Earnest & Algernon: Geheimsache
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Prometheische Projekte 39<br />
Ein Gespräch mit dem Philosophen Armen Avanessian über<br />
die Aktualität subversiver Gesten, die transformatorische<br />
Kraft des Akzelerationalismus und die Bedeutung spekulativer<br />
Praxis für unsere Städte<br />
Letztes Weihnachten bekam ich ein dünnes<br />
Bändchen aus dem Merve-Verlag geschenkt,<br />
auf dessen blau angeschnittenem Cover in<br />
verlagstypischer Schlichtheit stand: „#Akzeleration<br />
– Armen Avanessian (Hg.)“. Ich kann mich nicht<br />
mehr genau daran erinnern, warum ich mich darüber<br />
freute. Vielleicht hatte ich schon davon gelesen, vielleicht<br />
gefiel mir einfach auch nur das Versprechen des Titels,<br />
vielleicht hatte meine Mutter mir schon davon erzählt,<br />
who knows. Auf jeden Fall sind Bücher zu Weihnachten<br />
ja grundsätzlich ein gutes Geschenk, da sie eine ernsthafte<br />
Chance haben, gleich in den nächsten Tagen gelesen<br />
zu werden. In „#Akzeleration“ fand ich dann gleich<br />
im Vorwort von Armen Avanessian diese Sätze: „Die Perspektive<br />
des Akzelerationalismus zielt auf die Zukunft.<br />
Aber vielleicht nicht nur … als ein Zurück in die Zukunft,<br />
sondern als ein Zurück aus der Zukunft. Denn die Gegenwart<br />
erhält nur dann ihre Kontingenz und Offenheit (zurück),<br />
wenn sie von einer erst zu entwerfenden Zukunft aus in<br />
den Blick genommen werden kann.“ 1 Das haute mich<br />
um. Wir hatten vor ein paar Jahren unserem Büro den<br />
etwas platten (aber ernstgemeinten) Untertitel „office<br />
from a better future“ hinzugefügt, und hier kam nun ein<br />
Philosoph und rief mit dem Akzelerationalismus einen<br />
wohlklingenden Flügel einer noch wohlklingenderen<br />
philosophischen Richtung („Spekulativer Realismus“, my<br />
god!) auf, der unserer Arbeit einen hoffentlich postbloch’schen,<br />
auf jeden Fall linken, intellektuellen Überoder<br />
zumindest Unterbau liefern könnte. Noch vor dem<br />
Lesen des ersten Essays war ich schon Akzelerationist.<br />
Nach den ersten Seiten legte sich dann die<br />
Aufregung etwas. Mein nur mäßig philosophisch<br />
geschulter Kopf fühlte sich an<br />
Sprachduktus und Neomarxismus einer<br />
unregelmäßigen Lektüre der New Left Review und eine<br />
kurzzeitige Obsession mit Frederic Jamesons „Archeologies<br />
of the Future“ erinnert. In Sachen Gegenwartsanalyse<br />
blieb bei mir von den Essays und dem Akzelerationalistischen<br />
Manifest lediglich hängen, dass sich die immer<br />
weiter beschleunigenden globalen (Kapital-)Märkte zunehmend<br />
destabilisieren und damit die Krise zum Dauerzustand<br />
werden würde. Dem kapitalistischen System ist aber<br />
nicht zu entkommen, denn ein Außerhalb gibt es in diesem<br />
System nicht mehr, sodass jeglicher intellektueller Eskapismus<br />
und jeder Versuch der Entschleunigung ein gleichermaßen<br />
systemstabilisierendes Moment und persönliches<br />
Scheitern mit sich bringt. Da der Akzelerationalismus<br />
nach eigenen Regeln beschleunige und sich den technischen<br />
Fortschritt zu eigen mache, würde so die Technologie<br />
dem kapitalistischen System nicht einfach überlassen<br />
werden. Ja, denkt man. NSA usw., wüssten wir mehr über<br />
Technik, wäre schon noch etwas zu gewinnen. Aber dann?<br />
Was tun? Hier musste ich dann doch bis ganz zum Schluss<br />
warten, bis sich Avanessian wieder selbst zu Wort meldete<br />
und von seinen linken Denkkollegen statt einer systemstabilisierenden<br />
Beschleunigung der Systemkritik eine<br />
handelnde Rolle, die Akzeleration des gesellschaftlichen,<br />
techno-sozialen Körpers als gestaltendes Projekt einfordert:<br />
„Sie [die Kritik, Anm. d. V.] ermahnt uns, die konkreten<br />
Probleme anzupacken, und nicht einer Vorstellung von<br />
Fortschritt nachzuhängen, die sich doch längst als Hirngespinst<br />
erwiesen habe. Sie warnt uns davor, in Utopismus<br />
zu verfallen oder uns in Spekulationen darüber zu ergehen,<br />
wie eine ganz andere Zukunft aussehen könnte. Dabei liegt<br />
die Gefahr in Wahrheit eher darin, dass wir das Bild, das<br />
die Kritik uns zeigt, wenn sie der Gegenwart den Spiegel<br />
vorhält, mit der Zukunft verwechseln – nicht anders als<br />
die allgegenwärtige Finanzspekulation, die den Wert der<br />
Gegenstände, von allem und jedem, kalkuliert, indem sie<br />
Vergangenheit quantifiziert und das Ergebnis auf die Zukunft<br />
überträgt. In beiden Fällen ist die Möglichkeit nicht vorgesehen,<br />
von einer anderen Zukunft aus auf eine kontingente<br />
Gegenwart zu(rück)zugreifen. Dazu bedürfte es der (abduktiven)<br />
Herstellung – also nicht der ästhetischen Imagination,<br />
sondern der tatsächlichen Produktion (poiesis) – einer<br />
Zukunft, die es ermöglicht, unsere Gegenwart anders zu<br />
verstehen und sie damit zu einer anderen zu machen.“ 2<br />
Ende April traf ich Armen Avanessian in seiner<br />
Wohnung an der Torstraße in Berlin Mitte,<br />
um mit ihm darüber zu sprechen, wie sich<br />
diese poiesis dort auswirken könne, wo ich<br />
mit meinen Kollegen im „office from a better future“ forsche:<br />
in der Stadt, im Gebauten. Das Stichwort dazu lieferte<br />
mit dem Thema „Subversion“ <strong>Earnest</strong> & <strong>Algernon</strong>.<br />
Denn was wäre subversiver als ein linkes Überholen des<br />
Systems? Gerade nicht im Denken, sondern im Handeln?<br />
1 Avanessian, Armen, #Akzereleration,<br />
Merve Verlag, Berlin 2013, S. 15<br />
2 Avanessian, #Akzeleration 2013, S. 74