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Es kommt Dicker - Marius Leutenegger

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12 | Interview Books Nr. 3/2013 Alle Bücher finden Sie auch auf Interview | 13<br />

In ihrem neuen Roman porträtiert Federica de Cesco Japan anhand von Protagonisten aus verschiedenen<br />

Schichten und Positionen.<br />

auch unverhohlen ein. Allerdings ist die<br />

Lebenserwartung in Japan sehr hoch,<br />

sodass die ganz Alten den jüngeren Alten<br />

damit auch gehörig auf die Nerven gehen<br />

können.<br />

Sowohl Tante Azai als auch Mia entstammen<br />

einer Familie von Ninja. Wie<br />

kamen Sie auf diese Idee?<br />

Weil wir zwei Frauen in unserem Bekanntenkreis<br />

haben, die aus solchen Familien<br />

stammen. Eine ist wie Mia Architektin, die<br />

andere betreibt eine Sake-Brauerei.<br />

Allerdings stellen Sie die «Windmenschen»,<br />

wie die Ninja auch genannt werden,<br />

nicht als hinterhältige, Wurfsterne<br />

schleudernde Schattenkrieger dar ...<br />

Das waren sie schon auch. Ninja wurden<br />

häufig von Shogunen und Samurai dafür<br />

eingesetzt, ihnen den Weg zu ebnen, und<br />

sie arbeiteten auch als Spione. Aber sie<br />

waren eben auch hervorragende Architekten,<br />

Ärzte, Planer und Apotheker – diese<br />

Traditionen leben bei ihren Nachkommen<br />

fort. Ninja waren in der Regel überdurchschnittlich<br />

intelligente Menschen, was<br />

damals eine Frage des Überlebens war.<br />

Uns Europäer fasziniert Japan auch<br />

deswegen, weil es uns wie eine unmögli-<br />

che Mischung aus Zukunftsgläubigkeit,<br />

Konzentration auf den Moment und<br />

Verwurzelung in der Vergangenheit vor<strong>kommt</strong>.<br />

Diese «Dreifaltigkeit» <strong>kommt</strong><br />

in «Tochter des Windes» immer wieder<br />

zum Ausdruck.<br />

Sie ist auch Teil des japanischen Alltags.<br />

Ein Beispiel: Ein junger Mann kann zu<br />

einem Schrein gehen und ganz profan<br />

darum bitten, dass er sein Examen<br />

besteht. Damit beleidigt man die Götter<br />

nicht, denn sie sind ja dafür da, uns zu<br />

helfen. Im Gegenzug dafür macht man die<br />

Götter glücklich, indem man ihnen zeigt,<br />

wie schön und perfekt sie die Menschen<br />

geschaffen haben, wenn man ausgelassen<br />

feiert oder seiner Freude freien Lauf<br />

lässt. Sich vor den Göttern in den Staub zu<br />

werfen, <strong>kommt</strong> gar nicht in Frage! Etwas<br />

ernster wird es bei der Ahnenverehrung,<br />

denn die Ahnen lösen sich nicht einfach<br />

in Luft auf, sondern sind allgegenwärtig,<br />

leben in ihren Nachkommen weiter.<br />

... und melden sich manchmal in der<br />

Gegenwart – wie Yodo-dono, die Ahnin<br />

von Mia und Tante Azai ...<br />

Man schreibt Frauen besondere Kräfte<br />

zu, die es ihnen erlauben, positiv in<br />

die Gegenwart einzugreifen. Yodo-dono<br />

erscheint daher jeweils warnend, wenn<br />

Gefahr bevorsteht. Stirbt eine Frau aber<br />

im Zorn, kann sie auch viel Unheil anrichten,<br />

wie ich es in «Die Augen des Schmetterlings»<br />

beschrieben habe.<br />

Glauben Sie an solche übernatürlichen<br />

Begebenheiten?<br />

Einmal fragte mich eine Leserin, ob ich<br />

einen Draht zum Übersinnlichen habe.<br />

Ich sagte: Ja, aber der hängt locker! Im<br />

Allgemeinen halte ich es mit Shakespeare:<br />

«<strong>Es</strong> gibt mehr Dinge zwischen Himmel<br />

und Erde, als Eure Schulweisheit sich<br />

erträumen lässt.»<br />

Fast schon übernatürlich wirkt auch die<br />

Szene am Ende der Geschichte, als die<br />

Katzen die Bewohner der Insel Tashiro-<br />

Jima vor der Katastrophe warnen<br />

wollen, die letztlich zum Unglück in<br />

Fukushima führte ...<br />

Diese Geschichte ist authentisch! Die Katzen<br />

retteten die Inselbewohner, indem sie<br />

mit ihren Jungen zum Katzenschrein auf<br />

dem höchsten Punkt der Insel rannten.<br />

Da merkten die Menschen, dass etwas im<br />

Argen liegt, und folgten den Tieren zum<br />

Glück. In Japan herrscht sowieso eine<br />

«Neko-Mania», eine Katzenbegeisterung.<br />

Sie haben ja selbst auch eine Katze!<br />

Sie heisst Ninja und ist unsere Maneki-<br />

Neko – unsere Glückskatze.<br />

In diesem dramatischen Höhepunkt des<br />

Buchs zeigen Sie auch wieder einige<br />

typisch japanische Eigenschaften.<br />

Ja, die enorme Fähigkeit der Japaner zur<br />

Resilienz, ihren Fatalismus und wiederum<br />

die Wichtigkeit der Älteren. Nach der Katastrophe<br />

wussten die Älteren – wie zum<br />

Beispiel Mias Onkel Matsuo –, was zu tun<br />

ist. Sie brachten die Jungen dazu anzupacken,<br />

schützten sie aber gleichzeitig vor<br />

dem Schlimmsten. Das zeigt die Szene, in<br />

der die älteren Inselbewohner die Jungen<br />

daran hindern, ihnen beim Bergen der<br />

Leichen zu helfen. Dass es zu solchen<br />

Katastrophen kommen kann, nimmt man<br />

hin. Japan ist eben anfällig für Erdbeben,<br />

damit lebt man. <strong>Es</strong> ist zwar entsetzlich,<br />

aber nicht zu ändern.<br />

War Fukushima für Sie der Auslöser,<br />

«Tochter des Windes» zu schreiben?<br />

Nein, auch wenn mein Mann und ich zwei<br />

Wochen vor dem Ereignis in der Region<br />

waren und wir viele Betroffene kennen.<br />

Mein Mann gab mir vor etwa drei Jahren<br />

den Anstoss für das Buch, als er mir sagte,<br />

dass der Genbaku-Dom – heute eine<br />

Gedenkstätte für den amerikanischen<br />

Atombombenangriff – vom tschechischen<br />

Architekten Jan Letzel erbaut wurde. Das<br />

fand ich so interessant, dass mein Mann<br />

und ich zum Recherchieren nach Prag<br />

fuhren und dort feststellten, dass Letzel<br />

in seiner Heimat gar nicht bekannt ist.<br />

Daraus entstand schliesslich das Buch.<br />

Trotz allem Positiven, über das wir<br />

bisher gesprochen haben, üben Sie in<br />

«Tochter des Windes» auch Kritik an<br />

der japanischen Gesellschaft.<br />

Natürlich, das muss auch so sein. Japan<br />

ist keine perfekte Gesellschaft. Vor allem<br />

die Technokraten und Politiker stehen bei<br />

der Bevölkerung alles andere als hoch im<br />

Kurs. Das be<strong>kommt</strong> man als Aussenstehender<br />

jedoch nicht mit, da es den Japanern<br />

nicht liegt, mit Plakaten und Parolen<br />

auf die Strasse zu gehen und ihrem Ärger<br />

Luft zu machen. Szenen, wie sie sich in<br />

Griechenland und in der Türkei abgespielt<br />

haben, sind in Japan undenkbar.<br />

Auch den Technikglauben beurteilen Sie<br />

kritisch ...<br />

Ebenso wie die Japaner nach Fukushima,<br />

als klar wurde, dass Technik eben nicht<br />

nur Gutes bringt und dass man recht hilflos<br />

sein kann, wenn die Technik im entscheidenden<br />

Moment nicht mehr funktioniert.<br />

Das merken auch Rainer und Mia, als sie<br />

nach dem Beben auf der Insel festsitzen<br />

und alle Hände voll damit zu tun haben,<br />

einen Tag nach dem anderen zu überleben.<br />

Also glauben Sie, dass die Natur am<br />

Ende – Technik hin oder her – das letzte<br />

Wort haben wird?<br />

Aber natürlich! Wobei ich sowieso ziemlich<br />

überzeugt bin, dass der Mensch es<br />

irgendwann schaffen wird, sich selbst<br />

zu zerstören, ohne dass die Natur dabei<br />

nachhelfen muss.<br />

Steht für diese Übermacht der Natur in<br />

gewissem Sinn das intelligente Haus,<br />

in dem Mia wohnt und das nach dem<br />

Beben eigentlich auch nicht viel mehr<br />

als eine Wohnhöhle ist?<br />

Genau – und das Haus funktioniert ja<br />

allein deshalb nicht mehr, weil es keinen<br />

Strom mehr gibt. Die Szenen, die ich<br />

beschreibe, sind wirklich passiert: Nach<br />

dem Beben in Tokyo funktionierte bei<br />

all den schönen, teuren, intelligenten<br />

Häusern ohne Strom nichts mehr. Also<br />

mussten die Menschen mit ihren Einkäufen<br />

30 oder mehr Stockwerke zu Fuss<br />

hochgehen, nur um dann gleich wieder<br />

mit gefüllten Nachttöpfen nach unten zu<br />

marschieren.<br />

Szenen, die einen schmunzeln lassen,<br />

auch wenn sie im Grunde tragisch sind ...<br />

So ist doch das Leben. Tragik und Komik<br />

liegen manchmal so dicht beieinander!<br />

Genau das habe ich in «Tochter des Windes»<br />

darzustellen versucht.<br />

«Tochter des Windes» ist – auch wenn<br />

der Titel vielleicht anderes vermuten<br />

lässt – ein Buch für Erwachsene. Ist das<br />

schwieriger zu schreiben als ein Buch<br />

für Jugendliche?<br />

<strong>Es</strong> stimmt, der Titel ist etwas unglücklich<br />

und deutet auf Mädchenliteratur hin.<br />

Aber auf den Titel kann man als Autorin<br />

nicht immer Einfluss nehmen. Doch um<br />

die Frage zu beantworten: Erwachsenengeschichten<br />

sind wesentlich einfacher<br />

zu schreiben. Das liegt zum einen<br />

daran, dass ich für Erwachsene einfach<br />

drauflos schreiben kann in der Annahme,<br />

dass die Lesenden es dann schon<br />

verstehen werden. Für Jugendliche muss<br />

ich meine Sprache anpassen, sie bis<br />

zu einem gewissen Grad vereinfachen.<br />

Auch die Themensuche gestaltet sich für<br />

Jugendliche schwieriger. Man kann nur<br />

Themen behandeln, welche die Jugendlichen<br />

beschäftigen, und muss gleichzeitig<br />

Geschichten finden, die aus dem Leben<br />

gegriffen sind.<br />

Im Buch fragt sich Rainer, wie und in<br />

welcher Umgebung Autoren überhaupt<br />

schreiben. Wie schreiben Sie denn?<br />

Ich brauche Kaffee, schwarze Schokolade<br />

und einen Computer. Dazu kommen ein<br />

solider Lebenswandel und ein Mass an<br />

Selbstdisziplin, das ich von meiner Mutter<br />

vermittelt bekam. Das ist im Grund schon<br />

alles!<br />

Tochter des Windes<br />

445 Seiten<br />

CHF 29.90<br />

Blanvalet<br />

Weiterlesen: Ausgewählte<br />

Bücher von<br />

Federica de Cesco<br />

Kinder- und Jugendbücher<br />

Der rote Seidenschal<br />

(1957)<br />

200 Seiten<br />

CHF 11.90<br />

Arena<br />

Das Buch, mit dem für Federica de Cesco<br />

die Laufbahn als Schriftstellerin begann: Ein<br />

im Zug liegen gelassener Seidenschal bietet<br />

Ann Morrison Gelegenheit, aus ihrem alten<br />

Leben auszubrechen und Neues zu erleben.<br />

Shana, das Wolfsmädchen<br />

(2000)<br />

248 Seiten<br />

CHF 15.90<br />

Arena<br />

Die bewegende Geschichte eines jungen<br />

Indianermädchens und deren aussergewöhnliche<br />

Freundschaft zu einer Wölfin.<br />

Die goldene Kriegerin<br />

(2009)<br />

377 Seiten<br />

CHF 14.90<br />

Blanvalet<br />

Die junge Tomoe ist eine Samurai, die sich<br />

beim Versuch, den Respekt des Feldherrn<br />

Yoshinaka zu erringen, in ihn verliebt. Dieser<br />

begehrt allerdings Tomoes Schwester.<br />

Erwachsenenliteratur<br />

Silbermuschel (1994)<br />

764 Seiten<br />

CHF 11.90<br />

Blanvalet<br />

Im fernen Japan entflieht Julie nicht nur<br />

ihrer unglücklichen Ehe – sie verliebt sich<br />

auch in einen japanischen Trommler und<br />

entfacht das Feuer der Leidenschaft neu.<br />

Federica de Cescos Debüt als Autorin für<br />

Erwachsene.<br />

Die Augen des<br />

Schmetterlings (2005)<br />

509 Seiten<br />

CHF 14.90<br />

Blanvalet<br />

Die Finnin Agneta Pacius wird unvermittelt<br />

zur Kämpferin im Reich der Ahnen, als<br />

sie mit der magischen Weisheit des Sami-<br />

Volkes gegen böse japanische Nachtgeister<br />

angeht.<br />

Mondtänzerin (2011)<br />

541 Seiten<br />

CHF 13.90<br />

Blanvalet<br />

Vier maltesische Freunde schwören einander<br />

ewige Treue, doch das Leben zerstreut<br />

sie in alle Winde. Als sie Jahre später wieder<br />

aufeinander treffen, ist einiges gleich,<br />

aber auch vieles anders.

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