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Es kommt Dicker - Marius Leutenegger

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32 | Kaffeepause Books Nr. 3/2013 Alle Bücher finden Sie auch auf Kaffeepause | 33<br />

Last Exit to El Paso<br />

Fritz Rudolf Fries<br />

192 Seiten<br />

CHF 31.90<br />

Wallstein<br />

Der Weg des Falken<br />

Jamil Ahmad<br />

186 Seiten<br />

CHF 34.90<br />

Hoffmann und Campe<br />

Gleis 4<br />

Franz Hohler<br />

219 Seiten<br />

CHF 26.90<br />

Luchterhand<br />

Die Debatte<br />

Was machen Buchhändler in der Kaffeepause? Sie plaudern<br />

über Bücher. «Books» hat sich im Starbucks im Kramhof<br />

an der Zürcher Bahnhofstrasse zu den Orell-Füssli-Mitarbeitenden<br />

Bettina Zeidler und Dario Widmer gesetzt.<br />

<strong>Marius</strong> <strong>Leutenegger</strong><br />

Erik Brühlmann<br />

«Books»: Ladies first: Bettina, welches<br />

Buch hast du mitgebracht?<br />

Bettina Zeidler (BZ): «Last Exit to El<br />

Paso» des ostdeutschen Schriftstellers<br />

Fritz Rudolf Fries. Die Hauptfigur, Pierre<br />

Arronax, ist wohl etwa so alt wie der<br />

77-jährige Autor. Er lebt zurückgezogen<br />

in seinem Haus, betreut von seinem<br />

Hausmädchen Kathleen, mit der er gern<br />

eine erotische Beziehung hätte. Regelmässig<br />

trifft sich Arronax mit seinem alten<br />

Freund Arcimboldo, mit dem er fantastische<br />

Szenarien für nie geschriebene<br />

Romane oder Filmdrehbücher entwirft.<br />

Eines Tages erfahren die beiden per<br />

Telefon, dass sie eine Weltreise gewonnen<br />

haben. Diese Reise entpuppt sich aber als<br />

Wettrennen von New York nach El Paso –<br />

Arronax wird von Kathleen begleitet und<br />

nimmt die Ostroute, Arcimboldo reist<br />

mit seinem Sohn, einem Drehbuchautor,<br />

die Westküste hinunter. Die Reisenden<br />

kommen in billigen Hotelketten unter,<br />

werden in einen Kunstraub verwickelt,<br />

bei dem vielleicht auch Kathleen ihre<br />

Hände im Spiel hat, es geht um Spionage<br />

und Affären. Allerdings weiss man nie<br />

genau, was sich wirklich ereignet und was<br />

nur eine Vision von Arronax ist. «Last Exit<br />

to El Paso» ist ein Schelmenroman, bei<br />

dem uns der Autor immer wieder in die<br />

Irre führt.<br />

Und ein Road Movie?<br />

Dario Widmer (DW): Ja, auf jeden Fall.<br />

Ein wichtiges Element des Buchs sind die<br />

zahlreichen Bezüge auf literarische Werke<br />

und Filme. Eine Rolle spielt zum Beispiel<br />

das Kritikertrio aus dem Roman «2666»<br />

von Roberto Bolaño. Der Aufbau des<br />

Buchs erinnert mich an Fellinis Filme,<br />

bei manchen Szenen sehe ich Bogart vor<br />

mir – und über der ganzen Geschichte<br />

steht ein Motto aus dem Märchen mit den<br />

Bremer Stadtmusikanten: «Etwas Besseres<br />

als den Tod findest du überall.»<br />

BZ: Auch die Figuren selbst sind Anlehnungen:<br />

Pierre Arronax ist der Name<br />

der Hauptfigur in Jules Vernes Roman<br />

«20‘000 Meilen unter dem Meer»; dort<br />

ist Arronax ein Forscher, der in die<br />

Tiefe geht. Und Arcimboldo ist jener<br />

Renaissance-Maler, der auf seinen Bildern<br />

Gemüse so arrangierte, dass daraus ein<br />

Porträt wurde. In Bolaños «2666» nennt<br />

sich eine Figur nach diesem Maler. Der<br />

Autor führt uns also ständig wieder auf<br />

neue Fährten, lässt uns in fantastische<br />

Welten reisen – und am Ende ist nicht<br />

einmal mehr klar, ob diese Reise überhaupt<br />

stattfindet. Das Buch ist schwierig<br />

zu beschreiben, man muss sich einfach<br />

darauf einlassen.<br />

Du hast dich darauf einlassen müssen,<br />

Dario. Wie hast du das denn erlebt?<br />

DW: Am Anfang wusste ich nicht recht,<br />

wie ich mit diesem Buch umgehen sollte.<br />

Ich dachte, das ist ähnlich wie der Bestseller<br />

«Der Hundertjährige, der aus dem<br />

Fenster stieg und verschwand» von Jonas<br />

Jonasson. Auch der Klappentext des<br />

Buchs verspricht einen Roman in diese<br />

Richtung. Aber der Vergleich stimmt nicht.<br />

«El Paso» ist wesentlich anspruchsvoller<br />

als der «Hundertjährige». Fries hätte mit<br />

seinem Stoff einen Riesenroman schreiben<br />

können – hat jetzt aber unglaublich<br />

viele Informationen in ein kleines Buch<br />

gepackt.<br />

BZ: <strong>Es</strong> ist wirklich faszinierend, wie viele<br />

Hinweise auf Literatur und Film er untergebracht<br />

hat. Mich hat das zu Recherchen<br />

animiert; ich begann im Internet nachzu-<br />

forschen, woher er die Figuren hat.<br />

DW: Bei mir hat er die Fantasie angeregt<br />

und Interesse an anderen Stoffen geweckt.<br />

Ich werde zum Beispiel jetzt auch noch<br />

den Bolaño lesen. Die vielen Andeutungen<br />

machen neugierig, und man merkt, wie<br />

sehr sich der Autor selber für die Dinge<br />

interessiert, die er thematisiert.<br />

BZ: Für mich sprengt das schmale Buch<br />

sämtliche Rahmen – es hat mich echt<br />

gefordert.<br />

DW: Ja, es ist anspruchsvoll, das kannst<br />

du nicht jedem in die Hand drücken. Aber<br />

wenn man einmal mit Lesen begonnen<br />

hat, schlägt es einen in den Bann. Am<br />

Anfang hat mich genervt, dass Bettina<br />

dieses Buch für unsere Debatte aussuchte;<br />

jetzt bin ich froh darüber. Ich finde, alle<br />

Buchhändler sollten «Last Exit to El Paso»<br />

lesen, weil es so viele literarische Bezüge<br />

hat.<br />

Wie bist du denn auf dieses Buch gestossen,<br />

Bettina?<br />

BZ: Zuerst hat mich einfach das Cover<br />

angesprochen. Dann las ich den Klappentext,<br />

mir fiel ein, dass ich von diesem Autor<br />

schon einmal gehört habe, ich begann<br />

ein paar Seiten zu lesen – und konnte<br />

nicht mehr aufhören.<br />

Für wen eignet sich der Roman?<br />

BZ: Für alle, die einen gewissen Zugang<br />

zur Literatur haben. Man kann das Buch<br />

auch ohne Vorwissen lesen, aber es macht<br />

sicher viel mehr Spass, wenn man die<br />

Andeutungen entschlüsseln kann.<br />

Kommen wir zum Buch, das Dario mitgebracht<br />

hat: «Der Weg des Falken» von<br />

Jamil Ahmad.<br />

DW: <strong>Es</strong> spielt in einem zusammenhängenden<br />

Gebiet in der Grenzregion von<br />

Pakistan, Afghanistan und Iran. Der rote<br />

Faden ist die Geschichte eines Paars, das<br />

mit seiner Liebe gegen die Stammesregeln<br />

verstossen hat und auf der Flucht ist. Die<br />

beiden jungen Leute finden Unterschlupf<br />

in einem Militärfort, wo sie auch einen<br />

Sohn bekommen – Tor Baz, was so viel<br />

heisst wie schwarzer Falke. Doch das<br />

Paar wird aufgespürt und getötet. Tor<br />

Baz bleibt allein zurück. Sein weiterer<br />

Lebensweg bietet dem Autor die Möglichkeit,<br />

ganz verschiedene Geschichten zu<br />

erzählen, die kaum in einem Zusammenhang<br />

zueinander stehen. Der rote Faden<br />

ist sehr fein; man könnte auch sagen,<br />

es handle sich bei diesem Buch um eine<br />

Sammlung von Kurzgeschichten.<br />

Worum geht es in den Geschichten?<br />

DW: Um die Menschen, die in dieser Region<br />

leben. Ein Beispiel ist die Geschichte<br />

Bettina Zeidler, 48, lebt in St. Gallen. Sie<br />

arbeitet in der Abteilung Belletristik der St.<br />

Galler Buchhandlung Rösslitor, die zu Orell<br />

Füssli gehört. Am liebsten liest sie skandinavische<br />

Krimis und Thriller.<br />

Bettina Zeidler:<br />

«Den Anfang des<br />

Romans fand ich<br />

sehr gut, aber danach<br />

häuften sich<br />

die Zufälle und<br />

Unwahrscheinlichkeiten.<br />

Das fand ich<br />

dann schon recht<br />

konstruiert.»<br />

Dario Widmer:<br />

«Ich fand das Buch<br />

trotzdem spannend.<br />

<strong>Es</strong> liest sich leicht,<br />

es geht schnell<br />

voran, viele Situationen<br />

werden schön<br />

beschrieben.»<br />

Dario Widmer, 21, lebt in Bühler in<br />

Appenzell Ausserrhoden. Seine Lehre zum<br />

Buchhändler absolvierte er im Rösslitor,<br />

heute arbeitet er in der Abteilung Belletristik<br />

im Kramhof in Zürich. Er hat schon seit<br />

jeher ein grosses Interesse an Literatur.<br />

von Familien, die herumziehen müssen,<br />

damit ihr Vieh immer genug zu fressen<br />

hat. Diese Leute haben aber keine Pässe.<br />

Bislang spielten Landesgrenzen keine<br />

Rolle, jetzt aber können sie nicht mehr<br />

von einem Land ins andere ziehen – und<br />

werden beim Grenzübertritt erschossen.<br />

Einmal geht es um Frauenhandel. Oder<br />

um Entführungen, mit denen sich manche<br />

Familien über Wasser halten.<br />

Das klingt jetzt aber alles reichlich<br />

dramatisch und nicht nach Literatur, die<br />

man sich vor dem Einschlafen zu Gemüte<br />

führen will.<br />

DW: Das Buch geht einem weniger unter<br />

die Haut, als man aufgrund meiner Schilderung<br />

vielleicht annehmen könnte. Der<br />

Autor hat eine gute Distanz zu seinem<br />

Thema gefunden: Seine Geschichten sind<br />

keine sachlichen Dokumentationen, aber<br />

auch keine hochdramatischen Schilderungen,<br />

die Mitleid auslösen. Man nimmt<br />

einfach wahr, wie das Leben in dieser<br />

Region spielt. In einer Region notabene,<br />

von der wir sehr wenig wissen und über<br />

die es kaum Bücher gibt.<br />

BZ: Zum Genuss wird dieses Buch vor allem<br />

durch die Sprache; sie ist sehr schön,<br />

sehr poetisch. Alles fliesst, die Beschreibungen<br />

der kargen und öden Landschaften<br />

sind sehr bildhaft, man kann sich alles<br />

genau vorstellen. Mich faszinierte vor<br />

allem die Rahmenhandlung mit Tor Baz,<br />

und ich hätte gern noch etwas mehr über<br />

ihn erfahren; manchmal empfand ich den<br />

Schnitt von der Rahmenhandlung zur<br />

nächsten Geschichte etwas hart.<br />

Aber alles in allem hast du das Buch<br />

gern gelesen?<br />

BZ: Ja, vor allem auch, weil mir die<br />

Gegend, in der es spielt, überhaupt nicht<br />

bekannt war. Als ich mit dem Buch fertig<br />

war, dachte ich: Jetzt habe ich einen Roman<br />

in wunderschöner Sprache gelesen<br />

und erst noch viel gelernt.<br />

DW: Zu Beginn kam es mir fast ein wenig<br />

vor, als würde ich ein Buch von Karl May<br />

lesen: Über den wilden Westen im Osten.<br />

<strong>Es</strong> war unterhaltsam und faszinierend.<br />

Als ich das Buch erstmals in der Hand<br />

hatte, schlug ich es irgendwo auf und las<br />

einen Abschnitt, der mir ziemlich esoterisch<br />

vorkam, aber zum Glück war er eine<br />

Ausnahme – das Buch ist überhaupt nicht<br />

spirituell ausgerichtet.<br />

BZ: Ja, hier wird auch nichts glorifiziert.<br />

Jamil Ahmad bleibt bei den Fakten. Er<br />

will nicht moralisieren, sondern uns<br />

einfach zeigen, wie es dort ist. Er hat die<br />

Begabung, uns die Welt zu öffnen. Von mir<br />

aus hätte ich dieses Buch nicht gelesen,

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