seitenbühne 01.02 - Staatstheater Hannover
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02. 03 OPER<br />
KLAUS ANGERMANN<br />
ALLEIN MIT DER SCHULD<br />
Manfred Trojahns Oper Orest als deutsche Erstaufführung<br />
Mit Manfred Trojahns Orest präsentiert die Staatsoper das Opernwerk eines der bedeutendsten<br />
Gegenwartskomponisten. Die Oper wurde im Dezember 2011 in Amsterdam uraufgeführt und von<br />
der Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt zur Uraufführung des Jahres gekürt. Die deut-<br />
sche Erstaufführung inszeniert Enrico Lübbe, derzeit Schauspieldirektor am<br />
Theater Chemnitz und designierter Intendant des Schauspiel Leipzig.<br />
Am Dirigentenpult steht Gregor Bühl.<br />
Eine zerstörte Welt nach der Katastrophe:<br />
Orest ist in einer Spirale von Gewalt gefangen.<br />
Aus Rache für den Mord an seinem Vater<br />
Agamemnon hat er seine Mutter Klytaimnestra<br />
getötet. Obwohl er mit dieser Tat nur<br />
das Gesetz Apollos erfüllte, verfolgt ihn seine<br />
Schuld und lässt ihn nicht zur Ruhe kommen.<br />
Als Muttermörder soll er zur Rechenschaft<br />
gezogen werden; er ist in Bedrängnis<br />
und träumt davon, ein anderer sein zu können,<br />
sich aus der Kette aus Grausamkeit und<br />
Blut zu befreien. Doch er ist mit seiner<br />
Schuld verwachsen und dazu verurteilt, mit<br />
ihr zu leben. Unsicheren Schrittes nähert er<br />
sich der Erkenntnis, dass es nicht möglich<br />
ist, die Last der Vergangenheit abzuwerfen.<br />
Jeder Versuch einer Korrektur erweitert nur<br />
die Gewaltspirale, anstatt sie aufzulösen.<br />
Gibt es also überhaupt eine Möglichkeit, den<br />
Schuldverstrickungen zu entrinnen? Bleibt<br />
der Traum von einem anderen Leben nur<br />
Utopie?<br />
Für seine fünfte Oper hat Manfred Trojahn<br />
selbst das Libretto verfasst. Die Orest-Tragödie<br />
des Euripides lieferte dabei lediglich den<br />
Hintergrund der Handlung, die den Blick auf<br />
die Ausweglosigkeit eines Mannes lenkt,<br />
der zwischen göttlicher Fremdbestimmtheit,<br />
öffentlichem Rechtfertigungsdruck und seiner<br />
verschwommenen Vision eines Lebens<br />
jenseits der Gewaltspirale zerrissen zu werden<br />
droht. Es zerrt an ihm in entgegengesetzte<br />
Richtungen, und daher kommt er<br />
nicht von der Stelle.<br />
Auf der Flucht vor seiner Schuld hat sich<br />
Orest eingekapselt, doch das Echo seiner<br />
Tat kann er nicht abschütteln. Im Resonanzraum<br />
seines inneren Exils hallt es nur<br />
umso stärker nach. Die multiplizierte Stimme<br />
Klytaimnestras, die Frauenstimmen, die<br />
unerbittlich seinen Namen rufen, foltern ihn,<br />
indem sie ihn an die Tatsache fesseln, dass<br />
er der ist, der er nicht sein will. Der Klang<br />
seines Namens ist Anklage und Selbstbespiegelung<br />
in einem – ein grausamer Tinnitus,<br />
der den Grundton seiner verhassten<br />
Existenz liefert.<br />
Orest steckt in einer paradoxen Situation. Er<br />
ist schuldig geworden auf Befehl des Gottes<br />
Apollo, der ihn zum Muttermord trieb. Doch<br />
jetzt, wo sich Orests Gewissen meldet, zeigt<br />
sich der Gott als Zyniker, der ihn schnöde<br />
hängen lässt und seine Schwachheit nicht<br />
akzeptiert. Die Verantwortung für die Tat<br />
soll allein Orest tragen. Wo aber Apollos<br />
kalte Vernunft nicht ausreicht, um Orest zu<br />
beruhigen, da verwandelt er sich in sein<br />
Gegenbild, in Dionysos, den Gott der Ekstase,<br />
der Orest mit verführerischen Bildern einer<br />
ruhmreichen Zukunft umgarnt, wobei<br />
Trojahn an diesen Stellen Textpassagen von<br />
Nietzsches Dionysos-Dithyramben eingearbeitet<br />
hat. Mit der Verbindung von kaltem<br />
Intellekt und Verführung repräsentiert diese<br />
Doppelgestalt einen bis heute wirksamen<br />
Mechanismus der Macht, der seine Opfer<br />
dazu bringt, sich ihr Gefängnis selbst zu<br />
bauen.<br />
Orests<br />
Blick geht<br />
nicht nach<br />
außen, und<br />
so erscheint<br />
die Welt um<br />
ihn als eine<br />
Welt der Scheintoten,<br />
mit denen<br />
es keine Verständi-<br />
gung gibt,<br />
weil auch deren Blick nicht nach außen<br />
geht. Seine Schwester Elektra kompensiert<br />
ihre innere Zerrissenheit durch einen maßlosen<br />
Fanatismus, dessen Blutdurst unstillbar<br />
ist. Er ist das Bollwerk gegen Orests<br />
Selbstzweifel, die Elektra vernichten würden,<br />
würde sie sie an sich heranlassen. Die<br />
Identifikation von grausamer Rache mit Gerechtigkeit,<br />
die ihr Denken bestimmt, ist die