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tadt gespräche - Stadtgespräche Rostock

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TITELTHEMA<br />

derlichkeit scheint sie nicht so richtig vereinbar zu sein. Diesen Idealen<br />

war wohl ein Teil Deutschlands schon einmal etwas näher 6 .Jedenfalls<br />

gibt es nun auch im Osten Arbeits- und Obdachlose, und<br />

zwar gleich in einer Größenordnung, die in der deutschen Geschichte<br />

kaum Parallelen findet.<br />

Die Arbeit, zu DDR-Zeiten ein wichtiger Lebensinhalt, ist seit 1990<br />

für etwa 70% der Bevölkerung verlorengegangen. Für viele Ältere<br />

konnte der soziale Abstieg durch Vorruhestandsregelungen gemildert<br />

oder abgewendet werden. Nicht wenige, besonders Frauen, haben<br />

es aufgegeben, zum Arbeitsamt zu laufen und belasten so zumindest<br />

nicht mehr die Statistik. Andere halten sich durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen<br />

mehr schlecht als recht über Wasser. Jüngere<br />

- und unter ihnen meist nicht die schlechtesten - verlassen in einer<br />

Größenordnung den Osten, die die Zahlen vor dem Bau der<br />

Berliner Mauer erreicht oder sogar übersteigt. Trotzdem liegt die<br />

offizielle Arbeitslosigkeit noch bei ca. 20%. Wer das Glück hatte, seine<br />

Arbeit zu behalten oder neue Arbeit zu finden, erlebt im Berufsleben<br />

- bewirkt durch die verschärfte Konkurrenz - vielfach Vereinzelung,<br />

Abkapselung, Mobbing. Sind Konsum, Selbstverwirklichung<br />

und Spaß die wichtigsten neuen Lebensinhalte? Jedenfalls scheint<br />

die Anzahl der „Singles“ und der kinderlosen Paare 7 ständig zu<br />

wachsen, auch in unseren Parks gibt es inzwischen weit mehr Hunde<br />

als Kinderwagen. Ist es ein gutes Zeichen, wenn Psychiater und<br />

Psychologen, Esoteriker und Sekten Konjunktur haben?<br />

Welche Werte, welche Vorbilder bietet die Gesellschaft den Jugendlichen<br />

an, nachdem die Kirchen ihren Einfluss verloren haben und<br />

der reglementierte Ablauf des DDR-Alltags der Vergangenheit angehört?<br />

Welchen Ersatz gibt es für die verlorene Arbeit und die verlorene<br />

Freizeitbeschäftigung in Klubs, Arbeitsgemeinschaften und<br />

Sportvereinen? Sind Fernsehfilme, Diskotheken oder die Bundesliga<br />

am Wochenende ausreichende Beschäftigung (und ausreichender Religionsersatz)?<br />

Der steigende Alkohol- und Drogenmissbrauch gibt<br />

eine eindeutige Antwort.<br />

einer wachsenden Gewaltbereitschaft, die nicht nur durch illegale<br />

Videos, sondern auch durch die Medien und nicht zuletzt durch die<br />

offizielle Abkehr von einer auf Frieden und Gerechtigkeit gerichteten<br />

Politik gefördert wird. Wer geglaubt hatte, Carl von Clausewitz'<br />

Krieg als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ gehöre der<br />

Vergangenheit an, sieht sich durch die militärischen Aktionen und<br />

die Drohgebärden der Vereinigten Staaten und Israels und deren Tolerierung<br />

durch die Europäer schwer getäuscht.<br />

„Wie viel Armut verträgt die Demokratie“ war der Titel einer Tagung,<br />

die die Universität <strong>Rostock</strong> vor einiger Zeit veranstaltete. Eingeschlossen<br />

war die Frage „Wie viel soziale Ungerechtigkeit verträgt<br />

die Demokratie?“. John Rawls 8 hält in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“<br />

eine Demokratie dann für stabil, wenn sie die folgenden beiden<br />

Prinzipien sozialer Gerechtigkeit beachtet: „Das Gleichheitsprinzip:<br />

Jede Person soll ein gleiches Recht auf das größte Maß an<br />

Freiheit (einschließlich aller politischen Rechte) haben, das mit dem<br />

gleichen Maß an Freiheit für alle anderen Mitglieder der Gesellschaft<br />

zusammenbestehen kann.<br />

Das Differenzprinzip: Soziale wie ökonomische Ungleichheiten in<br />

der Verteilung der primären sozialen Güter sind nur dann akzeptabel,<br />

wenn a) solche Ungleichheiten sich vorteilhaft auf die Lage aller<br />

Mitglieder der Gesellschaft - insbesondere der schwächsten Gruppe<br />

- auswirken und b) wenn sie mit Position und Aufgaben verknüpft<br />

sind, die im Prinzip allen offen stehen.“<br />

Mit unterschiedlicher Herkunft lassen sich soziale wie ökonomische<br />

Ungleichheiten jedenfalls ebenso wenig rechtfertigen wie mit unterschiedlicher<br />

Nationalität oder unterschiedlichem Geschlecht. Hoffen<br />

wir, dass unsere Demokratie stabil bleibt, obwohl sie Rawls Prinzipien<br />

der sozialen Gerechtigkeit permanent verletzt. ¬<br />

Ausgenutzt werden die steigende Armut, das Werte-Vakuum und<br />

das verlorengegangene Selbstwertgefühl der Ostdeutschen durch<br />

Parteien und Gruppierungen vom Rand des Parteienspektrums.<br />

Dass die PDS im Osten noch immer auf eine vergleichsweise hohe<br />

Akzeptanz stößt, führe ich auf die auch nach 15 Jahren noch andauernde<br />

Benachteiligung der dortigen Bevölkerung zurück. Worum<br />

sich DDR-Politiker 40 Jahre lang vergeblich bemühten, gelang der<br />

Bundesregierung in weniger als 40 Monaten: Die nachträgliche<br />

Schaffung einer DDR-Identität. Bedrohlicher für die Stabilität der<br />

Gesellschaft ist aber zweifellos der wachsende Einfluss der Rechtsaußenparteien,<br />

die leider in der Bundesrepublik überlebten und seit<br />

1990 mit großem finanziellem Aufwand (von wem stammen eigentlich<br />

die Gelder?) und leider nicht ohne Erfolg versuchen, ihren Einfluss<br />

auf die neuen Länder auszudehnen. Dabei profitieren sie von<br />

6<br />

Spitzengehälter lagen zu DDR-Zeiten kaum über dem 10fachen des Durchschnittsgehalts, in der Bundesrepublik dürfte der Faktor<br />

1000 vermutlich noch zu niedrig angesetzt sein.<br />

7<br />

In der <strong>Rostock</strong>er Universitätskinderklinik ist 1990 die Anzahl der Geburten auf ein Drittel des langjährigen Durchschnitts gesunken.<br />

8<br />

John Rawls, A Theory of Justice, Harvard 1971, deutsche Ausgabe: Suhrkamp, Frankfurt/M. 1975<br />

30

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