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<strong>Von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Antike</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Neuzeit</strong>.<br />

Zur Anthropologie von Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung<br />

und ihren ethischen Folgewirkungen untersucht an ausgewählter,<br />

zeitgenössischer Literatur.<br />

E<strong>in</strong>e historisch – systematische Untersuchung.<br />

Schriftliche Hausarbeit im Rahmen <strong><strong>de</strong>r</strong> Ersten Staatsprüfung für das Lehramt für<br />

Son<strong><strong>de</strong>r</strong>pädagogik, <strong>de</strong>m Staatlichen Prüfungsamt für Erste Staatsprüfungen für Lehrämter<br />

an Schulen <strong>in</strong> Köln vorgelegt von:<br />

Daniel Budka<br />

Köln, <strong>de</strong>n 31. Juni 2002<br />

Gutachter: Prof. Dr. Ulrich Oskamp<br />

Heilpädagogisch – Rehabilitationswissenschaftliche Fakultät <strong><strong>de</strong>r</strong> Universität zu Köln<br />

Sem<strong>in</strong>ar für Son<strong><strong>de</strong>r</strong>erziehung und Rehabilitation <strong><strong>de</strong>r</strong> Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ten<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong>


Inhaltsverzeichnis :<br />

1. E<strong>in</strong>leitung Seite<br />

1.1 Problemaufriß.........................................................................................................1<br />

1.2 Motivation und Intention <strong>de</strong>s Verfassers................................................................5<br />

2. Bezug <strong>de</strong>s Themas zur Schule für Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>te<br />

aus subjektiver Sicht.................................................. ............................................7<br />

3. Methodologische Reflexion.....................................................................................9<br />

3.1 Zu <strong>de</strong>n Inhalten und Zielen <strong><strong>de</strong>r</strong> Hermeneutik..........................................................9<br />

3.2 Zur Pädagogischen Hermeneutik <strong>die</strong>se Arbeit.......................................................11<br />

4. Exkurs zur Dekonstruktion von Texten.................................................................14<br />

5. Zur Darstellung <strong><strong>de</strong>r</strong> Begriffe „Anthropologie“, „Ethik“ und Moral <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

wissenschaftlichen Literatur...................................................................................15<br />

5.1 Zur Anthropologie..................................................................................................15<br />

5.2 Zur pädagogischen Anthropologie.........................................................................21<br />

5.3 Ethik und Moral.....................................................................................................25<br />

5.3.1 Zur Moral und Moralität........................................................................................25<br />

5.3.2 Zu Aufgaben und Zielen <strong><strong>de</strong>r</strong> Ethik und ihrer Wechselbeziehung zur Moral.........32<br />

6. Allgeme<strong>in</strong>e Anmerkungen zur Auswahl von Autoren und Werken.......................39<br />

6.1 Aristoteles...............................................................................................................39<br />

6.2 Thomas Morus........................................................................................................40<br />

6.3 Charles Darw<strong>in</strong>.......................................................................................................40<br />

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7. Ausführungen <strong><strong>de</strong>r</strong> hermeneutischenTextanalysen..................................................42<br />

7.1 Aristoteles und se<strong>in</strong> Werk <strong><strong>de</strong>r</strong> Nikomachischen Ethik...........................................42<br />

7.2 Thomas Morus über <strong>die</strong> InselUtopia.....................................................................57<br />

7.3 Charles Darw<strong>in</strong> über <strong>die</strong> Entstehung <strong><strong>de</strong>r</strong> Arten.................................................... 70<br />

8. Abschließen<strong>de</strong> Diskussion......................................................................................85<br />

9. Fragenkatalog zur hermeneutischen Text<strong>in</strong>terpretation..........................................88<br />

10. Literaturverzeichnis................................................................................................90<br />

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1. E<strong>in</strong>leitung:<br />

In Kapitel 1.1 wird <strong>die</strong> Aktualität <strong>de</strong>s gewählten Themas aufgezeigt. Verursacht im<br />

Wesentlichen durch <strong>die</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung über ethische Grenzen beziehungsweise <strong>de</strong>n<br />

Möglichkeiten mediz<strong>in</strong>ischer Forschung, erleben <strong>die</strong> Begriffe Ethik, Moral und<br />

Menschenbild e<strong>in</strong>e Renaissance <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> öffentlichen Diskussion.<br />

E<strong>in</strong>e Ursache - Folgewirkung sche<strong>in</strong>t unübersehbar, Hoffnungen, aber auch Illusionen<br />

bezüglich Vorbeugung, Heilung und Therapie von Krankheiten wirken variierend auf<br />

gesellschaftliche Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong>. Komb<strong>in</strong>iert mit <strong>de</strong>n Ersche<strong>in</strong>ungen e<strong>in</strong>er postmo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen<br />

Gesellschaft, zu nennen s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Individualisierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen bei gleichzeitiger<br />

Pluralisierung von Werten und Normen, ist vor allem für Heilpädagogen e<strong>in</strong>e ständige<br />

Reflexion <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen, aber auch <strong><strong>de</strong>r</strong> gesellschaftlichen ethischen Normen unerläßlich.<br />

Aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Vielzahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Ereignisse ist <strong>die</strong> Darstellung e<strong>in</strong>es Aktualitätsbezugs nur<br />

fragmentarisch möglich.<br />

Im Anschluss erfolgt <strong>die</strong> Darlegung <strong><strong>de</strong>r</strong> persönlichen Motivation zur Themenwahl. Dabei<br />

wer<strong>de</strong>n <strong>die</strong> Motive aufgezeigt, welche zur eigenständigen Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit Ethik,<br />

Anthropologie und Moral geführt haben. Abschließend erfolgt <strong>die</strong> Darlegung me<strong>in</strong>es<br />

historischen und systematischen Erkenntnis<strong>in</strong>teresses bezüglich <strong><strong>de</strong>r</strong> ausgewählten<br />

Literatur.<br />

1.1 Problemaufriss<br />

Gegenwärtig ereignet sich e<strong>in</strong>e Diskussion, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> mediz<strong>in</strong>ischer Fortschritt und ethische<br />

Grenzen ansche<strong>in</strong>end unvere<strong>in</strong>bar gegenüberstehen. Die Frage e<strong>in</strong>er Legalisierung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Forschung an embryonalen Stammzellen und <strong>die</strong> rechtliche E<strong>in</strong>führung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Präimplantationsdiagnostik (im Folgen<strong>de</strong>n mit PID abgekürzt) bil<strong>de</strong>n lediglich zwei<br />

ausgewählte Beispiele.<br />

Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> PID wer<strong>de</strong>n, im Anschluß an e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>- vitro- Befruchtung, <strong>de</strong>m Embryo Zellen<br />

entnommen, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Erbgut auf krankheitsrelevante Merkmale untersucht wird. Im Falle<br />

e<strong>in</strong>es positiven Befun<strong>de</strong>s wird auf e<strong>in</strong>e Übertragung <strong>de</strong>s Embryos <strong>in</strong> <strong>die</strong> Gebärmutter<br />

verzichtet. Gegner <strong>die</strong>ses Verfahrens befürchten, daß Gesundheit zur obersten<br />

gesellschaftlichen Norm erhoben wird und chronisch Kranke und Menschen mit<br />

Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung ausgegrenzt wer<strong>de</strong>n. Sie sehen e<strong>in</strong>en Angriff auf gelten<strong>de</strong> ethische Normen <strong>in</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland und <strong>die</strong> Gefahr eugenischer Ten<strong>de</strong>nzen. Darüber h<strong>in</strong>aus<br />

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estün<strong>de</strong> <strong>die</strong> Frage, welche Erbkrankheit e<strong>in</strong> Vernichten <strong>de</strong>s Embryos rechtfertigt.<br />

Befürworter argumentieren, daß durch Erbkrankheiten belastete Familien <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>wunsch nicht abzusprechen sei und mit PID <strong>die</strong> Möglichkeit existiere, durch<br />

künstliche Hilfe e<strong>in</strong> gesun<strong>de</strong>s K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>die</strong> Welt zu setzen. Außer<strong>de</strong>m sei PID lediglich als<br />

e<strong>in</strong>e vorgezogene Pränataldiagnostik zu sehen.<br />

Bei <strong>die</strong>ser wer<strong>de</strong>n nicht <strong>in</strong>vasive (Ultraschalluntersuchung) und <strong>in</strong>vasive (Amniozentese)<br />

Metho<strong>de</strong>n angewandt, um e<strong>in</strong>e Schädigung <strong>de</strong>s Embryos frühzeitig diagnostizieren zu<br />

können. An <strong>die</strong>sem Punkt kommt <strong>die</strong> rechtliche Situation <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland<br />

zum Tragen, genauer, <strong>die</strong> gesetzliche Neufassung <strong>de</strong>s<br />

§ 218 StGB aus <strong>de</strong>m Jahre 1995. Durch krim<strong>in</strong>ologische Indikation (§ 218a Abs.3) ist <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche straffrei, wenn <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwangerschaft e<strong>in</strong><br />

Sexual<strong>de</strong>likt vorausgegangen ist. Die mediz<strong>in</strong>ische Indikation (§ 218a Abs. 2) b<strong>in</strong><strong>de</strong>t <strong>de</strong>n<br />

Abbruch nicht an zeitliche Fristen, wenn dadurch e<strong>in</strong>e Lebensgefahr, o<strong><strong>de</strong>r</strong> schwerwiegen<strong>de</strong><br />

seelische und körperliche Folgen für <strong>die</strong> schwangere Frau abgewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n können.<br />

Allgeme<strong>in</strong> gilt, daß <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwangerschaftsabbruch bis zur 22. Woche straffrei ist, wenn <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Entscheidung e<strong>in</strong>e Schwangerschaftskonfliktberatung vorausgegangen ist.<br />

Der § 218 bietet e<strong>in</strong>en rechtlichen Rahmen, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>die</strong> Entscheidung zum Austragen e<strong>in</strong>es<br />

K<strong>in</strong><strong>de</strong>s an <strong>die</strong> Ergebnisse pränataler Diagnostik b<strong>in</strong><strong>de</strong>n kann.<br />

Die E<strong>in</strong>becker Empfehlungen, <strong>die</strong> we<strong><strong>de</strong>r</strong> Gesetz noch Verordnung s<strong>in</strong>d, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n e<strong>in</strong>e<br />

ärztliche Orientierungshilfe bieten sollen, wur<strong>de</strong>n durch <strong>die</strong> Deutsche Gesellschaft für<br />

Mediz<strong>in</strong>recht verfaßt. Sie sprechen <strong>in</strong> ihrer 1992 revi<strong>die</strong>rten Fassung von e<strong>in</strong>er<br />

Unverfügbarkeit allen menschlichen Lebens. Trotz<strong>de</strong>m f<strong>in</strong><strong>de</strong>t <strong>in</strong> ihnen e<strong>in</strong>e<br />

Güterabwägung statt, zwischen <strong>de</strong>m E<strong>in</strong>satz aller Möglichkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Intensivmediz<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>erseits und e<strong>in</strong>er Lei<strong>de</strong>nsverm<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> früh geborenen und schwerstbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ten<br />

Säugl<strong>in</strong>ge andrerseits. Hierbei sche<strong>in</strong>en schwerste Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung und Leid <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Kausalzusammenhang zu stehen 1 .<br />

Die sogenannte „S<strong>in</strong>ger-Debatte“ war En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> 80er Jahre e<strong>in</strong> vorläufiger Höhepunkt <strong>in</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung um Lebensrecht und Lebensqualität von Menschen mit<br />

Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung. Der australische Ethik-Philosoph Peter S<strong>in</strong>ger dokumentiert dabei Kriterien,<br />

anhand <strong><strong>de</strong>r</strong>er über S<strong>in</strong>n und Uns<strong>in</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Verlängerung schwerstbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ten Lebens<br />

entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n sollte. Menschenrechte machte er abhängig von <strong>de</strong>m Erlangen e<strong>in</strong>es<br />

Personenstatus: Nur wer <strong>die</strong> höchste Stufe <strong><strong>de</strong>r</strong> Entwicklung erreicht und über Kriterien <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Selbstreflexivität, Kommunikationsfähigkeit, Zukunftsorientierung und Selbständigkeit<br />

1 Vgl. Zeitschrift für Heilpädagogik 44 (1993), S. 183 - 184<br />

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verfügt, erhält <strong>die</strong> vollen Menschenrechte. Säugl<strong>in</strong>ge mit schwerster Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung können<br />

se<strong>in</strong>er Annahme nach <strong>die</strong> Voraussetzungen zum Erhalt <strong>de</strong>s Personenstatus kaum erfüllen<br />

und verfügen <strong>de</strong>mnach nicht über gleichwertige Menschenrechte. E<strong>in</strong> bewusst<br />

herbeigeführter Tod betroffener K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> durch <strong>die</strong> Ärzte stellt bei <strong>die</strong>ser Sichtweise ke<strong>in</strong><br />

Verbrechen dar.<br />

Im Gegensatz zur Abtreibung f<strong>in</strong><strong>de</strong>t <strong>die</strong> Tötung nicht ausschließlich im Mutterleib statt.<br />

S<strong>in</strong>ger möchte <strong>die</strong> Entscheidung über lebenswert und lebensunwert erst nach 28 Tagen<br />

treffen, um <strong>die</strong> Entwicklung <strong>de</strong>s Säugl<strong>in</strong>gs abwarten zu können.<br />

In Frankreich sprach <strong><strong>de</strong>r</strong> Kassationsgerichtshof, <strong>die</strong> höchste richterliche Revisions<strong>in</strong>stanz<br />

<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s, ähnlich <strong>de</strong>m Deutschen Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht, <strong><strong>de</strong>r</strong> Mutter e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong><strong>de</strong>s<br />

mit Down-Syndrom Recht zu, <strong>die</strong> im Namen ihres Sohnes geklagt hatte. Durch <strong>de</strong>n<br />

Richterspruch erhält sie umgerechnet 1,35 Millionen Mark, um <strong>die</strong> anfallen<strong>de</strong>n<br />

Pflegekosten für das K<strong>in</strong>d <strong>de</strong>cken zu können. Ihr behan<strong>de</strong>ln<strong><strong>de</strong>r</strong> Frauenarzt habe sie nicht<br />

ausreichend über <strong>die</strong> Möglichkeiten e<strong>in</strong>es Schwangerschaftsabbruchs <strong>in</strong>formiert, obwohl<br />

Anzeichen für e<strong>in</strong>e Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>s K<strong>in</strong><strong>de</strong>s vorhan<strong>de</strong>n gewesen wären. Damit sei <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mutter <strong>die</strong> Möglichkeit <strong>de</strong>s Schwangerschaftsabbruchs genommen wor<strong>de</strong>n, heißt es <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Urteilsbegründung. Es wird <strong><strong>de</strong>r</strong> Familie <strong>de</strong>shalb e<strong>in</strong>e Entschädigung gezahlt, weil das K<strong>in</strong>d<br />

mit e<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung geboren wur<strong>de</strong>. Die Geburt e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong><strong>de</strong>s mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung gilt nach<br />

<strong>die</strong>sem Urteil als materieller Scha<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> betroffenen Eltern.<br />

Der Urteilsspruch hat heftige Kritik hervorgerufen. Anwälte, Politiker, Kirchenvertreter,<br />

Ärzte und Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>tenverbän<strong>de</strong> lehnen <strong>die</strong> Entscheidung ab. Sie sehen e<strong>in</strong>en Angriff auf<br />

<strong>die</strong> Wür<strong>de</strong> aller Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung und warnen vor Verbreitung eugenischer<br />

Gedanken. Rechtsexperten befürchten <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Urteil e<strong>in</strong>e Grundlage für Klagen von<br />

Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung gegen ihre Eltern 2 .<br />

Die Bestimmung <strong>de</strong>s schulischen Lernorts von Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung kann ebenfalls<br />

<strong>in</strong> <strong>de</strong>n aktuellen Kontext e<strong>in</strong>gebracht wer<strong>de</strong>n. Es ist zu unterschei<strong>de</strong>n, ob Lebensrechte<br />

grundsätzlich <strong>in</strong> Frage gestellt wer<strong>de</strong>n, o<strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong>e Debatte zur Organisation <strong>de</strong>s<br />

Schulwesens geführt wird. Die schulische Integration gilt als wesentlicher Teil <strong>de</strong>s<br />

Ausdrucks von Akzeptanz und Partizipation für Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung als Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

unserer Gesellschaft. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>tenpädagogik wird <strong><strong>de</strong>r</strong> Zusammenhang zwischen<br />

Lebens- und Bildungsrecht ausdrücklich hervorgehoben. E<strong>in</strong>e schulische Ausson<strong><strong>de</strong>r</strong>ung<br />

von Menschen, unter <strong>de</strong>m Vorwand nicht bildungsfähig zu se<strong>in</strong>, wie <strong>die</strong>s bis 1978 <strong>in</strong><br />

2 Vgl.: Die Welt, Donnerstag 29. November 2001<br />

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Deutschland geschah, entspricht nicht <strong>de</strong>m pädagogischen Kerngedanken und zeigt e<strong>in</strong>e<br />

ethische Dimension auf.<br />

Wird <strong>in</strong>tegrative Beschulung von Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung als humaner Auftrag<br />

gewertet, verstößt e<strong>in</strong>e Son<strong><strong>de</strong>r</strong>beschulung gegen ethische Normen.<br />

Im November 1994 trat <strong>die</strong> Erweiterung <strong>de</strong>s Grundgesetzes <strong>in</strong> Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 <strong>in</strong><br />

Kraft, wonach es heißt: „Niemand darf wegen se<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung benachteiligt wer<strong>de</strong>n“.<br />

Antor/Bleidick sprechen bezüglich <strong>de</strong>s Urteils von e<strong>in</strong>er „Basisposition“, weisen aber auf<br />

E<strong>in</strong>schränkungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Verwirklichung h<strong>in</strong>, „[...] macht <strong><strong>de</strong>r</strong>en tatsächliche Umsetzung aber<br />

von realisierbaren Bed<strong>in</strong>gungen abhängig“ 3 .<br />

Das Benachteiligungsverbot erfährt se<strong>in</strong>e Grenzen <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> praktischen Umsetzung. So kann<br />

schulische Integration scheitern, wenn materielle, f<strong>in</strong>anzielle und personelle Ausstattung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Regelschulen e<strong>in</strong>e Umsetzung nicht ermöglichen. Hierzu sei ebenfalls e<strong>in</strong> Beispiel<br />

angeführt:<br />

Am 8. Oktober 1997 hat das Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht e<strong>in</strong> Urteil gesprochen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m <strong>die</strong><br />

Klage e<strong>in</strong>er körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ten Schüler<strong>in</strong> gegen <strong>die</strong> Überweisung von e<strong>in</strong>er Gesamtschule<br />

an e<strong>in</strong>e Son<strong><strong>de</strong>r</strong>schule abgewiesen wur<strong>de</strong>. Die Begründung basierte auf <strong>de</strong>n fehlen<strong>de</strong>n<br />

materiellen und personellen Ressourcen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesamtschule. Die Reaktionen auf <strong>die</strong>ses<br />

Urteil waren vielfältig und reichten von kritischer Ablehnung bis zur Würdigung <strong>de</strong>s<br />

Urteils, da es sich trotz angespannter Haushaltssituation für <strong>die</strong> <strong>in</strong>tegrative Beschulung<br />

beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ter Schüler ausspricht, jedoch zur umfassen<strong>de</strong>n E<strong>in</strong>zelfallprüfung rät.<br />

Die Novellierung <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>ssozialhilfegesetztes (BSHG) <strong>in</strong> § 93 koppelt<br />

Leistungsvere<strong>in</strong>barungen mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Pflicht zur „Prüfung <strong><strong>de</strong>r</strong> Wirtschaftlichkeit und Qualität<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Leistungen“. Weiterh<strong>in</strong> heißt es, „<strong>die</strong> Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig<br />

und wirtschaftlich se<strong>in</strong> und dürfen das Maß <strong>de</strong>s Notwendigen nicht überschreiten“.<br />

Fachverbän<strong>de</strong> stehen verstärkt unter f<strong>in</strong>anziellem Druck und müssen nachweisen können,<br />

daß e<strong>in</strong> ausgewogenes Verhältnis zwischen <strong>de</strong>m Maß e<strong>in</strong>er notwendigen Fürsorge und <strong>de</strong>n<br />

erbrachten f<strong>in</strong>anzieller Leistungen besteht.<br />

Bereits <strong>die</strong>se Ausführungen machen <strong>de</strong>utlich, daß Fragen nach unangreifbaren<br />

Lebensrecht, Menschenwür<strong>de</strong>, schulischer und sozialer Integration, sowie <strong>die</strong><br />

Verträglichkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> wirtschaftlichen Ökonomie mit <strong>de</strong>n professionellen Hilfen für<br />

Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung unterschiedlich beantwortet wer<strong>de</strong>n können.<br />

Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n E<strong>in</strong>fluss auf <strong>die</strong> Beantwortung haben Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong>, also <strong>die</strong><br />

dom<strong>in</strong>ieren<strong>de</strong> Auffassung e<strong>in</strong>er Person o<strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppe über das, was e<strong>in</strong> Mensch generell ist,<br />

3 Antor/Bleidick 2000, S. 54ff<br />

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was ihn ausmacht beziehungsweise wie e<strong>in</strong> Mensch se<strong>in</strong> sollte o<strong><strong>de</strong>r</strong> könnte, um<br />

une<strong>in</strong>geschränkt als solcher zu gelten.<br />

1.2 Motivation <strong>de</strong>s Verfassers<br />

Bernhard Schlag 4 spricht von Motiven (late<strong>in</strong>isch movere = bewegen) als e<strong>in</strong>zelne<br />

Beweggrün<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns. Ziel ist <strong>die</strong> Befriedigung <strong>die</strong>ser Motive möglichst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Gesamtheit. Motivation bezeichnet er als Zusammenfassung aller Motive.<br />

E<strong>in</strong> erstes persönliches Motiv liegt <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegenwarts- und Zukunftsbe<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s<br />

Themas.<br />

Defektologisch-reduktionistische Betrachtungsweisen, <strong>die</strong> <strong>de</strong>n Menschen auf e<strong>in</strong> Merkmal<br />

m<strong>in</strong>imieren und ihn im S<strong>in</strong>ne utilitaristischer Pr<strong>in</strong>zipien beurteilen, stellen <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation<br />

mit ökonomischem Rentabilitäts<strong>de</strong>nken e<strong>in</strong>e neue Herausfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung für alle Teilhaben<strong>de</strong>n<br />

an <strong><strong>de</strong>r</strong> Rehabilitation von Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung dar. Dem gegenüber stehen <strong>die</strong><br />

vertreten<strong>de</strong>n For<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen zur Sicherung ethischer Grundsätze für alle Menschen. Das<br />

E<strong>in</strong>treten für universell gültige Lebensrechte und gleichberechtigter Partizipation, sowie<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Kampf gegen das sogenannte Dammbruch-Argument: „Wenn wir Verhütung<br />

gutheißen, warum dann nicht auch Abtreibung; und wenn Abtreibung, warum nicht<br />

K<strong>in</strong><strong>de</strong>stötung; und wenn K<strong>in</strong><strong>de</strong>stötung, warum dann nicht das Mor<strong>de</strong>n von<br />

Erwachsenen?“ 5 .<br />

Alle, <strong>die</strong> an <strong><strong>de</strong>r</strong> Rehabilitation von Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung teilhaben, müssen ihre<br />

eigenen Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> kritisch reflektieren aber auch Systeme und Theorien immer<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong> h<strong>in</strong>terfragen, um „[...] enthalten<strong>de</strong> implizite Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> zu explizieren“ 6 .<br />

Der For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung e<strong>in</strong>er persönlichen Reflexion ethischer Grundsätze soll durch<br />

Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Fachliteratur, aber auch <strong>de</strong>n aktuellen gesellschaftlichen<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen durch vorliegen<strong>de</strong> Arbeit nachgekommen wer<strong>de</strong>n.<br />

Zwei weitere Motive <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeit liegen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em doppelten Erkenntnis<strong>in</strong>teresse und<br />

beziehen sich auf <strong>die</strong> bearbeitete Literatur. Hier existiert e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong> historisches und<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits e<strong>in</strong> systematisches Interesse:<br />

4 vgl. Schlag 1995, S. 10 ff<br />

5 Hare, zitiert nach Leist 1990a S. 148<br />

6 Mattner/Gerspach 1997, S. 30<br />

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Historisch gesehen soll durch hermeneutische Analysen <strong><strong>de</strong>r</strong> ausgewählten Literatur <strong>die</strong><br />

vom jeweiligen Autor aufgezeigten Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> erarbeitet und <strong>die</strong> Frage e<strong>in</strong>er<br />

möglichen Leitbildorientierung beantwortet.<br />

Anhand komparativer Textanalysen möchte ich <strong>die</strong> vom Autor implizit o<strong><strong>de</strong>r</strong> explizit<br />

formulierten Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> aufzeigen und hieraus Rückschlüsse auf ethische Normen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

jeweiligen Zeit ziehen. Die Ergebnisse wer<strong>de</strong>n dann zielgerichtet auf <strong>die</strong> Lage von<br />

Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung zur jeweiligen Zeit <strong>in</strong>terpretieren. Hierbei b<strong>in</strong> ich<br />

beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s an <strong>de</strong>n Zugangsweisen <strong><strong>de</strong>r</strong> Autoren <strong>in</strong>teressiert. Können <strong>in</strong> <strong>de</strong>n jeweiligen<br />

Werken re<strong>in</strong> biologisch-physische Paradigmen erkannt wer<strong>de</strong>n, <strong>die</strong> <strong>de</strong>n Menschen im<br />

S<strong>in</strong>ne positivistischer und empirisch-rationalistischer Wissenschaften erfassen wollen o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

wird <strong><strong>de</strong>r</strong> cartesianischen Lehre von <strong><strong>de</strong>r</strong> Trennung <strong>de</strong>s Körpers und Geistes gefolgt?<br />

Existiert <strong>die</strong> Möglichkeit zur <strong>in</strong>dividuellen, offenen Entwicklung o<strong><strong>de</strong>r</strong> wer<strong>de</strong>n Vorgaben<br />

im S<strong>in</strong>ne gesellschaftlichen „Sollens“ o<strong><strong>de</strong>r</strong> auch <strong>de</strong>s naturalistischen Fehlschlusses<br />

erkennbar?<br />

<strong>Von</strong> Interesse wird es auch se<strong>in</strong>, herauszuf<strong>in</strong><strong>de</strong>n, ob Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung e<strong>in</strong><br />

differieren<strong><strong>de</strong>r</strong> gesellschaftlicher Status zukommt, durch <strong>de</strong>n ihre Lebensberechtigung und<br />

Menschenwür<strong>de</strong> primär <strong>in</strong> Frage gestellt wird, aber auch Aussagen zu <strong>de</strong>n möglichen<br />

vertikalen Aufstiegsmöglichkeiten von Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung im jeweiligen<br />

Gesellschaftssystem. Diese Fragen sollen me<strong>in</strong> historisches Erkenntnis<strong>in</strong>teresse, vor allem<br />

im Bezug auf Aristoteles, Morus und Darw<strong>in</strong> ver<strong>de</strong>utlichen.<br />

Me<strong>in</strong> zweites Erkenntnis<strong>in</strong>teresse bezieht sich auf <strong>die</strong> Resultate <strong><strong>de</strong>r</strong> historischen Analyse.<br />

Diese wer<strong>de</strong>n h<strong>in</strong>sichtlich wan<strong>de</strong>ln<strong><strong>de</strong>r</strong> Vorstellungen über <strong>de</strong>n Menschen und was ihn<br />

ausmacht verglichen und für das 21. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t vergegenwärtigt.<br />

Hier steht <strong>die</strong> leiten<strong>de</strong> Frage, ob historische Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> aktuell i<strong>de</strong>ntifiziert wer<strong>de</strong>n<br />

können, wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um unter <strong><strong>de</strong>r</strong> beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en Berücksichtigung von Menschen mit<br />

Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung.<br />

„Aus unserer Sicht mehren sich <strong>die</strong> Anzeichen für e<strong>in</strong>en schleichen<strong>de</strong>n Neo-<br />

Sozialdarw<strong>in</strong>ismus <strong>in</strong> Form prä- und per<strong>in</strong>ataler physischer Selektion und postnataler<br />

ökonomischer Selektion (Kosten-Nutzen-Abwertung)“ 7 .<br />

Haben <strong>die</strong> von Speck aufgezeigten Gefahren eventuell e<strong>in</strong>e längere Tradition, <strong>die</strong> über das<br />

20. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t h<strong>in</strong>ausreichen? Der Übertrag <strong><strong>de</strong>r</strong> historischen Text<strong>in</strong>terpretation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

aktuellen Kontext stellt me<strong>in</strong> systematisches Erkenntnis<strong>in</strong>teresse dar.<br />

7 Speck 1991, S. 169<br />

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In <strong>die</strong>sem Zusammenhang weise ich darauf h<strong>in</strong>, dass mir <strong>die</strong> Schwierigkeit <strong>de</strong>s Begriffes<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> „Erkenntnis“ bewusst ist. Was be<strong>de</strong>utet Erkenntnis im Zusammenhang mit <strong>de</strong>m Thema<br />

<strong>die</strong>ser Arbeit? Es han<strong>de</strong>lt sich nicht um <strong>die</strong> klassisch-empirischen Gütekriterien <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Allgeme<strong>in</strong>gültigkeit, Objektivität und Reproduzierbarkeit. Diese Arbeit versteht sich als<br />

konstruktivistische Form <strong><strong>de</strong>r</strong> Erkenntnisgew<strong>in</strong>nung. Sie distanziert sich aber auch von<br />

e<strong>in</strong>er willkürlichen Form <strong><strong>de</strong>r</strong> geisteswissenschaftlichen Erkenntnis. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Darlegung<br />

me<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Vorgehensweise möchte ich <strong>de</strong>n Weg <strong><strong>de</strong>r</strong> persönlichen<br />

Erkenntnisgew<strong>in</strong>nung <strong>de</strong>m Leser transparent machen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Bewusstse<strong>in</strong>, dass me<strong>in</strong>e<br />

Ergebnisse als Spiegel me<strong>in</strong>er subjektiven Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Literatur zu<br />

verstehen s<strong>in</strong>d.<br />

Abschließend zusammengefasst stellen <strong>die</strong> drei genannten Motive (Aktualität, historisches<br />

und systematisches Interesse) subsumiert <strong>de</strong>n persönlichen, <strong>in</strong>tr<strong>in</strong>sischen Anreiz zur<br />

Themenwahl dar. Entsprechend <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>gangs geäußerten Verständnisses fasse ich <strong>die</strong><br />

e<strong>in</strong>zelnen Motive zur Motivation <strong>in</strong>sgesamt zusammen.<br />

2. Bezug <strong>de</strong>s Themas zur Schule für Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>te aus subjektiver Sicht<br />

In e<strong>in</strong>er psychologischen Untersuchung (1967 – 1970) hat Gerd Jansen <strong>die</strong> E<strong>in</strong>stellung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Gesellschaft zu Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung empirisch zu erfassen versucht.<br />

E<strong>in</strong>stellungen und Verhaltensmuster, <strong>die</strong> damals ermittelt wur<strong>de</strong>n, s<strong>in</strong>d aus subjektiver<br />

Sicht bis heute nicht überbrückt. Das Wissen e<strong>in</strong>er breiten Öffentlichkeit über <strong>die</strong> Situation<br />

von Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung ist durch zunehmen<strong>de</strong> Präsenz von Menschen mit<br />

Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung durchaus gewachsen, Aktions- und Handlungskomponenten, mit <strong>de</strong>nen <strong>die</strong><br />

Gesellschaft auf sie zugeht, me<strong>in</strong>es Erachtens kaum vorhan<strong>de</strong>n. Statt <strong>de</strong>ssen kann man<br />

Jansen immer noch zustimmen, wenn er von e<strong>in</strong>er Ten<strong>de</strong>nz schreibt, „[...] <strong>die</strong><br />

Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ten zu isolieren o<strong><strong>de</strong>r</strong> zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st e<strong>in</strong>er Begegnung mit ihnen aus <strong>de</strong>m Wege<br />

zu gehen“ 8 . Begrün<strong>de</strong>t sieht Jansen <strong>die</strong>s <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Sichtbarkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Bee<strong>in</strong>trächtigung, <strong>die</strong> für<br />

viele Menschen „abscheuerregend“ und „abstoßend“ 8 wirkt. Wenn es um <strong>die</strong> körperliche<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung als e<strong>in</strong> sichtbares Merkmal von Menschen geht, stimme ich <strong>de</strong>n<br />

Formulierungen Jansens zu, lehne sie aber als verallgeme<strong>in</strong>ern<strong>de</strong> Aussage für alle<br />

Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung ab. Die Heterogenität bezüglich Ersche<strong>in</strong>ungsbild und<br />

Auswirkung <strong><strong>de</strong>r</strong> Schädigung läßt universell formulierte Aussagen nicht zu o<strong><strong>de</strong>r</strong> erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

8 Jansen 1981, S. 138 – 139<br />

9 Speck 1996, S. 34<br />

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differenzierte Betrachtungsweisen. Menschen mit Neuro<strong><strong>de</strong>r</strong>mitis, <strong><strong>de</strong>r</strong> Zöliakie, Bluter, aber<br />

auch Aids und Krebskranke, <strong>die</strong> durchaus <strong>in</strong> <strong>die</strong> Bezeichnung <strong><strong>de</strong>r</strong> Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung zu<br />

fassen s<strong>in</strong>d, erfahren an<strong><strong>de</strong>r</strong>e gesellschaftliche Reaktionen als Menschen mit<br />

Cerebralparesen, Muskeldystrophien o<strong><strong>de</strong>r</strong> Sp<strong>in</strong>a Bifida.<br />

Schüler mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung erleben sowohl <strong>in</strong> <strong>in</strong>tegrativen als auch Son<strong><strong>de</strong>r</strong>schulen<br />

e<strong>in</strong>en gesellschaftlichen Schonraum, umgeben von Lehr-, Therapie- und Pflegepersonal,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong>en konstituieren<strong>de</strong>s Merkmal <strong>die</strong> freiwillige Teilnahme am Rehabilitationsprozeß ist.<br />

Trotz aller Integrationsbemühungen sehe ich durch fortschreiten<strong>de</strong> Ökonomisierung und<br />

Technologisierung, beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s für Menschen mit sichtbarer Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung, e<strong>in</strong>e<br />

manifestierte Ontologie. Ihre körperliche Bee<strong>in</strong>trächtigung kann und darf nicht negiert<br />

wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn es han<strong>de</strong>lt sich hierbei um gesellschaftliche und fachliche Realität. Soziale<br />

Diskreditierung erfolgt immer noch durch Vere<strong>in</strong>heitlichung <strong>de</strong>s Äußeren mit <strong>de</strong>m Wesen<br />

und <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur e<strong>in</strong>es Menschen. Hierbei wird Individualität übergangen. Durch <strong>die</strong><br />

Verhaltensmuster <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft wer<strong>de</strong>n Menschen mit sichtbarer Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>in</strong><br />

ihrer Außenseiterrolle verstärkt, im Extremfall erhalten sie <strong>de</strong>n Status biologischer<br />

Betriebsunfälle, beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s durch <strong>die</strong> hervorgebrachten Möglichkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Früherkennung<br />

von Schädigungen.<br />

Allgeme<strong>in</strong>e Aussagen zu <strong>de</strong>n Aussichten e<strong>in</strong>er umfassen<strong>de</strong>n Integration von Menschen mit<br />

Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung, <strong>de</strong>nen me<strong>in</strong>es Erachtens aus Sicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>tenpädagogik<br />

zuzustimmen ist, macht Otto Speck. Durch Än<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen <strong>in</strong>nerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft, durch<br />

<strong>die</strong> „Solidaritätswerte an Gültigkeit e<strong>in</strong>gebüßt haben“ 9 , sieht er <strong>die</strong> Möglichkeiten, <strong>de</strong>n<br />

heilpädagogischen Integrationsgedanken zu realisieren, begrenzt.<br />

Sobald im Klassenverbund <strong>die</strong> Schule als Schonraum verlassen wird, müssen<br />

Son<strong><strong>de</strong>r</strong>schullehrer/Innen fähig se<strong>in</strong>, konstruktiv und überzeugend <strong>in</strong> gesellschaftlichen<br />

Diskursen für <strong>die</strong> Gleichberechtigung ihrer Schüler e<strong>in</strong>zutreten. Dies können sie nur, wenn<br />

sie ihre eigenen Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> bewußt reflektiert haben und über gesellschaftliche,<br />

politisch-staatliche Entwicklungen, sowie mögliche i<strong>de</strong>ologische Kont<strong>in</strong>uitäten <strong>in</strong>formiert<br />

s<strong>in</strong>d. Diese Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung stellt sich aufgrund genannter Voraussetzungen beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s an <strong>die</strong><br />

Lehrkräfte <strong><strong>de</strong>r</strong> Schule für Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>te.<br />

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3. Methodologische Reflexion:<br />

„Methodologisch <strong>de</strong>nken be<strong>de</strong>utet: auf <strong>die</strong> vom Wissenschaftler verwen<strong>de</strong>ten Metho<strong>de</strong>n zu<br />

reflektieren“ 10 . Durch das Offenlegen <strong><strong>de</strong>r</strong> methodischen Vorgehensweise soll <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

fachwissenschaftliche Anspruch <strong>die</strong>ser Arbeit erörtert wer<strong>de</strong>n. Nach allgeme<strong>in</strong>en<br />

Ausführungen zur Hermeneutik erfolgt <strong>die</strong> Darlegung <strong><strong>de</strong>r</strong> konkreten Vorgehensweise zur<br />

Analyse <strong><strong>de</strong>r</strong> Texte. Ziel ist es, <strong>die</strong> Vorgehensweise zum Erlangen me<strong>in</strong>er Ergebnisse <strong>de</strong>m<br />

Leser transparent zu machen.<br />

Hierzu wer<strong>de</strong> ich <strong>die</strong> systematischen und spezifischen Fragen als Grundlage me<strong>in</strong>er<br />

hermeneutischen Textanalyse benennen.<br />

3.1 Zu <strong>de</strong>n Inhalten und Zielen <strong><strong>de</strong>r</strong> Hermeneutik<br />

Hans Georg Gadamer <strong>de</strong>f<strong>in</strong>iert Etymologie und Ziele <strong><strong>de</strong>r</strong> Hermeneutik. Sie „[...]ist <strong>die</strong><br />

Kunst <strong>de</strong>s ermeneue<strong>in</strong>, d.h. <strong>de</strong>s Verkün<strong>de</strong>ns, Dolmetschens, Erklärens und Auslegens.<br />

Hermes hieß <strong><strong>de</strong>r</strong> Götterbote, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>die</strong> Botschaften <strong><strong>de</strong>r</strong> Götter <strong>de</strong>n Sterblichen ausrichtet.<br />

Se<strong>in</strong> Verkün<strong>de</strong>n ist offenkundig ke<strong>in</strong> bloßes Mitteilen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n Erklären von göttlichen<br />

Befehlen, und zwar so, daß er <strong>die</strong>se <strong>in</strong> sterbliche Sprache und Verständlichkeit<br />

übersetzt“ 11 . Gadamers Def<strong>in</strong>ition zeigt bereits e<strong>in</strong> mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nes Verständnis von<br />

Hermeneutik: Er hat ihr ursprüngliches Anwendungsgebiet als Metho<strong>de</strong> zur re<strong>in</strong>en<br />

Textanalyse überwun<strong>de</strong>n. Es liegt e<strong>in</strong>e weite Auffassung <strong><strong>de</strong>r</strong> Nutzbarkeit hermeneutischer<br />

Metho<strong>de</strong>n vor. Dies schließt <strong>die</strong> Bearbeitung von Texten ebenso e<strong>in</strong>, wie <strong>die</strong> Anwendung<br />

auf e<strong>in</strong>e Vielzahl kultureller und gesellschaftlicher Ereignisse. Mit ihrer Hilfe können<br />

Bil<strong><strong>de</strong>r</strong>, menschliche Erfahrungsberichte, alltägliche Situationen und auch pädagogisches<br />

Han<strong>de</strong>ln <strong>in</strong>terpretiert wer<strong>de</strong>n. Trotz <strong><strong>de</strong>r</strong> Entwicklung zu e<strong>in</strong>er umfassen<strong>de</strong>n<br />

Interpretationsmetho<strong>de</strong> hat sich das zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong> Ziel hermeneutischer Analysen nicht<br />

verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t: Sie soll Inhalte, Aussagen, Me<strong>in</strong>ungen und S<strong>in</strong>ne hervorbr<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> bei<br />

oberflächlicher Betrachtung verborgen bleiben. Arbeitsgebiete hermeneutischer Analysen<br />

s<strong>in</strong>d vielfältig und zeigen ihre Interdiszipl<strong>in</strong>arität auf. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Psychologie, Psychoanalyse,<br />

Theologie, Kunst, Musik, Philosophie und Pädagogik f<strong>in</strong><strong>de</strong>n sie Anwendung. Als<br />

Strömung e<strong>in</strong>er geisteswissenschaftlichen Pädagogik geht <strong>die</strong> Hermeneutik auf Dilthey<br />

10 Klafki 1975, zitiert nach Rittelmeyer/Parmentier 2001, S.132<br />

11 Gadamer 1974, zitiert nach Rittelmeyer/Parmentier 2001, S.1<br />

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zurück, <strong><strong>de</strong>r</strong> sie im traditionellen S<strong>in</strong>ne als wissenschaftliche Metho<strong>de</strong> zur<br />

Text<strong>in</strong>terpretation entwickelt hatte.<br />

Die Hermeneutik besitzt ke<strong>in</strong>en Anspruch auf <strong>die</strong> Formulierung allgeme<strong>in</strong> gültiger und<br />

verb<strong>in</strong>dlicher Aussagen, <strong>de</strong>nn es bleibt festzuhalten, daß Gegenstän<strong>de</strong> und Handlungen<br />

unterschiedlich <strong>in</strong>terpretiert wer<strong>de</strong>n können, <strong>die</strong>s gilt vor allem bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Textanalyse.<br />

Die Lehre vom mehrfachen Schrifts<strong>in</strong>n wie sie Rittelmeyer und Parmentier am Beispiel<br />

mittelalterlicher Text<strong>in</strong>terpretationen aufzeigen, besitzt immer noch Gültigkeit. Hier<strong>in</strong><br />

kommt auch <strong>die</strong> Abgrenzung zu <strong>de</strong>n empirischen Naturwissenschaften zum Vorsche<strong>in</strong>,<br />

<strong>de</strong>nn <strong>die</strong> Hermeneutik erschließt ihren Forschungsgegenstand nicht über objektive<br />

Kausalitäten.<br />

Je differenzierter <strong>die</strong> Vorgehensweise zur Interpretation ist, je mehr Kontext<strong>in</strong>formationen<br />

h<strong>in</strong>zugezogen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>sto genauer und tiefgründiger s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Aussagen, <strong>die</strong> durch<br />

Hermeneutik getroffen wer<strong>de</strong>n können.<br />

Wolfgang Klafki hat elf Metho<strong>de</strong>n aufgezeigt 12 , mit <strong><strong>de</strong>r</strong>en Hilfe Texte wissenschaftlich<br />

untersucht und verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n können. Auf e<strong>in</strong>zelne Aspekte wird <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Darlegung<br />

me<strong>in</strong>er Vorgehensweise konkret e<strong>in</strong>gegangen. Zusammenfassen kann man Klafkis<br />

Metho<strong>de</strong>n als wissenschaftliche Erkenntnisschritte <strong><strong>de</strong>r</strong> Textanalyse und ihren Übertrag im<br />

S<strong>in</strong>ne <strong><strong>de</strong>r</strong> Etymologie von Hermeneutik. Ziel ist es, <strong>die</strong> Inhalte kultureller Ereignisse <strong>de</strong>m<br />

Leser verstehend zu übermitteln. Klafki betont <strong>die</strong> Wichtigkeit e<strong>in</strong>er ständigen Reflexion<br />

<strong>de</strong>s Interpreten bezüglich <strong><strong>de</strong>r</strong> bereits erarbeiteten E<strong>in</strong>zelelemente auf <strong>de</strong>n gesamten<br />

<strong>in</strong>haltlichen Zusammenhang. Geleistete Teil<strong>in</strong>terpretationen müssen immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auf e<strong>in</strong><br />

Ganzes überprüft wer<strong>de</strong>n, um <strong><strong>de</strong>r</strong> Gefahr, daß „[...] durch e<strong>in</strong>e unvorsichtige, unsensible,<br />

vielleicht sogar gewalttätige und ursurpatorische Interpretation <strong><strong>de</strong>r</strong> wesentliche Gehalt<br />

e<strong>in</strong>es Textes o<strong><strong>de</strong>r</strong> Bil<strong>de</strong>s zerstört wird“ 13 , entgegen wirken zu können.<br />

Persönliche Vorannahmen und <strong><strong>de</strong>r</strong> Analyse vorangehen<strong>de</strong> Arbeitshypothesen müssen<br />

ebenfalls regelmäßig auf <strong>in</strong>haltliche Kompatibilität mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Literatur überprüft wer<strong>de</strong>n, um<br />

sie bei Bedarf zu korrigieren. Der Forschungsgegenstand kann nicht geradl<strong>in</strong>ig von e<strong>in</strong>em<br />

bestimmten Vorverständnis her erschlossen wer<strong>de</strong>n, statt <strong>de</strong>ssen ist e<strong>in</strong>e langsame<br />

Annäherung unter Berücksichtigung aller Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>heiten <strong>de</strong>s Textes e<strong>in</strong>schließlich<br />

Semantik und Syntax unumgänglich.<br />

E<strong>in</strong>e anspruchsvolle hermeneutische Analyse formuliert Ergebnisse nicht nach e<strong>in</strong>maliger<br />

Bearbeitung <strong>de</strong>s Textes son<strong><strong>de</strong>r</strong>n ist Ausdruck e<strong>in</strong>es Verstehensprozesses, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>m Leser<br />

12 Vgl. Klafki 1975, im Folgen<strong>de</strong>n zitiert nach Rittelmeyer/Parmentier 2001, S. 136 ff<br />

13 ebd. 2001, S. 2 – 3<br />

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zugänglich gemacht wird. Die kont<strong>in</strong>uierlich ablaufen<strong>de</strong>n Reflexionen e<strong>in</strong>zelner Elemente<br />

auf <strong>de</strong>n Gesamtgegenstand wer<strong>de</strong>n als hermeneutischer Zirkel bezeichnet. Klafki h<strong>in</strong>gegen<br />

favorisiert <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er zehnten Grun<strong><strong>de</strong>r</strong>kenntnis <strong>de</strong>n Begriff hermeneutische Spirale, um das<br />

Voranschreiten e<strong>in</strong>er Textanalyse zu betonen.<br />

3.2 Zur pädagogischen Hermeneutik <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeit<br />

Gegenstand pädagogischer Hermeneutik s<strong>in</strong>d Objekte, <strong>de</strong>nen e<strong>in</strong>e Relevanz aufgrund ihrer<br />

pädagogischen Gehalte zukommt. Sie reichen von historischen Schriftstücken, bis zur<br />

Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit Subkulturen <strong>in</strong> Jugendgruppen.<br />

Innerhalb pädagogischer Hermeneutik können verschie<strong>de</strong>ne Ansatzpunkte zur Erarbeitung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> pädagogischen Aussagen verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. Erwähnt seien hier <strong>die</strong> strukturalen,<br />

kontextuellen, mimetischen und experimentelle Interpretationstechniken. Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />

Be<strong>de</strong>utung erlangt <strong>die</strong> komparative Technik, da sie <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Arbeit angewen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>, um<br />

e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>haltlichen Vergleich me<strong>in</strong>er ausgewählten Literaturen zu ermöglichen.<br />

„Text<strong>in</strong>terpretation erfolgt immer unter bestimmten Fragestellungen, und <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Fragestellung drückt sich e<strong>in</strong> bestimmtes Vorverständnis <strong>de</strong>s zu untersuchen<strong>de</strong>n<br />

Zusammenhangs auf“ 14 .<br />

Dies ist <strong>die</strong> erste Grun<strong><strong>de</strong>r</strong>kenntnis Klafkis zur hermeneutischen Analyse, <strong>de</strong>ssen Beachtung<br />

ich aufzeigen will. Es wur<strong>de</strong>n zwei Frageblöcke erstellt, <strong><strong>de</strong>r</strong>en genauer Wortlaut <strong>de</strong>m<br />

beigefügten Anhang entnommen wer<strong>de</strong>n kann, im Weiteren wer<strong>de</strong>n <strong>die</strong> übergeordneten<br />

Ziele aufgezeigt.<br />

In e<strong>in</strong>em ersten Block sollen systematische Fragen <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen analysieren, unter<br />

<strong>de</strong>nen e<strong>in</strong> Text vom Autor verfaßt wur<strong>de</strong>, es geht hierbei um gesellschaftlich- politische<br />

Aspekte <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit und ihrer möglichen Bee<strong>in</strong>flussung auf <strong>de</strong>n Verfasser. War se<strong>in</strong> Werk<br />

bestimmt durch I<strong>de</strong>ologien, <strong>die</strong> künstlerische, aber auch kritische Freiheiten e<strong>in</strong>gegrenzten,<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> entzieht sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Verfasser bewußt e<strong>in</strong>er persönlichen Positionierung? Durch<br />

systematische Fragen soll <strong><strong>de</strong>r</strong> elften Grun<strong><strong>de</strong>r</strong>kenntnis entsprochen wer<strong>de</strong>n, Klafki spricht<br />

hier zusammenfassend von „[...] <strong>de</strong>m Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Lage<br />

und Bewußtse<strong>in</strong>“ 15 . Darüber h<strong>in</strong>aus wird es auch von Be<strong>de</strong>utung se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Zielgruppen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Autoren zu ermitteln. Wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Text für gesellschaftliche Eliten formuliert o<strong><strong>de</strong>r</strong> wen<strong>de</strong>t<br />

er sich an <strong>die</strong> Gesamtheit e<strong>in</strong>es Volkes? Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> pädagogischen Hermeneutik vermischt<br />

sich <strong>die</strong> elfte mit <strong><strong>de</strong>r</strong> fünften Grun<strong><strong>de</strong>r</strong>kenntnis, hierbei geht es bei Klafki um konkrete<br />

14 ebd. 2001, S. 134<br />

15 ebd. 2001, S. 147<br />

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Stellungnahmen <strong>de</strong>s Autors <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Kontroverse. Die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen unter<br />

<strong>de</strong>nen e<strong>in</strong> Werk verfaßt wur<strong>de</strong>, können e<strong>in</strong><strong>de</strong>utige Stellungnahmen verh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>n. E<strong>in</strong>e klare<br />

Trennung bei<strong><strong>de</strong>r</strong> Erkenntnisschritte sche<strong>in</strong>t mir <strong>de</strong>shalb problematisch zu se<strong>in</strong>.<br />

Hauptmotive und Kernaussagen zu erlangen s<strong>in</strong>d das Ziel hermeneutischer Analysen, <strong>die</strong>se<br />

gilt es kritisch zu h<strong>in</strong>terfragen. Die Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit <strong>de</strong>n Strukturen <strong><strong>de</strong>r</strong> Argumente<br />

stellt bei Klafki <strong>die</strong> neunte Grun<strong><strong>de</strong>r</strong>kenntnis dar, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> er kritische Distanz gegenüber <strong>de</strong>m<br />

Autor for<strong><strong>de</strong>r</strong>t. „Er muß pr<strong>in</strong>zipiell unterstellen, daß <strong>de</strong>m Autor logische Fehler unterlaufen<br />

se<strong>in</strong> können“ 16 .<br />

Die Quellenkritik ist bei <strong>de</strong>n ausgesuchten Werken e<strong>in</strong> wesentlicher Faktor. Bei <strong>de</strong>n<br />

Texten von Aristoteles, Morus und Darw<strong>in</strong> wer<strong>de</strong> ich nicht auf Orig<strong>in</strong>alschriftstücke<br />

zurückgreifen können. Der Analyse vorweg steht <strong>die</strong> For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung e<strong>in</strong>er sorgfältigen Prüfung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> vorliegen<strong>de</strong>n Ausgaben mit Hilfe zusätzlicher Sekundärliteratur bezüglich <strong>in</strong>haltlicher<br />

Authentizität zum Orig<strong>in</strong>al.<br />

Durch Formulierung spezifischer Fragen ist <strong>die</strong> wesentliche Intention, <strong>die</strong> vom Autor<br />

aufgezeigten Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> aus <strong>de</strong>n Texten zu explizieren. Darauf entfällt e<strong>in</strong>e<br />

immanente Be<strong>de</strong>utung, <strong>de</strong>nn über <strong>die</strong> Zugangsweisen <strong><strong>de</strong>r</strong> Autoren, zu <strong>de</strong>m was Menschen<br />

ausmacht, wer<strong>de</strong>n weitere Ergebnisse <strong>in</strong>terpretiert. Damit <strong>die</strong> Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Autoren<br />

möglichst genau expliziert wer<strong>de</strong>n, wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> entsprechen<strong>de</strong> Fragenkomplex <strong>de</strong>tailliert<br />

aufgeglie<strong><strong>de</strong>r</strong>t, um im Anschluß <strong>in</strong>terpretatorische Rückschlüsse auf <strong>die</strong> Ethik <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit<br />

leisten zu können.<br />

Die Vorannahmen für <strong>die</strong>se Arbeit betreffen persönliche E<strong>in</strong>stellungen, Denkweisen und<br />

Def<strong>in</strong>itionen bezüglich Anthropologie und Ethik sowie Erwartungen und Vorwissen<br />

bezüglich <strong><strong>de</strong>r</strong> Autoren, aber auch eigenständige Stellungnahmen zu Lebensrechten. Dies ist<br />

beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s wichtig, weil e<strong>in</strong> Teil <strong>de</strong>s systematischen Übertrags <strong>de</strong>n Vergleich <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

historischen Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegenwart be<strong>in</strong>haltet. Hierbei ist es <strong>die</strong> leiten<strong>de</strong><br />

Frage, ob <strong>die</strong> Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>n historischen Werken von Aristoteles, Morus und<br />

Darw<strong>in</strong> geeignet s<strong>in</strong>d, <strong>de</strong>n aktuellen ökonomischen Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong>n standhaft<br />

gegenübertreten zu können. Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Beantwortung <strong>die</strong>ser Frage fließen <strong>die</strong> persönlichen<br />

E<strong>in</strong>stellungen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Bewertung e<strong>in</strong>. Es stellt e<strong>in</strong>en Unterschied dar, ob ich e<strong>in</strong>em<br />

philosophisch-spekulativen Paradigma nachgehe und <strong>die</strong> unaufhebbare Gleichheit aller<br />

Menschen propagiere o<strong><strong>de</strong>r</strong> streng empirisch-analytisch bestimmte, zuvor festgelegte Werte<br />

16 ebd. 2001, S. 144<br />

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e<strong>in</strong>es Menschen beurteile. Der persönliche Standpunkt zu <strong>de</strong>m Thema me<strong>in</strong>er Arbeit wird<br />

<strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit <strong>de</strong>n leiten<strong>de</strong>n Begriffen <strong>de</strong>utlich wer<strong>de</strong>n.<br />

4. Exkurs zur Dekonstruktion von Texten<br />

Über <strong>die</strong> Kommunikation und das breite Spektrum von Me<strong>die</strong>n erschließt sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch<br />

se<strong>in</strong> persönliches Wissen über <strong>die</strong> Welt. Ausgehend davon, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Zugang zur Welt auch<br />

über Texte erfolgen kann, entwickelte sich <strong>die</strong> Hermeneutik. Ihr geht es um das lesen,<br />

auslegen und verstehen von Texten. Die Dekonstruktion ist e<strong>in</strong>e Erweiterung <strong>de</strong>s<br />

hermeneutischen Verfahrens und geht auf <strong>de</strong>n französischen Philosophen Jacques Derrida<br />

zurück. Der wissenschaftliche Ansatz <strong><strong>de</strong>r</strong> Dekonstruktion ist <strong>de</strong>m Konstruktivismus<br />

entsprungen und wur<strong>de</strong> durch amerikanische Literaten <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 70er Jahren zum „Neuen<br />

Konstruktivismus“ weiterentwickelt. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Dekonstruktion geht es vere<strong>in</strong>facht um <strong>die</strong><br />

Lösung folgen<strong><strong>de</strong>r</strong> Frage: Wie kann e<strong>in</strong> wissenschaftlicher Text sich von erdachten und<br />

fiktiven Inhalten differenzieren?<br />

Es geht hierbei um <strong>die</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit Erkenntnis und Wirklichkeit. Spiegelt<br />

wissenschaftliche Erkenntnis <strong>die</strong> Realität wie<strong><strong>de</strong>r</strong>? Der Konstruktivismus folgt <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Annahme, daß e<strong>in</strong> Vorstellungsraum durch kognitive Operationen <strong><strong>de</strong>r</strong> Wissenschaftler<br />

entsteht und <strong>die</strong>se, ihre Beobachtungen lediglich aus <strong>de</strong>m selbsterzeugten Raum<br />

systematisch und wissenschaftlich wie<strong><strong>de</strong>r</strong>geben. Bei Texten han<strong>de</strong>lt es sich im<br />

kostruktivistischer Vorstellung um S<strong>in</strong>nfiguren, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>en Anhaltspunkt für e<strong>in</strong>en<br />

konkreten Realitätsbezug bieten. Die Dekonstruktion versucht, <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit von<br />

S<strong>in</strong>nstrukturen anzugreifen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m <strong>die</strong>se als künstlich erzeugte E<strong>in</strong>heiten angesehen<br />

wer<strong>de</strong>n. Durch <strong>die</strong> Dekonstruktion von Texten soll aufgezeigt wer<strong>de</strong>n, daß <strong>die</strong><br />

enthalten<strong>de</strong>n S<strong>in</strong>nfiguren nicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Realität son<strong><strong>de</strong>r</strong>n aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Architektur <strong>de</strong>s<br />

wissenschaftlichen Vorstellungsraums entspr<strong>in</strong>gen. In <strong>die</strong>sem Verständnis erreicht auch<br />

<strong>die</strong> empirische Wissenschaft ke<strong>in</strong>en Zugang zum ontologischen und kosmischen Se<strong>in</strong>.<br />

Dementsprechend kommen auch <strong>in</strong> wissenschaftlichen Texten ausschließlich Symbole für,<br />

aber niemals Elemente <strong><strong>de</strong>r</strong> Realität vor.<br />

Der Konstruktivismus und <strong>in</strong> ihm <strong>die</strong> Dekonstruktion von Texten gelangen zur<br />

Feststellung, daß auch <strong>die</strong> Wissenschaft e<strong>in</strong>e reale Existenz von Objekten <strong>in</strong> ihren Texten<br />

nicht vali<strong>de</strong> begrün<strong>de</strong>n kann. Alle wissenschaftlichen Deutungen s<strong>in</strong>d bee<strong>in</strong>flußt durch<br />

Vorstellungswelten <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft. E<strong>in</strong>en Ansatz zur Problemlösung sieht <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Konstruktivismus <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Verknüpfung von Realraum und gesellschaftlichem<br />

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Vorstellungsraum und somit müssen auch wissenschaftliche Texte <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen zirkulieren<strong>de</strong>n<br />

Raum <strong>in</strong>tegriert wer<strong>de</strong>n. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Praxis <strong><strong>de</strong>r</strong> Textanalyse müssen <strong>die</strong> als wissenschaftlich<br />

gekennzeichneten Erkenntnisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em größeren, makrokosmischen Zusammenhang<br />

<strong>in</strong>terpretiert wer<strong>de</strong>n. Der E<strong>in</strong>fluß gesellschaftlicher Vorstellungen auf <strong>die</strong><br />

wissenschaftlichen Ergebnisse muß herausgestellt wer<strong>de</strong>n, um anschließend <strong>die</strong> Stabilität<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> dargestellten Erforschungen zu überprüfen. Durch das Pr<strong>in</strong>zip <strong><strong>de</strong>r</strong> Dekonstruktion<br />

können solche Ergebnisse, <strong>die</strong> wissenschaftlichen Anspruch aufweisen, <strong>in</strong> ihrer E<strong>in</strong>heit<br />

<strong>de</strong>konstruiert wer<strong>de</strong>n.<br />

5. Zur Darstellung <strong><strong>de</strong>r</strong> Begriffe „Anthropologie“ und „Ethik“ <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

wissenschaftlichen Literatur<br />

Bereits im Vorfeld hermeneutischer Textanalyse müssen Fremdwörter erläutert wer<strong>de</strong>n.<br />

Anthropologie und Ethik als zentrale Begriffe <strong>die</strong>ser Arbeit können nicht als bekannt<br />

vorausgesetzt wer<strong>de</strong>n. Die Differenzierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Anthropologie <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zeldiszipl<strong>in</strong>en wird <strong>in</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Literatur e<strong>in</strong>heitlich vermittelt, bei <strong>de</strong>n Zugangsweisen und Zielen ergeben sich<br />

Differenzen. Bezüglich <strong><strong>de</strong>r</strong> Verarbeitung <strong>de</strong>s Dualismus Leib-Seele liegen ebenfalls<br />

unterschiedliche Positionen vor.<br />

Auch bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Ethik ergeben sich Unterschie<strong>de</strong> und Parallelen <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> wissenschaftlichen<br />

Reflexion. Die Begründung ethischer Normen variiert ebenso wie <strong>die</strong> kaum zu<br />

überschauen<strong>de</strong> Vielzahl ethischer Aufgaben und Ziele, <strong>die</strong> von e<strong>in</strong>er traditionell<br />

christlichen bis zur heutigen Bioethik reichen. E<strong>in</strong>e vollständige Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>gabe bei<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Begriffe ist <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Rahmen nicht möglich, so daß <strong>die</strong> Ausführungen <strong>in</strong>sofern reduziert<br />

wer<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>m Leser e<strong>in</strong> notwendiges Basiswissen zu vermitteln.<br />

5.1 Zur Anthropologie<br />

Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Kant formulierte <strong>die</strong>se<br />

Fragen, <strong>de</strong>nen er, bei <strong>de</strong>m Versuch menschliche Vernunft <strong>de</strong>f<strong>in</strong>ierbar zu machen,<br />

nachg<strong>in</strong>g. Später ergänzte er e<strong>in</strong>e vierte Frage, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>die</strong> vorherigen Fragen e<strong>in</strong>fließen:<br />

Was ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch?<br />

Dies ist <strong>die</strong> Ausgangsfrage <strong><strong>de</strong>r</strong> Anthropologie, <strong>die</strong> sich als Lehre vom Menschen <strong>in</strong><br />

verschie<strong>de</strong>ne Diszipl<strong>in</strong>en teilt und <strong><strong>de</strong>r</strong>en Ziel es ist, menschliches Wesen zu erfassen.<br />

Abhängig von ihren wissenschaftlichen Zugangsweisen entwirft <strong>die</strong> Anthropologie<br />

unterschiedliche Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong>die</strong> Frage, ob es sich hierbei lediglich um Spezifika o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

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umfassen<strong>de</strong> menschliche Deutungen han<strong>de</strong>lt, wird Bestandteil <strong>die</strong>ses Kapitels se<strong>in</strong>.<br />

Zur Beantwortung <strong><strong>de</strong>r</strong> anthropologischen Frage liefern E<strong>in</strong>zelwissenschaften<br />

(Biologie, Mediz<strong>in</strong>, Psychologie, Erziehungswissenschaft etc.) Ergebnisse, <strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Zustan<strong>de</strong>kommen aus unterschiedlichen Wissenschaftsmetho<strong>de</strong>n resultieren. Mit<br />

wissenschaftlichen Metho<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n <strong>die</strong> Denkansätze benannt, von <strong>de</strong>nen aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch<br />

erfaßt wer<strong>de</strong>n soll, synonym kann <strong><strong>de</strong>r</strong> Begriff Paradigma verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n.<br />

Die Erläuterung <strong><strong>de</strong>r</strong> Paradigmen und ihrer Auswirkungen kann e<strong>in</strong>e grobe<br />

Gegenüberstellung empirischer und philosophischer Zugangsweisen ver<strong>de</strong>utlichen.<br />

Die Naturwissenschaften als Vertreter <strong><strong>de</strong>r</strong> empirischen Denkweise wollen <strong>de</strong>n Menschen<br />

über se<strong>in</strong>e biologisch-physische Hülle erfassen. Anthropologie be<strong>de</strong>utet hierbei e<strong>in</strong>e Lehre<br />

vom Menschen, <strong>die</strong> an <strong>in</strong>tersubjektiv verifizierbaren Ergebnissen orientiert ist und für sich<br />

<strong>in</strong> Anspruch nimmt, e<strong>in</strong>e wertfreie Wissenschaft zu se<strong>in</strong>. Sie will über Fakten <strong>de</strong>f<strong>in</strong>itive<br />

Erkenntnisse, <strong>in</strong> Form generalisieren<strong><strong>de</strong>r</strong> Gesetzmäßigkeiten erreichen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Bestimmung <strong>de</strong>s Menschen ermöglichen sollen. E<strong>in</strong>e Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>s Menschen ist<br />

hierbei immer auf e<strong>in</strong>e kausale Ursache zurückzuführen, beachtet aber nicht <strong>die</strong><br />

vielfältigen Erschwerungen auf <strong>de</strong>n unterschiedlichen Ebenen <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen<br />

Vollzugsweise. Kritisiert wird <strong>die</strong> Empirie dah<strong>in</strong>gehend, daß sie noch nicht ausreichend<br />

erklärt habe, wie das E<strong>in</strong>wirken <strong><strong>de</strong>r</strong> Subjektivität und damit e<strong>in</strong>e Wertung bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Analyse<br />

empirisch gewonnener Daten mit <strong><strong>de</strong>r</strong> postulierten Wertfreiheit vere<strong>in</strong>bar ist. Der<br />

Konstruktivismus, <strong><strong>de</strong>r</strong> im systemtheoretischen Denkansatz e<strong>in</strong>e entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielt,<br />

geht bei <strong>de</strong>m Prozeß e<strong>in</strong>er Erkenntnisgew<strong>in</strong>nung nicht ausschließlich von kont<strong>in</strong>uierlicher<br />

und zielgerichteter Entwicklung aus son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch von <strong>de</strong>m E<strong>in</strong>fluß impliziter und nicht<br />

bewußter Wahrnehmung, <strong>die</strong> als solche e<strong>in</strong>e unreflektierte, aber vorhan<strong>de</strong>ne und im<br />

Wesentlichen wertgeleitete Wahrnehmung darstellt. Klafki sieht bereits <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Bildung<br />

empirisch geleisteter Arbeitshypothesen e<strong>in</strong>e subjektive Wertung.<br />

Philosophisch-spekulative Deutungen markieren e<strong>in</strong>e Gegenposition zur Empirie. Scheuerl<br />

spricht davon, <strong>de</strong>n Menschen im „[...] Verhältnis zur Zeit, zur Geschichte, o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Leiblichkeit, se<strong>in</strong>er Sprachlichkeit, se<strong>in</strong>en Stimmungen und Grenzerfahrungen <strong>in</strong><br />

Situationen <strong><strong>de</strong>r</strong> Krankheit und Krisen o<strong><strong>de</strong>r</strong> angesichts <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s“ 17 zu erfassen. Es wer<strong>de</strong>n<br />

Aussagen über <strong>de</strong>n Menschen getroffen, <strong>die</strong> nicht anhand von Zahlen und Fakten<br />

überprüfbar, damit nicht <strong>in</strong>tersubjektiv und <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>är analytisch nachvollziehbar s<strong>in</strong>d<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n durch e<strong>in</strong> hohes Maß an persönlicher Subjektivität geprägt wer<strong>de</strong>n, was <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

philosophischen Anthropologie, vor allem seitens <strong><strong>de</strong>r</strong> Empirie, <strong>de</strong>n Vorwurf e<strong>in</strong>er<br />

17 Scheuerl 1982, S. 10<br />

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verschwommen Wissenschaft e<strong>in</strong>brachte, und ihr Status als wissenschaftliches<br />

Aussagesystem grundsätzlich <strong>in</strong> Frage gestellt wur<strong>de</strong>. Aber sie reduziert <strong>de</strong>n Menschen<br />

nicht auf das mediz<strong>in</strong>isch diagnostizierbare son<strong><strong>de</strong>r</strong>n betrachte ihn <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er ganzheitlichen<br />

ökologischen Verbun<strong>de</strong>nheit.<br />

Zusammenfassend kann festgehalten wer<strong>de</strong>n, daß naturwissenschaftliche Anthropologie<br />

über empirische Forschungsansätze das Wesen <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen analysieren will, ambivalent<br />

dazu, <strong>die</strong> philosophische Anthropologie ihre Zugangsweisen <strong>in</strong> spekulativen, subjektiven<br />

und heterogenen Interpretationsmöglichkeiten besitzt.<br />

Neben <strong>de</strong>n bisher genannten Beispielen philosophischer und naturwissenschaftlicher<br />

Anthropologie kommt auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Sozialanthropologie, <strong>die</strong> nicht zweifelsfrei <strong><strong>de</strong>r</strong> Empirie<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> Philosophie zugeteilt wer<strong>de</strong>n kann, Be<strong>de</strong>utung zu. Sie erforscht E<strong>in</strong>fluß und Wirkung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft auf Entwicklung und Verhalten von Individuen.<br />

Erkenntnisleiten<strong>de</strong> Frage ist das Verhältnis <strong>in</strong>dividueller Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen zu<br />

gesellschaftlichen Prozessen. Han<strong>de</strong>lt es sich um Kongruenz o<strong><strong>de</strong>r</strong> Inkongruenz? Wird<br />

<strong>in</strong>terkulturell, also durch Vergleich <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong>dividuellen o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Entwicklung e<strong>in</strong>er ganzen<br />

Gesellschaft <strong>in</strong> unterschiedlichen Kulturen geforscht, spricht man von e<strong>in</strong>er<br />

Kulturanthropologie.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> obigen Def<strong>in</strong>ition Scheuerls kommt bereits e<strong>in</strong> Aspekt zum Vorsche<strong>in</strong>, <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>e an<br />

empirische Ergebnisse abzielen<strong>de</strong> Zugangsweise kaum gerecht wer<strong>de</strong>n kann, <strong>die</strong> Leib-<br />

Seele Dualität aller Menschen. Der Materialismus umgeht und entzieht sich <strong>die</strong>ser<br />

Problematik, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m <strong>die</strong> Dualität negiert und <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch als physisch-psychische E<strong>in</strong>heit<br />

galt, <strong><strong>de</strong>r</strong> Geist war „Eigenschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> Materie“ 18 . Otto Casmann stieß bereits 1596 <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Werk „Psychologica anthropologica“ auf das Problem menschlicher Doppelnatur,<br />

welches sich als roter Fa<strong>de</strong>n durch <strong>die</strong> geschichtliche Entwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong> Anthropologie<br />

zieht.<br />

Es ist das Verhältnis zwischen <strong>de</strong>m Körper als äußere, sichtbare E<strong>in</strong>heit und <strong>de</strong>m Inneren<br />

<strong>de</strong>s Menschen als unfaßbares und we<strong><strong>de</strong>r</strong> qualitativ noch quantitativ zu bestimmen<strong>de</strong>s<br />

Axiom.<br />

Nur durch <strong>die</strong> Verknüpfung empirischer und spekulativ-philosophischer Metho<strong>de</strong>n sieht<br />

Scheuerl e<strong>in</strong>e Möglichkeit, <strong><strong>de</strong>r</strong> Doppelnatur gerecht zu wer<strong>de</strong>n. „Anthropologie ist von<br />

Anbeg<strong>in</strong>n sowohl empirisch beobachten<strong>de</strong> E<strong>in</strong>zelforschung als auch spekulative,<br />

18 Leontjew, zitiert nach Speck 1991, S. 172<br />

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philosophische Deutung ontologischer Grundannahmen und <strong>in</strong>trospektiver<br />

Erfahrungen“ 19 .<br />

In <strong>die</strong> selbe Richtung argumentiert Otto Speck. Er weist auf <strong>die</strong> Wichtigkeit e<strong>in</strong>er Synopse<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> E<strong>in</strong>zelwissenschaften h<strong>in</strong> und for<strong><strong>de</strong>r</strong>t <strong>die</strong> <strong>in</strong>tegrale Anthropologie zur Konstruktion<br />

e<strong>in</strong>er Leitvorstellung vom Menschen, warnt jedoch dr<strong>in</strong>glich vor <strong>de</strong>m Entwurf<br />

szientistischer Mo<strong>de</strong>lle, <strong>die</strong> auf Steigerung <strong><strong>de</strong>r</strong> Lebensqualität abzielen. In <strong>die</strong>sen sieht er<br />

Gefahren für Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung, <strong>die</strong> aktuell <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Begriffen „Sozialhygiene“,<br />

„Eugenik“ und „ökonomische Therapie“ 20 zum Ausdruck kommen. Zusammenfassen<br />

kann man Specks Aussagen zur Anthropologie als das Ziel e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>heitlichen Vorstellung<br />

vom Menschen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>heiten, zum Beispiel Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ungen, aufgehen, aber<br />

lediglich als e<strong>in</strong> mögliches Merkmal menschlicher Existenz ke<strong>in</strong>esfalls zur E<strong>in</strong>buße an<br />

Grundrechten führen dürften.<br />

E<strong>in</strong>e heilpädagogisch-praxisorientierte Begründung zur Ablehnung empirisch entstan<strong>de</strong>ner<br />

Anthropologien liefern Mattner und Gerspach am Beispiel von „nicht- sprachlichen S<strong>in</strong>n -<br />

Momenten“ 21 , wie sie auch an <strong>de</strong>n Schulen für Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung<br />

vorkommen.<br />

Die Bereitschaft e<strong>in</strong>er S<strong>in</strong>n - Verstehen<strong>de</strong>n Interaktion mit Menschen, <strong>die</strong> aufgrund e<strong>in</strong>er<br />

Schädigung bee<strong>in</strong>trächtigt <strong>in</strong> Sprache (Aphasie), beziehungsweise sprechen (Dysarthrie,<br />

Anarthrie) s<strong>in</strong>d, kann nur e<strong>in</strong>er philosophisch-spekulativen Anthropologie entstammen.<br />

Denn hierbei wird <strong>de</strong>n Äußerungen betroffener Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Verhältnis<br />

gegenseitigen Vertrauens, e<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>naussage zuerkannt. Im Gegensatz zur Empirie wer<strong>de</strong>n<br />

<strong>die</strong> Menschen und ihre Äußerungen nicht reduziert, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m ihre Mitteilungen als<br />

<strong>in</strong>dividuell und nicht e<strong>in</strong><strong>de</strong>utig wissenschaftlich <strong>in</strong>terpretierbare Laute analysiert wer<strong>de</strong>n.<br />

E<strong>in</strong>er <strong><strong>de</strong>r</strong> wichtigsten Autoren zur Anthropologie ist Arnold Gehlen, aus <strong>de</strong>ssen Werk „Der<br />

Mensch. Se<strong>in</strong>e Natur und se<strong>in</strong>e Stellung <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt“ häufig zitiert wird. Die<br />

Notwendigkeit „e<strong>in</strong>er Deutung <strong>de</strong>s eigenen menschlichen Dase<strong>in</strong>s“ 22 begrün<strong>de</strong>t er <strong>in</strong> <strong>de</strong>m<br />

Zusammenhang zwischen eigener Wahrnehmung und Verhaltensmustern gegenüber<br />

Dritten. Es ist <strong>die</strong> subjektive Selbstwahrnehmung und damit das, wofür man sich selber<br />

hält, wodurch je<strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesamtheit se<strong>in</strong>es Verhaltens zu An<strong><strong>de</strong>r</strong>en bee<strong>in</strong>flußt<br />

wird. Gehlen vertritt e<strong>in</strong>en vergleichbaren Standpunkt wie Otto Speck, for<strong><strong>de</strong>r</strong>t jedoch nicht<br />

19 Scheuerl 1982, S. 9<br />

20 Speck 1996, S. 135 ff<br />

21 Mattner/Gerspach 1997, S.117 ff<br />

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das Zusammentragen wissenschaftlicher E<strong>in</strong>zelergebnisse im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tegralen<br />

Anthropologie son<strong><strong>de</strong>r</strong>n e<strong>in</strong>en Forschungsversuch zur Erfassung <strong>de</strong>s Menschen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m<br />

E<strong>in</strong>zelwissenschaften von e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen Ansatzpunkt ausgehen und zu e<strong>in</strong>er<br />

anthropologischen Wissenschaft verschmelzen. Wie e<strong>in</strong> solcher Ansatzpunkt vor <strong>de</strong>m<br />

H<strong>in</strong>tergrund <strong><strong>de</strong>r</strong> unterschiedlichen wissenschaftlichen Denkansätze auszusehen hat, läßt er<br />

jedoch offen. Es ersche<strong>in</strong>t mir fraglich, ob angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> Pardigmenkonkurrenz e<strong>in</strong><br />

solches Vorhaben realisierbar ist. Auch Gehlen sieht <strong>die</strong> Problematik <strong><strong>de</strong>r</strong> Anthropologie <strong>in</strong><br />

<strong>de</strong>m Ziel <strong><strong>de</strong>r</strong> ganzheitlichen Erfassung <strong>de</strong>s Menschen. Das Scheitern <strong>de</strong>s<br />

anthropologischen Anspruches sieht er ebenfalls verursacht durch <strong>die</strong> Leib-Seele Dualität<br />

und Anthropologie kann se<strong>in</strong>es Erachtens, konform zu bisher genannten Autoren, nicht<br />

mehr als E<strong>in</strong>zelmerkmale benennen.<br />

Obwohl er se<strong>in</strong> Buch auch als e<strong>in</strong>e philosophische Schrift sieht, ordnet sich Arnold Gehlen<br />

zweifelsfrei <strong>de</strong>n positivistisch-rationalen Wissenschaften zu.<br />

„Sie (Anmerkung: Die Schrift) hält sich sorgfältig im Umkreis <strong><strong>de</strong>r</strong> Erfahrungen, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Analyse von Tatsachen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Vollzügen, <strong>die</strong> je<strong><strong>de</strong>r</strong>mann erreichbar o<strong><strong>de</strong>r</strong> für je<strong><strong>de</strong>r</strong>mann<br />

nachvollziehbar s<strong>in</strong>d. Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> heutzutage erreichbaren Stromstärke <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Reflexionsbeleuchtung haben metaphysische Aussagen e<strong>in</strong>e nur sehr bed<strong>in</strong>gte<br />

Überzeugungskraft und vor allem wenige, echte, motivbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> und <strong>die</strong> Handlungen realer<br />

Menschen bestimmen<strong>de</strong> Macht“ 23 .<br />

In Bezug auf <strong>die</strong> Erziehung von Menschen mit schwerster Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung weist beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s<br />

Fornefeld auf „[...] <strong>die</strong> Notwendigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Verknüpfung anthropologischer und<br />

naturwissenschaftlicher Erkenntnisse...“ 24 h<strong>in</strong>. Hiermit me<strong>in</strong>t sie <strong>die</strong> Komb<strong>in</strong>ation geistesund<br />

naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, <strong>die</strong> ihre gegenseitige Polarität überw<strong>in</strong><strong>de</strong>n<br />

müssen und statt <strong>de</strong>ssen verstärkt <strong>die</strong> Möglichkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Entwicklung, gera<strong>de</strong> von<br />

Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung, <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Fokus ihrer Bemühungen nehmen sollten.<br />

Divergieren<strong>de</strong>, von <strong><strong>de</strong>r</strong> Anthropologie hervorgebrachte Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong>, sieht auch Jakobs<br />

als Resultat verschie<strong>de</strong>ner Zugangsweisen an <strong>die</strong> Frage nach <strong>de</strong>m, was <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch ist und<br />

wodurch er sich auszeichnet. Neben unterschiedlichen Wissenschaftsverständnissen betont<br />

er immanent <strong>die</strong> Differenzierung von Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>in</strong> Abhängigkeit von Kultur,<br />

Religion und Geschichte.<br />

22 Gehlen 1986, S. 9<br />

23 ebd. 1986, S. 10 - 11<br />

24 Fornefeld 1997, S. 121<br />

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Es war vor allem Otto Friedrich Bollnow, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>die</strong> Gedanken von Friedrich Plessner<br />

konsequent vertrat und mit se<strong>in</strong>em Pr<strong>in</strong>zip <strong><strong>de</strong>r</strong> offenen Frage zur Krise <strong><strong>de</strong>r</strong> Anthropologie<br />

und e<strong>in</strong>er Anthropologiekritik <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 70er Jahren führte.<br />

Durch e<strong>in</strong>e un<strong>de</strong>f<strong>in</strong>ierbare Vielfalt <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Biographien aller Menschen hält er das Ziel <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Anthropologie für grundsätzlich nicht erreichbar. „Darum stellt je<strong><strong>de</strong>r</strong> Versuch, h<strong>in</strong>ter <strong>die</strong><br />

unabsehbare Vielfalt <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Lebensmöglichkeiten auf e<strong>in</strong>en ihnen<br />

vorgeordneten geme<strong>in</strong>samen Grund zurückzugehen und von e<strong>in</strong>er solchen <strong>de</strong>f<strong>in</strong>itiv zu<br />

gew<strong>in</strong>nen<strong>de</strong>n Grundlage dann <strong>die</strong> Vielfalt <strong><strong>de</strong>r</strong> Ersche<strong>in</strong>ungen zu begreifen, e<strong>in</strong>e<br />

unzulässige Vere<strong>in</strong>fachung dar und ist als solche notwendig zum Scheitern verurteilt.“ 25<br />

Als Konsequenz se<strong>in</strong>er „offenen Frage“ for<strong><strong>de</strong>r</strong>t er <strong>die</strong> Bildlosigkeit <strong>in</strong> Bezug auf <strong>de</strong>n<br />

Menschen. Hier kommt se<strong>in</strong>e Befürchtung zum Vorsche<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e erfolgreiche<br />

Anthropologie könne Normen für das Wesen <strong>de</strong>s Menschen f<strong>in</strong><strong>de</strong>n, an <strong><strong>de</strong>r</strong> alle<br />

menschlichen Existenzen bezüglich ihrer Abweichungen verglichen wer<strong>de</strong>n, wie <strong>die</strong>s <strong>in</strong><br />

extremster Form im Nationalsozialismus, <strong>de</strong>n Bollnow selbst miterlebte, praktiziert wur<strong>de</strong>.<br />

Gera<strong>de</strong> aus Sicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Heilpädagogik ist e<strong>in</strong> solch entgültiger Entwurf mit e<strong>in</strong>em gewissen<br />

Schrecken verbun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn es steht <strong>die</strong> Befürchtung e<strong>in</strong>er utilitaristischen<br />

Leitbildorientierung.<br />

Auch Wolfgart sieht <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Spezialisierung <strong><strong>de</strong>r</strong> E<strong>in</strong>zelwissenschaften ke<strong>in</strong>en Lösungsweg<br />

zur Beantwortung <strong><strong>de</strong>r</strong> anthropologischen Frage und stimmt mit <strong>de</strong>n Theorien, nach <strong>de</strong>nen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch nicht erfaßt wer<strong>de</strong>n konnte, übere<strong>in</strong> 26 .<br />

E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante Wendung erfuhr <strong>die</strong> Anthropologie <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> begrifflichen Beschreibung<br />

ihres Arbeitsgebietes. Im Zuge <strong>de</strong>s Ausbaus <strong><strong>de</strong>r</strong> Son<strong><strong>de</strong>r</strong>schulen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 60er Jahren wandte<br />

man sich von <strong>de</strong>m Begriff Heilpädagogik zunehmend ab. E<strong>in</strong>ige Autoren, beispielsweise<br />

Speck, Hanselmann und Moor verweigerten sich damals und plä<strong>die</strong>ren noch heute für <strong>die</strong><br />

Bezeichnung Heilpädagogik. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Entwicklung <strong>de</strong>s Term<strong>in</strong>us Son<strong><strong>de</strong>r</strong>pädagogik steckte<br />

das Bedürfnis, e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e markante Abgrenzung zur Mediz<strong>in</strong> als <strong>de</strong>skripitive Metho<strong>de</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Defizitanalyse von Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung zu erreichen, und an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits e<strong>in</strong>e<br />

Alternative zur Heilserziehung, wie sie von kirchlicher und theologischer Seite vertreten<br />

wur<strong>de</strong>, zu schaffen. Die Son<strong><strong>de</strong>r</strong>pädagogik sollte e<strong>in</strong>en verstärkten Bezug zur allgeme<strong>in</strong>en<br />

schulischen Pädagogik betonen, jedoch <strong>die</strong> Son<strong><strong>de</strong>r</strong>stellung und An<strong><strong>de</strong>r</strong>sartigkeit <strong>de</strong>s<br />

Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung herausheben. Der Begriff Son<strong><strong>de</strong>r</strong>pädagogik ist, sowohl<br />

umgangssprachlich, als auch zur Bezeichnung <strong><strong>de</strong>r</strong> Lehrerausbildung an Universitäten,<br />

25 Bollnow, zitiert nach Mattner/Gerspach 1996, S. 44 ff<br />

26 vgl. Wolfgart 1967, S. 14ff<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 19


immer noch verbreitet, und das Präfix „Son<strong><strong>de</strong>r</strong>“ f<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m offiziellen Namen von<br />

Schulen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung geför<strong><strong>de</strong>r</strong>t wer<strong>de</strong>n. Unabhängig <strong><strong>de</strong>r</strong> damit<br />

verbun<strong>de</strong>nen <strong>in</strong>stitutionellen Ausson<strong><strong>de</strong>r</strong>ung existiert <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Bezeichnung <strong>de</strong>s Schulklientel<br />

e<strong>in</strong> Menschenbild, das von e<strong>in</strong>em Son<strong><strong>de</strong>r</strong>status ausgeht, <strong>de</strong>n es aktuell zu überw<strong>in</strong><strong>de</strong>n gilt.<br />

Mit <strong>de</strong>m Sozialgesetzbuch 9 wird e<strong>in</strong>e erneute Wen<strong>de</strong> vorgenommen. Der<br />

Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ungsbegriff soll möglichst umfassend ersetzt wer<strong>de</strong>n. Damit gerät auch <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Term<strong>in</strong>us Son<strong><strong>de</strong>r</strong>pädagogik <strong>in</strong>s Wanken, da nun nicht mehr von <strong><strong>de</strong>r</strong> Son<strong><strong>de</strong>r</strong>stellung<br />

ausgegangen wird, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n von rechtlicher, gesellschaftlicher und sozialer Gleichheit aller<br />

Menschen.<br />

5.2 Zur pädagogischen Anthropologie<br />

Entschei<strong>de</strong>nd für <strong>die</strong> Entwicklung e<strong>in</strong>er pädagogischen Anthropologie <strong>in</strong> Deutschland war<br />

<strong>die</strong> Situation nach En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 2. Weltkrieges. Die pädagogische Arbeit war unterbrochen,<br />

<strong>de</strong>nn primär g<strong>in</strong>g es um das Überleben <strong>in</strong> <strong>de</strong>n zerstörten Städten und <strong>die</strong> Versorgung<br />

Kriegsverletzter, <strong>die</strong> <strong>in</strong> Schulen und Heimen vorgenommen wur<strong>de</strong>.<br />

Erst zu Beg<strong>in</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> 50er Jahre setzte <strong>in</strong> Deutschland <strong>die</strong> Suche nach e<strong>in</strong>er eigenen<br />

pädagogischen Anthropologie e<strong>in</strong>, <strong>die</strong> sich an <strong>de</strong>n Schülern und ihren<br />

Erziehungsbedürfnissen orientierte. Bis dah<strong>in</strong> war das Bildungswesen vom F<strong>in</strong>alpr<strong>in</strong>zip<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> amerikanischen Besatzungsmacht geprägt. Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>alismus lautete das zu verbreiten<strong>de</strong><br />

Gedankengut mit <strong>de</strong>m Ziel, e<strong>in</strong>en erneuten Zentralismus <strong>in</strong> Deutschland zu verh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />

Hans Wolfgart spricht von e<strong>in</strong>er späten anthropologischen Fokusierung <strong>de</strong>s K<strong>in</strong><strong>de</strong>s, da<br />

K<strong>in</strong>dheit lediglich e<strong>in</strong> Durchgangsstadium zum Erwachsenen repräsentiere.<br />

Er kritisiert, daß durch e<strong>in</strong>e anthropologische Reduktion bisheriger Erkenntnismo<strong>de</strong>lle <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

k<strong>in</strong>dlichen Se<strong>in</strong>sweise nicht gerecht wird und for<strong><strong>de</strong>r</strong>t e<strong>in</strong>e verstärkte Betrachtung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

K<strong>in</strong>dheit durch <strong>die</strong> Anthropologie. Erst spät wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>utlich, „daß wir <strong>die</strong> K<strong>in</strong>dheit weniger<br />

als e<strong>in</strong>en Entwicklungsabschnitt menschlicher Unvollkommenheit, als vielmehr als eigene<br />

und eigenwertige menschliche Se<strong>in</strong>sweise zu betrachten haben“ 27 .<br />

Die pädagogische Anthropologie als vierte Richtung anthropologischen Fragens wird noch<br />

stärker von <strong><strong>de</strong>r</strong> Teleologie geprägt, als es bereits <strong>die</strong> Philosophie ist. Pädagogische<br />

Anthropologie fragt akzentuiert nach <strong>de</strong>m „Wozu“ <strong>de</strong>s Menschen auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Er<strong>de</strong>.<br />

Das Paradigma <strong><strong>de</strong>r</strong> pädagogischen Anthropologie ist das Erziehungs- und<br />

27 Wolfgart 1967, S. 16<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 20


Bildungsbedürfnis aller Menschen, welches von Geburt an <strong>die</strong> Entwicklung <strong>de</strong>s Menschen<br />

bee<strong>in</strong>flußt und als Hülle mit kultureller Variabilität das K<strong>in</strong>d umgibt.<br />

Diese Hülle besteht aus vielen Mitwirken<strong>de</strong>n. Eltern und Lehrer sowie Schule als<br />

Institution s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> bekanntesten Elemente mit pädagogischen Intentionen, jedoch gilt es,<br />

Pädagogik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weiteren S<strong>in</strong>ne zu fassen. Das soziale und materielle Umfeld mit e<strong>in</strong>er<br />

Vielzahl von Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n besitzt je<strong><strong>de</strong>r</strong>zeit pädagogisch wirksamen E<strong>in</strong>fluß auf e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d.<br />

Zusammenfassen kann man <strong>de</strong>n Ansatz pädagogischer Anthropologie als <strong>die</strong><br />

Untersuchung <strong><strong>de</strong>r</strong> Bee<strong>in</strong>flussung kultureller und gesellschaftlicher Vorgaben und<br />

Erwartungen auf das Heranwachsen e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong><strong>de</strong>s beschreiben, vermittelt auch durch<br />

Institutionen, <strong>die</strong> wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um selbst geprägt durch äußere, i<strong>de</strong>ologische E<strong>in</strong>flußfaktoren<br />

ihrerseits, pädagogischen E<strong>in</strong>fluß auf <strong>die</strong> Entwicklung von Menschen nehmen.<br />

Es geht ihr um <strong>die</strong> Reflexion <strong><strong>de</strong>r</strong> k<strong>in</strong>dlichen Erziehungswirklichkeit und e<strong>in</strong>er „[...]<br />

Persona - Genese..., <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> je<strong>de</strong>s K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>maligkeit zur Entfaltung se<strong>in</strong>er Person<br />

gelangen soll“ 28 .Da je<strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch über e<strong>in</strong> soziales und materielles Umfeld verfügt, en<strong>de</strong>t<br />

Pädagogik und damit ihre Anthropologie nicht mit e<strong>in</strong>em bestimmten Lebensalter, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

ist e<strong>in</strong>e Konstante im Leben aller Menschen.<br />

E<strong>in</strong>e praxisorientierte Def<strong>in</strong>ition liefern erneut Mattner und Gerspach:<br />

„Wie <strong>die</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung zur Euthanasiediskussion zeigt, sche<strong>in</strong>t gera<strong>de</strong> e<strong>in</strong>e<br />

heilpädagogische Ethik beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s darauf angewiesen zu se<strong>in</strong>, implizite Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

aufzuklären...“ 29 . Als Grundaufgabe pädagogischer Anthropologie sehen sie „[...] <strong>die</strong><br />

Menschenbildanalyse pädagogischer Theorien...“ 30 .<br />

I<strong>de</strong>ntisch mit allen E<strong>in</strong>zelwissenschaften stößt <strong>die</strong> pädagogische Anthropologie an <strong>die</strong><br />

Grenzen ihrer Aussagemöglichkeiten und das Pr<strong>in</strong>zip <strong><strong>de</strong>r</strong> „offenen Frage“. Kann sie<br />

universelle Aussagen zu <strong>de</strong>m K<strong>in</strong>d allgeme<strong>in</strong> treffen o<strong><strong>de</strong>r</strong> über e<strong>in</strong> Reifestadium im<br />

Rahmen k<strong>in</strong>dlicher Entwicklung? Überzeugt lehnt Hans Wolfgart <strong>die</strong> pädagogische<br />

Anthropologie als Metho<strong>de</strong> e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Beschreibung k<strong>in</strong>dlicher Phänomene ab und<br />

spricht sich für <strong>die</strong> Formulierung von Sollensfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen an das K<strong>in</strong>d aus, jedoch nicht <strong>in</strong><br />

Form von str<strong>in</strong>gent verlaufen<strong>de</strong>n Zielplanungen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n vielmehr durch „kann-<br />

Formulierungen“ 31 , <strong>die</strong> auch Diskont<strong>in</strong>uitäten <strong><strong>de</strong>r</strong> k<strong>in</strong>dlichen Entwicklung absorbieren<br />

28 ebd. 1967, S. 18<br />

29 Mattner/Gerspach 1996, S. 30<br />

30 ebd. 1996, S. 30<br />

31 Wolfgart 1967, S. 14 – 21<br />

32 vgl. Scheuerl 1982, S. 13 ff<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 21


können.<br />

Für je<strong>de</strong>n pädagogischen Bereich, speziell jedoch für <strong>die</strong> Heilpädagogik, gilt es, <strong>die</strong> offene<br />

Frage und <strong>die</strong> Variabilität bezüglich <strong><strong>de</strong>r</strong> Genese <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen beizubehalten. E<strong>in</strong><br />

dogmatisch formuliertes End- und Zielstadium wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Vertrauen <strong>in</strong> <strong>die</strong> menschliche<br />

Entwicklung allgeme<strong>in</strong>, und pädagogischer Bemühungen im Speziellen, zuwi<strong><strong>de</strong>r</strong>laufen.<br />

Persönlich stimme ich <strong><strong>de</strong>r</strong> Formulierung Wolfgarts zu, jedoch müssen <strong>die</strong> sogenannten<br />

„kann- Formulierungen“ im Rahmen e<strong>in</strong>er systemisch-konstruktivistischen Pädagogik<br />

verwirklicht wer<strong>de</strong>n, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong>e Lehrperson <strong>de</strong>m K<strong>in</strong>d Attraktoren anbietet, <strong>die</strong> es <strong>in</strong><br />

autonomer und selbstreferentieller Entscheidung annehmen kann aber nicht muss.<br />

Die beste Zusammenfassung unterschiedlicher Paradigmen <strong>in</strong>nerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> pädagogischen<br />

Anthropologie bietet Scheuerl 32 , <strong>die</strong> im folgen<strong>de</strong>n vorgestellt wer<strong>de</strong>n. Beim „<strong>in</strong>tegrativen<br />

Typ“ wer<strong>de</strong>n <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelwissenschaftlichen Ergebnisse mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Prämisse<br />

zusammengetragen, sie auf ihre pädagogische Be<strong>de</strong>utung und Anwendbarkeit h<strong>in</strong> zu<br />

prüfen. Damit verknüpft Scheuerl <strong>die</strong> For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung nach „Übersetzungsarbeit“, nach<br />

„prüfen“, „differenzieren“ und „<strong>in</strong>tegrieren“, damit e<strong>in</strong>seitige und für Pädagogen<br />

unvollständige Ansätze nicht nachteilig <strong>in</strong> praktische Interventionen e<strong>in</strong>fließen.<br />

Der „dase<strong>in</strong>sanalytische Typ“, <strong>de</strong>ssen bekanntester Vertreter Friedrich Bollnow ist, geht<br />

von <strong><strong>de</strong>r</strong> Unerschließbarkeit <strong>de</strong>s Menschen e<strong>in</strong>schließlich se<strong>in</strong>er Umwelt aus und<br />

beschränkt sich auf phänomenologische Beschreibungen von E<strong>in</strong>zelelementen. Durch<br />

e<strong>in</strong>en Übertrag auf <strong>die</strong> Heilpädagogik, <strong>die</strong>ser Begriff wur<strong>de</strong> von mir bewußt gewählt, da<br />

me<strong>in</strong>es Erachtens <strong>die</strong> Son<strong><strong>de</strong>r</strong>pädagogik ihren Anspruch e<strong>in</strong>er speziellen Pädagogik an<br />

<strong>in</strong>stitutioneller Ausson<strong><strong>de</strong>r</strong>ung festmacht, soll <strong>die</strong> Vorgehensweise <strong>de</strong>s<br />

„dase<strong>in</strong>sanalytischen Typs“ erläutert wer<strong>de</strong>n. Im S<strong>in</strong>ne <strong><strong>de</strong>r</strong> Phänomenologie ist je<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mensch unabd<strong>in</strong>gbar auf Erziehung angewiesen.<br />

Durch e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e, wenn notwendig <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äre Diskreption, wird <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Phänomenologie <strong>die</strong> Be<strong>de</strong>utung <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehung auf <strong>de</strong>n Entwicklungsprozeß von K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

aufgezeigt. Praktisch gesehen: Die Vielzahl <strong><strong>de</strong>r</strong> E<strong>in</strong>flußfaktoren auf das K<strong>in</strong>d während<br />

e<strong>in</strong>er Unterrichtsstun<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n als Bed<strong>in</strong>gungen <strong><strong>de</strong>r</strong> k<strong>in</strong>dlichen Entwicklung beschreibend<br />

dargestellt, ohne sie jedoch empirisch-analytisch <strong>in</strong> ihrem Wirken auf das K<strong>in</strong>d zu <strong>de</strong>uten,<br />

um im Anschluß e<strong>in</strong> geschlossenes, <strong>in</strong>tersubjektiv verifizierbares Mo<strong>de</strong>ll präsentieren zu<br />

können. E<strong>in</strong>flüsse können von pädagogischen über mediz<strong>in</strong>ische (Therapie) bis zu<br />

religiösen Faktoren reichen. Bollnow lehnt es ab, menschliche Entwicklung als e<strong>in</strong>e<br />

positive Kont<strong>in</strong>uität anzusehen. „Es gibt sicher solche Kont<strong>in</strong>uitäten. Aber ebenso sicher<br />

gibt es auch Schübe und Brüche, Krisen und Rückfälle, Erschütterungen, unvorhersehbare<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 22


Begegnungen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Verfehlungen im menschlichen Wer<strong>de</strong>gang. Gera<strong>de</strong> sie sagen etwas<br />

Grundsätzliches über <strong>de</strong>n Menschen aus“ 33 . Der Aussage Bollnows folgend, ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Prozeß<br />

<strong>de</strong>s Alterns <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige Kont<strong>in</strong>uität, <strong>die</strong> <strong>de</strong>n Menschen geme<strong>in</strong> ist. Die verbreitete<br />

Annahme, e<strong>in</strong>e phänomenologische Pädagogik wür<strong>de</strong> vollständig auf Analysen verzichten<br />

ist me<strong>in</strong>es Erachtens falsch. E<strong>in</strong> Analysieren <strong><strong>de</strong>r</strong> k<strong>in</strong>dlichen Entwicklung, <strong><strong>de</strong>r</strong> Lernprozesse<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Lernbed<strong>in</strong>gungen ist unerlässlich für je<strong>de</strong> Pädagogik.<br />

Als dritten Typ beschreibt Scheuerl „<strong>die</strong> Frage nach <strong>de</strong>n leiten<strong>de</strong>n Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong>n..., <strong>die</strong><br />

<strong>de</strong>n Erziehungsvorstellungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeiten und Völker, <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewegungen und Schulen o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

e<strong>in</strong>zelner Pädagogen zugrun<strong>de</strong> liegen“ 34 . Die Wichtigkeit, Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> aus Texten und<br />

Handlungen herauszuarbeiten, betonen vor allem Mattner und Gerspach, wenn sie von<br />

e<strong>in</strong>er „rekonstruktiven Absicht“, mit <strong>de</strong>m Ziel e<strong>in</strong>, „präreflexiv - implizites“ 35<br />

Menschenbild herauszustellen, sprechen. Dar<strong>in</strong> liegt <strong>die</strong> Befürchtung, <strong>die</strong> von Scheuerl<br />

geteilt wird, daß unkritisch übernommene Theoriesysteme negativ <strong>in</strong> praktischer<br />

Anwendung wirken können.<br />

E<strong>in</strong>e son<strong><strong>de</strong>r</strong>pädagogische Def<strong>in</strong>ition als Variante <strong><strong>de</strong>r</strong> allgeme<strong>in</strong>en pädagogischen<br />

Anthropologie stammt von Stadler <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch zur Rehabilitation von Menschen mit<br />

Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung. Er schreibt: „Die son<strong><strong>de</strong>r</strong>pädagogische Anthropologie geht davon aus,<br />

daß <strong>die</strong> Auswirkungen e<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung nicht unverän<strong><strong>de</strong>r</strong>bar s<strong>in</strong>d.<br />

Erziehung und Bildung ermöglichen und sichern <strong>de</strong>m Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung e<strong>in</strong><br />

menschenwürdiges Dase<strong>in</strong>.“ 36<br />

5.3 Ethik und Moral<br />

Die Begriffe Ethik, ethisch, Moral, moralisch und Moralität wer<strong>de</strong>n auf sprachlicher Ebene<br />

häufig vermischt und müssen im Zuge e<strong>in</strong>er hermeneutischen Arbeit <strong>de</strong>f<strong>in</strong>iert wer<strong>de</strong>. Für<br />

e<strong>in</strong>e Klärung <strong><strong>de</strong>r</strong> Begriffe ist es zweckmäßig, sie trotz ihrer Dialektik getrennt zu<br />

behan<strong>de</strong>ln, um <strong>de</strong>f<strong>in</strong>itorische Unklarheiten vermei<strong>de</strong>n zu können.<br />

5.3.1 Zur Moral und Moralität<br />

Moral leitet sich von <strong>de</strong>m late<strong>in</strong>ischen Wort „mos“ ab und be<strong>de</strong>utet sowohl Sitte als auch<br />

33 Bollnow zitiert nach Scheuerl 1982, S. 15 ff<br />

34 Scheuerl 1982, S. 16<br />

35 Mattner/Gerspach 1997, S. 30 – 31<br />

36 Stadler 1998, S. 50<br />

37 Frese 2000, S. 40<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 23


Charakter und bezeichnet allgeme<strong>in</strong> Handlungen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reflexion als moralisch o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

unmoralisch gelten können.<br />

Der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat <strong>die</strong> Entwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong> Moral beim<br />

K<strong>in</strong>d untersucht und kam zu <strong>de</strong>m Ergebnis, daß sie sich von e<strong>in</strong>em frühk<strong>in</strong>dlichen<br />

heteronomen Stadium bis zu <strong>de</strong>m Prozeß <strong><strong>de</strong>r</strong> Selbstbestimmung entfaltet. In <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Heteronomie entsteht moralisches Han<strong>de</strong>ln durch von außen vorgegebene Regeln und<br />

Pflichten, <strong>die</strong> das K<strong>in</strong>d lernt e<strong>in</strong>halten zu müssen. In <strong><strong>de</strong>r</strong> autonomen, beziehungsweise<br />

selbstbestimmten Phase lernt es, <strong>die</strong> Regeln selbständig kritisch zu h<strong>in</strong>terfragen und<br />

aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> persönlichen E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> <strong>die</strong> Notwendigkeit, <strong>die</strong>sen Regeln zu folgen.<br />

Ausgangsbed<strong>in</strong>gung ist, daß je<strong>de</strong> Handlung zwei Wirkungen aufweist, e<strong>in</strong>e beabsichtigte<br />

und e<strong>in</strong>e Nebenwirkung, „<strong>die</strong> unerwünschte Nebenwirkung e<strong>in</strong>er Handlung wird <strong>in</strong> Kauf<br />

genommen, um <strong>de</strong>n eigentlichen, <strong>de</strong>n <strong>in</strong>ten<strong>die</strong>rten Wert zu erreichen“ 37 . Frese macht hier<br />

auf <strong>die</strong> Doppelwirkung menschlicher Handlungen aufmerksam.<br />

„Im Pr<strong>in</strong>zip von <strong><strong>de</strong>r</strong> Doppelwirkung geht es grundlegend um <strong>die</strong> Frage, wann man e<strong>in</strong>en<br />

Scha<strong>de</strong>n zulassen o<strong><strong>de</strong>r</strong> verursachen darf und wann nicht“ 38 .<br />

Grundvoraussetzung moralischer Reflexion ist das Faktum, nach <strong>de</strong>m je<strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch von<br />

Geburt an <strong>die</strong> Freiheit besitzt, autonom und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em eigenen persönlichen Interesse<br />

han<strong>de</strong>ln zu können. Dieser Freiheit aber s<strong>in</strong>d normative Grenzen gesetzt, durch <strong>die</strong> das<br />

Nutzen eigener autonomer Freiheit, an<strong><strong>de</strong>r</strong>e nicht <strong>in</strong> ihrer Autonomie bee<strong>in</strong>trächtigt wer<strong>de</strong>n<br />

dürfen. Moral ist <strong>de</strong>mnach e<strong>in</strong> Ordnungsbegriff, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Normen und Werte enthalten s<strong>in</strong>d,<br />

<strong>die</strong> von e<strong>in</strong>er Gesellschaft als geme<strong>in</strong>sam und verb<strong>in</strong>dlich anerkannt wer<strong>de</strong>n. Man spricht<br />

<strong>de</strong>shalb auch von e<strong>in</strong>er Gruppenmoral. Besagte Normen und Werte unterliegen e<strong>in</strong>er<br />

Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung, <strong>die</strong> geschichtlich, politisch, gesellschaftlich o<strong><strong>de</strong>r</strong> ökonomisch begrün<strong>de</strong>t se<strong>in</strong><br />

können. Das be<strong>de</strong>utet, <strong>die</strong> Regeln e<strong>in</strong>er Sozietät gelten so lange, wie sie von ihrer Mehrheit<br />

akzeptiert wer<strong>de</strong>n.<br />

Moralität h<strong>in</strong>gegen bezeichnet e<strong>in</strong>en abstrakten Pr<strong>in</strong>zipienbegriff, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich an <strong><strong>de</strong>r</strong> qualitativ<br />

guten Haltung von Menschen orientiert. Es ist das „Wollen“ e<strong>in</strong>es Individuums, mit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

ihm gegebenen Freiheit „gut“ zu han<strong>de</strong>ln, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Intention, <strong>die</strong> Möglichkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>in</strong>dividuellen Handlungsfreiheit auszu<strong>de</strong>hnen, ohne jedoch Freiheiten an<strong><strong>de</strong>r</strong>er<br />

e<strong>in</strong>zuschränken. Wer aus eigenem Antrieb heraus se<strong>in</strong>e autonome Freiheit nutzt und se<strong>in</strong><br />

Han<strong>de</strong>ln nicht ausschließlich auf persönliche Beweggrün<strong>de</strong> stützt, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch zum<br />

Nutzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Freiheit an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Individuen agiert, han<strong>de</strong>lt auch dann moralisch, wenn er im<br />

E<strong>in</strong>zelfall gegen faktische Moral verstößt. Demnach ist Moral e<strong>in</strong>e Polysynthese von<br />

38 Foot, zitiert nach Frese 2000, S 44<br />

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Normen und Werten, <strong>die</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Sozietät im geme<strong>in</strong>schaftlich und b<strong>in</strong><strong>de</strong>nd anerkannten,<br />

jedoch zeitlich begrenzten Wertekatalog zum Ausdruck kommt. Durch Moral soll <strong>die</strong><br />

wesentliche Freiheit gesichert wer<strong>de</strong>n, was nur gel<strong>in</strong>gen kann, wenn alle Menschen im<br />

S<strong>in</strong>ne <strong><strong>de</strong>r</strong> Moralität han<strong>de</strong>ln, also <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Absicht Gutes zu tun und Freiheit zu vermehren.<br />

Annemarie Pieper spricht von Moral als e<strong>in</strong>er „[...] Grun<strong><strong>de</strong>r</strong>fahrung, daß menschliche<br />

Willens und Handlungsfreiheit nicht unbegrenzt s<strong>in</strong>d, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n an <strong>de</strong>n berechtigten<br />

Ansprüchen <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitmenschen ihr Maß haben, ist <strong>die</strong> Basis, auf <strong><strong>de</strong>r</strong> moralisches Verhalten<br />

entsteht“ 39 und Otto Speck betont <strong>die</strong> Wichtigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Moral als Umsetzung<br />

geme<strong>in</strong>schaftlicher Werte, wenn er davon ausgeht, daß „Moral gera<strong>de</strong> da zur Geltung<br />

kommen kann, wo auch Geme<strong>in</strong>schaftswerte ihre Gültigkeit nicht verloren haben“ 40 .<br />

Umgekehrt entsteht unmoralisches Han<strong>de</strong>ln durch Nichtbeachtung von Normen, durch<br />

egoistische Moralität, durch <strong>die</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Gesellschaftssystems e<strong>in</strong>e<br />

E<strong>in</strong>schränkung <strong><strong>de</strong>r</strong> Autonomie ihrer Freiheit erfahren. Dies geschieht entwe<strong><strong>de</strong>r</strong> s<strong>in</strong>gulär<br />

und als Verstoß gegen <strong>die</strong> sogenannte „Gol<strong>de</strong>ne Regel“ (Was du nicht willst, was man dir<br />

tu, das füg´ auch ke<strong>in</strong>em an<strong><strong>de</strong>r</strong>en zu), o<strong><strong>de</strong>r</strong> nach <strong>de</strong>m Pr<strong>in</strong>zip <strong><strong>de</strong>r</strong> Verallgeme<strong>in</strong>erung, durch<br />

das mehr als nur e<strong>in</strong> Individuum von <strong>de</strong>n negativen Konsequenzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Handlung e<strong>in</strong>es<br />

E<strong>in</strong>zelnen betroffen ist. Damit ist impliziert, nur solche Handlungen auszuführen, <strong>die</strong> nicht<br />

wegen ihres Ziels, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>in</strong> sich selbst als handlungsleiten<strong>de</strong>s Pr<strong>in</strong>zip gut s<strong>in</strong>d. Ziel ist<br />

<strong>die</strong> Generalisierung moralischer Normen.<br />

Gegen <strong>die</strong> Universalisierung moralischer Normen wen<strong>de</strong>t sich vor allem <strong><strong>de</strong>r</strong> französische<br />

Philosoph Emmanuel Lev<strong>in</strong>as, <strong><strong>de</strong>r</strong> damit <strong>die</strong> Gefahr <strong><strong>de</strong>r</strong> Depersonalisierung verbun<strong>de</strong>n<br />

sieht, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m <strong><strong>de</strong>r</strong> E<strong>in</strong>zelne als „ich“ zunehmend geschwächt und <strong>die</strong> Gesellschaft als „wir“<br />

auf Kosten <strong><strong>de</strong>r</strong> Personalität von Individuen gestärkt wird. Er betont <strong>die</strong> Autarkie <strong>de</strong>s<br />

Antlitz <strong>de</strong>s An<strong><strong>de</strong>r</strong>en. Damit verb<strong>in</strong><strong>de</strong>t Lev<strong>in</strong>as <strong>die</strong> For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung, <strong>de</strong>n Menschen nicht durch<br />

se<strong>in</strong>en spezifischen Kontext verstehen zu wollen, weil damit <strong><strong>de</strong>r</strong> Versuch e<strong>in</strong>er<br />

Bestimmung <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>hergeht. Nur <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Betrachtung <strong>de</strong>s Antlitz <strong>de</strong>s An<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

sieht er <strong>die</strong> Begründung moralischer Normen gegeben, <strong>de</strong>nn noch bevor das Frem<strong>de</strong> über<br />

<strong>die</strong> Kontextualisierung zu erfassen versucht wird, besitze ich bereits Verantwortung für<br />

<strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en. „Das Antlitz ist Be<strong>de</strong>utung und zwar Be<strong>de</strong>utung ohne Kontext“ 41 . Die<br />

tranzen<strong>de</strong>ntale Ethik <strong>de</strong>s Lev<strong>in</strong>as ersche<strong>in</strong>t mir <strong>die</strong> grundlegen<strong>de</strong> Basis <strong><strong>de</strong>r</strong> Heilpädagogik<br />

39 Pieper 2000, S. 21<br />

40 Speck, zitiert nach Speck 1996, S. 323<br />

41 Lev<strong>in</strong>as 1992, S. 65<br />

42 De<strong><strong>de</strong>r</strong>ich 2000, S. 115 ff<br />

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allgeme<strong>in</strong>, vor allem jedoch für Menschen mit schwerster Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung. Durch <strong>die</strong> basale<br />

Komponente wird ihr Lebensrecht bereits aufgrund ihrer Existenz ethisch und moralisch<br />

gesichert. Dieses Denken, wonach alle Mensch gleichberechtigt s<strong>in</strong>d, weil sie vom<br />

Menschen abstammen, gilt es gegen alle ökonomischen und leistungsorientierten<br />

Pr<strong>in</strong>zipien <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft konsequent zu vertreten.<br />

Nach Imanuel Kant ist auch e<strong>in</strong>e „selbstverschul<strong>de</strong>te Unmündigkeit“, das heißt, <strong>die</strong><br />

Ablehnung <strong><strong>de</strong>r</strong> Möglichkeit frei zu han<strong>de</strong>ln und statt <strong>de</strong>ssen durch Advokatoren vertreten<br />

zu wer<strong>de</strong>n, unmoralisch. Hier gilt es für alle Heilpädagogen <strong>die</strong> Balance zwischen zwei<br />

Seiten zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n. E<strong>in</strong>erseits müssen sie unter Umstän<strong>de</strong>n im gesellschaftlichen Kontext<br />

advokatorisch für ihre Schüler sprechen um ihre Rechte zu schützen, an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits stehen<br />

auch sie immer <strong>in</strong> Gefahr, <strong>die</strong> Möglichkeiten <strong>de</strong>s freien Han<strong>de</strong>lns ihrer Schüler durch e<strong>in</strong>en<br />

pädagogischen Übereifer unbewußt zu unterdrücken. Es han<strong>de</strong>lt sich um zwei Seiten<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong>selben Medaille.<br />

De<strong><strong>de</strong>r</strong>ich stellt zusammenfassend fest, daß „moralische Gebote und Verbote e<strong>in</strong> universalmenschliches<br />

Phänomen“ s<strong>in</strong>d, durch <strong><strong>de</strong>r</strong>en Existenz und Akzeptanz „das Zusammenleben<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen <strong>in</strong>nerhalb von Gruppen und Gesellschaften“ 42 organisiert und strukturiert<br />

wer<strong>de</strong>n soll. Die Vermittlung <strong><strong>de</strong>r</strong> E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> <strong>die</strong> Grenzen eigener Handlungsfreiheit an<br />

nachfolgen<strong>de</strong> Generationen sieht er wesentlich durch Erziehung gesichert. Diesem<br />

Verständnis, welches ebenfalls <strong>die</strong> Sicherung <strong>in</strong>dividueller Freiheiten <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Mittelpunkt<br />

moralischer Handlungen rückt, ist zuzustimmen, da es ausdrücklich <strong>die</strong> Wichtigkeit <strong>de</strong>s<br />

Lehrkörpers als Bestandteil <strong>de</strong>s Erziehungsprozesses betont.<br />

E<strong>in</strong>e Umsetzung <strong>de</strong>s Anspruchs <strong><strong>de</strong>r</strong> Übermittlung moralischer Normen zur nächsten<br />

Generation kann jedoch nur nach Reflexion <strong><strong>de</strong>r</strong> subjektiven Moral geschehen.<br />

Totalitäre Staatssysteme nehmen ihren Bürgern <strong>die</strong> Möglichkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Moralität, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m sie<br />

e<strong>in</strong>e Moral vorgeben, <strong>die</strong> nicht durch Akzeptanz gesellschaftlicher Mehrheit<br />

hervorgegangen ist, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n als staatliche E<strong>in</strong>heitsmoral <strong>in</strong>doktr<strong>in</strong>iert wird. Gutes Han<strong>de</strong>ln<br />

wird nicht durch Freiheitsvermehrung aller begrün<strong>de</strong>t son<strong><strong>de</strong>r</strong>n vielmehr <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Sicherung<br />

staatlicher Gewalt. Es f<strong>in</strong><strong>de</strong>t e<strong>in</strong>e Umkehrung <strong><strong>de</strong>r</strong> eigentlichen Be<strong>de</strong>utung von Moralität<br />

statt, <strong>de</strong>nn nun steht das Interesse e<strong>in</strong>er politischen Führungselite über <strong>de</strong>n Ansprüchen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mehrheit.<br />

Neben staatlicher Umkehrung <strong><strong>de</strong>r</strong> eigentlichen Moralbe<strong>de</strong>utung wird auch e<strong>in</strong>e<br />

„moralische Ant<strong>in</strong>omie zwischen <strong><strong>de</strong>r</strong> gültigen Regel und <strong><strong>de</strong>r</strong> Rechtfertigung <strong>de</strong>s<br />

E<strong>in</strong>zelfalls“, bei <strong><strong>de</strong>r</strong>en Beurteilung „Innen und Außenperspektive zu unterschei<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d“ 43 ,<br />

43 Antor/Bleidick 2000, S. 80 – 81<br />

44 Pieper 2000, S. 39<br />

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e<strong>in</strong>sichtig. Die Abtreibung e<strong>in</strong>es Embryos o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>die</strong> Sterilisation e<strong>in</strong>es Menschen mit<br />

schwerer geistiger Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung stellt e<strong>in</strong>en moralischen Bruch zu <strong>de</strong>m Recht auf Freiheit<br />

aller Individuen dar. Sowohl <strong><strong>de</strong>r</strong> § 218, als auch das am 1. Januar 1992 <strong>in</strong> Kraft getretene<br />

„Gesetz zur Reform <strong>de</strong>s Rechts <strong><strong>de</strong>r</strong> Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige“ bieten<br />

jedoch e<strong>in</strong>en juristischen Spielraum, <strong>in</strong> <strong>de</strong>ssen Rahmen es zu E<strong>in</strong>zelfallentscheidungen<br />

kommen kann, <strong>die</strong> <strong>in</strong> Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spruch zu allgeme<strong>in</strong>en Regeln und Normen stehen.<br />

Geme<strong>in</strong>sam ist allen Konfliktsituationen „[...], daß sie nicht durch irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>e öffentliche<br />

Autorität o<strong><strong>de</strong>r</strong> Instanz allgeme<strong>in</strong> verb<strong>in</strong>dlich für <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>zelfall a priori gelöst wer<strong>de</strong>n<br />

können, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n von <strong>de</strong>n betroffenen Individuen selbstverantwortlich entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n<br />

müssen“ 44 . Sie weist auf <strong>die</strong> Wichtigkeit e<strong>in</strong>es kritischen Diskurses zwischen subjektiven<br />

Beweggrün<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>m moralischen Wertekatalog h<strong>in</strong> und for<strong><strong>de</strong>r</strong>t e<strong>in</strong>en kritischen Dialog<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> gesamten Gesellschaft. Im Zusammenhang mit Moral spricht Christian Anstötz von<br />

e<strong>in</strong>er ersten und zweiten Ordnung: „Wer also e<strong>in</strong>e bestimmte moralische Überzeugung<br />

e<strong>in</strong>nimmt, ist ke<strong>in</strong>eswegs gezwungen, von <strong><strong>de</strong>r</strong> Objektivität <strong>die</strong>ser E<strong>in</strong>stellung auszugehen,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n kann ihr ohne weiteres <strong>de</strong>n Charakter e<strong>in</strong>er Konvention geben“ 45 . Übertragen auf<br />

<strong>de</strong>n moralischen Zwiespalt zur Entscheidung e<strong>in</strong>er Abtreibung me<strong>in</strong>t er folgen<strong>de</strong>s: Wer aus<br />

persönlichen Motiven e<strong>in</strong>en Schwangerschaftsabbruch vornimmt, vollzieht es zumeist aus<br />

Grün<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> zweiten Ordnung. Dies me<strong>in</strong>t nicht, daß <strong>die</strong> entsprechen<strong>de</strong> Person<br />

grundsätzlich für <strong>die</strong> Abtreibung ist, was e<strong>in</strong>er ersten Ordnung entsprechen wür<strong>de</strong>.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> beschriebenen Situation stehen <strong>die</strong> Pr<strong>in</strong>zipien <strong><strong>de</strong>r</strong> allgeme<strong>in</strong>en Moral mit Moralität<br />

als ihrer s<strong>in</strong>ngeben<strong>de</strong>n Basis im Gegensatz zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividuellen Notsituation, <strong>die</strong> durch<br />

persönliche Beweggrün<strong>de</strong> manifestiert ist. Als dritter Faktor existieren, <strong>in</strong> Bezug auf das<br />

hier dargestellte Beispiel, Gesetze, <strong>die</strong> <strong>de</strong>n Schwangerschaftsabbruch unter gewissen<br />

Voraussetzungen legitimieren. Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Entscheidung für e<strong>in</strong>en Abbruch <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schwangerschaft wäre <strong>die</strong> Handlung unter Berufung auf <strong>die</strong> vom Staat erlassenen Gesetzte<br />

moralisch zu rechtfertigen. Die Gesellschaft könnte <strong>die</strong> Abtreibung jedoch strikt<br />

verurteilen, weil es unmoralisch sei und e<strong>in</strong>en fundamentalen E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> <strong>die</strong> Freiheit e<strong>in</strong>es<br />

Dritten darstellt. Es ist Annemarie Pieper zuzustimmen, <strong>de</strong>nn e<strong>in</strong>e Verurteilung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

betroffenen Person, <strong>die</strong> ihre Entscheidung bezüglich <strong><strong>de</strong>r</strong> Konfliktsituation nach ausgiebiger<br />

Reflexion aller Möglichkeiten und Umstän<strong>de</strong> getroffen hat, durch Außenstehen<strong>de</strong> ist<br />

unmoralisch und wird als Kont<strong>in</strong>genz bezeichnet.<br />

Bereits ange<strong>de</strong>utet wur<strong>de</strong>, daß Moral trotz möglicher Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen, e<strong>in</strong>e Konstante <strong>in</strong><br />

45 Anstötz 1990, S. 15<br />

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allen Gesellschaften bil<strong>de</strong>t. Bereits <strong>die</strong>se <strong>in</strong>tra-gesellschaftlichen Divergenzen zeigen <strong>die</strong><br />

Unmöglichkeit auf, Moral <strong>in</strong>terkulturell zu etablieren. E<strong>in</strong>e universale Moral, <strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Normen unabhängig von Kultur, Geschichte, Lebensform und Lebensbed<strong>in</strong>gung gelten<br />

sollen, scheitert an genau <strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>n, <strong>die</strong> sie zu überw<strong>in</strong><strong>de</strong>n hat. Die geschichtliche<br />

Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung von moralischen Basiswerten zeigt <strong>die</strong> soziale Integration, <strong>die</strong> heute das<br />

übergeordnete Rehabilitationsziel für Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung bezeichnet. Es ist<br />

humanitäre Absicht, durch <strong>die</strong> <strong>de</strong>m Anspruch <strong><strong>de</strong>r</strong> Gleichheit und Freiheit aller Menschen<br />

gerecht wer<strong>de</strong>n soll. Aber auch <strong>die</strong> Aus- und Abson<strong><strong>de</strong>r</strong>ung von Menschen mit<br />

Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>in</strong> Waisen- und F<strong>in</strong><strong>de</strong>lhäuser im Mittelalter war zu Beg<strong>in</strong>n von e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong><br />

humanitären Absicht getragen und stellte e<strong>in</strong>e elementare Verbesserung zur Aussetzung<br />

und Tötung <strong>in</strong> <strong>de</strong>n altorientalischen und christlich-abendländlichen Gesellschaften dar.<br />

Ausgehend von moralischen Basiswerten kann <strong>die</strong> Umsetzung <strong>in</strong> Abhängigkeit von<br />

Geographie, Kultur, Ökonomie und Tradition differieren. Als Beispiel sei an das westliche<br />

Moralverständnis e<strong>in</strong>er monogamen Ehe, im Gegensatz zur Polygamie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />

orientalischen Staaten, er<strong>in</strong>nert.<br />

Bereits erwähnt wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Moralko<strong>de</strong>x, welcher als Resultat e<strong>in</strong>er gesellschaftlichen<br />

Mehrheitsbildung entstehen kann. Im Folgen<strong>de</strong>n soll kurz skizziert wer<strong>de</strong>n, dass durch<br />

<strong>die</strong>sen aber ke<strong>in</strong> M<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>heitenschutz garantiert wird. Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s <strong>de</strong>utlich wird <strong>die</strong>s an <strong>de</strong>m<br />

Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong> Eugenik und <strong><strong>de</strong>r</strong> Weiterentwicklung zur Euthanasie. Hierbei han<strong>de</strong>lt es sich<br />

nicht um e<strong>in</strong>e i<strong>de</strong>ologische Neuheit, <strong>die</strong> <strong>de</strong>m Nationalsozialismus entsprungen ist son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

um bereits lange vorher existieren<strong>de</strong> Strömungen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Radikalität<br />

nationalsozialistischer Umsetzung e<strong>in</strong>en Höhepunkt erfuhren. Der These, ob Kont<strong>in</strong>uitäten<br />

und Parallelitäten bis heute <strong>in</strong> subtiler und <strong>de</strong>zentrierter Form überdauern, soll hier nicht<br />

nachgegangen wer<strong>de</strong>n. Es soll vielmehr e<strong>in</strong> eigener Standpunkt, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich durch<br />

Literaturrecherche manifestierte, dargelegt wer<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong> Gesellschaft ist e<strong>in</strong> vernetztes<br />

Gebil<strong>de</strong>, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Normen bezüglich Ästhetik, Leistung, Wissen, Umgang und Moral<br />

entworfen wer<strong>de</strong>n, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zig und alle<strong>in</strong> durch das Pr<strong>in</strong>zip <strong><strong>de</strong>r</strong> Mehrheit ratifiziert wer<strong>de</strong>n<br />

und kulturell variieren können.<br />

Alle Menschen, <strong>die</strong> sich aufgrund unterschiedlichster Ursachen, <strong>die</strong>se s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weiten<br />

Kausalzusammenhang zu verstehen, außerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Normen, bildlich gesprochen neben<br />

<strong>de</strong>m Kartenrand bewegen, erzeugen als M<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>heitengruppe e<strong>in</strong> Gefühl <strong>de</strong>s Unbehagens,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Ablehnung o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Skepsis bei <strong>de</strong>n Zugehörigen <strong><strong>de</strong>r</strong> Mehrheit. Große Teile <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Gesellschaft können <strong>die</strong> unterschiedlichen und vielfältigen Ersche<strong>in</strong>ungsformen<br />

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menschlicher Dase<strong>in</strong>sweisen, <strong>die</strong> nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong> vorgegebenes Raster passen, durch rationelle<br />

Vernunft nicht fassen. Dies führt zu Unbehagen, da <strong>die</strong> Menschen Zeit ihrer Evolution<br />

nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Beherrschung <strong><strong>de</strong>r</strong> sie umgeben<strong>de</strong>n Umwelt streben. Im Angesicht von<br />

Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ungen und Tod wer<strong>de</strong>n sie mit e<strong>in</strong>er unbeherrschbaren Variablen konfrontiert.<br />

Entschei<strong>de</strong>nd s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Maßnahmen, welche durch Existenz von Unbehagen getroffen<br />

wer<strong>de</strong>n. Diese lassen sich me<strong>in</strong>es Erachtens bis heute als anthropophagisch und<br />

anthropoemsisch charakterisieren, weil <strong>die</strong> Normenorientierung, also bestimmte<br />

Vorstellungen, wie e<strong>in</strong> Mensch biologisch, soziologisch, psychisch und bezüglich<br />

Produktionspotential zu se<strong>in</strong> hat, sich als Konstante von <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Antike</strong> bis <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Neuzeit</strong><br />

erweisen. Zusammenfassend gilt: Durch <strong>die</strong> Abweichung von Normen und <strong>die</strong> Unfähigkeit<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> gesellschaftlichen Mehrheit, <strong>die</strong> „An<strong><strong>de</strong>r</strong>en“ mittels rationeller Vernunft zu verstehen<br />

entstand und entsteht <strong><strong>de</strong>r</strong> Prozeß von offenem o<strong><strong>de</strong>r</strong> ver<strong>de</strong>cktem Ausschluß all <strong>de</strong>ssen, was<br />

uns als fremd, an<strong><strong>de</strong>r</strong>s und unangenehm ersche<strong>in</strong>t. Die extremste Form <strong>de</strong>s Ausschlusses ist<br />

<strong>die</strong> bewußte physische Selektion, <strong>die</strong> ebenfalls über geschichtliche Kont<strong>in</strong>uität verfügt und<br />

aktuell <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Präimplantationsdiagnostik, Pränataldiagnostik und <strong>de</strong>m „Liegenlassen“ von<br />

K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>n mit schwerster Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung zum Ausdruck kommt. Es kann e<strong>in</strong>e Vielzahl von<br />

Beispielen aufgezählt wer<strong>de</strong>n, bei <strong>de</strong>nen vor allem Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung physisch<br />

selektiert o<strong><strong>de</strong>r</strong> wegen ihrer physisch an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Anwesenheit sozial diskreditiert wur<strong>de</strong>n. Für<br />

<strong>die</strong> <strong>Neuzeit</strong> kann Dörner zitiert wer<strong>de</strong>n. Er spricht bei se<strong>in</strong>en Untersuchungen über <strong>die</strong><br />

Entstehung <strong><strong>de</strong>r</strong> Psychiatrie im 17. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t von e<strong>in</strong>em Ort, an <strong>de</strong>m alle Subjekte, <strong>die</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Vernunft zuwi<strong><strong>de</strong>r</strong> laufen, „unschädlich und gleichsam unsichtbar<br />

gemacht“ wur<strong>de</strong>n. „Europa überzog sich erstmals mit e<strong>in</strong>em System von soetwas wie<br />

Konzentrationslagern für Menschen, <strong>die</strong> als unvernünftig galten“ 46 .<br />

Die Etablierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Psychiatrien Mitte <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts manifestierte <strong>die</strong> Segregation<br />

von Menschen, <strong>die</strong> als an<strong><strong>de</strong>r</strong>s galten. Leiten<strong>de</strong>s Ziel wur<strong>de</strong> jedoch, <strong>de</strong>n frem<strong>de</strong>n, an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

und Unbehagen auslösen<strong>de</strong>n Menschen zu erforschen, um ihn <strong>de</strong>m rationellen Teil<br />

menschlicher Vernunft zuzuführen, <strong>de</strong>m er sich bisher verweigert hatte. Die Psychiatrien<br />

waren wesentlicher Ausgangspunkt <strong><strong>de</strong>r</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Betrachtung auffälliger Menschen,<br />

und sie stellten <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>s mediz<strong>in</strong>ischen Paradigmas dar, welches lange Zeit auch<br />

<strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Heilpädagogik dom<strong>in</strong>ierte. Die <strong>in</strong>dustrielle Revolution etablierte das<br />

Leistungs<strong>de</strong>nken und <strong>die</strong> Frage nach <strong>de</strong>m Wert e<strong>in</strong>es Menschen für <strong>de</strong>n<br />

Produktionsprozess. „Idioten“, „Asoziale“ und „Krüppel“ galten als unfähig <strong>de</strong>m<br />

technischen Fortschritt, ich nehme hier e<strong>in</strong>e term<strong>in</strong>ologische Abgrenzung zum<br />

technologischen Fortschritt vor, zu folgen. Sie bil<strong>de</strong>ten e<strong>in</strong>e ausgegrenzte und<br />

46 Dörner 1984, S. 20<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 29


enachteiligte soziale Schicht, für <strong>die</strong> eigene E<strong>in</strong>richtungen und zunehmend spezialisierte,<br />

ausgebil<strong>de</strong>te Fachkräfte zuständig waren. Als Produkt zunehmen<strong><strong>de</strong>r</strong> Ökonomisierung<br />

entstan<strong>de</strong>n For<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen nach Verh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausbreitung solcher Gene, da sie als<br />

Gefährdung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft galten und e<strong>in</strong>e Gefahr für <strong>die</strong> Existenz <strong>de</strong>s gesamten Staates<br />

darstellten. Hier lag <strong><strong>de</strong>r</strong> Beg<strong>in</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Eugenik, um <strong>de</strong>n angeblichen, beschrieben Gefahren<br />

entgegenwirken zu können. Bereits vor <strong>de</strong>m 1. Januar 1933 existierte das Gedankengut,<br />

<strong>de</strong>n Menschen, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Leben geprägt war durch Leid und Schmerzen, <strong>die</strong> Möglichkeit <strong>de</strong>s<br />

Sterbens zu geben. Die Nationalsozialisten nannten <strong>die</strong>s „Aktion Gna<strong>de</strong>ntod“, o<strong><strong>de</strong>r</strong> auch<br />

schmerzfreier Tod. Es war <strong>die</strong> menschenverachten<strong>de</strong>, radikale Umsetzung <strong>de</strong>s<br />

Euthanasiegedankens, wie man ihn <strong>in</strong> Büchern schon zur Mitte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts f<strong>in</strong><strong>de</strong>n<br />

konnte. Die hier skizzierten Entwicklungen und Praktiken wur<strong>de</strong>n gerechtfertigt durch e<strong>in</strong>e<br />

verbreitete Moral, <strong>die</strong> ihre Legitimation durch <strong>die</strong> gesellschaftliche Mehrheit erfuhr, trotz<br />

massiver Auswirkungen auf das Individuum und Verletzung se<strong>in</strong>er persönlichsten<br />

Freiheiten. Vor <strong>die</strong>sem H<strong>in</strong>tergrund s<strong>in</strong>d Son<strong><strong>de</strong>r</strong>schulen, Werkstätten für Menschen mit<br />

Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung und mediz<strong>in</strong>ische Praxis <strong>de</strong>s 21. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts, trotz ihrer zu betonen<strong>de</strong>n<br />

positiven Aspekte, e<strong>in</strong>e Fortsetzung von Selektion und Segregation, <strong>die</strong> auch heute<br />

moralisch durch das Pr<strong>in</strong>zip <strong><strong>de</strong>r</strong> Mehrheit ihre Begründung erfahren und immer noch <strong>in</strong><br />

ureigenste persönliche, <strong>in</strong>dividuelle Freiheitsrechte e<strong>in</strong>greifen.<br />

5.3.2 Zu Aufgaben und Zielen <strong><strong>de</strong>r</strong> Ethik und ihrer Wechselbeziehung zur Moral<br />

Ethik (griechisch ethos = Sitte, Gewohnheit, Brauch) ist als Moralphilosophie <strong>die</strong> Lehre<br />

vom guten und richtigen Han<strong>de</strong>ln. In e<strong>in</strong>em engen Verständnis, basierend auf <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Übersetzung „Sitte“, „Gewohnheit“, „Brauch“, ist damit das unkritische Befolgen e<strong>in</strong>es<br />

gesellschaftlichen Moralko<strong>de</strong>x geme<strong>in</strong>t. E<strong>in</strong> weites Verständnis h<strong>in</strong>gegen zeigen<br />

Analogien zur Moralität auf: Hiernach entsteht ethisches Han<strong>de</strong>ln e<strong>in</strong>erseits aufgrund<br />

kritisch - distanzierter Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit Handlungsmaßstäben, an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits auf <strong>de</strong>m<br />

Wollen gut respektive richtig zu han<strong>de</strong>ln.<br />

Ethik und ethisch s<strong>in</strong>d als Term<strong>in</strong>i <strong><strong>de</strong>r</strong> philosophischen Wissenschaft zugehörig, <strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Inhalt <strong>die</strong> Moral und moralisches Han<strong>de</strong>ln aller Menschen ist. Moral be<strong>de</strong>utet <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem<br />

S<strong>in</strong>ne <strong>die</strong> Zusammenfassung von Normen, Werturteilen und Institutionen.<br />

Während Ethik als übergeordnetes, philosophisches Kriterium alle Problembereiche <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Moral untersucht, s<strong>in</strong>d Moral und Moralität ihre Forschungsgegenstän<strong>de</strong>.<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 30


„Ethik als philosophische Teildiszipl<strong>in</strong> befaßt sich mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Begründung und Reflexion von<br />

Moral, d.h. mit <strong>de</strong>m System von Vorstellungen, Werten, Normen, Verhaltenscodices und<br />

Handlungsweisen usw., <strong>die</strong> für e<strong>in</strong> Individuum e<strong>in</strong>er Gesellschaft gültig s<strong>in</strong>d bzw. Geltung<br />

beanspruchen...“ 47 . Auch De<strong><strong>de</strong>r</strong>ich sieht Ethik als Reflexionsmo<strong>de</strong>ll menschlicher<br />

Handlungen, „Moral geht also <strong><strong>de</strong>r</strong> Ethik voraus“ 48 . Antor und Bleidick setzten Moral und<br />

Ethik <strong>in</strong> folgen<strong>de</strong>s Verhältnis: „Wesentlich ist <strong>die</strong> Unterscheidung e<strong>in</strong>es universalen,<br />

generell subjektunabhängigen Anspruchs <strong><strong>de</strong>r</strong> Ethik und <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuellen, konkreten<br />

moralischen Verhaltens" 49 . Es wird daraus <strong>de</strong>utlich, daß persönliches Tun subjektiv<br />

moralisch legitimierbar ist, jedoch sowohl gegen allgeme<strong>in</strong>e Moral als auch ethischer<br />

Universalität verstoßen kann.<br />

„Die pr<strong>in</strong>zipielle Aufgabe <strong><strong>de</strong>r</strong> Ethik kann dar<strong>in</strong> gesehen wer<strong>de</strong>n, Regeln zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n und zu<br />

begrün<strong>de</strong>n, <strong>die</strong> <strong>de</strong>n Egoismus <strong>de</strong>s Individuums e<strong>in</strong>grenzen und e<strong>in</strong> Leben von Individuen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft ermöglichen“ 50 . Bei Frese wird offensichtlich, wie schwierig es ist,<br />

Moral und Ethik <strong>de</strong>utlich und trennscharf zu differenzieren. Antor und Bleidick sprechen<br />

<strong>die</strong>sbezüglich von e<strong>in</strong>em „nicht en<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Diskurs“ 51 .<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Literatur existieren zwei konträre Positionen, bei <strong>de</strong>nen nur <strong>in</strong>sofern<br />

Übere<strong>in</strong>stimmung besteht, als Ethik ke<strong>in</strong> Kriterium zur Beurteilung s<strong>in</strong>gulärer Handlungen<br />

ist. E<strong>in</strong>erseits will sie auf e<strong>in</strong>er Metaebene <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen untersuchen, nach <strong>de</strong>nen<br />

Handlungen als moralisch <strong>de</strong>f<strong>in</strong>iert wer<strong>de</strong>n können.<br />

„[...]<strong>die</strong> Ethik reflektiert das Verhältnis von Moral und Moralität.“ 52 . Hierfür wird oftmals<br />

<strong>die</strong> Bezeichnung Meta-Theorie verwen<strong>de</strong>t, um sie über <strong>de</strong>n Stand e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen<br />

Theorie h<strong>in</strong>auszuheben. „Die Ethik ist ke<strong>in</strong>e Wissenschaft.“ 53 Diese Aussage be<strong>de</strong>utet<br />

nicht, Ethik sei unwissenschaftlich, <strong>de</strong>nn vielmehr geht es um <strong>die</strong> Abgrenzung zu <strong>de</strong>n<br />

empirischen Wissenschaften und E<strong>in</strong>ordnung <strong>in</strong> <strong>die</strong> Philosophie. Nach <strong>die</strong>sem ersten<br />

Verständnis untersucht Ethik <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen, unter <strong>de</strong>nen Handlungen als moralisch<br />

gelten können. Ihr Arbeitsgebiet ist <strong>de</strong>mnach nicht das „Was“ e<strong>in</strong>er Handlung son<strong><strong>de</strong>r</strong>n das<br />

„Wie“. Hierbei han<strong>de</strong>lt es sich um e<strong>in</strong>en <strong>de</strong>skriptiven Theorieansatz mit e<strong>in</strong>em<br />

beschreiben<strong>de</strong>n Vorgehen. Die empirisch und geschichtlich entwickelten Handlungsweisen<br />

e<strong>in</strong>er Gesellschaft wer<strong>de</strong>n beschrieben und bezüglich ihrer wirksamen Wertvorstellungen<br />

47 De<strong><strong>de</strong>r</strong>ich 2000, S. 33<br />

48 ebd. 2000, S. 119<br />

49 Antor/Bleidick 2000, S 76<br />

50 Frese 2000, S. 25<br />

51 Antor/Bleidick 2000, S. 76<br />

52 Pieper 2000, S. 46<br />

53 Miller, zitiert nach Antor/Bleidick 2000, S. 76<br />

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h<strong>in</strong> untersucht, <strong>die</strong> zumeist <strong>in</strong> <strong>de</strong>m anerkannten Moralko<strong>de</strong>x zum Tragen kommen.<br />

Wesentlich ist <strong>die</strong> Tatsache, daß <strong>de</strong>skriptive Ethik ke<strong>in</strong>e eigenen Normen formuliert. Als<br />

Beispiel sei <strong><strong>de</strong>r</strong> von Husserl entwickelte phänomenologische Ansatz genannt, <strong>de</strong>n vor allen<br />

D<strong>in</strong>gen Scheler zu e<strong>in</strong>er materialen Wertethik ausbaute.<br />

Scheler sieht <strong>de</strong>n qualitativen Aspekt e<strong>in</strong>er Handlung als <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n. Es muß e<strong>in</strong><br />

Wert hervorgebracht wer<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong> we<strong><strong>de</strong>r</strong> empirisch noch s<strong>in</strong>nlich greifbar ist, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Qualität erfühlt wird und als Wert unabhängig von se<strong>in</strong>em Träger als konstantes Gut<br />

bestehen bleibt.<br />

E<strong>in</strong>e monadische Beziehung erläutert Jakobs: Danach ist „Moral <strong><strong>de</strong>r</strong> Ethik vorgängig, und<br />

es kann Moral ohne Ethik (ethische Reflexion), kaum aber Ethik ohne Moral“ 54 geben. Er<br />

macht <strong>die</strong> E<strong>in</strong>haltung und Umsetzung ethischer Normen abhängig vom moralischen<br />

Verhalten <strong><strong>de</strong>r</strong> Individuen e<strong>in</strong>er Gesellschaft. Selbstverständlich kann richtig und gut im<br />

übere<strong>in</strong>stimmen<strong>de</strong>n Interesse <strong><strong>de</strong>r</strong> Geme<strong>in</strong>schaft gehan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, ohne daß e<strong>in</strong>e ethische<br />

Norm <strong>die</strong>s vorgibt. Wird jedoch das une<strong>in</strong>geschränkte Lebensrecht aller Menschen als<br />

gesellschaftlicher Überbau, quasi als Meta-Norm betrachtet, kann je<strong>de</strong> Handlung auf<br />

<strong>die</strong>sen ethischen M<strong>in</strong>imalkonsens reflektiert wer<strong>de</strong>n und Jakobs Behauptung e<strong>in</strong>er „Moral<br />

ohne Ethik“ wäre nicht aufrecht zu erhalten.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus verwen<strong>de</strong>t er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Def<strong>in</strong>ition <strong>die</strong> Bezeichnung „ethische Norm“ und<br />

br<strong>in</strong>gt damit zum Ausdruck, daß se<strong>in</strong>es Erachtens <strong>die</strong> Ethik nicht re<strong>in</strong> <strong>de</strong>skriptiv<br />

funktioniert, statt <strong>de</strong>ssen auch eigene Normen, <strong>in</strong> Form von Sollens-Aussagen postuliert<br />

wer<strong>de</strong>n. Damit präsentiert er <strong>die</strong> normative Ethik, e<strong>in</strong> präskriptives Verfahren, welches<br />

Bed<strong>in</strong>gungen formuliert, anhand <strong><strong>de</strong>r</strong>er moralische Normen begrün<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n können, ohne<br />

daß <strong>die</strong> Beurteilungskriterien e<strong>in</strong> Resultat bereits vorwegnehmen. Hierzu sei als Beispiel<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> transzen<strong>de</strong>ntalphilosophische Ansatz, wie er im Wesentlichen durch Kant vertreten<br />

wur<strong>de</strong>, formuliert. Er for<strong><strong>de</strong>r</strong>te, daß Ethik notwendigerweise e<strong>in</strong>e oberste Norm präsentiert,<br />

<strong>de</strong>nn das Ziel, <strong>die</strong> Verbesserung <strong><strong>de</strong>r</strong> Sitten e<strong>in</strong>er Gesellschaft, sei nur zu verwirklichen,<br />

wenn e<strong>in</strong>e Reflexionsebene vorhan<strong>de</strong>n ist. Grundlage se<strong>in</strong>er Theorie ist <strong><strong>de</strong>r</strong> gute Wille, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

we<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong> Mittel noch Zweck e<strong>in</strong>er Handlung zum Ausdruck kommt, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>n Vernunft. Je<strong><strong>de</strong>r</strong> gute Wille ist se<strong>in</strong>es Erachtens durch Vernunft geprägt,<br />

und Freiheit ist sowohl kausale als auch f<strong>in</strong>ale Ursache e<strong>in</strong>er Handlung.<br />

Das Freiheitspr<strong>in</strong>zip wur<strong>de</strong> von Kant zu e<strong>in</strong>er letztgültigen Begründung ausgearbeitet und<br />

ist e<strong>in</strong>e oberste ethische Norm.<br />

54 Jakobs 1997, S. 187<br />

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Die Generalversammlung <strong><strong>de</strong>r</strong> Vere<strong>in</strong>ten Nationen erhob am 10. Dezember 1948 <strong>die</strong><br />

Menschenrechte zu e<strong>in</strong>em universalen Leitbegriff. Sie s<strong>in</strong>d ebenfalls oberste<br />

transzen<strong>de</strong>ntale ethische Norm und besitzen unabhängig von Geographie, Geschichte,<br />

Kultur und Ökonomie ihren Anspruch. Je<strong>de</strong> Handlung, <strong>die</strong> im S<strong>in</strong>ne Kants von e<strong>in</strong>em<br />

guten Willen ausgeht, damit e<strong>in</strong>e vernünftige ist und Freiheit zum Ziel hat, wird bei <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Umsetzung ihrer Intention <strong>die</strong> Freiheit an<strong><strong>de</strong>r</strong>er und damit grundsätzliche Rechte nicht<br />

<strong>de</strong>montieren. Unter Nutzung an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Begriffe faßt Stadler <strong>de</strong>n Unterschied wie folgt<br />

zusammen: „Während es <strong><strong>de</strong>r</strong> Individualethik vor allem um das Han<strong>de</strong>ln und <strong>die</strong><br />

Ges<strong>in</strong>nungen von Menschen sowie <strong>die</strong> daraus folgen<strong>de</strong>n Wirkungen geht, steht <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Sozialethik <strong>die</strong> kritische Ermittlung und Begründung von Normen und Leitbil<strong><strong>de</strong>r</strong>n für <strong>die</strong><br />

sittliche Ordnung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft und das Zusammenleben <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen im<br />

Vor<strong><strong>de</strong>r</strong>grund“ 55 .<br />

Gerhard Schmidtchen verb<strong>in</strong><strong>de</strong>t Ethik mit Erfahrung, „ethische Grundsätze s<strong>in</strong>d <strong>die</strong><br />

allgeme<strong>in</strong>sten Werkzeuge zur Organisation von Erfahrung“, damit me<strong>in</strong>t er Produkte aus<br />

„[...] Zufall und Geist“ 56 und abhängig von <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit. Ziel <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen ist es, möglichst<br />

viele positive Erfahrungen zu sammeln und negative zu vermei<strong>de</strong>n. Nach Schmidtchen<br />

funktioniert <strong>die</strong>s nur, wenn ethische Normen Bed<strong>in</strong>gungen konstruieren, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen e<strong>in</strong>e<br />

möglichst große Anzahl von Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Genuß positiver Erfahrungen gelangen<br />

kann. „[...], <strong>in</strong> ethischen For<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen kommen Gestaltungsversuche zum Ausdruck.“ 57 Die<br />

von Schmidtchen getroffenen Aussagen dürfen nicht im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er utilitaristischen Ethik<br />

verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong> es hedonistisch um maximales Glück gesellschaftlicher Mehrheit<br />

geht, <strong>de</strong>nn vielmehr weist er e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich auf <strong>die</strong> Wichtigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> sozialen Zuwendung für<br />

alle Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft h<strong>in</strong>.<br />

Übere<strong>in</strong>stimmend wird <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Literatur von e<strong>in</strong>em globalen Übergang <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Postmo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne gesprochen. Damit ist vor allem e<strong>in</strong>e technologische Weiterentwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne geme<strong>in</strong>t, <strong>die</strong> aber nicht monozentristisch - technologisch verlaufen ist.<br />

Gravieren<strong>de</strong> Än<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen fan<strong>de</strong>n ebenfalls <strong>in</strong> Denk- und Handlungsstrukturen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Gesellschaft statt, <strong>die</strong> sich wesentlich <strong>in</strong> pluralistischen Lebensformen wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spiegeln, <strong>in</strong><br />

<strong>de</strong>nen <strong>die</strong> selbständigen Wesen ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit bil<strong>de</strong>n. Im Gegensatz zur Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne steht<br />

nicht mehr das E<strong>in</strong>heits<strong>de</strong>nken im Zentrum <strong><strong>de</strong>r</strong> Betrachtung son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>die</strong> Unterschie<strong>de</strong>, <strong>die</strong><br />

sowohl <strong>in</strong>tersubjektiv als auch <strong>in</strong>terkulturell s<strong>in</strong>d. Hieraus wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um ergeben sich verstärkt<br />

Konflikte und Grenzsituationen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>er Regelung bedürfen und e<strong>in</strong>e Herausfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung an<br />

55 Stadler 1998, S. 49<br />

56 Schmidtchen 1993, S 192 ff<br />

57 ebd. 1993, S. 197 ff<br />

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<strong>die</strong> Ethik s<strong>in</strong>d, „<strong>die</strong> Postmo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne ist wesentlich ethisch fun<strong>die</strong>rt“ 58 .<br />

Es wird davon ausgegangen, daß <strong>die</strong> Moral, als Instrument zur Regelung <strong>de</strong>s<br />

Zusammenlebens von Individuen e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft, zur Lösung ihrer Probleme nicht<br />

mehr ausreicht. Daraus kann <strong>die</strong> wesentliche For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung an <strong>die</strong> Ethik abgeleitet wer<strong>de</strong>n: Sie<br />

muß versuchen e<strong>in</strong>e Metaerzählung, <strong><strong>de</strong>r</strong>en En<strong>de</strong> eigentlich e<strong>in</strong> fundamentales<br />

Charakteristikum <strong><strong>de</strong>r</strong> Postmo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne darstellt, zu entwerfen, und auf Grundlage universaler<br />

Moralpr<strong>in</strong>zipien und ihrer theoretischen Untermauerung, normative Aussagen zu<br />

konstruieren. Formuliert sie tatsächlich e<strong>in</strong>e solche Metaerzählung, dann müssen <strong>die</strong><br />

Metho<strong>de</strong>n zu ihrem Erkenntnisgew<strong>in</strong>n offengelegt wer<strong>de</strong>n. „E<strong>in</strong>e entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung an je<strong>de</strong> wissenschaftliche o<strong><strong>de</strong>r</strong> philosophische Theorie, so auch an <strong>die</strong> Ethik,<br />

ist <strong>die</strong> Ermittlung und Darstellung ihres Begründungszusammenhangs“ 59 .<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Literatur s<strong>in</strong>d drei wesentliche Begründungsverfahren vorherrschend:<br />

Die <strong>de</strong>ontologische Ethik (griechisch: <strong>de</strong>on = Pflicht) betrachtet ihre moralischen Normen<br />

als unbegründbar, da sie von höchsten Geboten abgeleitet und nicht weiter zu h<strong>in</strong>terfragen<br />

s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> Menschenwür<strong>de</strong> ist e<strong>in</strong> solches höchstes Gebot. „Die <strong>de</strong>ontische Logik zählt, wie<br />

<strong>die</strong> erotetische Logik, zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Klasse <strong><strong>de</strong>r</strong> modalen Logiken und beschäftigt sich mit <strong>de</strong>n<br />

Modalitäten <strong><strong>de</strong>r</strong> Verpflichtung“ 60 . Logik verwen<strong>de</strong>t er synonym zu Ethik. Se<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition<br />

<strong>de</strong>utet bereits <strong>die</strong> Unbed<strong>in</strong>gtheit <strong><strong>de</strong>r</strong> For<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen <strong>de</strong>ontologischer Ethik zur E<strong>in</strong>haltung<br />

ihrer Normen an. Charakterisiert ist <strong>die</strong> Deontologie im Wesentlichen durch ihren<br />

Rigorismus. E<strong>in</strong>en Diskurs über moralische Normen lehnt sie kategorisch ab.<br />

Menschliches Leben beg<strong>in</strong>nt <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>ontologischen Ethik mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Befruchtung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

weiblichen Eizelle. E<strong>in</strong> Schwangerschaftsabbruch ist, unabhängig <strong><strong>de</strong>r</strong> zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>n<br />

Motive und Bed<strong>in</strong>gungen, e<strong>in</strong> Verstoß gegen menschliche Wür<strong>de</strong> und damit strafbar.<br />

In Bezug auf <strong>die</strong> Aktualität kann ihr aus Sicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Heilpädagogik e<strong>in</strong>e übersteigerte,<br />

traditionalistische Position vorgeworfen wer<strong>de</strong>n. Sie verschließt sich praktizierter<br />

mediz<strong>in</strong>ischer Realität, statt argumentative und überzeugen<strong>de</strong> Gegenpositionen<br />

e<strong>in</strong>zunehmen. Die Heilpädagogik mit ihrer Stellvertreterfunktion für alle Menschen mit<br />

Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung, <strong>die</strong> nicht für sich selber sprechen können, muß faktische Probleme kennen<br />

und zum Schutz ihres Klientels durch Gegenargumente bestechen können.<br />

„E<strong>in</strong>e Diskussion, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> von e<strong>in</strong>er Seite gesehen das Ergebnis ultimativ feststeht, ist ke<strong>in</strong>e<br />

Diskussion“ 61 .<br />

58 Welsch 1993, S. 7<br />

59 Jakobs 1997, S. 186<br />

60 Portele 1978, S. 89<br />

61 Rödler 1990, S. 3<br />

62 Anstötz 1990, S. 140<br />

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Die von James Steward Mill begrün<strong>de</strong>te utilitaristische Ethik (late<strong>in</strong>isch: utilis = nützlich)<br />

ist ebenfalls e<strong>in</strong>e normative, jedoch und damit im Unterschied zur Deontologie ,<br />

hedonistisch, da ihr Ziel das größtmögliche Glück für e<strong>in</strong>e maximale Anzahl von<br />

Menschen ist. Dies wird als summum bonum bezeichnet.<br />

Demnach ist <strong>die</strong> Gesamtsumme gesellschaftlichen Glücks im Zweifelsfall <strong>de</strong>m Individuum<br />

vorzuziehen. Anstötz sieht <strong>de</strong>n Utilitarismus „[...] als e<strong>in</strong>e Position, <strong>die</strong> Grundzüge e<strong>in</strong>es<br />

Problemlösungsverhaltens impliziert, wie es vom kritisch - rationalen Denkansatz her für<br />

<strong>die</strong> Lösung menschlicher Probleme überhaupt vorgeschlagen wird“ 62 . Der Utilitarismus ist<br />

teleologisch, da er auf e<strong>in</strong> Ziel ausgerichtet ist. Für <strong>die</strong> Anhänger utilitaristischer Ethik ist<br />

das Gute nützlich und damit moralisch, während umgekehrt das schlechte unnützlich und<br />

damit synonym zu unmoralisch ist. E<strong>in</strong>e Schwäche liegt <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Grundprämisse <strong>de</strong>s<br />

Utilitarismus <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Annahme, daß alle Menschen nach maximalen <strong>in</strong>dividuellem Glück<br />

streben. Dem mag durchaus zuzustimmen se<strong>in</strong>, doch damit ist nicht <strong>die</strong> These <strong>de</strong>s<br />

Hedonismus erwiesen. Persönliches Streben nach Glück kann <strong>de</strong>n Bestrebungen an<strong><strong>de</strong>r</strong>er<br />

zuwi<strong><strong>de</strong>r</strong> laufen, o<strong><strong>de</strong>r</strong> durch das Streben an<strong><strong>de</strong>r</strong>er kann persönliches Maximierungsanliegen<br />

e<strong>in</strong>geschränkt wer<strong>de</strong>n. Ob <strong><strong>de</strong>r</strong> Utilitarismus geeignet ist, moralisch zu reflektieren und das<br />

„Warum“ von ethischen Handlungen zu begrün<strong>de</strong>n, darf bezweifelt wer<strong>de</strong>n.<br />

Grundsätzlich gilt jedoch, daß Probleme nach <strong>de</strong>m Schema e<strong>in</strong>er größtmöglichen<br />

Zweckmäßigkeit für <strong>die</strong> Mehrheit gelöst wer<strong>de</strong>n. Die Auswirkungen bei konsequenter<br />

Umsetzung, <strong>in</strong>sbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e für Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung, wur<strong>de</strong>n durch <strong>die</strong> von S<strong>in</strong>ger<br />

ausgelöste Debatte <strong>de</strong>utlich, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Utilitarismus zu e<strong>in</strong>em Präferenzutilitarismus<br />

weiterentwickelte.<br />

Jürgen Habermas, Otto Apel und Paul Lorenz haben <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Tradition <strong><strong>de</strong>r</strong> Frankfurter<br />

Schule <strong>die</strong> Diskursethik (late<strong>in</strong>isch discurrere = e<strong>in</strong> Problem argumentativ lösen)<br />

entwickelt, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>e eigenen Normen formuliert, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er i<strong>de</strong>alen,<br />

herrschaftsfreien Kommunikationsgeme<strong>in</strong>schaft faktisch gelten<strong>de</strong> Normen rechtfertigen<br />

will. Durch <strong>de</strong>n Diskurs sollen ethische Konflikte gewaltfrei, argumentativ und allgeme<strong>in</strong><br />

zustimmungsfähig gelöst wer<strong>de</strong>n. Habermas schreibt zu se<strong>in</strong>er Theorie:„Je<strong>de</strong> gültige<br />

Norm muß <strong><strong>de</strong>r</strong> Bed<strong>in</strong>gung genügen, daß <strong>die</strong> Folgen und Nebenwirkungen, <strong>die</strong> sich aus<br />

ihrer allgeme<strong>in</strong>en Befolgung für <strong>die</strong> Befriedung <strong>de</strong>s Interesses je<strong>de</strong>s E<strong>in</strong>zelnen<br />

voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert wer<strong>de</strong>n können“ 63 .<br />

Grundlage <strong><strong>de</strong>r</strong> diskursiven Metho<strong>de</strong> ist <strong>die</strong> Achtung von Lebensrecht und Wür<strong>de</strong> aller<br />

63 Habermas 1983, S. 183<br />

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Menschen, hier<strong>in</strong> ist sie <strong>de</strong>ontologisch. Ihre Schwächen wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utlich, wenn<br />

Moralpr<strong>in</strong>zipien <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em praktischen Diskurs gerechtfertigt wer<strong>de</strong>n, an <strong>de</strong>m e<strong>in</strong><br />

bestimmtes Klientel aufgrund e<strong>in</strong>er Vielzahl möglicher Grün<strong>de</strong> nicht teilnehmen kann.<br />

In <strong>de</strong>n Regeln für <strong>de</strong>n Diskurs geht Habermas von sprach- und handlungsfähigen<br />

Subjekten aus. Koma – Patienten, aber auch „nicht-sprachlichen Menschen“ ist <strong>die</strong><br />

Teilnahme am Diskurs nicht möglich, so daß hier <strong>die</strong> Diskursethik auf e<strong>in</strong>e advokatorisch<br />

geprägte Ethik reduziert wird.<br />

6. Allgeme<strong>in</strong>e Anmerkungen zur Auswahl von Autoren und Werken<br />

Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Vielzahl <strong><strong>de</strong>r</strong> möglichen Werke <strong>in</strong>nerhalb aller Epochen habe ich mich für <strong>die</strong> im<br />

folgen<strong>de</strong>n aufgeführten Bücher entschie<strong>de</strong>n. Die Auswahl geschah anhand <strong>de</strong>s<br />

persönlichen Vorwissens bezüglich <strong><strong>de</strong>r</strong> Autoren, sie ist daher subjektiv und für je<strong>de</strong>n<br />

kritisierbar und anzugreifen.<br />

Es gilt nochmals darauf h<strong>in</strong>zuweisen, daß alle Aussagen und Interpretationen <strong>in</strong>dividueller<br />

Natur s<strong>in</strong>d und im S<strong>in</strong>ne <strong><strong>de</strong>r</strong> Hermeneutik ke<strong>in</strong>en verb<strong>in</strong>dlichen Anspruch besitzen. Die<br />

von mir formulierten Ergebnisse, aus <strong>de</strong>nen unter an<strong><strong>de</strong>r</strong>em Rückschlüsse auf mögliche<br />

ethische Normen <strong><strong>de</strong>r</strong> jeweiligen Epoche geleistet wer<strong>de</strong>n, resultieren explizit aus <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Analyse <strong><strong>de</strong>r</strong> Bücher und können faktischer Realität wi<strong><strong>de</strong>r</strong>sprechen.<br />

Im Folgen<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n <strong>die</strong> vier ausgewählten Autoren und ihr jeweiliger Lebensgang kurz<br />

skizziert.<br />

6.1 Aristoteles – Nikomachische Ethik<br />

Aristoteles wur<strong>de</strong> 384 v. Chr. <strong>in</strong> Griechenland geboren. Er verstarb 322 v. Chr.<br />

In Athen wur<strong>de</strong> er Schüler <strong>de</strong>s Platons, <strong><strong>de</strong>r</strong> als se<strong>in</strong> geistiger Ziehvater gilt, obwohl<br />

Aristoteles <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen se<strong>in</strong>er Werke <strong>de</strong>utliche Gegenpositionen zu Platon e<strong>in</strong>nimmt und <strong>de</strong>n<br />

von Platon formulierten I<strong>de</strong>alismus fort- und umbil<strong>de</strong>te. Im Jahre 342. v. Chr. wur<strong>de</strong><br />

Aristoteles Erzieher Alexan<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Großen, 6 Jahre später grün<strong>de</strong>te er <strong>in</strong> Athen se<strong>in</strong>e<br />

eigene philosophische Schule, <strong>die</strong> als Schule <strong><strong>de</strong>r</strong> Peripatetiker zu Ruhm und Ansehen<br />

gelangte. Bezichtigt <strong><strong>de</strong>r</strong> Gottlosigkeit mußte Aristoteles nach <strong>de</strong>m Tod Alexan<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s<br />

Großen unfreiwillig Athen verlassen. Se<strong>in</strong>e bekanntesten Werke stammen aus <strong>de</strong>n<br />

Bereichen <strong><strong>de</strong>r</strong> Naturphilosophie, Politik, Logik, Metaphysik, Psychologie und Ethik. In<br />

<strong>de</strong>n drei großen Werken zur Ethik (Nikomachische-, Eu<strong>de</strong>mische-, und Große Ethik)<br />

thematisiert er <strong>die</strong> Probleme von Tugend, Glückseligkeit, Wissen und Freundschaft und hat<br />

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mit <strong>die</strong>sen Werken <strong>die</strong> praktische Philosophie von <strong><strong>de</strong>r</strong> theoretischen getrennt und Ethik als<br />

eigenständige Diszipl<strong>in</strong> begrün<strong>de</strong>t. Se<strong>in</strong>e Ergebnisse fan<strong>de</strong>n ihren praktischen Übertrag <strong>in</strong><br />

Aristoteles Werk über <strong>die</strong> Staatslehre. Er gilt als <strong><strong>de</strong>r</strong> größte Systematiker <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

abendländlichen Geistesgeschichte, se<strong>in</strong>e Begriffsbildungen beherrschen <strong>die</strong><br />

Schulphilosophie bis zur Gegenwart.<br />

Die hier ausgesuchte Nikomachische Ethik ist das e<strong>in</strong>flußreichste se<strong>in</strong>er drei Werke zu<br />

<strong>die</strong>sen Themenbereich. Den Titel stammt vermutlich vom Namen <strong>de</strong>s Sohnes Nikomachos.<br />

5.2 Thomas Morus - Utopia<br />

Thomas Morus wur<strong>de</strong> am 7. Februar 1478 als Sohn e<strong>in</strong>es wohlhaben<strong>de</strong>n Juristen <strong>in</strong><br />

London geboren. Auf Anweisung <strong><strong>de</strong>r</strong> Erzbischofs John Morton von Canterbury beg<strong>in</strong>nt er<br />

gegen <strong>de</strong>n Wunsch se<strong>in</strong>es Vaters e<strong>in</strong> Studium <strong>de</strong>s Griechischen <strong>in</strong> Oxford. Später hört er<br />

auf <strong>de</strong>n Rat <strong>de</strong>s Vaters und tritt mit <strong>de</strong>m Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>es Jurastudiums <strong>in</strong> <strong>de</strong>ssen Fußstapfen.<br />

1501 erhält Morus das juristische Examen. Er beg<strong>in</strong>nt e<strong>in</strong>e universitäre Lehrtätigkeit und<br />

macht als kritischer Geist se<strong>in</strong>en Weg <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Politik. Aufsehen erregte er 1504, als er<br />

öffentlich gegen <strong>die</strong> Steuerpolitik He<strong>in</strong>richs VII argumentierte. Trotz<strong>de</strong>m wur<strong>de</strong> er zum<br />

Parlamentsmitglied <strong>in</strong> London ernannt, später Mitglied <strong>de</strong>s Kronrats und 1518 zum<br />

persönlichen Sekretär He<strong>in</strong>richs VIII berufen.<br />

Seit Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>es Jurastudiums übersetzt er zusammen mit Erasmus von Rotterdam<br />

religiöse Schriften <strong>in</strong>s Englische und Late<strong>in</strong>ische. Ab 1521 schreibt Morus im Auftrag <strong>de</strong>s<br />

Königs religionspolitische Schriften gegen Mart<strong>in</strong> Luther. Den Höhepunkt se<strong>in</strong>er<br />

politischen Entwicklung erreichte er mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Berufung zum Lordkanzler von England<br />

1529. Als sich 1532 <strong><strong>de</strong>r</strong> Klerus <strong><strong>de</strong>r</strong> Suprematie <strong>de</strong>s Königs unterwarf trat Morus von<br />

se<strong>in</strong>em Amt als Lordkanzler zurück und verweigert trotz königlichen Drucks <strong>de</strong>n<br />

Suprematseid. Er wird <strong>in</strong>haftiert und 1535 h<strong>in</strong>gerichtet.<br />

Die hier ausgewählte satirische Schrift „Utopia“ gilt als se<strong>in</strong> bekanntestes Werk, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m<br />

Morus e<strong>in</strong>e aus Geme<strong>in</strong>eigentum aufgebaute Gesellschaft schil<strong><strong>de</strong>r</strong>t.<br />

5.3 Charles Darw<strong>in</strong> - Die Entstehung <strong><strong>de</strong>r</strong> Arten<br />

Charles Darw<strong>in</strong> war englischer Naturforscher. Er wur<strong>de</strong> 1809 <strong>in</strong> Shrewsbury geboren und<br />

verstarb am 19. April 1892 <strong>in</strong> London. Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n E<strong>in</strong>fluß auf se<strong>in</strong>e spätere<br />

Theoriebildung hatte e<strong>in</strong>e fünfjährige Teilnahme an e<strong>in</strong>er Weltumseglung mit <strong>de</strong>m<br />

Vermessungsschiff „Beagle“. Die Beobachtungen verschie<strong>de</strong>ner F<strong>in</strong>kenarten auf <strong>de</strong>n<br />

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Galapagos - Inseln <strong>in</strong>spirierten ihn zu se<strong>in</strong>er Theorie, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Ergebnis das revolutionäre<br />

Werk „Über <strong>de</strong>n Ursprung <strong><strong>de</strong>r</strong> Arten durch natürliche Auslese“ war. Dabei geht Darw<strong>in</strong><br />

von <strong><strong>de</strong>r</strong> These <strong><strong>de</strong>r</strong> geme<strong>in</strong>samen Abstammung und allmählichen Entwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong> Arten<br />

aus, nach <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>die</strong>jenigen überleben und ihr Erbgut weitergeben, welche besser an <strong>die</strong><br />

Umwelt und ihren natürlichen Lebensbed<strong>in</strong>gungen angepaßt s<strong>in</strong>d.<br />

Darw<strong>in</strong>s Evolutionstheorie verän<strong><strong>de</strong>r</strong>te <strong>die</strong> Auffassung vom Menschen, <strong><strong>de</strong>r</strong> nun als Teil <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Natur galt und nicht mehr über <strong>die</strong>ser stand. Die Theorie etablierte sich und bee<strong>in</strong>flußte<br />

alle Wissenschaftsbereiche nachhaltig. Jedoch gilt <strong>die</strong> Evolutionstheorie nicht als<br />

vollständig neues, von Darw<strong>in</strong> hervorgebrachtes Gedankengut, statt <strong>de</strong>ssen ist es e<strong>in</strong>e<br />

konsequente Weiterentwicklung zu e<strong>in</strong>er <strong>de</strong>utlichen Selektionstheorie, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Ursprung <strong>in</strong><br />

<strong>de</strong>m Werk „Zoonomia“ von Erasmus (1731 – 1902) liegt, <strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong> Onkel Darw<strong>in</strong>s war.<br />

Im 20. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t waren es <strong>die</strong> Nationalsozialisten, <strong>die</strong> mit <strong>de</strong>m Begriff<br />

„Sozialdarw<strong>in</strong>ismus“ ihre Selektion nach unterschiedlichen menschlichen Rassen<br />

begrün<strong>de</strong>ten.<br />

Allgeme<strong>in</strong> gilt, daß alle Werke und ihre Autoren auf e<strong>in</strong>em sehr hohen Forschungsstand<br />

angesie<strong>de</strong>lt s<strong>in</strong>d. Die Zahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Sekundärliteraturen und Interpretationen ist kaum<br />

überschaubar. Natürlich wer<strong>de</strong>n durch <strong>die</strong> Interpretationen <strong>die</strong>ser Arbeit bisherige Ansätze<br />

nicht überflüssig, auch wer<strong>de</strong>n ke<strong>in</strong>e revolutionären Aspekte hervorgebracht wer<strong>de</strong>n<br />

können. Jedoch wer<strong>de</strong>n alle Werke unter e<strong>in</strong>er ganz spezifischen Fragestellung behan<strong>de</strong>lt,<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Form noch ke<strong>in</strong>e Berücksichtigung <strong>in</strong> Sekundärliteratur erfahren hat. Dadurch<br />

können durchaus überraschen<strong>de</strong> Aussagen entwickelt wer<strong>de</strong>n, <strong>die</strong> bisherigen Annahmen<br />

über <strong>de</strong>n Autor o<strong><strong>de</strong>r</strong> se<strong>in</strong>er zeitlichen Epoche wi<strong><strong>de</strong>r</strong>sprechen.<br />

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7. Ausführungen <strong><strong>de</strong>r</strong> hermeneutischen Textanalyse:<br />

In <strong>die</strong>sem Kapitel wer<strong>de</strong> ich <strong>die</strong> ausgewählten Texte hermeneutisch analysieren. Grundlage<br />

bil<strong>de</strong>t hierbei <strong><strong>de</strong>r</strong> im Anhang aufgeführte Fragenkatalog. Die Ergebnisse me<strong>in</strong>er<br />

Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit <strong>de</strong>n Werken wer<strong>de</strong> ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fortlaufen<strong>de</strong>n Text formulieren.<br />

Die Beantwortung <strong><strong>de</strong>r</strong> systematischen und spezifischen Fragen <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>zelner<br />

Inhaltsblöcke birgt me<strong>in</strong>es Erachtens e<strong>in</strong>e Gefahr, <strong>die</strong> Texte <strong><strong>de</strong>r</strong> Autoren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelne,<br />

vone<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong> getrennt Gedankengänge zu glie<strong><strong>de</strong>r</strong>n und wesentliche Momente und Aussagen<br />

verkürzt wie<strong><strong>de</strong>r</strong>zugeben. Den möglichen Transfer <strong><strong>de</strong>r</strong> Gedankengängen und ihr Vergleich<br />

mit aktuellen Ereignissen wer<strong>de</strong> ich ebenfalls <strong>in</strong> <strong>de</strong>n fortlaufen<strong>de</strong>n Textkörper e<strong>in</strong>fließen<br />

lassen.<br />

7.1 Aristoteles und se<strong>in</strong> Werk <strong><strong>de</strong>r</strong> Nikomachischen Ethik:<br />

E<strong>in</strong>e Analyse <strong><strong>de</strong>r</strong> Nikomachischen Ethik bezüglich ihrer Aussagen zur Ethik, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

implizierten Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong>, Moralvorstellungen und zu leisten<strong>de</strong>n Interpretationen auf<br />

mögliche Auswirkungen für Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung und speziell mit<br />

Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t das ständige Bewußtse<strong>in</strong>, daß alle Aussagen auf<br />

Lebensverhältnissen basieren, <strong>die</strong> bereits über zweitausend Jahre zurückliegen. Unter<br />

Umstän<strong>de</strong>n können Me<strong>in</strong>ungen und Aussagen von Aristoteles unvere<strong>in</strong>bar mit unseren<br />

heutigen Ansichten se<strong>in</strong> jedoch für <strong>die</strong> damalige Zeit durchaus mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nes und<br />

fortschrittliches Gedankengut repräsentieren.<br />

Auffallend ist <strong>die</strong> Verwendung von Ethik als Substantiv im Buchtitel, während er bei<br />

se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>haltlichen Ausführungen durchgängig <strong>die</strong> adverbiale Form „ethisch“ nutzt.<br />

Diese sprachliche Struktur macht <strong>de</strong>n praktischen Ansatz se<strong>in</strong>er philosophischen Schrift<br />

<strong>de</strong>utlich. Er philosophiert nicht über <strong>die</strong> Ethik son<strong><strong>de</strong>r</strong>n über Handlungsweisen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>en<br />

ethischen Anspruch erfüllen. Aristoteles verzichtet auf <strong>die</strong> Formulierung metaethischer<br />

Normen genauso wie auf <strong>die</strong> Konstruktion von Bed<strong>in</strong>gungen, unter <strong>de</strong>nen <strong>die</strong>se Normen<br />

e<strong>in</strong>erseits gesellschaftlich b<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong> Priorität darstellen, an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits <strong>in</strong>dividuelle Freiheiten<br />

e<strong>in</strong>e Ambivalenz gegen normative Vorgaben ermöglichen.<br />

Den Anspruch e<strong>in</strong>er praktischen Philosophie und <strong>die</strong> Begründung se<strong>in</strong>es Verzichts auf<br />

e<strong>in</strong>e metatheoretische Ethik benennt er auf Seite 36: „[...] wir philosophieren nämlich<br />

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nicht, um zu erfahren, was ethische Werthaftigkeit sei, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n um wertvolle Menschen zu<br />

wer<strong>de</strong>n“ 1 .<br />

Neben se<strong>in</strong>em praktischen Anspruch wird hier e<strong>in</strong>e vergleichsweise spezielle Def<strong>in</strong>ition<br />

von Ethik vorgestellt. Sie entspricht nicht <strong>de</strong>m heute verbreiteten Verständnis e<strong>in</strong>er<br />

theoretischen Reflexionsebene von Moral und Moralität. Statt <strong>de</strong>ssen weist se<strong>in</strong>e<br />

Auffassung <strong>die</strong> Ethik als e<strong>in</strong> praktisches Instrumentarium zur Verwirklichung<br />

menschlicher Handlungen aus. Ziel ist <strong>die</strong> Ermöglichung sittlicher Trefflichkeit aller<br />

Menschen entsprechend e<strong>in</strong>er ihnen gegebenen Situation. Die Begriffe Moral und<br />

Moralität zur Kennzeichnung praktischer Handlungen verwen<strong>de</strong>t er nicht. Sie fließen bei<br />

Aristoteles <strong>in</strong> <strong>die</strong> Term<strong>in</strong>i Ethik und ethisch e<strong>in</strong>.<br />

Aristoteles vollzieht ke<strong>in</strong>e explizite Deskription sozial-gesellschaftlicher Realität und hebt<br />

sich <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Punkt von Platon, se<strong>in</strong>em geistigen Lehrmeister, ab. Dieser g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Werken zur Ethik ausführlich auf gesellschaftliche, sozio-ökonomische und politische<br />

Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>. Aristoteles behan<strong>de</strong>lt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch Komplexe <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen<br />

E<strong>in</strong>zeltugen<strong>de</strong>n, <strong>die</strong> er jeweils nach <strong>de</strong>mselben Schema untersucht. Se<strong>in</strong>e leiten<strong>de</strong> Prämisse<br />

ist das richtige Verhalten entsprechend e<strong>in</strong>er gegebenen Situation zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Das richtige<br />

Verhalten und damit <strong>die</strong> sittliche Trefflichkeit bezeichnet er als <strong>die</strong> Mitte zwischen zwei<br />

Extremen, als Balance zwischen zwei gegenüberliegen<strong>de</strong>n Pole. Für <strong>die</strong> jeweiligen, von<br />

ihm aufgezeigten E<strong>in</strong>zeltugen<strong>de</strong>n, versucht er <strong>die</strong>se Mitte aufzuzeigen.<br />

Se<strong>in</strong>e Ausblendung <strong>de</strong>s kulturellen und gesellschaftlichen Kontext für <strong>die</strong> damaligen Zeit<br />

verursacht zwei wesentliche Folgen: E<strong>in</strong>erseits bil<strong>de</strong>n se<strong>in</strong>e formulierten Beispiele e<strong>in</strong>en<br />

i<strong>de</strong>alen Raum ab, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Handlungen entwe<strong><strong>de</strong>r</strong> Aktion o<strong><strong>de</strong>r</strong> Reaktion e<strong>in</strong>es Subjekts<br />

präsentieren unter Nichtbeachtung e<strong>in</strong>er faktischen und bee<strong>in</strong>flussen<strong>de</strong>n Realität. E<strong>in</strong><br />

solches Vorgehen übergeht <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Antike</strong> selbstverständlich existieren<strong>de</strong>n sozialen<br />

Verb<strong>in</strong>dungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Individuen durch Interaktion und Kommunikation mit ihrer Umwelt.<br />

Hier<strong>in</strong> spiegelt sich <strong><strong>de</strong>r</strong> philosophische Reduktionismus e<strong>in</strong>es Wissenschaftsverständnis<br />

über <strong>die</strong> Natur <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Der Mensch als statisches, <strong>de</strong>term<strong>in</strong>istisches und<br />

atomistische Element.<br />

E<strong>in</strong> Buch über Ethik und ethisches Han<strong>de</strong>ln, welches vollständig <strong>de</strong>n Aspekt <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Lebensumstän<strong>de</strong> ignoriert, sche<strong>in</strong>t von <strong><strong>de</strong>r</strong> Anlage her bereits ungeeignet, um <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne mit ihren weitreichen<strong>de</strong>n sozialen und gesellschaftlichen Koppelungen, e<strong>in</strong>en<br />

Gültigkeitsanspruch erheben zu können.<br />

Außer<strong>de</strong>m ist es aufgrund fehlen<strong><strong>de</strong>r</strong> Reflexion <strong><strong>de</strong>r</strong> Realität kaum möglich, Aussagen und<br />

1 Aristoteles 1983, S. 36<br />

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Interpretationen auf <strong>die</strong> akute Lebenssituation von Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung zu treffen.<br />

Lediglich an e<strong>in</strong>er Stelle <strong>de</strong>s Buches kommt e<strong>in</strong>e soziale Hierarchie <strong>in</strong>nerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Gesellschaft zum Ausdruck, wie sie jedoch als typisch für <strong>die</strong> <strong>Antike</strong> angesehen wer<strong>de</strong>n<br />

kann: „Wenn zum Beispiel <strong><strong>de</strong>r</strong> Träger e<strong>in</strong>es Amtes körperlich verletzt hat, so darf <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

erstere nicht ebenfalls zum Ausgleich verletzt wer<strong>de</strong>n.<br />

Hat aber jemand <strong>de</strong>n Amtes verletzt, so muß er <strong>die</strong>s nicht nur an se<strong>in</strong>em Leib zu spüren<br />

bekommen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch noch bestraft wer<strong>de</strong>n“ 2 .<br />

Dieses Beispiel bil<strong>de</strong>t nicht <strong>die</strong> Gesellschaft im Ganzen ab, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n es betont e<strong>in</strong>e<br />

Ausnahmestellung für Menschen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em öffentlichen Amt und damit, nach <strong>de</strong>m<br />

Glauben <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen, sowohl im Auftrag <strong>de</strong>s Staates, als auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Götter tätig s<strong>in</strong>d. Sie<br />

stehen <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaftsordnung über <strong>de</strong>n restlichen Bürgern <strong><strong>de</strong>r</strong> Polisgeme<strong>in</strong><strong>de</strong> und<br />

damit auch über Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung.<br />

Hier schließt sich <strong>die</strong> Frage <strong><strong>de</strong>r</strong> Zugänglichkeit öffentlicher Ämter zur damaligen Zeit an.<br />

Waren sie an Bed<strong>in</strong>gungen und Voraussetzungen geknüpft, und hätten auch Menschen mit<br />

Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung e<strong>in</strong>e solche Position erreichen können? Diese Frage kann nicht mit Hilfe <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

„Nikomachischen Ethik“ beantwortet wer<strong>de</strong>n. In e<strong>in</strong>em weiteren Buch Aristoteles (Politik<br />

und Staat <strong><strong>de</strong>r</strong> Athener) 3 f<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich e<strong>in</strong>e unerläßliche Bed<strong>in</strong>gung: Nur Menschen, <strong>die</strong> drei<br />

Jahre für das Herr <strong>die</strong>nten und sich dabei durch Mut, Tapferkeit, körperliche Leistungskraft<br />

und Intelligenz ausgezeichnet haben, steht pr<strong>in</strong>zipiell <strong>die</strong> Möglichkeit zur Berufung <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

öffentliches Amt offen. Hier existiert e<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gung, <strong>die</strong> zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st Menschen mit<br />

Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>n Zugang zu öffentlichen Ämtern weitgehend unmöglich machte<br />

und e<strong>in</strong>en vertikalen Aufstieg im Gesellschaftssystem verh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>n konnten.<br />

Nach <strong>de</strong>m Aufzeigen <strong>de</strong>s praktischen Anspruches se<strong>in</strong>er Philosophie und e<strong>in</strong>er kurzen<br />

Erläuterung <strong><strong>de</strong>r</strong> Problematik se<strong>in</strong>es Verzichtes auf gesellschaftliche Realität wird jetzt<br />

explizit auf Aristoteles Def<strong>in</strong>ition <strong>de</strong>ssen, was unter Ethik respektive ethisch zu verstehen<br />

ist, e<strong>in</strong>gegangen. Um dabei <strong>de</strong>n Ausführungen Aristoteles folgen zu können, muss zuvor<br />

se<strong>in</strong>er Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit <strong>de</strong>m Begriffe Tüchtigkeit gefolgt wer<strong>de</strong>n. Der Ansatzpunkt<br />

zur <strong>in</strong>haltlichen Füllung <strong>die</strong>ses Begriffs liefert se<strong>in</strong>e anthropologisch formulierte Frage, <strong>in</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> er nach e<strong>in</strong>er Leistung sucht, <strong>die</strong> <strong>de</strong>n Menschen von Pflanzen und Tieren abgrenzt.<br />

Hierzu schreibt er: „Sollte nicht vielmehr so wie Auge, Hand, Fuß, kurz je<strong><strong>de</strong>r</strong> Teil <strong>de</strong>s<br />

Körpers se<strong>in</strong>e beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e Funktion hat, auch für <strong>de</strong>n Menschen über all <strong>die</strong>se<br />

2 ebd. 1983, S. 132<br />

3 vgl. Aristoteles 1993, S. 44 ff<br />

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Teilfunktionen h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e bestimmte Leistung anzusetzen se<strong>in</strong>?“ 4 . Es ist se<strong>in</strong> Versuch,<br />

e<strong>in</strong>e Wesenseigenschaft zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n, <strong>die</strong> allen Menschen über <strong>die</strong> Tätigkeit <strong>in</strong>dividueller,<br />

separierter E<strong>in</strong>zelfunktionen h<strong>in</strong>aus geme<strong>in</strong>sam ist. Das zitierte anthropologische<br />

Erkenntnis<strong>in</strong>teresse ist ke<strong>in</strong>esfalls als For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung zur Formulierung von Normen,<br />

beispielsweise h<strong>in</strong>sichtlich <strong>in</strong>dividueller Produktionspotentiale zu verstehen. Es steht<br />

hierbei nicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Aspekt <strong><strong>de</strong>r</strong> sozialen Nützlichkeit zur Diskussion. Aristoteles f<strong>in</strong><strong>de</strong>t e<strong>in</strong><br />

solches anthropologisches Element, welches <strong>de</strong>n Menschen über Pflanze und Tier hebt, es<br />

ist <strong>die</strong>s, „[...] e<strong>in</strong> Tätigse<strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele“ 5 , als unverzichtbare Voraussetzung zur ethischen<br />

Trefflichkeit. Damit trennt er Mensch und Tier anhand e<strong>in</strong>es qualitativen Axioms und nicht<br />

s<strong>in</strong>gulär aufgrund speziezistischer Gattungsgrenzen. Es muß sich hier <strong>die</strong> Frage, vor allem<br />

im H<strong>in</strong>blick auf unser leiten<strong>de</strong>s Erkenntnis<strong>in</strong>teresse, anschließen, ob er bestimmten<br />

Menschen <strong>die</strong> Voraussetzungen für e<strong>in</strong> „Tätigse<strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele“ abspricht.<br />

Dies geschieht we<strong><strong>de</strong>r</strong> ausdrücklich noch <strong>in</strong> Form von Metaphern. Je<strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch ist <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Nikomachischen Ethik durch se<strong>in</strong>e menschliche Existenz mit se<strong>in</strong>er ihm eigenen Seele<br />

tätig. Die Seele ist Basis je<strong>de</strong>s Menschen und existiert Entwicklungsunabhängig. Hieraus<br />

können wir nun ableiten, wie Aristoteles zu <strong>de</strong>m Dualismus von Körper und Seele steht. Er<br />

nimmt e<strong>in</strong>e Differenzierung vor, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> er Seele und Geist vom Körper trennt. Denn wenn<br />

er das „Tätigse<strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele“ allen Menschen zuspricht, können wir ihn von e<strong>in</strong>em re<strong>in</strong><br />

biologistischen Paradigma abgrenzen und e<strong>in</strong>er primär philosophisch orientierten<br />

Zugangsweise zuordnen. Durch <strong>die</strong> Trennung zwischen e<strong>in</strong>er äußeren und e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren<br />

Ebene überw<strong>in</strong><strong>de</strong>t er das I<strong>de</strong>al <strong><strong>de</strong>r</strong> Kalokagathie, wonach <strong>die</strong> äußere Ästhetik e<strong>in</strong>es<br />

Menschen qualitative Rückschlüsse auf se<strong>in</strong>e Moral zuläßt.<br />

Aristoteles macht e<strong>in</strong> „Tätigse<strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele“ nicht abhängig von bestimmten<br />

M<strong>in</strong><strong>de</strong>stkriterien, unter <strong>de</strong>nen das „Tätigse<strong>in</strong>“ sich erst vollziehen kann und folgt somit<br />

nicht <strong>de</strong>n Theorien, <strong>die</strong> von e<strong>in</strong>er Wechselbeziehung körperlicher und geistiger<br />

Fähigkeiten ausgehen. Diese Annahme ist für <strong>die</strong> Philosophie <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Antike</strong> e<strong>in</strong>e gravieren<strong>de</strong><br />

Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung. Es war vor allem Plato, also erneut <strong><strong>de</strong>r</strong> geistige Ziehvater Aristoteles, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>en Arbeiten zur menschlichen Ästhetik äußere Vollkommenheit mit <strong>in</strong>nerer Moral<br />

gleichsetzte.<br />

Im S<strong>in</strong>ne <strong><strong>de</strong>r</strong> hermeneutischen Spirale muß <strong>die</strong>se erste Aussage sich immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> erneut<br />

bestätigen o<strong><strong>de</strong>r</strong> neu <strong>in</strong>terpretiert wer<strong>de</strong>n. Es ist beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s wichtig, weil <strong>die</strong>se erste Aussage<br />

zu Aristoteles me<strong>in</strong>em Vorwissen über se<strong>in</strong>e Person und <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Antike</strong>n allgeme<strong>in</strong><br />

zuwi<strong><strong>de</strong>r</strong>läuft. In folgen<strong><strong>de</strong>r</strong> Formulierung sehe ich jedoch e<strong>in</strong>en Beleg, an <strong>de</strong>m me<strong>in</strong>e<br />

4 Aristoteles, 1983, S. 16<br />

5 ebd. 1983, S 17<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 42


isherige Aussage zu stützen ist. „Tüchtigkeit <strong>de</strong>s Menschen be<strong>de</strong>utet nicht <strong>die</strong> <strong>de</strong>s Leibes,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>die</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele, und auch das Glück bezeichnen wir als e<strong>in</strong> Tätigse<strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele“ 6 .<br />

Auf <strong>die</strong> Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Körpers als Hülle <strong>de</strong>s Menschen geht Aristoteles ausführlich im<br />

Zusammenhang mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Eudaimonia, <strong>de</strong>m Glück als Teleologie aller Menschen, e<strong>in</strong>. Dies<br />

wird im weiteren Verlauf <strong><strong>de</strong>r</strong> entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> zu untersuchen<strong>de</strong> Aspekt se<strong>in</strong>.<br />

Zusammenfassend kann man <strong>die</strong> ersten Ausführungen zur Ethik wie folgt: Die<br />

Voraussetzungen für ethisches Han<strong>de</strong>ln br<strong>in</strong>gen alle Menschen mit unabhängig von ihrer<br />

Physis, ihrer Psyche, ihren E<strong>in</strong>stellungen und Lebensweisen. Je<strong>de</strong>s Subjekt ist fähig ethisch<br />

zu han<strong>de</strong>ln und <strong>die</strong>s muß als erste positive Kernaussage festgehalten wer<strong>de</strong>n. Ob <strong>die</strong><br />

Handlungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen untere<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong> durch ethisches Verhalten geprägt waren geht<br />

aus <strong>de</strong>m Buch nicht hervor.<br />

Wenn alle Menschen <strong>die</strong>se Fähigkeit besitzen, wann ist es gerechtfertigt, e<strong>in</strong>e Handlung als<br />

ethisch zu bezeichnen? Er formuliert hierzu e<strong>in</strong>e zweite Voraussetzung, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m er drei<br />

„seelische Phänomene“ 7 als Eigenheit aller Menschen vorgibt. „Irrationale Regungen“,<br />

„Anlage“ und „feste Grundhaltungen“, <strong>die</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kausalzusammenhang zu ethischen<br />

Handlungen stehen. „Irrationale Regungen“ <strong>de</strong>f<strong>in</strong>iert er als „Empf<strong>in</strong>dungen, <strong>die</strong> von Lust<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> Unlust begleitet wer<strong>de</strong>n“ und Anlage als „[...] das, wodurch wir als fähig bezeichnet<br />

wer<strong>de</strong>n, <strong>die</strong> irrationalen Regungen zu fühlen“. An <strong>die</strong>ser Stelle können wir Aristoteles<br />

erstmals <strong>in</strong>s 21. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t vergegenwärtigen. In se<strong>in</strong>en Ausführungen existieren zwei<br />

sprachliche Elemente, <strong>de</strong>nen <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> aktuell Diskussion negativ begegnet wird.<br />

So kann bezweifelt wer<strong>de</strong>n, ob Empf<strong>in</strong>dungen tatsächlich als Merkmal aller Menschen<br />

gelten können, o<strong><strong>de</strong>r</strong> statt <strong>de</strong>ssen an <strong>die</strong> Fähigkeit zur Selbstreflexion gebun<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d. Über<br />

<strong>die</strong>se argumentative Ebene e<strong>in</strong>er fehlen<strong>de</strong>n Selbstreflexivität von Menschen mit schwerster<br />

Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung begrün<strong>de</strong>t beispielsweise Peter S<strong>in</strong>ger <strong>die</strong> Unterscheidung zwischen e<strong>in</strong>em<br />

Personen- und Menschenstatus.<br />

Aristoteles spricht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Ausführungen zu <strong>de</strong>n „Anlagen“ davon, dass Menschen<br />

„bezeichnet“ wer<strong>de</strong>n, Empf<strong>in</strong>dungen zu verspüren. Bei e<strong>in</strong>er <strong><strong>de</strong>r</strong>artigen Formulierung ist<br />

e<strong>in</strong>e attributierung menschlicher Fähigkeit impliziert, und wo <strong>die</strong>s geschieht, kann <strong>die</strong><br />

Gefahr <strong><strong>de</strong>r</strong> Aberkennung <strong><strong>de</strong>r</strong>selben durch e<strong>in</strong>en An<strong><strong>de</strong>r</strong>en hervorgehen. In <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

„Nikomachischen Ethik“ ist ke<strong>in</strong>e Negierung menschlicher Rechte, Fähigkeiten und<br />

Eigenschaften durch <strong>die</strong>se Begriffe impliziert.<br />

Folgen wir weiter Aristoteles Gedankengang zu <strong>de</strong>n seelischen Phänomenen.<br />

6 ebd. 1983, S. 30<br />

7 ebd. 1983, S 41ff<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 43


Feste Grundhaltungen s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> subjekteigenen Reaktionen auf <strong>die</strong> „irrationalen Regungen“,<br />

<strong>de</strong>nen wir uns „[...] gegenüber richtig o<strong><strong>de</strong>r</strong> unrichtig verhalten“ 8 . Richtiges Verhalten ist<br />

<strong>de</strong>mnach das Ergebnis e<strong>in</strong>er vorausgegangenen, reflexiv getroffenen Entscheidung, welche<br />

zur angemessenen Reaktion e<strong>in</strong>es Subjekts auf jegliche Form <strong><strong>de</strong>r</strong> Empf<strong>in</strong>dung führt. Diese<br />

Richtigkeit ist <strong><strong>de</strong>r</strong> sittliche Wert, <strong><strong>de</strong>r</strong> als e<strong>in</strong>e feste Grundhaltung <strong>de</strong>n Menschen geme<strong>in</strong> ist<br />

und entsprechend <strong><strong>de</strong>r</strong> jeweiligen Wesenhaftigkeit angewandt wer<strong>de</strong>n muß. Aristoteles<br />

subsumiert se<strong>in</strong>en Gedankengang zur festen Grundhaltung und <strong><strong>de</strong>r</strong> Wesenhaftigkeit <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Wort, es han<strong>de</strong>lt sich hierbei um <strong>de</strong>n Charakter e<strong>in</strong>es Menschen. In <strong>de</strong>m er ethisches<br />

Han<strong>de</strong>ln als e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dividuellen Prozeß von Aktivität vorstellt, erkennen wir e<strong>in</strong>en Bezug<br />

zur Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne. Die Moralität beruht ebenfalls auf <strong>de</strong>m Pr<strong>in</strong>zip <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong>dividuellen E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e Norm. Wer e<strong>in</strong>e Norm versteht, sie reflektiert, E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> ihre Notwendigkeit erlangt<br />

und se<strong>in</strong>e Handlungen dann aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> gewonnen E<strong>in</strong>sicht an <strong>de</strong>n Normen ausrichtet,<br />

han<strong>de</strong>lt im S<strong>in</strong>ne <strong><strong>de</strong>r</strong> Moralität. Auch Aristoteles betont <strong>die</strong> Wichtigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> E<strong>in</strong>sicht und<br />

<strong>de</strong>s Nachvollziehens <strong>in</strong> ethische For<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen im strikten Gegensatz zu e<strong>in</strong>er unkritischen<br />

und nicht reflektierten Akzeptanz. „[...] so ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Begriff Verständigkeit am Platz, wenn<br />

man bei ethischen For<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen, <strong>die</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>er ausspricht, <strong>die</strong> Fähigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Me<strong>in</strong>ungsbildung gebraucht, um e<strong>in</strong> Urteil über sie zu gew<strong>in</strong>nen...“ 9 , „es ist also<br />

offenkundig unmöglich ethische E<strong>in</strong>sicht zu haben, wenn man nicht e<strong>in</strong> ethisch -<br />

hochstehen<strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch ist“ 10 .<br />

E<strong>in</strong>e Voraussetzungen hierfür wur<strong>de</strong> bereits genannt. Es ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Charakter e<strong>in</strong>es Menschen.<br />

Später wird als weitere wesentliche Bed<strong>in</strong>gung <strong>die</strong> Erziehung h<strong>in</strong>zuziehen.<br />

Das Vorhan<strong>de</strong>nse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er festen Grundhaltung kann nach Aristoteles durch <strong>die</strong> Gefühle <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Lust und Unlust erkannt wer<strong>de</strong>n. Erst wenn <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch Lust an ethischen Handlungen<br />

verspürt, o<strong><strong>de</strong>r</strong> im Gegensatz dazu, Unlust an Handlungen, <strong>die</strong> nicht e<strong>in</strong>er sittlichen<br />

Trefflichkeit entsprechen, ist e<strong>in</strong>e feste Grundhaltung im Menschen angelegt. Diese<br />

Aussagen qualifiziert er nicht weiter, so daß offen bleibt, wie Lust und Unlust zum<br />

Ausdruck kommen und welchen E<strong>in</strong>fluß <strong>die</strong> Subjektivität auf <strong>die</strong>se Empf<strong>in</strong>dungen besitzt.<br />

Im Zusammenhang mit <strong><strong>de</strong>r</strong> festen Grundhaltung wird <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch zweimal von<br />

Erziehung gesprochen. Sie soll durch frühzeitiges Übermitteln von Erfahrungen<br />

ermöglichen, Lust und Unlust entsprechend e<strong>in</strong>er Situation zu empf<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Erziehung wird<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne als Tradition verstan<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Aufgabe <strong>die</strong> Weitergabe von Wissen ist,<br />

mit <strong>de</strong>m Ziel hochwertiges ethisches Han<strong>de</strong>ln zu ermöglichen.<br />

8 ebd. 1983, S. 42<br />

9 ebd. 1983, S. 169<br />

10 ebd. 1983, S. 173<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 44


„Denn auch bei K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>n und Tieren s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> natürlichen Voraussetzungen zu <strong>die</strong>sen<br />

Grun<strong>de</strong>igenschaften zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n, aber ohne <strong>die</strong> Lenkung <strong>de</strong>s Geistes s<strong>in</strong>d sie offenbar<br />

schädlich“ 11 . Erst durch <strong>die</strong> Erziehung erhebt sich nach Aristoteles Me<strong>in</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch<br />

über das Tier. Zu betonen ist hierbei, daß sich ausdrücklich alle Menschen durch <strong>die</strong><br />

Erziehung vom Tier differenzieren. Aristoteles macht hier <strong>die</strong> Erziehungs- und<br />

Bildungsbedürftigkeit aller Menschen <strong>de</strong>utlich. Auch <strong>die</strong>se Aussage entspricht nicht<br />

me<strong>in</strong>em Vorwissen über <strong>die</strong> Zustän<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit und muß im weiteren Verlauf <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Interpretation sich erneut bewiesen.<br />

Zuvor muss abermals kurz zusammengefasst wer<strong>de</strong>n: Als ethisches Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>f<strong>in</strong>iert<br />

Aristoteles <strong>die</strong> Tüchtigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele, welche im Zusammenhang mit <strong>de</strong>n drei Phänomenen<br />

„irrationale Regungen“, „Anlagen“ und „feste Grundhaltungen“ steht. Den letzten Punkt<br />

bezeichnet er als Vorzüge <strong>de</strong>s Charakters. Er nennt e<strong>in</strong>e zweite, je<strong>de</strong>m Menschen eigene<br />

Tüchtigkeit, <strong>die</strong> immanent auf Erziehung angewiesen ist. Die dianoetische Tüchtigkeit ist<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Vorzug <strong>de</strong>s menschlichen Verstands, und Aufgabe <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehung ist es, durch Wahl<br />

geeigneter Mittel <strong>de</strong>n Verstand zu lenken. E<strong>in</strong>erseits um <strong>de</strong>n Menschen über <strong>de</strong>n Status<br />

re<strong>in</strong>er Inst<strong>in</strong>ktgebun<strong>de</strong>nheit zu br<strong>in</strong>gen, an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits um durch Ausprägung <strong>de</strong>s ihm<br />

eigenen Verstan<strong>de</strong>s, E<strong>in</strong>sicht und Akzeptanz <strong>in</strong> <strong>die</strong> Regeln <strong><strong>de</strong>r</strong> Polisgeme<strong>in</strong><strong>de</strong> zu<br />

ermöglichen. Auch <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Ausführungen kommt wie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> anthropologisch fun<strong>die</strong>rte<br />

Aspekt zum Vorsche<strong>in</strong>, wie er bereits <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Interpretation über <strong>die</strong> Erziehung <strong>de</strong>utlich<br />

wur<strong>de</strong>: Der Angewiesenheit aller Menschen auf Erziehung und <strong>die</strong> Folgerung, daß <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mensch erst durch Erziehung zum Mensch wird und sich vom Tier abhebt. In <strong>die</strong>sem<br />

Zusammenhang vollzieht er <strong>in</strong> logischer Konsequenz se<strong>in</strong>es Absolutheitsanspruchs <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Erziehung ke<strong>in</strong>e Selektion von erziehungsfähigen- und unfähigen Menschen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

betrachtet Erziehung als e<strong>in</strong>en Prozeß, <strong><strong>de</strong>r</strong> allen Menschen bereits aufgrund ihres Dase<strong>in</strong>s<br />

zukommen muß. In <strong>die</strong>sem erneuten H<strong>in</strong>weis auf <strong>die</strong> Erziehung aller Menschen sehe ich<br />

me<strong>in</strong>e erste Interpretation bestätigt.<br />

Es ist jedoch nicht ausschließlich <strong>die</strong> Aufgabe <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehung, <strong>de</strong>n Menschen für ethisches<br />

Han<strong>de</strong>ln zu befähigen. Auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Staat, <strong>de</strong>n Aristoteles als höchste Form <strong><strong>de</strong>r</strong> praktischen<br />

Kunst ansieht und daher von <strong><strong>de</strong>r</strong> Staatskunst spricht, trifft Maßnahmen.<br />

„Diese (Anm. <strong>die</strong> Staatskunst) trifft ganz beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s Anstalten dafür, <strong>die</strong> Bürger zu formen,<br />

d.h. sie gut zu machen und fähig zu edlem Han<strong>de</strong>ln“ 12 . Der Staat muß gesetzgeberisch als<br />

Ordnungsorgan aktiv se<strong>in</strong>. Durch <strong>die</strong> E<strong>in</strong>führung von Gesetzen und Überwachung ihrer<br />

E<strong>in</strong>haltung sowie <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausübung von Sanktion bei Nichtbeachtung, muß <strong><strong>de</strong>r</strong> Staat e<strong>in</strong>en<br />

11 ebd. 1983, S. 174<br />

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Rahmen schaffen, <strong><strong>de</strong>r</strong>, analog zu je<strong><strong>de</strong>r</strong> mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Gesellschaft, als b<strong>in</strong><strong>de</strong>nd anzusehen ist.<br />

Somit bestimmt <strong><strong>de</strong>r</strong> Staat, welche Regeln und Normen für <strong>die</strong> Bürger e<strong>in</strong>er Polisgeme<strong>in</strong><strong>de</strong><br />

allgeme<strong>in</strong>e Gültigkeit besitzen. „Denn das Gesetz verlangt e<strong>in</strong> Leben, das jegliche Form<br />

von Trefflichkeit verwirklicht und verbietet je<strong>de</strong> Form <strong>de</strong>s m<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>wertigen Han<strong>de</strong>lns“ 13 .<br />

Hier kommt nochmals <strong>die</strong> normative Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Staates für <strong>die</strong> Polisgeme<strong>in</strong><strong>de</strong> zum<br />

Ausdruck. Bürger, <strong>die</strong> sich an <strong>die</strong> Regeln halten, führen e<strong>in</strong> treffliches Leben im S<strong>in</strong>ne <strong>de</strong>s<br />

Staates.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorstellung se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>zeltugen<strong>de</strong>n bietet Aristoteles darüber h<strong>in</strong>aus Möglichkeiten<br />

an, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> E<strong>in</strong>zelne se<strong>in</strong>e staatliche Trefflichkeit noch erweitern kann. Mehrmals<br />

beschäftigt er sich mit <strong>de</strong>m wissenschaftlichen Anspruch se<strong>in</strong>er Ausführungen über <strong>die</strong><br />

Ethik, „[...], daß von e<strong>in</strong>er Untersuchung über ethische Fragen nur umrißhafte<br />

Gedankenführung, nicht aber wissenschaftliche Strenge gefor<strong><strong>de</strong>r</strong>t wer<strong>de</strong>n darf“ 14 . Er hebt<br />

hier <strong>die</strong> Vielfalt ethischer Fragen heraus, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>gültigen Antworten<br />

ermöglichen. Damit distanziert er sich von <strong><strong>de</strong>r</strong> Empirie und ihrem Anspruch, genauestes<br />

wissenschaftliche Aussagesystem zu se<strong>in</strong>. Diesen Standard kann für Aristoteles e<strong>in</strong>zig <strong>die</strong><br />

Metaphysik erfüllen, <strong>de</strong>nn nur bei m<strong>in</strong>imaler Vermischung <strong>de</strong>s zu untersuchen<strong>de</strong>n Objekts<br />

mit empirischer Realität kann größtmögliche Genauigkeit erreicht wer<strong>de</strong>n, und <strong>die</strong>ses kann<br />

<strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> aristotelischen Weltanschauung nur e<strong>in</strong>e abstrakte Metaphysik erreichen. Die Meta-<br />

Physik und ihr Anspruch <strong><strong>de</strong>r</strong> Objektivität durch Distanz <strong>de</strong>s Beobachters zur Realität steht<br />

bereits seit längerem im Mittelpunkt <strong><strong>de</strong>r</strong> Diskussion. Vor allem seitens <strong><strong>de</strong>r</strong> zirkulärdynamischen<br />

Denkweisen wird <strong><strong>de</strong>r</strong> metaphysische Standpunkt angegriffen.<br />

Für <strong>die</strong> pädagogische Gegenwart ist <strong>die</strong>se Annahme <strong>de</strong>s Aristoteles nicht zu übernehmen.<br />

Nach<strong>de</strong>m nun se<strong>in</strong>er Def<strong>in</strong>ition ethischer Handlungen gefolgt und festgestellt wur<strong>de</strong>, daß<br />

sie auf Voraussetzungen basieren, <strong>die</strong> er allen Menschen zuspricht, müssen wir <strong>die</strong><br />

ethischen Handlungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en weiteren Kontext e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen. Aristoteles geht davon aus,<br />

daß je<strong>de</strong> menschliche Handlung an e<strong>in</strong>em obersten Endziel orientiert ist. „Als solches Gut<br />

gilt <strong>in</strong> hervorragen<strong>de</strong>m S<strong>in</strong>ne das Glück. Denn das Glück erwählen wir uns stets um se<strong>in</strong>er<br />

selbst willen und niemals zu e<strong>in</strong>em darüber h<strong>in</strong>ausliegen<strong>de</strong>n Zweck“ 15 . Zum weiteren<br />

Verständnis gilt es, <strong>de</strong>n Zusammenhang zwischen ethischen Handlungen und <strong>de</strong>m Glück<br />

als oberstes Ziel <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen herzustellen. Nur wer über <strong>die</strong> festen Grundhaltungen<br />

12 ebd. 1983, S. 23<br />

13 ebd. 1983, S. 125<br />

14 ebd. 1983, S. 36<br />

15 ebd. 1983, S. 15<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 46


verfügt um ethisch han<strong>de</strong>ln zu können, <strong><strong>de</strong>r</strong> ist überhaupt <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Lage, das oberste Gut zu<br />

erreichen.<br />

„Das Glück setzt Vollkommenheit voraus und e<strong>in</strong> Vollmaß <strong>de</strong>s Lebens“ 16 . In <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Bezeichnung „Vollmaß“ stecken folgen<strong>de</strong>, wesentlichen Annahmen: E<strong>in</strong>erseits ist es zu<br />

<strong>in</strong>terpretieren als e<strong>in</strong>e Form <strong>de</strong>s Lernens, <strong>de</strong>nn <strong>die</strong> Fähigkeit zum ethischen Han<strong>de</strong>ln<br />

erhalten <strong>die</strong> Menschen durch Erziehung und als Erkenntnisgew<strong>in</strong>nung durch Erfahrungen,<br />

<strong>die</strong> im Leben selbst gemacht wur<strong>de</strong>n. Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Heilpädagogik, zu nennen sei hier<br />

<strong>die</strong> kognitive Entwicklung von K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>n mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung, spielt <strong><strong>de</strong>r</strong> Begriff<br />

Erfahrung e<strong>in</strong>e wesentliche Rolle. Können auch Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung, <strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Erfahrungswelt aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Bee<strong>in</strong>trächtigung ihrer Bewegungsmöglichkeit e<strong>in</strong>e an<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />

ist, <strong>die</strong> notwendigen Erfahrungen machen, um e<strong>in</strong> Vollmaß zu verwirklichen? Aus Sicht<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Heilpädagogik schließt sich <strong>die</strong>se Frage an, ihre Antwort wür<strong>de</strong> aber <strong>die</strong> Ebene <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Text<strong>in</strong>terpretation verlassen und <strong>in</strong> Spekulation übergehen. Anhand <strong><strong>de</strong>r</strong> Nikomachischen<br />

Ethik ist <strong>die</strong>se Frage nicht zu beantworten. Um <strong>die</strong> zweite Annahme nachvollziehen zu<br />

können, muß e<strong>in</strong>e weiterer Aspekt e<strong>in</strong>geführt wer<strong>de</strong>n. Glück wird nicht alle<strong>in</strong>e durch <strong>die</strong><br />

sittliche Trefflichkeit, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n ethischen Handlungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen manifestiert,<br />

erzeugt. „In<strong>de</strong>s gehören zum Glück doch auch <strong>die</strong> äußeren Güter,...“ 17 . Das „Vollmaß <strong>de</strong>s<br />

Lebens“ wie Aristoteles es formuliert, zeigt e<strong>in</strong>en Bezug zum menschlichen Körper als<br />

biologische Hülle und <strong>die</strong>se bee<strong>in</strong>flußt immanent, ob wir davon sprechen können, daß e<strong>in</strong><br />

Mensch über wahres Glück verfügt. „Glücklich ist, wer im S<strong>in</strong>ne vollen<strong>de</strong>ter Trefflichkeit<br />

tätig und dazu h<strong>in</strong>reichend mit äußeren Gütern ausgestattet ist...“ 18 .<br />

Es wur<strong>de</strong> festgestellt, daß Aristoteles <strong>in</strong>dividuelles Streben nach Glück als oberstes Endziel<br />

menschlicher Handlungen herausstellt, welches ausschließlich <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit e<strong>in</strong>er<br />

biologischen Vollkommenheit <strong>in</strong> höchstem Maße erreicht wer<strong>de</strong>n kann. Hieraus zieht er<br />

e<strong>in</strong>malig <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Metatheorie <strong>die</strong> Konsequenz, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Inhalt aktuell Gegenstand <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Debatte um Lebensrechte und Integration darstellt. Aristoteles erstellt ke<strong>in</strong>e Zäsur, von <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

aus <strong>in</strong> Menschen mit vollkommenem Glück und Menschen mit ger<strong>in</strong>gerem Glück<br />

unterschie<strong>de</strong>n wird. Statt <strong>de</strong>ssen for<strong><strong>de</strong>r</strong>t er e<strong>in</strong>e i<strong>de</strong>ologische Flexibilität <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft,<br />

um je<strong>de</strong>m e<strong>in</strong>zelnen Menschen das für ihn maximale Glück zu ermöglichen. „Denn es gibt<br />

nicht für das Wohl aller Lebewesen zusammen nur e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Wissenschaft, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n für<br />

16 ebd. 1983, S. 23<br />

17 ebd. 1983, S. 21<br />

18 ebd. 1983, S. 27<br />

19 ebd. 1983, S. 162<br />

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je<strong>de</strong>s E<strong>in</strong>zelwohl e<strong>in</strong>e beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e“ 19 .<br />

An <strong>die</strong>ser Stelle halte ich es für notwendig, <strong>die</strong> Ausführungen von Aristoteles nochmals zu<br />

vergegenwärtigen. Es soll kurz überprüft wer<strong>de</strong>n, <strong>in</strong>wiefern bereits Elemente <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

utilitaristischen Ethik, wie sie von James St. Mill zur Mitte <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts entwickelt<br />

wur<strong>de</strong>, enthalten s<strong>in</strong>d. Dabei wer<strong>de</strong>n me<strong>in</strong>es Erachtens lediglich zwei Parallelen sichtbar:<br />

Term<strong>in</strong>ologisch ist es <strong>die</strong> Betonung <strong>de</strong>s „Glücks“ als Basis weiterführen<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Erkenntnisschritte. Darüber h<strong>in</strong>aus <strong>die</strong> Orientierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen an <strong>de</strong>n Konsequenzen<br />

ihrer Handlungen. Entschei<strong>de</strong>nd ist nicht das Pr<strong>in</strong>zip als Grundlage e<strong>in</strong>er Handlung<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n das Resultat, wodurch bei Aristoteles im I<strong>de</strong>alfall Glück und ethische Trefflichkeit<br />

erreicht wer<strong>de</strong>n.<br />

Der wesentliche Unterschied liegt <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Sozialpr<strong>in</strong>zip <strong><strong>de</strong>r</strong> utilitaristischen Ethik. Dabei<br />

steht das Glück aller Teile <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft vor <strong>de</strong>n subjektiven E<strong>in</strong>zel<strong>in</strong>teressen.<br />

Hier<strong>in</strong> differenziert sich Aristoteles. Bei ihm ist Glück ebenfalls e<strong>in</strong> „Geme<strong>in</strong>gut für<br />

viele“ 20 , jedoch ausschließlich <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Form, dass es allen Menschen offensteht, Glück als<br />

oberstes Endziel zu verwirklichen. Es ist ke<strong>in</strong>esfalls <strong>in</strong> <strong>de</strong>m, für <strong>de</strong>n Utilitarismus<br />

charakteristischen Sozialpr<strong>in</strong>zip zu verstehen.<br />

Die Individualisierung <strong>de</strong>s Glücks wird bei Aristoteles <strong>in</strong> folgen<strong><strong>de</strong>r</strong> Formulierung <strong>de</strong>utlich:<br />

Es ist „<strong>die</strong> Tätigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele im S<strong>in</strong>ne <strong><strong>de</strong>r</strong> ihr wesenhaften Tüchtigkeit“ 21 . Herauszuheben<br />

ist <strong>die</strong> Formulierung „wesenhaft“. Dadurch wird sowohl <strong>die</strong> Unterscheidung <strong>in</strong>dividueller<br />

Glückmaximierung für je<strong>de</strong>s menschliche Subjekt getroffen, als auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorrang<br />

subjekteigener Partikular<strong>in</strong>teressen vor <strong>de</strong>n Ansprüchen <strong><strong>de</strong>r</strong> gesellschaftlichen Mehrheit<br />

betont. Betrachtet man <strong>de</strong>n Utilitarismus bezüglich se<strong>in</strong>er Etymologie (utilis = nützlich)<br />

und macht zum Beurteilungskriterium moralischer Bewertung <strong>de</strong>n Nutzen von<br />

Handlungen, so nimmt Aristoteles <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Ausführungen über <strong>die</strong> Freundschaft ebenfalls<br />

e<strong>in</strong>e Position e<strong>in</strong>, <strong>die</strong> <strong>de</strong>n Inhalten <strong>de</strong>s Utilitarismus wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spricht. „Wo also Nutzen das<br />

Motiv <strong><strong>de</strong>r</strong> Befreundung bil<strong>de</strong>t, da lieben sich <strong>die</strong> Menschen nicht um ihres Wesens willen,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n nur soweit sie etwas vone<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong> haben können...“ 22 . An an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Stelle schreibt<br />

er: „Freun<strong>de</strong>, <strong>die</strong> <strong>de</strong>n Nutzen als Zweck verfolgen, trennen sich, sobald <strong><strong>de</strong>r</strong> Nutzertrag<br />

aufhört, <strong>de</strong>nn nicht mite<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong> waren sie befreun<strong>de</strong>t, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n mit <strong>de</strong>m Gew<strong>in</strong>n“ 23 .<br />

20 ebd. 1893, S. 22<br />

21 ebd. 1983, S. 23<br />

22 ebd. 1983, S 216<br />

23 ebd. 1983, S. 219<br />

24 ebd. 1983, S 22<br />

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Aristoteles liefert somit e<strong>in</strong>e mögliche Begründung zur Ablehnung utilitaristischer<br />

Pr<strong>in</strong>zipien <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne. Er macht auf <strong>die</strong> Gefahr aufmerksam, wonach <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch durch<br />

e<strong>in</strong> von Nutzen geprägtes Denken lediglich als Objekt zur Erreichung <strong>de</strong>s angestrebten<br />

Ertrages gesehen wird.<br />

Wie bereits ange<strong>de</strong>utet, wird an vielen Stellen <strong>de</strong>utlich, daß Glück als oberstes Ziel<br />

menschlicher Handlungen nur <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit <strong>de</strong>n äußeren menschlichen Gütern als<br />

wahres Glück bezeichnet wer<strong>de</strong>n kann. „Denn mit <strong>de</strong>m Glück <strong>de</strong>s Mannes ist es schlecht<br />

bestellt, <strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong> ganz abstoßen<strong>de</strong>s Äußeres o<strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong>e niedrige Herkunft hat o<strong><strong>de</strong>r</strong> ganz<br />

alle<strong>in</strong> im Leben steht und k<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>los ist“ 24 . Aus <strong>de</strong>n bisher genannten Beispielen geht e<strong>in</strong>e<br />

Anthropologie Aristoteles hervor, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> er Gesundheit als e<strong>in</strong> entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Faktum <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Menschen skizziert. Entschei<strong>de</strong>nd <strong>de</strong>shalb, weil ohne entsprechen<strong>de</strong>s Maß an „äußeren<br />

Gütern“ <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch nicht zu wirklichem Glück gelangen kann.<br />

Be<strong>de</strong>utsam an se<strong>in</strong>em Menschenbild s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Konsequenzen, <strong>die</strong> hieraus hervorgehen.<br />

Dadurch, daß er se<strong>in</strong>e Anthropologie nicht normativ formuliert, läßt er <strong>de</strong>njenigen<br />

Menschen, <strong>die</strong> nicht <strong>die</strong>ses Quantum „äußerer Güter“ besitzen, ihre Individualität. Se<strong>in</strong>e<br />

Ausführungen zur ethischen Trefflichkeit und Erziehung bezieht er ausdrücklich und ohne<br />

Ausnahme auf alle Menschen. An an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Stelle geht er auf mögliche Umgangsweisen mit<br />

betroffenen Menschen e<strong>in</strong>. „Bei Organschwächen und Gebrechen ist es ähnlich. Niemand<br />

wird e<strong>in</strong>en Bl<strong>in</strong><strong>de</strong>n kränken, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>die</strong>s von Geburt ist o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong>folge e<strong>in</strong>er Krankheit o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

e<strong>in</strong>es Schlages. Vielmehr wird man ihm Mitgefühl schenken“ 25 .<br />

Die Komb<strong>in</strong>ation von Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung und Leid, wodurch Mitgefühl hervorgerufen wird ist<br />

we<strong><strong>de</strong>r</strong> für <strong>die</strong> <strong>Antike</strong>, noch <strong>die</strong> <strong>Neuzeit</strong> etwas Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>es, jedoch vertritt Aristoteles e<strong>in</strong>e<br />

Sichtweise <strong>de</strong>s Menschen, <strong>die</strong> für damalige Zeit von großer Liberalität geprägt ist, wenn<br />

man be<strong>de</strong>nkt, dass Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung auch getötet o<strong><strong>de</strong>r</strong> zur Belustigung auf<br />

Märkten präsentiert wur<strong>de</strong>n.<br />

E<strong>in</strong>en wesentlichen Satz zum Umgang mit Menschen, <strong>die</strong> sich aufgrund e<strong>in</strong>er<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigung im weiten S<strong>in</strong>ne von an<strong><strong>de</strong>r</strong>en unterschei<strong>de</strong>n, f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir auf S. 64.<br />

„Möglich ist das, was wir durch eigene Kraft vollbr<strong>in</strong>gen können, wobei Freun<strong>de</strong>shilfe <strong>in</strong><br />

gewissem S<strong>in</strong>ne gleich eigener Tat ist, <strong>de</strong>nn das bewegen<strong>de</strong> Pr<strong>in</strong>zip s<strong>in</strong>d wir.“<br />

Freundschaft be<strong>de</strong>utet <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne nicht e<strong>in</strong>e Partnerschaft basierend auf <strong>de</strong>m Pr<strong>in</strong>zip<br />

<strong>de</strong>s Nutzens son<strong><strong>de</strong>r</strong>n, „[...] <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie und im eigentlichen S<strong>in</strong>n sprechen wir von e<strong>in</strong>er<br />

25 ebd. 1983, S. 69<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 49


Freundschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> Guten als Guten...“ 26 . Hier steht <strong><strong>de</strong>r</strong> unaufhebbare Wert <strong>de</strong>s Freun<strong>de</strong>s<br />

und nicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Nutzen als Kern echter Freundschaft. In Bezug auf oben genanntes Zitat<br />

be<strong>de</strong>utet Freundschaft, <strong>de</strong>m hilfsbedürftigen Menschen zu helfen aus <strong>de</strong>m Motiv se<strong>in</strong>er<br />

Subjekthaftigkeit als Freund und nicht aufgrund se<strong>in</strong>er postulierten Hilflosigkeit. Dieser<br />

Satz läßt sich auf das Rehabilitationssystem <strong>de</strong>s 21. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts übertragen. Auch hier gilt<br />

es als leiten<strong>de</strong>s Pr<strong>in</strong>zip <strong><strong>de</strong>r</strong> Zusammenarbeit zwischen Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung und<br />

Akteuren <strong><strong>de</strong>r</strong> Rehabilitation. Bei<strong>de</strong> Subjekte arbeiten gleichberechtigt an e<strong>in</strong>em<br />

geme<strong>in</strong>samen Ziel. Dabei steht we<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>die</strong> Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung noch das formulierte<br />

Rehabilitationsziel primär im Vor<strong><strong>de</strong>r</strong>grund son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch.<br />

Später spricht Aristoteles von <strong>de</strong>n Elementen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegensätze als Basis <strong><strong>de</strong>r</strong> Freundschaft<br />

um <strong>de</strong>s Nutzens willen, „<strong>de</strong>nn was man gera<strong>de</strong> braucht, darum bemüht man sich und gibt<br />

etwas an<strong><strong>de</strong>r</strong>es dafür“ 27 .<br />

Es han<strong>de</strong>lt sich hierbei um e<strong>in</strong>e primär materialistische Ansicht, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Adaption auf das<br />

Gegenüber von hilfsbedürftigem und helfen<strong>de</strong>n Menschen ihre eigentliche Aussage<br />

verfehlen wür<strong>de</strong>. Für Aristoteles ist nicht <strong>die</strong> elementare Gleichheit wesentliches Pr<strong>in</strong>zip<br />

e<strong>in</strong>er gleichberechtigten Freundschaft son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Wille, <strong>de</strong>m Freund um <strong>de</strong>ssen selbst<br />

Gutes zu tun.<br />

In e<strong>in</strong>igen Passagen vergleicht Aristoteles <strong>die</strong> E<strong>in</strong>zeltugen<strong>de</strong>n mit bestimmten körperlichen<br />

und seelischen Merkmalen, <strong>die</strong> bei erster Betrachtung negative Assoziation hervorrufen.<br />

Aristoteles geht ausführlich auf drei negative Arten <strong><strong>de</strong>r</strong> Charaktereigenschaften e<strong>in</strong>.<br />

„M<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>wertigkeit“, „Unbeherrschtheit“ und „tierisches Wesen“ 28 . „Er f<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich vor<br />

allem unter Barbaren, doch entstehen manche Ersche<strong>in</strong>ungsformen e<strong>in</strong>es tierischen<br />

Wesens auch durch Krankheit o<strong><strong>de</strong>r</strong> Verkrüpplung“ 29 . Bei Betrachtung <strong>die</strong>ses Zitates<br />

außerhalb <strong>de</strong>s Gesamtkontext ersche<strong>in</strong>t hier e<strong>in</strong> Menschenbild, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Aristoteles<br />

bestimmten Menschen e<strong>in</strong> tierisches Wesen zuspricht. Damit wür<strong>de</strong> er sie zu re<strong>in</strong>en<br />

Inst<strong>in</strong>ktwesen <strong>de</strong>gra<strong>die</strong>ren und ihre Stellung <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppe <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen negieren. Es<br />

sche<strong>in</strong>t, als wür<strong>de</strong> Aristoteles <strong>die</strong>se Aussage vor allem auf Menschen mit<br />

Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung beziehen.<br />

Sie stün<strong>de</strong> dann im Gegensatz zu oben formulierten Ergebnissen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gleichheit aller<br />

Menschen.Aristoteles bezieht sich mit <strong>die</strong>ser Formulierung jedoch nicht auf <strong>de</strong>n Menschen<br />

27 ebd. 1983, S. 228<br />

28 ebd. 1983, S. 177<br />

29 ebd. 1983, S. 177<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 50


an sich. Es ist e<strong>in</strong>e Beschreibung, <strong>die</strong> für uns fremd ersche<strong>in</strong>t, <strong>in</strong> ihrem Wortlaut für <strong>die</strong><br />

<strong>Antike</strong> als typisch gelten kann. Entschei<strong>de</strong>nd ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Inhalt, welcher sich h<strong>in</strong>ter <strong>die</strong>ser<br />

Aussage verbirgt. Aristoteles beschreibt <strong>de</strong>n Charakter und <strong>die</strong> Ersche<strong>in</strong>ungsform mancher<br />

Menschen. Deren Verhaltensweisen o<strong><strong>de</strong>r</strong> ihr Äußeres wirken befrem<strong>de</strong>nd, und es sche<strong>in</strong>t,<br />

sie weichen immanent von <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft ab. Aristoteles <strong>de</strong>utet<br />

hier <strong>die</strong> Vielzahl menschlicher Ersche<strong>in</strong>ungsweisen und Verhaltensformen an, wobei<br />

manche Menschen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en <strong>in</strong> ihren Ersche<strong>in</strong>ungsweisen kaum zugänglich sche<strong>in</strong>en. Trotz<br />

<strong>de</strong>s Vergleichs <strong>die</strong>ser Menschen mit „tierischen Wesen“ nimmt er ke<strong>in</strong>e Reduzierung ihres<br />

menschlichen Status vor. Diese Sätze s<strong>in</strong>d re<strong>in</strong> <strong>de</strong>skriptiv zu <strong>in</strong>terpretieren und nicht als<br />

E<strong>in</strong>führung von Kategorien zu werten. Vielmehr ist <strong>die</strong>se Beschreibung als Parallele zur<br />

mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Philosophie zu analysieren. Menschen, <strong>die</strong> beispielsweise aus Krankheit o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Verkrüppelung <strong>die</strong>sen beschriebenen „tierischen Charakter“ an sich haben, bil<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>e<br />

Randgruppe <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft. H<strong>in</strong>gegen ist <strong>die</strong> „normale“ und „gesun<strong>de</strong>“ Mehrheit<br />

überfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Sie können <strong>die</strong> Menschen mit e<strong>in</strong>em tierischen Charakter nicht mit ihrem<br />

rationellen Verstand erfassen und gelangen dadurch <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gefühl <strong>de</strong>s Unbehagens und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Überfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung.<br />

Wichtig ist nun, daß Aristoteles ke<strong>in</strong>e Konsequenzen aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Tatsache zieht, tierische<br />

Charaktere nicht zu verstehen. Se<strong>in</strong>e Ausführungen s<strong>in</strong>d beschreibend, ohne jedoch<br />

Lösungsstrategien anzubieten, wie <strong>die</strong> Gesellschaft von ihrem Unbehagen befreit wer<strong>de</strong>n<br />

kann. Es ist durchaus zu folgern, daß auch er <strong>die</strong> Menschen mit „tierischen Wesen“ als<br />

gleichberechtigt akzeptiert, <strong>die</strong> sich lediglich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Merkmal von an<strong><strong>de</strong>r</strong>en zu<br />

unterschei<strong>de</strong>n sche<strong>in</strong>en.<br />

E<strong>in</strong>e letzte Aussage, <strong>die</strong> ebenfalls zur beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>tenpädagogischen Reflexion geeignet ist,<br />

f<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich <strong>in</strong> Aristoteles Gedanken über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit.<br />

Hier spricht er über das Verhältnis <strong>de</strong>s Vaters zu se<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d, „[...] und das K<strong>in</strong>d ist, bis<br />

es e<strong>in</strong> bestimmtes Alter erreicht hat und selbständig gewor<strong>de</strong>n ist, wie e<strong>in</strong> Teil von uns<br />

selbst; niemand aber will sich mit Absicht selber scha<strong>de</strong>n, weshalb es ja auch ke<strong>in</strong>e<br />

Ungerechtigkeit gegen <strong>die</strong> eigene Person geben kann“ 30 . Problematisch halte ich hier das<br />

Kriterium <strong><strong>de</strong>r</strong> Selbständigkeit, <strong>de</strong>nn es bietet wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um e<strong>in</strong>en Angriffspunkt für solche<br />

Theorien, <strong>die</strong> Menschen <strong>die</strong>se Selbständigkeit und e<strong>in</strong> Wissen um ihre Zukunft<br />

absprechen. E<strong>in</strong> solches Denken wür<strong>de</strong> ich nicht als Kern <strong><strong>de</strong>r</strong> Aussage Aristoteles<br />

<strong>in</strong>terpretieren. Vielmehr steht sie <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> L<strong>in</strong>ie vorheriger Formulierungen und geleisteter<br />

Interpretationen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m sie als Auffor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung zur Akzeptanz, Annahme, Unterstützung und<br />

30 ebd. 1983, S. 138<br />

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Erziehung zur ethischen Trefflichkeit <strong>de</strong>s eigenen K<strong>in</strong><strong>de</strong>s aufgefaßt wird.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Darstellung <strong>de</strong>s K<strong>in</strong><strong>de</strong>s als lebendiger Teil <strong>de</strong>s Körpers <strong><strong>de</strong>r</strong> Eltern f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir erneut<br />

e<strong>in</strong> Argument <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne, welches aktuell im Zusammenhang mit <strong>de</strong>n Grenzen ärztlicher<br />

Behandlungspflicht und <strong><strong>de</strong>r</strong> pränatalen Diagnostik Erwähnung f<strong>in</strong><strong>de</strong>t.<br />

Zusammenfassend gilt festzustellen, daß Aristoteles e<strong>in</strong>e materiale Ethik erarbeitete und<br />

sie als eigenständige philosophische Diszipl<strong>in</strong> begrün<strong>de</strong>te. Ziel se<strong>in</strong>er ethischen<br />

Ausführungen ist nicht das Erkennen son<strong><strong>de</strong>r</strong>n das Han<strong>de</strong>ln <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen. Aristoteles<br />

wollte sowohl <strong>die</strong> <strong>in</strong>tellektuellen Fähigkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen stärken als auch ihre<br />

charakterlichen Tugen<strong>de</strong>n festigen. Geprägt ist se<strong>in</strong>e Ethik und daraus resultieren<strong>de</strong><br />

Normen von Liberalität und Akzeptanz gegenüber allen menschlichen<br />

Ersche<strong>in</strong>ungsformen, trotz mancher zu über<strong>de</strong>nken<strong><strong>de</strong>r</strong> Formulierung.<br />

Allgeme<strong>in</strong> f<strong>in</strong><strong>de</strong>n Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung und speziell auch Menschen mit<br />

Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung Erwähnung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk. Darüber h<strong>in</strong>aus wer<strong>de</strong>n <strong>die</strong><br />

Verhaltensweisen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft ihnen gegenüber thematisiert. Menschen mit<br />

Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung besitzen ke<strong>in</strong>e unbegrenzten Aufstiegschancen im Gesellschaftssytem. Am<br />

Beispiel <strong><strong>de</strong>r</strong> öffentlichen Ämter <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> griechischen Polisgeme<strong>in</strong><strong>de</strong> wur<strong>de</strong>n <strong>die</strong><br />

E<strong>in</strong>schränkungen, speziell für Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung, aufgezeigt. Vor <strong>de</strong>m<br />

H<strong>in</strong>tergrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Situation von Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung zur <strong>Antike</strong> ist <strong>die</strong><br />

Nikomachische Ethik e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e positive Ersche<strong>in</strong>ung, <strong>die</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits Aspekte <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

heutigen Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne enthält.<br />

Zusammenfassend ist festzuhalten, daß Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung unter <strong><strong>de</strong>r</strong> Ethik<br />

Aristoteles und ihrer abzuleiten<strong>de</strong>n Normen e<strong>in</strong>e Sicherung ihrer physischen Existenz<br />

erfahren und Unterstützung gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb erhalten, weil auch sie als Menschen angesehen<br />

wer<strong>de</strong>n. Als Ergebnis me<strong>in</strong>er Interpretation <strong><strong>de</strong>r</strong> Nikomachischen Ethik stelle ich fest, daß<br />

Aristoteles <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Werk ke<strong>in</strong> Menschenbild vertritt, welches re<strong>in</strong> vom I<strong>de</strong>al <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Kalokagathie geprägt ist.<br />

Die Ergebnisse <strong><strong>de</strong>r</strong> Nikomachischen Ethik haben verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>t, weil sie me<strong>in</strong>em Vorwissen<br />

über <strong>die</strong> Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Antike</strong>, aber auch <strong>de</strong>m Autor nicht entsprachen. Es stellt sich <strong>die</strong> Frage,<br />

ob es Grün<strong>de</strong> für <strong>die</strong> Differenz zwischen erarbeitetem Vorwissen und <strong>de</strong>n tatsächlichen<br />

Interpretationsergebnisse gibt. Als ersten Aspekt gilt es zu nennen, daß<br />

Text<strong>in</strong>terpretationen immer subjektiv s<strong>in</strong>d und damit auch unterschiedlich ausfallen<br />

können. Es gilt zu<strong>de</strong>m noch anzuführen, daß <strong>die</strong> Geburt se<strong>in</strong>es Sohnes Nickomachos als<br />

e<strong>in</strong>schnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Erlebnis für Aristoteles gilt. Dies kann durchaus zu e<strong>in</strong>em verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ten,<br />

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toleranteren und von Akzeptanz geprägten Denken geführt haben.<br />

Damit wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spreche ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Ausführungen <strong>de</strong>n Aussagen, <strong>die</strong> von Befürwortungen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Eugenik, K<strong>in</strong><strong>de</strong>stötung, Abtreibung sowie <strong>de</strong>m Verbot, verkrüppelte K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong><br />

großzuziehen ausgehen.<br />

7.2 Thomas Morus und se<strong>in</strong> Werk über <strong>die</strong> Insel Utopia<br />

Das Buch von Thomas Morus über <strong>die</strong> Insel Utopia ist unterteilt <strong>in</strong> e<strong>in</strong> erstes und e<strong>in</strong><br />

zweites Buch. Im ersten Buch wer<strong>de</strong>n uns nur wenige Informationen zur Beantwortung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

systematischen und spezifischen Fragen geliefert. Trotz<strong>de</strong>m muß e<strong>in</strong>leitend darauf<br />

e<strong>in</strong>gegangen wer<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>m Leser <strong>die</strong> Ausgangssituation <strong><strong>de</strong>r</strong> Erzählung verständlich zu<br />

machen.<br />

Thomas Morus reist als Vermittler im Auftrag <strong>de</strong>s englischen Königs nach Brügge. Dort<br />

soll er e<strong>in</strong>en Streit zwischen <strong><strong>de</strong>r</strong> englischen Krone und <strong>de</strong>m Fürsten von Kastilien<br />

diplomatisch been<strong>de</strong>n. Mit <strong>de</strong>n Unterhändlern <strong>de</strong>s Fürsten kann sich Morus über<br />

wesentliche Aspekte nicht verständigen. Die Verhandlungen wer<strong>de</strong>n unterbrochen und er<br />

nutzt <strong>die</strong> Zeit, se<strong>in</strong>en Freund Petrus Aegidius <strong>in</strong> Antwerpen zu treffen. Dort lernt Morus<br />

<strong>de</strong>n Weltreisen<strong>de</strong>n Raphael kennen, <strong><strong>de</strong>r</strong> ihm von se<strong>in</strong>en Expeditionen und Abenteuern<br />

erzählt. Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>es Interesse bekun<strong>de</strong>t Thomas Morus an <strong>de</strong>n Berichten über <strong>die</strong> Insel<br />

Utopia. In <strong>de</strong>m gesamten Buch gibt Morus als Erzähler <strong>die</strong> Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen <strong>de</strong>s Raphaels<br />

über <strong>die</strong> Insel Utopia wie<strong><strong>de</strong>r</strong>, ohne eigene, werten<strong>de</strong> Aussagen zu tätigen.<br />

Raphael macht bereits zu Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>er Erzählung über Utopia <strong>de</strong>utlich, dass se<strong>in</strong>es<br />

Erachtens, <strong>die</strong>se Insel durch ihre Strukturen und <strong><strong>de</strong>r</strong> sie regieren<strong>de</strong>n Fürsten nicht nur <strong>de</strong>m<br />

englischen Reich son<strong><strong>de</strong>r</strong>n allen Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> alten Welt überlegen sei. Sehr ausführlich<br />

berichtet er über e<strong>in</strong> Streitgespräch, welches er auf e<strong>in</strong>em Bankett <strong>de</strong>s Kard<strong>in</strong>al Mortons<br />

mit e<strong>in</strong>em <strong><strong>de</strong>r</strong> Gäste führte. Hier beschreibt Raphael <strong>die</strong> wirtschaftlichen und<br />

gesellschaftlichen Strukturen Englands vor <strong>de</strong>m H<strong>in</strong>tergrund steigen<strong><strong>de</strong>r</strong> Krim<strong>in</strong>alität.<br />

Dabei kritisiert er das englische Strafrecht und sieht <strong>die</strong> zunehmen<strong>de</strong> Krim<strong>in</strong>alität als<br />

Ergebnis obrigkeitstreuer Hörigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Gefolgsleute <strong>de</strong>s A<strong>de</strong>ls und gleichzeitig <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

patriarchalischen Machtausweitung aufgrund f<strong>in</strong>anzieller Interessen auf Kosten von<br />

Bauern und Landarbeiter. Die Gefolgsleute <strong><strong>de</strong>r</strong> A<strong>de</strong>ligen erlernen ke<strong>in</strong>en Beruf und bei<br />

Tod o<strong><strong>de</strong>r</strong> Verarmung ihres Herren seien sie, so <strong>die</strong> Ausführungen Raphaels, mittel- und<br />

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chancenlos und somit zur Krim<strong>in</strong>alität gezwungen. Die Bauern, welche <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausweitung<br />

<strong>de</strong>s Wei<strong>de</strong>lan<strong>de</strong>s für <strong>die</strong> Schafszucht zum Opfer fielen, gerieten dadurch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

existenzielle Notlage. Hieraus entwickele sich nach <strong>de</strong>n Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen Raphaels e<strong>in</strong>e<br />

negative Dynamik, <strong>de</strong>nn gleichzeitig stiegen auf Befehl <strong><strong>de</strong>r</strong> A<strong>de</strong>ligen <strong>die</strong> Getrei<strong>de</strong>preise an<br />

und <strong>die</strong> ehemaligen Bauern suchten verzweifelt e<strong>in</strong>en Ausweg <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Krim<strong>in</strong>alität.<br />

In se<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>führen<strong>de</strong>n Erzählungen weist Raphael ebenfalls auf <strong>die</strong> dom<strong>in</strong>ieren<strong>de</strong> soziale<br />

Hierarchie Englands h<strong>in</strong>: „[...] verschmähen es <strong>die</strong> A<strong>de</strong>ligen, <strong>die</strong> durch Krankheit<br />

geplagten und <strong>in</strong> schäbigen Gewän<strong><strong>de</strong>r</strong>n gehüllten Menschen aufzunehmen...“ 1 .<br />

Die soziale Ordnung war geprägt von <strong>de</strong>n Produktionsmöglichkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Individuen.<br />

Solche, <strong>die</strong> dabei zurückstan<strong>de</strong>n, galten als Belastung, weil sie <strong>de</strong>n f<strong>in</strong>anziellen Interessen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> A<strong>de</strong>ligen nicht zu genüge Folge leisten konnten. Es ist daraus zu schließen, dass<br />

Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung e<strong>in</strong>erseits am unteren En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s sozialen Systems<br />

stan<strong>de</strong>n und an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits auch unter Maßnahmen litten, <strong>die</strong> ihre Dase<strong>in</strong>sberechtigung<br />

konkret <strong>in</strong> Frage stellten. Als Beleg gibt Raphael <strong>de</strong>n Ausspruch <strong>de</strong>s Kard<strong>in</strong>al Morton<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong>: „Überlaß das nur mir, ich wer<strong>de</strong> schon auch dar<strong>in</strong> nach <strong>de</strong>m Rechten sehen, <strong>de</strong>nn<br />

ich wünsche sehnlichst, daß <strong>die</strong>se Menschenklasse mir aus <strong>de</strong>n Augen entschw<strong>in</strong><strong>de</strong>,...“ 2<br />

Geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d hiermit, „[...] <strong>die</strong> durch Krankheit und Alter unfähig gewor<strong>de</strong>nen...“ 3 .<br />

Anhand <strong>die</strong>ser Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen geht e<strong>in</strong> selektionistischer Charakter aus <strong>de</strong>m England zur<br />

Mitte <strong>de</strong>s 15. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts hervor, welcher sich an Nützlichkeitspr<strong>in</strong>zipien orientiert. Im<br />

Zusammenhang mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Krim<strong>in</strong>alität wird erstmalig auf <strong>die</strong> Be<strong>de</strong>utung von Erziehung<br />

e<strong>in</strong>gegangen. Hier schil<strong><strong>de</strong>r</strong>t Raphael se<strong>in</strong>em Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>sacher <strong>die</strong> Be<strong>de</strong>utung <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehung:<br />

„Wenn ihr e<strong>in</strong>e schlechte Erziehung geben und <strong>die</strong> Sitten von <strong>de</strong>n zartesten Jahren<br />

allmählich ver<strong><strong>de</strong>r</strong>ben lasset, dann, wenn sie endlich Männer gewor<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d, jene<br />

Verbrechen bestraft, <strong>die</strong> zu begehen sie von K<strong>in</strong>dheit auf <strong>in</strong> Aussicht gestellt haben...“ 4 .<br />

E<strong>in</strong>e richtige Erziehung gilt als Prophylaxe; Bestrafung h<strong>in</strong>gegen als notwendige<br />

Sanktionen, durch <strong>die</strong> nur <strong>die</strong> Versäumnisse <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehung reguliert wer<strong>de</strong>n. Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Insel<br />

Utopia wer<strong>de</strong>n alle K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> von Priestern unterrichtet und allen kommt das Recht auf e<strong>in</strong><br />

„sittliches Fundament“ 5 zu. Die Begründung <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehung ist jedoch e<strong>in</strong>e an<strong><strong>de</strong>r</strong>e, als <strong>die</strong>,<br />

<strong>die</strong> aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Nikomachischen Ethik erarbeitet wur<strong>de</strong>. Das hier aufgezeigte Verständnis von<br />

Erziehung ist durchaus e<strong>in</strong> mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nes. Jedoch wird Erziehung auf Utopia als<br />

1 Morus 1992, S. 53<br />

2 ebd. 1992, S. 68<br />

3 ebd. 1992, S. 67 - 68<br />

4 ebd. 1992, S 59<br />

5 ebd. 1992, 193<br />

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entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Mittel zur Sicherung <strong><strong>de</strong>r</strong> existieren<strong>de</strong>n Staatsverhältnisse gesehen.<br />

Konkret: Nicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch steht hierbei im Vor<strong><strong>de</strong>r</strong>grund son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Staat. Bei Aristoteles<br />

wird im mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen S<strong>in</strong>ne auf <strong>die</strong> Erziehungsbedürftigkeit als Grund <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehung aller<br />

Menschen h<strong>in</strong>gewiesen. Jedoch gilt festzuhalten, dass Raphael <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen<br />

ke<strong>in</strong>e Ausnahme <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Recht und <strong><strong>de</strong>r</strong> Pflicht auf Erziehung formuliert. Bezüglich <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

ausgewählten Literatur zeigt sich hier e<strong>in</strong>e wichtige Parallele zwischen <strong><strong>de</strong>r</strong> Insel Utopia im<br />

Mittelalter und <strong>de</strong>m Griechenland <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Antike</strong>.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus waren <strong>die</strong> Utopier überzeugt von <strong><strong>de</strong>r</strong> Richtigkeit ihrer Staatsform- und<br />

Organisation, so dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Aspekt e<strong>in</strong>er gesteuerten Erziehung durch <strong>de</strong>n Staat, mit <strong>de</strong>m<br />

leiten<strong>de</strong>n Ziel <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen Selbsterhaltung, nicht als ungewöhnlich gelten kann. Die<br />

Übere<strong>in</strong>stimmungen zu sozialistischen Staaten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Bezug auf das Ziel <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehung<br />

<strong>de</strong>utlich.<br />

Auch <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne erleben wir <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>fluß staatlicher und <strong>in</strong>stitutioneller Normen <strong>in</strong><br />

schulischer und außerschulischer Erziehung von K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>n, jedoch mit <strong>de</strong>n leiten<strong>de</strong>n<br />

Prämissen <strong><strong>de</strong>r</strong> Demokratisierung und Sozialisierung.<br />

Nach<strong>de</strong>m Raphaels se<strong>in</strong> Streitgespräch ausführlich schil<strong><strong>de</strong>r</strong>te, kommt er <strong>in</strong>tensiv auf<br />

Utopia zu sprechen, wo er selbst fünf Jahre verbrachte. Das charakteristische <strong><strong>de</strong>r</strong> Insel, und<br />

gleichzeitig ihr Vorteil gegenüber <strong><strong>de</strong>r</strong> alten Welt, sei <strong><strong>de</strong>r</strong> vollständige Verzicht auf jegliche<br />

Form <strong>de</strong>s Privateigentums. Raphael bemerkt hierzu: „[...], daß, wo aller Besitz<br />

Privatbesitz ist, wo alles am Maßstab <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s gemessen wird, da kann es wohl kaum je<br />

geschehen, daß <strong><strong>de</strong>r</strong> Staat gerecht und ge<strong>de</strong>ihlich verwaltet wird...“ 6 . Auf Utopia herrscht<br />

Gleichheit <strong>de</strong>s Besitzes. Geld wird als Zahlungsmittel nicht verwen<strong>de</strong>t, da je<strong><strong>de</strong>r</strong> Bürger<br />

Utopias se<strong>in</strong>en Beitrag zum Geme<strong>in</strong>wohl leistet. Nur, „[...] wenn nicht alsbald das<br />

Privateigentum aufgehoben wird...“ 7 , besteht überhaupt <strong>die</strong> Möglichkeit <strong>de</strong>s glücklichen<br />

und friedlichen Zusammenlebens <strong><strong>de</strong>r</strong> Bürger.<br />

Das erste Buch stellt e<strong>in</strong>e Rahmenhandlung dar, aus <strong><strong>de</strong>r</strong> heraus Raphael se<strong>in</strong>e Erzählungen<br />

<strong>in</strong> das zweite Buch überleitet. Hier geht er konkret auf <strong>die</strong> Gesellschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> Utopier, ihre<br />

I<strong>de</strong>ale und Normen e<strong>in</strong>.<br />

Zu Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>s 2. Buches schil<strong><strong>de</strong>r</strong>t er primär <strong>die</strong> staatliche Organisation Utopias:<br />

Hauptstadt <strong><strong>de</strong>r</strong> Insel ist Amaurotum. Sie ist gleichzeitig auch Senatssitz und Ort <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Vollversammlungen. Die Familien <strong>in</strong> allen Städten <strong><strong>de</strong>r</strong> Insel wählen Vertreter sogenannte<br />

Phylarchen und Syphogranten, welche <strong>in</strong> Amaurotum <strong>die</strong> Interessen <strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong>zelnen Städte<br />

6 ebd. 1992, S. 84<br />

7 ebd. 1992, S. 86<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 55


vertreten. Der Zugang zu <strong>die</strong>sen öffentlichen Ämtern ist nach Raphaels Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen<br />

nicht an Bed<strong>in</strong>gungen geknüpft, durch <strong>die</strong> Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung ausgeschlossen<br />

wer<strong>de</strong>n könnten. Basis zur Wahl <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Amt ist das Vertrauen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Souveränität <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

gewählten Phylarchen und Syphogranten. „<strong>Von</strong> Haus aus gilt es überlegt zu sprechen,<br />

nicht rasch mit <strong>de</strong>m Worte fertig zu se<strong>in</strong>“ 8 . Diese Voraussetzung können auch Menschen<br />

mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung und speziell auch mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung erfüllen. Deutlich wird <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Unterschied zu Aristoteles, bei <strong>de</strong>m öffentliche Ämter an e<strong>in</strong>e erfolgreiche militärische<br />

Schulung gebun<strong>de</strong>n waren. Vergleichend stehen sich hier e<strong>in</strong> antikes, relativ geschlossenes<br />

und e<strong>in</strong> aufgeklärtes, offenes Gesellschaftssystem gegenüber. In <strong><strong>de</strong>r</strong> sozialen Hierarchie<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Insel stehen <strong>die</strong> Menschen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Ämtern <strong>de</strong>s Phylarchen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Syphogranten über <strong>de</strong>n<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Bürgern. Niedrigste Position hatten <strong>die</strong> Knechte, welche „[...] alle schmutzigeren<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> mühsameren Dienstleistungen“ 9 zu verrichten hatten.<br />

Bei e<strong>in</strong>er Staatsorganisation, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> alles auf das Geme<strong>in</strong>wohl zentriert ist, kommt je<strong>de</strong>m<br />

Bürger <strong>die</strong> Aufgabe zu, e<strong>in</strong>en Beitrag zur Erhaltung und Steigerung <strong>de</strong>s geme<strong>in</strong>samen<br />

Wohls zu leisten. Hierzu erzählt Raphael über <strong>die</strong> Ausübung <strong>de</strong>s Ackerbaus und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Handwerke auf Utopia. „Außer <strong>de</strong>m Ackerbau (<strong><strong>de</strong>r</strong>, wie gesagt, allen geme<strong>in</strong>sam ist)<br />

erlernt je<strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong> beliebiges Handwerk als se<strong>in</strong>en Beruf wie z.B. <strong>die</strong> Wollweberei, <strong>die</strong><br />

Flachsbereitung, das Maurer-, Schmie<strong>de</strong>-, Schlosser und Zimmermannshandwerk“ 10 .<br />

Die Fähigkeit <strong>de</strong>s Ackerbaues ist, vor allem vor <strong>de</strong>m H<strong>in</strong>tergrund fehlen<strong><strong>de</strong>r</strong> Technik im<br />

Mittelalter, gebun<strong>de</strong>n an <strong>die</strong> Möglichkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> körperlichen Ertüchtigung.<br />

E<strong>in</strong>e Voraussetzung, <strong>die</strong> Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung nicht zukommt und <strong>die</strong>se unter<br />

Umstän<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>geren o<strong><strong>de</strong>r</strong> ke<strong>in</strong>en Beitrag zum Geme<strong>in</strong>wohl leisten können. „Denn<br />

dort s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ganzen Stadt mitsamt ihrer nächsten Umgebung aus <strong><strong>de</strong>r</strong> gesamten Zahl<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Männer und Frauen, <strong>die</strong> <strong>de</strong>m Alter und <strong>de</strong>n Körperkräften nach zur Arbeit tauglich<br />

s<strong>in</strong>d, kaum fünfhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t, <strong>die</strong> davon befreit s<strong>in</strong>d“ 11 . Ausgenommen von <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeit s<strong>in</strong>d <strong>die</strong><br />

Syphogranten, <strong>die</strong> jedoch trotz<strong>de</strong>m an <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>die</strong>ser teilnehmen, um <strong>de</strong>m Volk als Vorbild zu<br />

<strong>die</strong>nen. Ausgenommen s<strong>in</strong>d ebenfalls alle Menschen, <strong>die</strong> offiziell ernannt wur<strong>de</strong>n, ihr<br />

Leben e<strong>in</strong>zig <strong><strong>de</strong>r</strong> Wissenschaft zu widmen. Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Formulierung <strong>de</strong>s obigen Satzes kann<br />

vermutet wer<strong>de</strong>n, daß auch Menschen von <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeit befreit wer<strong>de</strong>n, welche durch<br />

körperliche Schwäche aufgrund von Alter und Krankheit das Geme<strong>in</strong>wohl nicht steigern<br />

8 ebd. 1992, S 103<br />

9 ebd. 1992, S. 110<br />

10 ebd. 1992, S. 104<br />

11 ebd. 1992, S. 108<br />

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können. Als zu belegen<strong>de</strong> Hypothese wird <strong>die</strong>se Regel wohl auch für Menschen mit<br />

Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung gegolten haben.<br />

Steht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Staatssytem, wie es von <strong><strong>de</strong>r</strong> Insel Utopia geschil<strong><strong>de</strong>r</strong>t wird, das Geme<strong>in</strong>wohl<br />

immanent im Mittelpunkt <strong><strong>de</strong>r</strong> Bemühungen, muss sich <strong>die</strong> Frage nach möglichen<br />

Konsequenzen für <strong>die</strong> Menschen anschließen, <strong>die</strong> nicht zum Geme<strong>in</strong>wohl beitragen<br />

können. Die Tatsache <strong><strong>de</strong>r</strong> Entb<strong>in</strong>dung aus ihrer Pflicht zur Arbeit impliziert nicht <strong>die</strong><br />

Folgefreiheit <strong>die</strong>ses Vorgangs. Gera<strong>de</strong> aus totalitären Staaten s<strong>in</strong>d uns Formen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Diskreditierung für Menschen bekannt, <strong>die</strong> als sozial unnützlich galten. <strong>Von</strong> solchen<br />

Konsequenzen spricht Rapahel <strong>in</strong> Bezug auf <strong>die</strong> Insel Utopia ausdrücklich nicht. Sie<br />

unterschei<strong>de</strong>t sich hier<strong>in</strong> von <strong>de</strong>n Staaten <strong><strong>de</strong>r</strong> alten Welt, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen <strong>die</strong> Nützlichkeit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>in</strong>dividuellen Arbeitskraft für <strong>die</strong> Fürsten oberste Be<strong>de</strong>utung zukam. Während also <strong>in</strong><br />

England und auch <strong>de</strong>n restlichen Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> alten Welt das Nützlichkeitspr<strong>in</strong>zip<br />

dom<strong>in</strong>ierte, herrschte auf Utopia e<strong>in</strong> gera<strong>de</strong>zu revolutionärer Humanismus vor.<br />

E<strong>in</strong> ganzes Kapitel widmet Raphael <strong>de</strong>m Umgang <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen mite<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>. Zu Beg<strong>in</strong>n<br />

<strong>die</strong>ses Kapitels schil<strong><strong>de</strong>r</strong>t er <strong>die</strong> Strukturen <strong>in</strong>nerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Familien. Das älteste Mitglied <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Familie steht <strong>die</strong>ser vor, während <strong>die</strong> Frauen ihren Ehemännern <strong>die</strong>nen.<br />

Entschei<strong>de</strong>nd geprägt ist <strong>die</strong> familiäre Hierarchie durch <strong>die</strong> vom Alter bestimmte<br />

Rangfolge, es gilt e<strong>in</strong>e klare Aufgabenverteilung: „[...] überhaupt <strong>die</strong> Jüngeren <strong>de</strong>n<br />

Älteren“ 12 .<br />

E<strong>in</strong>e große Aufmerksamkeit <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Abschnitt erhalten <strong>die</strong> Menschen, welche aus<br />

verschie<strong>de</strong>nen Ursachen ke<strong>in</strong>en Beitrag zum Geme<strong>in</strong>wohl leisten können. Unter Beachtung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> oben formulierten Hypothese und e<strong>in</strong>er ersten humanistischen Interpretation erhält <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

folgen<strong>de</strong> Abschnitt e<strong>in</strong>e beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e Be<strong>de</strong>utung. So wie <strong>die</strong> Menschen auf Utopia<br />

füre<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong> arbeiten und sich ergänzen, wird auch im Falle von Krankheit gegenseitige<br />

Rücksichtnahme geübt. „Die oberste Rücksicht wird auf <strong>die</strong> Kranken genommen, <strong>die</strong> <strong>in</strong><br />

Spitälern gepflegt wer<strong>de</strong>n“ 13 . Danach schil<strong><strong>de</strong>r</strong>t Raphael <strong>die</strong> für damalige Zeit<br />

außergewöhnliche Versorgung von Kranken. Auf e<strong>in</strong>e Stadt mußten vier Spitäler kommen,<br />

„[...] damit e<strong>in</strong>e beliebig große Anzahl Kranker nicht zu eng beie<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong> und daher<br />

unbequem logiert wer<strong>de</strong>n müssen“ 14 . Die Spitäler s<strong>in</strong>d gut e<strong>in</strong>gerichtet und <strong>die</strong> Versorgung<br />

Kranker zeichnet sich durch gewissenhafte Pflege aus. Raphaels Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen über <strong>die</strong><br />

Spitäler zeigen e<strong>in</strong>en stark humanistischen Charakter <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Versorgung Kranker auf,<br />

12 ebd. 1992, S. 113<br />

13 ebd. 1992, S. 115<br />

14 ebd. 1992, S. 115 ff<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 57


il<strong>de</strong>n jedoch e<strong>in</strong>en Gegensatz zur Erziehung. Diese ist von staatlichen Interessen geprägt<br />

mit <strong>de</strong>m primären Ziel <strong><strong>de</strong>r</strong> Sicherung vorherrschen<strong><strong>de</strong>r</strong> Strukturen auf Utopia. Das<br />

Krankenwesen sche<strong>in</strong>t sich aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen Raphaels zu differenzieren: Hier<br />

stehen staatliche Intentionen zurück und <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch als Subjekt rückt <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Mittelpunkt<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Handlungen und überw<strong>in</strong><strong>de</strong>t se<strong>in</strong>e Position <strong>de</strong>s zu erziehen<strong>de</strong>n Objekts.<br />

Die Qualität <strong><strong>de</strong>r</strong> ärztlichen und pflegerischen Versorgung wird <strong>in</strong> folgen<strong>de</strong>m Satz<br />

nochmals <strong>de</strong>utlich: „[...], es an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits wohl ke<strong>in</strong>e Person <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> ganzen Stadt gibt, <strong>die</strong>,<br />

wenn sie lei<strong>de</strong>n<strong><strong>de</strong>r</strong> Gesundheit ist, nicht lieber dort als zu Hause sich auf´s Krankenbett<br />

legen wollte“ 15 .<br />

K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> gelten auf Utopia als höchstes Gut, <strong>de</strong>ssen sich alle Eltern bewußt s<strong>in</strong>d. „Je<strong>de</strong><br />

Mutter stillt ihr K<strong>in</strong>d, woran sie nur <strong><strong>de</strong>r</strong> Tod o<strong><strong>de</strong>r</strong> Krankheit verh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>t“ 16 .<br />

Gera<strong>de</strong> vor <strong>de</strong>m H<strong>in</strong>tergrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Epoche, aber auch <strong>de</strong>n aktuellen Diskussionen um<br />

Abtreibung und „Liegenlassen“ stellt sich hier <strong>die</strong> Frage, wie mit K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>n umgegangen<br />

wur<strong>de</strong>, <strong>die</strong> nicht gesund waren. Im Kapitel über <strong>de</strong>n Umgang <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen auf Utopia<br />

f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir ke<strong>in</strong>e Antwort auf hierauf. Raphael berichtet noch von <strong>de</strong>m hohen Ansehen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Ammen <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft, weil sich <strong>die</strong>se ehrenvoll um <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> kümmern.<br />

In <strong>de</strong>n nächsten Abschnitten f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir nicht nur <strong>die</strong> Beantwortung <strong><strong>de</strong>r</strong> obigen Frage<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n e<strong>in</strong>e Vielzahl von mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Aussagen über <strong>de</strong>n Umgang mit kranken Menschen,<br />

welche das bisher positive Bild <strong><strong>de</strong>r</strong> Spitäler und <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft me<strong>in</strong>es Erachtens<br />

bestätigen. Bevor <strong>de</strong>tailliert darauf e<strong>in</strong>gegangen wird, wer<strong>de</strong>n an <strong>die</strong>ser Stelle <strong>die</strong><br />

bisherigen Ergebnisse zu Anthropologie und ethischen Auswirkungen zusammengefaßt.<br />

Raphael zeigt uns <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Erzählungen über <strong>die</strong> Insel Utopia e<strong>in</strong> Menschenbild auf,<br />

welches sowohl von Geme<strong>in</strong>schaft als auch Individualität geprägt ist und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schwer<br />

zu verstehen<strong>de</strong>n Verhältnis stehen. Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong>en Seite <strong>die</strong> sozialistischen Gedanken <strong>in</strong><br />

<strong>de</strong>nen je<strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch etwas für das Geme<strong>in</strong>wohl e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gt und gleichzeitig von <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeit<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>er profitiert. Es ist das Pr<strong>in</strong>zip <strong>de</strong>s Gebens und Nehmens. Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Seite <strong>die</strong><br />

Betonung <strong><strong>de</strong>r</strong> Individualität <strong>de</strong>s menschlichen Se<strong>in</strong>s, welches vor allem <strong>in</strong> <strong>de</strong>n<br />

Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen über <strong>die</strong> Spitäler <strong>de</strong>utlich wird. Hier tritt am konkreten Fall <strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong>zelnen<br />

Subjekte das Interesse <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft auf <strong>die</strong> Steigerung <strong>de</strong>s Geme<strong>in</strong>wohls zurück und<br />

<strong>die</strong> durch Krankheit o<strong><strong>de</strong>r</strong> Alter geschwächten Individuen erfahren <strong>die</strong> notwendige<br />

Fürsorge. Trotz <strong><strong>de</strong>r</strong> ausdrücklichen Betonung von Geme<strong>in</strong>schaft und Geme<strong>in</strong>wohl f<strong>in</strong><strong>de</strong>t<br />

ke<strong>in</strong>e leistungsorientierte Selektion <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen statt. Kranke, alte, schwache Menschen,<br />

aber auch Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung s<strong>in</strong>d gesellschaftlich und mediz<strong>in</strong>isch<br />

15 ebd. 1992, S. 115<br />

16 ebd. 1992, S. 117<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 58


<strong>in</strong>tegriert. Aus <strong>de</strong>n bisherigen Äußerungen läßt sich als oberste ethische Norm <strong>die</strong> Achtung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Gleichheit aller Menschen herausstellen, jedoch ohne Individualität e<strong>in</strong>zuschränken.<br />

Je<strong><strong>de</strong>r</strong> Bürger Utopias hat <strong>die</strong> Pflicht zur Arbeit für das Geme<strong>in</strong>wohl und das Recht <strong>die</strong><br />

Ergebnisse an<strong><strong>de</strong>r</strong>er zu nuten aber auch <strong>de</strong>n Anspruch auf Hilfe und Versorgung. Gleichheit<br />

me<strong>in</strong>t hier <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ganz mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen S<strong>in</strong>ne <strong>die</strong> unabd<strong>in</strong>gbare Gleichheit von Recht und<br />

Menschenwür<strong>de</strong>. Die bisherigen Ergebnisse zur Anthropologie und Ethik lassen sich mit<br />

Hilfe von Schlagwörtern kurz und e<strong>in</strong><strong>de</strong>utig festhalten: Geme<strong>in</strong>schaft, Individualität und<br />

Gleichheit an Rechten und Pflichten..<br />

„So bil<strong>de</strong>t <strong>die</strong> ganze Insel gleichsam e<strong>in</strong>e Familie“ 17 . Im Folgen<strong>de</strong>m wer<strong>de</strong>n wir<br />

feststellen, ob <strong>die</strong> bisherigen Ergebnisse une<strong>in</strong>geschränkt weiter Gültigkeit besitzen und ob<br />

<strong>die</strong> Zugehörigkeit <strong>in</strong> <strong>die</strong> „Familie“ <strong><strong>de</strong>r</strong> Utopier im existenziellen S<strong>in</strong>ne <strong>in</strong> Frage gestellt<br />

wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Im nächsten Kapitel geht Raphael nochmals ausführlich auf kranke Menschen e<strong>in</strong>.<br />

Zunächst wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holt er <strong>die</strong> Bemühungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Ärzte und Pfleger zur L<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Krankheit mit <strong>de</strong>m Ziel, <strong>de</strong>n betroffenen Menschen größtmögliches Wohlbef<strong>in</strong><strong>de</strong>n zu<br />

ermöglichen. Anschließend differenziert er jedoch <strong>die</strong> Auswirkungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Krankheit und<br />

erläutert Vorgehensweisen <strong><strong>de</strong>r</strong> Utopier, <strong>die</strong> uns Parallelen zur heutigen gängigen Praxis<br />

aufzeigen. Sobald e<strong>in</strong> Mensch unter Schmerzen lei<strong>de</strong>t, unheilbar krank ersche<strong>in</strong>t und se<strong>in</strong><br />

Leben nicht mehr als „lebenswert“ gilt, stellt sich <strong>die</strong> Frage, ob es unter allen Umstän<strong>de</strong>n<br />

erhalten und verlängert wer<strong>de</strong>n muß. „Wenn aber <strong>die</strong> Krankheit nicht nur unheilbar ist,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch Schmerzen und Pe<strong>in</strong> ohne En<strong>de</strong> verursacht, dann ergeht von <strong>de</strong>n Priestern<br />

und <strong>de</strong>n obrigkeitlichen Personen <strong>die</strong> Mahnung an <strong>de</strong>n Betreffen<strong>de</strong>n“ 18 .<br />

Aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Länge nachfolgen<strong><strong>de</strong>r</strong> Ausführungen habe ich auf e<strong>in</strong> wörtliches zitieren<br />

verzichtet und wer<strong>de</strong> e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>gabe vornehmen.<br />

Es wird <strong><strong>de</strong>r</strong> unheilbar kranke Mensch als e<strong>in</strong>e Person bezeichnet, <strong>die</strong> aufgrund von<br />

Krankheit und Schmerz ke<strong>in</strong>e Lebensfreu<strong>de</strong> verspüren könne und für <strong>die</strong> e<strong>in</strong> freiwilliger<br />

Tod ke<strong>in</strong> En<strong>de</strong> son<strong><strong>de</strong>r</strong>n e<strong>in</strong> besserer Anfang sei. Die Krankheit <strong>de</strong>s betroffenen Menschen<br />

ist aber ke<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> subjektive Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit ihren Symptomen son<strong><strong>de</strong>r</strong>n belastet<br />

ebenfalls Angehörige, Freun<strong>de</strong> und auch <strong>die</strong> Ärzte und Pfleger <strong><strong>de</strong>r</strong> Spitäler. Im S<strong>in</strong>ne <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

systemisch-ökologischen Vernetzung wer<strong>de</strong>n bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Entscheidung sowohl <strong>die</strong> Mikro-, als<br />

auch Mesosphäre <strong><strong>de</strong>r</strong> Systeme betrachtet. Der schwerkranke Mensch ist nicht nur e<strong>in</strong>e<br />

Belastung für sich, <strong>in</strong> gleichem Maße belastet er an<strong><strong>de</strong>r</strong>e. Hierzu heißt es: „ [...] da er <strong>de</strong>n<br />

17 ebd. 1992, S. 121<br />

18 ebd. 1992, S. 154<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 59


an<strong><strong>de</strong>r</strong>en nur zu Last falle“ 19 . Die Entscheidung zum Freitod wird ebenso mit großem Lob<br />

aufgenommen, wie <strong>die</strong> Bitte <strong>de</strong>s Kranken, er möge durch e<strong>in</strong>en an<strong><strong>de</strong>r</strong>en von se<strong>in</strong>en Lei<strong>de</strong>n<br />

befreit wer<strong>de</strong>n. Voraussetzung hierzu ist <strong>die</strong> Freiwilligkeit und das Bewußtse<strong>in</strong> über <strong>die</strong><br />

vom Kranken getroffene Bitte. Raphael schil<strong><strong>de</strong>r</strong>t auch, auf welcher Art und Weise <strong><strong>de</strong>r</strong> Tod<br />

herbeigeführt wird. Entwe<strong><strong>de</strong>r</strong> durch Verabreichung e<strong>in</strong>es Schlafmittels, durch das ihnen<br />

<strong>die</strong> gewünschte Erlösung zukommt o<strong><strong>de</strong>r</strong> durch Beendigung <strong><strong>de</strong>r</strong> Nahrungsaufnahme. In<br />

<strong>die</strong>sen Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen kommt <strong>die</strong> gegenwärtige Aktualität zum Ausdruck, <strong>die</strong> Diskussionen<br />

um ethische und juristische Rechtmäßigkeit aktiver Sterbehilfe. Auf Utopia ist <strong>die</strong> Lösung<br />

e<strong>in</strong><strong>de</strong>utig: Wer als Subjekt <strong>in</strong> vollem Bewußtse<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Wunsch zur Beendigung se<strong>in</strong>es<br />

Lebens äußert, um somit <strong>de</strong>n subjektiv empfun<strong>de</strong>nen und wahrgenommen Schmerzen und<br />

Lei<strong>de</strong>n zu entkommen, <strong>de</strong>m wird <strong>die</strong>ser Wunsch entsprochen. Wichtig ist es<br />

herauszuheben, daß <strong>die</strong> Entscheidung darüber, ob e<strong>in</strong> Leben als wertvoll o<strong><strong>de</strong>r</strong> im<br />

Gegensatz dazu nicht lebenswert gilt, nur und ausschließlich von <strong>de</strong>m betroffenen<br />

Individuen selbst entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann. Will <strong><strong>de</strong>r</strong> Kranke se<strong>in</strong> Leben nicht freiwillig<br />

been<strong>de</strong>n beziehungsweise been<strong>de</strong>n lassen, so wird auch <strong>die</strong>se Entscheidung akzeptiert und<br />

ist nicht mit negativen Auswirkungen verbun<strong>de</strong>n. Dazu erzählt Raphael: „Gegen se<strong>in</strong>en<br />

Willen wird ke<strong>in</strong>em das Leben entzogen, aber man erweist ihm darum um nichts weniger<br />

Liebes<strong>die</strong>nste“ 20 .<br />

Reflektiert man <strong>die</strong> heutige Diskussion f<strong>in</strong><strong>de</strong>n sich Argumente, <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> gegenwärtigen<br />

Diskussion um <strong>die</strong> Legalisierung aktiver Sterbehilfe auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>n geschil<strong><strong>de</strong>r</strong>ten Berichten<br />

über Utopia zum Ausdruck kommen. Wer, wenn nicht das betroffene Individuum selbst,<br />

kann darüber entschei<strong>de</strong>n, ob aus <strong>de</strong>ssen subjektiver Sicht se<strong>in</strong> Leben <strong>die</strong> Qualität<br />

aufweist, um es fortführen zu wollen? Gleichzeitig wird aus <strong>de</strong>n Berichten <strong>de</strong>utlich, daß<br />

ke<strong>in</strong>e advokatorischen Entscheidungen getroffen wer<strong>de</strong>n, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen anhand ihrer<br />

Außenperspektive frem<strong>de</strong>s menschliches Leben qualifizieren und beurteilen. Wer<strong>de</strong>n <strong>die</strong><br />

gesamten Ausführungen unter beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>tenpädagogischer Sichtweise reflektiert, drängt sich<br />

<strong>die</strong> Frage nach Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ungen auf. Wie wird entschie<strong>de</strong>n und gehan<strong>de</strong>lt,<br />

wenn e<strong>in</strong> Mensch unter e<strong>in</strong>er schweren körperlichen Bee<strong>in</strong>trächtigung lei<strong>de</strong>t, ans das Bett<br />

gebun<strong>de</strong>n und nicht fähig ist, selbständig für se<strong>in</strong>e Interessen zu sprechen? Die Frage, ob<br />

es <strong>in</strong> solchen Fällen doch zu e<strong>in</strong>er advokatorischen Ethik kommt, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong> Arzt aus se<strong>in</strong>er<br />

Perspektive <strong>die</strong> Beendigung <strong>de</strong>s Lebens entschei<strong>de</strong>t, kann aus <strong>de</strong>n Ausführungen lediglich<br />

spekulativ <strong>in</strong>terpretiert wer<strong>de</strong>n. Hierzu stelle ich <strong>die</strong> These auf, daß e<strong>in</strong> solches Vorgehen<br />

auf Utopia nicht existieren wird. An zwei Ausführungen möchte ich <strong>die</strong>s im Folgen<strong>de</strong>n<br />

19 ebd. 1992, S. 154<br />

20 ebd. 1992, S. 155<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 60


elegen.<br />

In e<strong>in</strong>em ersten Abschnitt f<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich: „Die an unheilbaren Krankheiten<br />

Darnie<strong><strong>de</strong>r</strong>liegen<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n auf alle Weise getröstet: man wartet sie fleißig, spricht viel<br />

mit ihnen und läßt ihnen alle möglichen L<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ungsmittel ange<strong>de</strong>ihen“ 21 . Die bereits<br />

aufgezeigte Qualität und Intensität <strong><strong>de</strong>r</strong> Pflege <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Spitälern auf Utopia unterschei<strong>de</strong>t<br />

nicht <strong>die</strong>jenigen, welche vermutlich nicht mehr zu Gesundheit gelangen wer<strong>de</strong>n. Sie gelten<br />

unverän<strong><strong>de</strong>r</strong>t als Mitglied <strong><strong>de</strong>r</strong> Geme<strong>in</strong><strong>de</strong>, obwohl sie zu <strong><strong>de</strong>r</strong>en Geme<strong>in</strong>wohl nicht beitragen<br />

können. Trotz<strong>de</strong>m wer<strong>de</strong>n sie von <strong>de</strong>n übrigen Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Geme<strong>in</strong><strong>de</strong> <strong>in</strong> ihrem Dase<strong>in</strong><br />

akzeptiert und unterstützt, <strong>de</strong>nn e<strong>in</strong> großer Teil <strong><strong>de</strong>r</strong> auf <strong>de</strong>n Fel<strong><strong>de</strong>r</strong>n gewonnenen Erträge<br />

fließen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Spitäler und kommen auch dort e<strong>in</strong>em Geme<strong>in</strong>wohl zugute. In <strong>de</strong>n<br />

Ausführungen Rapahels über <strong>die</strong> Tugend auf Utopia f<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich e<strong>in</strong> i<strong>de</strong>ologischer Beleg für<br />

me<strong>in</strong>e These, „[...] h<strong>in</strong>gegen dir selbst etwas zu versagen, um es <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en zuzulegen,<br />

das heißt im S<strong>in</strong>ne <strong><strong>de</strong>r</strong> Humanität und edler Güter tätig zu se<strong>in</strong>“ 22 . Hieraus geht erneut <strong>die</strong><br />

Gleichheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen, explizit Humanität und Menschenwür<strong>de</strong> als i<strong>de</strong>ologische Basis<br />

auf Utopia hervor. E<strong>in</strong> weiterer Beleg me<strong>in</strong>er Behauptung f<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich <strong>in</strong> folgen<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Formulierung: „[...] o<strong><strong>de</strong>r</strong> willig gestatten, daß ihn an<strong><strong>de</strong>r</strong>e davon befreien“ 23 .<br />

Die Betonung liegt auf „willig“ und wo <strong>die</strong>se Freiwilligkeit <strong>de</strong>s betroffenen Subjektes<br />

nicht ausdrücklich und zweifelsfrei hervorgeht, da f<strong>in</strong><strong>de</strong>t ke<strong>in</strong>e Beendigung <strong>de</strong>s Lebens<br />

statt. Als Ergebnis me<strong>in</strong>er, aus beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>tenpädagogischer Sicht formulierten Frage und<br />

anschließend aufgestellter These, halte ich fest, daß auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Ausführungen über <strong>die</strong><br />

unheilbar Kranken, das Individuum <strong><strong>de</strong>r</strong> Akteur letztgültiger Entscheidung ist. Niemand<br />

urteilt über <strong>die</strong> Innenperspektive an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Menschen. E<strong>in</strong> klares Rollenverhältnis bleibt<br />

gewahrt und gesichert. Dar<strong>in</strong> liegt e<strong>in</strong> großer Unterschied zur Gegenwart: Das Pr<strong>in</strong>zip <strong>de</strong>s<br />

Advokatorischen gilt nicht nur als Schwäche <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Theorie, <strong>in</strong>sbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong><strong>de</strong>r</strong> Diskursethik<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n f<strong>in</strong><strong>de</strong>t auch se<strong>in</strong>e praktische Anwendung.<br />

Das „Liegenlassen“ schwerstbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ter Säugl<strong>in</strong>ge ist hier ebenso aufzuführen wie das im<br />

Januar 1992 e<strong>in</strong>geführte Gesetz zur Reform <strong>de</strong>s Rechts <strong><strong>de</strong>r</strong> Vormundschaft und Pflegschaft<br />

für Volljährige.<br />

Die <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Ausführungen beschriebenen Spitäler und dar<strong>in</strong> stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong> Versorgung<br />

Kranker muß me<strong>in</strong>es Erachtens positiv bewertet wer<strong>de</strong>n, gera<strong>de</strong> vor <strong>de</strong>m H<strong>in</strong>tergrund <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ten- und speziell Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>tenpädagogik. Diese Aussage gilt sowohl für <strong>die</strong><br />

vorliegen<strong>de</strong> Epoche <strong>de</strong>s Mittelalters, aber auch für <strong>die</strong> Gegenwart, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong>e solche<br />

21 ebd. 1992, S. 154<br />

22 ebd. 1992, S. 135<br />

23 ebd. 1992, S. 154<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 61


Humanität zunehmend durch <strong>die</strong> Ökonomie <strong>in</strong> Frage gestellt wird. In weiteren Berichten,<br />

<strong>in</strong> <strong>de</strong>nen Raphael ausdrücklich auf <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>s menschlichen Körpers als Maßstab<br />

gesellschaftlicher Akzeptanz und sozialer Integration e<strong>in</strong>geht, wird das bisher<br />

vorherrschen<strong>de</strong> positive Bild verstärkt. Se<strong>in</strong>e Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen über <strong>die</strong> Eheschließung auf<br />

Utopia ersche<strong>in</strong>en erst mal kurios und unverständlich, bergen <strong>in</strong> Bezug auf <strong>die</strong><br />

Fragestellung <strong>die</strong>ser Arbeit e<strong>in</strong>ige <strong>in</strong>teressante Aspekte. Voraussetzung zur Hochzeit ist<br />

das Erreichen <strong>de</strong>s achtzehnten Lebensjahres <strong><strong>de</strong>r</strong> Frau, <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann h<strong>in</strong>gegen muß m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens<br />

zweiundzwanzig Jahre alt se<strong>in</strong>. Erlaubt ist bei<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Umgang mite<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong> vor <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Hochzeit, jedoch ausschließlich ohne sexuellen Kontakt. E<strong>in</strong> Verstoß gegen <strong>die</strong>se gelten<strong>de</strong><br />

Regel hätte das Verbot <strong><strong>de</strong>r</strong> Hochzeit sowie weiteren Kontakt zue<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong> als Folge.<br />

Entschließen sich Mann und Frau zur Heirat, wer<strong>de</strong>n sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Prozedur und bei<br />

Anwesenheit zweier ehrbarer Menschen aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft erstmals nackt präsentiert.<br />

Als entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Merkmal positiver Eigenschaften gelten <strong>die</strong> Tugen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Geistes und<br />

Gemütes, trotz<strong>de</strong>m „[...] bil<strong>de</strong>n auch körperliche Vorzüge e<strong>in</strong>e nicht unwillkommene<br />

Zugabe...“ 24 . Somit wollen <strong>die</strong> Utopier sicherstellen, nicht erst nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Hochzeit e<strong>in</strong><br />

möglicherweise erschrecken<strong>de</strong>s Äußeres se<strong>in</strong>es Partners zu bemerken. Denn empf<strong>in</strong><strong>de</strong>t<br />

e<strong>in</strong>er <strong><strong>de</strong>r</strong> Ehepartner <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Äußeren <strong>de</strong>s An<strong><strong>de</strong>r</strong>en etwas abstoßen<strong>de</strong>s, so kann <strong>die</strong>s zu<br />

e<strong>in</strong>er Entfremdung und Distanzierung <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Beziehung führen. E<strong>in</strong>e Trennung von se<strong>in</strong>em<br />

Partner aufgrund <strong>de</strong>s Äußeren ist jedoch gesetzlich verboten. Auf Utopia gibt es lediglich<br />

zwei Grün<strong>de</strong>, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> Auflösen <strong><strong>de</strong>r</strong> Ehe rechtfertigen: E<strong>in</strong>erseits <strong><strong>de</strong>r</strong> Tod, an<strong><strong>de</strong>r</strong>seits <strong>die</strong><br />

Untreue, durch <strong>die</strong> <strong>de</strong>mjenigen e<strong>in</strong>e erneute Hochzeit verboten wird und er,<br />

beziehungsweise sie, mit lebenslanger sozialer Ausgrenzung bestraft wird.<br />

Dementsprechend ist es, „[...] daher Sache <strong>de</strong>s Gesetzes, Vorsorge zu treffen...“ e<strong>in</strong>e<br />

Situation zu vermei<strong>de</strong>n, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> „[...] <strong>die</strong>se Häßlichkeit zufällig erst nach geschlossener Ehe<br />

ent<strong>de</strong>ckt wird..“ und, so Raphael weiter, dann „[...] je<strong><strong>de</strong>r</strong> se<strong>in</strong> Los tragen...“ 25 muß.<br />

Deutlich wird <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen e<strong>in</strong>e qualitative Bewertung <strong>de</strong>s menschlichen<br />

Körpers, <strong>die</strong> an normative Vorgaben geknüpft sche<strong>in</strong>t. Wer körperliche An<strong><strong>de</strong>r</strong>sartigkeit<br />

aufweist kann dadurch elementar e<strong>in</strong>e Beziehung zwischen zwei Personen negativ<br />

bee<strong>in</strong>flussen und <strong>die</strong> Gefahr e<strong>in</strong>er schlechten Ehe erzeugen. Die Beschreibungen zur Ehe<br />

können wir kaum mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegenwart vergleichen. Konstruieren wir jedoch <strong>die</strong> Situation<br />

e<strong>in</strong>es zufälligen Kontaktes zwischen e<strong>in</strong>em Menschen mit und e<strong>in</strong>em ohne körperlicher<br />

Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung, sehen wir häufig <strong>die</strong>selben Ergebnisse. Das Äußere <strong>de</strong>s Menschen mit<br />

Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung bee<strong>in</strong>flußt durch se<strong>in</strong>e Abweichung von e<strong>in</strong>er bestimmten, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

24 ebd. 1992, S. 156<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 62


Gesellschaft verankerten Form, viele Elemente <strong>de</strong>s Kontaktes. Die Kommunikation,<br />

Handlungs- und Verhaltensmuster <strong><strong>de</strong>r</strong> nicht beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ten Menschen wer<strong>de</strong>n durch e<strong>in</strong>e<br />

hervorgerufene Verunsicherung aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Normabweichung <strong>de</strong>s An<strong><strong>de</strong>r</strong>en so gestört,<br />

daß <strong>die</strong> Beziehung zum Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung elementar negativ bee<strong>in</strong>flußt<br />

se<strong>in</strong> kann. Die qualitative Bewertung <strong>de</strong>s menschlichen Körpers f<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich<br />

<strong>de</strong>mentsprechend massiv <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegenwart wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Än<strong><strong>de</strong>r</strong>t sich auf Utopia <strong>die</strong> körperliche<br />

Konstitution <strong>in</strong> Folge e<strong>in</strong>es Unfalls, so gilt auch <strong>die</strong>s nicht als Begründung e<strong>in</strong>er Trennung<br />

vom Partner, „sonst aber ist es durchaus unerlaubt, daß e<strong>in</strong> Gatte se<strong>in</strong>e Frau <strong>de</strong>swegen<br />

verstoße, weil sie durch e<strong>in</strong>en Unfall körperlichen Scha<strong>de</strong>n nimmt, wenn sie sonst ke<strong>in</strong>erlei<br />

Schuld trifft“ 26 . Auf Utopia ist es <strong>die</strong> größte Schan<strong>de</strong> e<strong>in</strong>en Menschen dann zu verlassen<br />

und <strong>die</strong> Hilfe zu verweigern ,wenn <strong>die</strong>ser am Meisten darauf angewiesen ist.<br />

In vergleichbarer Weise zu Aristoteles stellt sich auch auf Utopia <strong>die</strong> Frage <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Glückseligkeit aller Menschen. Die Antwort liefert ausschließlich, so <strong>die</strong> Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>s<br />

Raphael, <strong>die</strong> Komb<strong>in</strong>ation von Religion und Philosophie. Glückseligkeit f<strong>in</strong><strong>de</strong>n <strong>die</strong> Utopier<br />

<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Formen <strong>de</strong>s ehrbaren Vergnügens. Darunter verstehen sie e<strong>in</strong> Leben, welches frei<br />

von Schmerz und Ungemach und <strong>in</strong> <strong>de</strong>m das Angenehme dom<strong>in</strong>iert. Den Weg zu e<strong>in</strong>em<br />

solchen Leben zeichnet ihnen <strong>die</strong> Natur vor, und wenn <strong>die</strong> Utopier <strong>die</strong>se Regeln befolgen,<br />

erlangen sie sowohl e<strong>in</strong> glückseliges Leben als auch ihre Handlungen als Tugend<br />

bezeichnet wer<strong>de</strong>n. Die folgen<strong>de</strong> Aussage enthält e<strong>in</strong>e praktische Anweisung wie<br />

Handlungen als e<strong>in</strong>e Tugend gelten können, darüber h<strong>in</strong>aus f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir erneut Merkmale,<br />

durch <strong>die</strong> Humanität und Solidarität auf Utopia zur Geltung kommt: „nämlich, daß <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mensch <strong>de</strong>m Menschen Gesundheit verschaffe und Trost spen<strong>de</strong>, weil er es für <strong>die</strong><br />

menschlichste aller Tugen<strong>de</strong>n ansieht, <strong>die</strong> Beschwer<strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>er soviel nur immer möglich<br />

zu erleichtern, <strong>de</strong>n Kummer zu tilgen und das Leben <strong><strong>de</strong>r</strong> Freu<strong>de</strong>, das heißt also <strong>de</strong>m<br />

Vergnügen wie<strong><strong>de</strong>r</strong>zugeben“ 27 . Zu fragen bleibt noch, ob auch auf Utopia bestimmte<br />

Aspekte e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung <strong><strong>de</strong>r</strong> Glückseligkeit bed<strong>in</strong>gen können. Im Unterschied zu<br />

Aristoteles wird hier <strong>die</strong> Glückseligkeit als Ziel <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen be<strong>de</strong>utend subjektiver<br />

gefaßt: „Vergnügen nennen <strong>die</strong> Utopier je<strong>de</strong> Bewegung und je<strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>s Körpers<br />

und <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele, wobei <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch e<strong>in</strong> natürliches Wohlbehagen empf<strong>in</strong><strong>de</strong>t“ 28 . Es geht<br />

hieraus hervor, daß Vergnügen, welches als oberstes Ziel auf Utopia betrachtet wird, nur<br />

25 ebd. 1992, S. 157ff<br />

26 ebd. 1992, S. 157<br />

27 ebd. 1992, S. 134<br />

28 ebd. 1992, S. 136<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 63


von <strong>de</strong>n Individuen selbst qualitativ bewertet wer<strong>de</strong>n kann. Die Bezeichnung „äußere<br />

Güter“ wie sie von Aristoteles verwen<strong>de</strong>t wird, f<strong>in</strong><strong>de</strong>t hier ke<strong>in</strong>en Anklang.<br />

Wenn Glückseligkeit als re<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles Merkmal angesehen wird, ist hieraus e<strong>in</strong>e<br />

Trennung von Körper und Geist zu <strong>in</strong>terpretieren. Demnach können auf Utopia sowohl<br />

Menschen mit schwerster körperlichen als auch solche mit geistigen Bee<strong>in</strong>trächtigungen<br />

e<strong>in</strong> Leben führen, daß alle Merkmale <strong><strong>de</strong>r</strong> Glückseligkeit erfüllt. Es f<strong>in</strong><strong>de</strong>t ke<strong>in</strong>e<br />

Gleichsetzung statt, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> körperliche o<strong><strong>de</strong>r</strong> geistige Fähigkeiten gleichbe<strong>de</strong>utend mit<br />

Glückseligkeit s<strong>in</strong>d, o<strong><strong>de</strong>r</strong> umgekehrt, e<strong>in</strong> Fehlen von Fähigkeiten <strong>de</strong>s Körperlichen<br />

gleichbe<strong>de</strong>utend mit Leid und Unglück s<strong>in</strong>d. In <strong>de</strong>n Ausführungen über das Vergnügen ist<br />

durchaus e<strong>in</strong> Menschenbild enthalten, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m <strong>die</strong> Vollkommenheit <strong>de</strong>s Körpers dom<strong>in</strong>iert.<br />

Es han<strong>de</strong>lt sich hierbei um e<strong>in</strong>e mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne, auch heute weitverbreitete Me<strong>in</strong>ung. Als<br />

vorbildlich darf <strong>die</strong> Betonung <strong><strong>de</strong>r</strong> Subjektivität <strong>de</strong>s Erlebens <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt gesehen wer<strong>de</strong>n.<br />

Je<strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch erlebt se<strong>in</strong>e eigene Welt als e<strong>in</strong>e subjektive, <strong>die</strong> konstruktivistischen<br />

Anklänge <strong>die</strong>ser vorherrschen<strong>de</strong>n Denkweise s<strong>in</strong>d nicht kaum zu übersehehen.<br />

Krankheit und Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung wird nicht mit Leid und Schmerz gleichgesetzt. Die<br />

Anthropologie steht <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> L<strong>in</strong>ie heutiger mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ner heilpädagogischer Theorien.<br />

Der Mensch mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung als Bauherr se<strong>in</strong>er eigenen erlebten Wirklichkeit, <strong>de</strong>m e<strong>in</strong><br />

Höchstmaß an Autonomie und Subjektivität zukommt und <strong>de</strong>m gleichzeitig mit Respekt<br />

und Empathie begegnet wird.<br />

In e<strong>in</strong>em kurzen Rückblick können wir festhalten, daß Morus als passiver Erzähler uns <strong>die</strong><br />

Geschichten <strong>de</strong>s Weltreisen<strong>de</strong>n Raphaels wie<strong><strong>de</strong>r</strong>gibt und e<strong>in</strong> Bild über <strong>die</strong> Insel Utopia<br />

ermöglicht. Diese weist durch Betonung <strong>de</strong>s Geme<strong>in</strong>wohls und ihrer Staatsstruktur<br />

e<strong>in</strong><strong>de</strong>utige Parallelen zu sozialistischen Staaten auf. Jedoch kann <strong>in</strong> Bezug auf Utopia nicht<br />

von e<strong>in</strong>em Sche<strong>in</strong>sozialismus gesprochen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn <strong>die</strong> Individuen s<strong>in</strong>d zu je<strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit<br />

vollwertiges Mitglied <strong><strong>de</strong>r</strong> Geme<strong>in</strong>schaft. Mögliche Grün<strong>de</strong>, unter <strong>de</strong>nen sie nicht zum<br />

Geme<strong>in</strong>wohl beitragen können, bleiben ohne Folgen. Die mit e<strong>in</strong>er Betonung <strong>de</strong>s<br />

Geme<strong>in</strong>wohls oftmals verbun<strong>de</strong>ne re<strong>in</strong> materialistische Ethik existiert nicht, vielmehr kann<br />

von e<strong>in</strong>er sozialen, auf Gleichheit gerichtete Ethik gesprochen wer<strong>de</strong>n. Grundlage hierfür<br />

ist e<strong>in</strong>e Anthropologie <strong><strong>de</strong>r</strong> nicht verän<strong><strong>de</strong>r</strong>baren Gleichheit aller Menschen. Raphaels<br />

Berichte richten sich <strong>in</strong> ihren enthalten<strong>de</strong>n Aussagen gegen das englische Staatssystem.<br />

Konkret s<strong>in</strong>d es <strong>die</strong> Fürsten, welche e<strong>in</strong>e Staatsorganisation ähnlich <strong>die</strong> Utopias durch ihre<br />

f<strong>in</strong>anziellen und von Macht geprägten Interessen verh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />

Sie s<strong>in</strong>d Zielpunkt aller <strong>in</strong>haltlichen Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen Raphaels. Erst <strong>die</strong> Beendigung ihrer<br />

Herrschaftsmacht kann e<strong>in</strong>en Weg zur Gleichheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen ebnen. Voraussetzung ist<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 64


<strong>die</strong> Abschaffung e<strong>in</strong>er sozialen Hierarchie danach gilt es, <strong>die</strong> durch Geld hervorgerufene<br />

materielle Ordnung aufzuheben, um dann über <strong>die</strong> Schaffung e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen<br />

I<strong>de</strong>ologie, mit <strong>de</strong>m Geme<strong>in</strong>wohl als i<strong>de</strong>ologisches Zentrum, <strong>die</strong> Gleichheit zu begrün<strong>de</strong>n.<br />

Erst dann existieren i<strong>de</strong>ntische Bed<strong>in</strong>gungen und dadurch <strong>die</strong> Möglichkeit <strong><strong>de</strong>r</strong>selben<br />

anthropologischen Fun<strong>die</strong>rungen und Normen.<br />

7.3 Charles Darw<strong>in</strong> über <strong>die</strong> Entstehung <strong><strong>de</strong>r</strong> Arten<br />

Me<strong>in</strong>er hermeneutischen Analyse vorangehend, müssen nochmals grundlegen<strong>de</strong><br />

Anmerkungen zum Autor und <strong><strong>de</strong>r</strong> vorherrschen<strong>de</strong>n Historie getroffen wer<strong>de</strong>n.<br />

Charles Robert Darw<strong>in</strong> war stu<strong>die</strong>rter Theologe, gilt jedoch als e<strong>in</strong>er <strong><strong>de</strong>r</strong> größten Biologen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte. Den Wan<strong>de</strong>l von <strong><strong>de</strong>r</strong> Theologie zur Biologie vollzog er auf e<strong>in</strong>er<br />

fünfjährigen Weltreise. Durch Beobachtung <strong><strong>de</strong>r</strong> Tierwelt, vor allem <strong>in</strong> Südamerika und <strong>de</strong>n<br />

Galapagos - Inseln, entwickelte er se<strong>in</strong>e Theorie, <strong>die</strong> zweifelsfrei e<strong>in</strong>e selektionistische ist.<br />

Die Entstehung <strong><strong>de</strong>r</strong> Arten war se<strong>in</strong> erstes großes Werk überhaupt und Ausdruck se<strong>in</strong>er<br />

unglaublichen Sammlung empirischer Ergebnisse über <strong>die</strong> südamerikanische Tierwelt.<br />

Darw<strong>in</strong>s Theorie basiert vollständig auf empirisch gewonnene Daten, hierzu schreibt er:<br />

„Da <strong>die</strong>ses ganze Werk nichts weiter ist als e<strong>in</strong>e lange Kette von Beweisen,...“ 1 .<br />

Es sche<strong>in</strong>t im folgen<strong>de</strong>n merkwürdig anzumuten, wenn ich <strong>die</strong> naturwissenschaftlichen<br />

Berichte, Beobachtungen und Analysen Darw<strong>in</strong>s h<strong>in</strong>sichtlich ihrer enthaltenen<br />

Anthropologie und Ethik befrage. Natürlich kann grundsätzlich bezweifelt wer<strong>de</strong>n, ob<br />

beispielweise <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Ausführungen über <strong>die</strong> Verbreitung südamerikanischer Taubenarten<br />

überhaupt Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> impliziert s<strong>in</strong>d o<strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong>e Fehl<strong>in</strong>terpretation <strong>de</strong>s eigentlichen<br />

Anliegens Darw<strong>in</strong>s vorliegt. Diesen berechtigten Zweifeln kann folgen<strong>de</strong>s entgegnet<br />

wer<strong>de</strong>n: In <strong>de</strong>m vorliegen<strong>de</strong>n Werk zögerte Darw<strong>in</strong> noch, se<strong>in</strong>e Ergebnisse explizit auf <strong>de</strong>n<br />

Menschen zu übertragen. Aus <strong>de</strong>n zahlreichen, historischen Analysen se<strong>in</strong>er<br />

handschriftlichen Notizen, <strong>de</strong>n sogenannte note books, g<strong>in</strong>g jedoch <strong>de</strong>utlich hervor, daß er<br />

se<strong>in</strong>e Theorie ebenfalls auf <strong>de</strong>n Menschen bezog. Die anfängliche Zurückhaltung Darw<strong>in</strong>s<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Erstl<strong>in</strong>gswerk kann <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Ersche<strong>in</strong>ungsjahres 1859 begrün<strong>de</strong>t<br />

se<strong>in</strong>. Die Zeit erschien ihm damals nicht reif, entgegen aller existieren<strong>de</strong>n religiösmoralischen<br />

Vorstellungen se<strong>in</strong>e Evolutionstheorie <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft vertreten zu<br />

können.<br />

1 Darw<strong>in</strong> 2001, S. 638<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 65


Zur Mitte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts dom<strong>in</strong>ierte e<strong>in</strong>e christlich geprägte Ansicht, nach <strong><strong>de</strong>r</strong> je<strong>de</strong>s<br />

Ereignis und je<strong>de</strong> menschliche Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung von Gott herbeigeführt sei. Die Theorien<br />

Darw<strong>in</strong>s waren für damalige Zeit revolutionär und konträr zu existieren<strong>de</strong>n<br />

i<strong>de</strong>ologisch-moralischen Vorstellungen.<br />

In späteren Werken bezog er e<strong>in</strong><strong>de</strong>utig Stellung und wen<strong>de</strong>te se<strong>in</strong>e biologischen<br />

Forschungsergebnisse auch auf <strong>die</strong> Lebensgeschichten und Entwicklungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen<br />

an. Die Entstehung <strong><strong>de</strong>r</strong> Arten ist das be<strong>de</strong>utendste Werk Darw<strong>in</strong>s, mit <strong>de</strong>m sich zahlreiche<br />

Sekundärpublikationen bis <strong>in</strong> <strong>die</strong> Gegenwart h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> beschäftigen. Auch <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen besteht<br />

Übere<strong>in</strong>stimmung dar<strong>in</strong>, dass Darw<strong>in</strong> bereits <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Werk se<strong>in</strong>e Gedanken und<br />

Ergebnisse auf <strong>die</strong> Menschheit an sich bezog.<br />

Die hier erarbeiteten Ergebnisse bezüglich Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> und ethischer Normen haben<br />

angesichts <strong>de</strong>s Umfangs <strong>de</strong>s Werkes lediglich fragmentarischen Charakter. Aus <strong>die</strong>sem<br />

Grund habe ich mich ausschließlich auf <strong>de</strong>n vielfältig dargestellten Bereich <strong><strong>de</strong>r</strong> Zuchtwahl<br />

konzentriert, <strong>de</strong>nn hier<strong>in</strong> kommt me<strong>in</strong>es Erachtens <strong><strong>de</strong>r</strong> selektionistische Ansatz <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Darw<strong>in</strong>istischen Theorie am Deutlichsten zum Ausdruck.<br />

Darw<strong>in</strong> unterschei<strong>de</strong>t mehrere Formen <strong><strong>de</strong>r</strong> Zuchtwahl, <strong>die</strong> ich jedoch erst im weiteren<br />

Verlauf <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeit nennen und <strong>de</strong>tailliert vorstellen wer<strong>de</strong>, da ich vorher mit e<strong>in</strong>em<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Aspekt e<strong>in</strong>leiten will.<br />

E<strong>in</strong>en Beleg für <strong>die</strong> mögliche Adaption se<strong>in</strong>er Ergebnisse auf <strong>die</strong> Menschheit bietet sich <strong>in</strong><br />

Darw<strong>in</strong>s Aufführung <strong><strong>de</strong>r</strong> Theorie von Thomas Robert Malthus. Dieser hat im 19.<br />

Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t e<strong>in</strong>e pessimistische Bevölkerungsprognose entworfen, wonach <strong>die</strong><br />

Bevölkerung sich <strong>in</strong> geometrischer, <strong>die</strong> Nahrungsmittelerzeugung jedoch nur <strong>in</strong><br />

arithmetischer Progression entwickelt. Aus <strong>die</strong>sem Fazit folgert Malthus e<strong>in</strong>en<br />

Lebensmittelmangel durch menschliche Überbevölkerung <strong><strong>de</strong>r</strong> Er<strong>de</strong>. In <strong>de</strong>m vorliegen<strong>de</strong>n<br />

Werk überträgt Darw<strong>in</strong> <strong>die</strong> Ergebnisse von Malthus ausschließlich auf Tier und<br />

Pflanzenwelt, <strong>in</strong> späteren Arbeiten wird er das Malthusche Bevölkerungsgesetz auch auf<br />

<strong>die</strong> Entwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschheit anwen<strong>de</strong>n, Belege hierfür s<strong>in</strong>d folgen<strong>de</strong>: „Da also mehr<br />

Individuen <strong>in</strong>s Leben treten als bestehen können, so muß <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m Fall e<strong>in</strong> Kampf ums<br />

Dase<strong>in</strong> stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n...“ 2 . Etwas später schreibt Darw<strong>in</strong>: „Selbst <strong><strong>de</strong>r</strong> sich langsam<br />

vermehren<strong>de</strong> Mensch verdoppelt <strong>in</strong> fünfundzwanzig Jahren se<strong>in</strong>e Kopfzahl...“ 3 . Bereits aus<br />

<strong>die</strong>sen Aussagen lassen sich generelle Folgerungen bilanzieren, zu <strong>de</strong>nen auch Darw<strong>in</strong><br />

gelangt. Sowohl <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Tier und Pflanzenwelt, als auch unter <strong>de</strong>n menschlichen Lebewesen<br />

2 ebd. 2001, S. 102 – 103<br />

3 ebd. 2001, S. 103<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 66


herrscht e<strong>in</strong> permanenter Existenzkampf. Dieser Kampf ist Folge <strong>de</strong>s „[...] entwickelten<br />

Strebens aller Lebewesen, sich zu vermehren“ 4 . Auf <strong>die</strong>ser Grundprämisse basierend,<br />

erfolgen Darw<strong>in</strong>s erste Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzungen mit <strong>de</strong>m Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong> unbewußten Zuchtwahl.<br />

Zum besseren Verständnis muß darauf h<strong>in</strong>gewiesen wer<strong>de</strong>n, daß Darw<strong>in</strong> <strong>die</strong> Begriffe<br />

„Rasse“ und Art synonym und gleichberechtigt gebraucht. Diesem Verständnis b<strong>in</strong> ich<br />

aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> historisch bed<strong>in</strong>gten, negativen Verständnisweise <strong>de</strong>s Rassenbegriffs nicht<br />

gefolgt und verwen<strong>de</strong> ausschließlich <strong>de</strong>n Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong> „Art“.<br />

Das Kapitel <strong><strong>de</strong>r</strong> unbewußten Zuchtwahl besitzt e<strong>in</strong>e beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e geschichtliche Be<strong>de</strong>utung.<br />

Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> unbewußten Zuchtwahl, <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit <strong>de</strong>n Ergebnissen Malthus, resultierte<br />

e<strong>in</strong> wesentlicher i<strong>de</strong>ologischer Kern <strong><strong>de</strong>r</strong> nationalsozialistischen Sche<strong>in</strong>wissenschaft.<br />

Darw<strong>in</strong> geht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Ausführungen von e<strong>in</strong>er unbewußten, durch <strong>de</strong>n Menschen<br />

ausgeführte Selektion <strong><strong>de</strong>r</strong> besten Exemplare e<strong>in</strong>er tierischen Art aus. Nur <strong>die</strong>se wer<strong>de</strong>n zur<br />

Nachzucht herangezogen, weil erst durch vorherige Auswahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Besten <strong>die</strong> Vere<strong>de</strong>lung<br />

e<strong>in</strong>er Art möglich ersche<strong>in</strong>t. Unter Vere<strong>de</strong>lung versteht Darw<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en langwierigen Prozeß,<br />

mit <strong>de</strong>m Ziel, kont<strong>in</strong>uierliche Verbesserungen zu erreichen. Bereits kurz nach <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Machtübernahme <strong><strong>de</strong>r</strong> Nationalsozialisten <strong>in</strong> Deutschland, erließen <strong>die</strong>se das Gesetz zur<br />

Verhütung erbkranken Nachwuchs. Es basiert <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Begründung und se<strong>in</strong>en<br />

i<strong>de</strong>ologischen Motiven unter an<strong><strong>de</strong>r</strong>em auf <strong>de</strong>n Ergebnissen von Darw<strong>in</strong> und Malthus.<br />

Aus nationalsozialistischer Sicht galt es, e<strong>in</strong>er zu erwarten<strong>de</strong>n Verknappung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Lebensressourcen durch Anstieg <strong><strong>de</strong>r</strong> Weltbevölkerung entgegenzutreten. Menschen, <strong>die</strong> als<br />

Träger e<strong>in</strong>er erbkranken Masse galten, durften ke<strong>in</strong>en Nachwuchs bekommen, <strong>de</strong>nn auch<br />

<strong>die</strong>ser wäre wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um Träger e<strong>in</strong>er Erbkrankheit. Durch planmäßige Selektion wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

von <strong>de</strong>n Nationalsozialisten propagierten Gefahr begegnet wer<strong>de</strong>n. Leitmotiv <strong>die</strong>ser<br />

i<strong>de</strong>ologischen Orientierung war das Ziel e<strong>in</strong>er i<strong>de</strong>alen Gesellschaft, welche sich frei von<br />

Krankheiten und Gefahren entwickeln und fortpflanzen kann. Der aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Tierwelt<br />

hervorgehen<strong>de</strong> Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong> Vere<strong>de</strong>lung paßt auf das nationalsozialistisch Gedankengut.<br />

Es sche<strong>in</strong>t befrem<strong>de</strong>nd, das geplante und organisierte Vorgehen <strong><strong>de</strong>r</strong> Nationalsozialisten als<br />

e<strong>in</strong>en unbewußten Akt zu <strong>de</strong>klarieren. Ihre Handlungen waren <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Form und zu<br />

ke<strong>in</strong>em Zeitpunkt unbewußt, jedoch entsprechen <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Darw<strong>in</strong>istischen Theorie <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

natürlichen Verhaltensweise aller Menschen. Dieser wählt nach Darw<strong>in</strong> sowohl <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Tier- als auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschenwelt immer <strong>die</strong> besten Exemplare aus. Die<br />

nationalsozialistische Führung hat <strong>die</strong>s <strong>in</strong> grausamer Weise umgesetzt.<br />

4 ebd. 2001, S. 102<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 67


In späteren Werken g<strong>in</strong>g auch Darw<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Gedankengängen e<strong>in</strong>er qualitativen Beurteilung<br />

und selektionistischen Wahl menschlichen Lebens nach. Doch bereits aus <strong>de</strong>m<br />

vorliegen<strong>de</strong>n Werk kann e<strong>in</strong>e erste Aussage über <strong>die</strong> Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Charles Darw<strong>in</strong><br />

abgeleitet wer<strong>de</strong>n: Aus <strong>de</strong>m Kapitel über <strong>die</strong> unbewußte Zuchtwahl geht e<strong>in</strong> <strong>de</strong>fizitärnormatives<br />

Denken hervor. Menschen, <strong>die</strong> nicht e<strong>in</strong>em I<strong>de</strong>al entsprechen und aufgrund<br />

hypothetischer Annahmen nicht über <strong>die</strong> voraussetzen<strong>de</strong>n Konstitutionen zur Verbesserung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Rasse verfügen, wirken bereits durch ihre physische Anwesenheit<br />

<strong>de</strong>stabilisierend auf das gesellschaftliche Gefüge. Es ist <strong>die</strong> Mehrheit an Gesun<strong>de</strong>n und<br />

„i<strong>de</strong>alen“ Menschen, welche <strong>die</strong> Auswirkungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Verknappung aller Ressourcen<br />

existenziell zu spüren bekommen. Zur Sicherung ihrer Lebensbed<strong>in</strong>gungen müssen<br />

<strong>die</strong>jenigen aussortiert wer<strong>de</strong>n, welche nicht <strong>die</strong> besten Exemplare darstellen. Ihnen muß<br />

e<strong>in</strong>e weiter Vermehrung unmöglich gemacht wer<strong>de</strong>n, o<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>s formuliert: Nur <strong>die</strong><br />

nützlichen Exemplare <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Gattung erhalten das Recht auf Leben und<br />

Nachwuchs, weil alle Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft unmittelbar davon profitieren. Durch <strong>die</strong><br />

Betonung <strong><strong>de</strong>r</strong> gesamt-gesellschaftlichen Be<strong>de</strong>utung e<strong>in</strong>schließlich ihre Stärkung vor <strong>de</strong>n<br />

Interessen e<strong>in</strong>zelner Individuen kommen stark utilitaristische Ten<strong>de</strong>nzen zum Ausdruck.<br />

Diese Gedankengänge können weitergehend vergegenwärtigt wer<strong>de</strong>n. Hierbei sehe ich sie<br />

vor <strong>de</strong>m H<strong>in</strong>tergrund ökonomischer Rationalisierung. Besitzt <strong><strong>de</strong>r</strong> §93a <strong>de</strong>s BSHG nicht<br />

e<strong>in</strong>en ähnlich selektionistischen Anstrich, wenn er f<strong>in</strong>anzielle Leistungen für Menschen<br />

mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung an re<strong>in</strong> wirtschaftliche und zweckmäßige Kriterien koppelt? Me<strong>in</strong>es<br />

Erachtens f<strong>in</strong><strong>de</strong>n hierbei ähnliche Überlegungen statt, wie sie bei Darw<strong>in</strong> und Malthus<br />

vorzuf<strong>in</strong><strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d. Der Unterschied ist, dass im BSHG nicht <strong>die</strong> physische Existenz <strong>in</strong><br />

Frage gestellt wird son<strong><strong>de</strong>r</strong>n staatlich gesteuerte Wirtschafts<strong>in</strong>teressen zum Ausdruck<br />

kommen. Vere<strong>in</strong>facht ausgedrückt lassen sich <strong>die</strong> Parallelen zu Darw<strong>in</strong> <strong>in</strong> folgen<strong><strong>de</strong>r</strong> Frage<br />

aufzeigen: Welche E<strong>in</strong>richtung beziehungsweise Institution für Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung<br />

ist vor <strong>de</strong>m H<strong>in</strong>tergrund zunehmen<strong><strong>de</strong>r</strong> Verknappung staatlicher f<strong>in</strong>anzieller Ressourcen<br />

geeignet, ökonomisch unterstützt zu wer<strong>de</strong>n?. Die Beantwortung <strong>die</strong>ser Frage liefert uns<br />

Darw<strong>in</strong>: „[...], das wird zu e<strong>in</strong>er Zeit vielleicht mehr als zur an<strong><strong>de</strong>r</strong>en geschehen, je<br />

nach<strong>de</strong>m <strong>die</strong> Rasse <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gunst steigt o<strong><strong>de</strong>r</strong> fällt, und es wird auch <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegend mehr als<br />

<strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en <strong><strong>de</strong>r</strong> Fall se<strong>in</strong>, je nach <strong>de</strong>n Kulturverhältnissen <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewohner“ 5 .<br />

5 ebd. 2001, S. 70<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 68


Für <strong>die</strong> Gegenwart läßt sich hieraus schließen, dass <strong>die</strong> Integration von Menschen mit<br />

Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung gleichermaßen an I<strong>de</strong>ologien und Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong>n e<strong>in</strong>er Gesellschaft, wie<br />

auch an <strong>die</strong> existieren<strong>de</strong> ökonomische Standards gebun<strong>de</strong>n ist.<br />

Anzu<strong>de</strong>uten ist abschließend <strong>die</strong> Frage, ob nicht auch <strong>die</strong> Debatte um <strong>die</strong> Sterilisation von<br />

Menschen mit schwerster geistiger Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung unterschwellig <strong>de</strong>n i<strong>de</strong>ologische Kern<br />

e<strong>in</strong>er i<strong>de</strong>alen Gesellschaft enthält.<br />

Bevor ich auf <strong>die</strong> weiteren Formen <strong><strong>de</strong>r</strong> Zuchtwahl e<strong>in</strong>gehe, möchte ich <strong>de</strong>n Aspekt <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>in</strong>dividuellen Unterschie<strong>de</strong> darlegen. E<strong>in</strong>leitend heißt es bei Darw<strong>in</strong>: „Niemand glaubt,<br />

daß alle Individuen e<strong>in</strong>er Art nach <strong>de</strong>mselben Mo<strong>de</strong>ll gebil<strong>de</strong>t s<strong>in</strong>d. Solche <strong>in</strong>dividuellen<br />

Unterschie<strong>de</strong> s<strong>in</strong>d aber für uns von größter Wichtigkeit, <strong>de</strong>nn sie s<strong>in</strong>d häufig ererbt, wie<br />

je<strong>de</strong>m bekannt se<strong>in</strong> wird“ 6 . Nicht nur Individuen son<strong><strong>de</strong>r</strong>n je<strong>de</strong> Gesellschaft ist geprägt<br />

durch <strong>die</strong> Heterogenität und <strong>in</strong>ter<strong>in</strong>dividuellen Unterschie<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong> ihr leben<strong>de</strong>n<br />

Menschen. Diese Unterschie<strong>de</strong> nimmt Darw<strong>in</strong> zum Kriterium <strong><strong>de</strong>r</strong> unbewußten Zuchtwahl.<br />

Durch Anwendung empirisch-rationeller Vorgehensweise müsse e<strong>in</strong>e systematische<br />

Ordnung <strong>in</strong> <strong>die</strong> existieren<strong>de</strong> Vielheit gebracht wer<strong>de</strong>n, um im Anschluß qualitative<br />

Kriterien zur Beurteilung <strong><strong>de</strong>r</strong> Unterschie<strong>de</strong> formulieren zu können. Diese Kriterien bleibt<br />

Darw<strong>in</strong>s <strong>in</strong> Bezug auf Tier- und Pflanzenwelt jedoch schuldig.<br />

Bereits hier <strong>de</strong>utet sich an, daß er Heterogenität nicht als konstituieren<strong>de</strong>s Merkmal von<br />

Sozietäten auffaßt und divergente Ersche<strong>in</strong>ungsformen akzeptierend annimmt. E<strong>in</strong>e<br />

Gesellschaft muß <strong>in</strong> eigener Verantwortung hierarchische Strukturen ausbil<strong>de</strong>n, damit<br />

e<strong>in</strong><strong>de</strong>utige und zweifelsfreie Werturteile, <strong>die</strong> qualitative Bewertung <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen<br />

ermöglichen. Der Kampf ums existentielle Dase<strong>in</strong>, wie er sich aus <strong>de</strong>n Theorien Darw<strong>in</strong>s<br />

ergibt, weist e<strong>in</strong>e wellenförmige Amplitu<strong>de</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Turnus auf. In regelmäßig<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong>kehren<strong>de</strong>n Zeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Not verstärkt sich <strong><strong>de</strong>r</strong> existentielle Kampf <strong><strong>de</strong>r</strong> Organismen<br />

ums Überleben. In <strong>de</strong>m Kampf ums Dase<strong>in</strong> erwähnt Darw<strong>in</strong>, „[...] <strong>die</strong> Abhängigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Wesen vone<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>“ 7 . Damit zeigt er e<strong>in</strong>e soziale Komponente auf, <strong>die</strong> sich im<br />

gegenwärtigen Rehabilitationssystem von Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung als leiten<strong>de</strong><br />

Prämisse wie<strong><strong>de</strong>r</strong>f<strong>in</strong><strong>de</strong>t. Jedoch s<strong>in</strong>d Darw<strong>in</strong>s Vorstellungen <strong><strong>de</strong>r</strong> sozialen B<strong>in</strong>dung<br />

monozentristisch von ökonomisch-ökologischen Umstän<strong>de</strong>n abhängig.<br />

Dagegen ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Integrationsgedanke <strong>in</strong> das bestehen<strong>de</strong>, soziale Gefüge <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft<br />

e<strong>in</strong>e Konstante aller heilpädagogisch Tätigen. Se<strong>in</strong>e Realisierung ersche<strong>in</strong>t me<strong>in</strong>es<br />

Erachtens aber <strong>in</strong> starkem Maße abhängig von real existieren<strong>de</strong>n Lebensbed<strong>in</strong>gungen zu<br />

6 ebd. 2001, S. 77<br />

7 ebd. 2001, S. 101<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 69


se<strong>in</strong>. Insofern enthalten Darw<strong>in</strong>s Annahmen zum Sozialverhalten <strong><strong>de</strong>r</strong> Tier und<br />

Pflanzenwelt mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne und <strong>in</strong> <strong>die</strong> Gegenwart zu transformieren<strong>de</strong> Elemente.<br />

Entschei<strong>de</strong>nd s<strong>in</strong>d jedoch <strong>die</strong> Folgerungen, welche er hieraus zieht. Je<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong>dividuell<br />

entwickelte Vorteil wird im Kampf ums Dase<strong>in</strong> gegen <strong>de</strong>n An<strong><strong>de</strong>r</strong>en ausgenutzt.<br />

Positive Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Individuen wer<strong>de</strong>n nach Darw<strong>in</strong> gewöhnlich auch an <strong>die</strong><br />

Nachkommen vererbt und führen zu steigen<strong>de</strong>m Vorteil e<strong>in</strong>erseits und zunehmen<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schwächung an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits.<br />

Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung haben aufgrund ihrer Bee<strong>in</strong>trächtigung oftmals nicht <strong>die</strong><br />

Möglichkeiten, mit e<strong>in</strong>er sich progressiv entwickeln<strong>de</strong>n und verän<strong><strong>de</strong>r</strong>baren Gesellschaft<br />

mitzuhalten. Ihnen ist es zum Teil nicht möglich, <strong>die</strong> notwendigen Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen<br />

selbständig zu erarbeiten und gleichzeitig ersche<strong>in</strong>en natürliche Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen als<br />

lediglich subjektiver Fortschritt, aber <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Qualität nicht ausreichend, um im<br />

gesellschaftlichen „Kampf ums Dase<strong>in</strong>“ zur Sicherung <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen Position beizutragen.<br />

Die Diskrepanz <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung zu <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Gesellschaft wird größer und zunehmend unüberbrückbar. Dieser Aspekt sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong><br />

erschwerten Maße für Menschen mit Körper-, Geistiger- und schwerster Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung zu<br />

gelten.<br />

Als <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur zu beobachten<strong>de</strong>s Resultat schil<strong><strong>de</strong>r</strong>t Darw<strong>in</strong>, „[...] daß <strong><strong>de</strong>r</strong> Tod<br />

gewöhnlich rasch kommt und daß <strong><strong>de</strong>r</strong> Kräftigste, Gesün<strong>de</strong>ste und Glücklichste <strong>die</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

überlebt und sich fortpflanzt“ 8 . Gera<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Zitat kommt erneut <strong><strong>de</strong>r</strong> selektionistische<br />

Charakter <strong><strong>de</strong>r</strong> Darw<strong>in</strong>istischen Theorie zum Ausdruck. Darüber h<strong>in</strong>aus enthält es zwei<br />

Attribute, <strong>die</strong> <strong>in</strong> Folge zunehmen<strong><strong>de</strong>r</strong> Technologisierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft an Be<strong>de</strong>utung<br />

gewonnen haben. E<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>uierliche Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nisierung <strong>in</strong> allen Bereichen <strong>de</strong>s<br />

Lebensvollzugs hat <strong>die</strong> Begriffe Kraft und Gesundheit <strong>in</strong> starke Reziprozität zu<br />

existieren<strong>de</strong>n gesellschaftlichen Normen und I<strong>de</strong>alen gebracht. Insofern ist auch hier <strong>die</strong><br />

Übertragung <strong><strong>de</strong>r</strong> naturwissenschaftlichen Ergebnissen Darw<strong>in</strong>s <strong>in</strong> bestehen<strong>de</strong><br />

Gesellschaftssysteme möglich. In <strong>de</strong>n zuvor behan<strong>de</strong>lten Werken von Aristoteles und<br />

Morus wur<strong>de</strong>n ausführliche Def<strong>in</strong>itionen <strong><strong>de</strong>r</strong> Ersche<strong>in</strong>ungsformen <strong>de</strong>s menschlichem<br />

Glücks vorgestellt. Darw<strong>in</strong> verwen<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Begriff Glück nur an <strong>die</strong>ser e<strong>in</strong>en Stelle und<br />

br<strong>in</strong>gt se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Füllung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en unmittelbaren Kausalzusammenhang. Glück ist<br />

<strong>de</strong>mnach Produkt bestimmter Konstitutionen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m es als Ergebnis gewünschter<br />

Ersche<strong>in</strong>ungsweisen auftritt. E<strong>in</strong>e ausführlichere Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung fehlt jedoch, was<br />

e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Anliegen se<strong>in</strong>es Werkes und an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits <strong><strong>de</strong>r</strong> Verhaftung Darw<strong>in</strong>s <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

8 ebd. 2001, S. 119<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 70


naturwissenschaftlich -analytischen Wissenschaftsmetho<strong>de</strong> zu begrün<strong>de</strong>n ist. E<strong>in</strong>e<br />

fun<strong>die</strong>rte Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit <strong>de</strong>m Glück aus rationell-logischer Sicht ersche<strong>in</strong>t<br />

ungleich schwieriger als <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> philosophischen Denkweise Aristoteles. Jedoch kann auch<br />

aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Empirie Darw<strong>in</strong>s für Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung folgen<strong>de</strong>s abgeleitet<br />

wer<strong>de</strong>n: Ihre Ersche<strong>in</strong>ungsform entspricht nicht <strong><strong>de</strong>r</strong> erwarteten Konstitution, sie weichen<br />

ab, s<strong>in</strong>d an<strong><strong>de</strong>r</strong>s und fallen auf. Ihre gebil<strong>de</strong>te „Variation“ ist <strong>de</strong>utlich visuell wahrnehmbar.<br />

Die Voraussetzungen zum Glück br<strong>in</strong>gen sie nach Darw<strong>in</strong>s Ansicht nicht mit.<br />

Weitergehend möchte ich <strong>die</strong> bisherigen Aussagen Darw<strong>in</strong>s <strong>in</strong> <strong>die</strong> Gegenwart übertragen.<br />

Das bereits erwähnte „Liegenlassen“ von Säugl<strong>in</strong>gen mit schwerster Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung ist<br />

me<strong>in</strong>es Erachtens ebenfalls durch rationelle Denk- und Handlungsstrukturen geprägt.<br />

Analytisch wird hierbei <strong>die</strong> Zukunftsperspektive betrachtet und als werten<strong><strong>de</strong>r</strong> Maßstab<br />

verwen<strong>de</strong>t. Die Entscheidung darüber, welche Ersche<strong>in</strong>ungsform <strong>de</strong>s menschlichen<br />

Wesens <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>satz aller <strong>in</strong>tensiv mediz<strong>in</strong>ischen Metho<strong>de</strong>n ermöglicht o<strong><strong>de</strong>r</strong> verne<strong>in</strong>t,<br />

orientiert sich an <strong><strong>de</strong>r</strong> zu erwarten<strong>de</strong>n Qualität <strong>de</strong>s zukünftigen Lebens.<br />

Auch hier ist Glück e<strong>in</strong> Produkt <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesundheit und daraus zu erwarten<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Entwicklungsmöglichkeiten. Fehlt bereits im jüngsten Säugl<strong>in</strong>gsalter <strong>die</strong> Gesundheit als<br />

Basis zur weiteren Genese <strong>de</strong>s K<strong>in</strong><strong>de</strong>s, so besitzt es <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Vorstellungen vieler Menschen<br />

nicht <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen, e<strong>in</strong> glückliches Leben zu führen. Das empirisch - analytische<br />

Denken Darw<strong>in</strong>s dom<strong>in</strong>iert <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Fällen.<br />

Nach<strong>de</strong>m wir e<strong>in</strong>en ersten E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> <strong>die</strong> Theorien Darw<strong>in</strong>s erhalten und hieraus<br />

Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> abgeleitet haben, ersche<strong>in</strong>t es an <strong>die</strong>ser Stelle s<strong>in</strong>nvoll, <strong>die</strong> daraus<br />

resultieren<strong>de</strong>n ethischen Normen zu be<strong>de</strong>nken. Durch Transformation se<strong>in</strong>er<br />

Untersuchungsergebnisse <strong><strong>de</strong>r</strong> Tier- und Pflanzenwelt haben wur<strong>de</strong>n stark i<strong>de</strong>alistisch<br />

geprägte Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> erarbeitet.<br />

In Darw<strong>in</strong>s Denken existiert e<strong>in</strong>e Hierarchie, welche sich an empirischen Daten orientiert.<br />

Daraus konnte abgeleitet wer<strong>de</strong>n, dass e<strong>in</strong> nach Darw<strong>in</strong> konstruiertes Gesellschaftssystem<br />

durch rigi<strong>de</strong> Differenzierung nach Fähigkeiten und Potentialen geprägt wäre. Entschei<strong>de</strong>nd<br />

ist <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Vorstellungen e<strong>in</strong> fehlen<strong><strong>de</strong>r</strong> Schutz <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwachen und hierarchisch niedriger<br />

angesie<strong>de</strong>lten Menschen. Bereits <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Ausführungen über <strong>die</strong> unbewußte Zuchtwahl geht<br />

e<strong>in</strong> klares Primat <strong><strong>de</strong>r</strong> Stärken über <strong>die</strong> Schwächeren hervor. Durch <strong>die</strong> selektionistische<br />

Auswahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen nach ihren vorherrschen<strong>de</strong>n Qualitäten, wird <strong>die</strong>se<br />

Gesellschaftsordnung zunehmend manifestiert. E<strong>in</strong>e Integration von Menschen mit<br />

Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung wäre aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Auslese nicht zu realisieren.<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 71


Dieses Faktum wür<strong>de</strong> durch vorherrschen<strong>de</strong> ökonomisch-f<strong>in</strong>anzielle Defizite weiter<br />

verstärkt. In Darw<strong>in</strong>s Vorstellungen existieren soziale B<strong>in</strong>dungen, <strong>die</strong>se können <strong>in</strong><strong>de</strong>s <strong>in</strong><br />

Zeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Not nicht aufrecht erhalten wer<strong>de</strong>n und führen zur Unterdrückung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schwächeren. Nach Darw<strong>in</strong>s Theorie läge e<strong>in</strong>e ethische Norm vor, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> nur Menschen<br />

geschützt wer<strong>de</strong>n, <strong>die</strong> das Potential zur Verbesserung <strong><strong>de</strong>r</strong> gegenwärtigen Situation<br />

mitbr<strong>in</strong>gen. Alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>en fallen <strong>de</strong>m analytischen Auswahlverfahren zum Opfer. E<strong>in</strong>e<br />

solche Gesellschaftsordnung hätte fundamentale Konsequenzen für <strong>die</strong><br />

Lebensberechtigung von Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung.<br />

Nach<strong>de</strong>m ich bisher auf <strong>die</strong> unbewußte Zuchtwahl e<strong>in</strong>gegangen b<strong>in</strong>, erfolgt nun, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Hauptkern <strong><strong>de</strong>r</strong> Darw<strong>in</strong>istischen Theorie: Die natürliche Zuchtwahl. In se<strong>in</strong>en<br />

Ausführungen stellt er <strong>die</strong> natürliche Zuchtwahl <strong>in</strong> Korrelation zur Funktionsfähigkeit von<br />

Organen, <strong>de</strong>m Aussterben von Arten und existieren<strong>de</strong>n Lebensbed<strong>in</strong>gungen. Se<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>haltlichen Ausführungen s<strong>in</strong>d dabei nicht <strong>de</strong>utlich differenziert, so daß er häufig, <strong>die</strong><br />

konstituieren<strong>de</strong>n Merkmale vermischt.<br />

Zu Beg<strong>in</strong>n wer<strong>de</strong> ich <strong>die</strong> unbewußte kurz <strong>in</strong> ihrem wesentlichen Merkmal von <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

natürlichen Zuchtwahl abgrenzen. Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> unbewußten Zuchtwahl liegt e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>griff <strong>de</strong>s<br />

Menschen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Entwicklung vor. Dieser E<strong>in</strong>griff ist <strong>de</strong>shalb unbewußt, weil nach Darw<strong>in</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch aus se<strong>in</strong>er natürlichen Veranlagung heraus, <strong>die</strong> stärksten und besten Exemplare<br />

zu se<strong>in</strong>em Nutzen verwen<strong>de</strong>t. Darw<strong>in</strong> betont bereits hier <strong>die</strong> Dom<strong>in</strong>anz <strong>de</strong>s Stärken, als<br />

charakteristisches Merkmal <strong><strong>de</strong>r</strong> unbewußten Zuchtwahl, es liegt e<strong>in</strong>e prägen<strong>de</strong> Intervention<br />

<strong>de</strong>s Menschen vor.<br />

Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> natürlichen Zuchtwahl h<strong>in</strong>gegen gilt ausschließlich folgen<strong>de</strong> Prämisse: „Diese<br />

Erhaltung vorteilhafter <strong>in</strong>dividueller Unterschie<strong>de</strong> und Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen und <strong>die</strong>se<br />

Vernichtung nachteiliger nenne ich natürliche Zuchtwahl o<strong><strong>de</strong>r</strong> Überleben <strong>de</strong>s<br />

Tüchtigsten“ 9 . Die natürliche Zuchtwahl bewirkt nach Darw<strong>in</strong>, dass bei verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ten<br />

Lebensbed<strong>in</strong>gungen nur <strong>die</strong>jenigen Organismen überleben, welche aufgrund ihrer<br />

natürlichen Konstitution stark genug s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> Anpassung an verän<strong><strong>de</strong>r</strong>te<br />

Lebensbed<strong>in</strong>gungen vollziehen zu können.<br />

Als Konsequenz se<strong>in</strong>er Theorie entsteht e<strong>in</strong>e natürliche Selektion und e<strong>in</strong> Aussterben <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

unterlegenen Arten. Weiterh<strong>in</strong> ist das Positive e<strong>in</strong>er natürlichen Zuchtwahl nach Darw<strong>in</strong><br />

durch folgen<strong>de</strong> Merkmale gekennzeichnet: „Der Mensch wählt nur zu se<strong>in</strong>em Vorteil aus,<br />

9<br />

ebd. 2001, S. 121<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 72


<strong>die</strong> Natur zum Besten <strong>de</strong>s Geschöpfes selbst“ 10 und weiter schreibt er, „wirkt sie [Anm. <strong>die</strong><br />

Zuchtwahl], wann und wo immer sich e<strong>in</strong>e Gelegenheit bietet, an <strong><strong>de</strong>r</strong> Verbesserung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

organischen Wesen und ihrer organischen und anorganischen Lebensbed<strong>in</strong>gungen“ 11 . Wie<br />

se<strong>in</strong> gesamtes Werk, folgt auch <strong>die</strong> Beweisführung <strong><strong>de</strong>r</strong> Faktizität e<strong>in</strong>er natürlichen<br />

Zuchtwahl auf empirisch-analytischer Ebene. In se<strong>in</strong>er Beweisführung bezieht er sich <strong>in</strong><br />

<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Ausführungen auf Untersuchungen und Ergebnisse durchgeführt an<br />

Pflanzen und Tieren.<br />

Es ist notwendig, <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Gehalt se<strong>in</strong>er Ausführungen zur natürlichen<br />

Zuchtwahl nochmals prägnant zu erfassen. Die natürliche Auslese ist e<strong>in</strong> Prozeß, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m<br />

nicht durch anthropogene E<strong>in</strong>flüsse gewirkt, und <strong><strong>de</strong>r</strong> sowohl zum Vorteil <strong><strong>de</strong>r</strong> stärkeren, als<br />

auch <strong><strong>de</strong>r</strong> schwächeren Exemplare vollzogen wird. Die Verhältnisse <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>s<br />

Prozesses s<strong>in</strong>d nicht statisch <strong>de</strong>term<strong>in</strong>iert. Darw<strong>in</strong> weist auf <strong>die</strong> Offenheit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Entwicklungsmöglichkeiten von Pflanzen und Tieren ausdrücklich h<strong>in</strong>. Durch e<strong>in</strong>e<br />

revolutionäre Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Evolutionsgeschichte e<strong>in</strong>er Art kann sie Variationen<br />

bil<strong>de</strong>n, welche e<strong>in</strong>e Existenzsicherung im Kampf um das Dase<strong>in</strong> ermöglicht. Positive<br />

Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Art wer<strong>de</strong>n an <strong>die</strong> nachfolgen<strong>de</strong>n Generationen vererbt. Als<br />

Resultat <strong><strong>de</strong>r</strong> verbesserten Anpassungsfähigkeit e<strong>in</strong>er Art kann <strong>die</strong>se ihre Existenz sichern<br />

und gleichzeitig an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Arten <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>en Lebensraum bedrohen. Nach Darw<strong>in</strong>s Ansicht kann<br />

<strong>die</strong>selbe Entwicklung auch negativ gewandt sich vollziehen. Die Offenheit <strong><strong>de</strong>r</strong> tierischen<br />

und pflanzlichen Organismen kann durchaus e<strong>in</strong> Menschenbild Darw<strong>in</strong>s darstellen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m<br />

je<strong>de</strong>s menschliche Individuen sowohl positive, als auch negative<br />

Entwicklungsmöglichkeiten besitzt. Demnach stimmt er <strong>die</strong>sbezüglich mit <strong>de</strong>m Pr<strong>in</strong>zip<br />

e<strong>in</strong>er anthropologischen Offenheit übere<strong>in</strong>, jedoch ist das Ergebnis <strong><strong>de</strong>r</strong> Darw<strong>in</strong>istischen<br />

Entwicklungsoffenheit ausschließlich als praktische und subjektiv vollzogene Sicherung<br />

<strong>de</strong>s persönlichen Dase<strong>in</strong>s zu werten. Es f<strong>in</strong><strong>de</strong>t e<strong>in</strong>e Rangverschiebung <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

gesellschaftlichen Hierarchie statt. Durch <strong>die</strong> positive Entwicklung e<strong>in</strong>es Menschen ist<br />

<strong>die</strong>ser <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen Existenz gesicherter und gleichzeitig <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Lage, <strong>die</strong> Ansprüche <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

niedriger positionierten Menschen e<strong>in</strong>zuschränken. Die entstehen<strong>de</strong> Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>ung durch<br />

Anwendung <strong><strong>de</strong>r</strong> Darw<strong>in</strong>istischen Theorie und damit verbun<strong>de</strong>ne Auswirkungen kommen<br />

<strong>in</strong> folgen<strong>de</strong>m Satz nur latent zum Vorsche<strong>in</strong>: „In <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>e große Anzahl von Individuen<br />

bessere Aussicht für das Ersche<strong>in</strong>en nützlicher Variationen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gewissen Zeitraum<br />

bietet, gleicht sie <strong>die</strong> ger<strong>in</strong>gere Summe von Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>lichkeit beim e<strong>in</strong>zelnen Individuum<br />

10 ebd. 2001, S. 125<br />

11 ebd. 2001, S. 126<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 73


aus...“ 12 . Oberflächlich sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Zitat e<strong>in</strong>e soziale Komponente impliziert zu se<strong>in</strong>,<br />

jedoch s<strong>in</strong>d Darw<strong>in</strong>s Ausführungen nicht <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Richtung zu konkretisieren. E<strong>in</strong>e<br />

Unterstützung <strong><strong>de</strong>r</strong> schwächeren durch <strong>die</strong> stärken Individuen wird nur zeitlich begrenzt<br />

angestrebt, bevor schließlich <strong><strong>de</strong>r</strong> selektionistische E<strong>in</strong>griff <strong><strong>de</strong>r</strong> natürlichen Zuchtwahl<br />

erneut zum Tragen kommt. „Formen, <strong>die</strong> mit <strong>de</strong>n abgeän<strong><strong>de</strong>r</strong>ten und verbesserten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

engen Wettbewerb stehen, wer<strong>de</strong>n natürlich am meisten lei<strong>de</strong>n...“ 13 . Das Überleben <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

schwächeren Individuen ist nur solange gesichert, wie <strong>die</strong> Differenz <strong><strong>de</strong>r</strong> Fähigkeiten zu <strong>de</strong>n<br />

Variationen ger<strong>in</strong>g ist. Sobald <strong>die</strong> verbesserte Art <strong>in</strong> hohen Maße überlegen ist, breitet sie<br />

sich kont<strong>in</strong>uierlich und zielgerichtet auf Kosten <strong><strong>de</strong>r</strong> schwächeren Individuen aus, bis <strong>die</strong>se<br />

entwe<strong><strong>de</strong>r</strong> verdrängt o<strong><strong>de</strong>r</strong> physisch selektiert s<strong>in</strong>d.<br />

Die geplante und systematische Anwendung <strong><strong>de</strong>r</strong> natürlichen Zuchtwahl <strong>in</strong> <strong>die</strong> heutigen<br />

mediz<strong>in</strong>ischen und pädagogischen Handlungsweisen hätte gravieren<strong>de</strong> Auswirkungen auf<br />

<strong>die</strong>se Fachbereiche. Neugeborenen K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>n mit schwerster Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung wür<strong>de</strong><br />

durchgängig je<strong>de</strong> <strong>in</strong>tensiv mediz<strong>in</strong>ische Betreuung versagt bleiben. Ihre Schädigung gälte<br />

als negative Variation natürlicher Ersche<strong>in</strong>ungsweisen und <strong><strong>de</strong>r</strong> zu erwarten<strong>de</strong> Tod wäre <strong>die</strong><br />

legale Korrektur <strong><strong>de</strong>r</strong> fehlerhaften Konstitution <strong>de</strong>s K<strong>in</strong><strong>de</strong>s. Moralisch legitimiert wäre <strong>die</strong>s,<br />

durch e<strong>in</strong>e Zukunftsprognose für das K<strong>in</strong>d, nach <strong><strong>de</strong>r</strong> es im Wettbewerb <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen<br />

Organismen im Rahmen e<strong>in</strong>er technologisierten Gesellschaft nicht <strong>die</strong> erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>lichen<br />

Leistungen erbr<strong>in</strong>gen könne, um se<strong>in</strong>en Platz <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft zu behaupten. Das K<strong>in</strong>d<br />

läge am unteren En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> gesellschaftlichen Hierarchie und wür<strong>de</strong>n durch <strong>die</strong> Mehrheit<br />

zunehmend <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Möglichkeiten <strong>de</strong>s Dase<strong>in</strong>s beschränkt und bei konsequenter<br />

Fortführung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gedanken Darw<strong>in</strong>s, schließlich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Lebensrecht bedroht. Durch <strong>die</strong><br />

Sichtbarkeit ihrer Bee<strong>in</strong>trächtigung wären primär Menschen mit e<strong>in</strong>er Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung<br />

betroffen.<br />

Die negativen Abweichungen von Menschen mit schwerster Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung seien zu groß,<br />

um auch bei offenen Entwicklungsmöglichkeiten <strong>die</strong> vorherrschen<strong>de</strong> Differenz ihres<br />

Leistungsvermögens zu <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft schließen zu können.<br />

Die Offenheit <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Entwicklung wird bei Darw<strong>in</strong> nicht als <strong>in</strong>dividuelles<br />

Merkmal, beziehungsweise als Stärke e<strong>in</strong>es Individuums gewertet son<strong><strong>de</strong>r</strong>n an <strong>de</strong>n<br />

vorherrschen<strong>de</strong>n Leistungsstufen- und Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft verglichen und<br />

qualitativ bewertet. Pädagogische För<strong><strong>de</strong>r</strong>ung und Bildung wäre bei Menschen mit<br />

schwerster Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung nicht möglich. Mit <strong>de</strong>m Verlust ihres Lebensrechtes geht auch <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Anspruch auf Bildung verloren. Es ist davon auszugehen, daß <strong>die</strong> Umsetzung e<strong>in</strong>er solchen<br />

12 ebd. 2001, S. 148<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 74


Theorie primär bei <strong>de</strong>n Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung ihren Ansatzpunkt vorf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<br />

wür<strong>de</strong>. Durch Statistiken geht hervor, daß <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Frühför<strong><strong>de</strong>r</strong>ung immer weniger K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> mit<br />

cerebralen Bewegungsstörungen und Sp<strong>in</strong>a bifida <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>är geför<strong><strong>de</strong>r</strong>t wer<strong>de</strong>n. Auch<br />

an <strong>de</strong>n Schulen für Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>te geht <strong>die</strong> Zahl <strong><strong>de</strong>r</strong> K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> mit Sp<strong>in</strong>a bifida auffällig<br />

zurück. Hieraus erwächst <strong>die</strong> Frage, <strong>in</strong>wiefern es noch gerechtfertig ist, <strong>die</strong> Umsetzung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Darw<strong>in</strong>istischen Theorie im Konjunktiv zu formulieren.<br />

Bei Menschen, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> postnatalen Phase entstand, wür<strong>de</strong> auch <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Prozeß e<strong>in</strong>er natürlichen, selektionistischen Auswahl ihre weitere Zukunft entschei<strong>de</strong>nd<br />

mitbestimmen. Hierbei könnte nicht mehr, von e<strong>in</strong>em zu korrigieren<strong>de</strong>n Fehler <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur<br />

gesprochen wer<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong> unmittelbar durch Auslassen mediz<strong>in</strong>ischer Hilfe beseitigt wäre.<br />

Statt <strong>de</strong>ssen wür<strong>de</strong> e<strong>in</strong>e Kategorisierung von Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ungen erfolgen, anhand <strong>de</strong>ssen <strong>die</strong><br />

Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>standsfähigkeit e<strong>in</strong>es Individuums gegen <strong>die</strong> natürliche Selektion abzulesen wäre.<br />

Auch erworbene Schädigungen gälten nach Darw<strong>in</strong> als negative Variation und wür<strong>de</strong>n<br />

durch natürliche Auslese posthum korrigiert wer<strong>de</strong>n.<br />

Denn auch bei postnatal erworbenen Schädigungen sähe Darw<strong>in</strong> we<strong><strong>de</strong>r</strong> mediz<strong>in</strong>ische noch<br />

pädagogische Betreuung und För<strong><strong>de</strong>r</strong>ung vor, so daß betroffene Menschen entwe<strong><strong>de</strong>r</strong> an <strong>de</strong>n<br />

unmittelbaren Folgen sterben o<strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong> Leben am äußersten Rand <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft führen<br />

wür<strong>de</strong>n. Dabei bestün<strong>de</strong> <strong>die</strong> permanente Gefahr, daß sie durch <strong>die</strong> Mehrheit <strong><strong>de</strong>r</strong> gesun<strong>de</strong>n<br />

und „normalen“ Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft physisch aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Hierarchie verdrängt wer<strong>de</strong>n.<br />

In weiteren Ausführungen setzt sich Darw<strong>in</strong> mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>lichkeit von Organismen <strong>in</strong><br />

Abhängigkeit von Lebensbed<strong>in</strong>gungen sowie <strong><strong>de</strong>r</strong> Vererbung und <strong>de</strong>m Nichtgebrauch <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Teile ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>. Alle Aspekte setzt er erneut <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung zur natürlicher Zuchtwahl.<br />

Bezüglich <strong><strong>de</strong>r</strong> Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>lichkeit <strong>in</strong> Folge von Lebensbed<strong>in</strong>gungen schreibt er: „[...], daß<br />

<strong>die</strong> Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>lichkeit im Allgeme<strong>in</strong>en von <strong>de</strong>n Lebensbed<strong>in</strong>gungen abhängt, <strong>de</strong>nen <strong>die</strong><br />

betroffenen Arten seit vielen Generationen ausgesetzt waren“ 14 . An an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Stelle über <strong>die</strong><br />

Vererbung: „Die Variation br<strong>in</strong>gt <strong>die</strong>se ger<strong>in</strong>gen Abän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen bei leben<strong>de</strong>n Körpern<br />

zuwege, <strong>die</strong> Fortpflanzung verfielfältigt sie fast <strong>in</strong>s Unendliche, und <strong>die</strong> natürliche<br />

Zuchtwahl liest mit unfehlbarer Geschicklichkeit je<strong>de</strong> Verbesserung aus“ 15 .<br />

Der Nichtgebrauch bestimmter Organe o<strong><strong>de</strong>r</strong> entsprechen<strong><strong>de</strong>r</strong> Funktionen bewirkt e<strong>in</strong>en<br />

Rückgang ihrer Tätigkeit und schließlich e<strong>in</strong>e Unbrauchbarkeit. Dem gegenüber s<strong>in</strong>d gut<br />

funktionieren<strong>de</strong> Organe das Resultat e<strong>in</strong>er stufenweisen Verbesserung <strong>de</strong>s jeweiligen<br />

Organs, also Ausdruck e<strong>in</strong>er kont<strong>in</strong>uierlichen Evolution und nicht Produkt e<strong>in</strong>er<br />

plötzlichen Revolution. Darw<strong>in</strong>s Ausführungen über <strong>die</strong> Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>lichkeit von Organen,<br />

13 ebd. 2001, S. 157<br />

14 ebd. 2001, S. 189<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 75


<strong><strong>de</strong>r</strong> Vererbung positiver als auch negativer Variationen und <strong>die</strong> Funktionsuntüchtigkeit<br />

aufgrund von Nichtgebrauch zeigen erneut <strong>de</strong>n selektionistischen Inhalt se<strong>in</strong>er Theorie.<br />

Die natürliche Zuchtwahl greift über bestimmte existieren<strong>de</strong> o<strong><strong>de</strong>r</strong> herausgebil<strong>de</strong>te<br />

Schwächen e<strong>in</strong>en Systems unmittelbar <strong>in</strong> das vorherrschen<strong>de</strong> Gesamtgefüge e<strong>in</strong>.<br />

Organische Schädigungen o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Verlust funktioneller Fähigkeiten durch Nichtgebrauch<br />

weisen nach Darw<strong>in</strong> auf <strong>die</strong> Unfähigkeit e<strong>in</strong>es Organismus zur Anpassung an <strong>die</strong> ihn<br />

umgeben<strong>de</strong> Lebensumwelt h<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>erseits wird <strong><strong>de</strong>r</strong> Organismus überfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t o<strong><strong>de</strong>r</strong> ist<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits nicht fähig, mit se<strong>in</strong>en Möglichkeiten e<strong>in</strong>e bessere und effektivere Anpassung<br />

zu erreichen. Vergegenwärtigen wir <strong>die</strong>sen Teil <strong><strong>de</strong>r</strong> Theorie auf <strong>die</strong> Gegenwart s<strong>in</strong>d erneut<br />

<strong>die</strong> Parallelen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n argumentativen Gedankenstrukturen auffällig. Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um kommt zum<br />

Vorsche<strong>in</strong>, daß Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung nicht über entsprechen<strong>de</strong> Fähigkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

zielgerichteten und effektiven Anpassung an <strong>die</strong> Umwelt besitzen. Aber nicht<br />

ausschließlich auf e<strong>in</strong>er theoretischen Ebene s<strong>in</strong>d Geme<strong>in</strong>samkeiten zu erkennen son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

auch <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> praktischen, therapeutischen Realität. Die im wesentlichen von Jean Ayrers<br />

entwickelte sensorische Integrationstherapie basiert ebenfalls auf <strong>de</strong>n Pr<strong>in</strong>zip e<strong>in</strong>er<br />

gestörten Umweltanpassung betroffener Menschen.<br />

In ihrem Ansatz geht es um <strong>die</strong> neuronale Verarbeitung <strong><strong>de</strong>r</strong> aufgenommenen S<strong>in</strong>nesreize<br />

im zentralen Nervensystem <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen. Durch e<strong>in</strong>e vorliegen<strong>de</strong> Schädigung s<strong>in</strong>d<br />

Menschen nicht befähigt, Reize so zu verarbeiten, daß e<strong>in</strong>e erwartete Anpassung an <strong>die</strong><br />

Umwelt und <strong>de</strong>n existieren<strong>de</strong>n Lebensbed<strong>in</strong>gungen vollzogen wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Der Ansatz <strong><strong>de</strong>r</strong> sensorischen Integrationstherapie basiert auf <strong>de</strong>n Ebenen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Anpassungsfähigkeit und e<strong>in</strong>em rationellen Vergleich an vorherrschen<strong>de</strong><br />

Normvorstellungen.<br />

Folgerichtiger Abschluß <strong>de</strong>s kont<strong>in</strong>uierlichen Wirkens e<strong>in</strong>er natürlichen Zuchtwahl ist das<br />

Aussterben <strong><strong>de</strong>r</strong>jenigen Arten, <strong>die</strong> <strong>de</strong>n verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ten Lebensbed<strong>in</strong>gungen nicht durch<br />

Entwicklung positiver Variationen folge leisten können.<br />

„Nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Theorie <strong><strong>de</strong>r</strong> natürlichen Zuchtwahl ist aber das Aussterben alter Formen aufs<br />

engste mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Entstehung neuer, verbesserter Formen verknüpft“ 16 .<br />

„Die Theorie <strong><strong>de</strong>r</strong> natürlichen Zuchtwahl beruht auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Annahme, daß je<strong>de</strong> neue Varietät<br />

und schließlich je<strong>de</strong> neue Art dadurch hervorgebracht und erhalten wird, daß sie Vorteile<br />

über Mitbewerber erlangt“ 17 . E<strong>in</strong>e bestehen<strong>de</strong> Art verbessert sich, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m sie Variationen<br />

ihrer bisherigen Dase<strong>in</strong>sweise bil<strong>de</strong>t, erfolgt <strong>die</strong>s weitergehend, entwickelt sich durch <strong>die</strong><br />

15 ebd. 2001, S. 150<br />

16 ebd. 2001, S. 473<br />

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Summe aller positiven Variationen e<strong>in</strong>e neue Art heraus, <strong>die</strong> ihrer ursprünglichen <strong>de</strong>utlich<br />

überlegen ist. Die Zahl <strong><strong>de</strong>r</strong> positiven Variationen kann nach Darw<strong>in</strong> soweit reichen, daß<br />

<strong>die</strong> neu entstan<strong>de</strong>ne Art nicht mehr auf ihre ursprüngliche Existenz zurückverfolgt wer<strong>de</strong>n<br />

kann. Sobald sich Variationen o<strong><strong>de</strong>r</strong> neue Arten gebil<strong>de</strong>t haben, breiten <strong>die</strong>se ihren<br />

Lebensraum aus und bedrohen alle Arten, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Variationen <strong>de</strong>m entstehen<strong>de</strong>n<br />

Existenzkampf nicht standhalten können.<br />

Rückblickend kann nochmals auf das Dritte Reich e<strong>in</strong>gegangen wer<strong>de</strong>n. Die<br />

Nationalsozialisten haben <strong>de</strong>n natürlichen Prozeß verstärkt. Durch systematisches<br />

E<strong>in</strong>greifen <strong>in</strong> das Lebensrecht <strong><strong>de</strong>r</strong>jenigen Menschen, welche aufgrund ihrer<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigungen als Gefahr für das <strong>de</strong>utsche Volk propagiert wur<strong>de</strong>n, s<strong>in</strong>d sie sogar<br />

über <strong>de</strong>n eigentlichen Kern <strong><strong>de</strong>r</strong> Darw<strong>in</strong>istischen Theorie h<strong>in</strong>ausgegangen. Denn Kern <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Theorie ist <strong>die</strong> natürliche Zuchtwahl als regulieren<strong>de</strong>s Maß <strong><strong>de</strong>r</strong> existieren<strong>de</strong>n Lebewesen.<br />

Im Nationalsozialismus wur<strong>de</strong>n jedoch <strong>die</strong> Formen <strong><strong>de</strong>r</strong> unbewußten und natürlichen<br />

Zuchtwahl korreliert, um <strong>die</strong> Sicherung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft schneller zu gewährleisten.<br />

Im letzten Kapitel se<strong>in</strong>es Buches legt Darw<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Bereich <strong><strong>de</strong>r</strong> Embryologie dar. Er geht<br />

aus, von e<strong>in</strong>er gewöhnlichen Entwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong> Organismen, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> „[...] sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Embryo<br />

gewöhnlich zu e<strong>in</strong>er höheren Organisation...“ 18 entwickelt. Der Mensch entwickelt sich <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Gesamtheit weiter, wobei <strong>die</strong> physische Entwicklung <strong>die</strong> augenfälligste ist. Treten<br />

Abweichungen im normativen Entwicklungsstrang auf, ist nach Darw<strong>in</strong> nicht<br />

entschei<strong>de</strong>nd, „[...] <strong>in</strong> welcher Lebenszeit e<strong>in</strong>e Abän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung hervorgerufen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>in</strong><br />

welcher entfaltet sich ihre Wirkung“ 19 . Im Zusammenhang mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Embryologie ist<br />

auffällig, daß Darw<strong>in</strong> erstmalig <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch, <strong>die</strong> Untersuchungen über Tier- und<br />

Pflanzenwelt explizit auf Menschen überträgt. Zur Ver<strong>de</strong>utlichung se<strong>in</strong>er These über <strong>die</strong><br />

Embryologie schreibt er: „Wir sehen <strong>die</strong>s auch an unseren eigenen K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>n; wir wissen<br />

nicht, ob sie groß o<strong><strong>de</strong>r</strong> kle<strong>in</strong> wer<strong>de</strong>n o<strong><strong>de</strong>r</strong> wie sie sich sonst entwickeln“ 20 . Er folgert aus<br />

se<strong>in</strong>en Untersuchungen über <strong>die</strong> Embryologie e<strong>in</strong> wesentliches Ergebnis und darauf<br />

basierend e<strong>in</strong>e entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Wirkung: Erst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em späteren Lebensalter s<strong>in</strong>d <strong>die</strong><br />

Variationen e<strong>in</strong>er Art erkennbar, ke<strong>in</strong>esfalls bereits im Stadium <strong><strong>de</strong>r</strong> jüngsten Entwicklung.<br />

Dementsprechend spät kann <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch mit se<strong>in</strong>er unbewußten und <strong>die</strong> Natur durch ihre<br />

natürliche Zuchtwahl <strong>in</strong> <strong>die</strong> Entwicklungsgenese e<strong>in</strong>greifen. Der Mensch <strong>in</strong> <strong>de</strong>m er <strong>die</strong><br />

besten Variationen auswählt, um <strong>die</strong> Veredlung e<strong>in</strong>er Art zu erreichen. Gleichzeitig<br />

vernachlässigt er unbewußt, weil <strong>die</strong> Handlung <strong><strong>de</strong>r</strong> Auswahl bester Exemplare nach<br />

17 ebd. 2001, S. 476<br />

18 ebd. 2001, S. 616<br />

19 ebd. 2001, S. 619<br />

20 ebd. 2001, S. 619<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 77


Darw<strong>in</strong> allzu menschlich ist, <strong>die</strong> schwächeren Variationen und leitet damit <strong>de</strong>n Vorgang<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Selektion e<strong>in</strong>.<br />

Die natürliche Zuchtwahl kann ihre absolute Wirkung erst dann entfalten, wenn sich im<br />

Entwicklungsprozeß herausgestellt hat, welche Arten fähig zur Umweltanpassung s<strong>in</strong>d und<br />

damit ihre eigene Existenz sichern können. Je später <strong>die</strong> Auswirkungen e<strong>in</strong>er<br />

abweichen<strong>de</strong>n Entwicklung sich manifestieren, <strong>de</strong>sto später kann <strong>die</strong> Natur regulierend<br />

und zum Wohl aller Organismen e<strong>in</strong>greifen.<br />

Bei <strong>die</strong>sen Ausführungen Darw<strong>in</strong>s drängen sich <strong>die</strong> Übere<strong>in</strong>stimmungen zu <strong>de</strong>n ethischen<br />

Theorien von Peter S<strong>in</strong>ger und Norbert Hoerster auf. Bei<strong>de</strong>, Hoerster jedoch noch<br />

radikaler, plä<strong>die</strong>ren dafür, une<strong>in</strong>geschränkte Lebensrechte <strong>de</strong>n Säugl<strong>in</strong>gen erst dann<br />

zuzusprechen, wenn e<strong>in</strong>e positive Progre<strong>die</strong>nz <strong><strong>de</strong>r</strong> k<strong>in</strong>dlichen Entwicklung zu erwarten ist.<br />

Umgekehrt for<strong><strong>de</strong>r</strong>n sie bei negativer Entwicklungsprognose <strong>die</strong> Beendigung <strong>de</strong>s jungen<br />

menschlichen Lebens durch Unterlassung <strong><strong>de</strong>r</strong> mediz<strong>in</strong>isch notwendigen Hilfemaßnahmen.<br />

Auf <strong>die</strong>sem Wege soll <strong>die</strong> Natur selbständig <strong>die</strong> Fehler korrigieren können, <strong>die</strong> sie<br />

verschul<strong>de</strong>t hat. Das Pr<strong>in</strong>zip <strong><strong>de</strong>r</strong> natürlichen Zuchtwahl ist evi<strong>de</strong>nt und nicht zu übersehen.<br />

Ausgehend von <strong>de</strong>n bisher erarbeiteten Aussagen zu <strong>de</strong>n Anthropologien Darw<strong>in</strong>s s<strong>in</strong>d<br />

ethische Normen zu <strong>in</strong>terpretieren, <strong>die</strong> sich ausschließlich an <strong>de</strong>m Pr<strong>in</strong>zip <strong>de</strong>s „summum<br />

bonum“ orientierten. Zielen Handlungen auf <strong>die</strong> Verbesserung <strong><strong>de</strong>r</strong> Mehrheit e<strong>in</strong>er<br />

Gesellschaft, könne <strong>die</strong>se alle<strong>in</strong>e hieraus moralisch legitimiert wer<strong>de</strong>n. Darw<strong>in</strong> geht<br />

soweit, daß menschliche Handlungen auch auf <strong>die</strong> physische Existenz an<strong><strong>de</strong>r</strong>er abzielen.<br />

Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung besäßen ke<strong>in</strong> Lebensrecht, ihre Selektion kann sowohl durch<br />

<strong>de</strong>n Menschen als auch <strong>die</strong> Natur vollzogen wer<strong>de</strong>n. E<strong>in</strong> Bildungsrecht besäßen sie nicht.<br />

Aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Sichtbarkeit e<strong>in</strong>er Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung ist zu vermuten, daß betroffene<br />

Menschen zeitlich gesehen als erstes und von <strong><strong>de</strong>r</strong> Intensität am Stärksten betroffen wären.<br />

8. Abschließen<strong>de</strong> Diskussion<br />

Nach e<strong>in</strong>er solchen Arbeit schließt sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Kreis, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m <strong>die</strong> e<strong>in</strong>gangs formulierten Motive<br />

zur Themenwahl reflektiert wer<strong>de</strong>n. Welche Erkenntnisse konnte <strong><strong>de</strong>r</strong> Autor gew<strong>in</strong>nen,<br />

haben sich <strong>die</strong> Motive auch während <strong>de</strong>s Verfassens <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeit noch als Motivation<br />

erwiesen?<br />

Die Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit <strong>de</strong>n Begriffen <strong><strong>de</strong>r</strong> Ethik und Moral, ihrer Be<strong>de</strong>utung sowie<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong>haltlichen Füllung haben wichtige Erkenntnisse geschaffen.<br />

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Hierbei geht es weniger um das Ansammeln von <strong>in</strong>haltlichem Wissen, o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

philosophischen Denkweisen. <strong>Von</strong> Be<strong>de</strong>utung ist <strong>die</strong> E<strong>in</strong>sicht, dass gera<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Beruf <strong>de</strong>s<br />

Heilpädagogen <strong>die</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit eigenen Denkweisen zur Ethik und<br />

Anthropologie erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Im Zusammenhang mit <strong>die</strong>ser Arbeit ist <strong>die</strong>s erstmalig bei mir<br />

geschehen und eröffnete mir neue Zugänge und Denkmöglichkeiten. Diese können sich<br />

e<strong>in</strong>erseits im Umgang mit Menschen mit e<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung bewähren, an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits<br />

gesellschaftlich verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, um aktiv für Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung Position<br />

vertreten zu können.<br />

Anschließend wur<strong>de</strong>n drei Werke hermeneutisch <strong>in</strong>terpretiert. Sie unterschei<strong>de</strong>n sich <strong>in</strong><br />

ihren Autoren und <strong><strong>de</strong>r</strong> jeweiligen historischen Epoche, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen <strong>die</strong> Bücher verfaßt<br />

wur<strong>de</strong>n. Die Zeitspanne reichte hierbei vom griechischen Altertum bis <strong>in</strong>s das England <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

frühen <strong>Neuzeit</strong>. Anhand <strong><strong>de</strong>r</strong> systematischen und spezifischen Fragen sollte e<strong>in</strong>e<br />

vergleichen<strong>de</strong> Interpretation <strong><strong>de</strong>r</strong> drei Bücher ermöglicht wer<strong>de</strong>n. <strong>Von</strong> leiten<strong>de</strong>m Interesse<br />

waren <strong>die</strong> enthalten<strong>de</strong>n Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong>. In e<strong>in</strong>em weiten S<strong>in</strong>ne wur<strong>de</strong> herausgestellt, über<br />

welchen Zugang sich <strong><strong>de</strong>r</strong> jeweilige Autor <strong>de</strong>m Phänomen „Mensch“ nähert. Anschließend<br />

sollten mögliche, daraus resultieren<strong>de</strong> ethische Normen erarbeitet wer<strong>de</strong>n. Bei<strong>de</strong> Aspekte<br />

stan<strong>de</strong>n unter e<strong>in</strong>em doppelten Erkenntnis<strong>in</strong>teresse: E<strong>in</strong>erseits wur<strong>de</strong>n sie befragt auf<br />

allgeme<strong>in</strong>e Inhalte zu Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung, an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits unter spezifischem<br />

Erkenntnis<strong>in</strong>teresse <strong><strong>de</strong>r</strong> Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>tenpädagogik. Darüber h<strong>in</strong>aus wur<strong>de</strong>n <strong>die</strong><br />

historischen Aussagen vergegenwärtigt.<br />

Die Werke von Aristoteles als ausgewähltes Beispiel <strong>de</strong>s Altertums und Thomas Morus für<br />

das Mittelalter sehen <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Menschen e<strong>in</strong> Wesen, welches offen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Dase<strong>in</strong>sweise<br />

und se<strong>in</strong>er Entwicklung ist. Gleichzeitig wird ihre anthropologische Offenheit akzeptiert.<br />

Bei <strong>die</strong>sen Werken erhielten wir e<strong>in</strong> philosophisch geprägtes Paradigma, das sich von <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

re<strong>in</strong> empirisch-analytischen Zugangsweisen <strong>de</strong>s Charles Darw<strong>in</strong> abhob. Die <strong>in</strong>dividuelle<br />

Erfüllung menschlichen Lebens sprechen Aristoteles und Morus allen Individuen zu,<br />

b<strong>in</strong><strong>de</strong>n wahres Glück jedoch an Voraussetzungen. So spricht Aristoteles über das<br />

„vollkommene Maß an äußeren Gütern“ und betont damit immanent <strong>die</strong> Wichtigkeit e<strong>in</strong>er<br />

umfassen<strong>de</strong>n Gesundheit zum Erreichen <strong>de</strong>s wahren Glücks.<br />

Im Gegensatz dazu verne<strong>in</strong>t Darw<strong>in</strong> kranken, schwachen und auch beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ten Menschen<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit <strong>de</strong>s wahren Glücks. In se<strong>in</strong>em Buch spricht er nicht über <strong>de</strong>n Bereich <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Erziehung, was jedoch <strong>in</strong> <strong>de</strong>m eigentlichen Anliegen se<strong>in</strong>es Werkes begrün<strong>de</strong>t liegt.<br />

Aristoteles und Thomas Morus positionieren sich <strong>de</strong>utlich und sprechen allen Menschen<br />

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das unbed<strong>in</strong>gte Recht auf Bildung und Erziehung zu. Jedoch vertritt Aristoteles <strong>de</strong>n<br />

mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Gedanken, wonach <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch erst durch Erziehung und Bildung zum<br />

Menschen wird. Aristoteles setzt sich <strong>in</strong>tensiver mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Bildung ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong> und faßt sie<br />

<strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er traditionellen Weitergabe auf.<br />

Ziel hierbei ist Führung zur ethischen Trefflichkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen.<br />

Neben <strong>de</strong>m unbed<strong>in</strong>gten Recht auf Bildung betont Morus weitergehend <strong>die</strong> Notwendigkeit<br />

e<strong>in</strong>er humanistischen Unterstützung aller Menschen. Er ver<strong>de</strong>utlicht <strong>die</strong>s <strong>in</strong> <strong>de</strong>n<br />

Ausführungen über <strong>die</strong> Krankenhäuser <strong><strong>de</strong>r</strong> Insel Utopia. Alle Menschen besitzen<br />

une<strong>in</strong>geschränkt das Recht auf Hilfe und Unterstützung.<br />

Insgesamt wur<strong>de</strong>n <strong>die</strong> Auffassungen über <strong>de</strong>n Menschen <strong>in</strong> allen drei Werken <strong>de</strong>utlich.<br />

Dabei fallen <strong>die</strong> Parallelen zwischen von Aristoteles und Morus auf. Bei<strong>de</strong> sehen <strong>de</strong>n<br />

Menschen, unabhängig von Dase<strong>in</strong>sweise o<strong><strong>de</strong>r</strong> Produktivität, als Individuum, <strong>de</strong>m alle<br />

Rechte zukommen. Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s gilt <strong>die</strong>s auch für Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung.<br />

Aus bei<strong>de</strong>n Büchern konnten ebenfalls Aussagen zur beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en Situation von Menschen<br />

mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung getroffen wer<strong>de</strong>n, jedoch war <strong>die</strong>s bei Morus e<strong>in</strong><strong>de</strong>utiger. Bei<strong>de</strong><br />

heben e<strong>in</strong>e gewisse Son<strong><strong>de</strong>r</strong>stellung aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Visualität e<strong>in</strong>er körperlichen Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung<br />

heraus, reduzieren hierdurch ke<strong>in</strong>e Ansprüche und Rechte <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen.<br />

Durch unterschiedliche Zugangsweisen <strong><strong>de</strong>r</strong> drei Autoren unterschei<strong>de</strong>n sich <strong>die</strong><br />

resultieren<strong>de</strong>n ethischen Normen. Auch hier s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Parallelen zwischen Aristoteles und<br />

Morus offensichtlich. Bei<strong>de</strong> sprechen allgeme<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung, als auch<br />

Menschen mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung gleiche Rechte zu. In ihren Werken existieren ethische<br />

Normen, <strong>die</strong> je<strong>de</strong>m Menschen <strong>de</strong>n Schutz se<strong>in</strong>er Existenz und <strong>die</strong> Verwirklichung se<strong>in</strong>er<br />

Ansprüche gewähren. Morus ist <strong>die</strong>sbezüglich noch stärker humanistischer geprägt.<br />

Charles Darw<strong>in</strong> ist bekannt für se<strong>in</strong>e selektionistische Theorie, <strong>die</strong> sich durch me<strong>in</strong>e<br />

hermeneutische Analyse bestätigte. Se<strong>in</strong>e ethischen Normen s<strong>in</strong>d an <strong>de</strong>m utilitaristischen<br />

Nützlichkeitspr<strong>in</strong>zip angelehnt und gefähr<strong>de</strong>n Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung und vor allem<br />

mit Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>in</strong> ihrer Dase<strong>in</strong>sberechtigung. Durch <strong>die</strong> Hierarchie <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Gesellschaft stün<strong>de</strong>n ihnen ke<strong>in</strong>e begrün<strong>de</strong>ten Ansprüche auf humanistische I<strong>de</strong>ale <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Hilfe und Unterstützung.<br />

Prägnant zusammengefaßt bieten <strong>die</strong> Werke aus Altertum und Mittelalter stabilere und<br />

sichere Lebensbed<strong>in</strong>gungen für Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung, während das neuzeitliche<br />

Werk solche Menschen systematisch selektioniert.<br />

Die Motive <strong>de</strong>s Erkenntnis<strong>in</strong>teresses bezüglich Anthropologie und Ethik wur<strong>de</strong>n erfüllt.<br />

Ich b<strong>in</strong> zu Erkenntnissen gelangt und vor allem positiv verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>t darüber, <strong>in</strong> welcher<br />

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Intensität sich <strong>die</strong> drei Werke auf <strong>die</strong> Gegenwart übertragen ließen. Hierbei wur<strong>de</strong>n<br />

Geme<strong>in</strong>samkeiten <strong>de</strong>utlich, mit <strong>de</strong>nen nicht gerechnet wer<strong>de</strong>n konnte.<br />

Jedoch bieten Aristoteles und Morus lei<strong><strong>de</strong>r</strong> ke<strong>in</strong>e revolutionären Denkanregungen, <strong>die</strong> von<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> gegenwärtigen Heilpädagogik aufgenommen und als Basis <strong><strong>de</strong>r</strong> Sicherung von<br />

Lebensrecht, Menschenwür<strong>de</strong>, Bildungsrecht und Recht auf volle Integration genutzt<br />

wer<strong>de</strong>n könnten. Die Zustän<strong>de</strong> auf Utopia ersche<strong>in</strong>en für <strong>die</strong> mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne<br />

Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>tenpädagogik als mögliches I<strong>de</strong>albild. Beim Blick <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Deutsches<br />

Wörterbuch wird <strong>die</strong> Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Titels <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegenwart wohl eher gerecht:<br />

Utopia: Wunsch-, Traumland<br />

utopisch: nur <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorstellung möglich, bef<strong>in</strong>dlich, erträumt, erhofft. .<br />

(Wahrig Deutsches Wörterbuch)<br />

9. Fragenkatalog zur hermeneutischen Text<strong>in</strong>terpretation:<br />

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Systematische Fragen zur komparativen Textanalyse:<br />

Wann wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Orig<strong>in</strong>altext <strong>de</strong>s Autors verfaßt?<br />

Welche Informationen s<strong>in</strong>d zur Biographie <strong>de</strong>s Autors <strong>de</strong>s Orig<strong>in</strong>alwerkes s<strong>in</strong>d eventuell<br />

wichtig, da sie <strong>de</strong>n Inhalt bee<strong>in</strong>flußt haben können?<br />

Welche Aussagen lassen sich zu <strong>de</strong>m vorliegen<strong>de</strong>n Werk treffen?<br />

- Woher stammt das mir vorliegen<strong>de</strong> Werk, auf welche Orig<strong>in</strong>alquelle bezieht es<br />

sich?<br />

- Wann wur<strong>de</strong> es verfaßt und ist es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ausgabe noch aktuell?<br />

- Wie wur<strong>de</strong> das mir vorliegen<strong>de</strong> Werk im Vergleich zum Orig<strong>in</strong>al verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t?<br />

Wer<strong>de</strong>n <strong>die</strong>sbezüglich, beispielsweise <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> E<strong>in</strong>leitung, Aussagen getroffen?<br />

Welche Umstän<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit können E<strong>in</strong>fluß auf das Orig<strong>in</strong>alwerk und <strong>de</strong>n Autor genommen<br />

haben?<br />

- Zur politischen Situation <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit<br />

- Zu <strong>de</strong>n sozio – ökonomischen Bed<strong>in</strong>gungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit<br />

- Herrschte <strong>die</strong> Möglichkeit freier Me<strong>in</strong>ungsäußerung, o<strong><strong>de</strong>r</strong> steht <strong>die</strong> Vermutung,<br />

e<strong>in</strong> Werk wur<strong>de</strong> <strong>in</strong> strenger Obrigkeitsachtung verfaßt?<br />

Spezifische Fragen zur komparativen Textanalyse<br />

Wie <strong>de</strong>f<strong>in</strong>iert <strong><strong>de</strong>r</strong> Verfasser <strong>de</strong>n Begriff „Ethik“?<br />

Wird Ethik als <strong>de</strong>skriptives Aussagesystem betrachtet o<strong><strong>de</strong>r</strong> ist sie normativ?<br />

Falls Ethik normativen Anspruch besitzt, wie wer<strong>de</strong>n ihre Normen begrün<strong>de</strong>t?<br />

- Utilitaristisch?<br />

- Deontologisch, als Ableitung oberster religiöser Normen?<br />

- S<strong>in</strong>d ethische Normen das Ergebnis gesellschaftlichen Diskurses?<br />

Kann je<strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch ethisch han<strong>de</strong>ln, o<strong><strong>de</strong>r</strong> ist <strong>die</strong>s an bestimmte Bed<strong>in</strong>gungen geknüpft?<br />

Gilt <strong>die</strong> Ethik, unabhängig davon, ob sie als <strong>de</strong>skriptiv o<strong><strong>de</strong>r</strong> normativ betrachtet wird, für<br />

alle Menschen?<br />

Wird zwischen moralischen und ethischen Han<strong>de</strong>ln unterschie<strong>de</strong>n?<br />

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Macht <strong><strong>de</strong>r</strong> Verfasser Aussagen zur Anthropologie?<br />

Wird danach gefragt, was das Wesen <strong>de</strong>s Menschen im Allgeme<strong>in</strong>en ausmacht?<br />

Beantwortet <strong><strong>de</strong>r</strong> Verfasser sogar <strong>die</strong> Frage nach <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s Menschen und wie<br />

begrün<strong>de</strong>t er se<strong>in</strong>e Ergebnisse?<br />

Ist das Pr<strong>in</strong>zip <strong><strong>de</strong>r</strong> „offenen Frage“, wie es vor allem von Otto Friedrich Bollnow stammt,<br />

zu erkennen?<br />

Wird <strong>de</strong>m Menschen <strong>die</strong> Möglichkeit zur <strong>in</strong>dividuellen Entwicklung gelassen o<strong><strong>de</strong>r</strong> wer<strong>de</strong>n<br />

Normen <strong>de</strong>ssen formuliert, was <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch zu se<strong>in</strong> hat?<br />

Macht <strong><strong>de</strong>r</strong> Autor Aussagen, welche Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> jeweiligen Gesellschaft<br />

vorherrschen und wo positioniert er sich?<br />

Wer<strong>de</strong>n explizit Aussagen zu Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung allgeme<strong>in</strong> und zu Menschen mit<br />

Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung im Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en getroffen?<br />

Welche Menschenbil<strong><strong>de</strong>r</strong> s<strong>in</strong>d implizit <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Aussagen <strong>de</strong>s Autors enthalten und können<br />

aus ihnen Rückschlüsse für Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung getroffen o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong>terpretiert wer<strong>de</strong>n<br />

ohne daß <strong>die</strong>se <strong>in</strong> re<strong>in</strong>er Utopie en<strong>de</strong>n?<br />

Wie erfolgt <strong>die</strong> Begründung <strong>de</strong>s Autors für se<strong>in</strong>e Behauptungen?<br />

- Erfolgt <strong>die</strong> Begründung über Beispiele<br />

- Beruft er sich auf an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Autoren?<br />

- S<strong>in</strong>d Begründungen empirisch o<strong><strong>de</strong>r</strong> spekulativ?<br />

Inwiefern s<strong>in</strong>d Ethik und Menschenbild <strong><strong>de</strong>r</strong> Werke übertragbar auf das 21. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t?<br />

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10. Literaturliste:<br />

Antor, G./Bleidick, U. (2000). Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>tenpädagogik als angewandte Ethik. Stuttgart.<br />

Aristoteles (1983). Nikomachische Ethik. Bibliographisch ergänzte Auflage 1983.<br />

Stuttgart.<br />

Beergest, H. (2000). Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>tenpädagogik. Bad Heilbrunn.<br />

Bun<strong>de</strong>sverband für Körper- und Mehrfachbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>te. (1993). K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> mit cerebralen<br />

Bewegungsstörungen. För<strong><strong>de</strong>r</strong>ung und Therapie. Düsseldorf.<br />

Darw<strong>in</strong>, Ch. (2001). Die Entstehung <strong><strong>de</strong>r</strong> Arten. Stuttgart.<br />

De<strong><strong>de</strong>r</strong>ich, M. (2000). Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung, Mediz<strong>in</strong>, Ethik. Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>tenpädagogische Reflexionen<br />

zu Grenzsituationen am Anfang und En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Lebens. Bad Heilbrunn.<br />

Dörner, K. (1984). Bürger und Irre. Opla<strong>de</strong>n,/Wiesba<strong>de</strong>n.<br />

Dreher, W. (1997). Denkspuren. Bildung von Menschen mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung. Basis<br />

e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tegralen Pädagogik. Ma<strong>in</strong>z.<br />

Frese, F. (2000). Ethik, Motivation, Qualität und <strong>die</strong> Hilfe für Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung.<br />

Freiburg im Breisgau.<br />

Fornefeld, B. (1997). Elementare Beziehung und Selbstverwirklichung geistig<br />

schwerstbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ter <strong>in</strong> sozialer Integration. Reflexionen im Vorfeld e<strong>in</strong>er leiborientierten<br />

Pädagogik. 4. unverän<strong><strong>de</strong>r</strong>te Auflage. Aachen.<br />

Gadamer, H. G. (1997). Hermeneutik. In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Philosophie, Band 3. Basel/ Stuttgart.<br />

Gehlen, A. (1986). Der Mensch. Se<strong>in</strong>e Natur und se<strong>in</strong>e Stellung <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt. Dreizehnte<br />

unverän<strong><strong>de</strong>r</strong>te Auflage. Wiesba<strong>de</strong>n.<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 84


Hare, R. (1990). Das mißgebil<strong>de</strong>te K<strong>in</strong>d. Moralische Dilemmata für Ärzte und Eltern.<br />

In: Leist S 374 – 383.<br />

Habermas, J. (1983). Moralbewußtse<strong>in</strong> und kommunikatives Han<strong>de</strong>ln. Frankfurt.<br />

Haeberl<strong>in</strong>,U. (1985). Das Menschenbild für <strong>die</strong> Heilpädagogik. Bern.<br />

Huschke-Rhe<strong>in</strong>, R. (1998). Systemische Erziehungswissenschaft. We<strong>in</strong>heim.<br />

Jakobs, H. (1997). Heilpädagogik zwischen Anthropologie und Ethik. E<strong>in</strong>e<br />

Grundlagenreflexion aus kritisch – theoretischer Sicht. Bern, Stuttgart, Wien.<br />

Leist, A. (Hrsg.) (1990a). Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung,<br />

künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord. Frankfurt.<br />

Jansen, G. (1972). Die E<strong>in</strong>stellung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft zu Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ten. Neuburgweier.<br />

Jensen, S. (1999). Erkenntnis-, Konstruktivismus-, Systemtheorie. E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Philosophie <strong><strong>de</strong>r</strong> konstruktivistischen Wissenschaft. Opla<strong>de</strong>n/Wiesba<strong>de</strong>n.<br />

Klee, E. (1991). „Euthanasie“ im NS – Staat. Frankfurt.<br />

Klafki, W. (1975). Hermeneutische Verfahren <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehungswissenschaft. In:<br />

Funkkolleg Erziehungswissenschaft Band 3. 9. Auflage. Frankfurt am Ma<strong>in</strong>.<br />

Klafki, W. (2000) Hermeneutische Verfahren <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehungswissenschaft. In:<br />

Rittelmeyer, C./Parmentier, M. S. 125 – 148<br />

Lev<strong>in</strong>as, E. (1992). Ethik und Unendliches. Bern.<br />

Mattner, D./ Gerspach, M.(1997). Heilpädagogische Anthropologie. Stuttgart.<br />

Morus, T. (1992). Utopia. Frankfurt am Ma<strong>in</strong>/Leipzig.<br />

Diese und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Examensarbeiten gibt es auf www.son<strong><strong>de</strong>r</strong>paedagoge.<strong>de</strong> 85


Pieper, A. (2000). E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> <strong>die</strong> Ethik. Vierte überarbeitete und aktualisierte Auflage.<br />

Tüb<strong>in</strong>gen/Basel.<br />

Portele, G. (1978). Sozialisation und Moral. Neuere Ansätze zur moralischen Entwicklung<br />

und Erziehung. We<strong>in</strong>heim/Basel.<br />

Rittelmeyer, C./Parmentier, M. (2000). E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> <strong>die</strong> pädagogische Hermeneutik.<br />

Darmstadt.<br />

Schlag, B. (1995). Lern und Leistungsmotivation. Opla<strong>de</strong>n.<br />

Scheuerl, H. (1982). Pädagogische Anthropologie. Stuttgart.<br />

Schmidtchen, G. (1993). Ethik und Protest. Moralbil<strong><strong>de</strong>r</strong> und Wertkonflikte junger<br />

Menschen. 2.Auflage. Opla<strong>de</strong>n.<br />

Speck, O. (1991). System Heilpädagogik: e<strong>in</strong>e ökologisch reflexive Grundlegung.<br />

Zweite aktualisierte Auflage. München/Basel.<br />

Speck, O. (1996). System Heilpädagogik: e<strong>in</strong>e ökologisch reflexive Grundlegung.<br />

Dritte neubearb. und erw. Auflage. München/Basel.<br />

Stadler, H. (1998). Rehabilitation bei Körperbeh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ung. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong><br />

schul-, sozial- und berufspädagogische Aufgaben. Stuttgart.<br />

Vigo, A. G. (1996). Zeit und Praxis bei Aristoteles. Die Nikomachische Ethik und <strong>die</strong> zeitontologischen<br />

Voraussetzungen <strong>de</strong>s vernunftgesteuerten Han<strong>de</strong>lns. Freiburg/ München.<br />

Welsch, W. (1993). Unsere postmo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne. Berl<strong>in</strong>.<br />

Zeitschrift für Heilpädagogik 44 (1993), S. 183 - 184<br />

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