessere<br />
Einrichtungen rascher umsetzen, gut geschultes<br />
Personal einsetzen und besser<br />
überwacht werden. Demgegenüber gibt<br />
es ein Mehr an Transporten, und je Zeiteinheit<br />
müssen immer mehr Tiere angeliefert,<br />
abgeladen, in die Wartebuchten<br />
getrieben und schlussendlich den Betäubungsanlagen<br />
zugeführt werden. Das erfordert<br />
eine ausgereifte Technik, Organisation<br />
und Überwachung.<br />
Hohe Schlachtfrequenzen: Auch wenn<br />
in der Schweiz je Stunde und Schlachtlinie<br />
insbesondere bei Schweinen und Geflügel<br />
noch mit tieferen Betäubungs- und<br />
Tötungsfrequenzen gearbeitet wird als in<br />
den Grossschlachthöfen der EU und der<br />
USA, so haben sich diese im Vergleich zu<br />
fünfzig Jahren früher doch vervielfacht.<br />
Spezialisierte <strong>Schweizer</strong> Schlachthöfe töten<br />
heute stündlich 8000 Hühner und 300<br />
Schweine, im Ausland sind es teilweise<br />
sogar 12 000 Hühner und 700 Schweine<br />
pro Stunde. Bei derart hohen Geschwindigkeiten<br />
wird es immer schwieriger, die<br />
Tiere schonend den Anlagen zuzuführen<br />
und vor allem die korrekte Betäubung<br />
jedes einzelnen Tieres festzustellen.<br />
So zeigen aktuelle EU-Studien, dass<br />
bei Restrainer-Elektrobetäubungsanlagen<br />
und Schlachtfrequenzen von 600–700<br />
Schweinen pro Stunde die Tierzuführung<br />
mit Einzeltreibgängen nur mehr über den<br />
regelmässigen, tierschutzwidrigen Einsatz<br />
von für die Tiere sehr schmerzhaften<br />
Elektrotreibhilfen erfolgt. Nach der Gasoder<br />
Elektrobetäubung müssen die Tiere<br />
raschestmöglich gestochen werden, damit<br />
sie entbluten und sterben und nicht<br />
wieder aufwachen. Für die korrekte Ausführung<br />
des Stichs mit einem Hohlmesser<br />
bleiben den Arbeitern bei derart extremen<br />
Frequenzen indessen lediglich 6 Sekunden<br />
Zeit! So kommt es bei 1 % der Tiere<br />
dazu, dass es nicht richtig gestochen wird<br />
und bei vollem Bewusstsein in die Weiterverarbeitung<br />
(Brühanlage!) fährt. Ein<br />
Horrorszenario, von dem gemäss Experten<br />
bei etwa 250 Millionen geschlachteten<br />
Schweinen in der EU gegen 2,5 Millionen<br />
betroffen sein könnten.<br />
Geflügelschlachtung: Die seit Jahrzehnten<br />
weltweit praktizierte Geflügelbetäubung<br />
im mit Strom durchflossenen<br />
Wasserbad weist enorme Tierschutzprobleme<br />
auf, beginnend beim Aufhängen<br />
der angelieferten Tiere an den Füssen,<br />
über die ungenügende Betäubungssicherheit,<br />
da einzelne Hühner es immer wieder<br />
schaffen, Kopf und Hals über das Wasserbad<br />
zu halten, bis zur wegen der extrem<br />
hohen Schlachtfrequenz kaum mehr<br />
möglichen Kontrolle und Entnahme von<br />
nicht korrekt betäubten Hühnern. In der<br />
Schweiz ist diese antiquierte und tierschutzproblematische<br />
Methode zulässig.<br />
Eine schonendere und sicherere Betäubung<br />
und Tötung von Geflügel gewährleisten<br />
moderne Gasbetäubungsanlagen,<br />
wie sie die Bell AG nach Beratung durch<br />
den STS seit 2011 betreibt.<br />
8.9 Weitere Aspekte der<br />
Nutztierhaltung<br />
Mensch-Tier-Kontakt<br />
Insbesondere durch die zunehmende Tierzahl<br />
je Betrieb und durch den Einsatz arbeitssparender<br />
Einrichtungen, beispielsweise<br />
den Melkroboter, aber auch in extensiveren<br />
Haltungsformen wie Freilauf-<br />
50<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
ställen, Weidemast oder Mutterkuhhaltung<br />
wird der Kontakt zum einzelnen Tier<br />
quantitativ oft geringer und der menschliche<br />
Zugang zum Einzeltier in der Herde<br />
gestaltet sich schwieriger. So gehört das<br />
Küheputzen mit Bürste und Striegel in<br />
vielen Betrieben längst der Vergangenheit<br />
an. Viele Tiere sind es auch nicht<br />
mehr gewohnt, angebunden zu stehen<br />
oder geführt zu werden. Doch weiterhin<br />
müssen Rinder aussortiert, fixiert und geführt<br />
werden können, ob für eine veterinärmedizinische<br />
Untersuchung oder Impfung,<br />
die Klauenpflege, die Umstallung<br />
oder den Transport.<br />
Ob und wie ein Bauer seine Tiere anspricht<br />
und wie diese darauf reagieren,<br />
verrät Aussenstehenden oft viel über die<br />
Qualität einer Tierhaltung. Ein positiver<br />
Kontakt führt meist zu ruhigeren, entspannteren<br />
und zutraulicheren Tieren.<br />
Sorgfältige Beobachtung und Pflege stellen<br />
mit die gesundheitlich und ökonomisch<br />
wichtigsten Schlüsselfaktoren der<br />
Tierhaltung dar – aber auch die am meisten<br />
unterschätzten!<br />
Eingeschränktes Sozialleben<br />
Das angeborene Sozialverhalten der<br />
Nutztiere wird aus produktionstechnischen<br />
Gründen stark eingeschränkt. Während<br />
natürliche Sozialverbände sich in der<br />
Regel aus jüngeren und älteren männlichen<br />
und weiblichen Erwachsenen sowie<br />
aus Halbwüchsigen und Kindern zusammensetzen<br />
und etwa bei Rindern sowie<br />
Schweinen Mütter und Töchter oft ein<br />
Leben lang zusammenbleiben, werden in<br />
der Tiermast und der Eiererzeugung stets<br />
gleichaltrige Tiere gehalten. Zudem sind<br />
Nutztiere häufig schon ganz früh im Leben<br />
auf sich alleine gestellt oder wachsen<br />
gar mutterlos auf. Die Mutter-Kind-<br />
Beziehung, welche natürlicherweise bei<br />
allen Nutztieren einen hohen Stellenwert<br />
einnimmt, wird heute in den allermeisten<br />
Fällen fast völlig verunmöglicht. Über die<br />
Folgen für die Muttertiere und die Entwicklung<br />
der Jungtiere liegen bislang nur<br />
wenige wissenschaftliche Untersuchungen<br />
vor. Praktische Erfahrungen deuten<br />
indessen darauf hin, dass künstliche Auf-<br />
Ob und wie ein Bauer<br />
seine Tiere anspricht, sagt<br />
viel über die Tierhaltung<br />
zucht oder rasche, frühe Trennung von<br />
Mutter und Kind durchaus Konsequenzen<br />
haben und etwa bei Kälbern und Ferkeln<br />
das gegenseitige Besaugen fördern. Haltungsformen,<br />
die dem natürlichen Sozialleben<br />
Rechnung tragen – beispielsweise<br />
das geniale Konzept des Familienstalls für<br />
Schweine des leider allzu früh verstorbenen<br />
Zürcher Verhaltensforschers Alex<br />
Stolba –, konnten sich mit Ausnahme der<br />
Mutterkuhhaltung nicht durchsetzen. Mit<br />
Blick auf die Neuausrichtung der Landwirtschaft<br />
hin zu mehr Tierschutz sind<br />
Wissenschaft und Praxis gefordert, nach<br />
Lösungen für eine bessere Berücksichtigung<br />
des Sozialverhaltens der Nutztiere<br />
zu suchen.<br />
Wirtschaftlichkeit<br />
Kaum ein anderes Thema gibt so viel<br />
Anlass zu Diskussionen zwischen Bauern<br />
und Tierschützern wie die Ökonomie.<br />
In der Tat gilt es hier differenziert hinzuschauen.<br />
Die einfache Formel der Agrarlobby,<br />
«Tierschutz = Kostentreiber»,<br />
stimmt nicht und greift viel zu kurz im<br />
Hinblick auf die Tatsache, dass Produkte<br />
von Tieren in artgerechter Haltung am<br />
Markt meist einen besseren Preis lösen<br />
und der Bund seit 1996 solche Haltungsformen<br />
mit (allerdings geringen) jährlichen<br />
Beiträgen unterstützt. Völlig falsch<br />
ist auch das Argument, dass es den Tieren<br />
ja wohl sein müsse, wenn sie hohe Nutzleistungen<br />
erbringen. Denn die Leistung<br />
ist genetisch fixiert. Ein Hochleistungstier<br />
muss viel Milch oder Eier erzeugen oder<br />
rasch <strong>Fleisch</strong> ansetzen, ob es will oder<br />
nicht, ob es eingesperrt ist oder im Freiland<br />
lebt. Untersuchungen der ETH Zürich<br />
zeigten bereits in den 1980er-Jahren, dass<br />
selbst schwer verletzte Hühner in Käfigbatterien<br />
täglich Eier legten!<br />
Buchhaltungsergebnisse deuten darauf<br />
hin, dass die ökonomischen Unterschiede<br />
zwischen gut und schlecht<br />
wirtschaftenden Betrieben grösser sind<br />
als die Unterschiede zwischen einzelnen<br />
Haltungsformen für Tiere. Die jährlichen<br />
Auswertungen der UFA für hunderte<br />
von Schweinemast- und -zuchtbetrieben<br />
zeigen, dass das erste Viertel der<br />
Bauern fast doppelt so viel verdient wie<br />
das letzte, unabhängig vom Haltungssystem.<br />
Als Hauptgrund wird von den Ökonomen<br />
stets das bessere Management genannt.<br />
Ein ähnliches Bild findet man in<br />
der Mutterkuhhaltung. Die 25 % Topbau-<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
51
ern verdienen dort 2700 Franken je Kuh<br />
und Jahr, die schlechtesten 25 % indessen<br />
lediglich 1200 Franken! Auch hier spielt<br />
das Management, also der Faktor Mensch,<br />
die grösste Rolle. So finden sich auf den<br />
Betrieben der Gutverdiener lediglich 2 %<br />
Kälberverluste, bei den schlechten indessen<br />
15 %!<br />
Für mehrere Tierkategorien trifft die<br />
Feststellung zu, dass der Tierschutz die<br />
Produktion verteuert, sei dies durch höhere<br />
Investitionskosten oder durch Mehraufwand.<br />
So brachte die Volierenhaltung<br />
als tierfreundliche Alternative zur Käfigbatterie<br />
10–15 % höhere Produktionskosten<br />
mit sich. Sehr hohe Mehrkosten fallen<br />
bei der Freilandhühnermast an. Durch<br />
das Zurverfügungstellen von Weide, die<br />
tieferen Besatzdichten im Stall und primär<br />
durch den Einsatz von langsamer<br />
wachsenden Hybriden mit einer um 50 %<br />
verlängerten Mastdauer erhöhen sich die<br />
Produktionskosten im Vergleich zur konventionellen<br />
Haltung stark.<br />
In der Schweinezucht/-mast und der<br />
Rindermast unterscheiden sich die Investitionskosten<br />
für die verschiedenen Haltungsformen<br />
wenig, mit Ausnahme von<br />
reinen Weidemasten, die ohne teure Stallbauten<br />
auskommen. Hingegen generieren<br />
tierfreundliche Haltungsformen mit<br />
Einstreu und Auslauf teilweise Mehraufwand.<br />
Aus diesem Grund sind Label- und<br />
Biozuschläge sowie die staatlichen BTS/<br />
RAUS-Beiträge gerechtfertigt.<br />
In der Milchviehhaltung hingegen<br />
leisten Tierschutzmassnahmen einen<br />
wichtigen Beitrag zur Senkung der Produktionskosten.<br />
Eine ETH-Modellrechnung<br />
ergab, dass bei Beschränkung des<br />
Weidegangs auf die gesetzlichen Vorschriften<br />
von nur 90-mal Auslauf im<br />
Jahr der erzielbare Milcherlös um 7 Rappen<br />
pro Kilogramm niedriger ausfällt, als<br />
wenn die Kühe von Frühjahr bis Herbst<br />
weiden. Der Vollweidebetrieb hat im Vergleich<br />
zu Betrieben mit Stallhaltung und<br />
-fütterung ein Kostensparpotenzial von<br />
mehreren hundert Franken pro Kuh. Weidehaltung<br />
und Freilaufställe können die<br />
Arbeitszeit reduzieren. Kommt dazu, dass<br />
beim Melken im Freilaufstall mit Melkstand<br />
auch die Arbeitsbelastung vermindert<br />
wird. Hier finden sich weniger ungünstige<br />
Körperhaltungen und Arbeitsarten<br />
als beim Melken im Anbindestall.<br />
In- und ausländische Erfahrungen<br />
zeigen, dass regelmässiger Weidegang<br />
und Freilaufhaltung Fruchtbarkeit und<br />
Tiergesundheit (z. B. Klauenprobleme,<br />
Euterentzündungen, Gliedmassenerkrankungen)<br />
verbessern sowie die Lebensdauer<br />
verlängern können. Hier liegt ein<br />
wesentliches Kostensparpotenzial, geht<br />
man doch davon aus, dass Euterentzündungen<br />
und Fruchtbarkeitsstörungen den<br />
40 000 <strong>Schweizer</strong> Milchbauern Einbussen<br />
von bis zu einer halben Milliarde Franken<br />
jährlich zufügen können.<br />
Tierarztkosten sind dabei nur die<br />
Spitze des Eisbergs. Die Tierarzt- und Medikamentenrechnungen<br />
fallen dem Landwirt<br />
zwar auf und erscheinen in der Buchhaltung.<br />
Viel stärker ins Gewicht fallen<br />
jedoch der Milchausfall während der Behandlung<br />
und die in der Folge geringere<br />
Milchleistung der Kühe. Bessere Tiergesundheit<br />
bedeutet deshalb nicht nur geringere<br />
Tierarztkosten, sondern vor allem<br />
bessere Leistungen, weniger Leistungsausfälle<br />
und Abgänge, bessere Ausnützung<br />
von Gebäuden und Einrichtungen,<br />
niedrigere Futter-, Remontierungs-, Arbeits-<br />
und Pflegekosten.<br />
Tierschutz wird oft mit grossen Neuund<br />
Umbauprojekten und damit hunderttausenden<br />
von Franken an Investitionen<br />
in Verbindung gebracht. Nicht jeder Stall<br />
ist aber schon amortisiert, und nicht jeder<br />
Tierhalter verfügt über ein derart dickes<br />
finanzielles Polster. Ist Tierschutz am<br />
Ende nur etwas für reiche Bauern? Keineswegs!<br />
Denn es muss nicht immer gleich<br />
ein teurer Umbau sein. Mit gutem Willen<br />
und Geschick lässt sich auch mit kleinem<br />
Portemonnaie viel fürs Wohlbefinden der<br />
Tiere tun:<br />
Ein Freilaufstall ist gut für<br />
die Tiere und reduziert den<br />
Arbeitsaufwand<br />
• Optimale Fütterung (Qualität, Regelmässigkeit,<br />
Häufigkeit) und ständiges<br />
Angebot von sauberem Wasser (z. B.<br />
Kälbermast!)<br />
• Licht und Luft (Vermeiden von Schadgasen,<br />
Staub, Zugluft; viel frische Luft<br />
durch offene Fenster/Stallfronten;<br />
Wände und Decken sauber halten; fleissiges<br />
Entmisten; Überhitzung und Unterkühlung<br />
vorbeugen)<br />
• Pflege (Klauen und Fell; Gesundheitszustand),<br />
Tiere ansprechen, Überwa-<br />
52<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
chen der Einrichtungen (Unfall-/Verletzungsgefahr)<br />
• Einstreu resp. angepasste Liegebereiche<br />
(Tiere ruhen 50 % von 24 Stunden!), Beschäftigung<br />
ermöglichen<br />
• Bewegung (Auslauf ins Freie)<br />
Viele Landwirtschaftsberater und Bauern<br />
drängen darauf, menschliche Arbeitskraft<br />
durch teure Technik und Maschinen<br />
zu ersetzen. Das kann durchaus Sinn machen,<br />
hat aber auch wirtschaftliche Grenzen,<br />
die oftmals übersehen werden. Wenig<br />
sinnvoll ist es beispielsweise, eher günstige<br />
Arbeitskräfte durch teure Technik<br />
zu ersetzen. Je mehr Technik ein Landwirt<br />
etwa um seine Kühe herum investiert,<br />
desto mehr muss er die Milchleistung steigern,<br />
um die hohen Kosten auf mehr Kilogramm<br />
Milch verteilen zu können. So verursacht<br />
ein Melkroboter im Vergleich zu<br />
einem Fischgrätenmelkstand samt Melker<br />
jährlich zehntausende von Franken Mehrkosten.<br />
Man kann sich zu Recht fragen,<br />
ob dieses Geld nicht besser in einen Menschen<br />
investiert wird, der die Kühe melkt<br />
und sich um sie kümmert – wozu der Roboter<br />
ja nicht in der Lage ist!<br />
Klimaschutz<br />
Die Klimarelevanz der industriellen Tierproduktion,<br />
die auf Massentierhaltung<br />
setzt, ist unbestritten. Bekannt ist auch die<br />
Tatsache, dass beim Umbruch von Weideland<br />
zu Äckern – ob nun zur menschlichen<br />
Ernährung oder zur Futtermittelproduktion<br />
– sowie bei der synthetischen<br />
Herstellung von Stickstoffkunstdünger<br />
und dessen Anwendung grosse Mengen<br />
an klimarelevantem CO2 und Lachgas in<br />
die Atmosphäre entweichen. Deshalb ist<br />
die weltweit zunehmende Ausdehnung<br />
der Ackerflächen auf ungeeignete Standorte,<br />
etwa zur industriellen Futtermittelproduktion<br />
für Tierfabriken, extrem klimarelevant.<br />
Weltweit verursacht die Rodung von<br />
Tropenwäldern für Viehweiden und die<br />
Umnutzung von natürlichem Gras- und<br />
extensivem Weideland wie Steppen, Savannen<br />
und Pampas zu Ackerland (u. a.<br />
Soja- und Getreideanbau) etwa 20 % aller<br />
Rodung für Viehweiden<br />
oder Ackerland für Futtermittelanbau<br />
Treibhausgasemissionen. Durch den Freihandel<br />
werden die klimarelevante Produktion<br />
und die weltweite Verschiebung<br />
von Kraftfutter für Tiere begünstigt. Die<br />
Schweiz importierte in den letzten zehn<br />
Jahren zunehmend auch Kraftfutter aus<br />
bezüglich Umwelt- und Klimaschutz problematischen<br />
Erzeugerregionen. Die Umnutzung<br />
von Steppen und anderen natürlichen<br />
Grasgebieten könnte zudem<br />
ein kurzfristiges Phänomen sein, da der<br />
Ackerbau dort meist in Monokulturen und<br />
wenig bodenschonend betrieben wird. So<br />
ist es absehbar, dass durch Erosion die<br />
nur dünne fruchtbare Humusschicht abgetragen<br />
wird und die Böden danach weder<br />
zum Ackerbau noch zur Viehhaltung<br />
mehr gebraucht werden können.<br />
Es ist zu unterscheiden zwischen einer<br />
industriellen Tierproduktion und einer<br />
bäuerlichen, standortangepassten und<br />
artgerechten Tierhaltung, die in erster Linie<br />
auf raufutterverzehrende Tiere wie<br />
Kühe, Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde<br />
setzt und ohne erhebliche Mengen an<br />
Kraftfutter auskommt. Solche naturnahen<br />
Weidetierhaltungsformen auf dem<br />
Grünland sind eben gerade nicht klimarelevant,<br />
sondern sorgen dafür, dass vermehrt<br />
CO2 im Humus des Bodens gespeichert<br />
wird. Wiederkäuer auf der Weide<br />
sind keine Nahrungsmittelkonkurrenten<br />
der Menschen, da sie Dauergrünland nutzen,<br />
das meist nicht ackerfähig ist, und<br />
aus diesen Gräsern und Kräutern, die der<br />
Mensch nicht verdauen kann, Milch und<br />
<strong>Fleisch</strong> erzeugen. Eine bäuerliche Tierhaltung<br />
mit geregelter Weidewirtschaft und<br />
eine naturnahe Bewirtschaftung mit Biound<br />
IP-Betrieben sind deshalb Teil der Klimalösung<br />
– und nicht Verursacher wie die<br />
Massentierhaltung. Gerade die Schweiz<br />
mit ihrem hohen Anteil an Wiesen-, Weiden-<br />
und Alpgebieten – weniger als ein<br />
Drittel der landwirtschaftlich nutzbaren<br />
Fläche ist ackerbaufähig – bietet dafür<br />
beste Voraussetzungen.<br />
Umweltrelevanz<br />
Man geht davon aus, dass die weltweite<br />
Nutztierhaltung für rund 15 % der menschengemachten<br />
CO2-Emissionen verantwortlich<br />
ist. Da nur eines von tausend<br />
Rindern und Schweinen, die weltweit gehalten<br />
werden, in der Schweiz lebt, ist der<br />
Einfluss der <strong>Schweizer</strong> Viehhaltung auf<br />
das Weltklima bescheiden. Würde man die<br />
Nutztierhaltung hierzulande verbieten,<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
53
könnten gerade mal 0,015 % des weltweiten<br />
CO2-Ausstosses eingespart werden.<br />
Die Schweiz als Ganzes ist «tiermässig»<br />
auch nicht überbevölkert, wie ab<br />
und zu behauptet wird. Die 1,3 Millionen<br />
Grossvieheinheiten (GVE) verteilen sich<br />
auf 1,1 Millionen Hektar Landwirtschaftsfläche,<br />
was einen Besatz von 1,2 GVE/ha<br />
ergibt. Zum Vergleich: Die Niederlande<br />
weisen 3,5, Dänemark 1,6 und Deutschland<br />
1,1 GVE/ha auf. Trotzdem weist die<br />
Viehhaltung auch in der Schweiz eine<br />
teilweise starke Umweltproblematik auf.<br />
Betroffen sind Gewässer, Luft und Böden<br />
in jenen Kantonen, die in den letzten<br />
Jahren trotz bereits bestehender, hoher<br />
Viehdichte weiter Tierbestände aufstocken<br />
liessen. Insbesondere im Kanton<br />
Luzern gibt es Regionen mit sehr hohen<br />
Tiermassierungen und entsprechend viel<br />
Anfall von hauptsächlich Gülle, ebenso in<br />
den Kantonen Appenzell Innerrhoden, St.<br />
Gallen, Thurgau, Zug, Obwalden, Nidwalden<br />
und Freiburg mit 2 und mehr GVE/<br />
ha. Hingegen liegen alle anderen Kantone<br />
unter 1,0 GVE/ha. In Regionen mit einem<br />
Zuviel an Nutztieren kann ein Übermass<br />
an ausgebrachtem Hofdünger Grundund<br />
Oberflächengewässer mit Nitrat und<br />
Viel Tiere bedeuten auch<br />
viel Gülle, schlecht für das<br />
Grundwasser und das Klima<br />
Phosphor anreichern oder vermehrt Ammoniak<br />
in die Luft entlassen.<br />
Kraftfuttereinsatz<br />
Der Einsatz von Getreide, Mais, Soja, Kartoffeln,<br />
Rüben und dergleichen in der Tierhaltung<br />
ist nicht per se schlecht. So setzt<br />
etwa das Geflügel Getreide am effizientesten<br />
aller Nutztiere in Eier oder <strong>Fleisch</strong><br />
um. Bei der Pflanzenproduktion für den<br />
menschlichen Verzehr fallen grosse Mengen<br />
an Rückständen an, die insbesondere<br />
vom Schwein, dem geborenen «Abfallverwerter»,<br />
optimal genutzt werden können.<br />
Der steigende Kraftfuttereinsatz bei<br />
Raufutterverzehrern hingegen, insbesondere<br />
in der Milch- und Rindfleischerzeugung,<br />
ist äusserst fragwürdig.<br />
Mitte der 1970er-Jahre erreichten<br />
Kraftfutterimporte und -einsatz in der<br />
Schweiz einen absoluten Höchststand.<br />
Rund 1,5 Millionen Tonnen wurden eingeführt,<br />
weitere 500 000 Tonnen im Inland<br />
erzeugt, sodass gegen 2 Millionen<br />
Tonnen in den Viehtrögen landeten.<br />
Zwanzig Jahre später wurden nur mehr<br />
350 000 Tonnen importiert. Mittlerweile<br />
ist der Import, insbesondere von eiweissreichen<br />
Futtermitteln wie Soja, von Jahr<br />
zu Jahr steigend und liegt mittlerweile<br />
fast wieder drei Mal höher als vor fünfzehn<br />
Jahren, bei rund 1 Million Tonnen!<br />
Diese Futtermittel wachsen im Ausland<br />
auf einer Fläche von rund 250 000 Hektar,<br />
was knapp der Fläche des Kantons Tessin<br />
entspricht.<br />
Gerade umgekehrt verlief die Entwicklung<br />
beim inländischen Futtergetreide.<br />
Hier nahm die erzeugte Menge<br />
von 800 000 Tonnen im Jahr 1995 ab auf<br />
heute nur mehr 550 000 Tonnen, davon<br />
70 000 Tonnen Eiweissfuttermittel. Zwar<br />
fragt die Schweiz lediglich 0,3 % der weltweit<br />
gehandelten Sojamenge nach, während<br />
allein die EU und China 60 % abräumen,<br />
also 200-mal mehr. Trotzdem ist es<br />
bedenklich, dass in der Schweiz der Futtermittelanbau<br />
nicht mehr gefördert wird,<br />
zumal mit den heutigen Züchtungen auch<br />
der Sojaanbau klimatisch möglich wäre.<br />
Stattdessen haben sich die Eiweissimporte<br />
verdreifacht, Sojaimporte gar verzehnfacht.<br />
Die Gründe dafür sind vielfältig<br />
und liegen unter anderem in der Leistungssteigerung<br />
der Nutztiere, der Ausdehnung<br />
der Milch- und <strong>Fleisch</strong>erzeugung,<br />
der Reduktion des Fischmehlanteils<br />
in den Rationen, um der Überfischung der<br />
Weltmeere Einhalt zu gebieten, dem Fütterungsverbot<br />
für <strong>Fleisch</strong>mehl seit der BSE-<br />
Krise (Rinderwahnsinn) und dem Verbot<br />
der Speiserestefütterung an Schweine seit<br />
2011 sowie den aktuell relativ tiefen Preisen<br />
für Importfuttermittel begründet.<br />
8.10 Ressourcenverschleuderung<br />
Auch in der Schweiz werden bei der Lebensmittelerzeugung<br />
und -distribution<br />
noch viel zu viele Ressourcen unnötig verschleudert.<br />
Das fängt bereits in den Ställen<br />
an. Insbesondere durch die abverlangten<br />
Höchstleistungen wird die Lebenserwartung<br />
von Kühen, Schweinen und Hühnern<br />
immer kürzer. Das hat zur Folge, dass<br />
jedes Jahr mehr Tiere aufgezogen werden<br />
müssen, um die immer rascher abtretenden<br />
Vorgenerationen zu ersetzen. Es wird<br />
mehr Futter, mehr Stallraum, mehr Energie<br />
und mehr Arbeit benötigt bei immer<br />
grösserem Tierverschleiss!<br />
54<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
Lebensmittel im Müll<br />
Kaum thematisiert ist die Tatsache, dass<br />
30 bis 50 % der weltweit erzeugten Nahrungsmittel<br />
im Abfall landen, statt der<br />
menschlichen Ernährung zugutezukommen.<br />
Das bedeutet, dass es mit dem Umfang<br />
der jetzigen Lebensmittelerzeugung<br />
grundsätzlich nicht nur möglich wäre,<br />
alle Menschen heutzutage satt zu machen,<br />
sondern theoretisch auch im Jahr 2050 –<br />
trotz der Annahme, dass ein Hektar Landwirtschaftsland<br />
statt wie heute 4,5 dann<br />
5,5 Menschen ernähren muss.<br />
In ärmeren Ländern liegt das Abfallproblem<br />
in erster Linie bei der ungenügenden<br />
Lagerung, etwa von Getreide, sodass<br />
allzu viel verdirbt. Bei uns beginnt<br />
die Wegwerfmentalität bereits auf dem<br />
Acker und im Stall, wo zu grosse oder zu<br />
kleine Kartoffeln, Äpfel, Salate oder Eier<br />
aussortiert werden. Dabei werden vom<br />
Handel auch Kriterien festgelegt, die mit<br />
dem Nährwert der Produkte nichts zu tun<br />
haben. So wird in der Schweiz noch immer<br />
ein Teil der Legehennen nach der<br />
Schlachtung in Biogasanlagen entsorgt,<br />
obwohl sie zartes <strong>Fleisch</strong> liefern und man<br />
mit der anfallenden Geflügelfleischmenge<br />
praktisch die ganze Stadt Winterthur versorgen<br />
könnte. Ein besonders krasses Beispiel<br />
für fragwürdige «Qualitätsanforderungen»<br />
ist das jahrzehntelange Diktat<br />
der <strong>Schweizer</strong> Metzgerschaft bei der Kalbfleischfarbe.<br />
In der Schweiz sollen gemäss<br />
Konsumentenschutzorganisationen jährlich<br />
über 2 Millionen Tonnen Nahrungsmittel<br />
ungenutzt bleiben, das heisst rund<br />
300 Kilogramm pro Kopf. Allein in den<br />
Privathaushalten würden 700 000 Tonnen<br />
Lebensmittel im Müll landen!<br />
Das riesige Warenangebot und der<br />
«Frischefanatismus» bringen es mit sich,<br />
dass grosse Mengen an Lebensmitteln<br />
entsorgt werden müssen. Die Müllforscherin<br />
Felicitas Schneider fand bei ihren<br />
Untersuchungen in Österreichs Privathaushalten<br />
heraus, dass der Endverbraucher<br />
jährlich Lebensmittel im Gegenwert<br />
von 400 Euro in den Müll schmeisst, darunter<br />
oftmals originalverpackte und noch<br />
haltbare Produkte!<br />
Tierische Nebenprodukte<br />
Wenn ein Schwein geschlachtet wird, landet<br />
ein Drittel des Schlachtkörpers im Abfall,<br />
bei einer Kuh gar die Hälfte. In der<br />
Schweiz werden jährlich 450 000 Tonnen<br />
<strong>Fleisch</strong> erzeugt. Dabei fallen 220 000 Tonnen<br />
tierische Nebenprodukte an, die nach<br />
den Erfahrungen mit BSE und dem totalen<br />
Verfütterungsverbot von Mehlen tierischer<br />
Herkunft an Nutztiere heute zum<br />
grössten Teil entsorgt, das heisst verbrannt<br />
werden. Selbstverständlich sollte<br />
nicht am Kannibalismusverbot gerüttelt<br />
werden, welches besagt, dass das Mehl einer<br />
bestimmten Tierart nicht der eigenen<br />
Art verfüttert werden darf, wie dies bis<br />
1990 noch der Fall war. Aber die heutige<br />
extreme Verschleuderung der Ressource<br />
«Tierische Nebenprodukte» sollte Anlass<br />
sein, über eine sinnvollere Verwendung<br />
statt der Verbrennung nachzudenken!<br />
Denn dieses Fütterungsverbot ist mitbeteiligt<br />
daran, dass der ökologisch fragwürdige<br />
Kraftfutterimport in den vergangenen<br />
zehn Jahren derart angestiegen ist.<br />
Nachfrage Edelstücke<br />
Die Schweiz bezieht rund die Hälfte des<br />
Ein Teil der Legehennen<br />
wird nach der Schlachtung<br />
einfach verbrannt<br />
Schaffleischkonsums aus Australien und<br />
Neuseeland, und zwar samt und sonders<br />
Edelstücke. Dafür müssen in den Herkunftsländern<br />
über 2 Millionen Schafe<br />
geschlachtet werden. Die weniger edlen<br />
Teile dieser Schlachtkörper gelangen in<br />
den asiatischen Raum. Ähnliche Beobachtungen<br />
– Konzentration der <strong>Fleisch</strong>importe<br />
auf Edelstücke – lassen sich bei<br />
Rindfleisch und Poulets aufzeigen. Mittlerweile<br />
stellt die zunehmende Nachfrage<br />
der kaufkräftigen <strong>Schweizer</strong> Konsumenten<br />
nach Edelstücken ein grundsätzliches<br />
Problem dar. Die Verwertung der übrigen<br />
Teile eines im Inland aufgezogenen und<br />
geschlachteten Tiers wird so nämlich immer<br />
schwieriger.<br />
Die «minderwertigen» <strong>Fleisch</strong>anteile<br />
müssen deklassiert und unter ihrem Wert<br />
verkauft oder exportiert werden, sodass<br />
die Metzger im Gegenzug die Edelstücke<br />
inländischer Tiere preislich überproportional<br />
belasten, um trotzdem auf ihre Rechnung<br />
zu kommen. Damit verlieren diese<br />
gegenüber Importen an Konkurrenzkraft.<br />
Zudem müssen durch diese einseitige<br />
Edelteilnachfrage mehr Tiere gemästet<br />
und geschlachtet werden. Die Tierzucht<br />
versucht dem Rechnung zu tragen und<br />
setzt auf Zuchtlinien mit hohen Anteilen<br />
wertvoller <strong>Fleisch</strong>stücke, was dann bei<br />
Schwein und Geflügel prompt zu negativen<br />
Einflüssen auf Tierwohl und Tiergesundheit<br />
führt.<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
55
9. Massnahmen<br />
zur Verbesserung<br />
des Tierwohles<br />
9.1 Allgemeines<br />
Wer selber einmal nachschaut, wie Bauern<br />
heute ihre Tiere halten, wird erstaunt sein.<br />
Das gotthelfsche Huhn auf dem Miststock<br />
wird er zwar nicht mehr finden. Die Tierhaltungen<br />
vergrösserten sich stark im<br />
Vergleich zu früher, und viele technische<br />
Einrichtungen bis hin zu Melkroboter und<br />
Fütterungscomputer hielten Einzug. Doch<br />
tierfreundliche Haltungsformen wie Freilaufstall,<br />
Auslauf und Weide sind inzwischen<br />
recht verbreitet und keine Ausnahmeerscheinungen<br />
mehr, wie dies noch vor<br />
zwanzig Jahren der Fall war. Erhebliche<br />
Teile der <strong>Schweizer</strong> Landwirtschaft und<br />
Nutztierhaltung heben sich mittlerweile<br />
positiv vom Ausland ab.<br />
Allerdings: Unter den Blinden ist der<br />
Einäugige König. Noch immer leben hierzulande<br />
Millionen Nutztiere in beengten<br />
Ställen ohne Auslauf ins Freie. Kälber<br />
werden für helles <strong>Fleisch</strong> gefüttert, sodass<br />
sie häufiger als jede andere Tierkategorie<br />
mit Antibiotika behandelt werden müssen.<br />
Milchkühe werden zu immer höheren<br />
Leistungen getrieben, und Schweinemütter<br />
gebären mehr Ferkel, als sie Zitzen<br />
haben. Karge Buchten zur Mast von Munis<br />
und Schweinen, ohne Stroh zum Liegen<br />
und ohne Auslauf ins Freie, sind legal.<br />
Und die (Agrar-)Politik will die Grenzen<br />
öffnen für immer mehr Nahrungsmittel<br />
aus bei uns verbotenen Produktionsbedingungen<br />
und Massentierhaltungen. Sie<br />
setzt damit die Bestrebungen für mehr<br />
Tierwohl im Inland unter massiven Druck.<br />
Der Handlungsbedarf in puncto Tierwohl<br />
ist also auch heute gegeben. Dabei<br />
sollten Tierschützer in Zukunft nicht allzu<br />
stark auf die Tierschutzgesetzgebung setzen.<br />
Diese wurde erst vor wenigen Jahren<br />
vollständig revidiert und viele Übergangsfristen<br />
sind deshalb noch bis 2018<br />
am Laufen. Der politische Wille für eine<br />
erneute Totalrevision dürfte entsprechend<br />
gering sein. Zudem gilt es zu beachten,<br />
dass die Tierschutzgesetzgebung nicht besonders<br />
tierfreundliche Haltungsformen<br />
vorschreibt, sondern lediglich die Grenze<br />
zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem<br />
festlegt.<br />
Als effizientestes Mittel zur Verbesserung<br />
des Tierwohls in der Landwirtschaft<br />
hat sich eine Kombination von marktwirtschaftlichen<br />
und staatlichen Massnahmen<br />
herausgestellt. Nämlich das Schaffen von<br />
Konsumentennachfrage nach Labelprodukten<br />
sowie die Förderung tierfreundlicher<br />
Haltungsformen mittels spezifischer<br />
Direktzahlungen.<br />
9.2 Eigenverantwortlichkeit<br />
Tierschutz verlangt in erster Linie nach eigenverantwortlichen<br />
Menschen, und erst<br />
danach nach dem Staat. Den Tierschutz<br />
kann man zwar verordnen, er muss aber<br />
von Bauern und Konsumenten tagtäglich<br />
und motiviert gelebt werden, damit<br />
die Vorschriften in der Realität zugunsten<br />
der Tiere wirksam werden.<br />
Es geht nicht um Konsumverzicht,<br />
sondern um einen vertretbaren Konsum.<br />
Wenn schon Eier, Milchprodukte<br />
und <strong>Fleisch</strong> gegessen werden, muss wenigstens<br />
eine anständige Haltung und ein<br />
schonender Umgang mit den Tieren gewährleistet<br />
sein. Dabei gilt es, wirtschaftliche<br />
Gegebenheiten nicht aus den Augen<br />
zu verlieren. Einerseits wollen auch die<br />
tierfreundlichsten Bauern von ihren Tieren<br />
leben, und andererseits können selbst<br />
tierschützerisch hoch motivierte Konsumenten<br />
nicht unbeschränkt Geld für Lebensmittel<br />
ausgeben.<br />
56<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
Diese pragmatische Sichtweise<br />
schliesst nicht aus, dass sich der STS stark<br />
für eine Konsumreduktion tierischer Produkte<br />
sowie für vegetarische und vegane<br />
Ernährungsweisen einsetzt. Das Beschreiten<br />
beider Wege – Einsatz für einen vertretbaren<br />
Konsum von Produkten aus tierfreundlicher<br />
Haltung und Aufzeigen von<br />
Alternativen zu tierischen Produkten –<br />
stellt weder einen Widerspruch noch eine<br />
Inkonsequenz dar. Vielmehr ist es eine<br />
Notwendigkeit für diejenigen Tierschutzorganisationen,<br />
die sich messen lassen<br />
wollen an den erreichten, konkreten Verbesserungen<br />
für die Tiere – im Stall, auf<br />
dem Transport und beim Schlachten. Echter<br />
Tierschutz muss mehr sein, als nur zu<br />
predigen und den moralischen Zeigefinger<br />
zu erheben, um sich billig ein gutes Gewissen<br />
als besserer Mensch zu verschaffen!<br />
9.3 Die Rolle des<br />
Konsumenten<br />
Konsumenten müssen den Zusammenhang<br />
zwischen ihrem Einkaufsverhalten<br />
und dem Tierwohl auf den Bauernhöfen<br />
kennen. Nur ein informierter Verbraucher<br />
kann sein Einkaufsverhalten überdenken<br />
und wird bereit sein, für Produkte aus<br />
tierfreundlicher Haltung den erforderlichen<br />
Mehrpreis zu entrichten.<br />
Der <strong>Schweizer</strong> Konsument steht in<br />
der Verantwortung wegen des hohen Verbrauchs<br />
tierischer Lebensmittel von rund<br />
170 Kilogramm jährlich sowie der Tatsache,<br />
dass wir <strong>Schweizer</strong> heute nur mehr<br />
7 % der Haushaltausgaben für Ernährung<br />
ausgeben müssen. Selbst ein vier-<br />
Produktequalität und<br />
Tierwohl<br />
Im Gegensatz zur Milch von Kühen mit<br />
Kraftfutterdiäten und reiner Stallhaltung<br />
liefern Tiere mit Weidegang Milch und<br />
Käse mit mehr Omega-3-Fettsäuren, z. B.<br />
Linolsäure. Auch das <strong>Fleisch</strong> von Weiderindern<br />
ist ernährungsphysiologisch wertvoller<br />
und zudem zarter. Das zeigt ein aktueller<br />
Vergleich von Stallhaltungs- und<br />
Weidetieren der ETH Zürich. Selbstverständlich<br />
beeinflussen auch die fachgerechte<br />
Lagerung, die Abkühlung und<br />
Was kann ich tun?<br />
1. Sich informieren über Tierhaltung<br />
und Landwirtschaft, z. B. über www.tierschutz.com<br />
und www.essenmitherz.ch.<br />
Mit Freunden über Tierschutz und Konsum<br />
diskutieren.<br />
2. Vegetarische Lebensweise oder massvoller<br />
<strong>Fleisch</strong>konsum, d. h. nicht täglich<br />
<strong>Fleisch</strong> konsumieren – von Ernährungsphysiologen<br />
wird 1- bis 2-mal/Woche<br />
empfohlen. Dabei auf höchste Qualität<br />
(Fütterung, Tierschutz, bäuerliche Tierhaltung,<br />
Transporte, Zucht), Regionalität<br />
und <strong>Schweizer</strong> Herkunft mit glaubwürdigem<br />
Label und Kontrollen achten.<br />
köpfiger Haushalt gibt nicht über 10 %<br />
aus. Bei einem Monatseinkommen von<br />
5000 Franken steigt der Anteil auf 13 %.<br />
Noch vor fünfzig Jahren lagen diese Anteile<br />
bei 30 % und mehr. Die Schweiz liegt<br />
hier international gesehen an der Spitze.<br />
Bereits in Deutschland muss der Durchschnittshaushalt<br />
14 % des Budgets für<br />
Nahrungsmittel ausgeben, obwohl deutsche<br />
Lebensmittelpreise günstiger sind als<br />
schweizerische.<br />
Der Konsument spielt mit seiner Nachfrage<br />
eine extrem wichtige, aber auch<br />
schwierige Rolle, denn ihm fehlt heute<br />
praktisch jeglicher Bezug zur tierhaltenden<br />
Landwirtschaft und zur Lebensmittelverarbeitung.<br />
Diese «Entfremdung» wird<br />
immer stärker und erscheint irreversibel.<br />
Konsumenten bleibt nichts anderes übrig,<br />
als Vertrauen zu haben, dass Bauern, Verarbeiter<br />
und Handel alles korrekt machen.<br />
Das erklärt auch die hohe Sensibilität in<br />
die Lagerdauer die <strong>Fleisch</strong>qualität stark.<br />
Schweine in guter Haltung erbringen rötlicheres,<br />
hochwertigeres <strong>Fleisch</strong> durch<br />
fleissige Bewegung. Dasselbe gilt für Kälber,<br />
die artgerecht gefüttert und gehalten<br />
werden.<br />
Freilandlegehennen legen Eier mit bis zu<br />
doppelt so hohen Carotinoidgehalten wie<br />
im Stall gehaltene Tiere. Das <strong>Fleisch</strong> von<br />
Freilandmasthühnern weist eine bessere<br />
sensorische Qualität und ein höheres<br />
Safthaltevermögen auf.<br />
Bezug auf Sicherheit und Qualität von<br />
Lebensmitteln und die sofortige mediale<br />
«Skandalisierung» bei Unregelmässigkeiten<br />
und Problemen. Entsprechend wichtig<br />
sind denn auch glaubwürdige Kontrollen<br />
und Sanktionen, nebst einer konsequenten<br />
Konsumenteninformation samt Deklarationen.<br />
9.4 Die Rolle der Land- und<br />
Ernährungswirtschaft<br />
Wer mit Tieren und Produkten tierischer<br />
Herkunft Geld verdient, seien dies Bauern,<br />
Transporteure, Metzger, Detaillisten,<br />
Gastronomen oder Importeure, hat gegenüber<br />
Tieren eine klare ethische Verpflichtung,<br />
die er in seinem Umfeld und<br />
mit seinen Möglichkeiten wahrnehmen<br />
muss. Der STS nagelt die Bauern und die<br />
Nahrungsmittelbranche immer wieder<br />
darauf fest.<br />
Ställe und Einrichtung sind auf Bauernhöfen<br />
oft gegeben, von der Vorgeneration<br />
übernommen und noch nicht amortisiert.<br />
Aus diesem Grund – um Härtefälle<br />
zu vermeiden – hat der Gesetzgeber bei<br />
Vorschriften zum Tierwohl auch stets<br />
Übergangsfristen für bestehende Ställe<br />
von bis zu zehn Jahren festgelegt. Aber<br />
Management, Tierpflege/-beobachtung/-<br />
kontakt sowie Auslauf und Weide sind in<br />
der Regel ohne teure Investitionen zu lösen<br />
und können deshalb von jedem verantwortungsbewussten<br />
Nutztierhalter<br />
optimal erfüllt werden, unabhängig von<br />
der baulichen und finanziellen Situation.<br />
Die einstigen Entwicklungsmotoren<br />
bei den Tierwohlprodukten, Migros und<br />
Coop, scheinen mittlerweile etwas auf<br />
der Stelle zu treten. Ihre Strategie, eine<br />
breitestmögliche Lebensmittelpalette anzubieten,<br />
konkurrenziert die Tierwohlangebote.<br />
Diese sind heute nur mehr ein<br />
Angebot unter vielen, von Billigpreislinien<br />
über ein Sammelsurium von Speziallinien<br />
(Heidi, Anna’s Best, Betty Bossi,<br />
Pro Montagna, Jamie Oliver) bis hin zu<br />
Premium- und Kinderlinien. Entsprechend<br />
schmilzt der Werbe- und PR-Etat<br />
für Tierwohlprodukte und es besteht die<br />
Gefahr, dass punkto Tierwohlengagement<br />
von Migros und Coop das Interesse und<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
57
die Kreativität des Managements, aber<br />
auch die Glaubwürdigkeit gegen aussen<br />
leiden.<br />
Es fragt sich, ob den Kunden und Unternehmen<br />
mit der heutigen Vielzahl von<br />
Linien tatsächlich gedient ist, oder ob<br />
diese lediglich zu einer unnötigen Verteuerung<br />
bei Beschaffung und Verkauf führen.<br />
Ganz allgemein lässt sich sagen, dass<br />
zwar die Produzentenpreise für <strong>Schweizer</strong><br />
Herkünfte und vor allem Labelherkünfte<br />
höher sind als in der EU, dies auch deshalb,<br />
weil höhere Anforderungen an Ökologie<br />
und Tierwohl gestellt werden. Gerade<br />
bei <strong>Fleisch</strong> und Eiern wird indessen<br />
der Anteil des Produzentenpreises an den<br />
Gesamtkosten des Produkts immer geringer,<br />
das heisst vom Konsumentenfranken<br />
sehen die Bauern immer weniger. Selbst<br />
wenn sie ihre Tiere zu EU-Preisen in den<br />
Schlachthof gäben, wären die <strong>Fleisch</strong>endpreise<br />
im Laden noch immer höher als im<br />
Ausland. Eine Kostenoptimierung bei<br />
<strong>Fleisch</strong>, Milch und Eiern allein auf dem<br />
Buckel der Bauern schlägt sich einerseits<br />
rasch im Tierwohl und in der Produktequalität<br />
und -sicherheit nieder. Andererseits<br />
merken die Konsumenten von diesen<br />
für sie kontraproduktiven Einsparungen<br />
<strong>Fleisch</strong> aus Tierhaltung<br />
mit regelmässigem<br />
Auslauf: McDonald’s<br />
im Portemonnaie kaum etwas. So werden<br />
je nach Detaillist Eier, <strong>Fleisch</strong> und Milchprodukte<br />
auch ausserhalb von Aktionen<br />
teilweise zu stark unterschiedlichen Preisen<br />
abgegeben, was darauf hindeutet,<br />
dass in diesem Bereich noch Kostensparmöglichkeiten<br />
vorhanden wären.<br />
Während Migros und Coop ein relativ<br />
breites Tierwohlsortiment anbieten,<br />
ist dieses bei den meisten anderen Detaillisten<br />
noch ausbaufähig. Beispielsweise<br />
führen nur wenige Detaillisten Freilandpoulets<br />
oder Labelkaninchen und -lammfleisch,<br />
dafür leider umso mehr Importware<br />
aus bei uns verbotener Massentierhaltung,<br />
bei der man immer wieder feststellen<br />
muss, dass «Kontrolle» ein Fremdwort<br />
ist.<br />
Die Gastronomie stellt die grösste<br />
Tierwohlbaustelle dar. 2008 wurden in<br />
der Schweiz mehr als 13 Milliarden Franken<br />
für Essen ausser Haus ausgegeben.<br />
Gemäss einer Studie von amPuls Market<br />
Research aus dem Jahre 2009 ist <strong>Fleisch</strong><br />
als Bestandteil eines Gerichts/Menüs<br />
nach wie vor die bedeutendste Speisekategorie<br />
ausser Haus. Ein Viertel aller auswärts<br />
konsumierten <strong>Fleisch</strong>gerichte enthält<br />
Schweinefleisch, welches damit die<br />
beliebteste <strong>Fleisch</strong>art ausser Haus darstellt,<br />
dicht gefolgt von Rindfleisch mit<br />
einem Anteil von 23 %. Geflügelfleisch<br />
zeigt einen wachsenden Trend und hat<br />
aktuell einen Anteil von 18 %.<br />
Betreffend der Verwendung von<br />
<strong>Fleisch</strong> von Tieren aus artgerechter Haltung<br />
stechen drei Gastrounternehmen<br />
positiv hervor. Aufgrund von Empfehlungen<br />
des <strong>Schweizer</strong> Tierschutz STS bietet<br />
McDonald’s, umsatzmässig Nummer<br />
eins im Gastrogeschäft der Schweiz, seit<br />
Februar 2010 nur noch <strong>Schweizer</strong> Rindfleisch<br />
aus Tierhaltung mit regelmässigem<br />
Auslauf ins Freie (RAUS) an. McDonald’s<br />
Schweiz bezog im Jahr 2009 3900 Tonnen<br />
Rindfleisch von <strong>Schweizer</strong> Bauern,<br />
was 4,5 % des in der Schweiz konsumierten<br />
Rindfleisches entspricht. Schon<br />
etwas länger hat die Migros, der zweitgrösste<br />
<strong>Schweizer</strong> Gastroakteur, Labelfleisch<br />
in ihrem Restaurantangebot. Konsequent<br />
auf Labelfleisch setzen die Coop<br />
Restaurants, Nummer sechs der Systemgastronomie.<br />
Sie verwenden ausschliesslich<br />
Coop Naturafarm Rind- und Schweinefleisch<br />
sowie Biokalbfleisch.<br />
Die Stiftung «Goût Mieux» zeichnet<br />
65 Restaurants aus, die sich verpflichtet<br />
haben, bei der Beschaffung konsequent<br />
auf Bio- und tierfreundliche Herkünfte<br />
zu setzen (www.goutmieux.ch). Die Aktion<br />
«Essen mit Herz» des <strong>Schweizer</strong> Tierschutz<br />
STS führt rund 120 Restaurants<br />
auf, die angeben, stets Vegimenüs sowie<br />
ein oder mehrere Menüs mit Produkten<br />
aus tierfreundlicher Haltung anzubieten<br />
(www.essenmitherz.ch).<br />
Das Gros der weit über 20 000 Restaurants,<br />
Personalrestaurants und Schnellimbisse<br />
in der Schweiz hingegen verwendet<br />
eher wenige Produkte aus tierfreundlicher<br />
Haltung, sondern bietet den Gästen entweder<br />
konventionelles <strong>Schweizer</strong> <strong>Fleisch</strong><br />
oder noch häufiger Importfleisch und<br />
-eier an. Oft sind die Wirte über die Tierhaltungsbedingungen<br />
im In- und Ausland<br />
und die verschiedenen Tierwohllabels gar<br />
nicht richtig informiert.<br />
Noch immer scheint in der Gastrobranche<br />
primär der Preis statt die Qualität<br />
im Vordergrund zu stehen. Dabei ma-<br />
58<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
chen die Rohstoffpreise eher wenig aus:<br />
Bei einem Tiramisu von CHF 6.60 liegen<br />
die Kosten für ein Freilandei bei nur 4 %.<br />
Bei einem Menü mit Steak, Pommes und<br />
Gemüse für CHF 23 macht der Preis für<br />
<strong>Fleisch</strong> aus <strong>Schweizer</strong> Herkunft konventionell<br />
33 %, bei tierfreundlicher Herkunft/Labelfleisch<br />
37 % aus, also knapp<br />
einen Franken mehr. Ob vom Wirt nun<br />
etwas teurere, aber tierfreundliche Produkte<br />
verwendet werden, wird der Gast<br />
im Portemonnaie kaum bemerken. Für die<br />
Tiere und die Qualität der Mahlzeit bedeutet<br />
es aber viel!<br />
Da fast die Hälfte des in der Schweiz<br />
konsumierten <strong>Fleisch</strong>es von Restaurants<br />
umgesetzt wird, ist es von grösster Wichtigkeit,<br />
dass die Gastrobranche ihre Verantwortung<br />
gegenüber den Tieren und<br />
deren Wohlergehen endlich wahrnimmt.<br />
Es gäbe genügend Gäste, die solche Angebote<br />
honorieren würden. Gemäss einer<br />
STS-Gastroumfrage von 2011 veranschlagten<br />
selbst die Wirte das Gästepotenzial<br />
beim Tierwohl auf 50 %.<br />
9.5 Die Rolle des Staates<br />
Der Staat muss tätig werden, um Missbräuche<br />
und tierschutzwidrige Praktiken<br />
und Haltungen abzustellen, Übertretungen<br />
zu verfolgen und zu ahnden.<br />
Im Weiteren soll er im Falle von Marktversagen<br />
eingreifen, also dort, wo Markt<br />
und Konsumenten alleine es nicht richten<br />
können, weil es etwa kein Angebot<br />
von Labelprodukten gibt respektive der<br />
Markt gar tierschutzwidrige Haltungen<br />
und Praktiken fördert, wie im Falle von<br />
Billigimporten aus ausländischer Massentierhaltung<br />
oder Importen von Stopfleber<br />
oder Froschschenkel. Dies beispielsweise,<br />
indem er deren Importe untersagt, eine<br />
Tierschutzdeklaration von Lebensmitteln<br />
fordert oder tierfreundliche Stallbauten<br />
und Auslaufhaltungen fördert.<br />
Dieser Einsatz des Staates zugunsten<br />
des Tierwohls bezieht seine Legitimität<br />
auch aus der Tatsache, dass für die<br />
<strong>Schweizer</strong> Bevölkerung die tierfreundliche<br />
Haltung der Nutztiere das grösste Anliegen<br />
an die Landwirtschaft ist und man<br />
bereit ist, hier in relativ hohem Masse<br />
Steuergelder einzusetzen.<br />
Die Nutztierhaltung ist nicht nur der<br />
finanziell wichtigste Sektor für die Lebensmittelwirtschaft,<br />
sondern wirkt sich<br />
auch auf die Qualität von Milchprodukten,<br />
<strong>Fleisch</strong> und Eiern, aber auch auf jene<br />
von Luft, Böden und Wasser aus. Die Nahrungsmittelversorgung,<br />
das Landschaftsbild,<br />
die Nutzung des Agrarlandes sowie<br />
der Verbrauch von Ressourcen und Energie<br />
oder der Ausstoss von Klimagasen<br />
werden ebenfalls von der Nutztierhaltung<br />
beeinflusst. Nach allen gemachten Erfahrungen<br />
und dem aktuellen Stand der Wissenschaft<br />
darf man sagen, dass ein hohes<br />
Tierwohl in einer bäuerlich geprägten<br />
Tierhaltung all diese wichtigen Aspekte<br />
positiv beeinflusst. Während Massentierhaltung<br />
und Tierfabriken zwar kurzfristig<br />
billigere Produkte abliefern, bezahlen<br />
Mensch, Tier und Umwelt dafür<br />
aber langfristig einen hohen Preis, etwa<br />
durch ständig wiederkehrende Lebensmittelskandale,<br />
Umweltschäden oder Tierquälereien.<br />
Von Massnahmen für ein besseres<br />
Tierwohl profitieren hingegen wir<br />
alle: Bauern, Konsumenten und Steuerzahler<br />
– aber auch die Umwelt!<br />
Der <strong>Schweizer</strong> Tierschutz STS strebt<br />
Nur mit hohen Ansprüchen an die<br />
Qualität und das Tierwohl sind die<br />
<strong>Schweizer</strong> Preise zu rechtfertigen<br />
deshalb ein «Freilandhaltungsland»<br />
Schweiz an und hat dazu einen agrarpolitischen<br />
Massnahmenkatalog erarbeitet.<br />
1. Massnahme: Konsequente<br />
Qualitätsstrategie<br />
Der STS fordert seit fünfundzwanzig Jahren<br />
eine konsequente Qualitätsstrategie<br />
für die Landwirtschaft und engagiert sich<br />
bei Aufbau und Umsetzung von Tierwohllabelprogrammen<br />
sowie der entsprechenden<br />
Konsumenteninformation. Wichtig<br />
ist, dass nun auch die Agrarpolitik auf<br />
eine Qualitätsstrategie festgelegt wird,<br />
um Synergien zu erzielen, bei Marktversagen<br />
ergänzend einzugreifen und im<br />
sich öffnenden internationalen Agrarmarkt<br />
bestehen zu können. Eine halbherzige<br />
Doppelstrategie zu fahren wie bis anhin<br />
– die Agrarpolitik fördert hier etwas<br />
Klasse und dort etwas Masse – ist ineffizient<br />
und macht in einem kleinen Land wie<br />
der Schweiz keinen Sinn.<br />
In Zeiten weltweit knapper werdenden<br />
Landwirtschaftslandes und eines extremen<br />
Nachfrageanstiegs nach Futtermitteln<br />
und Produkten tierischer Herkunft,<br />
insbesondere in vormals ärmeren Ländern,<br />
muss der langfristigen Nahrungs-<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
59
mittelversorgung der einheimischen Bevölkerung<br />
durch die <strong>Schweizer</strong> Bauern<br />
wieder ein höherer Stellenwert beigemessen<br />
werden. Dabei müssen die Bedürfnisse<br />
der Konsumenten sowie die Qualität und<br />
Nachhaltigkeit der Produkte ins Zentrum<br />
gestellt werden.<br />
2. Massnahme: Ziel gerichtete<br />
Direktzahlungen<br />
Die jährlich entrichteten 2.8 Milliarden<br />
Franken Direktzahlungen sollen nicht wie<br />
bis anhin im Giesskannenprinzip, sondern<br />
zielgerichteter und für konkrete Leistungen<br />
der Bauern ausgeschüttet werden.<br />
Ökologie und Tierwohl müssen besser<br />
gefördert werden, das ist der Dreh- und<br />
Angelpunkt der angepeilten Qualitätsstrategie.<br />
Die Bio- und Tierwohlbeiträge<br />
sollen ergänzend zum Markt und den Labelprogrammen<br />
ausgerichtet und ausgebaut<br />
werden. Markt und staatliche Förderung<br />
ergänzen sich damit optimal. Nur<br />
mit Qualität und hohem Tierwohl kann<br />
sich die Schweiz im offenen Agrar-/Lebensmittelmarkt<br />
profilieren und erfolgreich<br />
behaupten. Mit zielführend festgelegten<br />
Bio- und Tierwohlbeiträgen werden<br />
unsere Bauern in der Lage sein wird,<br />
modern, effizient und trotzdem naturnah<br />
und tierfreundlich zu produzieren.<br />
Der Biolandbau stellt eine energieund<br />
ressourcensparende sowie umweltschonende<br />
Landbaumethode dar. Nachdem<br />
in der Schweiz die weltweit verbreitetste<br />
Biomethode, der organisch-biologische<br />
Landbau, entwickelt worden ist,<br />
spielt unser Land hier bis heute eine Pionier-<br />
und Vorreiterrolle. In Zeiten von<br />
knapper werdenden Ressourcen kommt<br />
dem Biolandbau inskünftig eine wichtige<br />
Rolle bei der Welternährung zu.<br />
Obwohl das Tierwohl das wichtigste<br />
Anliegen der SteuerzahlerInnen an die<br />
Bauern und die Agrarpolitik darstellt,<br />
wurde es bislang vom Bundesrat nur bescheiden<br />
gefördert. Lediglich 9 % der<br />
jährlich 2.8 Milliarden Franken Direktzahlungen<br />
wurden in das Tierwohl investiert.<br />
Die Konsequenz: Noch immer müssen<br />
Millionen Nutztiere in der Schweiz<br />
ihr Dasein in ständiger, beengter Stallhaltung<br />
ohne adäquate Liegeflächen und<br />
ohne Auslauf ins Freie fristen. Der STS<br />
fordert deshalb eine Verlagerung der Direktzahlungen:<br />
Die allgemeinen Tierhaltungsbeiträge<br />
sollen gestrichen und dafür<br />
die Förderbeiträge für tierfreundliche<br />
Ställe und den regelmässigen Auslauf ins<br />
Freie massiv erhöht werden. Ziel: Alle<br />
Tiere sollen ins Freie können!<br />
Im Weiteren fordert der STS den Aufbau<br />
eines Weideprogramms für raufutterverzehrende<br />
Nutztiere und damit die<br />
Abkehr von extremen Hochleistungstieren<br />
und übermässigem Kraftfuttereinsatz.<br />
Selbst der Bundesrat hat mittlerweile erkannt:<br />
«Der Trend bei der Wiederkäuerfütterung<br />
geht in Richtung eines verstärkten<br />
Kraftfuttereinsatzes. Dadurch droht<br />
ein strategischer Wettbewerbsvorteil der<br />
<strong>Schweizer</strong> Milch- und <strong>Fleisch</strong>produktion<br />
langfristig verloren zu gehen.» (Botschaft<br />
zu «Agrarpolitik 2014–17»)<br />
Der Bundesrat will deshalb Betriebe<br />
fördern, die den Futterbedarf überwiegend<br />
durch Gras, Heu, Emd und Grassilage<br />
decken. Betriebe mit geringem Kraftfuttereinsatz<br />
und hohem Weideanteil sind<br />
tierfreundlicher und ökologischer. Die<br />
Weidehaltung garantiert wichtige Vorteile<br />
für Mensch, Tier und Umwelt, wie einen<br />
substanziellen Beitrag zum Umwelt- und<br />
Klimaschutz, bessere Produkte (z. B. mehr<br />
CLA- und Omega-3-Fettsäuren in Milch<br />
und <strong>Fleisch</strong>) sowie gesündere und langlebigere<br />
Tiere mit weniger gesundheitsbedingten<br />
Ausfällen und Abgängen.<br />
Direktzahlungen trotz Tierquälerei:<br />
Schluss damit<br />
3. Massnahme: Konsequente<br />
Kontrollen und Sanktionen<br />
Mit einem bundesgerichtlichen Urteil<br />
vom Sommer 2011 mussten einem rechtsgültig<br />
verurteilten Thurgauer Bauern, der<br />
unter anderem ein Jungpferd beim Beschlagen<br />
derart hart angefasst hatte, dass<br />
es verstarb, die vom Kanton teilweise verweigerten<br />
Direktzahlungen am Ende doch<br />
noch ausgerichtet werden. Dieses skandalöse<br />
Bundesgerichtsurteil kommt insbesondere<br />
Tierquälern extrem entgegen<br />
und muss raschestmöglich revidiert werden.<br />
Der STS fordert, dass Tierschutzsünder<br />
nicht nur ihre gerechte Strafe erhalten<br />
wegen der Tierschutzverstösse, sondern<br />
ihnen wegen Nichterfüllen der Leistungen<br />
die Direktzahlungen gekürzt oder gestrichen<br />
werden können. Das Streichen von<br />
Direktzahlungen stellt keine Strafe dar,<br />
vielmehr hat der Landwirt die geforderte<br />
60<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
Leistung im Bereich Tierschutz nicht erbracht,<br />
sodass er wegen weniger Leistung<br />
auch nur Anrecht auf weniger Direktzahlungen<br />
(oder im Extremfall auf gar keine)<br />
hat. Im Weiteren fordert der STS vermehrt<br />
unangemeldete Tierhaltungskontrollen.<br />
4. Massnahme: Tierfreundliches<br />
Bauen fördern<br />
Der Bund fördert heute mit Investitionskrediten<br />
tierschutzproblematische und<br />
unwirtschaftliche Stallbauten wie Anbindeställe<br />
für Kühe und Aufzuchtrinder oder<br />
Ställe ohne eingestreute Liegeflächen sowie<br />
ohne Auslauf für Mastvieh. Der STS<br />
fordert deshalb, dass Investitionskredite<br />
inskünftig nur mehr für tierfreundliche<br />
Stallbauten ausgerichtet werden. Für Umoder<br />
Neubauten von Ställen für horntragende<br />
Rinder- und Ziegenrassen, welche<br />
grössere Stallflächen beanspruchen, sind<br />
die Beiträge und Investitionskredite angemessen<br />
zu erhöhen.<br />
5. Massnahme:<br />
Keine Tierfabriken<br />
Eine bei Konsumentinnen, Steuerzahlern<br />
und Tierschützern glaubwürdige Qualitätsstrategie<br />
sowie die Akzeptanz des gesamten<br />
Direktzahlungssystems hängen<br />
zu grossen Teilen davon ab, ob der Bund<br />
weiterhin an einer bäuerlichen Tierhaltung<br />
festhält oder die Weichen zur Massentierhaltung<br />
(Tierfabriken) nach ausländischem<br />
Vorbild umlegt, wie dies gewisse<br />
bäuerliche Vertreter in der Vergangenheit<br />
immer wieder forderten. Nicht<br />
zuletzt hängt das Tierwohl auch von der<br />
Grösse des Tierbestandes ab. So lässt sich<br />
beispielsweise beim Geflügel oberhalb einer<br />
gewissen Grenze keine echte Freilandhaltung<br />
mehr realisieren, und bei Schweinen<br />
und anderen Tierkategorien nimmt<br />
der Betreuungsaufwand je Tier mit zunehmender<br />
Bestandesgrösse rapid ab.<br />
Dabei stellen Pflege, Überwachung und<br />
Mensch-Tier-Beziehung nebst der Art der<br />
Tierhaltung die wichtigsten Einflussfaktoren<br />
sowohl auf das Tierwohl als auch<br />
auf die ökonomische Rentabilität dar. Der<br />
STS fordert, dass die heutigen Tierhöchstgrenzen<br />
pro Betrieb aufrechterhalten und<br />
In der Schweiz muss die<br />
tierfreundliche Landwirtschaft<br />
gefördert werden<br />
inskünftig keine Ausnahmen, etwa für industrielle<br />
Schweinemästereien, mehr gemacht<br />
werden.<br />
6. Massnahme: Stopp<br />
Extremzuchten<br />
Die Förderung der einheimischen Tierzucht<br />
durch den Bund ist sinnvoll und<br />
unbestritten. Allerdings: Die einseitige<br />
Hochleistungszucht hat heute etwa bei<br />
Masthühnern und Truten Linien auf den<br />
Markt gebracht, die sich nicht mehr artgerecht<br />
verhalten und bewegen können<br />
und durch das übermässige und einseitige<br />
Muskelwachstum ständig unter Schmerzen<br />
leiden. In der Schweinezucht werden<br />
mit der Anzucht von superfruchtbaren<br />
Sauen immer mehr Ferkel geboren<br />
– teilweise mehr, als die Sau Zitzen<br />
aufweist. Als Folge davon kommen mehr<br />
Kümmerer zur Welt und die Tiergesundheit<br />
leidet bei Sau (Übernutzung!) und<br />
Ferkeln (künstliche Aufzucht; Kümmerer).<br />
Infolge der einseitigen Zucht auf extrem<br />
hohe Milchleistung wird die Ausmast<br />
von nicht zur Zucht benötigten Kälbern<br />
immer unwirtschaftlicher. Bereits werden<br />
auch in der Schweiz Rufe laut, neugeborene<br />
Kälber wie in Neuseeland oder Italien<br />
sofort zu töten, um sich die unrentable<br />
Ausmast zu sparen. Derartige Irrwege<br />
der Tierzucht, die ohne Rücksicht auf ethische<br />
Grundsätze agiert sowie die Krankheitsanfälligkeit<br />
der Tiere fördert und ihre<br />
Widerstandskraft schwächt, darf der Bund<br />
in Zukunft nicht mehr mit Steuergeldern<br />
fördern!<br />
7. Massnahme: Tierschutzwidrige<br />
Importe verbieten<br />
Der Bund muss sich in Zukunft die Möglichkeit<br />
offenhalten, den Import ethisch<br />
fragwürdiger Produkte zu verbieten oder<br />
wenigstens für eine konsequente Deklaration<br />
zu sorgen. Heute geschieht es permanent,<br />
dass die Konsumenten ohne ihr<br />
Wissen mit ausländischen Produkten aus<br />
tierschutzwidrigen Produktionssystemen<br />
überschwemmt werden. Insbesondere bei<br />
Geflügelfleischimporten (Poulets, Truten)<br />
mit mengenmässig rund 45 000 Tonnen<br />
sowie in puncto Tierschutzwidrigkeit und<br />
Gefährdungspotenzial (Antibiotikaeinsatz;<br />
Salmonellenvorkommen in den Ställen)<br />
liegt heute der grösste Handlungsbedarf.<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
61
9.6 Die Rolle der<br />
internationalen Politik<br />
Während die Schweiz rund 40 % der verzehrten<br />
Kalorien importiert, darunter<br />
120 000 Tonnen <strong>Fleisch</strong> jährlich, was ungefähr<br />
einem Viertel des Gesamtkonsums<br />
entspricht, stocken viele Länder in der EU<br />
ihre Tierhaltungen massiv auf. So produziert<br />
Dänemark fast 4-mal, Irland 3-mal,<br />
Holland und Belgien doppelt so viel<br />
<strong>Fleisch</strong>, wie jeweils selbst benötigt wird.<br />
Besonders krass ist die Situation beim<br />
Schweinefleisch, wo Dänemark 6-mal,<br />
Holland und Belgien 2,5-mal mehr erzeugen.<br />
Diese Überschusserzeugung geht<br />
ganz klar auf Kosten des Tierwohls, der<br />
Ökologie sowie der Qualität und Sicherheit<br />
der Produkte. Damit diese industriell<br />
betriebenen Tiermasten überhaupt funktionieren,<br />
müssen riesige Mengen an Kraftfutter<br />
aus Übersee importiert werden.<br />
Nebst diesen «traditionellen» Überschussproduzenten<br />
rüstet mittlerweile<br />
auch Deutschland auf. Innert fünf Jahren<br />
ist die Ausfuhr von <strong>Fleisch</strong> und <strong>Fleisch</strong>waren<br />
um 60 % gestiegen. Nebst dem<br />
Ausbau der Geflügelmast stiegen auch<br />
die Schweineschlachtungen stark an.<br />
Deutschland hat seinen Selbstversor-<br />
Die weltweit steigende<br />
Tierhaltung lässt die Futtermittelpreise<br />
steigen<br />
gungsgrad beim <strong>Fleisch</strong> von 94 % im Jahr<br />
2000 auf heute 115 % gesteigert. Möglich<br />
wurde dies, wie bei den anderen Überschussproduzenten<br />
auch, durch den massiven<br />
Import von teilweise gentechnisch<br />
verändertem Kraftfutter aus Brasilien, Argentinien<br />
und den USA sowie dem Ausbau<br />
der Massentierhaltung.<br />
Um ein Einkommen von rund 50 000<br />
Euro jährlich erzielen zu können, muss<br />
ein deutscher Mäster 550 000 Poulets erzeugen,<br />
denn je Tier bleiben ihm kaum 10<br />
Cents! Kein Wunder, ist der Einsatz von<br />
Antibiotika in diesen Hähnchenmasten<br />
zur gängigen und notwendigen Praxis geworden.<br />
Eine Studie im Auftrag des Verbraucherschutzministeriums<br />
von Nordrhein-Westfalen<br />
aus dem Jahr 2011 zeigt,<br />
dass bei 83 % der erfolgten Mastdurchgänge<br />
antimikrobielle Substanzen eingesetzt<br />
wurden. Insgesamt wurden 96 % der<br />
Tiere aus den untersuchten Betrieben mit<br />
Antibiotika behandelt, teilweise erhielten<br />
sie in der kurzen Lebenszeit von weniger<br />
als sechs Wochen bis zu 8 Antibiotikagaben<br />
mit drei verschiedenen Wirkstoffen!<br />
Es gibt wenig Grund zur Annahme,<br />
dass in anderen Ländern mit vergleichbarer<br />
Massentierhaltung die Gesundheits-<br />
und Medikamentensituation weniger besorgniserregend<br />
wäre.<br />
Die negativen Seiten des Freihandels,<br />
nämlich ein ökologisch fragwürdiges Hinund<br />
Hergeschiebe von Nahrungsmitteln<br />
und die Zerstörung regionaler bäuerlicher<br />
Strukturen, zeigt der Geflügelfleischmarkt<br />
in der EU. Die Exporte erreichten 2011 mit<br />
rund 1,3 Millionen Tonnen einen Spitzenwert.<br />
Das <strong>Fleisch</strong>, vor allem Schenkel und<br />
Flügel, wird um den ganzen Erdball abgesetzt<br />
– nach Russland, Hongkong, Saudi-<br />
Arabien und selbst nach Afrika, nach<br />
Ghana und Benin. Im gleichen Zeitraum<br />
importierte die EU aber auch 700 000 Tonnen<br />
Geflügelfleisch, hauptsächlich aus<br />
Brasilien und Thailand. Weltweit boomt<br />
der Geflügelfleischmarkt. Experten gehen<br />
davon aus, dass spätestens 2020 über 120<br />
Millionen Tonnen erzeugt werden (heute:<br />
95 Mio. Tonnen) und die Geflügel- dann<br />
die Schweinefleischproduktion mengenmässig<br />
überholt haben wird.<br />
Die weltweite Entwicklung der intensiven<br />
Tierproduktion wird von Experten<br />
mit Besorgnis zur Kenntnis genommen.<br />
Damit in Zukunft 9 Milliarden Menschen<br />
satt werden können, müssten nicht<br />
Grossfarmen, sondern Kleinbauern gefördert<br />
werden, so der Tenor von Landwirtschaftsexperten,<br />
etwa der UNO-Taskforce<br />
gegen den Hunger. Man müsse die kleinen<br />
Landwirte befähigen, ihre Produktivität<br />
ökologisch nachhaltig zu steigern. Es<br />
brauche keine neue grüne, sondern eine<br />
immergrüne Revolution, gaben Vertreter<br />
dieses Gremiums 2011 zu Protokoll. Extrem<br />
wichtig sei es, die Frauen und deren<br />
Gleichberechtigung zu stärken, verrichteten<br />
sie doch weltweit 60 bis 80 % der<br />
landwirtschaftlichen Arbeit.<br />
Doch genau die Kleinbauern und die<br />
bäuerliche Landwirtschaft stehen weltweit<br />
unter Druck wegen der Überschussexporte<br />
der USA, der EU und von Brasilien.<br />
So brach Im Jahr 2000 der funktionierende<br />
einheimische Geflügelfleischmarkt<br />
in Kamerun zusammen, nachdem<br />
die EU das Land mit Billigexporten<br />
von Geflügelteilen überschwemmt hatte.<br />
2008/09 überrannte die boomende deutsche<br />
Hähnchenproduktion den französi-<br />
62<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS
schen Geflügelfleischmarkt mit Teilstücken.<br />
Als Folge davon rüsten Frankreich<br />
und weitere EU-Staaten nun ebenfalls ihre<br />
industrielle Geflügelmast auf. Alle Überschussproduzenten,<br />
auch die EU, suchen<br />
weltweit fieberhaft nach Absatzkanälen.<br />
Die angestrebten Freihandelsabkommen,<br />
etwa zwischen der EU und der Schweiz<br />
oder Indien, sollten auch unter diesem Aspekt<br />
gesehen werden. Für Indien bedeutet<br />
ein Freihandelsabkommen mit der EU<br />
den Wegfall von 150 Milliarden Euro Zöllen<br />
oder 11 % des Haushaltbudgets! Millionen<br />
von indischen Kleinbauern und<br />
Strassen-/Einzelhändler fürchten, durch<br />
EU-Importe und EU-Handelsketten verdrängt<br />
zu werden.<br />
Weil Landwirtschaftsland und Ressourcen<br />
begrenzt sind, der – ob nun<br />
menschengemachte oder «natürlich» verursachte<br />
– Klimawandel greift und die<br />
Nachfrage nach Lebensmitteln weiter ansteigt,<br />
dürfte in den kommenden Jahren<br />
das Thema Versorgungssicherheit wieder<br />
aktuell werden. Nach der Immobilien-<br />
und der Bankenpleite raten immer<br />
mehr Experten den Anlegern, im Portfolio<br />
auch landwirtschaftliche Rohstoffe<br />
zu halten. So sind heute Milliardengelder<br />
in Rohstoffen und deren Handel involviert,<br />
was Spekulanten anlockt. Ein Lied<br />
davon konnten die Hilfsorganisationen<br />
im 2011 überschwemmten Pakistan singen:<br />
Obwohl genügend Weizen vorhanden<br />
war, hatten Spekulanten an den internationalen<br />
Rohstoffbörsen die Preise in<br />
die Höhe gedrückt, sodass die zur Verfügung<br />
stehenden Hilfsgelder nur mehr für<br />
die Hälfte der beabsichtigten Weizenkäufe<br />
reichten!<br />
Es ist daher zu begrüssen, dass die<br />
Fragen nach Versorgungssicherheit und<br />
Ernährungssouveränität der Staaten zunehmend<br />
auf die nationale und internationale<br />
Polittraktandenliste gelangen.<br />
Auch, um ein Gegengewicht zu den WTO-<br />
Verhandlungen zu bilden, deren grosses<br />
Ziel der globale Freihandel mit Nahrungsmitteln<br />
ist – ohne ökologische, tierschützerische<br />
und soziale Leitplanken –, und<br />
welche einseitig die überschussproduzierenden<br />
und exportorientierten Länder<br />
bevorzugen, auf Kosten der kleinen und<br />
mittleren Bauern und einer bäuerlich geprägten,<br />
artgerechten Tierhaltung. •<br />
Glossar<br />
Are 100 Quadratmeter<br />
AML Antimikrobielle Leistungsförderer<br />
(«Futtermittel-Antibiotika»)<br />
BVET Bundesamt für Veterinärwesen<br />
BLW Bundesamt für Landwirtschaft<br />
BTS Staatliches Programm zur Förderung<br />
von besonders tierfreundlichen<br />
Ställen<br />
«Club of Rome»-Bericht Das Buch prophezeite<br />
in den 1970er-Jahren (fälschlicherweise)<br />
massive Überbevölkerung<br />
samt einem Zurneigegehen von Roh- und<br />
fossilen Brennstoffen ab 2000<br />
ETH-Zürich Eidgenössische Technische<br />
Hochschule<br />
GVE Grossvieheinheit: Umrechnungsschlüssel<br />
zum Vergleich verschiedener<br />
Nutztierarten; 1 GVE entspricht einer<br />
Milchkuh oder jeweils 6 Ziegen, Schafen<br />
oder Schweinen oder 100 Legehühnern<br />
Hektare 100 Aren<br />
Laktation Auf 305 Tage standartisierte<br />
Milchmenge, die eine Kuh pro Jahr gibt<br />
ÖLN Ökologischer Leistungsnachweis<br />
Grundbedingungen, die ein Bauer<br />
im Pflanzenbau und in der Tierhaltung<br />
erfüllen muss, damit er Direktzahlungen<br />
erhält<br />
PSE <strong>Fleisch</strong> <strong>Fleisch</strong>qualitätsmangel, v.a.<br />
beim Schwein (pale/hell, soft/weich,<br />
exudativ/wässrig)<br />
RAUS Staatliches Programm zur Förderung<br />
von regelmässigem Auslauf für<br />
Nutztiere<br />
rBST Künstlich erzeugtes Wachstumshormon,<br />
das insbesondere in den USA<br />
Kühen und Rindern regelmässig zur Erhöhung<br />
der Milch- und <strong>Fleisch</strong>leistung<br />
gespritzt wird. In der Schweiz verboten.<br />
3R-Prinzip An die Eigenverantwortung<br />
der Forscher gerichtetes Konzept zur Eindämmung<br />
von Tierversuchen (reduce/<br />
reduzieren, refine/verfeinern, replace/<br />
ersetzen)<br />
SPF Sanierungskonzept gegen die Übertragung<br />
von Schweinekrankheiten (specific<br />
pathogen free (frei von spezifischen<br />
Krankheitserregern)), das sich durch<br />
keimfreie Haltung der Sauen und den Ersatz<br />
der natürlichen Ferkelgeburt durch<br />
den Kaiserschnitt auszeichnet<br />
TschG Tierschutzgesetz<br />
TschV Tierschutzverordnung (Ausführungsbestimmungen)<br />
Herausgeber<br />
<strong>Schweizer</strong> Tierschutz STS<br />
Dornacherstrasse 101, Postfach<br />
CH-4008 Basel<br />
Tel. 061 365 99 99<br />
Fax 061 365 99 90<br />
Postkonto 40-33680-3<br />
sts@tierschutz.com<br />
www.tierschutz.com<br />
Autor<br />
Dr. Hansuli Huber, dipl. ing. agr. ETH<br />
Geschäftsführer Fachbereich<br />
<strong>Schweizer</strong> Tierschutz STS<br />
Gestaltung<br />
die zwei basel<br />
Fotos<br />
123RF, Lydia Baumgarten, Michael Götz,<br />
iStockphoto, KAGfreiland, Keystone,<br />
Barbara Marty, Lolita Morena, Reuters,<br />
Mark Rissi, Franz J. Steiner, Simon<br />
Templar, tierschutzbilder.de<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
63
Als Beispiel für tierfreundliche und praktische Lösungen in der Rindermast zeigt das Merkblatt<br />
Ställe von drei Landwirten im Raum Sempachersee. Diese haben ihre ehemaligen Anbindeställe<br />
für Milchkühe in Laufställe für Mastrinder umgebaut; jeder hat eine eigene Lösung gefunden.<br />
Alle drei Landwirte halten ihre Tiere gemäss den Richtlinien von Weide-Beef, einem Label der<br />
Migros für die Ochsen- und Rindermast. Der Name kommt daher, dass die Tiere während der Vegetationszeit<br />
täglich während mindestens acht Stunden auf die Weide dürfen. Weitere Anforderungen<br />
des Labels sind auf der letzten Seite aufgeführt.<br />
Anstelle der Anbindevorrichtung befindet sich jetzt ein Fressgitter.<br />
Der deckenlastige Anbindestall von Thomas Bühlmann in Ballwil LU stammt aus dem Jahre 1979<br />
und weist eine sehr gute Bausubstanz auf. Im Jahre 2003 richtete der Landwirt seinen Betrieb neu<br />
aus. Er wollte mehr Zeit haben, um einer Arbeit ausserhalb der Landwirtschaft nachzugehen. Rinder-,<br />
Schweine- und Pouletmast standen als Alternativen zur Auswahl. Thomas Bühlmann entschloss<br />
sich für die Rindermast, da auf dem Betrieb die Raufutterbasis vorhanden ist.<br />
Beim Umbau entfernte der Landwirt den Schwemmkanal und das Läger und ersetzte beide durch<br />
einen 2,5 m breiten Kanal mit Spaltenboden. Ein Fangfressgitter ersetzte die alte Anbindevorrichtung,<br />
während die Hochkrippe belassen wurde. Auf der einen Seite des zweireihigen Anbindestalles<br />
brachte er eine Gruppe von 20 jüngeren, auf der anderen Seite von 18 älteren Tieren unter.<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
1<br />
2,5’/1.2013<br />
FREIHANDEL<br />
<strong>UND</strong> TIERSCHUTZ<br />
EIN VERGLEICH SCHWEIZ–EU<br />
Freihandel und Tierschutz – ein<br />
Vergleich SchweizEU<br />
Bleibt bei einem Freihandelsabkommen<br />
das Tierwohl auf der Strecke?<br />
Ein Vergleich der Haltungsformen<br />
in der Schweiz und in der EU<br />
stimmt skeptisch.<br />
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TIERKOMFORT<br />
Beispiele aus der praxis<br />
Tierkomfort – Beispiele aus der<br />
Praxis<br />
Kleinigkeiten im Stall erhöhen den<br />
Tierkomfort oft massgeblich. Innovative<br />
Tierhalter aus der ganzen<br />
Schweiz zeigen Beispiele aus der<br />
Praxis.<br />
Format A4, 24 Seiten, gratis*<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ SCHWEIZER STS TIERSCHUTZ STS<br />
70’/1.07/die zwei<br />
VorBeugen<br />
ist besser als heilen<br />
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Unfallursachen<br />
Vorbeugen ist besser<br />
als heilen<br />
Vorbeugen im Stall, auf der Alp<br />
und der Weide sowie beim Transport<br />
lohnt sich. Mit Beispielen,<br />
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VERSTECKTES<br />
TIERLEID<br />
IN ImPORTGEFLÜGEL<br />
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1<br />
Verstecktes Tierleid in<br />
Importgeflügel<br />
Die tierschützerischen Unterschiede<br />
in der Geflügelhaltung Schweiz–<br />
EU sind ernorm. Fakten und Zahlen<br />
dazu.<br />
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STS-MERKBLATT<br />
SCHWEIZER TIERSCHUTZ STS PFLEGE <strong>UND</strong> UMGANG MIT TIEREN / MERKBLATT B<br />
STS-MERKBLATT<br />
TT<br />
TiergerechTe und kosTengünsTige sTälle Tks 1.1<br />
Anbau eines Fressplatzes an<br />
bestehenden Milchviehstall<br />
Kühe im Freien füttern<br />
Bestehende Anbindestä le mit einer guten Bausubstanz muss man nicht abbrechen. Manchmal<br />
lassen sich auch ein Fressplatz im Freien und ein Melkhaus angliedern. Es entsteht ein tierfreundlicher<br />
und arbeitswirtschaftlich günstiger Freilaufsta l.<br />
Der Hof von Osten. Links die Scheune, rechts der separate Fressplatz.<br />
Roland Werner auf dem Waldhof in Wäldi TG war einer der ersten, der den Mut hatte, seine Kühe<br />
das ganze Jahr über im Freien zu füttern. «Ich bin überzeugt, dass es in unseren Breitengraden<br />
mindestens bis zu einer Höhe von 1000 m ü.M. kein Problem ist», sagt der Landwirt. Er hat im<br />
Jahr 1995 seinen Anbindesta l zu einem Laufsta l mit Laufhof und Fressplatz umgebaut.<br />
Separate Fressachse bauen<br />
Bei der Planung hatte der Landwirt zwei Ziele<br />
im Auge. Der Stall so lte kostengünstig sein, und<br />
die Tiere so lten sich wohl fühlen. «Damals haben<br />
die landwirtschaftlichen Architekten noch<br />
andere Ställe gebaut», ste lt Roland Werner fest.<br />
Er meint damit geschlossene Ställe, bei welchen<br />
alles unter einem Dach ist. Landwirt Werner<br />
wo lte jedoch eine separate Fressachse para lel<br />
zum bestehenden Stall bauen. Der Baufachmann<br />
Ludo van Caenegem von der damaligen<br />
FAT (heute ART) sowie der Architekt Cyri l Bischof<br />
bestärkten ihn in seiner Idee.<br />
Die neue Fressachse.<br />
Suhlen und Duschen von Schweinen<br />
Schweine schwitzen nicht – darum suhlen sie<br />
STS-MERKBLATT<br />
TiergerechTe und kosTengünsTige sTälle Tks 1.10<br />
Schweine können nicht schwitzen. Sie sind deswegen auf schattige Plätze und andere Abkühlungsmöglichkeiten<br />
angewiesen. Die Tierschutzverordnung aus dem Jahre 2008 verlangt in Art.<br />
46, dass in neu eingerichteten Stä len bei Hitze Schweinen ab 25 kg in Gruppenhaltung sowie<br />
Zuchtebern Abkühlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen müssen. Die Nutztier- und Haustierverordnung<br />
des Bundesamtes für Veterinärwesen BVET konkretisiert dies und verlangt in Artikel<br />
28 die Abkühlung ab Temperaturen von 25 °C. Zur Abkühlung können Suhlen und Duschen dienen.<br />
Tierfreundliche Ställe für<br />
die Rindermast<br />
Boxen zum Liegen<br />
Mit Vorliebe suchen Schweine Schlammbäder auf. Nicht nur das Baden kühlt, sondern auch die<br />
Schlammschicht, mit welcher sich die Tiere überziehen; sie speichert nämlich die Feuchtigkeit<br />
und kühlt die Tiere über eine längere Zeit. Die Suhle ist ein wesentlicher und notwendiger<br />
Bestandteil der Freilandhaltung im Sommer ebenso wie Schattenplätze und ein sauberer, zugfreier<br />
Liegeplatz. Schweine können sich selbst eine Suhle anlegen, doch muss der Tierhalter in durchlässigen<br />
Böden für das Wasser besorgt sein. Zu beachten ist, dass die Schweine regelmässig entwurmt<br />
werden.<br />
Einige Auszüge aus den Untersuchungen des Münchener Veterinärprofessors Hans Hinrich Sambraus<br />
so len die Bedeutung des Suhlens für das Schwein i lustrieren: «Die Sauen suchten bei<br />
durchschnittlichen Tages-Temperaturen zwischen 19 und 28 °C die Suhle im Mittel zweimal pro<br />
Tag auf. Im Tagesablauf gab es zwei Höhepunkte, einer morgens nach dem Füttern und der zweite<br />
zwischen 12 und 15 Uhr.»<br />
1<br />
1<br />
Foto: C. Sciarra<br />
STSMerkblätter Nutztiere<br />
(Rinder, Schweine, Pferde, Hühner, Ziegen, Schafe und Kaninchen)<br />
Informativ, lehrreich und mit vielen Beispielen aus der Praxis zu den Themen:<br />
• Tiergerechte und kostengünstige Ställe<br />
• Pflege und Umgang mit Tieren<br />
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PFERDE, KONSUM > INFOTHEK<br />
1<br />
Das STSKochbuch zeigt auf, dass Tierschutz und Genuss kein Widerspruch ist.<br />
Im Gegenteil: Nur Produkte von Tieren, die ein gutes Leben hatten, schmecken so, wie es<br />
schmecken soll. Das haben die <strong>Schweizer</strong>innen und <strong>Schweizer</strong> gemerkt. An die Stelle<br />
des unbedachten tritt immer mehr ein bewusster Konsum, der auch das Tier würdigt.<br />
«Essen mit Herz» liefert kreative, vielfältige und einfach umsetzbare Ideen für<br />
Vorspeisen, Hauptgerichte und Desserts.<br />
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TIERSCHUTZ STS